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German Pages 196 [200] Year 2006
Evangeliar aus St. E m m e r a m in Regensburg, Ende 1 1 . J a h r h u n d e r t
Der Hoftag in Quedlinburg 973 Herausgegeben von Andreas Ranft
Der Hoftag in Quedlinburg 973 Von den historischen Wurzeln zum Neuen Europa Herausgegeben von Andreas Ranft
im Auftrag der Landesregierung von Sachsen-Anhalt sowie der Historischen Kommission von Sachsen-Anhalt
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Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung
Abbildung auf dem Schutzumschlag: Herzogin Mathilde von Lothringen überreicht dem polnischen König Mieszko II. einen Ordo Romanus (siehe Abb. ι auf S. 1 1 6 in diesem Band)
ISBN-10: 3 - 0 5 - 0 0 4 1 1 3 - 7 ISBN-13:978-3-05-004113-1
© Akademie Verlag G m b H , Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / i s o 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Sabine Taube, Berlin Einbandgestaltung: deblik, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg G m b H
Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Von Andreas Ranft VII
Quedlinburger Hoftag und Europa im 10. Jahrhundert Otto der Große und die neue europäische Identität Von Gerd Althoff 3 Der Hoftag in Quedlinburg 973 Von Jcinos Gidya 19 Quedlinburg: Der erste Schritt der Ungarn nach Europa und dessen Vorgeschichte (Sackgassen, Fallen, Wahlmöglichkeiten) Von Csanad Bc'dint 29 Benevent - Capua - Magdeburg - Salerno: Neue Erzbistümer an der Peripherie des lateinischen Europa im 10. Jahrhundert Von Wolfgang Huschner 37 Polen und Europa um das Jahr 1000. Mit einem Anhang: Zur Glaubwürdigkeit des Berichts von Gallus Anonymus über das Treffen in Gnesen Von Roman Michalowski 51 Das Kiever Reich in Europa um das Jahr 1000 Von Ludwig Steindoiff 73
Inhaltsverzeichnis
Grundlagen kultureller Identität Die lateinische Kultur als tertium comparationis der europäischen Nationen Von Fidel Rädle 87 Heiraten - ein Instrument hochmittelalterlicher Politik Von Hedwig Röckelein 99 Vom Europa der Humanisten zum Osteuropa der Imperien Von Michael G. Müller 137
Visionen für Europa. Zwischen regionaler Vielfalt und europäischer Einheit Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer „europäischen Identität" um 973 und 2003 - eine Skizze Von Kai Hendrik Patri 149 Die Bedeutung „europäischer Öffentlichkeit" für die transnationale Kommunikation religiöser Minderheiten im 18. Jahrhundert Von Martin Schulze Wessel 163 Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union. Zu den institutionellen Voraussetzungen und den Zielvorgaben des europäischen Integrationsprozesses Von Roland Sturm 175
Abbildungsverzeichnis 185 Symposium in Quedlinburg (7.-9. Mai 2003) Teilnehmer (Stand: 30. 4. 2003) 187
Einleitung
In Verbindung mit der 2003 in Quedlinburg begangenen Feier zum zehnjährigen Bestehen der Straße der Romanik wurde zugleich unter Bezugnahme auf den Quedlinburger Hoftag 973 ein internationales Symposium zur europäischen Geschichte organisiert, deren überarbeitete Beiträge nun in einer eigenen Publikation vorgelegt werden. Lädt die Straße der Romanik seit ihrem Bestehen zunehmend Touristen aus aller Welt dazu ein. Bauten, Orte und Landschaften in der Mitte Europas in ihrem inneren historischen Zusammenhang kennen zu lernen und so eine viel genauere Vorstellung von der geistlich-geistigen und politischen Kraft. Kultur und Unruhe des Mittelalters zu gewinnen, war das Kolloquium darauf angelegt, davon ausgehend aber mit wachem Blick für die darin ebenfalls ablesbaren Brüche der Zeit diese historischen Monumente als Wegmarken einer überaus wechselvollen Geschichte mit ihren durchaus lebendigen Bezügen bis hin zur Gegenwart zu lesen, denkt man allein an den Umgang der letzten drei Generationen mit diesen Monumenten jener fernen Zeit. Denn es ist zweifellos europäische Geschichte, die sich hier spiegelt, und nichts davon lässt sich mit dem Konzept nationaler Geschichtsschreibung, wie auch immer sie gewendet sein mag, einfangen und gleichsam präparieren für eine endgültige Vorstellung von dem. was diese Kernlandschaft Europas in ihren Anfängen war, was daraus wurde oder gar bis heute werden musste und durfte. Und auch aus der Perspektive einer Geschichte Europas bliebe es zumindest ein gewagtes Unterfangen, wenn man Europa dabei als Subjekt der Geschichte verstünde. Die für den Historiker gefährliche Teleologie, der man soeben noch mit neuem Konzept zu entkommen gemeint hat, würde uns schnell erneut einholen und in die Irre führen: es lässt sich kein roter Faden spinnen im Sinne einer prozesshaft bedingten Ereigniskette, die gradlinig vom Quedlinburger Hoftag zur aktuellen Diskussion um Europa, zu Maastricht. Kopenhagen, Athen usw. führt. Mit solcher Einsicht jedoch ist die Geschichte Europas nicht geleugnet; ganz im Gegenteil wird es für den Historiker um so spannender, nach dem zu fragen, was es sein kann und wie es zu dem geworden ist, als was es uns heute erscheint. Und solche Fragen, die letztlich stets neu auf Identitätsbildung und - f i n d u n g zielen, erscheinen angesichts der aktuellen Erweiterung der Europäischen Union um die osteuropäischen Länder sowie des Baltikums von kaum zu überschätzender Bedeutung, wenn man an die großen Herausforderungen des Integrationsprozesses denkt, die eben keineswegs allein politischer und wirtschaftlicher Natur sind. Dass die eingeforderte europäische Dimension historischer Erfahrung keine neuzeitlichmoderne Erfindung ist, sondern tatsächlich weit tiefer liegende Wurzeln hat, ist Gegenstand der ersten Sektion des Symposiums. Und in der Tat lässt ja die Überlieferung den Quedlinburger Hoftag von 973 als ein europäisches Ereignis wahrnehmen in seiner glanzvollen Prachtentfaltung mit außerordentlicher Propagandawirkung und als Ort der Begegnung und Korn-
VIII
Einleitung
munikation; ein Ereignis, das für den Moment seiner Dauer Raum für eine „europäische" Wahrnehmung gab im Blick auf Herrschaft und Kultur sowie das Wissen umeinander. Wie behutsam wir jedoch mit solchen Feststellungen umgehen müssen, wie weit sie in ihrer Geltung reichen und wie wir sie in ihrer Zeitgebundenheit zu deuten haben, sollen die übrigen Beiträge in dieser Sektion klären helfen, die sich verschiedenen osteuropäischen Perspektiven im 10. Jahrhundert zu Europa widmen und den Vergleich anregen. Außerdem wird im selben Zeitschnitt - und umgekehrt mit dem Blick auf die Peripherien Europas - vergleichend die Entstehung neuer Erzbistümer untersucht und nach Zusammenhängen gefragt, die sich nicht zuletzt aus der - europäische Herrschaften übergreifenden - Handlungsvollmacht der Kirche ergeben. Die mittlere Sektion „Grundlagen kultureller Identität" spannt den weitesten zeitlichen Bogen, indem sie, die Mittelalterperspektive zunächst fortsetzend, nach spezifischer Wirksamkeit eines europäischen Elements der Politik - der dynastisch kalkulierten Heiratspraxis - fragt, das bis in die Neuzeit hinein von Bedeutung war; sodann, indem sie mit der lateinischen Kultur als einem tertium comparationis der europäischen Nationen operiert, um von dort aus Kriterien für die europäische Dimension dieser durchaus individuell sich ausbildenden Nationen zu gewinnen. Der Neuzeit gewidmet sind die Fragen nach den Wahrnehmungen verschiedener Trägergruppen und ihren je spezifischen Bindungen an Europa oder seinen Negationen im Ost-West-Vergleich, sowie Europavorstellungen und -erfahrungen der osteuropäischen Staaten des 19. Jahrhunderts. Die Beiträge der dritten Sektion „Visionen für Europa" schließlich öffnen sich zur Gegenwart nicht zuletzt dadurch, dass sie sich - neben kritischer Analyse - auf je eigene Weise den in der öffentlichen Diskussion zum Thema stets vehement geäußerten Forderungen nach Deutung einerseits und Handlungsperspektive andererseits stellen. Die Frage nach europäischer Öffentlichkeit, die für die Gegenwart eine grell-blendende Intensität erreicht, die sich einer komparatistischen Perspektive beinahe zu entziehen scheint, ist ebenso zu berücksichtigen wie der Versuch, aus dem historischen Material akkumulierende Faktoren einer entstehenden europäischen Identität zu destillieren. Es ist dann ein beinahe selbstverständlicher Perspektivenwandel, wenn abschließend nach Voraussetzungen und Zielvorgaben des europäischen Integrationsprozesses für die Zukunft gefragt wird, nicht beladen, sondern gleichsam gerüstet mit dem Wissen um die Komplexität und die Vielfalt dieses werdenden und zugleich sehr alten Europa, um das wir uns in seiner historisch vielgestaltigen Gewachsenheit verstehend bemühen wollen. Für den Historiker ist es von großem Reiz, sich in einer solchen Versuchsanordnung, d.h. in der soeben skizzierten Weise auf eine ganze Reihe der vielschichtigen Fragen einzulassen, die uns bei der nun beschleunigt in Gang gekommenen Entwicklung der Europäischen Union beschäftigen. Und es ist eine ganz besondere und chancenreiche Möglichkeit dazu, dass in dem hier versammelten Historikerkreis Kollegen aus eben jenen Ländern mitwirken, die kürzlich den politischen Integrationsprozess in diese große europäische Union abgeschlossen haben. Unter ihnen, denen wie allen übrigen Teilnehmern sowohl für Ihre Mitwirkung zu danken ist als auch für die nachträgliche Bereitschaft, ihre Vorträge zu diesem Symposiumsband in schriftliche Fassungen umzuarbeiten, geht mein besonderer Dank an den Kollegen Jänos Gulya. Er, gebürtiger Ungar, aber seit langer Zeit an der ehrwürdigen Universität Göttingen lehrend, hat die grundsätzliche Anregung zu diesem Symposium gegeben und im politischen Raum auf den Weg gebracht.
Einleitung
IX
Dank gebührt darüber hinaus der Landesregierung Sachsen-Anhalts für ihre logistische Kooperation und materielle Unterstützung, ohne die eine solche Veranstaltung nicht möglich gewesen wäre. Dass wir sie im Festsaal des Quedlinburger Rathauses, begleitet von umsorgender materieller und ideeller Gastfreundschaft, durchführen konnten, verdanken wir der Stadt und einigen Institutionen ihres Gemeinwesens, die sich unserer Sache, als wäre sie ihre eigene, fördernd angenommen haben: der Harzer Volksbank Quedlinburg, dem Hotel Brühl sowie der Feininger Galerie, die ihre Türen noch zu später Stunde unserem gelehrten Kreis öffnete und für einen langen gesprächsbewegten Abend bei geselligem Mahl unser Refugium war. Dass wir den Ertrag des Symposiums am Ende als Buch in Händen halten, verdanken wir dem generösen Druckkostenzuschuss der ZEIT-Stiftung, die unser Unternehmen von Beginn an unterstützt hat. Dem Herausgeber zur Seite standen Gerrit Deutschländer und Verena Grave, die manches Manuskript redaktionell begleitet und für die Einrichtung der Abbildungen gesorgt haben. Andreas
Ranft
Quedlinburger Hoftag und Europa im 10. Jahrhundert
Otto der Große und die neue europäische Identität Gerd Althoff
Eine internationale Versammlung, wie sie Sachsen zuvor wohl noch nie gesehen hatte, feierte im Jahre 973 das Osterfest auf dem Quedlinburger Burgberg. Stark vertreten waren insbesondere die östlichen Nachbarn des ottonischen Reiches, Polen, Böhmen und Ungarn. Dies gibt Anlass, der Feier vor exakt 1030 Jahren besondere, durch aktuelle Interessenlagen bestimmte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Gab es vielleicht schon vor mehr als 1000 Jahren Formen der Zusammenarbeit, die trotz allen Wandels als Vorläufer oder Vorstufen europäischer Integrationsbemühungen aufgefasst werden können, wie wir sie heute wieder unter nicht unbeträchtlichen Mühen und Schwierigkeiten versuchen? Fasst man mit der Quedlinburger Versammlung vielleicht sogar die Wurzeln, mit denen das zurzeit entstehende Neue Europa verbunden ist oder sich verbunden fühlen sollte? Stärkt es den heutigen Zusammenhalt und stiftet es Identität, wenn man sich der Ereignisse vor mehr als 1000 Jahren erinnert und sie, in welcher Weise auch immer, als Ansporn oder gar als Richtschnur eigenen Handelns in das öffentliche Bewusstsein unserer Zeit rückt? Oder missversteht man das Ostergeschehen im letzen Lebensjahr Ottos des Großen, presst man es in das Procrustes-Bett aktueller Sinnstiftung, wenn man es an den Anfang einer Genealogie europäischer Integrationsbemühungen stellt? So wie man vom Beginn der westeuropäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute Karl den Großen als pater Europae. als den Stammvater diesbezüglicher Bemühungen in Erinnerung ruft. 1 Der Beitrag versucht eine Antwort auf dieses Bündel von Fragen zu geben. Schauen wir uns jedoch zunächst einmal an, was über dieses letzte Osterfest Ottos des Großen überliefert ist. Addiert man die Nachrichten verschiedener Quellen über die angesprochene Festversammlung des 10. Jahrhunderts, so zählt man als Teilnehmer den Böhmenherzog Boleslav, den Polenherzog Mieszko oder zumindest seinen Sohn Boleslaw II., zwölf ungarische und zwei bulgarische Magnaten als Gesandte ihrer Herrscher, Gesandtschaften des Dänenkönigs Harald, der Römer, der Beneventaner und der Griechen. Ein wenig zu spät kam
1 Vgl. hierzu zuletzt Bernd SCHNEIDMÜLLER. Die mittelalterliche Konstruktion E u r o p a s . K o n v e r g e n z u n d D i f f e r e n z i e r u n g , in: H e i n z DUCHHARDT und A n d r e a s KUNZ (Hg.). ..Europäische Geschichte'" als H i s t o r i o g r a p h i s c h e s P r o b l e m . V e r ö f f e n t l i c h u n g e n des Instituts für E u r o p ä i s c h e G e s c h i c h t e M a i n z . Abteilung U n i v e r s a l g e s c h i c h t e 42. M a i n z 1997. 5 - 2 4 . bes. 9 ff.: F r a n z - R e i n e r ERKENS. Karolus M a g n u s - pater E u r o p a e . M e t h o d i s c h e und historische P r o b l e m a t i k , in: C h r i s t o p h STIEGEMANN und Matthias WEMHOFF (Hg.). 7 9 9 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der G r o ß e und Papst L e o III. in P a d e r b o r n . Katalog der A u s s t e l l u n g P a d e r b o r n 1999. Bd. 1. M a i n z 1999, 2 - 9 mit j e w e i l s weiteren H i n w e i s e n .
4
Gerd Althoff
im Jahre 973 eine Gesandtschaft aus Afrika, mit der die Fatamiden wohl strittige Fragen in Süditalien regeln wollten. Sie traf den Herrscher erst an Christi Himmelfahrt in Merseburg. 2 Selbst die äußerst knappen Nachrichten über das Ereignis vermitteln noch einen Eindruck von dem Glanz kaiserlicher Herrschaft, durch den die Festtage in Quedlinburg geprägt wurden. Er manifestierte sich nicht zuletzt in den überreichen Geschenken, mit denen die fremden Gesandtschaften den Rang Kaiser Ottos anerkannten und das Verhältnis ihrer Länder zum Kaiser symbolisch zum Ausdruck brachten. Elf Jahre zuvor war Otto ja in Rom zum Kaiser erhoben worden und hatte seither Sachsen nur einen einzigen, relativ kurzen Besuch abgestattet, bei dem es mehr um die strittigen Fragen der Gründung des Erzbistums Magdeburg gegangen sein dürfte als um eine ostentative Präsentation seiner neuen Herrschaftsstellung. 3 Die Stimmung, die in Quedlinburg und in Sachsen bei diesem Osterfest geherrscht haben dürfte, scheint in Widukind von Corveys Bewertung der Feier auf: „So verließ er denn Italien mit großem Ruhm, da er den König der Langobarden gefangen genommen, die Griechen überwunden und die Sarazenen besiegt hatte. Mit seinen siegreichen Heerscharen zog er nach Gallien, um von hier nach Germanien hinüberzugehen und das nächste Osterfest an dem berühmten Ort Quedlinburg zu feiern, wo eine zahlreiche Menge aus verschiedenen Völkern zusammenkam und seine wie seines Sohnes Rückkehr ins Vaterland mit großer Freude feierte." 4 Nach fast überlanger Abwesenheit von seinen Stammlanden feierte der Herrscher seine Erfolge also endlich am richtigen Ort und die Internationalität der Teilnehmer des Festes demonstrierte den Charakter seiner imperialen Herrschaft, die Widukind mehrfach mit Wertungen belegt wie, Otto sei der dominus totius Europae geworden, dessen Macht schon
2 Zusammenstellung der einschlägigen Quellen bei Rudolf KÖPKE und Ernst DÜMMLER, Kaiser Otto der Große, 2., unveränd. Aufl., Darmstadt 1962, 501 ff., 509; Johann Friedrich BÖHMER und Emil von OTTENTHAL, Regesta Imperii 2: Sächsisches Haus 919-1024, 1: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Herrschern aus dem Sächsischen Hause 919-973, Innsbruck 1893, Nr. 562d und Nr. 567; zuletzt Christian LÜBKE (Bearb.), Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder (vom Jahr 900 an), Bd. 2, Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 133, Berlin 1985, Nr. 163, 228 ff. 3 Die strittigen Themen dieses ersten kaiserlichen Besuchs seiner sächsischen Heimat reflektieren die Quellen nur verschwommen. Von besonderem Gewicht ist die Darstellung der Halberstädter Bistumschronik über Vorgänge in Quedlinburg und Halberstadt, die von massiven Konflikten Ottos mit Bischof Bernhard von Halberstadt erzählt, vgl. dazu Gerd ALTHOFF, Magdeburg - Halberstadt - Merseburg. Bischöfliche Repräsentation und Interessenvertretung im ottonischen Sachsen, in: Gerd ALTHOFF und Ernst SCHUBERT (Hg.), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen, Sigmaringen 1998, 267-293, 274 f. mit Anm. 24. Wichtig auch der in den Mathildenviten erzählte Aufenthalt Ottos des Großen in Nordhausen [Vgl. Bernd SCHÜTTE (Hg.), Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde (MGH SS rer. Germ. 66) Hannover 1994: Vita Mathildis reginae antiquor, cap. 14, 134, Vita Mathildis reginae posterior, cap. 22, 188 ff.], bei dem er die Stiftsgründung seiner Mutter bestätigt habe - hiermit den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllend. 4 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae, neu bearb. von Paul HIRSCH in Verbindung mit Hans-Eberhard LOHMANN (MGH SS rer. Germ. [60]), 5. Aufl. Hannover 1935, lib. 3, cap. 75, 152: Egressus est itaque de Italia cum magna gloria, capto rege Longobardorum, superatis Graecis victisque Sarracenis, cum victricibus alis Galliam ingressus est, inde Germaniam transiturus et proximum pascha loco celebri Quidlingaburg celebaturus; ubi diversarum gentium multitudo conveniens, restitutum patriae cumfilio cum magno gaudio celebrabant.
5
O t t o d e r G r o ß e u n d d i e n e u e e u r o p ä i s c h e Identität
nach Afrika und Asien hinüberreiche. Adressiert war dieses Lob des Herrschers an Ottos Tochter Mathilde, die Quedlinburger Äbtissin, der der Mönch Widukind seine Sachsengeschichte widmete. 5 Es war aber ganz gewiss keine Versammlung gleichberechtigter und freundschaftlich gesinnter Partner, die da die Rückkehr des Kaisers in seine Stammlande feierten. Mieszko, der Pole, sagen die Altaicher Annalen, habe seinen Sohn Boleslaw, terrore compulsus. vom Schrecken gepackt, als Geisel geschickt. Die Gesandten des Dänen kamen, um ihre Unterwerfung zu vollziehen und Tribut zu zahlen. 6 Wie brüchig der Frieden war. den sie auf diese Weise eingingen, zeigte sich schon im nächsten Jahr, als Harald nach dem Tode Ottos bewaffnet gegen die Grenzmarken vorging. 7 Die Festfreude überdeckte aber auch eine ganze Reihe innersächsischer Schwierigkeiten wahrscheinlich nur mühsam. So beunruhigte Otto ein Gerücht, dass sich eine Mehrzahl der Sachsen gegen ihn erheben wolle. 8 Gründe für ihre Unzufriedenheit gab es trotz der herrscherlichen Erfolge genug. Die aus der Ferne geplante und durchgesetzte Einrichtung des Erzbistums Magdeburg hatte andere kirchliche wie weltliche Institutionen in Sachsen tangiert, die um ihre Stellung und ihre Besitzungen fürchteten. Und der Widerstand gegen die Neuordnung war 968 keineswegs erloschen, wie etwa die Tatsache zeigt, dass man nach Ottos Tod bei erster Gelegenheit ausgerechnet das Bistum wieder auflöste, dessen Einrichtung auf ein Gelöbnis Ottos auf dem Lechfeld zurückging: das dem hl. Laurentius geweihte Merseburg. 9
5 V g l . e b d . . V o r r e d e z u m 2. B u c h , 61 w o M a t h i l d e selbst als domina w i r d , d e r e n V a t e r s potestas pene
totius
Enropae
totins
Enropae
bezeichnet
sich b e r e i t s n a c h A f r i k a u n d A s i e n e r s t r e c k e . D i e B e z e i c h n u n g als
dominus
v e r w e n d e t O t t o in d e r von W i d u k i n d stilisierten R e d e v o r d e r L e c h f e l d s c h l a c h t .
ü b . 3. c a p . 4 6 . 127: vgl. d a z u H e l m u t BEUMANN. W i d u k i n d v o n C o r v e y . A b h a n d l u n g e n z u r C o r v e y e r G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g 3. W e i m a r 1950. 2 5 9 ff. 6 V g l . A n n a l e s A l t a h e n s e s m a i o r e s , h r s g . v o n W i l h e l m (IN si ISKI C Η I u n d E d m u n d L. B. v o n Οι 1111 ( M G H S S X X ) . H a n n o v e r 1868. 7 7 2 - 8 2 4 . a. 9 7 3 . 7 8 7 : Otdo imperator rator cum imperatricibus 10. Kai. April. Bulgariorum Otonis
Illuc
14. Kai. April
ι-euere
dito; etiam
siibiiciunt
legati
legati
cum statuta
illuc νenit muneribus.
Graecorum
ducis
Haroldi.
vectigali.
Miszego
etiam
Otdoni
imperatori,
Attamen
Haroldus
dimisisset. garet,
provinciam
trans
adunavit misit
Imperator
igitur,
imperator
thesaurum,
mmeiis contra
Haroldum
cum
resistere
putabant [dux
omnia adiensque
irritatus,
reversus
ire. Postquam insuperque in pace
est ad suam
Haroldus promisit
voluissent
sua
dedetioni
einn inumerabiliter
donans
mittit
obsidem.
rex Demo rum. Cumqiie
omnem filium
bellum
ut talem suum
incentor
malo-
hoc ntinciatum
thesaurum.
regionem.
rex misit Uli censuni
Ungarorum,
omnia
eique grande
expendit
impe-
is Contimit
12 primates
filium
vastavit.
ad Haroldum. eique
voluit
inferre.
ut eum in exercitum
dominanti
dare, quem antea
fuisset
dedit;
pace
congre-
ad
obsidem
tunc
cessavit
dimisit.
8 Vgl. W i d u k i n d ( w i e A n m . 4). lib. 3. c a p . 75. 152: Pulsavit rebellare
regiis
Haroldus
atque
celebrant,
imperatori.
compulsus.
finirentur.
concremarit
et filius eins Olo item
mimeribus.
Sclavienusj
terrore
suos ad imperatorem
quem habuit,
suae sevitiae,
baec Albiae
maior
ibi diem paschalem
Beneventorum
Boneszlawo
suum exercitum,
nuncios
quo iiisus potuisset
omnenique
flumen
venerum,
quem
dux Sclavieniis.
1 Vgl. e b d . . a. 9 7 4 . 7 8 8 : Antequam ruin, omnem
Quidlingaburg
quoejue fama
eum, quasiplerique
Saxonum
[...].
9 S i e h e d a z u zuletzt AI.THOFF. M a g d e b u r g ( w i e A n m . 3): E r n s t - D i e t e r HF.HL. D e r w i d e r s p e n s t i g e Bischof.
Bischöfliche Zustimmung
und
bischöflicher
Protest
in d e r o t t o n i s c h e n
ALTHOFF/SCHUBERT ( H g . ) , H e r r s c h a f t s r e p r ä s e n t a t i o n ( w i e A n m . 3). 2 9 5 - 3 4 4 .
Reichskirche,
in:
6
Gerd Althoff
Im Raum stand ganz gewiss auch noch jene Anmaßung von Herzog Hermann Billung, dem Stellvertreter Ottos während seiner langen Abwesenheit, der ein Jahr zuvor in Magdeburg unter tätiger Mithilfe von Erzbischof Adalbert zunächst das königliche Empfangszeremoniell für sich usurpiert hatte, dann inmitten von Bischöfen auf des Königs Platz an der Tafel gesessen und sogar in dessen Bett geschlafen hatte. Otto hatten diese Handlungen, die gewiss eine symbolische Bedeutung hatten, sehr erzürnt; er hatte von Italien aus den Magdeburger Erzbischof bestraft. 1 0 Nun aber trafen sich Herzog und Kaiser am Palmsonntag in eben dem Magdeburg erstmals wieder. Man spekuliert wohl nicht zuviel mit der Annahme, dass dieses Zusammentreffen am Ort der Anmaßung von einiger Delikatesse war, auch wenn Hermann dem Kaiser bereits reiche Geschenke zur Wiedergutmachung entgegengesandt hatte. Dazu passt das Detail, dass Otto genau in dieser Zeit den Bischof Brun von Verden zu den Ungarn sandte, um in seinem Namen zu verhandeln, während dieser Bischof mit Herzog Hermann aus unbekannter Ursache so im Streit lag, dass er ihn gebannt hatte und nicht einmal bereit war, ihn nach seinem Tode, der übrigens wenige Tage nach Ostern eintrat, von diesem Bann zu lösen." Doch ist die Sichtung und Bewertung der wenigen Überlieferungssplitter, die sich von der Quedlinburger Osterfeier des Jahres 973 erhalten haben, nicht das Hauptanliegen dieses Beitrags. Es sei daher lediglich unterstrichen: Wir wissen zwar einige Details bezüglich des Teilnehmerkreises und des Glanzes, der dieses letzte Osterfest Ottos des Großen auszeichnete. Wir haben damit so etwas wie eine Momentaufnahme. Der Kontext, in dem sie stand, ist aber weitgehend unbekannt. Über die politische Lage in Sachsen, im Reich und bei seinen östlichen Nachbarn in dieser Zeit sind wir nämlich weit weniger genau informiert. Und was der Herrscher weiter vorhatte und plante, wie die in der modernen Forschung so vielbeschworenen Konzeptionen seiner Ost- und Missionspolitik aussahen, wissen wir noch weniger. Umso intensiver aber waren in Vergangenheit und Gegenwart die Bemühungen, die Überlieferungslücken mittels Hypothesen zu überbrücken. Und wohl nicht zufällig sind gerade im letzten Jahrzehnt kontroverse und keineswegs abgeschlossene Debatten darüber geführt worden, was man denn über dieses extrem quellenarme 10. Jahrhundert überhaupt aussagen könne, das dessen ungeachtet immer ein Lieblingskind der deutschen Mittelalterforschung
10 Vgl. Thietmar von Merseburg, Chronicon, hrsg. von Robert HOLTZMANN (MGH SS rer. Germ. NS 9), 2. Aufl. Berlin 1955, lib. 2, cap. 28, 74 f. 11 Ebd., lib. 2, cap. 31, 76 ff. 12 Vgl. dazu Johannes FRIED, Die Königserhebung Heinrichs 1. Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jahrhundert, in: Michael BORGOI.TE (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, Historische Zeitschrift, Beihefte 20, München 1995, 267-318; Hagen KELLER, Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und Krönung Ottos I., in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), 3 9 0 - 4 5 3 ; sowie Gerd ALTHOFF, Geschichtsschreibung in einer oralen Gesellschaft. Das Beispiel des 10. Jahrhunderts, in: Bernd SCHNEIDMÜLLER und Stefan WEINFURTER (Hg.), Ottonische Neuanfänge. Symposion zur Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa", Mainz 2001, 151-169.; Gerd ALTHOFF, Das argumentative Gedächtnis. Anklage- und Rechtfertigungsstrategien in der Historiographie des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Christel MEIER, Volker ΗΟΝΕΜΛΝΝ, Hagen KELLER und Rudolf SUNTRUP (Hg.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums 26.-29. Mai 1999, Münstersche Mittelalter-Schriften 79, München 2002, 6 3 - 6 7 ; beide Aufsätze wieder in Gerd ALTHOFF, Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003.
Otto der G r o ß e und die neue e u r o p ä i s c h e Identität
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Die vielen K o n s t r u k t e mediävistischer F o r s c h u n g z u m 10. J a h r h u n d e r t haben eines gem e i n s a m : Sie stehen in e i n e m deutlichen Z u s a m m e n h a n g mit A n f o r d e r u n g e n , P r o b l e m e n und Perspektiven der j e w e i l i g e n G e g e n w a r t , in der sie formuliert w u r d e n . Es gibt n a m e n t lich in der d e u t s c h e n G e s c h i c h t e nicht viele Felder, die man noch stärker f ü r B e l a n g e der G e g e n w a r t instrumentalisiert hat als die mittelalterliche Ostpolitik im A l l g e m e i n e n und die O t t o s des G r o ß e n im B e s o n d e r e n . 1 3 D a h e r darf man wohl einen W u n s c h und ein A n l i e g e n den weiteren A u s f ü h r u n g e n voranstellen: W i r sollten den vielen nationalen und nationalistischen Instrumentalisierungen der ottonischen Ostpolitik nicht u n b e d a c h t eine e u r o p ä i s c h e a n f ü g e n , auch w e n n sie noch so gut g e m e i n t ist. Mir schiene es erträglicher, w e n n das neue E u r o p a an e i n e m ..Mythendefizit" litte, wie man kürzlich beredt geklagt hat. als w e n n neuerlich M y t h e n konstruiert w ü r d e n , die sich zweckorientiert von d e m entfernen, w a s m a n auf der Basis der Ü b e r l i e f e r u n g rekonstruieren und verantworten kann. 1 4 Nun aber zu der Frage, o b und in w e l c h e r W e i s e die mittelalterliche Politik Ottos des G r o ß e n , wie sie in der Q u e d l i n b u r g e r O s t e r t e i e r des Jahre 9 7 3 s y m b o l i s c h verdichtet entgegen zu treten scheint, geeignet sein könnte, als Baustein einer neuen mitteleuropäischen Identität V e r w e n d u n g zu finden, einer Identität, auf deren G r u n d l a g e das friedliche und kooperative Z u s a m m e n l e b e n der Staaten und V ö l k e r ermöglicht oder erleichtert wird. W e n n ich es richtig sehe, sind es z u m i n d e s t zwei f u n d a m e n t a l e Schwierigkeiten, die sich einer V e r w e n d u n g der Politik Ottos des G r o ß e n f ü r m o d e r n e nationale wie supranationale Identitätsstiftungen entgegenstellen: 1. die Verhältnisse, unter denen Politik im 10. J a h r h u n d e r t stand, sind so f r a p p i e r e n d anders als die heutigen, dass man ihnen gerechter wird, wenn man zunächst einmal ihre F r e m d h e i t konstatiert und anerkennt - und in ihnen nicht vorschnell das W u r z e l w e r k unserer Welt entdeckt: 2. die Ostpolitik der Ottonen und namentlich Ottos des G r o ß e n ist den D e u t s c h e n so lange mit aggressiv nationalistischen Etiketten angeboten worden, dass man sie k a u m u n b e f a n g e n f ü r das direkte Gegenteil v e r w e n d e n kann. Vielleicht m u s s m a n j a d o c h in E r i n n e r u n g r u f e n , d a s s es g e r a d e erst zwei o d e r drei W i s s e n s c h a f t l e r g e n e r a t i o n e n her ist. dass f ü h r e n d e Vertreter der d e u t s c h e n Mediävistik die sog. Kulturträgertheorie nicht zuletzt a m W i r k e n O t t o s des G r o ß e n belegten, j a ihn z u m H e r r s c h e r der g o l d e n e n Zeit m a c h t e n , in d e r ein starkes d e u t s c h e s Reich noch eine aktiv a u s g r e i f e n d e , und d a s heißt e r o b e r n d e und u n t e r w e r f e n d e Ostpolitik betrieben habe, an die es a n z u k n ü p f e n gelte. Die P r o p a g i e r u n g dieser Sicht v e r s t a n d e n Historiker i n s b e s o n d e r e nach 1918 e r k l ä r t e r m a ß e n als ihren Beitrag z u m V o l k s t u m s k a m p f . S o e r z e u g t e n sie ein B e w u s s t s e i n f ü r die „ b l u t e n d e n W u n d e n " der G r e n z f r a g e n : und so trugen sie zur A k z e p t a n z
13 Vgl. dazu G e r d ALTHOFK Die Beurteilung der mittelalterlichen Ostpolitik als P a r a d i g m a f ü r zeitgeb u n d e n e G e s c h i c h t s b e w e r t u n g , in: DHRS. (Hg.). Die D e u t s c h e n und ihr Mittelalter. T h e m e n und Funktionen m o d e r n e r G e s c h i c h t s b i l d e r v o m Mittelalter. D a r m s t a d t 1992. 1 4 7 - 1 6 4 : zuletzt J o h a n n e s FRIED. O t t o der G r o ß e . Sein Reich und E u r o p a - V e r g a n g e n h e i t s b i l d e r eines J a h r t a u s e n d s , in: Matthias PL'HLK (Hg.). Otto der G r o ß e . M a g d e b u r g und E u r o p a [eine A u s s t e l l u n g im Kulturhistorischen M u s e u m M a g d e b u r g v o m 27. A u g u s t - 2 . D e z e m b e r 2 0 0 1 : Katalog der 27. Ausstellung des E u r o p a r a t e s und L a n d e s a u s s t e l l u n g S a c h s e n - A n h a l t ) . Bd. I. M a i n z 2 0 0 1 . 5 3 7 - 5 6 4 . 14 W o l f g a n g SCHMALH. Scheitert E u r o p a an seinem Mythendefizit'?. B o c h u m 1997: W o l f g a n g SCHMALE. E u r o p a o h n e M y t h o s , in: Anette VÖI.KER-RASOR und W o l f g a n g SCHMALE (Hg.), M v t h e n M ä c h t e - M y t h e n als A r g u m e n t . Innovationen 5. Berlin 1998. 1 3 3 - 1 5 8 .
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der Revisions-, Eroberungs- und Vernichtungspolitik bei, die die Nationalsozialisten später ins Werk setzten. 15 Es sei nur mit wenigen Beispielen aus einem Vortrag Hermann Aubins, den er 1932 auf dem deutschen Historikertag in Göttingen hielt, belegt, in welchen Kategorien das Thema Ostpolitik in dieser Zeit gedacht wurde und mit welchen Grundannahmen es verbunden war: „Einen gänzlich abweichenden Charakter zeigt hingegen die Ostgrenze", formuliert Aubin dort einleitend und programmatisch, Sie verläuft in einem Raum, der ganz dünn besiedelt ist, welcher der Kultur erst gewonnen werden muß, gegenüber Völkern von fremder Herkunft und Art, die auf einer weit niedrigen Stufe der staatlichen Organisation und der Gesittung überhaupt stehen. Grenze bedeutet hier nicht einfach das Ende eines beliebigen Staatsgebiets, und Grenzschutz nicht nur Verteidigung von Leben und Habe, sondern der höheren Zivilisation gegen den Einbruch der primitiven. Grenzbildung wird hier Kulturarbeit im eminenten Sinne; Grenzvorschiebung meint nicht nur Gebietsgewinn, sondern Staatsaufbau von innen heraus, f...] Diese Grenze der Deutschen ist zugleich die Grenze des Abendlandes, seiner Kirche, seiner Gesittung. Hier stand das Bollwerk, das, wie einst der römische Limes, zwei große Lebensgebiete schied, und den weiten Kreis des abendländischen Daseins gegen den mehr als einmal drohenden Andrang der Barbaren oder völlig fremder Kultur verteidigte. Seine Festigkeit war der Schutz des Okzidents, seine Vorverlegung dessen Erweiterung." 1 6 An anderer Stelle schreibt Aubin über die Grenzmarken, die nach Vorstufen in der Karolingerzeit von Otto dem Großen als wichtige Institution einer aktiven und offensiven Grenzsicherung eingerichtet wurden, Folgendes: „Die Mark wird gleichsam zur großen Schulstube für die jungen Völkerschaften des Ostens, welche sie durchmachen müssen, um für die Aufnahme in die abendländische Kulturgemeinschaft reif zu werden." 1 7 Solche Vorstellungen, die man in vielen mediävistischen und anderen Arbeiten der Zeit nachweisen könnte und nachgewiesen hat, haben das Geschichtsbewusstsein und die Identität der Deutschen in der Weimarer Republik und dann in der Zeit des Nationalsozialismus mitbestimmt, und sie haben den Boden und die Akzeptanz für eine Revisionspolitik geschaffen, die die rassistische Arroganz, die auch bei Aubin gar nicht einmal latent vorhanden ist, in Vernichtungspolitik umsetzte. So konstatierte Aubin für die Zeit der Karolinger denn auch ganz offen, dass es den Sachsen im Unterschied zu den Slaven „erlassen blieb, den Vorhof der Markenorganisation zu durchlaufen; der Grund dafür (ist) ohne Zweifel ihr Germanentum, das sie auf eine Stufe mit dem Herrenvolk der Franken stellte." 18 Solche und vergleichbare Fehlurteile und ihre Folgen sollten in wacher Erinnerung bleiben. Für Kooperation oder gar für Gleichberechtigung war in solchen Geschichtsbildern kein Platz.
15 Vgl. allgemein Wolfgang WIPPERMANN, Der „deutsche Drang nach Osten", Darmstadt 1981; Michael BURLF.Y, Germany turns eastwards. A study of „Ostforschung" in the Third Reich, Cambridge 1988. 16 Hermann AUBIN, Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches. Entstehung und staatsrechtlicher Charakter (1932), in: DERS., Von Raum und Grenzen des Deutschen Volkes. Studien zur Volksgeschichte, Breslauer Historische Forschungen 6, Breslau 1938, 109-144, hier I I I . 17 Ebd., 118. 18 Ebd., 118.
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E s wäre nun aber z w e i f e l s o h n e auch u n a n g e m e s s e n , w e n n man gegen solche Einschätzungen ottonischer Ostpolitik ein Bild von friedlicher und gleichberechtigter N a c h b a r s c h a f t im 10. J a h r h u n d e r t zu setzen versuchte, das u n s e r e m Z u s a m m e n l e b e n mit den östlichen Nachbarn R i c h t s c h n u r oder gar Vorbild sein könnte. Das hieße nämlich, einen Großteil der Realitäten des 10. J a h r h u n d e r t s a u s z u b l e n d e n . M a n m u s s v i e l m e h r in R e c h n u n g stellen, dass das Verhältnis des ottonischen R e i c h e s zu seinen östlichen N a c h b a r n auch geprägt war von K a m p f und Konflikten, von roher Gewalt und Hinterlist, von Rangstreitigkeiten und von Feindbildern, die den späteren nationalen Stereotypen w e n i g nachstanden. Stellt man den Q u e d l i n b u r g e r H o f t a g von 973 nämlich in seinen politischen Kontext, e r g e b e n sich G r ü n d e genug, die Z u s t ä n d e des 10. Jahrhunderts gerade nicht als Vorbild zu n e h m e n . Es wäre ein Leichtes, schon aus dieser Zeit Beispiele f ü r sächsische A r r o g a n z und Überheblichkeit z u s a m m e n z u t r a g e n wie f ü r b e s t e h e n d e Vorurteile über slavisches W e s e n und deren kulturelles N i v e a u . M a n m u s s nur die M e r s e b u r g e r B i s t u m s g e s c h i c h t e des sächsischen A d e l s s o h n e s und B i s c h o f s T h i e t m a r lesen, die voll von s o l c h e m Material ist. 1Q Eine Differenzierung ist dabei allerdings u n a b d i n g b a r : D e r U m g a n g mit den heidnischen Kleinvölkern der Slaven z w i s c h e n Elbe und O d e r w u r d e in der Ottonenzeit von deutlich anderen Regeln geprägt als der mit den christlichen Völkern der B ö h m e n . Polen und Ungarn. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Verhältnis zu den christlichen Reichen u n p r o b l e m a tisch g e w e s e n wäre. Es sei nur die z u s a m m e n f a s s e n d e W ü r d i g u n g zitiert, die T h i e t m a r von M e r s e b u r g im b e g i n n e n d e n 11. Jahrhundert v o m Verhältnis der Sachsen zu den christlichen Polenherrschern gibt: „ W i e w e n i g lassen sich doch unsere V o r f a h r e n und unsere Zeitgenossen vergleichen. Zu Lebzeiten des w a c k e r e n ( M a r k g r a f e n ) H o d o " , das ist die Zeit des H o f t a g e s , „ w a g t e [... ] M i e s z k o niemals ein Haus, in d e m er ihn wusste, im Pelze zu betreten oder sitzen zu bleiben, w e n n er sich erhob. Gott verzeihe es d e m Kaiser", gemeint ist Otto III.. ..dass er einen Tributpflichtigen z u m Herrn m a c h t e und so hoch erhöhte, dass er seines Vaters Sitte", nämlich die U n t e r o r d n u n g unter ottonische A m t s t r ä g e r . ..vergaß und sich unablässig erfrechte. H ö h e r s t e h e n d e allmählich in Untertänigkeit herabzuziehen."~ H Die Klage bezieht sich darauf, dass sächsische Krieger in den G r e n z m a r k e n Bolestaw am Beginn des 11. Jahrhunderts als ihren Herrn a n e r k a n n t hatten. D o c h trotz aller A n i m o s i t ä t e n und Rangstreitigkeiten, die nicht nur in dieser G e s c h i c h t e deutlich werden: Im U m g a n g mit den christlichen N a c h b a r r e i c h e n w u r d e n im Wesentlichen R e g e l n des U m g a n g s befolgt, wie sie innerhalb der kriegerischen A d e l s g e s e l l s c h a f t e n S a c h s e n s und des Reiches auch praktiziert w u r d e n .
19 Vgl. d a z u H e l m u t LIPPEI.T. T h i e t m a r von M e r s e b u r g . Reichsbischof' und Chronist. Köln 1973. bes. 170. A n m . 154. 188: a l l g e m e i n siehe bereits H a n s - D i e t r i c h KAHL. S l a w e n und D e u t s c h e in der B r a n d e n b u r g i s c h e n G e s c h i c h t e des z w ö l f t e n J a h r h u n d e r t s . Die letzten Jahre d e s L a n d e s Stodor. Köln und G r a z 1964. 20 T h i e t m a r . (wie A n m . 10). lib. 5. cap. 10. 232: Quam inique comparand) .sunt antecessores nostri et contemporales! Virente egregio Hodone [...] Miseco domum. qua eum esse sciebat, crusinatus intrare rel eo assurgente numquam presumpsit sedere. Dens indulgeat imperatori. qitod tributarium faciens dominum ad hoc unic/uam elevarit, ut, oblita sui genitoris regula, semper sibi prepositos änderet in subiectionem paulatim detraliere vilissimoqite pecunie transeuntis inescatos amo in serritutis libertatisc/ue detrimentitm capere.
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Das war in Auseinandersetzungen mit den heidnischen Elbslaven keineswegs der Fall. Von der Härte und Grausamkeit dieser Auseinandersetzungen gibt uns etwa Widukind von Corvey unmissverständlich Zeugnis: „Die Barbaren aber, durch unsere Schwierigkeiten übermütig geworden, hörten nirgends auf, mit Morden und Brennen das Land zu verwüsten, und trachteten danach den (Markgrafen) Gero, den der König über sie gesetzt hatte, mit List zu töten. Er aber kam der List mit List zuvor und räumte ungefähr an die dreißig Fürsten der Barbaren, die nach einem großen Gelage (convivium) von Wein und Schlaf trunken waren, in einer Nacht aus dem Wege. Da er aber gegen alle Völkerschaften der Barbaren allein zu schwach war, [...] so führte der König selbst mehrere Male ein Heer gegen sie, fügte ihnen vielen Schaden zu und brachte sie fast in das äußerste Verderben. Nichtsdestoweniger zogen sie den Krieg dem Frieden vor, indem sie alles Elend der teuren Freiheit gegenüber gering achteten." 21 Man muss kommentierend vielleicht betonen, dass solche convivia (Gelage) als friedenstiftende Veranstaltungen in der mittelalterlichen Gesellschaft hohe Wertschätzung genossen. Erst dann kann man die Heimtücke ermessen, mit der dieser Markgraf Gero gegen die Elbslaven vorging, dessen Grabeskirche in Gernrode von einem ganz anderen Selbstverständnis zu zeugen scheint als es in dieser Geschichte zum Ausdruck kommt. Noch in einer anderen Geschichte Widukinds spielt der Markgraf Gero im Auftrage Ottos des Großen eine sehr eigenartige Rolle, die geeignet ist, einen realistischen Eindruck von den Zuständen an der Ostgrenze zu vermitteln: Otto war direkt nach seinem Lechfeldsieg gegen die Ungarn noch im Herbst 955 mit einem sächsischen Heer gegen die Elbslaven gezogen, um deren Freveltaten zu rächen, nachdem man sich in Verhandlungen nicht über ausreichende Genugtuungsleistungen hatte einigen können. Dieses scheinbare Detail ist wichtig, denn es verdeutlicht, dass auch mit den heidnischen Slaven durchaus verhandelt wurde, also keineswegs ein kommunikationsloser Kriegszustand herrschte. Interessanterweise hatten vornehme Sachsen, unter diesen die Verwandten Ottos des Großen, die billungischen Brüder Wichmann und Ekbert, mit den Heiden gemeinsame Sache gemacht und kämpften auf deren Seite. Das Heer Ottos geriet auf diesem Feldzug in eine schwierige Lage, wurde von den Slaven eingeschlossen, durch Krankheiten und durch Hunger gepeinigt. In dieser Situation schickte Otto seinen Markgrafen Gero mit einem interessanten Auftrag zum Fürsten der Slaven namens Stoinef: Dieser solle sich Otto ergeben, er werde ihn dann als Freund gewinnen und nicht als Feind erproben müssen. Mit solchen Angeboten hat man in der christlichen Kriegergesellschaft Kämpfe vermieden und den Frieden durch Unterwerfung hergestellt. Otto hätte nach dieser Darstellung aber einem Heiden ein Freundschaftsangebot gemacht, ein Vorgang, der sich später (1003) in dem so genannten Liutizenbündnis Heinrichs II. wiederholte, das dieser gegen den christlichen Polenherrscher Boleslaw Chrobry schloss. 22
21 Widukind (wie Anm. 4), lib. 2, cap. 20, 84: Barbari autem labore nostro elati nusquam ab incendio, caede ac depopulatione vacabant, Geronemque, quem sibi rex prefecerat, cum dolo perimere cogitant. Ipse sepultos ad triginta fere principum barbarorum una node extinxit. Sed cum non sufficerent contra omnes nationes barbarorum [...] ab ipso rege saepius ductus exercitus eos laesit et in multis afflixit et in ultimam pene calamitatem perduxit. Illi vero nichilominus bellum quam pacem elegerunt, omnem miseriam carae libertati postpotentes. 22 Vgl. dazu Knut GÖRICH, Eine Wende im Osten: Heinrich II. und Boleslaw Chrobry, in: Bernd S C H N E I D M Ü L L E R und Stefan W E I N F U R T E R (Hg.), Otto III. - Heinrich II. Eine Wende?, MittelalterForschungen 1, Sigmaringen 1997, 95-167, bes. 111 f.
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W i e aber verstand M a r k g r a f G e r o seinen A u f t r a g ? ..Der Markgraf begrüßte den Barbaren über den S u m p f und den Fluss h i n w e g , w a s d e r Slave in ähnlicher W e i s e erwiderte. Der M a r k graf sagte dann zu ihm: ,Es w ü r d e f ü r dich g e n u g sein, w e n n du gegen einen von uns, von m e i n e s Herrn Dienern, Krieg führtest und nicht auch noch gegen meinen Herrn, den König. W a s f ü r ein H e e r hast du, w a s f ü r W a f f e n , u m so e t w a s zu w a g e n ? W e n n ihr etwas Tapferkeit, etwas G e s c h i c k und K ü h n h e i t besitzt, so erlaubt uns, zu euch h e r ü b e r z u k o m m e n , oder wir wollen euch zu uns h e r ü b e r k o m m e n lassen, und auf gleicher Wallstatt m ö g e sich dann die T a p f e r k e i t des Streiters z e i g e n . ' Der Slave, nach barbarischer Sitte mit den Z ä h n e n knirschend und viel S c h i m p f w o r t e a u s s t o ß e n d , verspottete G e r o und den Kaiser und das ganze Heer, da er dieses von vielen Schwierigkeiten bedrängt wusste.""" 1 Man kann wohl k a u m sagen, dass G e r o mit seinem Verhalten den A u f t r a g Ottos ausführte. Er m a c h t e v i e l m e h r durch seine Beleidigungen einen K a m p f unvermeidlich, der denn auch nach einer erfolgreichen Kriegslist Geros am f o l g e n d e n T a g begann und z u m sächsischen Sieg führte. D a n n aber geschah f o l g e n d e s : „In e i n e m Hain w u r d e S t o i n e f " . der geflohen war. ..von e i n e m Ritter n a m e n s H o s e d entdeckt, im K a m p f ü b e r w u n d e n , seiner Sachen beraubt und ihm der Kopf abgeschlagen. [ . . . ] Für diese Tat erntete Hosed Ehre und A u s z e i c h n u n g : der Lohn so r u h m v o l l e r Tat war ein kaiserliches G n a d e n g e s c h e n k mit den E i n k ü n f t e n von zwanzig H u f e n [...]. A m nächsten M o r g e n w u r d e der Kopf des Fürsten auf d e m Felde aufgestellt, und r i n g s u m h e r 7 0 0 G e f a n g e n e enthauptet; Stoinefs R a t g e b e r wurden die A u g e n a u s g e s t o c h e n und die Z u n g e herausgerissen, und so ließ man ihn mitten unter den L e i c h n a m e n hilflos liegen. W i c h m a n n aber und Ekbert zogen, sich ihrer Freveltaten bewusst, nach Gallien und e n t k a m e n durch die Flucht z u m H e r z o g H u g o " , einem weiteren V e r w a n d t e n und S c h w a g e r O t t o s des G r o ß e n . 2 4 Diese G e s c h i c h t e ist ein Beispiel d a f ü r , wie f r e m d a r t i g das Verhalten in diesen A u s e i n a n d e r setzungen f ü r uns ist. V o m A n g e b o t der F r e u n d s c h a f t bis zur g r a u s a m e n Hinrichtung scheint es nur ein kleiner Schritt. Es wird mit völlig unterschiedlichem M a ß g e m e s s e n . Die christlichen V e r w a n d t e n gehen straflos aus, an d e m R a t g e b e r wird ein E x e m p e l statuiert: die V e r h a l t e n w e i s e des M a r k g r a f e n G e r o bleibt f ü r uns rätselhaft und wird von W i d u k i n d nicht k o m m e n t i e r t o d e r gar kritisiert. S o v e r f u h r man mit heidnischen G e g n e r n . A b e r auch das Verhältnis zu den christlichen Slavenreichen war vor und nach 9 7 3 durchaus mehr von K ä m p f e n . U n t e r w e r f u n g und Tributen geprägt als von friedlicher Koexistenz.
23 W i d u k i n d (wie A n m . 4). lib. 3. cap. 54. 133 f.: Igitur preses super puludem et flumen. cui palus adiacens erat, barbarum sahttabat. Citi Sclavus aequalia respondit. Ad quem preses: Satis tibi esset, si bellum gereres contra unum nostrum de seiris domini mei. er non etiam contra dominum meum regem. Quis tibi exercitus. quae arma. ut talia presumas'.' Si alic/ua vobis virtus adsit. si artes, si audatia. date nobis locum ad vos transeundi. sive nos vobis hue veniendi. et aequato toco fortitudo apparent pugnatoris.' Sclavus barbarico more frendens et multa convicia evomens irrisit Geronem imperatoremque et omnem e.xercitum, sciens eum multis inolestiis aggravation. 24 Ebd.. lib. 3. cap. 55. 134 f.: Stoinef autem colle eminenti cum equitibus eventum rei e.xpectabat. Socios inire fugam cernens fugit et ipse, lucoque qitodam cum duobus satellitibus repertus a viro militari, cuius vocabulum erat Hosed, certamine fatigatus armisque nudatus capite caesus est. (...] Ex hoc Hosed clarus et insignis habitus. Merces tarn famosi gesti donativum imperiale cum reditu viginti mansuum. [... ] Posterea luce caput subreguli in campo posit um, circaque illud septingenti captivorum capite caesi. eiitsque consiliariits oculis erutis lingua est privatus in medioque cadaventm inutilis relictus. Wichmannus vero et Ecberhtus sceleruin conscii in Galliam profecti. ad Hugonem chicem fuga elapsi sunt.
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Vierzehn Jahre hatte nach Ottos Amtsantritt der Kampf gegen Boleslav von Böhmen gedauert, der seinen Bruder Vaclav durch einen heimtückischen Mord um Herrschaft und Leben gebracht hatte. Auf der Seite der Sachsen war in diesen Kämpfen jene Schar von in Merseburg angesiedelten Verbrechern zum Einsatz gekommen, denen schon König Heinrich I. ihre Strafe erlassen hatte, um sie zur ständigen kriegerischen Bedrohung der Slaven zu nutzen, wie Widukind ausführlich berichtet. 25 Als aber 950 die Übermacht Ottos von Boleslav anerkannt wurde, inszenierte man eine Unterwerfung seines Sohnes, Boleslavs IL, die Widukind so beschreibt: „Da nun Boleslav die Tapferkeit des Königs und die große Menge seines Heeres bedachte, kam er aus seiner Burg heraus und zog es vor, sich solcher Übermacht zu unterwerfen als den Untergang zu erleiden. Und er stellte sich unter die Feldzeichen, stand so dem König Rede und Antwort und erhielt schließlich Verzeihung. Von da kehrte der König ruhmreich nach vollständigem Siege nach Sachsen zurück." 26 Was hier berichtet wird, war eine förmliche Unterwerfung, die auch in mehreren anderen Fällen im ottonischen Reich praktiziert wurde, wenn Hochadelige und Verwandte die Waffen gegen Otto erhoben hatten. Schon seit der Zeit Heinrichs I. verlangten die ottonischen Könige im Konfliktfall von ihren Gegnern zunächst ein deutliches Zeichen der Aufgabe und der Unterordnung, ehe sie bereit waren, den Streit beizulegen und den Gegner wieder in seiner Stellung zu akzeptieren. 27 Im Falle Boleslavs wird die Unterordnung in einem militärischen Ritual öffentlich bekannt gemacht, das ansonsten nicht bezeugt ist, das aber gewiss die Funktion hatte, die Befehlsgewalt Ottos über Boleslav sinnfällig zu machen. Unterordnung, nicht Gleichberechtigung war die Botschaft dieser Szene. Nach der eindeutigen Unterordnung aber war der König bereit, demjenigen seine Huld zu gewähren, der auf so demonstrative Weise seinen Vorrang bestätigt hatte. Für eine Beurteilung der Kräfteverhältnisse an der Ostgrenze des Reiches ist also wichtig zu betonen, dass zumindest für die Herrscher der christlichen Nachbarreiche die Regeln galten, die sich im ottonischen Reich für den Umgang der Führungsschichten miteinander etabliert hatten. Nur darf man dies nicht als gleichberechtigte Kooperation missverstehen. Es ging zunächst einmal um Unterordnung und die Darstellung von Abhängigkeiten, auch wenn solche Unterordnung von den Herrschern reich belohnt wurde. Auch in Quedlinburg 973 inszenierte der dominus totius Europae in erster Linie seine Macht; eine Hegemonialmacht zeigte die Reichweite ihres Einflusses, wenn sie etwa die Unterwerfung des Dänenkönigs oder auch die Geiselstellung des polnischen Herzogssohnes öffentlich entgegennahm - als Vorbild für die von uns heute gewünschte und begonnene Zusammenarbeit lässt sich so etwas nur schwer verwenden.
25 Ebd., lib. 2, cap. 3, 68 f. 26 Ebd., üb. 3, cap. 8, 109: Considerata itaque virtute regis ac innumera multitudine exercitus, Bolizlav urbe egressus maluit tantae maiestati subici quam ultimam perniciem pati. Sub signisque stans et regem audiens responsaque reddens, veniam tandem promeruit. Inde plena victoria gloriosus factus, rex Saxoniam regreditur. 27 Vgl. dazu zuletzt Gerd ALTHOFF, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003.
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U n d d e n n o c h bedeutete Ottos U m g a n g mit seinen V e r w a n d t e n . Lehnsleuten und seinen N a c h b a r n in vielerlei Hinsicht bereits einen Fortschritt. M a n m u s s nur die richtige V e r g l e i c h s · e b e n e wählen. S o wenig seine Politik m e i n e s Erachtens f ü r uns identitätsstiftend sein kann, so deutlich hebt sie sich von der Folie v o r h e r g e h e n d e r Zeiten ab. U n d hier liegt vielleicht der G r u n d f ü r ein b e s o n d e r e s Interesse an den politischen wie ostpolitischen Verhältnissen der Ottonenzeit, das auch heute noch sinnvoll ist. Mit einem g e w i s s e n M u t zur Z u s p i t z u n g kann man im 10. Jahrhundert den D u r c h b r u c h doch grundsätzlich neuer F o r m e n des U m g a n g s miteinander zunächst im Reich und dann auch mit den N a c h b a r n feststellen, F o r m e n des U m g a n g s , die f ü r lange Zeit die ausschließliche Konzentration von M a c h t in einer H a n d verhindert haben und eine U r s a c h e f ü r die Vielfalt politischer Gebilde im Reich und in E u r o p a darstellen, die im hohen Mittelalter entstanden sind und teilweise bis ins 19. Jahrhundert Bestand hatten. In den K ö p f e n der M e n s c h e n haben sie vielfach bis heute ihre Spuren hinterlassen. Im 10. J a h r h u n d e r t g r i f f e n nämlich verschiedene M e c h a n i s m e n zur E i n d ä m m u n g von H e r r s c h e r m a c h t ineinander und bewirkten eine B i n d u n g dieser M a c h t an b e s t i m m t e V e r f a h r e n ; man setzte die B e a c h t u n g b e s t i m m t e r Standards durch und prägte so die politische Kultur in E u r o p a in nicht zu u n t e r s c h ä t z e n d e r Weise. Der H a u p t g r u n d f ü r diese V e r ä n d e r u n g e n liegt wohl darin, dass sich das G e w i c h t , das die Helfer des K ö n i g t u m s im politischen Kräftespiel besaßen, im 9. und 10. Jahrhundert erheblich zu ihren G u n s t e n verschob. Adel und Kirche entwickelten sich in d e m langen Prozess, in d e m das Karolingerreich zerfiel, zu Mitträgern und Partnern der Königsherrschaft, die ihre Interessen in den politischen E n t s c h e i d u n g s p r o z e s s einbrachten und mit beträchtlicher Gruppensolidarität verteidigten. 2 8 In d i e s e m Prozess setzte sich etwa das Verfahren durch, dass alle wichtigen Fragen beraten werden mussten und die K ö n i g e den Rat ihrer G r o ß e n k a u m m e h r ignorieren konnten. Dies hatte e t w a die K o n s e q u e n z , dass sich die Regierungstätigkeit der K ö n i g e in einer unablässigen Folge von H o f t a g e n manifestierte, auf d e n e n sie mit ihren G r o ß e n z u s a m m e n k a m e n und alle a n s t e h e n d e n P r o b l e m e berieten. Z w a r darf man sich solche B e r a t u n g e n nicht als h e r r s c h a f t s f r e i e Diskurse vorstellen - die Position im Rat war an den R a n g einer Person und an ihre N ä h e zum Herrscher g e b u n d e n - . doch ermöglichte die Beratung den Partnern der K ö n i g e aus Adel und Kirche, ihre Vorstellungen in den E n t s c h e i d u n g s p r o z e s s e i n z u b r i n g e n - und sich notfalls auch zu v e r w e i g e r n . Die Kirche entwickelte überdies mit der christlichen Herrscherethik N o r m e n , die die K ö n i g e auf b e s t i m m t e T u g e n d e n b e s o n d e r s festlegten, und sie verpflichtete diese in m ü n d licher Beratung wie in ö f f e n t l i c h e n Ritualen auf die A n e r k e n n u n g und B e f o l g u n g dieser N o r m e n . Nicht zufällig waren die Milde ( d e m e n t i a ) und die B a r m h e r z i g k e i t (inisericordia) E c k p u n k t e dieses T u g e n d s y s t e m s , die gerade das Verhalten der K ö n i g e in Konflikten prägten. U n d es ist nur s y m p t o m a t i s c h , dass wir im 12. Jahrhundert dann intensive B e m ü h u n g e n der
28 Vgl. dazu z u s a m m e n f a s s e n d L u d g e r KÖRNIGEN. Ottonen und Salier. G e s c h i c h t e k o m p a k t - Mittelalter. D a r m s t a d t 2 0 0 2 . 24 ff. 29 Vgl. hierzu die weiter a u s g r e i f e n d e P r o b l e m s k i z z e von Bernd SCHNEIDMÜLLER. K o n s e n s u a l c Herrschaft. Ein Essay über F o r m e n und K o n z e p t e politischer O r d n u n g im Mittelalter, in: P a u l - J o a c h i m HEINIG. S i g r i d
JAHNS. H a n s - J o a c h i m
SCHMIDT. R a i n e r
Christoph
SCHWINGES
und
Sabine
WF.FF.RS
(Hg.). Reich. R e g i o n e n und E u r o p a in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift f ü r Peter M o r a w . Historische F o r s c h u n g e n 67. Berlin 2000. 5 3 - 8 7 .
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Könige fassen, solche Verpflichtung zur Milde abzustreifen und dem rigor iustitiae, der unnachgiebigen Rechtswahrung zu huldigen. 3 0 Der Adel brachte die Könige auch zum Verzicht, das Ranggefüge seiner Helfer durch willkürliche Eingriffe, wie sie in Merowinger- und Karolingerzeit noch gang und gäbe gewesen waren, zu verändern. Es gab seit der Ottonenzeit einen von den Königen akzeptierten Anspruch auf Rang, aus dem auch der Anspruch auf eine angemessene Beteiligung an der Herrschaft resultierte. Konkret bedeutete dies etwa, dass die wichtigen Ämter in Kirche und Welt einem kleinen Kreis ausgewählter Familien vorbehalten waren, was die Könige in ihrer Entscheidungsfreiheit und ihrer Macht erheblich einschränkte. Die Fürstenverantwortung für das Reich intensivierte sich im Verlaufe des 10. und 11. Jahrhunderts und führte schließlich zu der Einschätzung, dass das Reich nicht eines, sondern „viele Häupter" habe. 31 Am deutlichsten sieht man die so knapp angesprochenen Veränderungen wohl im Verhalten der Könige gegenüber ihren Gegnern aus Adel und Kirche, wie sie namentlich Otto der Große in überreichem Maße besaß. Im Unterschied zu früheren Zeiten, in denen solche Gegner der Könige allen Grund hatten, um ihr Leben oder zumindest um ihr Augenlicht zu fürchten, etablierten sich in der Ottonenzeit Spielregeln der Konfliktführung, die den König auf Milde festlegten, selbst wenn seine Gegner in bewaffneten Auseinandersetzungen gegen den Herrscher viel Schaden angerichtet und seine Herrschaft in tiefe Krisen gestürzt hatten. Hiervon profitierten in den Krisen der Herrschaft Ottos des Großen zunächst enge Verwandte wie sein Bruder Heinrich, sein Sohn Liudolf, sein Schwiegersohn Konrad oder ranghohe Adelige wie der Frankenherzog Eberhard. Nach bewaffneten Aufständen verzieh ihnen der Herrscher, nachdem sie einen eindeutigen Akt der Unterwerfung öffentlich vollzogen hatten, nicht nur; er akzeptierte sie weiterhin als ranghohe Mitglieder der engeren Führungsschicht. 3 2 Es etablierte sich in dieser Zeit das Ritual der deditio, in dem der Gegner mit einem öffentlichen Fußfall und der Bitte um Gnade dem Herrscher Genugtuung gab. Dafür erlangte er im Gegenzug die Verzeihung des Herrschers und sogar die Reintegration in den Herrschaftsverband mit einer seinem Rang angemessenen Stellung. Diese Reaktion aber war nicht in das Belieben des Herrschers gestellt, sondern wurde in einem geregelten Verfahren vereinbart, indem Vermittler bei beiden Konfliktparteien die Bereitschaft zu dieser Form der Konfliktbeendigung erzeugten und dann auch garantierten, dass sich alle an die Vereinbarungen hielten. 33 Es ist leicht einsichtig, welche Beschränkung und Bindung von Herrschermacht solche Verfahren mit sich brachten. Durch sie wurden die Entscheidungsbefugnisse auf mehrere Schultern verteilt und die Vermittler besaßen genügend Akzeptanz und Autorität, Entscheidungen herbeizuführen, die auch die Herrscher banden. Zu Recht hat man von der polyzentrischen Herrschaftsstruktur gesprochen, die das ottonische Reich kennzeichne, oder
30 Vgl. hierzu Theo BROEKMANN, Rigor iustitiae. Herrschaft, Recht und Terror im normannisch-staufischen Süditalien, Diss. phil. Univ. Münster 2003. 31 Vgl. hierzu Gerd ALTHOFF, Staatsdiener oder „Häupter des Staates"? Fürstenverantwortung zwischen Reichsinteresse und Eigennutz, in: DERS., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, 126-153. 32 Vgl. hierzu zuletzt ALTHOFF, Macht der Rituale (wie Anm. 27). 33 Vgl. dazu Hermann KAMP, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter, Darmstadt 2001, bes. 198-205.
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auch von der k o n s e n s u a l e n Herrschaft, die d a d u r c h charakterisiert sei, dass alle königlichen M a ß n a h m e n der vorherigen Z u s t i m m u n g d e r G e t r e u e n b e d u r f t e n / 4 Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen, wie dieses S y s t e m in der Praxis funktionierte. T h i e t m a r von M e r s e b u r g erzählt von e i n e m Konflikt mit Otto d e m G r o ß e n , in den sein G r o ß v a t e r Liuthar verwickelt w a r und in d e m i m m e r h i n der V o r w u r f e r h o b e n wurde, die V e r s c h w ö r e r hätten O t t o e r m o r d e n wollen. T h i e t m a r schildert den Fall f o l g e n d e r m a ß e n : „Erich hatte er samt Bacco, H e r m a n n , R e i n w a r d . W i r i n . Eserich und anderen, die einst am Osterfest zu Q u e d l i n b u r g (941) einen M o r d a n s c h l a g auf ihn u n t e r n o m m e n hatten, enthaupten lassen. A u c h die Hinrichtung meines an d e m K o m p l o t t beteiligten G r o ß v a t e r s Liuthar hätte er gern g e s e h e n . Doch durch den Rat vertrauter Fürsten ließ er sich b e r e d e n , ihn z u m G r a f e n Berthold nach Baiern in H a f t zu schicken. All sein V e r m ö g e n w u r d e e i n g e z o g e n und gründlich aufgeteilt. Erst nach einem Jahr g e w a n n er die Huld des Königs und seinen g e s a m t e n Besitz zurück, dazu eine große G e l d s u m m e und j e einen Hof in Santersleben und G u t e n s w e g e n . " " Die Hinrichtung der g e n a n n t e n S a c h s e n mahnt zunächst, sich die V o r g e h e n s w e i s e n in Konflikten nicht zu milde vorzustellen. Keiner der Hingerichteten ist j e d o c h anderweitig bekannt. Es handelt sich also mit einiger W a h r s c h e i n l i c h k e i t nicht um A n g e h ö r i g e des engeren Führungszirkels. Bei diesen w u r d e anders v e r f a h r e n , wie das Beispiel von T h i e t m a r s G r o ß v a t e r verdeutlicht, der als Graf von W a l b e c k mit d e m g e s a m t e n sächsischen Hochadel verwandt war. Bei diesem Kreis endete die M a c h t des K ö n i g s d u r c h z u g r e i f e n . D e r ..Rat vertrauter Fürsten", der O t t o zu einer Ä n d e r u n g seines V o r h a b e n s b e w o g . meint j a nichts anderes, als dass V e r w a n d t e oder F r e u n d e des B e t r o f f e n e n ihr G e w i c h t in die politische W a a g s c h a l e g e w o r f e n haben. Diese Intervention hat nicht nur das S c h l i m m s t e verhindert. sondern eine lediglich s y m b o l i s c h e B e s t r a f u n g des M a r k g r a f e n bewirkt. N a c h einem Jahr m u s s t e der H e r r s c h e r den G r a f e n nicht nur freilassen, sondern durch d e m o n s t r a t i v e G e s c h e n k e deutlich m a c h e n , dass dieser nun w i e d e r vollständig in seiner Huld stehe. Auch die Haft in Baiern wird nicht die S c h l i m m s t e g e w e s e n sein, denn der Graf verheiratete bald anschließend seine T o c h t e r mit d e m bairischen G r a f e n Berthold, bei d e m er seine H a f t - oder besser Exilzeit verbracht hatte. Er hatte g e w i s s s t a n d e s g e m ä ß an dessen Hof gelebt und nicht in einer Zelle gesessen. Die M a c h t Ottos des G r o ß e n wurde also wirkungsvoll d a d u r c h eingeschränkt, dass die Adligen wie die h o c h r a n g i g e n Kleriker d e m H e r r s c h e r nicht als isolierte Einzelpersonen geg e n ü b e r s t a n d e n , sondern in N e t z w e r k e aus V e r w a n d t e n und F r e u n d e n e i n g e b u n d e n waren, die sich im Konfliktfall solidarisch verhielten. Sie sorgten f ü r eine S o n d e r b e h a n d l u n g b e s t i m m t e r
34 Siehe dazu schon H a g e n KF.LLER. G r u n d l a g e n ottonischer K ö n i g s h e r r s c h a f t , in: Karl Sc HMID (Hg.). Reich und Kirche vor d e m Investiturstreit. Vorträge b e i m w i s s e n s c h a f t l i c h e n K o l l o q u i u m aus A n l a ß des achtzigsten G e b u r t s t a g s von G e r d T e l l e n b a c h . S i g m a r i n g e n 1985. 1 7 - 3 4 : noch n e u e r d i n g s SCHNEIDMÜI.LER. K o n s e n s u a l e H e r r s c h a f t (wie A n m . 29). 35 T h i e t m a r (wie A n m . 10). lib. 2. cap. 21. 62: Hunc enim, Eriatm nomine, cum Baccone. Herimanno. Reinwardo. Wirino. Eserico caeterisque, qui in Quidilingeburg eundem tunc in paschu soüemni occidere conabantur, decollari precepit. Avum autem meum nomine Lititharium. eusdem consilii participem, libenter perdere voluit: sed sibi familiarium devictus consilio principum. cuprum hunc misit tunc Bauariain ud comitem Bertoldum, comprehensis sibi omnibus sühnet rebus ac late distributis, usque in annum integrum: tuncque gratiam regis et sua omnia cum magna pecunia et predio in Sonterslevo et in Vodensvege iacenti acquisivit.
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Personen und man kann gewiss die Gleichung aufmachen, j e wichtiger das Netzwerk, in das ein Adliger oder Bischof eingebunden war, für den Herrscher war, desto geschützter war dieser vor herrscherlichen Strafen oder anderen Maßnamen herrscherlicher Ungnade. Genau dies kann man denn auch immer wieder bei hochrangigen Gegnern Ottos des Großen zeigen, für die Angehörige ihrer Netzwerke erfolgreich beim Herrscher tätig wurden. Diese Spielregeln der Konfliktführung innerhalb der Führungsschichten des Reiches sind aber auch für die Beurteilung des Verhältnisses zu den östlichen Nachbarn äußerst wichtig, weil gerade deren christliche Herrscherfamilien im Laufe des 10. Jahrhunderts mehr und mehr in diese Netzwerke eingebunden wurden. Es gab vielfältige verwandtschaftliche Bindungen, aber auch geistliche und weltliche Freundschaftsbündnisse, die die Partner zu Hilfestellung sozusagen in allen Lebenslagen verpflichteten. Und diese schloss namentlich der sächsische Adel mit den frühen Piasten und Premysliden ab. Die enge Verbindung zeigt sich etwa daran, dass für die slavischen Verwandten nun im Auftrage der sächsischen Adelsfamilien in sächsischen Klöstern gebetet wurde. 3 6 Die Heiratsund Freundschaftsbindungen ergänzten und unterfütterten die herrschaftlichen Beziehungen und bewirkten, dass wir slavische Fürsten nicht nur beim Quedlinburger Hoftag des Jahres 973, sondern auch bei anderen wichtigen sächsischen Hoftagen unter den Teilnehmern finden: Ich nenne nur die Quedlinburger Osterfeier von 984, als Heinrich der Zänker hier öffentlich unter Beteiligung mehrerer Slavenfürsten als König gefeiert und anerkannt wurde, oder die sog. Nachwahl Heinrichs II. in Merseburg im Jahre 1002, an der Boleslaw Chrobry teilnahm. 3 7 Diese Tatsache erklärt, warum im Umgang mit diesen Slaven auch die gleichen Verfahren angewandt wurden wie in den Adelsverbänden der Ottonenzeit selbst. Hiervon kündet die bereits zitierte Unterwerfung des Böhmenherzogs Boleslav II. nach einer militärischen Auseinandersetzung, durch die er seine Herrschaftsstellung in Böhmen nicht verlor. Man könnte das Gleiche aber auch mit einer ganzen Reihe von Ereignissen aus den Jahrzehnten der späten Ottonenzeit belegen. Namentlich die sog. Polenkriege Heinrichs II. gegen Boleslaw Chrobry wurden nach Regeln geführt, die denen gleich sind, die in den Fehden innerhalb der sächsischen Führungsschicht selbst beachtet wurden. 3 8 Immer wieder muss Thietmar von Merseburg, der alles andere als ein Freund Boleslaws war, davon berichten, dass Angehörige des sächsischen Adels Maßnahmen Heinrichs gegen den Polen boykottierten. Heinrich II. hielt sogar seine Aufmarschpläne geheim, da sie sonst an die Gegenseite verraten worden wären. Umso eifriger waren die Sachsen dagegen, wenn es galt, Vermittlerdienste zu leisten. Sächsische Adlige und Bischöfe vermittelten etwa den Frieden von 1005: Als Heinrich mit einem Heer bereits vor der Burg Posen stand, „erbat Boleslaw durch verlässliche Vermittler die Huld des Königs und fand sogleich Gehör. Erzbischof Tagino von Magdeburg und andere Vertraute des Königs begaben sich auf Boleslaws Bitten in die Burg und schlossen mit ihm unter Eid gegen ange-
36 Vgl. dazu Gerd ALTHOFF, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen, Münstersche Mittelalter-Schriften 47, München 1984, bes. 114 f. 37 Vgl. dazu GÖRICH, Eine Wende (wie Anm. 22). 38 Ebd., 108 ff.; siehe auch Gerd ALTHOFF, Otto III. undHeinrich II. in Konflikten, in: SCHNEIDMÜLLER/ WEINFURTER, O t t o III. ( w i e A n m . 2 2 ) , 7 7 - 9 4 , b e s . 8 7 - 9 1 .
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m e s s e n c E n t s c h ä d i g u n g einen festen Friedensbund. D a n n zogen die Unsrigen voller Freude heimwärts [...]."39 Vergleicht m a n diese Art von K o n f l i k t b e e n d i g u n g mit anderen Fällen der Ottonenzeit, fällt ins Auge, dass die gegnerischen Protagonisten sich gar nicht persönlich trafen. U n d dass Bolestaw j e d e r U n t e r w e r f u n g s a k t erspart blieb, wie ihn andere G e g n e r der Herrscher mit einem b a r f ü ß i g e n F u ß f a l l eigentlich i m m e r zu leisten hatten. M a n wird dies d e s h a l b nicht f ü r Zufall halten, weil auch b e i m zweiten Friedensschluss z w i s c h e n den beiden G e n a n n t e n , wie er 1013 in M e r s e b u r g vonstatten ging, von einer S e l b s t d e m ü t i g u n g des Polen nicht die Rede ist: „ A m Tage vor Pfingsten erschien, gesichert durch d a h e i m z u r ü c k g e h a l t e n e Geiseln, auch Bolestaw. Er w u r d e a u f s beste e m p f a n g e n . A m hl. Festtag selbst w u r d e er durch H a n d f a l t u n g Vasall, und nach der Eidesleistung diente er d e m König, w ä h r e n d dieser unter der Krone zur Kirche schritt, als Schwertträger. A m M o n t a g versöhnte er den König durch Ü b e r r e i c h u n g großer G e s c h e n k e von sich und seiner G e m a h l i n ; dann erhielt er aus königlicher Freigiebigkeit noch viel bessere und größere G e g e n g a b e n sowie das lang ersehnte L e h e n und entließ seine Geiseln ehrenvoll und f r e u n d l i c h . " 4 0 Als G e n u g t u u n g s l e i s t u n g Bolestaws w u r d e 1013 das öffentliche Tragen des königlichen Schwertes akzeptiert, womit sicherlich Dienstbereitschaft und damit Unterordnung signalisiert war. D e n n o c h erscheint Boleslaw hier auch in der Rolle eines Geehrten, da ihm der Akt einer weiter g e h e n d e n Unterordnung, nämlich ein Fußfall, nicht z u g e m u t e t wurde. So und wohl nur so war die Bereitschaft Boleslaws zu erreichen, seinen Konflikt mit Heinrich II. zu b e e n d e n , der trotz dieser bevorzugten B e h a n d l u n g w e n i g später erneut ausbrach, w a s hier nicht m e h r verfolgt werden kann. In all den zitierten subtilen s y m b o l i s c h e n H a n d l u n g e n wird also auch der Streit um den R a n g des Polen fassbar, ü b e r den beide Seiten offensichtlich unterschiedliche A u f f a s s u n g e n hatten. Und dies nicht nur im Falle des F r i e d e n s s c h l u s s e s von M e r s e b u r g . Es blieb nämlich sozusagen ein D a u e r t h e m a in den B e z i e h u n g e n auch der f o l g e n d e n Jahrhunderte, in welchen s y m b o l i s c h e n F o r m e n die Piasten. aber auch die anderen Herrscher der östlichen N a c h b a r n bereit waren, ihr Verhältnis zu Kaiser und Reich a u s z u d r ü c k e n . U n t e r o r d n u n g und E h r u n g hatten dabei offensichtlich in e i n e m a u s g e w o g e n e n Verhältnis zu stehen, mit d e m die j e w e i l i g e politische und militärische Lage z u m A u s d r u c k k a m . Es scheint daher zumindest einseitig, w e n n man aus dieser k o m p l e x e n B e z i e h u n g s g e s c h i c h t e einzelne Akte herausgreift wie etwa das F r e u n d s c h a f t s b ü n d n i s Ottos III. mit Bolestaw b e i m G n c s e n e r Treffen des Jahres 1000 o d e r auch den Q u e d l i n b u r g e r H o f t a g von 973, und auf solchen M o m e n t a u f n a h m e n die Bilder einer f r ü h e n gleichberechtigten Z u s a m m e n a r b e i t errichtet.
39 T h i e t m a r (wie A n m . 10). lib. 6. cap. 27. 306: Interim per fidos intercessores regis gratiain Botizluviis peeiit et exaudiri mox promentit. Tagino archiepiscopus cum aliis familiaribus regis ad civitatem predictam α Bolizlavo rogatus venit et cum iuramentis ac emendacionibus condignis firma pacts foedera apud eimdem pepigit. Laeli tunc revertuntur nostri [...]. 4 0 T h i e t m a r (wie A n m . 10). lib. 6. cap. 91. 382: In cuius vigilia Botizlavus cum securitate obsidium apud se relictorum venit et optime sitscipitur. In die saneto manibus applicatis miles efficitur et post sacramenta regi ad aecciesiam omato incedenti armiger habetur. In II. feria regem magnis muneribus ä se et a contectali sua oblatis placavit deindeque regia largitate bis meliora ac midta maiora cum benefitio diu desiderata suseepit et obsides suos cum bonore et laeticia remisit.
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Genauso wenig aber darf man bei den Konflikten vergessen, dass es sich häufig um Rangstreitigkeiten handelte, wie sie auch innerhalb des Herrschaftsverbandes im Reich gang und gäbe waren. Die Schwierigkeiten, die wir haben, so etwas zu verstehen, resultieren nicht zuletzt aus unseren Unterscheidungen zwischen Außen- und Innenpolitik, aus unseren Vorstellungen vom Umgang souveräner Staaten miteinander, und damit aus Kategorien, die für die Beurteilung der Beziehungen im 10. und 11. Jahrhundert unangemessen sind. Es sollte deutlich geworden sein, dass der Quedlinburger Hoftag von 973 nur im Kontext der sehr fernen Welt des 10. Jahrhunderts verstanden werden kann. Er ist ein, wenn auch ein herausragendes Glied in einer langen Kette von Hoftagen, auf denen die ottonischen Könige mit ihren Partnern aus Adel und Kirche anstehende Probleme berieten und so der Tatsache Rechnung trugen, dass ihre Herrschaft vom Konsens der Getreuen getragen wurde. Diese Beteiligung an der Herrschaft war folgenreich, sie stand der Konzentration von Macht in einer Hand wirkungsvoll entgegen und dies hat die politische Kultur und die politische Landschaft im Reich wie in Teilen Europas für die folgenden Jahrhunderte nachhaltig geprägt. Insofern besteht aller Grund, sich dieser Frühformen einer politischen Kultur des Kompromisses, des Ausgleichs und der Verhandlungslösungen zu erinnern, in der unterschiedliche Interessen die Chance bekamen sich zu artikulieren und selbst bewaffneter Widerstand gegen den Herrscher nicht mehr unbedingt dazu führte, dass man aus der politischen Führungsschicht verschwand. Dies war ein deutlicher Fortschritt gegenüber den Herrschaftsmethoden der Merowinger und Karolinger, doch besteht kein Anlass, die Grenzen dieses Fortschritts zu übersehen. Er bezog sich nur auf einen engen Zirkel führender Familien, zu dem die Herrschergeschlechter der christlichen Slavenreiche Zutritt hatten. Von diesen verlangten die ottonischen Könige aber wie von den eigenen Großen zunächst Unterordnung, ehe sie Zutritt zu diesem Kreis der Vertrauten, der familiares, bekamen. Nach vollzogener Unterordnung agierten sie als geehrte Mitglieder dieser Führungsschicht, waren einbeschlossen in die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Netzwerke dieser Schicht, wurden der Freundschaft des Königs oder der Königsverwandtschaft für wert gehalten wie andere Große des Reiches. Es darf wohl nicht überraschen, dass die Ausdrucksformen dieser Unterordnung immer wieder zum Problem wurden und Anlass für Konflikte boten, was man bis ins 12. Jahrhundert verfolgen kann. Dieses Charakteristikum sollte man jedenfalls nicht vergessen, wenn man darüber nachdenkt, was das Geschehen vor mehr als 1000 Jahren uns heute noch zu sagen hat: Unterordnung ist heute wohl kein geeigneter Ausgangspunkt für Zusammenarbeit mehr. Nicht vergessen sollte man auch, dass für die christlich-heidnische Slavengrenze an Elbe und Saale ganz andere Gesetze galten. Von den Praktiken des Markgrafen Gero habe ich gesprochen; der große Slavenaufstand von 983, der die meisten Errungenschaften von Mission und Ostpolitik Ottos des Großen hinwegfegte, soll angeblich wegen der Grausamkeit des Markgrafen Thietmar ausgebrochen sein; und noch im 12. Jahrhundert beklagte man, dass im Slavenland östlich der Elbe immer nur von Tributen und nicht von Mission die Rede sei. Dies mahnt, keine Facette der komplexen Beziehungsgeschichte an der Ostgrenze des Reiches auszulassen, und die Zusammenarbeit zwischen den heutigen Völkern in dem Bewusstsein zu beginnen, auf welch schwierigem Erbe sie aufruht.
Der Hoftag in Quedlinburg 973* Jänos Gulya
Die seit Beginn des ostfränkischen Reiches regelmäßig zu Weihnachten. Ostern. Pfingsten und Mariae Geburt abgehaltenen Hoftage waren im Mittelalter wichtige Ereignisse des politischen und kulturellen Lebens. 1 Damals nannte man sie in lateinischer Sprache conventus mit der Bedeutung .Zusammenkunft; Versammlung zu einem bestimmten, meist ernsten Zweck: Festversammlung', ferner .Übereinkunft. Abmachung'". Gemeint war damit eine vom König bzw. Kaiser einberufene Versammlung der Großen des Reiches zu cuixilium et consilium, zu Rat und Hilfe. Bei diesen oft von entsprechendem Pomp und Glanz begleiteten Zusammenkünften der Kaiser und Könige mit Herzögen. Grafen. Hochadeligen. Erzbischöfen. Bischöfen und anderen weltlichen und kirchlichen Großen des Reiches wurde über Fragen von Leben und Tod, Recht und Karriere entschieden. Der Hoftag zu Ostern des Jahres 973, am 23. und 24. März, ragt jedoch aus der Reihe der gewöhnlichen Hoftage heraus, da an ihm neben den üblichen Notabilitäten des Kaisertums auch Repräsentanten anderer Völker und Mächte teilnahmen: Dänen. Polen. Böhmen. Ungarn. Byzantiner. Bulgaren. Abgesandte des Papsttums, des Benevents und des Spanischen Kalifats/ 1 Dass es sich hier um mehr handelte - und nicht nur um einen vorschriftsmäßigen Hoftag - haben schon die Zeitgenossen selbst bemerkt. 4 Der Chronist Widukind von Corvey, der seine Nachrichten aus erster Hand erhalten hatte, betont in seiner Sachsengeschichte: In Quedlinburg versammelte sich ..eine Vielfalt verschiedener Völker" (diversarum gentium multitude) conveniens).' Eine ähnliche Mitteilung ist in den Annalen Lamperts von Hersfeld
* Beibehaltung der Vortragsform. 1 Martin LINTZEL. Die Beschlüsse der deutschen Hot'tage von 911 bis 1056. Historische Studien 161. Berlin 1924. 2. Siehe allgemein Peter MORAW. Reichstag, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995). 640-643. 2 Ivan BORONKAI (Hg.). Lexicon latinitatis medii aevi Hungariae 2. Budapest 1991. 390 f. 3 Zu diesem Hol'tag: Theodor SCHIERER (Hg.). Handbuch der europäischen Geschichte 1. Stuttgart 1976. 873: Rudolf KÖPKE und Ernst DÜMMLKR. Kaiser Otto der Große. Leipzig 1876. 2. Aufl. Darmstadt 1962. 501-507: Ernst W. WIES. Otto der Große. Kampfer und Beter. Esslingen 1989. 246. 248. 256. 2 7 3 276: Johannes LAUDAGF.. Otto der Große (912-973). Eine Biographie. Regensburg 2001. 289. 4 Annales Altahenses majores, in: MGH SS XX. 787: Annales Hildesheinienses, in: MGH SS II. 62: Annales Lobienses. in: M G H SS II. 211: Lamperti Hersfeldensis Annales, in: MGH SS III. 63: Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei. hg. von Paul HIRSC H und Hans-Eberhard LOHMANN. MGH Scriptores rerum Germanicarum 60. Hannover 1935. 152: Thietmar von Merseburg: Chronik, neu bearb. von Werner TRILLMICH. Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters 9. Darmstadt 1957. 68/69. 5 MGH SS rer. Germ. 60. 152.
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Jänos G u l y a
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D e r H o f t a g in Q u e d l i n b u r g 9 7 3
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zu lesen: „ G e s a n d t e vieler V ö l k e r sind g e k o m m e n " (venerunt legati plurimarum gentium).'' Es ist in der Tat a u f f a l l e n d , mit w e l c h e r A u f m e r k s a m k e i t die j e w e i l i g e n Chronisten die Gesandten a u f f ü h r e n , die in Q u e d l i n b u r g a n w e s e n d waren. G e w ö h n l i c h w a r e n die Berichterstatter der d a m a l i g e n Zeit sehr w o r t k a r g und auch über den H o f t a g von 9 7 3 berichteten sie nur k n a p p . A b g e s e h e n davon b e t o n e n sie aber einheitlich, dass j e n e s Z u s a m m e n k o m m e n großartig, e i n m ü t i g und erfolgreich war: „Alle Fragen f a n d e n eine friedliche S c h l i c h t u n g " ( c o n s u m m a t i s q u e pacifice cunctis) und j e d e r G e s a n d t e ..kehrte mit reichen G a b e n b e s c h e n k t f r o h m u t i g h e i m " (dituti numeribus [magnis] reversi sunt ad sua laetantes).1 Es gibt Ereignisse in der G e s c h i c h t e , die als solche z w a r bekannt sind - und schon den Z e i t g e n o s s e n bekannt waren - , deren wirkliche B e d e u t u n g aber erst dann erkannt wird, wenn das Licht späterer G e s c h e h n i s s e auf sie fällt. Es ist m e h r als wahrscheinlich, dass der H o f t a g O t t o s des G r o ß e n in Q u e d l i n b u r g im M ä r z 9 7 3 zu diesen Ereignissen gehört. Es kann sein, dass wir eben jetzt, zu Beginn des 21. J a h r h u n d e r t s - motiviert von ähnlichen P r o b l e m e n wie vor gut 1000 Jahren - mit der N e u g e s t a l t u n g E u r o p a s dazu g e k o m m e n sind, einige Fragen a u f w e r f e n und behandeln zu k ö n n e n , die uns eventuell z u m Verstehen und Schätzen des d a m a l i g e n H o f t a g e s bringen w e r d e n . x An f o l g e n d e Fragen lässt sich vor allem d e n k e n : W e r waren die T e i l n e h m e r des österlichen H o f t a g e s 9 7 3 in Q u e d l i n b u r g ? V o n w e m und w a r u m w u r d e n die T e i l n e h m e r e i n g e l a d e n ? W a r u m sind die E i n g e l a d e n e n g e k o m m e n ? Weiterhin: W a s geschah eigentlich im Jahre 973 in Q u e d l i n b u r g ? Der H o f t a g - wie allgemein bekannt ist - w u r d e von Kaiser Otto I.. d e m G r o ß e n einberufen. Man w e i ß auch, dass er die a u s w ä r t i g e n Gäste g a n z bestimmt schon w ä h r e n d seines l a n g d a u e r n d e n Italienzuges z w i s c h e n den Jahren 9 6 6 und 9 7 2 bestellt b z w . eingeladen hatte, was z w e i f e l s o h n e ein sorgfältig überlegtes Konzept voraussetzt. Die ..auswärtigen" T e i l n e h m e r des H o f t a g e s waren: der dänische Herrscher Harald Blauzahn, der Polenherzog - der spätere Boleslaw I.. der Tapfere - . Herzog Boleslav II. von B ö h m e n , 12 M a g n a t e n aus Ungarn, der G e s a n d t e des Papstes Benedikt VI., der Bote des byzantinischen Kaisers J o h a n n e s T z i m i s k e s , zwei bulgarische G r o ß e , der B e n e v e n t e r H e r z o g Pandulf Eisenkopf sowie ein Vertreter des arabischen O m a y y a d e n r e i c h e s in Südspanien. Die T e i l n e h m e r des H o f t a g e s waren ihrer politischen b z w . machtpolitischen Stellung nach nicht gleich. Die Polen und die B ö h m e n f a n d e n sich auf A n o r d n u n g des Kaisers (imperatoris edictu) ein. wie T h i e t m a r von M e r s e b u r g berichtet. 9 Die anderen k a m e n als legati, G e s a n d t e . Eine anderer mittelalterlicher Autor, der V e r f a s s e r der ..Annales Altahenses maiores". ordnet die legati wie folgt in drei G r u p p e n ein: erstens die G e s a n d t e n von B y z a n z und B e n e v e n t , zweitens die 12 primates d e r Ungarn und zwei Bulgaren und drittens die Fürsten
6 M G H S S I I I . 63. L a m p e r t nennt als Einziger auch legati Rusconim. Siehe K Ö P K F / D Ü M M I . I : R . Kaiser O t t o (wie A n m . 3). 505. 7 T h i e t m a r . C h r o n i k (wie A n m . 4). 68/69. 8 J a n o s GUI.YA. Hinter d e n zeitlosen S t e p p e n hervor: Der Eintritt der U n g a r n in die G e s c h i c h t e . V o r t r a g am U n g a r i s c h e n N a t i o n e n t a g . E X P O 2 0 0 0 H a n n o v e r . 26. Juni 2 0 0 0 : DERS.. E u r ö p a - c s ü c s e / e r esztendövel ezelött [ E u r o p a - G i p f e l vor tausend Jahren], in: Historia 24.3 (2002). 27: J o h a n n e s FRIHD. Otto der Große, sein Reich und Europa: V e r g a n g e n h e i t s b i l d e r eines Jahrtausends, in: Matthias PUHI.I·: (Hg.). Otto der G r o ß e . M a g d e b u r g und Europa. M a i n z 2001. Bd. 1. 5 3 7 - 5 6 2 . bes. 543. 9 Thietmar. C h r o n i k (wie A n m . 4), 68/69.
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Übersicht über die 973 zum Hoftag nach Quedlinburg eingeladenen und daran teilnehmenden auswärtigen Gesandten (Entwurf: Jänos Gulya) Dänemark Polen Böhmen Ungarn Quedlinburg
Byzanz Bulgarien Papsttum Benevent Spanisches
Kalifat
der Dänen, Böhmen und Polen. 10 Die Gesandten des Papstes und des Arabischen Kalifats bleiben hier unerwähnt. Aus anderen Quellen geht hervor, dass die Araber wahrscheinlich nicht rechtzeitig eingetroffen sind und von Kaiser Otto später empfangen wurden. Da sie nach seiner Konzeption am Hoftag teilnehmen sollten, ist es jedoch gerechtfertigt, auch sie zu den Teilnehmern des Quedlinburger Hoftages 973 zu rechnen. Das Prinzip der Einordnung der Teilnehmer in die verschiedenen Gruppen ist klar. Sie geschah nach geographisch-politischen Überlegungen: Die erste Gruppe (Byzanz und Benevent) ist entweder rein protokollarisch oder weist auf gelegentliche engere Beziehungen zwischen beiden. Die zweite Gruppe bilden die vom römisch-deutschen Reich unabhängigen Länder der Ungarn und der Bulgaren. In der dritten Gruppe sind die Länder (Dänemark, Böhmen und Polen), die dem Kaiser mehr oder weniger tributpflichtig waren. Im Zusammenhang mit der Gruppierung der Gesandten ist auch auffallend - selbst wenn es reiner Zufall sein kann - , dass alle drei ehemaligen „Erzfeinde" des Abendlandes, nämlich die Ungarn, die Araber und die Normannen, auf dem Quedlinburger Hoftag vertreten waren! Die nach Quedlinburg gereisten Gesandten gelten - sofern wir sie näher kennen - als hervorragende Persönlichkeiten ihrer Länder, wenngleich uns leider nicht alle mit Namen bekannt sind: Der Däne Harald Blauzahn (dänisch: Harald Blaatand) (t 986) ließ sich um 960 (965?) taufen. Er herrschte von 945-986 und wurde „der endgültige Einiger Dänemarks". 11 Er war es, der eine neue Hauptstadt gründete, Roskilde, Sitz der dänischen Könige im ganzen Mittelalter.
10 M G H S S X X ,
787.
11 Schieder, Handbuch (wie Anm. 3), 953 f.
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Der Polenherzog Boleslaw I., der Tapfere (polnisch: ChrobryJ (966/967-1025) nahm am Hoftag in Quedlinburg als junger Mann vorsichtshalber „in Vertretung" seines Vaters Herzog Mieszko I. teil, da die Polen in dieser Zeit Konflikte mit dem deutschen Markgrafen Hodo hatten. Als Herrscher Polens baute er die kirchliche Organisation seines Landes aus, mit deren Hilfe er in enger Bindung an Rom die noch heidnischen Stämme zu einer polnischen Nation formte. Mit dieser Bindung an das Papsttum sicherte er politisch ganz geschickt für Polen gleichzeitig auch eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den deutschen Einflüssen.'" Die Namen der 12 Prominenten aus Ungarn wurden nicht überliefert. Ganz bestimmt kamen sie aber aus Westungarn, aus dem Kreis des Großfürsten Geza (Geysa) (um 945-997). 1 3 Dieser war Mitglied der Ärpäden-Dynastie, Vater des ersten ungarischen Königs. Stephans des Heiligen. 14 Auf Grund der neuesten Forschungen ist es mehr als wahrscheinlich, dass westliche hospes an Gezas Hof anwesend waren. 15 In seinem Regierungssystem bildeten die oberste Schicht die sog. seniores, unter ihnen auch hospes aus dem Westen. Ich denke, dass die 12 ungarischen Gesandten des Großfürsten Geza eben diese ihm vertrauten seniores waren. Die Teilnahme von zwei bulgarischen Großen gibt Rätsel auf. Im Jahre 971 eroberte Byzanz Bulgarien, genauer gesagt seinen östlichen Teil, das Ostbulgarische Reich. Es gibt die Vermutung, dass die Bulgaren in Quedlinburg das noch selbständige Westbulgarische Reich repräsentierten und sich hier um eine deutsche Unterstützung gegen Byzanz bemühen wollten. Pandulf Eisenkopf (caput ferreum), Fürst von Capua und Benevent, war Ottos des Großen zuverlässigste Stütze gegen Byzantiner und Araber in (Süd-)Italien. Er war 963 Ottos Gastgeber, als sich dieser in Capua aufhielt, nahm an dessen Feldzug gegen die byzantinischen Gebiete in Apulien teil (968) und wurde 969 in Bovino gefangen genommen und nach Byzanz gebracht, von dem neuen Kaiser Johannes Tzimiskes als Vermittler zwischen den beiden Kaiserreichen jedoch wieder nach Italien entlassen (970). Seit 966/967 Markgraf von Spoleto. starb er 981 als Fürst von Salerno. 16 Was geschah eigentlich im Jahre 973 in Quedlinburg? Von ungeheurer Bedeutung war es. dass Europa - im heutigen und engen Sinne - durch seine Vertreter hier zum ersten Male im Laufe der Geschichte zusammen auftrat. Abgesehen von der Zahl und Vollständigkeit der Länder liegt ein substanzieller Unterschied zu vorherigen Zeiten darin, dass vor diesem Treffen Europa occidens, das „Abendland", romanisch-germanisch war und überwiegend aus Gallischem, Römischem und Fränkischem bestand. In Quedlinburg passierte aber etwas Neues: Unter Teilnahme ehemaliger Fremder - Dänen aus dem skandinavischen Norden. Ungarn aus den weitliegenden Steppen, Slaven von östlichen Feldern - kam eine gewisse Einheit, eine „Union", wie es heute heißt, zu Stande. Gleichzeitig wurde damit eine Epoche der Akkulturation an ursprünglich mediterranes Wissen und Glauben in West und Ost ein-
12 Z y g m u n t WOJCIECHOWSKI. M i e s z k o I. und die Entstehung des polnischen Staates. T h o r n 1936. 75: Jörg K. HOFNSCH. G e s c h i c h t e Polens. 3. Aufl. Stuttgart 1998. 17. 13 G a b o r HATHAZI. AZ „ ä l l a m a l m o d o " . G e z a n a g y f e j e d e l e m e m l e k e z e t e [Der ..Staatträumer". Das A n d e n k e n an G r o ß f ü r s t G e z a ] ( 9 9 7 - 1 9 9 7 ) . S z e k e s f e h e r v a r 1997. 14 G y ö r g y GYÖRFFY. Istvan kiräly es m ve [ K ö n i g Stephan und sein Werk], Budapest 2000. 6 8 - 7 1 . 15 Istvan BONA. A m a g y a r o k es E u r o p a a 9 - 1 0 . s z a z a d b a n [Die U n g a r n und E u r o p a im 9 . - 1 0 . Jahrh u n d e r t l . B u d a p e s t 2000. 7 2 - 7 5 . 16 Paolo DELOGU. Pandulf I.. in: L e x i k o n des Mittelalters 6 (1993). 1652.
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geleitet. Es kann sein, dass dieser Akt damals eher unbewusst und visionär war, doch war es ein W e n d e p u n k t , und seit 973 führte kein W e g an Europa mehr vorbei. Es ist wohl nicht besonders zu erläutern, dass Europa - was es uns heute bedeutet - ohne die östliche Seite unvorstellbar wäre. Sein Gesicht wurde damals geformt. Ein grundlegendes historisches novum war es in Quedlinburg außerdem, dass hier wichtige Vereinbarungen gewissermaßen schon im R a h m e n einer „Europapolitik" getroffen wurden. Sowohl kulturell wie auch politisch war es ein Ereignis von historischer Tragweite, dass die Priorität der lateinischen Sprache, deren Verbreitung bis heute die Grenzen des eigentlichen, geistigen Europa bildet, in Quedlinburg akzeptiert wurde. Im neu zu gründenden Bistum Prag sollte der Ritus lateinisch sein. Das wurde bald erfüllt, als ein lateinisch gut gebildeter Geistlicher, der Sachse Thietmar, z u m ersten Prager Bischof gewählt wurde. 1 7 Damit beabsichtigte man gleichzeitig den drohenden griechisch-byzantinischen Bestrebungen Einhalt zu gebieten und die H e g e m o n i e der Latinität auch im östlichen Europa zu sichern. 1 8 Dies f ü h r t e u.a. auch dazu, dass die römischen Christen - in A b g r e n z u n g zu den Pravoslaven - in der Kiever R u s ' Latine genannt wurden. Die Ungarn wurden ohne W e n n und Aber als europäische Nation legitimiert. (Scheinbar war die berüchtigte Schlacht auf d e m Lechfeld bei A u g s b u r g - damals nur k n a p p 18 Jahre zurückliegend - in Vergessenheit geraten.) Es wurden damals M a ß n a h m e n getroffen, die volle Eingliederung der Ungarn in die christliche Welt zu fördern. Dies geschah mit baldigem Erfolg: N o c h zu Lebzeiten des Großfürsten G e z a (Geysa), dessen Gesandte die Quedlinburger 12 Ungarn waren, w u r d e u.a. ein imposantes Benediktinerkloster, Sankt Martin in P a n n o n h a l m a / W e s t u n g a r n , gebaut. Aus deutscher Sicht bedeutete das Quedlinburger T r e f f e n verstärkte Stabilität, sowohl im Inneren als auch hinsichtlich der A u ß e n b e z i e h u n g e n zu den östlichen, südöstlichen Gebieten, mit Slaven und Ungarn sowie mit Italien, gegen die dortige byzantinische Herrschaft. Ganz zu schweigen vom Papsttum und R o m , die den deutschen Vorstellungen nach unangefochten unter deutscher H e g e m o n i e stehen und bleiben sollten. Dass 973 ein H o f t a g von solch besonderer Bedeutung statt fand heißt gleichzeitig aber auch, dass nicht erst in d e m von den Zeitgenossen mit eschatologischen Erwartungen befrachteten Millenniumsjahr 1000, sondern schon in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts die Weichen f ü r Europa gestellt wurden. Tatsächlich handelt es sich hier um einen gemeineuropäischen Prozess, der v o m späten 9. bis zum 11. Jahrhundert dauerte. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts und besonders in seinem letzten Drittel hat die Christianisierung neue D i m e n sionen erreicht: U m 9 6 0 beginnt die Christianisierung in D ä n e m a r k - 966 lässt sich Herzog Mieszko I., der Herrscher Polens, taufen - 973 einigt man sich auf dem H o f t a g in Quedlinburg darauf, ein Bistum in Prag zu errichten - um 9 7 3 wird eine Kirche zu Ehren des heiligen Märtyrers Stephan in Gran/Esztergom, d e m Sitz des ungarischen Großfürsten Geza, gebaut, w o wahrscheinlich der zukünftige erste König der Ungarn, Stephan der Heilige, getauft w u r d e - 975 wird das Bistum Prag tatsächlich gegründet und das Christentum in B ö h m e n stabilisiert. Dieses Bistum war eines der Zentren der Christianisierung im Osten. Sein zweiter Bischof,
17 KÖPKE/DÜMMLER, Kaiser Otto (wie Anm. 3), 503; Oskar HALECKI, Grenzraum des Abendlandes.
Eine Geschichte Ostmitteleuropas, Salzburg 1957, 58 f. 18 Dimitri OBOLENSKY, The Byzantine Commonwealth: Eastern Europa 500-1453, Crestwood, New
York 1982.
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d e r heilige A d a l b e r t ( 9 5 5 / 6 - 9 9 7 ) , w a r nicht n u r u n t e r T s c h e c h e n , s o n d e r n a u c h u n t e r P o l e n . U n g a r n u n d a n s c h l i e ß e n d a u c h u n t e r d e n P r e u ß e n m i s s i o n a r i s c h tätig - u n d 9 8 8 w i r d d e r G r o ß f ü r s t W l a d i m i r d e r H e i l i g e in K i e v n a c h ö s t l i c h e m R i t u s g e t a u f t , w o n a c h d a s C h r i s t e n t u m in R u ß l a n d e i n e e r s t a u n l i c h s c h n e l l e V e r b r e i t u n g e r l a n g t . Bis h e u t e hat d i e T a t s a c h e nicht an B e d e u t u n g v e r l o r e n , d a s s d i e C h r i s t i a n i s i e r u n g nach d e m H o f t a g v o n Q u e d l i n b u r g zu O s t e r n 9 7 3 an d e r d a m a l i g e n ö s t l i c h e n P e r i p h e r i e , z w i s c h e n d e m l a t e i n i s c h e n R i t u s u n d d e r s p ä t e r e n O r t h o d o x i e , in U n g a r n , von W e s t e n e i n e weit w i r k e n d e S t ä r k u n g b e k a m , w e s w e g e n d i e f r ü h e r e M i s s i o n s t ä t i g k e i t a u s B y z a n z bald in d e n H i n t e r g r u n d treten m u s s t e . 1 9 Mutatis
mutandis
betrifft das auch Polen.
E s lässt sich f r a g e n , o b d i e m i t t e l a l t e r l i c h e n Z e i t g e n o s s e n all d i e s m i t b e k o m m e n h a b e n : Es k a n n sein. J e d o c h bin ich völlig ü b e r z e u g t d a v o n , d a s s m i n d e s t e n s ein M e n s c h d a g e w e s e n ist. d e r d i e g r o ß e V i s i o n „ E u r o p a " - a u c h w e n n er es g a n z b e s t i m m t nicht s o n a n n t e - g e h a b t hat. D i e s e r M e n s c h n a n n t e sich Otto senior d i e summa
imperator.
D e r H o f t a g 9 7 3 in Q u e d l i n b u r g w a r ihm
s e i n e s L e b e n s . K a i s e r O t t o I. w a r m e h r f a c h m o t i v i e r t , e i n e g r o ß e p o l i t i s c h e Einheit
zu s c h a f f e n . S e i n e m C h a r a k t e r n a c h w a r er u n g e h e u e r zielstrebig. Sein L e b e n s l a u f stellt e i n e g e r a d e E r f o l g s l i n i e d a r . d i e i m m e r e i n e n e u e F o r t s e t z u n g e r f o r d e r t e : 9 3 6 ist er K ö n i g d e s ostf r ä n k i s c h - d e u t s c h e n R e i c h e s - 941 b z w . 9 5 1 / 9 5 2 hat er d i e O b e r h o h e i t ü b e r d a s K ö n i g r e i c h Italien - 9 5 5 d e h n t er die G r e n z e s e i n e s R e i c h e s n a c h O s t e n a u s u n d 9 6 2 w i r d er in R o m z u m K a i s e r g e k r ö n t . O t t o d e r G r o ß e e r k a n n t e r e c h t z e i t i g , d a s s er seine M a c h t n u r d a n n s i c h e r in s e i n e n H ä n d e n h a l t e n k o n n t e , w e n n die L ä n d e r in s e i n e r g a n z e n I n t e r e s s e n s p h ä r e v o m W e s t e n bis z u m O s t e n d e m g l e i c h e n G e s e t z f o l g e n . D a z u k a m d i e u n e r b i t t l i c h e Rivalität mit B y z a n z . d e r er e t w a s e n t g e g e n h a l t e n m u s s t e . : o E i n e n B e d a r f an e i n e r w e s t l i c h o r i e n t i e r t e n g r ö ß e r e n E i n h e i t u n t e r d e n V ö l k e r n u n d L ä n d e r n g a b es a n d e r e r s e i t s a u c h u n t e r d e n L ä n d e r n d e s s p ä t e r so g e n a n n t e n O s t m i t t e l e u r o p a : M a n k a n n w o h l s a g e n , d a s s die I n t e r e s s e n g e g e n s e i t i g w a r e n . Im U m f e l d d i e s e r F r a g e ist d i e T a t s a c h e nicht o h n e B e d e u t u n g , d a s s d i e L ä n d e r b z w . V ö l k e r östlich u n d n ö r d l i c h v o m „ W e s t e n " k e i n e e i g e n e n s t a a t l i c h e n b z w . g e s e l l s c h a f t l i c h e n S t r u k t u r e n hatten, d i e g e e i g n e t g e w e s e n w ä r e n , d a s F u n k t i o n i e r e n ihrer G e s e l l s c h a f t u n t e r d e n „ e u r o p ä i s c h e n " B e d i n g u n g e n u n d d e r U m g e b u n g zu r e g e l n . D a b e i spielte d i e T a t s a c h e e i n e e n t s c h e i d e n d e R o l l e , s o w o h l m i l i t ä r i s c h w i e a u c h politisch, d a s s d i e M a c h t b e f u g n i s s e von B y z a n z im e u r o p ä i s c h e n O s t e n d e n U n t e r l a u f d e r D o n a u nicht ü b e r s c h r i t t e n . D e m e n t s p r e c h e n d w aren die R a h m e n b e d i n g u n g e n . e i n e n Z u s a m m e n h a n g , e i n e n Westen
zu s c h a f f e n , s o w o h l auf „ e u r o p ä i s c h e r " als a u c h auf
b y z a n t i n i s c h e r Seite ab ovo g e g e b e n , w a s v o m s p ä t e r e n A b l a u f d e r G e s c h i c h t e v o l l s t ä n d i g b e s t ä t i g t w u r d e . N a t ü r l i c h h a b e n die e i n z e l n e n T e i l n e h m e r d e s H o f t a g e s ihre d i v e r s e n Intere s s e n im V i s i e r b e h a l t e n , w i e z.B. die O s t a u s d e h n u n g d e s R e i c h e s v o n d e u t s c h e r Seite o d e r d i e S t ä r k u n g d e r S e l b s t ä n d i g k e i t s b e s t r e b u n g e n s e i t e n s d e r P o l e n , d o c h nolens
volens
betraf
alles o d e r m i n d e s t e n s s e h r viel d a s G e s a m t e , d a s g a n z e z u k ü n f t i g e E u r o p a , d e s s e n g e i s t i g e K o n t u r e n s c h ä r f e r e Z ü g e b e k a m e n . A l l e r d i n g s ist es e r s t a u n l i c h , d a s s u n t e r allen V ö l k e r n , die neu z u m C h r i s t e n t u m b e k e h r t w u r d e n , v o n d e n D ä n e n bis zu d e n R u s s e n , d e r n e u e G l a u b e n zuerst v o n d e r O b r i g k e i t a u f g e n o m m e n u n d v o n o b e n h e r a b - mit G e w a l t u n d o f t blutig - im
19 Istviin KAPITANFFY, H u n g a r o - B y z a n t i n a . B u d a p e s t 2 0 0 3 .
20 Evangelos CHRYSOS. Otto der Große aus byzantinischer Sicht, in: Matthias PUHLI-; (Hg.). Otto der Große, M a g d e b u r g und Europa, Mainz 2001. Bd. 1. 4 8 1 - 4 8 8 .
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Jänos Gulya
Volk eingeführt wurde. In diesem Zusammenhang ist es angebracht zu betonen, dass es sich hier nicht nur um ein Kapitel der deutschen Geschichte handelte, es nicht bloß bilateral um deutsch-polnische, deutsch-böhmische oder deutsch-ungarische Verhältnisse ging, wie es oft in der Geschichtsschreibung betrachtet wird, sondern dass das Geschehen in der Tat und im besten Sinne des Wortes multinational war bzw. in einem gesamteuropäischen Kontext stattfand. Die Probleme und Aufgaben von 973 haben seither an Aktualität nicht verloren. Die Grenzen zwischen dem lateinischen Ritus und der Orthodoxie sind bis heute in Südosteuropa (Transsylvanien/Rumänien, Serbien versus Kroatien usw.) sowie auch in Russland sehr belastet, in letzter Zeit sogar oft kritisch geworden. Ganz zu schweigen von der zerbrochenen Einheit Europas nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. nach Potsdam und Jalta und von den Schwierigkeiten bei der Überwindung der Trennung in unseren Tagen. Abschließend möchte ich einen kleinen Exkurs über den Namen Europa machen, um so mehr, als die Geschichte dieses Wortes ein fester Bestandteil all dessen ist, was man unter dem Begriff Europa versteht. Dieser stammt vermutlich aus einer uralten semitischen Quelle und hatte dort die Bedeutung „Land des Dunkels", wobei diese Bezeichnung auf das semitische (assyrische) Wort ereb ,dunkel' zurückgeht. Es wurde dann oft mit dem Wort asu ,Aufgang der Sonne' gegenüber gestellt und sekundär mit dem Land identifiziert, wo die Sonne untergeht. Auch in der hebräischen Bibel bedeuten vorwärts und vorder ,Osten' bzw. .östlich' und hinten und hinter ,Westen' bzw. ,westlich'. Zweifelsohne kommt die hier geschilderte Anschauung auch im bekannten Wort Okzident,Westen, Abend; Abendland' vor, entlehnt aus dem lateinischen occidens (sol) untergehende Sonne; Westen, Abendland (als der Teil der bewohnten Erde, der in Richtung der untergehenden Sonne liegt)'. Das ursprünglich semitische Wort ereb hat in der Form erebos/europe seinen Weg auch ins Griechische gefunden und von dort weitere Verbreitung in die verschiedenen Sprachen Europas erfahren. Zunächst haftete der Name Europa in der homerischen Zeit v.a. Nordgriechenland, Albanien und Makedonien an, denn nach der hellenistischen Auffassung bestand die Welt aus den drei Kontinenten Europa, Asien und Afrika, wie es der berühmte griechische Geograph Strabon in seiner „Geographika" formulierte. In römischer Zeit ist die Benennung Europa dann auf das ganze europäische Festland, einschließlich Skandinavien und Finnland, ausgedehnt worden. Was jedoch die Identität betrifft, war das Europa der Römer dem Wesen nach eher römisch als europäisch. Nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches ist der Name Europa ganz in Vergessenheit geraten und unser Kontinent wurde „christliche Welt" oder in erhöhtem Stil res publica Christiana genannt. Diese negative Tradition wurde im mittelalterlichen Abendland fortgesetzt. Das fränkische Reich Karls des Großen (747-814) griff zwar bisweilen auf eine politische Europavorstellung zurück, war aber im Grunde vor allem von partiellen Verhältnissen geprägt und noch dazu grundsätzlich nur auf West- und Mitteleuropa beschränkt. Karls eigene Welt hat über die Elbe-Donau-Linie nicht hinausgereicht. Den Gebrauch des Namens Europa in einem umfassenden Sinne hat vor allem Papst Nikolaus V. in seinen Aufrufen wieder aufleben lassen, die er im Zusammenhang des Falls von Konstantinopel 1453 an christliche Herrscher gerichtet hatte. Gibt es heute ein „Europa"? Ist Europa „europäisch"? Auf diese Frage mag jeder seine eigene Antwort geben, sie sowohl mit einem Ja als auch mit einem Nein beantworten oder
D e r H o f t a g in Q u e d l i n b u r g 9 7 3
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die Frage im Ganzen ablehnen. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Hoftag von Quedlinburg zu Ostern 973 für das Geschehen in Europa und das Schicksal seiner Völker in allen Himmelsrichtungen entscheidend war und den Lauf ihrer Geschichte bis heute bestimmt.
Quedlinburg: Der erste Schritt der Ungarn nach Europa und dessen Vorgeschichte (Sackgassen, Fallen, Wahlmöglichkeiten) * Csanäd Bai int
Q u e d l i n b u r g ? In U n g a r n w i s s e n selbst G y m n a s i a s t e n , d a s s d i e G e s a n d t s c h a f t zu O s t e r n 9 7 3 e i n e n W e n d e p u n k t in d e r Politik d e r 8 0 J a h r e n a c h d e r L a n d n a h m e d a r s t e l l t e ' , a b e r nicht e i n m a l d i e g e l e h r t e W e l t k a n n g e n a u s a g e n , w a s d e n n d i e U n g a r n zu d i e s e m Schritt g e t r i e b e n hat. 2 J e d e r m a n n ist auf V e r m u t u n g e n a n g e w i e s e n , u n d mit G e w i s s h e i t e n k a n n a u c h d i e s e r
* Beibehaltung der Vortragsform. 1 Ablauf und historische Betrachtung der Ereignisse und Prozesse aus deutscher Sicht: Ernst DÜMMI.KK. Geschichte des Ostfränkischen Reiches. Bd. 3.2: Die letzten Karolinger. Konrad I. Darmstadt 1960: DI:RS.. Kaiser Otto der Große. Leipzig 1876: aus ungarischer Sicht: György GYÖRFFY. König Stephan der Heilige. Budapest 1988: Kornel ΒΑΚΛΥ. Hungary, in: Rosamond McKnΊΈΚΙΓΚ (Hg.). The New Cambridge Medieval History. Bd. 2. Cambridge 1995: moderne Synthesen: Robert HOI.TZMANN. Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (900-1024). 6. Aufl. München 1979: Winfried GI.OCKER. Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung in der Politik. Dissertationen zur mittelalterlichen Geschichte 5. Köln und Wien 1989: siehe zum gegenwärtigen Forschungsstand mehrere Kapitel des Ausstellungskatalogs Alfried Wiix ZORFK und Hans-Martin HINZ (Hg.). Europas Mitte um 1000. Stuttgart 2000. 2 Die internationale Forschung schenkt den Ungarn der Landnahmezeit verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit und wenn schon, sind es vorwiegend deutsche und österreichische Spezialisten. Diese folgen dem Schicksal des Karpatenbeckens mit Interesse meist bis 907. dem Jahr der Schlacht bei Brczelaiispurc (im Allgemeinen mit Preßburg identifiziert), als die Ungarn das Karpatenbecken endgültig in Besitz nahmen. Sonst werden aus der Periode von der Landnahme (895) bis zur Gesandtschaft nach Quedlinburg (973) hauptsächlich die Streifzüge gegen Europa und Byzanz und die siegreichen Schlachten von Heinrich I. und Otto I. gegen die Ungarn bei Merseburg und auf dem Lechfeld erwähnt. Ausführlich über die Streifzüge, mit reicher Auswahl der schriftlichen Quellen: Gina FASOLI. Le ineursioni ungare in Europa nel secolo X. Biblioteca storiea Sansoni N.S. 11. Florenz 1945. und Szaboles de VAJAY. Der Eintritt des ungarischen Stämmebundes in die europäische Geschichte (862-933). Studia Hungarica 4. Mainz 1968. Diese Forschungssituation hat zweifach negative Wirkung. Erstens kann die geringe Anzahl der nicht-ungarischen Gesichtspunkte und Methoden zur Einseitigkeit führen. Zweitens hat sich die ungarische Forschung langsam und unbemerkt abgeschlossen und die Blickrichtungen. Ergebnisse und Methoden des Auslands wenig berücksichtigt. In den letzten 150 Jahren erschien solch umfangreiche Fachliteratur auf Ungarisch, dass allein die Besprechung der früheren Meinungsäußerungen ausreichen könnte, um einen neuen Aufsatz zu veröffentlichen. Allerdings erschienen nur wenige bedeutende Publikationen ungarischer Forscher in europäischen Sprachen, so dass ein Teil ihrer Ergebnisse dem internationalen Gelehrtenkrcis unzugänglich bleibt. Schritte zur Annäherung sind von beiden Seiten nötig. Erste Anzeichen dafür lassen sich schon bemerken, wie z.B. Mechthild SCHULZE. Das ungarische Kriegergrab von Aspres-les-Corps. Untersuchungen zu den Ungarneinfällen nach Mittel-, West- und Südosteuropa (899-955 n. Chr.) mit einem Exkurs: Zur Münzchronologie altungarischer Gräber, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 31 (1984). 473-514: Mechthild SCHULZE-DÖRRI.AMM. Untersuchungen zur Herkunft der Ungarn und zum Beginn ihrer Landnahme im Karpatenbecken, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zeil-
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V o r t r a g nicht dienen. 3 A u f f ä l l i g u n d unverständlich ist vor allem, dass es sich u m eine 180G r a d - W e n d e handelte, v o n der allerdings die schriftlichen Q u e l l e n völlig schweigen. 4 U n d die Q u e l l e n s c h w e i g e n nicht nur ü b e r die unmittelbaren a u s l ö s e n d e n G r ü n d e , s o n d e r n d a r ü b e r hinaus auch über die g a n z e n zwei Jahrzehnte, also die fast eine G e n e r a t i o n ü b e r s p a n n e n d e P e r i o d e u n g a r i s c h e r Ereignisse, die der b e k a n n t e n N i e d e r l a g e auf d e m L e c h f e l d folgten. 5 W e r heute die m ö g l i c h e n V o r e r e i g n i s s e und den a u s l ö s e n d e n G r u n d der G e s a n d t s c h a f t nach Q u e d l i n b u r g erforscht, kann sich nicht m e h r e r n s t h a f t auf die Einfälle b e r u f e n , die am E n d e des 19. und in der 1. H ä l f t e des 20. J a h r h u n d e r t s von vielen v o r g e b r a c h t w u r d e n : D e m n a c h h a b e die b e s c h ä m e n d e N i e d e r l a g e v o n 9 5 5 die U n g a r n „erschrecken l a s s e n " und „zur besseren Einsicht gebracht". A b g e s e h e n d a v o n , dass solche A r g u m e n t e u n w i s s e n s c h a f t l i c h sind, ist leicht e i n z u s e h e n , dass dieser d i p l o m a t i s c h e Schritt, w e n n er denn tatsächlich aus diesen G r ü n d e n g e s c h a h , in den nächsten ein bis zwei Jahren nach der N i e d e r l a g e hätte e r f o l g e n m ü s s e n . A b e r d e m w a r eben nicht so, und w e n n v o m L e c h f e l d bis Q u e d l i n b u r g so viel Zeit verstrich, d a n n zeigt dies, dass in U n g a r n unterdessen sehr viel anderes als die e i n f a c h e „ E i n s i c h t " in die N i e d e r l a g e g e s c h e h e n sein m u s s . E s hat f ü r die W e n d e in U n g a r n , die zur Q u e d l i n b u r g e r G e s a n d t s c h a f t im F r ü h j a h r 9 7 3 f ü h r t e , eine einzige wirklich e r w ä g e n s w e r t e w i s s e n s c h a f t l i c h e E r k l ä r u n g g e g e b e n : die „ K n e i f zangentheorie". 6 D e m n a c h h a b e die u n g a r i s c h e F ü h r u n g s s c h i c h t durch die Heirat von Otto II.
tralmuseums Mainz 35 (1988), 3 7 3 ^ 7 8 ; Willibald KATZINGER und Gehard MARCKHGOTT (Hg.): Baiern, Ungarn und Slawen im Donauraum, Forschungen zur Geschichte der Städte und Märkte Österreichs 4, Linz 1991; Martin EGGERS, Beiträge zur Stammesbildung und Landnahme der Ungarn, in: UngarnJahrbuch 23 (1997), 1 - 6 3 und 25 (2000/2001).
3 Gute Betrachtungen aller in diesem Aufsatz behandelten Probleme: Gyula KRISTÖ, Levedi törzsszövetsegetöl Szent Istvän ällamäig [Vom Stammesbund des Levedi zum Staat Stephans des Heiligen], Budapest 1980; György GYÖRFFY, Landnahme, Ansiedlung und Streifzüge der Ungarn, in: Acta Historica H u n g a r i c a 31 (1985), 2 3 1 - 2 7 0 .
4 Grundlegende Quellenausgabe: Ferenc Albin GOMBOS, Catalogue fontium historiae Hungaricae, 3 Bde., Budapest 1937-1938. Zusammenfassungen über die (alt)ungarische Vorgeschichte wurden entweder von Historikern, Sprachwissenschaftlern (Finnougristen und Turkologen) oder Archäologen geschrieben. Jeder ging davon aus, dass die Datenbasis seiner Disziplin (schriftliche Quellen, Angaben der Linguistik [Wortgeschichte, Personennamen, Ortsnamen, Glossen] und der Archäologie [„Kulturen", Funde, Bestattungsriten, Ornamentik]) ausreichend ist, um daraus ethnospezifische Folgerungen ziehen zu dürfen, mit deren Hilfe die Prozesse und der Ablauf der Ethnogenese verfolgt werden können. Die besten bzw. letzten Zusammenfassungen sind die folgenden: über die ungarische Ur- und Frühgeschichte: Gyula KRISTÖ, Hungarian History in the Ninth Century, Szeged 1996; Andräs RONA-TAS, Hungarians and Europe in the Early Middle Ages, Budapest 1999; vorwiegend aus archäologischer Sicht: Istvän FODOR, Die große Wanderung der Ungarn vom Ural nach Pannonien. Budapest 1982; über die Archäologie der Ungarn im 10. Jahrhundert: Csanäd BÄLINT, Die Archäologie der Steppe, Wien und Köln 1991. Als klassische Zusammenfassung der Geschichte der osteuropäischen Steppe im Frühmittelalter gilt Joseph MARQUART, Osteuropäische und ostasiatische Streifzüge, Leipzig 1903, 2. Aufl. Darmstadt 1961. 5 Lehrreiche Analyse der schicksalsentscheidenden Schlacht: Karl LEYSER, The Battle at the Lech. Study in Tenth Century Warfare, in: History 50 (1965), 1-25; kriegsgeschichtlicher Überblick: Charles R. BOWLUS, Der Weg vom Lechfeld. Die Kriegführung der Magyaren, in: Herbert W. WURSTER, Manfred TREML und Richard LOIBL (Hg.), Bayern - Ungarn. Tausend Jahre, Passau und Regensburg 2000, 77-90. 6 Zur „Kneifzangentheorie" siehe die Diskussionen bei Ferenc MAKK, Magyar külpolitika (896-1196) [Ungarische Außenpolitik], Szeged 1993 und Istvän BONA, A magyarok es Europa a 9-10. szäzadban [Die Ungarn und Europa im 9.-10. Jh.], Budapest 2000.
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und T h e o p h a n u im Frühling 9 7 2 plötzlich e r k e n n e n m ü s s e n , dass das r ö m i s c h - d e u t s c h e und das b y z a n t i n i s c h e Reich im B ü n d n i s miteinander ihr Land einfach erdrücken könnten. M e i n e A u f g a b e ist nicht, den Streit, d e r d a r ü b e r in den v e r g a n g e n e n Jahren in U n g a r n g e f ü h r t wurde, hier darzustellen und zu analysieren. Ich selber glaube nicht, dass die angedeutete G e f a h r real war. weil die U n g a r n sich eines historischen und noch mehr eines aktualpolitischen U m s t a n d e s sehr wohl b e w u s s t g e w e s e n sein w e r d e n , dass nämlich B y z a n z f ü r die Gebiete nördlich der unteren D o n a u niemals eine d a u e r n d ernsthafte G e f a h r darstellte, und vor allem, dass Konstantinopel in j e n e n Jahren viel eher in seiner unmittelbaren N a c h b a r s c h a f t , mit der konkreten S p a n n u n g zu Bulgarien und mit den R ü c k e r o b e r u n g e n im N a h e n Osten beschäftigt war. (Nach w e n i g e n Jahren zeigte sich auch, dass B y z a n z in Richtung E u r o p a überhaupt keine weiteren politischen und militärischen Pläne hegte.) W a s die andere B a c k e der hypothetischen K n e i f z a n g e , das r ö m i s c h - d e u t s c h e Kaiserreich, betraf, so ist seine Außenpolitik allbekannt, und in den reichlichen Q u e l l e n findet sich nicht das geringste A n z e i c h e n d a f ü r , dass es aggressive Pläne im Z u s a m m e n h a n g mit U n g a r n gehabt hätte. Ich bin d a v o n überzeugt, d a s s es eine souveräne ungarische E n t s c h e i d u n g g e w e s e n sein muss, eine G e s a n d t s c h a f t nach Quedlinburg zum dort das Osterfest feiernden Kaiser Otto I. zu senden, w e l c h e r sogleich d a n a c h der B e g i n n der westlichen Missionstätigkeit folgte. Ich meine, dass 9 7 3 in U n g a r n eine innenpolitische W e n d e eintrat. ( W a r u m die G e s a n d t schaft gerade aus zwölf Mitgliedern bestand, w o g e g e n es d a m a l s anderen Völkern als ausreichend erschien, j e w e i l s nur eine Person z u m Kaiser zu schicken, können wir nicht einmal ahnen. Es wäre nun wirklich keine w i s s e n s c h a f t l i c h e Erklärung, die Ungarn seien eben schon d a m a l s ein r e i s e f r e u d i g e s Volk g e w e s e n . ) Die e r w ä h n t e W e n d e ist eindeutig d e m Herrschaftsantritt von G r o ß f ü r s t G e z a zuzuschreiben. 7 Dessen Vater. T a k s o n y , war im Jahr d a v o r gestorben. Er war nach der N i e d e r l a g e von 9 5 5 G r o ß f ü r s t g e w o r d e n und hatte f r ü h e r selbst ein Heer nach Italien g e f ü h r t , von w o er 9 4 7 mit fast 4 0 0 kg Lösegeld, bestehend aus S i l b e r m ü n z e n , von B e r e n g a r II. h e i m g e k e h r t war. Z w a r fiel in seine reichlich zwei J a h r z e h n t e lange Herrschaftszeit ein missglückter B e k e h r u n g s v e r s u c h durch Papst J o h a n n e s XII. (um 963), s aber sein a n g e d e u t e t e s V o r l e b e n s o w i e die V e r h i n d e r u n g der R ü c k k e h r des byzantinischen G e s a n d t e n Ottos I. (968) signalisieren viel eher, dass T a k s o n y in seinem D e n k e n der f r ü h e r e n Politik orientalischer A n s c h a u u n g folgte und ihm die e u r o p ä i s c h e Integration wohl noch k a u m in den Sinn k o m m e n konnte. Die V o r g e s c h i c h t e , genauer: deren Fehlen, sowie T a k s o n y s - erschlossene - politische A u f f a s s u n g und die Ereignisse s o w i e das e n g e zeitliche N a c h e i n a n d e r von G e z a s Herrschaftsantritt und der G e s a n d t s c h a f t nach Q u e d l i n b u r g erlauben die Folgerung, dass die W e n d e G e z a zu v e r d a n k e n ist, d e r eine neuartige Politik verfolgte. Wir wissen nichts darüber, was G e z a zu dieser neuen Politik b e w o g e n haben könnte. Es gibt eine einzige authentische Q u e l l e n a n g a b e , die e t w a s von seiner Persönlichkeit aufblitzen lässt. Sie ist den Forschern der E p o c h e gut bekannt, und diese b e w e r t e n sie entsprechend ihrer eigenen Mentalität und aktualpolitischen A u f f a s s u n g . Bischof T h i e t m a r von M e r s e b u r g schrieb über G e z a , er sei auch nach seiner T a u f e Heide geblieben und habe von sich gesagt.
7 Z u r G e s c h i c h t e und Persönlichkeit des Vaters der ..Staatsgründung": S z a b o l c s de VAJAY. G r o ß f ü r s t G e y s a von Ungarn - F a m i l i e und V e r w a n d t s c h a f t , in: S ü d o s t - F o r s c h u n g e n 21 (1962). 4 5 - 1 0 1 . 8 Ü b e r die B e k e h r u n g und A n f ä n g e des C h r i s t e n t u m s bei den U n g a r n : G y ö r g y GYÖRFFY. La chrislianisation de l a H o n g r i e , in: H a r v a r d Ukrainian Studies 12/13 ( 1 9 8 8 / 1 9 8 9 ) . 6 1 - 7 4 .
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er sei reich genug, zwei Göttern opfern zu können. 9 Nun kann man diese Haltung ebenso für die eines hochmütigen orientalischen Herrschers halten, wie sie von den Steppenvölkern allgemein bekannt ist, wie auch für eine Äußerung der heute aus politischen Gründen besonders viel genannten religiösen Toleranz. Stattdessen scheint mir richtiger, die Tatsache als solche zu betrachten und jenen Fürsten, der mit seinen ersten diplomatischen Schritten einen Weg beschritt, der sich später, mit den Augen der Geschichte gesehen, eindeutig als der einzig mögliche positive erwiesen hat. Geza war es, der - anders als die früheren ungarischen Fürsten - die A u f n a h m e von Handelsbeziehungen förderte. Deshalb halte ich es nach alldem - die Stimmigkeit der obenerwähnten Darstellungen gar nicht bestreitend - für das richtigste, seiner Persönlichkeit jene Qualifizierung zu geben, die wir heute „Realpolitiker" nennen. Was hatte aber diesen zwanzigjährigen jungen Mann (und natürlich seine Ratgeber) dazu gemacht? W o und wie hatte er sich Kenntnisse über Europa erworben, in deren Besitz er solche Entscheidungen erwog und fällte? Ich muss wieder sagen: Über all das wissen wir fast nichts und sind nur auf Vermutungen, bestenfalls auf Kombinationen angewiesen. Durch seine in der byzantinischen Religion - und offensichtlich: byzantinischen Kultur - erzogene Frau konnte Geza jedenfalls ganz sicher nicht Europa kennen gelernt haben. Unter den in Frage kommenden Möglichkeiten halte ich den geopolitischen Faktor für bestimmend. U m diesen verstehen zu können, halte ich für nötig, hier ganz kurz die geopolitischen Relationssysteme der jahrtausendealten Geschichte des Karpatenbeckens und Ungarns zur Zeit Gezas zu schildern. Das Karpatenbecken teilte sich entlang der Donau schon seit dem frühen Neolithikum in allen Epochen in eine östliche und eine westliche Hälfte, von denen die eine immer ethnische und kulturelle Beziehungen nach Ost- und Südosteuropa und die andere immer solche nach West- und Südeuropa unterhielt.111 Nach der ungarischen Landnahme kam der ganze Raum unter eine einzige politische Herrschaft, aber die traditionellen Bindungen der Landesteile blieben - wie im Laufe der gesamten Geschichte - naturgemäß weiter bestehen. Deshalb konnte der zweithöchste Würdenträger, der über Siebenbürgen herrschende Gyula, 948 in Konstantinopel getauft werden, wobei der byzantinische Kaiser selbst die Taufe vornahm, woraufhin die ganze östliche Region einen Bischof des orientalischen Ritus erhielt. Ist es dann verwunderlich, dass die sich in der westlichen Hälfte des Karpatenbeckens niederlassende Großfürstenfamilie die Beziehung zum Westen suchte? Konnte das Erzbistum Salzburg vergessen haben, dass es in Pannonien vor der ungarischen Landnahme unter seiner Herrschaft etwa 60 Kirchen gegeben hatte?" Natürlich war dies ein Grund für die Wahl Gezas, dass er nicht den in den Orient führenden Weg gehen wollte, den die Familie des Gyula, die mit der seinen rivalisierte, eingeschlagen hatte. Ich bin überzeugt, dass dies die auf der Hand liegende und einzig logische Wahl war. Wieweit Geza die geopolitischen Realitäten
9 Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon, M G H Scriptores rerum Germanicarum [36], Hannover 1889, lib. 8(7). cap. 4. 10 Gute Zusammenfassung über das Karpatenbecken vor der ungarischen Landnahme mit großer Literaturauswahl (und mit bestrittener historischer Schlussfolgerung): Martin EGGERS, Das „Großmährische Reich". Realität oder Fiktion? Monographien zur Geschichte des Mittelalters 40, Stuttgart 1995. 11 Über die karolingische Pazifikation und die kirchenrechtlichen Verhältnisse Pannoniens im 9. Jahrhundert: Istvan BONA, „Cundpald fecit", in: Acta Archaeologica Academiae Scientiarum Hungaricae 18 (1966), 307-325; über die „westliche" Bekehrung: Gabriel ADRIÄNYI: Die Rolle Salzburgs, Passaus und Regensburgs bei der Christianisierung Ungarns, in: Bayern - Ungarn, 5 5 - 6 4 .
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Ungarns, die Bedeutung der langfristig einzig erfolgreichen Politik, d.h. den Frieden mit den Nachbarn erkannte, beweist seine Heiratspolitik, wie es Frau Röckelein auch betont hat. Er hat nicht nur die Ehe seines Sohns Istvän mit der bayerischen Königsfamilie vorbereitet, die als die vornehmste in ganz Mittel- und Osteuropa galt, sondern auch Eheverbindungen mit polnischen, bulgarischen, kroatischen und venezianischen Königsfamilien. Dass diese weitblickende Initiative von den N a c h k o m m e n nicht vollkommen befolgt wurde, war nicht die Schuld Gezas. Da die Quellen vollkommen schweigen, halte ich jedes weitere Herumraten im Zusamm e n h a n g mit der Gesandtschaft nach Quedlinburg für unbegründet und deshalb sinnlos. Dagegen möchte ich zum bessern Verständnis daran erinnern, dass die Führungspersonen im Laufe der Geschichte Ungarns im 9. und 10. Jahrhundert sogar bei mehreren Anlässen gute Entscheidungen in lebenswichtigen Fragen trafen. Wir kennen einige von den Sackgassen. Fallen und Wahlmöglichkeiten, die die Ungarn - anders als viele Völker der Steppe und des Karpatenbeckens! - vermieden bzw. gut gelöst haben. Auch diese führten alle auf den Weg nach Quedlinburg. Betrachten wir nun einige von diesen! Ein absolut schicksalsentscheidender Schritt war die L a n d n a h m e selbst, der Umstand, dass die Ungarn das osteuropäische Steppenmilieu verließen. Denn dort konnte kein einziges Volk einen Staat gründen, und wenn es einem von ihnen eventuell doch geglückt wäre, hätte es gegen das tatarische und das russische Reich doch nicht bestehen können. Deshalb muss es - selbst wenn es f ü r das Volk in j e n e m M o m e n t höchst unglücklich war! - als historisch glücklicher Umstand betrachtet werden, dass die Pecenegen die W o l g a überschritten und von Osten her die Altungarn nach Westen drängten, wobei das abschließende Moment deren schwere Niederlage war. (Das ungarische Heer bedrängte - von Byzanz gerufen - gerade zu diesem Zeitpunkt den Bulgaren Simeon, so dass das im Hinterland gebliebene Volk ohne Schutz war.) Damals standen also die zwischen Dnjepr und Dnjestr. d.h. die östlich der Karpaten w o h n e n d e n Altungarn vor der Wahl, weiterzuwandern oder in der Steppe zu bleiben und sich dann den Chazaren bzw. Pecenegen zu unterwerfen. Wohin konnten sie überhaupt ziehen? Nördlich der Steppe, in der Waldregion, lebten Massen von Ostslaven, südlich der Donau, im Tiefland und auf den Bergen des Balkans, breitete sich Bulgarien mit seinem beachtlichen militärischen Potential aus - diese Gegenden waren also für die Lebensweise der Altungarn ungünstig. Das Gebiet jenseits der Ketten der Ostkarpaten war seit Jahrtausenden ein reizvolles Siedlungsgebiet f ü r zahllose von Osten. Westen und Süden her eintreffende Völker, weil die klimatischen und die Siedlungsverhältnisse im Karpatenbecken in ganz Mittel- und Osteuropa als außerordentlich günstig galten. Dazu kam im gegebenen M o m e n t noch eine vorteilhafte politische Lage hinzu: A m Ende des 9. Jahrhunderts waren der Ostund Westrand des Karpatenbeckens nur Randgebiete politischer Mächte, also die des bulgarischen Zarenreiches und des ostfränkischen Reiches, zwischen denen die Große Ungarische Tiefebene als Niemandsland galt. All das wussten die sich östlich der Karpaten aufhaltenden Altungarn gut. weil sie im Karpatenbecken schon mehrfach vor ihrer L a n d n a h m e gewesen waren - einmal von den Ostfranken gerufen, ein andermal von den Mährern. immer als Verbündete gegen den j e w e i l s anderen. Dieses Gebiet erwies sich also in der gegebenen Lage als ideales Siedlungsgebiet, sowohl hinsichtlich der natürlichen Gegebenheiten als auch der politischen Verhältnisse. Freilich hätten sie - aus Bequemlichkeit? aus G e w o h n h e i t ? - den Verbleib an der Steppe und die U n t e r w e r f u n g unter die Pecenegen wählen können, was aus heutiger Sicht und Moralauffassung negativ zu beurteilen ein grober Fehler wäre. Denn wir
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kennen in der frühmittelalterlichen Steppengeschichte eine Reihe von Fällen, wo die Wahl so ausfiel und uns natürlich in keinem von ihnen in den Sinn kommt, die Dortgebliebenen - unhistorisch - als „feige" oder „faul" zu qualifizieren. Wie wir sehen, haben die Führer der Altungarn am Ende des 9. Jahrhundert ihren eigenen Weg gesucht. Ein historisches Faktum ist auch, dass dies schon in den vorangegangenen Jahrzehnten ihre Politik leitete und sie deshalb eine weit offen stehende Sackgasse umgehen konnten. Diese Sackgasse war das Chazarenreich. Zum Beweis dieser schwergewichtigen Aussage wäre ein völlig anderer Vortrag erforderlich, weil dieses Reich mit seiner ganzen Wirtschaftsund Gesellschaftsstruktur, die bedeutendste politische Formation in Osteuropa war.12 Hier kann uns nur interessieren, was auch eine Quellenangabe beweist: Die Altungarn wollten sich dieser orientalischen Struktur nicht einfügen. Der konkrete Fall war der, dass der Chazarenkhagan in den 80er Jahren des 9. Jahrhunderts dem damaligen ungarischen Großfürsten die Hand seiner Tochter anbot und dieser höflich ablehnte. Mir ist bewusst, dass die allermeisten der verehrten Anwesenden nicht genau wissen, mit welchen Vorteilen es in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Osteuropa verbunden sein konnte, der Schwiegersohn eines Kreis- oder Bezirksparteisekretärs, geschweige denn des obersten Führers des Landes zu sein - dabei ist diese Analogie recht genau: Das Angebot, in die chazarische Aristokratie aufgenommen zu werden, bedeutete eventuell sogar die Möglichkeit, einmal die höchste Würde erlangen zu können. Die Entscheidung dieses altungarischen Großfürsten in der Vorlandnahmeperiode, das chazarische Angebot abzulehnen, war überlegt und vorausschauend, weil dieses zwar dort und damals einen (persönlichen) Riesenvorteil bedeutet hätte, die Richtigkeit der Ablehnung von der Geschichte aber schon nach 100 Jahren eindeutig belegt wurde. Nichts veranschaulicht dies besser als die Tatsache, dass genau in jenen Jahren, als die ungarischen Fürsten mit der Quedlinburger Gesandtschaft den nach Europa führenden Weg betraten, mit dem Kriegszug des Kiever Svjatoslav am Rand Osteuropas der Niedergang des Chazarenreichs begann. Erstere legten die Fundamente für ihren bis heute bestehenden Staat, letzteres dagegen folgte dem Schicksal so vieler Steppenreiche, d.h. es verschwand von der Weltbühne. Die Ungarn konnten auch einige Fallen vermeiden. Unter diesem Begriff verstehe ich in der Geschichte jenen leicht zu verschaffenden, aber sehr kurzzeitigen Vorteil, der letzten Endes in eine Sackgasse, wenn nicht gar zum Sturz führt. Es gibt gewisse historische Fallen, denen man nicht unbedingt durch bewusste Entscheidung entgehen kann, anderen dagegen sehr wohl. Theoretisch waren die Streifzüge nach Italien und Westeuropa eine solche Falle, da sie einem großen Teil der ungarischen Gesellschaft in der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts die leichte Möglichkeit boten, sich auf die Teilnahme an den mit schneller Bereicherung lockenden Streifzügen zu „spezialisieren". Dennoch geschah dies nicht, und niemand sollte meinen, irgendeine historische Voraussicht oder noch weniger: ein moralischer Vorbehalt habe die große Masse der Ungarn von der Teilnahme an den Streifzügen zurückgehalten - sie
12 Aus der reichen Literatur über die Chazaren: Das bekannte Buch von Douglas Morton DUNLOP, The History of the Jewish Khazars, Princeton 1954 ist heute nur noch wegen der schriftlichen Quellen nutzbar. Die brilliante Dissertation von Dieter LUDWIG, Struktur und Gesellschaft des Chazaren-Reiches im Licht der schriftlichen Quellen, Diss. phil. (masch.) Münster 1982, blieb leider ungedruckt. Zuletzt: A. P. NOVOSEL'CEV: Chazarskoe gosudarstvo i ego rol' Ν istorii Vostocnoj Evropy i Kavkaza [Das Chazarenreich und seine Rolle in der Geschichte des östlichen Europas und des Kaukasus], Moskau 1990.
Quedlinburg: Der erste Schritt der Ungarn nach Europa und dessen Vorgeschichte
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h a t t e n e i n f a c h alle ihre a l l t ä g l i c h e k o n k r e t e B e s c h ä f t i g u n g . D e n n die S c h i c h t d e r k ö n i g l i c h e n D i e n s t v ö l k e r , w i e sie u n s zu B e g i n n d e r B e u r k u n d u n g s p r a x i s a m A n f a n g d e s 11. J a h r h u n d e r t s v o r A u g e n g e f ü h r t w i r d , w a r nicht v o n e i n e m M o m e n t z u m a n d e r e n e n t s t a n d e n , s o d a s s d i e B a u e r n , u n t e r s c h i e d l i c h s t e n H a n d w e r k e r , Z ö l l n e r u s w . e i n f a c h g a r nicht in d e r L a g e g e w e s e n w ä r e n , d e n W e g d e r R ä u b e r zu b e s c h r e i t e n . V o r der Gesandtschaft nach Quedlinburg war also die für die Staatsgründung, für den Schritt n a c h E u r o p a n o t w e n d i g e S t r u k t u r b e r e i t s g e g e b e n . U m d i e s e n Schritt tun zu k ö n n e n , w a r dreierlei e r f o r d e r l i c h : e i n e e n t s p r e c h e n d e p o l i t i s c h e E n t s c h e i d u n g , e i n e F ü h r u n g s s c h i c h t , reif g e n u g , d i e s e a n z u n e h m e n , u n d ein s t a r k e s m i l i t ä r i s c h e s P o t e n t i a l , d a s d i e s e E n t s c h e i d u n g g e g e n ü b e r d e n A n h ä n g e r n d e r alten O r d n u n g d u r c h s e t z e n k o n n t e . All d a s w a r in U n g a r n a m E n d e d e s 10. J a h r h u n d e r t s v o r h a n d e n , u n d es ist a u c h d e m j a h r t a u s e n d e l a n g e n B e h a r r e n auf d e r S t a a t l i c h k e i t s o w i e i h r e r I d e o l o g i e zu v e r d a n k e n , d a s s ich h e u t e ü b e r all d a s als ein M e n s c h u n g a r i s c h e r M u t t e r s p r a c h e u n d als B e s c h ä f t i g t e r in e i n e r u n g a r i s c h e n s t a a t l i c h e n Institution zu I h n e n s p r e c h e n k o n n t e . D i e e u r o p ä i s c h e G i p f e l k o n f e r e n z v o n 9 7 3 in Q u e d l i n b u r g hat g u t e A r b e i t geleistet.
Benevent - Capua - Magdeburg - Salerno: Neue Erzbistümer an der Peripherie des lateinischen Europa im 10. Jahrhundert Wolfgang
Huschner
M e h r e r e h i s t o r i o g r a p h i s c h e Q u e l l e n d e s 10. u n d 11. J a h r h u n d e r t s i n f o r m i e r e n d a r ü b e r , d a s s z u O s t e r n 9 7 3 G e s a n d t s c h a f t e n a u s v e r s c h i e d e n e n L ä n d e r n a m k a i s e r l i c h e n H o f in Q u e d l i n b u r g eingetroffen seien. So sollen G e s a n d t e der B e n e v e n t a n e r . Bulgaren, D ä n e n , Griechen, Ungarn. S l a v e n b z w . a u s B ö h m e n u n d a u s P o l e n n a c h Q u e d l i n b u r g g e k o m m e n sein. 1 I m H i n b l i c k auf d i e Z a h l d e r a u s w ä r t i g e n G ä s t e in Q u e d l i n b u r g lässt s i c h ein T r e n d in d e r Ü b e r l i e f e r u n g k o n s t a t i e r e n : J e s p ä t e r d i e Q u e l l e e n t s t a n d , d e s t o m e h r G e s a n d t s c h a f t e n w u r d e n es. D i e m e i s t e n A b o r d n u n g e n f ü h r t e d e r G e s c h i c h t s s c h r e i b e r L a m p e r t v o n H e r s f e l d a u f , d e r sein W e r k m e h r als h u n d e r t J a h r e s p ä t e r v e r f a s s t e . 2 A u ß e r d e n s c h o n g e n a n n t e n s e i e n a u c h R ö m e r . I t a l i e n e r u n d R u s s e n in Q u e d l i n b u r g e r s c h i e n e n . 1 O b w o h l s i c h Z a h l u n d H e r k u n f t s l ä n d e r n i c h t g e n a u bes t i m m e n lassen, sprechen verschiedene Anhaltspunkte dafür, dass zumindest mehrere Gesandt s c h a f t e n z u O s t e r n 9 7 3 an d e n H o f d e s w e s t l i c h e n K a i s e r s k a m e n . 4 Ü b e r d i e s w a r Q u e d l i n b u r g
1 Johann Friedrich BÖHMER. Regesta Imperii. 2.1: Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich I. und Otto I. 919-973. neu bearbeitet von Emil von O M V I M I mit Ergänzungen von Hans H. KAMINSKY. Hildesheim 1967. Nr. 562d. 2 Wilhelm WATTLNBACH und Robert HOLTZMANN. Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier. Neuausgabe besorgt von Franz-Josef SCHMALH. Teil 2: Das Zeitalter des Investiturstreits (1050-1125). Weimar 1967. 462 f. 3 Lampert von Hersfeld, Annales. hg. von Oswald HOLDER-EGGHR. MGH Scriptores rerum Germanicarum [381. Hannover und Leipzig 1894, 1-304. ad a. 973. 42: lllucque venerunt legali plurimarum gentium, id est Romanorum, Grecorum, Beneventorum. Italorum, Ungariorum. Demorum. Sclavorum. Bulgariorum atque Ruscorum, cum magnis muneribus. 4 Der zeitgenössische Historiograph Widukind von Corvey erwähnt nur allgemein die Anwesenheil von Repräsentanten vieler Völker in Quedlinburg. Widukind von Corvey. Rerum gestarum Saxonicarum libri tres. hg. von Paul HIRSCH und Hans-Eberhard LOHMANN. M G H Scriptores rerum Germanicarum 60. 5. Auflage Hannover 1935. lib. 3. cap. 75. 152: ... ubi diversarum gentium multitudo conveniens ... Durch die zeitgenössische urkundliche Überlieferung ist nur Bischof Odalrich von Cremona während der Osterwoche in Quedlinburg nachweisbar. Die Urkunden Konrad I.. Heinrich I. und Otto I.. hg. von Theodor SICKF.L. MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1. Hannover 1879-1884. Diplom Ottos I. Nr. 429 (künftig zitiert: D Ο. I. bzw. DD Ο. I. mit der Nummer des Diploms bzw. mit den Nummern der Diplomata). Der etwa vierzig Jahre nach dem Quedlinburger Hoftag schreibende Bischof Thietmar von Merseburg nannte in seiner Chronik zunächst die Herzöge von Polen und Böhmen. Anschließend übernahm er die Gesandtenliste (Griechen, Beneventer. Ungarn. Bulgaren. Dänen. Slaven) aus den einige Jahre früher entstandenen Quedlinburger Annalen in sein Werk. Thietmar von Merseburg. Chronicon. hg. von Robert HOLTZMANN. M G H Scriptores rerum Germanicarum N.S. 9. Berlin 1935. lib. 2. cap. 31. 76: Hue confluebant inperatoris edictit Miseco atque BoUzlüvo duces et legati Grecorum. Beneventorum. Ungariorum, Bulgariorum. Danorum et Sclavorum ...
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im nordalpinen Reich schon vor 973 ein bevorzugter Ort und Ostern der wichtigste Termin für Zusammenkünfte Ottos I. mit anderen Herrschern sowie den Empfang von auswärtigen Gesandtschaften. 5 Zu den Quedlinburger Gästen von 973 dürfte auch eine Abordnung aus Benevent gehört haben, denn deren Erwähnung ist in der historiographischen Überlieferung ungewöhnlich. Kurz vor der großen Quedlinburger Versammlung hatte Otto I. aber noch seinem nordalpinen Lieblingsort Magdeburg 6 einen Besuch abgestattet und dort den Palmsonntag 7 gefeiert. Sieben Jahre waren vergangen, seit er den Ort, der während seiner gesamten Regierungszeit nachhaltige Förderung erfuhr 8 , nicht mehr gesehen hatte.9 In Italien, wo sich der Kaiser von Ende 966 bis Anfang 972 aufhielt 10 , war es ihm endlich gelungen, den langjährigen Plan zur Errichtung einer erzbischöflichen Kirche in Magdeburg zu realisieren. Zugespitzt könnte man formulieren, dass die Gründung der neuen erzbischöflichen Kirche im Nordosten seines Reiches ohne das langjährige kaiserliche Engagement in Italien sowie ohne die Unterstützung des Papstes und von Geistlichen südalpiner Provenienz nicht möglich gewesen wäre." Darüber hinaus gehörte die Errichtung der Magdeburger Kirchenprovinz in den großen Rahmen der Konkurrenz zwischen der griechischen und der lateinischen Kirche um Einflusssphären und Kirchenorganisationen in Mittel- und Osteuropa. Magdeburg war nämlich nur eine von vier neuen Kirchenprovinzen, die innerhalb von vier Jahren an der Peripherie des griechischen und des lateinischen Europa errichtet wurden: 966 gründete man das Erzbistum Capua, 967/968 jenes von Magdeburg, 968 die Kirchenprovinz von Otranto und 969 das Erzbistum von Benevent. 12 Die Gründung des lateinischen Erzbistums Benevent 969 war eine Reaktion auf die 968 erfolgte Einrichtung der griechischen Kirchenprovinz Otranto im äußersten Südosten der Apenninenhalbinsel. Die Erhebung Otrantos zur Metropolitankirche mit Suffranganbistümern
5 Wolfgang HUSCHNER, Kirchenfest und Herrschaftspraxis. Die Regierungszeiten der ersten beiden Kaiser aus liudolfingischem Hause (936-983), Teil 1: Otto I. (936-973), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993), 31 f., 38. 6 Gemessen an der Aufenthaltshäufigkeit steht Magdeburg an der Spitze aller tradierten Itinerarorte Ottos I. Eckhard MÜLLER-MERTENS, Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen, Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 25, Berlin 1980, 92 f. 7 Vor allem die als Originale tradierten DD Ο. I. 427 und 428, ausgestellt am 15. März 973 in Magdeburg, sprechen für die Feier des Palmsonntages (16. März 973) an diesem Ort. 8 Dietrich CLAUDE, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, Mitteldeutsche Forschungen 67/1 und 2, Köln und Wien 1972-1975, Teil 1, 17-119; Johannes LAUDAGE, Otto der Große. (912-973). Eine Biographie, Regensburg 2001, 208-224. 9 Im Jahre 966 ist ein Aufenthalt des Kaisers in Magdeburg nicht bezeugt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hielt sich Otto I. aber von Mitte April bis Ende Juli 966 durchgehend im ostsächsisch-nordthüringischen Raum auf. Da der Aufbruch zu einem längerfristigen Italienaufenthalt im August 966 erfolgte, dürfte Otto I. vor seiner Abreise aus Sachsen auch Magdeburg noch einen Besuch abgestattet haben. DD Ο. I. 326-333; MÜLLER-MERTENS, R e i c h s s t r u k t u r ( w i e A n m . 6), 3 0 6 .
10 BÖHMER-OTTENTHAL-KAMINSKY (wie Anm. 1), Nr. 4 3 7 a - c , 549a. 11 Wolfgang HUSCHNER, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9. bis 11. Jahrhundert), Schriften der M G H 52,1-3, Hannover (im Druck), Bd. 2, 624-657. 12 Johann Friedrich BÖHMER, Regesta Imperii 11,5: Papstregesten 991-1024, bearbeitet von Harald ZIMMERMANN, 2. Aufl. Wien, Köln und Weimar 1998, Nr. 393, 413, 418, 449, 450, 452, 458, 459.
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N e u e E r z b i s t ü m e r an d e r P e r i p h e r i e d e s l a t e i n i s c h e n E u r o p a im 10. J a h r h u n d e r t
w u r d e vom byzantinischen Kaiser N i k e p h o r o s II. P h o k a s ( 9 6 3 - 9 6 9 ) veranlasst. Sie richtete sich gegen die aggressive Süditalienpolitik Kaiser Ottos I. und des Papstes. 1 ' Schon die festere B i n d u n g der l a n g o b a r d i s c h e n F ü r s t e n t ü m e r B e n e v e n t und C a p u a an das neue westliche Kaiserreich betrachtete der byzantinische Kaiser als einen A n g r i f f auf sein Hoheitsgebiet. 1 4 Fürst P a n d u l f E i s e n k o p f von C a p u a ( 9 6 1 - 9 8 1 ) hatte sich d a f ü r entschieden, das traditionelle Lavieren z w i s c h e n d e m Osten und d e m W e s t e n a u f z u g e b e n und sich längerfristig mit Otto I. zu verbünden. D a f ü r b e l o h n t e m a n ihn mit d e m H e r z o g t u m Spoleto. Z u d e m w u r d e C a p u a das erste Erzbistum K a m p a n i e n s . A u ß e r C a p u a lenkte Pandulf E i s e n k o p f indirekt auch das F ü r s t e n t u m Benevent, in d e m sein Sohn als Fürst regierte. 1 '' Otto I. w ü n s c h t e sich f ü r seinen 967 z u m Mitkaiser gekrönten S o h n Otto II." 1 eine purpurg e b o r e n e byzantinische Prinzessin zur Frau, um die A k z e p t a n z der westlichen Kaiserwürde durch O s t r o m allseits d e m o n s t r i e r e n zu k ö n n e n . Im 10. Jahrhundert galt das Verhältnis zum byzantinischen Kaiser f ü r alle H e r r s c h e r als der wichtigste M a ß s t a b f ü r die B e s t i m m u n g der eigenen Position in der christlichen Welt. 1 7 Als man sich in Konstantinopel g e g e n ü b e r d e m A n s i n n e n Ottos I. reserviert verhielt, versuchte der westliche Kaiser, sein Ziel durch militärischen Druck zu erreichen und rückte in Apulien ein. l s Apulien und Lukanien bildeten die K e r n g e b i e t e des byzantinischen T h e m a s „ L a n g o b a r d i a " . Dieses T h e m a w a r gegen E n d e des 9. J a h r h u n d e r t s nach m e h r e r e n byzantinischen Siegen gegen die A r a b e r in Süditalien errichtet w o r d e n . A u s byzantinischer Sicht gehörten dazu auch die F ü r s t e n t ü m e r Benevent. C a p u a und Salerno sowie die Seestädte A m a l f i , N e a p e l und Gaeta.' 1 ' Bei einer vollständigen Realisierung dieses byzantinischen A n s p r u c h s wäre R o m beinahe zu einer Grenzstadt zwischen d e m lateinischen und d e m griechischen Kulturkreis g e w o r d e n . Nicht zuletzt d e s h a l b unterstützte die päpstliche Seite den neuen westlichen Kaiser v e h e m e n t bei dessen Süditalienpolitik. Otto I. folgte bei seinem V e r s u c h , den byzantinischen Kaiser mit militärischen Mitteln zu erpressen, vermutlich d e m Vorbild des bulgarischen Zaren S y m e o n . der 925 den Titel „Basileus der Bulgaren und R ö m e r " a n g e n o m m e n hatte. V o n der Schlagkraft des bulgarischen H e e r e s war man in Konstantinopel o f f e n b a r beeindruckt. An dessen Spitze war S y m e o n im ersten Viertel des 10. J a h r h u n d e r t s häufig in byzantinisches Gebiet e i n g e d r u n g e n und hatte m e h r f a c h sogar Konstantinopel direkt bedroht. Die E r o b e r u n g der Stadt und die wohl angestrebte Usurpation der kaiserlichen W ü r d e gelangen ihm j e d o c h nicht. N a c h langjährigen A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n k a m es infolge einer Z u s a m m e n k u n f t (924) der Kaiser R o m a n o s I. L a k a p e n o s ( 9 2 0 - 9 4 4 ) und S y m e o n z u m Frieden z w i s c h e n beiden Reichen. U m ihn längerfristig zu sichern, erklärte sich Kaiser R o m a n o s I. w e n i g e M o n a t e nach d e m T o d e von
13 V e r a v o n FAL.KENHAUSEN. U n t e r s u c h u n g e n ü b e r die b y z a n t i n i s c h e H e r r s c h a f t in S ü d i t a l i e n v o m 9. bis ins 11. J a h r h u n d e r t . S c h r i f t e n zur G e i s t e s g e s c h i c h t e d e s ö s t l i c h e n E u r o p a 1. W i e s b a d e n
1967.
151-153. [ 4 FALKENHAUSEN. U n t e r s u c h u n g e n ( w i e A n m . 13). 3 1 - 3 4 .
15 R u d o l f KÖPKE u n d Ernst DÜMMLER. K a i s e r O t t o d e r G r o ß e . L e i p z i g 1876. 4 1 1 . 4 1 4 . 4 6 2 - 4 6 4 . 16
BÖHMER-OTTENTHAL-KAMINSKY
(wie A n m .
1). N r . 4 6 3 b : B Ö H M E R - Z I M M E R M A N N ( w i e A n m .
12).
Nr. 4 3 3 . 17 F r a n z DÖI.GER. D i e ..Familie d e r K ö n i g e " im M i t t e l a l t e r , in: DERS.. B y z a n z u n d die e u r o p ä i s c h e S t a a t e n w e l t . Ettal 1953. 3 4 - 6 9 . 18 B Ö H M E R - O T I E N T H A L - K A M I N S K Y ( w i e A n m . 1). N r . 4 6 7 . 4 6 8 a . b.
19 FALKENHAUSEN. U n t e r s u c h u n g e n ( w i e A n m . 1 3 ) . 2 9 f.
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Symeon (27. Mai 927) zu einer außergewöhnlichen Eheverbindung bereit. Maria Lakapene, die Tochter seines ältesten Sohnes Christophoros, wurde die Gemahlin von Zar Peter (927-969), dem Sohn und Nachfolger Symeons von Bulgarien. Es war seit mehr als fünfhundert Jahren das erste Mal, dass eine byzantinische Prinzessin einen auswärtigen Herrscher heiratete. Im Friedensvertrag, der in Verbindung mit der Eheschließung aufgesetzt wurde, erkannte Kaiser Romanos I. den Titel Peters („Zar" bzw. „Basileus") und die Unabhängigkeit des bulgarischen Patriarchats an.20 Am ottonischen Hof war man über diese Vorgänge sehr gut informiert. Die Gesandten Ottos I. argumentierten bei der Brautwerbung für Otto II. in Konstantinopel mit der Heirat zwischen Zar Peter und Maria Lakapene (Irene).21 Im Unterschied zu Symeon von Bulgarien besaß Kaiser Otto I. aber keine Möglichkeit, Konstantinopel direkt zu bedrohen. Davon abgesehen hatte er sich bereits im Hinblick auf Apulien militärisch und politisch überschätzt. Er war zwar erfolgreich auf dem Lande, die befestigte Seestadt Bari, die Hauptstadt des Themas „Langobardia", vermochte er jedoch nicht einzunehmen. 22 Ihm fehlte es an Seestreitkräften; in dieser Hinsicht war er den Byzantinern hoffnungslos unterlegen. Bischof Liutprand von Cremona (961-971/72), der 968 als Gesandter Ottos I. in Konstantinopel weilte, musste daher zur Kenntnis nehmen, dass man das Reich seines Herren nur als eine zweitrangige Macht einstufte. Der oströmische Kaiser Nikephoros Phokas war zuvor der Oberbefehlshaber des byzantinischen Ostheeres gewesen, das vor allem gegen die Araber Erfolge erzielt hatte. Unter seinem Kommando eroberte man 961 Kreta mit Hilfe einer riesigen Flotte nach fast 150 Jahren arabischer Besetzung zurück. Einige Jahre später verdrängte Nikephoros Phokas als Kaiser die Araber von der Insel Zypern. Unter seiner Führung gelangte 969 auch die alte Patriarchenhauptstadt Antiochia nach mehr als 330 Jahren wieder in christliche Hand. 21 Kaiser Nikephoros soll dem Gesandten Liutprand die militärische Unterlegenheit Ottos I. während einer Audienz schonungslos und ein wenig spöttisch vor Augen geführt haben. Da Otto I. über keine Flotte verfüge, habe er nicht einmal das winzige Städtchen Bari einnehmen können, obwohl er doch mit all seinen Sachsen, Bayern, Schwaben und Italienern angerückt sei. Außerdem kritisierte Nikephoros gegenüber dem Gesandten Liutprand den Angriff Ottos I. auf Apulien als ein Verhalten, das eines christlichen Herrschers, der sich zudem noch den Kaisertitel anmaßte, unwürdig sei. Während er sich um die Befreiung alter christlicher Länder von arabischer Herrschaft bemühe, sei Otto I. in christliche Gebiete eingefallen. Überdies spielte Nikephoros direkt und indirekt die Anciennität des Christentums und des Kaisertums
20 Franz DÖLGER, Bulgarisches Zartum und byzantinisches Kaisertum, in: DERS., Byzanz (wie Anm. 17), 145-155, DERS., Die mittelalterliche „Familie der Fürsten und Völker" und der Bulgarenherrscher, in: Ebd., 170-178; Georg OSTROGORSKY, Geschichte des byzantinischen Staates, Handbuch der Altertumswissenschaft XII,1.2, 3. Aufl. München 1963, 216-223; John Julius NORWICH, Byzanz. Auf dem Höhepunkt der Macht 800-1071, Düsseldorf, Wien, New York und Moskau 1994, 180-188; Vassil GJUZELEV, Symeon der Große, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), 360 f. 21 Liudprand von Cremona, Antapodosis, Homelia Paschalis, Historia Ottonis, Relatio de Legatione Constantinopolitana, hg. von Paolo CHIESA, Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 156, Turnhout 1998, Antapodosis, lib. 3, cap. 27-29, 38; Relatio de Legatione Constantinopolitana, cap. 15, 16. 22 KÖPKE/DÜMMLER, Kaiser Otto der Große (wie Anm. 15), 436. 23 NORWICH, Byzanz (wie Anm. 20), 221-225, 245f.
N e u e E r z b i s t ü m e r an der Peripherie d e s lateinischen E u r o p a im 10. Jahrhundert
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in O s t r o m gegen den aus Sachsen s t a m m e n d e n Otto I. aus. D i p l o m a t i s c h und politisch stufte m a n Otto I. 9 6 8 in Konstantinopel o f f e n b a r als westlichen E m p o r k ö m m l i n g ein. D a h e r zog N i k e p h o r o s den ebenfalls a n w e s e n d e n G e s a n d t e n des bulgarischen Zaren d e m O t t o s I. protokollarisch eindeutig vor. 24 T r o t z d e m hatte Otto I. aus der Sicht des östlichen Kaisers den B o g e n überspannt, als er sich militärisch in A p u l i e n engagierte. Dies war ein sehr sensibles Gebiet. Im Unterschied zu Kalabrien, w o d u r c h g ä n g i g eine griechische Kirchenorganisation bestand, existierte in Apulien eine lateinische Kirche, w e l c h e die Byzantiner bisher k a u m angetastet hatten. Die B i s c h ö f e Apuliens unterstanden in kirchlicher Hinsicht R o m , in weltlichen B e l a n g e n K o n s t a n t i n o p e l . " A u ß e r d e m hatte die päpstliche Seite noch Öl ins Feuer g e g o s s e n . A u s r ö m i s c h e r Sicht sollte eine E i n i g u n g z w i s c h e n beiden Kaisern, die vielleicht auf Kosten päpstlicher Interessen zustande k o m m e n könnte, w o h l v e r m i e d e n werden. Die Päpste konkurrierten nicht nur im Hinblick auf Süditalien s o w i e auf mittel- und osteuropäische Gebiete mit den Patriarchen von Konstantinopel, sondern auch w e g e n ihres Ranges. 2 6 Als Ottos G e s a n d t e r Liutprand in Konstantinopel verhandelte, traf dort ein päpstliches Schreiben ein. Darin bezeichnete man N i k e p h o r o s absichtlich als „ K a i s e r der G r i e c h e n " und nicht als „ K a i s e r der R ö m e r " , wie es erwartet w u r d e . V i e l m e h r präsentierte m a n Otto I. als „Kaiser der R ö m e r " . Für den byzantinischen Herrscher, der sich als alleinigen Kaiser der R ö m e r betrachtete, war das eine e n o r m e Brüskierung. 2 7 D a s war aber nur einer der G r ü n d e , w e s h a l b die V e r h a n d l u n g e n Liutprands in Konstantinopel scheiterten. V e r s c h i e d e n e A n h a l t s p u n k t e sprechen d a f ü r , dass N i k e p h o r o s P h o k a s f r ü h e r o d e r später massiv g e g e n Otto I. v o r z u g e h e n beabsichtigte. N i k e p h o r o s b e s a ß n ä m l i c h ein ganz persönliches Interesse an der byzantinischen H e r r s c h a f t über Süditalien. Es war sein g l e i c h n a m i ger Großvater, der im 9. Jahrhundert die A r a b e r in Süditalien als Feldherr besiegt und dort m a ß g e b l i c h an der erneuten Errichtung der byzantinischen H e r r s c h a f t mitgewirkt hatte. : s Der oströmische Kaiser strebte d e s h a l b gar keine d i p l o m a t i s c h e Einigung mit Otto I. an. V i e l m e h r stellte er ihm u n a n n e h m b a r e B e d i n g u n g e n f ü r die E n t s e n d u n g einer p u r p u r g e b o r e n e n byzantinischen Prinzessin 2 9 f ü r Otto II. So verlangte N i k e p h o r o s als G e g e n l e i s t u n g R a v e n n a und R o m mit den dazu gehörigen Regionen sowie alle anderen Gebiete, die zwischen R a v e n n a
24 L i u d p r a n d von C r e m o n a (wie A n m . 21). Relatio de Legatione C o n s t a n t i n o p o l i t a n a . cap. 11. 19. 21.25.31. 25 FALKENHAUSEN. U n t e r s u c h u n g e n (wie A n m . 13). 1 4 8 - 1 5 6 . 26 Axel BAYER. Spaltung der Christenheit. D a s s o g c n a n n t e M o r g e n l ä n d i s c h e S c h i s m a von 1054. Beihefte z u m Archiv für K u l t u r g e s c h i c h t e 53. Köln. W e i m a r und W i e n 2002. 9 - 1 4 . 1 8 - 2 0 . 27 L i u d p r a n d von C r e m o n a (wie A n m . 21). Relatio de Legatione C o n s t a n t i n o p o l i t a n a . cap. 47. 4 9 - 5 I. 56: DÖLGER. Z a r t u m (wie A n m . 20), 153t'. 28
FAEKENHAUSEN. U n t e r s u c h u n g e n ( w i e A n m . 13). 1 9 f .
2 9 Nach der Darstellung L i u t p r a n d s sollen die B y z a n t i n e r den R a n g der Prinzessin A n n a , die O t t o I. als G e m a h l i n f ü r Otto II. erstrebte, noch höher e i n g e s t u f t haben als j e n e n von Maria L a k a p e n e (Irene), die den Z a r e n Peter von Bulgarien geheiratet hatte. A n n a sei als p u r p u r g e b o r e n e T o c h t e r eines purpurg e b o r e n e n Kaisers ( R o m a n o s II.) zu betrachten. C h r i s t o p h o r o s . der Vater von Maria L a k a p e n e . sei hingegen kein P o r p h y r o g e n n e t o s g e w e s e n . L i u d p r a n d von C r e m o n a (wie A n m . 21). Relatio de Legatione C o n s t a n t i n o p o l i t a n a . cap. 15. 16.
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einerseits sowie dem byzantinischen Reich andererseits 30 lagen. Falls Otto aber auf die Heirat verzichte und nur Freundschaft wolle, so müsse er Rom abtreten sowie Benevent und Capua zurückgeben. 3 ' Zumindest 968 vertrat der oströmische Kaiser damit einen universalistischen Anspruch gegenüber Otto I. und forderte sogar Rom für Byzanz. 32 Nikephoros Phokas verschob die persönliche militärische Auseinandersetzung mit Otto 1. in Italien33 zugunsten eines bereits geplanten Feldzuges nach Syrien, um die Patriarchenstadt Antiochia zu erobern. 34 Zugleich ergriff er aber mehrere Maßnahmen, die seinen Anspruch auf die byzantinische Herrschaft in Süditalien unterstrichen. So sagte er König Adalbert von Italien, der durch Otto I. vertrieben worden war, materielle und militärische Unterstützung gegen den westlichen Kaiser zu. Ob Nikephoros tatsächlich lateinische Gottesdienste in ganz Apulien und in Kalabrien durch den Patriarchen von Konstantinopel verbieten ließ, wie Liutprand in seinem Gesandtschaftsbericht behauptet 35 , ist zumindest im Hinblick auf Apulien zweifelhaft. Nikephoros veranlasste aber die Erhebung Otrantos im äußersten Südosten des Themas „Langobardia" zur einer griechischen Kirchenprovinz sowie die Einrichtung einer neuen byzantinischen Verwaltungsorganisation in Italien.36 Zum Glück für Otto I. kam es nicht mehr zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen ihm und dem byzantinischen Herrscher, denn Nikephoros Phokas wurde Ende 969 ermordet. Der neue oströmische Kaiser Johannes Tzimiskes (969-976), ein ebenso guter Heerführer wie Nikephoros, musste bald andere Prioritäten setzen, weil sich um 969/970 die internationale Lage schlagartig verändert hatte. So stand eine militärische Konfrontation zwischen Byzanz und der Kiever Rus' unmittelbar bevor. Außerdem musste Kaiser Johannes Tzimiskes, der seinen Vorgänger Nikephoros Phokas ermordet hatte, seine Herrschaft auch innenpolitisch stabilisieren. Der Ostkaiser lenkte deshalb gegenüber Otto I. ein und versprach ihm eine kaiserliche, allerdings nicht purpurgeborene Prinzessin für seinen Sohn. 972 erfolgte in Rom die Vermählung zwischen Kaiser Otto II. und der zur Kaiserin gekrönten Byzantinerin Theophanu. 37
30 Gemeint waren wohl besonders die kroatischen und dalmatinischen Gebiete entlang der nördlichen und östlichen Adriaküste, die im 9. und 10. Jahrhundert kirchlich, kulturell und politisch sowohl vom lateinischen Westen als auch vom griechischen Osten beeinflusst worden waren. Vgl. dazu Ivo GOLDSTEIN, Kroatien und Dalmatien zwischen Byzanz und dem Westen, in: Evangelos KONSTANTINOU (Hg.), Byzanz und das Abendland im 10. und 11. Jahrhundert, Köln und Wien 1997, 164-170. 31 Liudprand von Cremona (wie Anm. 21), Relatio de Legatione Constantinopolitana, cap. 15, 27. 32 BAYER, Spaltung (wie Anm. 26), 22f. 33 Liudprand von Cremona (wie Anm. 21), Relatio de Legatione Constantinopolitana, cap. 27. 3 4 OSTROGORSKY, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 2 0 ) , 2 4 1 .
35 Liudprand von Cremona (wie Anm. 21), Relatio de Legatione Constantinopolitana, cap. 29, 30, 62. 3 6 FALKENHAUSEN, U n t e r s u c h u n g e n ( w i e A n m . 13), 4 8 f.
37 BÖHMER-ZIMMERMANN (wie Anm. 12), Nr. 492; Johann Friedrich BÖHMER, Regesta Imperii, 11,2: Die Regesten des Kaiserreichs unter Otto II. 955 (973)-983, neu bearbeitet von Hanns Leo MIKOI.ETZKY, Graz 1950, Nr. 597e; Nikolaus GUSSONE, Trauung und Krönung. Zur Hochzeit der byzantinischen Prinzessin Theophanu mit Kaiser Otto II., in: Anton VON EUW und Peter SCHREINER (Hg.), Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und des Westens um die Wende des ersten Jahrtausends, Bd. 2, Köln 1991, 161-173. Über die genaue familiäre und soziale Herkunft Theophanus wird seit langem geforscht und diskutiert. Vgl. dazu Gunther WOLF, Nochmals zur Frage: Wer war Theophano?, in: Byzantinische Zeitschrift 81 (1988), 272-283; Otto KRESTEN, Byzantinische Epilegomena zur Frage: Wer war Theophanu?, in: EUW/SCHREINER, Kaiserin Theophanu, Bd. 2, 4 0 3 - 4 1 0 .
Neue Erzbistümer an der Peripherie des lateinischen Europa im 10. Jahrhundert
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Die Auseinandersetzungen zwischen dem östlichen und dem westlichen Kaiserreich wurd e n in Italien f o r t a n b e s o n d e r s k i r c h e n p o l i t i s c h a u s g e t r a g e n . In d a s strittige A p u l i e n w i r k t e n v o n N o r d e n a u s e i n e l a t e i n i s c h e u n d v o n S ü d e n h e r e i n e g r i e c h i s c h e M e t r o p o l i t a n k i r c h e hinein. Zur griechischen Kirchenprovinz Otranto gehörten die fünf Bistümer Acerenza, Gravina, M a t e r a , T r i c a r i c o u n d T u r s i . U m d i e W i r k u n g d e s n e u e n l a t e i n i s c h e n E r z b i s t u m s ß e n e v e n t in A p u l i e n w e i t e r zu b e g r e n z e n , e r h o b e n d i e B y z a n t i n e r im 10. u n d 11. J a h r h u n d e r t s u k z e s s i v e m e h r e r e a p u l i s c h e B i s t ü m e r , d a r u n t e r T a r e n t , T r a n i u n d B r i n d i s i , in d e n S t a t u s v o n ( a u t o k e p h a l e n ) E r z b i s t ü m e r n . D i e m e i s t e n R e i b u n g s f l ä c h e n e x i s t i e r t e n n a t ü r l i c h in j e n e n G e b i e t e n , in d e n e n sich d a s b y z a n t i n i s c h e T h e m a „ L a n g o b a r d i a " mit d e r n e u e n l a t e i n i s c h e n K i r c h e n p r o v i n z B e n e v e n t ü b e r s c h n i t t . D a s betraf v o r a l l e m d i e S t ä d t e A s c o l i S a t r i a n o , B o v i n o u n d S i p o n t o . U m d i e b y z a n t i n i s c h e H e r r s c h a f t in A p u l i e n a u c h im k i r c h l i c h e n B e r e i c h zu g e w ä h r leisten, n a h m m a n auf die P e r s o n a l a u s w a h l bei d e r B e s e t z u n g v o n B i s t ü m e r n e n t s p r e c h e n d E i n f l u s s . N u r G e i s t l i c h e , d i e sich g e g e n ü b e r d e m o s t r ö m i s c h e n K a i s e r loyal v e r h i e l t e n , ließ m a n in k i r c h l i c h e F ü h r u n g s p o s i t i o n e n a u f s t e i g e n . N i c h t g e n e h m e K a n d i d a t e n , d i e zu B i s c h ö f e n g e w ä h l t w o r d e n w a r e n , s c h i c k t e m a n n o c h v o r d e r W e i h e ins Exil n a c h K o n s t a n t i n o p e l . A u ß e r d e m ließen d i e B y z a n t i n e r in A p u l i e n m e h r f a c h z w e i B i s t ü m e r o d e r E r z b i s t ü m e r v o n e i n e m K i r c h e n f ü r s t e n , d e r sich in ihren A u g e n „ b e w ä h r t " hatte, in P e r s o n a l u n i o n leiten. Die w e l t l i c h e n K o m p e t e n z e n u n d R e c h t e v o n l a t e i n i s c h e n B i s c h ö f e n in A p u l i e n w a r e n im V e r g l e i c h zu j e n e n in O b e r i t a l i e n u n d im n o r d a l p i n e n R e i c h s e h r g e r i n g . F ü r d e n w e l t l i c h e n B e r e i c h w a r e n in A p u l i e n d i e b y z a n t i n i s c h e n s t a a t l i c h e n V e r w a l t u n g s b e h ö r d e n u n d d e r e n Repräsentanten zuständig. Grundbesitzungen sowie die freiwilligen Z u w e n d u n g e n der Gläubig e n b i l d e t e n d i e ö k o n o m i s c h e G r u n d l a g e d e r a p u l i s c h e n B i s t ü m e r . Ein K i r c h e n z e h n t w u r d e nicht e r h o b e n . w K o n f l i k t e z w i s c h e n d e m g r i e c h i s c h e n u n d d e m l a t e i n i s c h e n K u l t u r k r e i s b l i e b e n in S ü d italien nicht a u f A p u l i e n b e s c h r ä n k t . A u f l a t e i n i s c h e r Seite g r ü n d e t e m a n im S o m m e r 9 8 3 d a s E r z b i s t u m S a l e r n o 3 9 , d a s v o r a l l e m in d a s b y z a n t i n i s c h e K a l a b r i e n a u s s t r a h l e n sollte. D o r t b e s t a n d e n d i e b e i d e n K i r c h e n p r o v i n z e n R e g g i o C a l a b r i a u n d S. S e v e r i n a . Die M e t r o p o l i t a n k i r c h e v o n R e g g i o b e s a ß z u n ä c h s t elf u n d d a n n z w ö l f S u f f r a g a n b i s t ü m e r 4 " . d i e v o n S. S e v e r i n a v e r f ü g t e ü b e r z u n ä c h s t vier u n d s p ä t e r f ü n f S u f f r a g a n b i s t ü m e r . " " E b e n s o wie bei d e r Erricht u n g d e r n e u e n l a t e i n i s c h e n E r z b i s t ü m e r C a p u a u n d B e n e v e n t b e z o g sich die G r ü n d u n g d e r K i r c h e n p r o v i n z S a l e r n o a u f ein l a n g o b a r d i s c h e s F ü r s t e n t u m . S i e e r f o l g t e n a c h d e r N i e d e r l a g e K a i s e r O t t o s II. g e g e n d i e A r a b e r im S ü d e n K a l a b r i e n s 9 8 2 u n d w ä h r e n d s e i n e s e r n e u t e n E n g a g e m e n t s in S ü d i t a l i e n 983. 4 2 I n n e r h a l b d e s F ü r s t e n t u m s S a l e r n o w ä h r t e in d i e s e r Zeit e i n e p o l i t i s c h instabile Ü b e r g a n g s p h a s e z w i s c h e n d e m E n d e d e r e r s t e n u n d d e m B e g i n n d e r
38
FALKENHAUSEN. U n t e r s u c h u n g e n ( w i e A n m . 13). 1 5 1 - 1 5 7 .
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BÖHMER-ZIMMERMANN ( w i e A n m . 12). N r . 6 1 8 .
40 Amantea. Bisignano, Cosenza. Crotone. Locri (Gerace). Nicastro. Rossano. Squillaee. Tauriano. Tropea. Vibona; Cassano. 41 Ceren/.ia. Gallipoli. Isola Capo Rizzuto, Umbriatico; Strongoli. 42 Dirk ALVERMANN. Königsherrschaft und Reichsintegration. Eine Untersuchung zur politischen Struktur von regna und imperium zurZeit Kaiser Ottos II. (967) 973-983. Berliner Historische Studien 28. B e r l i n 1 9 9 8 . 197 f.. 4 2 2 - 4 2 4 .
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zweiten fürstlichen Dynastie. 43 Aus einer Urkunde von Papst Johannes XV. (985-996) für den Erzbischof von Salerno aus dem Jahre 989 geht hervor, dass man der neuen lateinischen Kirchenprovinz die Bistümer Acerenza, Bisignano, Cosenza, Conza, Nola, Malvito und Pesto zugewiesen hatte.44 Die Unterstellung der Bistümer Acerenza, Bisignano, Cosenza und Malvito unter die Metropole Salerno barg längerfristig Konfliktstoff zwischen Konstantinopel und Rom. Nach Auffassung der Byzantiner gehörten die Bistümer Bisignano, Cosenza und Malvito natürlich weiter zur griechischen Kirchenprovinz Reggio Calabria. Um den Ansprüchen des Erzbischofs von Salerno zu begegnen, griffen die Byzantiner auch in Kalabrien zu Maßnahmen, die sich bereits in Apulien bewährt hatten.45 Eine weitere Kontroverse betraf die Zuordnung des Bistums Acerenza. Die Griechen betrachteten es als Suffragan der Metropolitankirche von Otranto, die Lateiner wiesen es der neuen Kirchenprovinz von Salerno zu.46 Insgesamt blieben die Ansprüche des Erzbischofs von Salerno auf die Bistümer im byzantinisch beherrschten Gebiet bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts weitgehend theoretischer Natur.47 Konkurrenz zwischen der griechischen und der lateinischen Kirche gab es jedoch nicht nur in Süditalien, sondern auch in Mittel- und Osteuropa. Die meisten Gesandtschaften, die 973 in Quedlinburg erschienen sein sollen, kamen aus Ländern, die bereits christianisiert waren oder sich für die christliche Mission geöffnet hatten. Das betraf u.a. Böhmen, Bulgarien, Dänemark, Polen, Ungarn und auch die Kiever Rus'. Grundsätzlich bestand im 10. Jahrhundert noch die Möglichkeit, entweder das griechische oder das lateinische Christentum anzunehmen. Nach der Nestor-Chronik habe Fürst Vladimir (980-1015), den man später „den Heiligen" nannte, sogar vier Optionen besessen. Er soll Gesandte zu den griechischen und lateinischen Christen sowie zu den Juden und zu den Muslimen geschickt haben, um die jeweilige Religion zu prüfen. Letztlich habe die Schönheit des Gottesdienstes in Konstantinopel den Ausschlag für die Annahme des griechischen Christentums gegeben. 48 Das ist ein schöne Geschichte, die aus der veränderten Perspektive nach der Kirchenspaltung im 11. Jahrhundert geschrieben wurde. Die Herrscherinnen und Herrscher des 9. und 10. Jahrhunderts interessierten sich in diesem Zusammenhang mehr für die Frage, welchen Status die Kirchenorganisation in ihren Reichen künftig erhalten würde. In dieser Hinsicht hatten sich Konstantinopel und Rom bisher kaum voneinander unterschieden. Beide versuchten, den neuen christlichen Missionsgebieten rela-
43 Huguette TAVIANI-CAROZZI, La principaute lombarde de Salerne (IXC-XIC siecle). Pouvoir et societe en Italie lombarde meridionale, Collection de l'Ecole Franfaise de Rome 152, Bd. 1, Rom 1991, 3 2 7 - 3 3 6 , 6 7 2 f.
44 Papsturkunden 896-1046, Bd. 1: 8 9 6 - 9 9 6 , hg. von Harald ZIMMERMANN, Österrreichische Aka-
demie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 174, Veröffentlichungen der Historischen Kommission 3, 2. Auflage Wien 1988, Nr. 299, 581; BÖHMER-ZIMMERMANN (wie Anm. 12), Nr. 6 7 3 . 45 FALKENHAUSEN, Untersuchungen (wie Anm. 13), 148 f. 46 TAVIANI-CAROZZI, La principaute lombarde de Salerne (wie Anm. 43), 673. 47 Hans-Walter KLEWITZ, Zur Geschichte der Bistumsorgansiation Campaniens und Apuliens im 10. und 11. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 24 ( 1 9 3 2 / 1 9 3 3 ) , 17 f.
48 Povest' vremennych let fErzählung von den vergangenen Jahren], Teil 1: Text und Übersetzung, bearb. von D. S. LICHACEV und B. A. ROMANOV, Moskau und Leningrad 1950, 74 f.; Die Nestorchronik, übers, von Ludolf MÜLLER, Forum Slavicum 56, Handbuch zur Nestorchronik 4, München 2001, 131-134.
N e u e E r z b i s t ü m e r an der Peripherie des lateinischen E u r o p a im 10. J a h r h u n d e r t
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tiv eigenständige K i r c h e n p r o v i n z e n vorzuenthalten und sie möglichst direkt der Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel o d e r j e n e r des Papstes in R o m zu unterstellen. Dies kollidierte in der Regel mit den Vorstellungen der H e r r s c h e r in den mittel- und osteuropäischen L ä n d e r n . Die größte kirchliche U n a b h ä n g i g k e i t hatten bisher die Bulgaren erreicht. Im 9. Jahrhundert spielten die bulgarischen Herrscher Konstantinopel und R o m erfolgreich g e g e n e i n a n d e r aus. 8 7 0 erstritt sich Bulgarien von Konstantinopel eine eigene erzbischöfliche Kirche. Z a r S y m e o n von Bulgarien ging später noch einen Schritt weiter: 9 2 6 erklärte er die bulgarische Kirche f ü r u n a b h ä n g i g und e r h o b den Erzbischof z u m Patriarchen. Der bulgari sche Patriarchat wurde in V e r b i n d u n g mit der Heirat z w i s c h e n Zar Peter und Maria L a k a p e n e (Irene) 927 durch Konstantinopel vertraglich anerkannt. 4 1 ' Nach d e m T o d e der christlichen Herrscherin O l g a von Kiev 9 6 9 w u r d e ihr Sohn Svjatoslav der neue russische Herrscher. Er hielt nichts v o m C h r i s t e n t u m und begann sogleich eine aggressive Expansionspolitik. Zuerst eroberte er Bulgarien, w o die Z a r e n f a m i l i e in seine G e f a n g e n s c h a f t geriet. Ml Der o s t r ö m i s c h e Kaiser J o h a n n e s T s i m i s k e s e r k a n n t e die Gefährlichkeit des neuen G r e n z n a c h b a r n und handelte sofort. Er besiegte den russischen H e r r s c h e r 9 7 2 in Bulgarien. Dieser w u r d e bei seinem R ü c k z u g in die Kiever Rus" von den P e t s c h e n e g e n überfallen und getötet. Der o s t r ö m i s c h e Kaiser nutzte seinen Sieg über den russischen H e r r s c h e r zu e i n e m harten V o r g e h e n gegen Bulgarien aus. Er s c h a f f t e den bulgarischen Patriarchat ab und ließ alle B i s t ü m e r wieder d e m Patriarchen von Konstantinopel unterstellen. A u ß e r d e m z w a n g er den a m t i e r e n d e n Zaren zur A b d a n k u n g und v e r w a n d e l t e Bulgarien damit in eine byzantinische P r o v i n z / 1 Es wäre d e s h a l b nur zu verständlich, wenn bulgarische G r o ß e anschließend das B ü n d n i s mit d e m westlichen Kaiser Otto gesucht hätten. M ö g l i c h e r w e i s e stellten sie sogar einen W e c h s e l von der griechischen zur lateinischen Kirche in ihrem Land in Aussicht. Einen solchen Übertritt zur r ö m i s c h e n Kirche hatten sie im 9. Jahrhundert schon einmal vollzogen und ihn bei Konflikten mit Konstantinopel im 9. und 10. J a h r h u n d e r t m e h r f a c h angedroht. 5 2 Falls bulgarische G e s a n d t e 9 7 3 in Q u e d l i n b u r g weilten, konnten sie Otto I. überdies berichten, dass auch die Heirat mit einer byzantinischen Prinzessin keine G e w ä h r f ü r die d a u e r h a f t e A k z e p t a n z eines auswärtigen Herrschers durch O s t r o m bot. S o war es zur Zeit der Q u e d l i n b u r g e r V e r s a m m l u n g von 9 7 3 m e h r f a c h noch eine o f f e n e Frage, w o sich j e w e i l s die griechische und die lateinische Kirche in den mittel- und osteuropäischen L ä n d e r n letztlich durchsetzen w ü r d e . In Mähren 5 3 und in Ungarn hatte es in der V e r g a n g e n h e i t engere Kontakte sowohl zur griechischen als auch zur lateinischen Kirche geg e b e n . In einigen Gebieten U n g a r n s d o m i n i e r t e noch zur Zeit König Stephans I. die griechische Kirche. M Die gerade erlittene militärische N i e d e r l a g e gegen B y z a n z (972) d ü r f t e aus der 4 9 NORWICH. B y z a n z (wie A n m . 20). 9 6 - 1 0 1 . 112-1 14. 119 f.. 139 f.. 164 f.. 1 8 4 - 1 8 7 . 50 Erich DONNERT. Das K i e w e r Rußland. Kultur und Geistesleben vom 9. bis z u m beginnenden 13. Jahrhundert. Leipzig. Jena und Berlin 1983. 45—47. 51 NORWICH. B y z a n z (wie A n m . 20). 2 7 7 - 2 8 2 . 52
N O R W I C H . B y z a n z ( w i e A n m . 2 0 ) . 1 0 0 f.. 1 19 f.. 1 6 4 f.. 1 8 6 .
5 3 Vladimir VAVRI'NEK. Mission in M ä h r e n : Z w i s c h e n d e m lateinischen W e s t e n und B y z a n z . in: Alfried WIECZOREK und H a n s - M a r t i n HINZ (Hg.). E u r o p a s Mitte u m 1000. Beiträge zur G e s c h i c h t e . Kunst und A r c h ä o l o g i e . 2 Bde.. D a r m s t a d t 2 0 0 0 . Bd. 1. 3 0 4 - 3 10. 5 4 G e z a ERSZEGI. Die Christianisierung U n g a r n s a n h a n d der Quellen, in: W u x ZOREK/HINZ. E u r o p a s Mitte um 1000 (wie A n m . 53). Bd. 2. 6 0 6 f.
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Perspektive Kievs vorerst als sehr ungünstige Ausgangsposition für die Annahme des griechisch-orthodoxen Christentums betrachtet worden sein. Durch die gewaltsame Beseitigung des bulgarischen Patriarchats hatte die griechische Kirche kurz vor dem Quedlinburger Hoftag überdies an Anziehungskraft verloren. Zugleich rückte die lateinische Kirche wieder stärker als Alternative in das Blickfeld. Was hatte diese Kirche aber zu bieten? Welche Perspektiven eröffnete sie für die noch jungen christlichen Länder? Die wenige Jahre vor 973 erfolgten Gründungen der Erzbistümer Benevent, Capua und Magdeburg demonstrierten zunächst, dass Rom im Unterschied zum 9. Jahrhundert durchaus bereit war, neue Metropolitankirchen zu errichten. Überdies stellten Benevent, Capua und Magdeburg in bestimmter Hinsicht verschiedene Varianten von neuen erzbischöflichen Kirchen dar, die künftig auch für mittel- und osteuropäische Länder von Interesse sein konnten. Aus deren Sicht erhielt Pandulf Eisenkopf von Capua wohl ein eigenes Erzbistum, weil er sich eindeutig auf die Seite des westlichen Kaisers und des Papstes gestellt hatte. Interessant könnte für mittel- und osteuropäische Herrscher zudem gewesen sein, dass sich die neue Kirchenprovinz Capua mit dem weltlichen Herrschaftsbereich des Fürstentums deckte. 55 Überdies war der erste Erzbischof von Capua ein Bruder des amtierenden Fürsten, 56 was man sicher auch anderswo als wünschenswerte Konstellation betrachtete. In Bezug auf die kirchenrechtlichen Absicherungen und die konkreten Maßnahmen bei der Errichtung von neuen Kirchenprovinzen ließen sich ebenfalls entsprechende Schlüsse ziehen. So erfolgte die kirchenrechtlich maßgebende Entscheidung über die Erhebung Benevents - wie zuvor die über Magdeburg 57 - auf einer Synode, an der außer dem Papst und dem Kaiser viele geistliche Große aus Italien und einige aus dem nordalpinen Reich teilnahmen. Außerdem waren natürlich die Fürsten von Capua und Benevent bei den Beratungen zugegen. 58 Die Botschaft lautete demnach, dass eine vorrangig von italienischen Bischöfen besuchte Synode unter Leitung des Papstes sowie in Anwesenheit des westlichen Kaisers und des jeweils zuständigen weltlichen Herrschers auch künftig die Einrichtung von neuen Erzbistümern beschließen könnte. Die Gründung der neuen Kirchenprovinzen Capua, Magdeburg und Benevent war auf theoretischer Ebene eng mit pseudoisidorischen Vorstellungen verflochten, die besonders im Umkreis von Papst Johannes XIII. (965-972) zum Tragen kamen. Die pseudoisidorischen Dekretalen suggerierten die Existenz einer umfassenden urkirchlichen Organisation, die nach der Meinung von päpstlichen Theoretikern des 10. und 11. Jahrhunderts infolge sündhaften Lebens reduziert worden bzw. zusammengebrochen sei. Aus dieser Perspektive war die Gründung von neuen Erzbistümern eine „Reorganisation" apostolischer und nachapostolischer Verhältnisse. 59 Die universale Zuständigkeit, welche die Synoden demonstrierten, die unter der Leitung von Papst Johannes XIII. berieten, 60 könnte ebenfalls mit auf pseudoisidorisches Gedankengut zurückzuführen sein. Im Hinblick auf Benevent scheint man 969 beab-
55 KLEWITZ, Bistumsorganisation (wie Anm. 47), 4. 56
BÖHMER-ZIMMERMANN ( w i e A n m . 12), N r . 3 9 3 .
57
BÖHMER-ZIMMERMANN ( w i e A n m . 12), Nr. 4 1 3 .
58
BÖHMER-ZIMMERMANN ( w i e A n m . 12), N r . 4 5 8 .
59 Horst FUHRMANN, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit, Schriften der M G H 24,1-3, Stuttgart 1972-1974, Bd. 2, 392-398. 60 Heinz WOLTER, Die Synoden im Reichsgebiet und in Reichsitalien von 916 bis 1056, Konziliengeschichte, Reihe A: Darstellungen, Paderborn, München, Wien und Zürich 1988, 88-99, 101-106.
N e u e E r z b i s t ü m e r an der Peripherie des lateinischen E u r o p a im 10. Jahrhundert
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sichtigt zu haben, eine mustergültige Kirchenprovinz nach pseudoisidorischen Maßstäben zu errichten, die elf Diözesen 61 umfassen sollte. Unter den vorgesehenen bischöflichen Zentren befanden sich allerdings auch Orte, die zuvor nie Bischofssitze gewesen waren. 62 Im Unterschied zu Benevent wurden dem 967/968 gegründeten Erzbistum Magdeburg nur fünf Suffraganbistümer zugeordnet. 6 ' Die neue lateinische Kirchenprovinz von Magdeburg verfügte damit über genau so viele Bistümer wie die etwa gleichzeitig eingerichtete griechische Kirchenprovinz von Otranto. Die genaue Zahl der Diözesen, die das neue Erzbistum Capua (966) haben sollte, ist nicht bekannt. 64 Der kirchlichen Metropole Salerno wies man wohl gleich bei ihrer Gründung 983 sieben Suffraganbistümer zu.6" Stephan I. von Ungarn ( 9 9 7 1038) soll später beabsichtigt haben, in seinem Land zwölf Bistümer zu errichten, was mit der Kenntnis der pseudoisidorischen Bestimmungen über die ideale Organisationsstruktur einer Kirchenprovinz zu erklären sein dürfte. Papst Johannes XIX. ( 1 0 2 4 - 1 0 3 2 ) stattete auf der Grundlage der pseudoisidorischen Dekretalen den Erzbischof von Canosa und Bari, der seine autokephale Position und den Titel den Byzantinern verdankte, 1025 schlagartig mit zwölf Suffraganbistümern aus. 66 Ein systematischer Vergleich der Erzbistumsgründungen im 10. Jahrhundert könnte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen deutlicher als bisher hervortreten lassen. So wiesen etwa die kirchenrechtlichen Absicherungen der neuen Metropolitankirchen von Magdeburg und Benevent sowie der Aufbau der beiden Kirchenorganisationen einige Parallelen auf. Der Kreis der Bischöfe, der für die Errichtung der Erzbistümer Magdeburg und Benevent votierte, war partiell identisch. Mittel- und längerfristig hatte man Magdeburg und Benevent durchaus unterschiedliche Aufgaben zugedacht. Im Hinblick auf Magdeburg stand die weitere Mission und Christianisierung in den Gebieten östlich von Elbe und Saale im Vordergrund, in Bezug auf Benevent spielte die Konkurrenz zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche in Süditalien eine Hauptrolle. Um ihre Aufgaben erfüllen zu können, benötigten aber sowohl Magdeburg als auch Benevent eine funktionsfähige kirchenorganisatorische Basis. 67 Ebenso wie in der Magdeburger Kirchenprovinz sollten in der von Benevent an geeigneten Orten künftig Suffraganbistümer entstehen. Im Verlauf des 10. und 11. Jahrhunderts wurden in der Beneventaner Kirchenprovinz einige der 969 dafür vorgesehenen Orte Bischofssitze, andere hingegen nicht. Manche dienten auch nur zeitweilig als Bischofssitz. 6 * Ähnliche Vor61 B e n e v e n t . S a n t ' A g a t a d e ' Goti, A l i f e . A r i a n o . Ascoli. Avellino. B o v i n o . Frigento. Larino. Telese. Volturara: ZIMMERMANN. P a p s t u r k u n d e n (wie A n m . 44) Nr. 197. 391: BÖHMER-ZIMMERMANN (wie A n m . 12). Nr. 459. 6 2 S a n t ' A g a t a d e ' G o t i . Frigento. Volturara. FUHRMANN. Einfluß (wie A n m . 59). Bd. 2. 3 3 5 . A n m . 108. 397. 63 B r a n d e n b u r g . H a v e l b e r g . M e i ß e n . M e r s e b u r g . Zeitz. ZIMMERMANN. P a p s t u r k u n d e n (wie A n m . 4 4 ) . Nr. 177. 348; D Ο. I. 366. 503: W o l f g a n g HUSCHNER. Kaiser O t t o I. verkündet die G r ü n d u n g der erzbischöflichen Kirche in M a g d e b u r g , in: M a t t h i a s PUHLE (Hg.). Otto der G r o ß e . M a g d e b u r g und Europa. Katalog M a i n z 2001. Bd. 2. 3 5 0 - 3 5 2 . 64
BÖHMER-ZIMMERMANN (wie A n m .
12), N r .
393.
6 5 ZIMMERMANN. P a p s t u r k u n d e n ( w i e A n m . 4 4 ) . N r . 2 9 9 . 5 8 1 .
66 FUHRMANN. Einfluß (wie A n m . 59). Teil 2. 3 3 3 f. 67 D e s h a l b sah Adalbert, der erste E r z b i s c h o f von M a g d e b u r g ( 9 6 8 - 9 8 1 ) . seine vordringlichste A u f gabe nicht in der Mission der Slaven. sondern im A u f b a u einer f u n k t i o n s f ä h i g e n und von anderen nordalpinen M e t r o p o l e n u n a b h ä n g i g e n M a g d e b u r g e r K i r c h e n p r o v i n z . 68
KLEWITZ. B i s t u m s o r g a n i s a t i o n (wie A n m . 4 7 ) . 9 - 1 5 .
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gänge lassen sich in der Magdeburger Kirchenprovinz konstatieren. 69 Veränderungen bei den Suffraganbistümern waren innerhalb der neuen Kirchenprovinzen also mittel- und längerfristig möglich. Auf die unterschiedliche Zahl der Suffragane von Benevent und Magdeburg ist schon hingewiesen worden. Bezüglich ihrer Bindung an Rom unterschieden sich die Metropoliten von Benevent und Magdeburg etwas. Während der Erzbischof von Benevent künftig stets vom Papst in Rom geweiht werden sollte, war das nur für den ersten Metropoliten von Magdeburg vorgesehen. Später sollten die Erzbischöfe von Magdeburg immer durch ihre Suffragane geweiht werden. 70 Während die Stadt Benevent die kirchenrechtlichen Anforderungen an einen erzbischöflichen Sitz von vornherein in allen Punkten erfüllte, hatten die vielen geistlichen Großen aus Italien, die 967 in Classe über die Erhebung Magdeburgs zur erzbischöflichen Metropole berieten, offenbar Zweifel am cw/tas-Status von Magdeburg. Die Bindung des Bischofssitzes an eine civitas war ein alter kirchenrechtlicher Grundsatz, der schon auf den Konzilien bzw. Synoden von Nikaia 325, Sardika 343 und Chalkedon 451 festgelegt worden war. Die kirchenrechtlich verankerte Beziehung zwischen civitas und sedes episcopalis, die im Rahmen von entsprechenden Strukturen im antiken Römischen Reich entstanden war, galt in mittelalterlicher Zeit weiter.71 Im Hinblick auf die als Bischofssitze vorgeschlagenen Orte Meißen, Merseburg und Zeitz zeigten sich die Synodalen von Classe kompromissbereit. In Bezug auf den Ort Magdeburg, der als erzbischöfliche Metropole vorgesehen war, bestanden die Bischöfe aus Italien aber auf dem c/vita.v-Status. Im Unterschied zu den Magdeburg betreffenden Dokumenten wurde in der Papsturkunde für den ersten Erzbischof von Benevent der civitas-Status seiner Metropole überhaupt nicht erwähnt. Bei Benevent, Capua und Salerno fielen die Entscheidungen in dieser Frage verhältnismäßig leicht. Die bereits bestehenden Bischofssitze wurden erzbischöfliche Zentren. Überdies bestanden an dem civitas-Statm der fürstlichen Metropolen von Benevent, Capua und Salerno sicher keinerlei Zweifel. Komplizierter gestaltete sich diese Frage jedoch bei Magdeburg, denn der Ort war im Unterschied zu Benevent, Capua und Salerno noch kein Bischofssitz. Außerdem bestanden zwischen den Vorstellungen, welche die in Classe anwesenden geistlichen Großen südalpiner Provenienz von einer civitas besaßen, und dem realen Erscheinungsbild Magdeburgs um 967/968 erhebliche Unterschiede. Die kaiserliche Seite musste daher erhebliche Anstrengungen unternehmen, um die Synodalen von Classe zumindest von dem dv/tas-Potential Magdeburgs zu überzeugen. Da sich Otto I. bis zum Frühjahr 967 schon in vielen Bischofsstädten Italiens aufgehalten hatte, wusste er also in etwa, worauf es den geistlichen Großen südalpiner Provenienz bei dieser Frage ankommen würde. Die kaiserliche Seite dürfte deshalb „ergebnisorientiert" über Magdeburg informiert haben. Des Weiteren gelang es mit Hilfe von Geistlichen südalpiner Provenienz, die Gründung der erzbischöflichen Kirche von Magdeburg auch hinsichtlich der cmias-Problematik mit speziellen
69 Das Bistum Merseburg wurde 981 aufgehoben und 1004 wieder eingerichtet. Das Bistum Zeitz wurde 1028 nach Naumburg verlegt. BÖHMER-ZIMMERMANN (wie Anm. 12), Nr. 598, 599, 990; Christian LÜBKE, Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder (vom Jahr 900 an), Teil 4: Regesten 10131057, Berlin 1987, Nr. 584. 7 0 BÖHMER-ZIMMERMANN ( w i e A n m . 12), N r . 4 1 8 , 4 4 9 , 4 5 0 , 4 5 2 , 4 5 9 .
71 Gerhard DILCHER, Die Bischofsstadt. Zur Kulturbedeutung eines Rechts- und Verfassungstypus, in: Das Mittelalter 7 (2002), 14.
N e u e E r z b i s t ü m e r an der Peripherie des lateinischen E u r o p a im 10. Jahrhundert
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Formulierungen kirchenrechtlich abzusichern und entsprechend zu d o k u m e n t i e r e n . " Die auf Pseudoisidor zurückgehende A u f f a s s u n g von einer ursprünglich existierenden umfangreichen Metropolitanorganisation ermöglichte es zudem, M a g d e b u r g in j e n e r päpstlichen Urkunde, die den Synodalbeschluss von Classe verkündete, als alten erzbischöflichen Sitz erscheinen zu lassen. M a g d e b u r g sei nicht j ü n g e r als die anderen erzbischöflichen Metropolen. 7 3 Das war zugleich ein wichtiges Argument f ü r die angestrebte Gleichrangigkeit Magdeburgs mit den rheinischen Metropolitansitzen Köln, Mainz und Trier. 74 Außer dem Kaiser dürften sich 9 7 3 auch die auswärtigen Gesandten besonders für die neue erzbischöfliche Metropole M a g d e b u r g interessiert haben. Die Beneventaner waren ver mutlich erstaunt darüber, dass man so einen kleinen Ort zum Zentrum einer Kirchenprovinz erhoben hatte. Gesandte aus den slavischen Ländern oder aus Ungarn dürften hingegen ganz anders darüber gedacht haben. Wenn das. was sie in Magdeburg sahen, vielleicht auch nur den Mindestanforderungen entsprach, welche die römisch-lateinische Kirche an eine neue erzbischöfliche Metropole stellte, dann war die Errichtung eines solchen kirchlichen Zentrums zweifellos auch in ihren Ländern möglich. Mit Metropolen wie Benevent. Capua oder Salerno konnten sie sich nicht so schnell messen, mit M a g d e b u r g schon. An politischen Zentren wie Gnesen. Kiev oder Prag, deren ursprüngliche Siedlungsstrukturen denen von M a g d e b u r g glichen, hätte man demnach ohne weiteres den Sitz eines lateinischen Erzbischofs einrichten können. Insofern war M a g d e b u r g ein Präzedenzfall f ü r die Errichtung von lateinischen Kirchenorganisationen in Mittel- bzw. in Ostmitteleuropa. A m Ende des 10. Jahrhunderts lässt sich aus römischer bzw. italienischer Perspektive eine veränderte Haltung in Bezug auf die Relation von civitas und erzbischöflichem Sitz in den neuen christlichen Gebieten Ostmitteleuropas konstatieren. Als es darum ging. Metropolitankirchen in Polen und Ungarn zu errichten, legte man nicht mehr die Maßstäbe des alten Römischen Kulturkreises an, sondern berücksichtigte viel stärker die spezifischen Bedingungen in den jeweiligen Ländern. So wurde der Ort Gnesen, der im Jahre 1000 Metropolitansitz in Polen werden sollte, als civitas bezeichnet, obwohl sich das Erscheinungsbild dieses Ortes von jenem der civitates im Bereich des alten Römischen Kulturkreises unterschied. Der erste für Gnesen vorgesehene Erzbischof wurde - wie drei Jahrzehnte zuvor j e n e r f ü r Benevent - vom Papst in R o m geweiht. Vermutlich gestaltete sich die Errichtung der neuen Erzbistümer von Gnesen und Gran um die erste Jahrtausendwende überhaupt ähnlich wie drei Jahrzehnte zuvor die von M a g d e b u r g und Benevent. 7 5 Insofern ist f ü r das letzte Drittel des 10. Jahrhunderts eine ganze Welle von lateinischen Erzbistumsgründungen zu konstatieren. O b in dieser Hinsicht auch Impulse von der Quedlinburger V e r s a m m l u n g des Jahres 9 7 3 ausgingen, ist natürlich nicht sicher, aber möglich.
72 W o l f g a n g HUSCHNER. Civitas Sachsen und Anhalt 24 (2002),
und sedes archiepiscopaiis
von M a g d e b u r g im 10. J a h r h u n d e r t , in:
123-153.
73 ZIMMERMANN, P a p s t u r k u n d e n (wie A n m . 44). Nr. 177. 348: Horst FUHRMANN. K o n s t a n t i n i s c h e S c h e n k u n g und a b e n d l ä n d i s c h e s K a i s e r t u m . Ein Beitrag zur G e s c h i c h t e des C o n s t i t u t u m Constantini. in: D e u t s c h e s Archiv f ü r E r f o r s c h u n g des Mittelalters 22 (1966). 1 6 8 - 1 7 1 . 7 4 H e l m u t BEUMANN. T h e u t o n u m n o v a metropolis. Studien zur G e s c h i c h t e des E r z b i s t u m s M a g d e burg in ottonischer Zeit. hg. von Jutta KRIMM-BF.UMANN. Quellen und Forschungen zur Geschichte SachsenA n h a l t s 1. Köln. W e i m a r und W i e n 2000. 1 7 0 - 1 9 7 . 75 HUSCHNER. Civitas
und sedes archiepiscopaiis
(wie A n m . 72).
Polen und Europa um das Jahr 1000. Mit einem Anhang: Zur Glaubwürdigkeit des Berichts von Gallus Anonymus über das Treffen in Gnesen Roman
Michalowski
W a s dachten ausländische B e o b a c h t e n die um das Jahr 1000 schrieben, über P o l e n ? Dies ist eine Frage, die wir uns gleich am A n f a n g zu b e a n t w o r t e n b e m ü h e n werden. Als privilegierten B e o b a c h t e r sollte m a n Brun von Q u e r f u r t ansehen, da dieser das Land aus eigener E r f a h r u n g kannte. 1 Über Polen und seinen Herrscher äußerte er sich m e h r m a l s , und z w a r in allen Schriften, die er hinterließ: in der „Vita S. Adalberti". in der ..Vita Q u i n q u e Fratrum E r e m i t a r u m " sowie in d e m Brief an Heinrich II. : Diese T e x t e entstanden in seinem letzten
1 Z u r B i o g r a p h i e Bruns von Q u e r f u r t siehe vor allem Heinrich Gisbert VOIGT. Brun von Quert'urt und seine Zeit. N e u j a h r s b l ä t t e r h e r a u s g e g e b e n von der Historisehen K o m m i s s i o n f ü r die Provinz Sachsen und d a s H e r z o g t u m Anhalt 33. Halle a.S. 1909. Zu den Missionsreisen Bruns: Leon KOCZY. M i s j a B r u n o n a w s r ö d Suigiöw [Die Mission Bruns unter den Suigiern], in: A n n a l e s Missiologicae 5 (1932/33). 8 2 - 9 8 ; DERS.. M i s j e polskie \v Prusach i na P o m o r z u [Die polnische Mission in Preußen und in P o m m e r n | . in: A n n a l e s M i s s i o l o g i c a e 6 (1934). 5 2 - 1 8 6 : W a l e r i a n MEYSZTOWICZ. Szkice Ο s w i ^ t y m B r u n i e - B o n i f a c y m [Skizzen über den heiligen B r u n - B o n i f a t i u s l . in: S a c r u m P o l o n i a e M i l l e n i u m 5 (1958) 4 4 5 - 5 0 1 : J e r / y STRZELCZYK. A p o s t o l o w i e Europy [Europas Apostel], W a r s z a w a 1997. 2 1 0 - 2 2 9 : Jan TYSZKIEWK Z. Misja ζ Polski \v stepach u P i e c z y n g o w . Kosciol i p a n s t w o \v czasach B o l e s t a w a C h r o b r e g o [Die Mission aus Polen in den Steppen bei den P e c e n e g e n . Kirche und Stadt in der Zeit Boleslaw C h r o b r y s ] . in: Rocznik T a t a r ö w Polskich 4 (1997). 4 5 - 5 8 : DERS.. Brunon ζ Q u e r f u r t u i j e g o m i s j e [Brun von Q u e r f u r t und seine Missionsreisen). in: Jan TYSZKIEWICZ (Hg.). Ζ d z i e j o w s r e d n i o w i e c z n e j Europy S r o d k o w o - W s c h o d n i e j . Z b i o r s t u d i o w . Fasciculi Historici Novi 2. W a r s z a w a 1998. 3 5 - 4 8 : DI-RS.. B r u n o n Ζ Q u e r f u r t u na Rtisi [Brun \ o n Q u e r f u r t in der R u s ' ] . in: Ε scientia et amicitia. Studia posw i?cone P r o f e s o r o w i E d w a r d o w i P o t k o w s k i e m u w szescdziesi?ciopi?ciolecie urodzin i czterdziestolecie pracy tiaukowej. W a r s c h a u 1999. 2 1 9 - 2 2 7 : DFRS.. B r u n o of Q u e r f u r t and the resolutions of the G n i e z n o C o n v e n t i o n of 1000. Facts and P r o b l e m s , in: Q u a e s t i o n e s Medii Aevi N o v a e 5 (2000) 1 8 9 - 2 0 8 . Z u r Spiritualität Bruns von Q u e r f u r t und anderer J ü n g e r des hl. R o m u a l d s : G i o v a n n i TABACCO. Privilegium amoris. Aspetti della spiritualita R o m u a l d i n a (erstmals 1954). in: DERS.. Spiritualitä e cultura nel M e d i o e v o . Dodici percorsi nei territori del potrere e della fede. Neapel 1993. 1 6 7 - 1 9 4 : DERS.. R o m u a l d o di R a v e n n a e gli inizi d e l l ' e r e m i t i s m o c a m a l d o l e s e (erstmals 1965). in: ebd.. 1 9 5 - 2 4 8 : Friedrich LOTTER. Christliche V ö l k e r g e m e i n s c h a f t e n und H e i d e n m i s s i o n . Das Weltbild Bruns von Q u e r f u r t , in: P r z c m y s l a w URBAS;CZYK (Hg.). Early Christianity in Central and East E u r o p e . W a r s c h a u 1997. 1 6 3 - 1 7 4 . Zu den politischen A n s c h a u u n g e n Bruns: Reinhard WENSKUS. Studien zur historisch-politischen G e d a n k e n w e l t Bruns von Q u e r f u r t . M i t t e l d e u t s c h e F o r s c h u n g e n 5. M ü n s t e r und Köln 1956. Über B o l e s l a w C h r o b r y und seine Zeit Jerzy STRZELC ZYK. B o l e s l a w C h r o b r y . Posen 1999. 2 J a d w i g a KARWASINSKA (Hg.), S. Adalberti Pragensis episcopi et martyris Vita altera auetore B r u n o n e Q u e r f u r t e n s i . M o n u m e n t a Poloniae Historica N.S. 4.2. W a r s c h a u 1969: J a d w i g a KARWASINSKA (Hg.). 1. Vita Q u i n q u e F r a t r u m e r e m i t a r u m [seu | Vita uel passio Benedieti et Iohannis s o c i o r u m q u e s u o r u m auetore B r u n o n e Q u e r f u r t e n s i . 2. Epistola B r u n o n i s ad H e n r i c u m r e g e m . M o n u m e n t a P o l o n i a e Historica N.S. 4.3. W a r s c h a u 1973.
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Roman Michatowski
Lebensabschnitt, in dem er sich gänzlich der Missionstätigkeit unter den Heiden widmete. Innerhalb von wenigen Jahren, die zwischen seiner Bischofsweihe und dem Märtyrertod vergingen, bekehrte er die Ungarn, die Petschenegen, die Schweden und einen vom Namen her unbekannten Stamm zwischen Preußen und der Rus'. In dieser Zeit hielt sich Brun zweimal in Polen auf, wo auch die Mehrheit seiner Schriften entstand. Von diesen Schriften ist für uns der um die Wende des Jahres 1008 zum Jahr 1009 an Heinrich II. gerichtete Brief am instruktivsten. 3 In dieser Botschaft richtete der Verfasser einen leidenschaftlichen Appell an den deutschen König, seine Außenpolitik grundlegend zu revidieren. Der Missionsbischof flehte den Monarchen an, feindliche Maßnahmen gegen den Polenherzog Boleslaw Chrobry einzustellen und sich auf die Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden zu konzentrieren; und vor allem, das anstößige Militärbündnis, das er mit den heidnischen Lutizen gegen das christustreue Polen geschlossen hatte, zu lösen. Er sollte sich eher gegen das Lutizenland wenden und es, die Macht Boleslaws nutzend, mit Hilfe von Waffen zur Annahme des Christentums zwingen. Der Ton des Briefes verwundert durch seine polemische Färbung umso mehr, als der Verfasser doch an seinen Herrscher schrieb. Es scheint also, dass Brun in Wirklichkeit keine Hoffnung auf einen Wandel der königlichen Politik hegte. Es ging ihm eher darum, der Wahrheit ein Zeugnis zu geben. Die wichtigste Aufgabe war das Verkünden des Evangeliums Christi an die Heiden. Diesem Auftrag widmete Brun sein ganzes Leben. Bei der Verwirklichung seiner rühmlichen Ziele stieß er jedoch auf Schwierigkeiten, die die Politik Heinrichs II. bereitete. Der deutsche König, der nichts von den Beispielen der großen Kaiser, Konstantins und Karls, hielt, dachte nicht daran, die auf ihm lastenden apostolischen Pflichten zu erfüllen. Und doch gab es sogar in diesen schwierigen Zeiten Herrscher, die dem Missionar zu Hilfe eilten. Bei der umfangreichen Beschreibung seiner Heidenmission unter den Petschenegen schildert der Verfasser die Gestalt des Fürsten Wladimir I. von Rus'. Dieser nahm sich des Missionars an, führte ihn in das Gebiet, das von dem erwähnten Volk bewohnt war, und als die Mission nach den ersten Erfolgen nach Kiev zurückkehrte, kümmerte er sich um ihre Fortsetzung, indem er den Petschenegen seinen eigenen Sohn als Geisel gab. Uns interessiert vor allem die Gestalt Bolestaw Chrobrys. In dem Brief schreibt Brun über ihn zwar wenig, jedoch sehr herzlich. Er liebe ihn, wie er schrieb, wie seine eigene Seele und mehr als sein eigenes Leben. Diese Worte machen einen umso größeren Eindruck auf den Leser, als der Bischof sie an einen Empfänger richtete, der den polnischen Herzog für seinen Todfeind hielt. Wenn wir berücksichtigen, welch große Bedeutung der Imperativ der Evangelisierung der Heiden im Leben des Autors hatte, dann gelangen wir zu der Überzeugung, dass sich diese Liebe, zumindest teilweise, auf gemeinsame Ansichten über eine
3 Die eingehendste Exegese des Briefes stammt von Hans-Dietrich KAHL, Compellere intrare. Die Wendenpolitik Bruns von Querfurt im Lichte hochmittelalterlichen Missions- und Völkerrechts (erstmals 1955), in: Helmut BEUMANN (Hg.), Heidenmission und Kreuzzugsgedanke in der deutschen Ostpolitik des Mittelalters, Wege der Forschung 7, Darmstadt 1973, 177-274; siehe auch Jadwiga KARWASINSKA, Swiadek czasow Chrobrego - Brunon ζ Kwerfurtu [Augenzeuge der Zeiten Chrobrys - Brun von Querfurt], in: Jerzy DOWIAT u.a. (Hg.), Polska w swiecie. Szkice ζ dziejöw kultury polskiej, Warschau 1972,91-105.
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derart wichtige A n g e l e g e n h e i t stützte. In der Tat, der A u t o r stellte deutlich fest, dass B o l e s l a w ihm Hilfe bei der H e i d e n m i s s i o n in Preußen versprach. W i r haben auch das Recht, a n z u n e h m e n , dass sich der H e r z o g ebenfalls f ü r andere U n t e r n e h m e n Bruns von Q u e r f u r t einsetzte, konkret f ü r die E v a n g e l i s i e r u n g S c h w e d e n s und der P e t s c h e n e g e n . W i r sehen, dass die K o n z e p t i o n e n B r u n s von Q u e r f u r t kein Verständnis bei Heinrich II. f a n d e n , sie e r f r e u t e n sich j e d o c h einer aufrichtigen U n t e r s t ü t z u n g B o l e s l a w Chrobrys. Somit w u r d e nicht D e u t s c h l a n d , sondern Polen das Land, mit dessen Hilfe der Bischof seine Missionspläne verwirklichen konnte. M a n m u s s dabei h i n z u f ü g e n , dass sich sein Vertrauen in das Königreich der Piasten nicht nur auf T a t s a c h e n politischer Natur stützte. Brun, ein M e n s c h , der die M ö g l i c h k e i t e n der m e n s c h l i c h e n N a t u r pessimistisch einschätzte, lebte in der Überz e u g u n g . dass sein persönliches Verdienst bei der B e k e h r u n g der H e i d e n minimal ist. Und w e n n er in g e w i s s e m M a ß e durch seine B e m ü h u n g e n zu den Erfolgen der Evangelisierungsaktion beitrug, dann nur deshalb, weil Gott seiner Arbeit einen Wert verlieh angesichts des Blutes der Heiligen, b e s o n d e r s j e n e r , die in der d a m a l i g e n Zeit den Märtyrertod starben. 4 Brun m e i n t e hiermit den heiligen Adalbert und die Fünf Brüder. Die e r w ä h n t e n Heiligen b e f a n d e n sich gegen Ende ihres Lebens, unmittelbar vor dem M ä r t y r e r t o d . unter d e m Schutz des polnischen Herrschers. Den Fünf Brüdern schuf er günstige B e d i n g u n g e n , unter denen sie sich auf die apostolischen A u f t r ä g e vorbereiten konnten·, den Prager Bischof e m p f i n g er am H o f e in G n e s e n herzlich und versprach ihm jegliche Hilfe bei der H e i d e n m i s s i o n in P r e u ß e n zu leisten. N a c h ihrem T o d w u r d e n die Märtyrer alle in Polen beigesetzt. 6 Für den V e r f a s s e r des Briefes sowie f ü r j e d e n M e n s c h e n des Mittelalters w a r e s eine Selbstverständlichkeit, dass diese Heiligen sich dieses Land als Ort der Bestattung selbst gewählt hatten. Es war auch klar, dass sie diesem Land und s e i n e m Herrscher aus dem Jenseits ihren Schutz g e w ä h r e n würden, w e n n sich ihr L e i c h n a m in Polen befand. 7 Wir sollten
4 Indem Brun von Q u e r f u r t im Brief an Heinrich II. die E r f o l g e e r w ä h n t , die er bei der E v a n g e l i s i e r u n g der S c h w a r z e n U n g a r n erzielte, schrieb er über f o l g e n d e E r f a h r u n g : Hec omnia sola gloria Dei. et optimi Petri; quantum ad me, nihil nisi peccatum, et hoc ipsum bomtm perditum. nisi miserans Dens propter se faeiat, augeat et addat propter sanguinem sanctorum et specialiits eorum qui nostro aeito effusus super terrain - Epistola B r u n o n i s ad H e n r i c u m (wie A n m . 2). 1 0 0 - 1 0 1 : siehe auch 98. V e r s e 8 - 9 . 5 Gerard LABUDA. Szkice historyczne j e d e n a s t e g o wielku. I. N a j s t a r s z e klasztory w Polsce [Historische Skizzen des 9. Jahrhunderts. I. Die ältesten Klöster in Polen ]. in: Ζ badaii nad dziejami klasztorow \v Polsce. A r c h a e o l o g i a Historica P o l o n a 2. T h o r n 1995. 7 - 7 3 : A n d r z e j PLIISZCZYNSKI. Boleslaw C h r o b r y k o n f r a t rem eremitöw s\v. R o m u a l d a w Mi d z y r z e c z u [Boleslaw C h r o b r y als M i t b r u d e r der Eremiten des hl. R o m u a l d in Meseritz], in: Kwartalnik H i s t o r y c z n y 103 (1996). 3 - 2 2 : Stanislaw TRAWKOWSKI. Die E r e m i t e n in Polen a m A n f a n g des 11. Jahrhunderts, in: D u s a n TRESTI'K und Josef ZF.MLICKA (Hg.). Svaty V o j t e c h . C e c h o v e a Europa [Der hl. Adalbert, die T s c h e c h e n und Europa], Prag 1998. 1 6 7 - 1 7 9 . 6 G e r a r d LABUDA. Swi?ty W o j c i e c h b i s k u p - m ^ c z e n n i k , patron Polski. C z e c h i Wijgier [Der hl. Märtyrerbischof A d a l b e r t . Patron der Polen. T s c h e c h e n und U n g a r n ] . Breslau 2000. 1 6 8 - 2 2 4 . 7 Indem Brun von Q u e r f u r t b e m ü h t ist. Heinrich zu erklären, w a r u m er im Krieg gegen Boleslaw C h r o b r y eine N i e d e r l a g e erlitt, schreibt er f o l g e n d e s : Certe homo cogitat. Deus ordinal. Nonne cum paganis et christianis hanc terrain in uiribus re.x intrauit? Quid tum? Sanctus Petrus cuius tributarium se asserit. et sanctus martyr Adalbertus. nonne prote.xerunt'.' Si adiuuare nollent. numquam sancti qui sanguinem fuderunt, et sub diuino terrore multa miracida faciunt. quinque martyres occisi in terra sua requiescerent - Epistola B r u n o n i s ad H e n r i c u m (wie A n m . 2). 103.
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jedoch daran erinnern, dass die Verdienste dieser Märtyrer die Garantie für den Erfolg im Werk der Christianisierung der Heiden waren. Nach Ansicht Bruns von Querfurt war Polen also das Hauptmissionszentrum, nicht nur weil Boleslaw Chrobry den Missionaren wohl gesinnt war, sondern auch angesichts der Tatsache, dass dieses Königreich als Schutzherren Heilige hatte, deren Verdienste über die Erfolge in der Christianisierung entschieden. Der Erfolg der Mission hing auch von dem Schutz ab, den der heilige Petrus gewährte. Brun von Querfurt betonte das sehr deutlich in dem von uns besprochenen Brief. 8 Gleichzeitig äußerte er die Überzeugung, dass er, indem er den Glauben Christi verbreitete, selbst im Namen des Fürsten der Apostel handelte. Er hatte das Recht, so zu denken. Er unternahm die Heidenmission doch dank der vom Papst, dem Nachfolger des Petrus, erhaltenen Erlaubnis und machte sich auf den Weg, ausgestattet mit dem Pallium, der Insigne der geistlichen Würde, das gleichzeitig eine Reliquie des Petrus war.9 Unter dem Schutz des himmlischen Türhüters befand sich jedoch auch Boleslaw Chrobry. Der Autor stellte das im Brief selbst fest, indem er schrieb, dass der erwähnte Heilige den Piastenherrscher vor der Militärmacht Heinrichs II. rettete. Der Leser erfährt gleichzeitig, worauf sich diese Überzeugung stützte. Der polnische Herzog, sagte der Bischof, sei ein tributarius des Fürsten der Apostel. 10 Wir wissen, dass das Rechtsverhältnis, von dem hier die Rede ist, unter der Herrschaft Mieszkos I. entstanden war, der kurz vor seinem Tode sein Reich dem hl. Petrus geschenkt hatte. Boleslaw, der Sohn von Mieszkos I., erkannte diese Schenkung als rechtmäßig an und schickte seither den Rekognitionszins nach Rom." Er war folglich formal mit dem Heiligen verbunden, der nach Bruns Auffassung der Herr der Mission war, insbesondere der in Mittel- und Osteuropa geführten Mission. In diesem Zusammenhang entsteht die Vermutung, dass Brun von Querfurt in dem polnischen Herrscher den Mann sah, der zum Missionswerk berufen war, eben aus dem Grunde, weil er tributarius des Apostelfürsten war. Wir haben es mit einer paradoxen Situation zu tun: Der sächsische Bischof, Mitglied der europäischen intellektuellen Elite, ein Mensch, den Familien- und Freundschaftsbande mit der deutschen Machtelite verbanden, erkennt Polen als Hauptmissionszentrum an, ein Land, das erst in der zweiten Generation christlich war. Ernsthafte Zweifel hegt er hingegen daran, und dies bringt er öffentlich zum Ausdruck, ob Deutschland weiterhin ein Zentrum der Christianisierung ist. Die Ansichten Bruns von Querfurt bilden einen guten Ausgangspunkt für weitere Erwägungen. Wir können aus ihnen ersehen, dass Polen um das Jahr 1000 in der Ansicht eines gebildeten und edlen Menschen die Werte vertrat, die in der damaligen europäischen
8 Heinrich ZEISSBERG, Die öffentliche Meinung im 11. Jahrhundert über Deutschlands Politik gegen Polen (erstmals 1868), in: Heidenmission, (wie Anm. 3), 11; Alexander GIEYSZTOR, Saints d'implantation, saints de souche dans les pays evangelises de l'Europe du Centre-Est, in: Hagiographie, cultures et societes: I V e - X I P siecles. Actes du Colloque organise ä Nanterre et ä Paris ( 2 - 5 mai 1979), Paris 1981, 578. 9 Anzelm WEISS, Pozwolenie na gloszenie Ewangelii (Licentia apostolica ad missionem) w czasach sw. Wojciecha [Die Erlaubnis zur Verkündung des Evangeliums in den Zeiten des hl. Adalbert], in: Universitas Gedanensis 9 (1997), H. 1 - 2 (16-17), 6 1 - 7 1 . 10 Siehe Zitat Anm. 7. 11 Siehe Anm. 17.
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Zivilisation am höchsten geschätzt wurden. Es entsteht die Frage, unter welchen Bedingungen Polen mit der westlichen Zivilisation in Berührung kam und auf welchen Wegen es sich deren Werte aneignete. Im frühesten Mittelalter hatten die großen politischen und zivilisatorischen Zentren Europas nur in geringem Maße eine Wirkung auf das Gebiet Polen ausgeübt. Diese Zentren befanden sich einerseits zu weit von dem Land zwischen Oder und Weichsel entfernt, andererseits war das ökonomische Potenzial der polnischen Stämme zu gering und ihre Struktur zu egalitär, die politische Macht wiederum zu schwach, als dass die kulturellen Strömungen, die aus Aachen, Rom oder Konstantinopel kamen, dorthin ohne Hindernisse hätten gelangen könn e n . I m Laufe der Jahrhunderte änderte sich diese Situation jedoch. Die Zentren der europäischen Zivilisation näherten sich Mittel- und Osteuropa. Es reicht zu sagen, dass zu diesen Zentren im 10. Jahrhundert Magdeburg gehörte, das genau im Grenzgebiet zum Slaventum gelegen war. Wichtige Wandlungen erfolgten auch auf polnischem Gebiet. Es war dort ein Reich entstanden, das zu jener Zeit die Periode einer enormen Expansion erlebte. Dieses Reich war von den Polanen gegründet worden, einem der vielen Stämme, die im 9. und 10. Jahrhundert das Oder- und Weichselgebiet bewohnten. Sie lebten auf dem Gebiet des heutigen Großpolens, also in einem Land, dessen Hauptzentren Gnesen und Posen waren. In der Mitte des 9. Jahrhunderts hatte es diesen Stamm höchstwahrscheinlich noch nicht gegeben. Er entstand unter uns unbekannten Umständen und nahm binnen kurzer Zeit in großem Maßstab eine politische und militärische Expansion vor. dank derer er innerhalb von wenigen Jahrzehnten seinen Territorialbesitz vervielfachte, indem er seine Nordgrenze an die Ostsee und die Südgrenze an die Karpaten verlagerte. Dieser Expansion gingen interne Wandlungen voran, teilweise wurde sie auch von ihnen begleitet. Sie ermöglichten die Errichtung einer starken königlichen Macht, einer wirksamen Verwaltung und einer mächtigen Armee. Dank neuester archäologischer Untersuchungen können wir als Zeit dieses Umbruchs mit großer Wahrscheinlichkeit das zweite Viertel des 10. Jahrhunderts annehmen. Damals ist in Großpolen ein System neuer, mächtiger Burgen entstanden. Höchstwahrscheinlich entstanden erst damals auch die Burgen in Gnesen und in Posen.''
12 Siehe dazu P r z e m y s t a w URBANCZYK (Hg.). Origins of Central E u r o p e . W a r s c h a u 1997. 13 U m f a n g r e i c h e s Material über Polen im 10. J a h r h u n d e r t und die E n t s t e h u n g d e s polnischen Staates ist in f o l g e n d e n beiden V e r ö f f e n t l i c h u n g e n enthalten: H e n r y k SAMSONOWKZ (Hg.). Z i e m i e polskie w X w i e k u i ich z n a c z e n i e w ksztaltowaniu si? n o w e j m a p y E u r o p y [Die polnischen L ä n d e r im 10. Jahrhundert und ihrer B e d e u t u n g in der G e s t a l t u n g der neuen Landkarte Europas], K r a k a u 2 0 0 0 : A n d r z e j BLKO und Z y g m u n t SWIECHOWSKI (Hg.), O s a d n i c t w o i architektura ziem polskich VV d o b i e z j a z d u g n i e z n i e n s k i e g o [Besiedlung und Architektur der polnischen L ä n d e r z u r Z e i t des A k t e s von G n e s e n ] , W a r s c h a u 2 0 0 0 : siehe auch Zofia KURNATOWSKA (Hg.). G n i e z n o w swietle ostatnich badan a r c h e o l o g i c z n y c h [Gnesen im Licht der letzten a r c h ä o l o g i s c h e n U n t e r s u c h u n g e n ] , P o z n a n s k i e T o w a r z y s t w o Pryzjaciöl N a u k . W y d z i a l Historii i n a u k s p o l e c z n y c h . Prace K o m i s j i A r c h e o l o g i c z n e j 21. Posen 2001. Eine instruktive B e s p r e c h u n g der Fachliteratur zu d e n erörterten Fragen s t a m m t von: S t a w o m i r GAWI.AS. D e r hl. Adalbert als L a n d e s p a t r o n und die f r ü h e N a t i o n e n b i l d u n g bei den Polen, in: Michael BORGOLTF: (Hg.). Polen und D e u t s c h l a n d vor 1000 Jahren. Die Berliner T a g u n g über den „ A k t von G n e s e n " . E u r o p a im Mittelalter. A b h a n d l u n g e n und Beiträge zur historischen K o m p a r a t i s t i k 5. Berlin 2002. 1 9 3 - 2 3 3 .
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Die Herausbildung eines Staates auf polnischem Gebiet schuf günstige Bedingungen für die Annahme des Christentums in diesem Land. 14 Es ist gut bekannt, dass in den frühmittelalterlichen Gesellschaften der Herrscher die Person war, die am meisten am Empfang des neuen Glaubens interessiert war. Dies ergab sich aus vielen Gründen, vor allem aus politischen und ideellen. Der religiöse Unterschied bewirkte, dass sich der heidnische Herrscher in einer äußerst unbequemen Lage befand, wenn er Kontakte mit christlichen Herrschern unterhalten musste, was ja oft unentbehrlich war. Er war sogar Impertinenzen ausgesetzt, aber auch wenn es nicht zu solch extremen Fällen kam, war es für einen Heiden schwer, mit Christen Beziehungen auf gleicher Ebene zu unterhalten, geschweige denn enge persönliche Kontakte zu pflegen, die ja so wichtig in der Politik des frühen Mittelalters waren. Auch interne Kalküle waren im Spiel. Die Festigung der Stellung des Königs in seinem Reich erforderte die Umformulierung der religiösen Grundlagen der Monarchie. In dieser Hinsicht konnte man sich von der Annahme des christlichen Glaubens mehr versprechen als von Versuchen, das Heidentum zu reformieren - die auch tatsächlich mitunter unternommen wurden. Es war jedoch nicht nur politisches Kalkül, das hierbei eine Rolle spielte. Kaum zu bezweifeln ist, dass die christliche Welt auf die heidnischen Herrscher einen großen Einfluss ausübte durch ihren Reichtum, ihre Militärmacht und ihre kulturelle Überlegenheit. Daher wohl auch der Wunsch, in diese Welt einzutreten und ihr ähnlich zu sein. Die Grundbedingung für das Erreichen dieses Ziels war die Annahme der Religion, die in dieser Welt herrschte. Kein Wunder also, dass sich der polnische Herrscher kurz nach der politischen Wende, von der bereits die Rede war, kurz nach den ersten, von den Quellen bestätigten Kontakten mit christlichen Großmächten, dazu entschloss, die Taufe zu empfangen. 15 Leider sind uns die Umstände dieses Ereignisses völlig unbekannt. Wir haben jedoch das Recht anzunehmen, dass die Rolle des Vermittlers der böhmische Fürst gespielt haben muss, da ja Mieszko I. mit dessen Tochter Dobrawa verheiratet war. Auf die Bedeutung der Böhmen in der frühesten Christianisierung Polens verweist auch ein anderer Umstand. Der sich auf die kirchliche
14 Über die Christianisierung Polens siehe vor allem: Alexander GIEYSZTOR, Les paliers de la penetration du christianisme en Pologne au X L -X1' siecle, in: Studi in onore di Amintore Fanfani, Bd. 1, Milano 1962. 3 2 9 - 3 6 7 ; DERS., L e fonctionnement des institutions ecclesiastiques rurales en B o h e m e , en Pologne et en Hongrie aux X" et XIC siecles, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle Campagne nell'alto medioevo, Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto m e d i o e v o 28, Spoleto 1982, 9 2 5 - 9 5 4 ; DF.RS., La chretiente et le pouvoir princier en Europe du Centre-Est des origines jusqu'Ä la fin du XII C siecle, in: La cristianitä dei secoli XI e XII in Occidente: coscienza e strutture di una societä. Atti della ottava Settimana internazionale di studio. Mendola, 30 g i u g n o - 5 luglio 1980, Miscellanea del Centro di studi Medioevali 10, Mailand 1983, 123-145. Siehe auch Henryk LOWMIANSKI, Religia Slowian i j e j upadek [Die Religion der Slawen und ihr Niedergangl, Warschau 1979. Unseren Standpunkt haben wir bereits dargestellt in R o m a n MICHAI.OWSKI, La christianisation de la Pologne aux X e - X I I e siecles, in: Michel ROUCHE (Hg.) Clovis. Histoire et memoire, Bd. 2: Le b a p t e m e de Clovis, son e c h o Ä travers l'histoire, Paris 1 9 9 7 , 4 1 9 - 4 3 4 . 15 Über die Umstände der T a u f e Mieszkos I. und der frühesten Phase der T a u f e Polens siehe z.B. Stanislaw TRAWKOWSKI, Pocz^tki Ko ciota w Polsce za panowania Mieszka I [Die A n f ä n g e der Kirche in Polen unter der Herrschaft Mieszkos I.], in: Polska M i e s z k a I, Posen 1993, 5 1 - 7 2 ; Chrystianizacja Polski pofudniowej. Materiaty Ζ sesji n a u k o w e j odbytej 29 czerwca 1993 roku, Krakau 1994; Teresa DUNINer W/\SOWICZ, Autour du b a p t e m e de M i e s z k o I de Pologne, in: Michel ROUCHE (Hg.) Clovis. Histoire et memoire, Bd. 2 (wie A n m . 14), 3 6 9 - 3 8 5 .
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Sphäre beziehende polnische Grundwortschatz wurde der tschechischen Sprache entnommen bzw. durch Vermittlung der tschechischen Sprache übernommen. M a n sollte e i g e n t l i c h e r w a r t e n , d a s s an d e r A n n a h m e d e s C h r i s t e n t u m s d u r c h d e n p o l n i s c h e n H o f a u c h O t t o I. beteiligt w a r , w i s s e n w i r d o c h , w i e s e h r er an d e r V e r b r e i t u n g d e s c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s u n t e r d e n H e i d e n interessiert w a r . E r b e w i e s d a s in P o l a b i e n , in D ä n e m a r k . in U n g a r n u n d in d e r R u s ' . W i r w i s s e n a u c h , d a s s er a u s rein p o l i t i s c h e n G r ü n d e n an d e r E n t w i c k l u n g d e r L a g e bei s e i n e n ö s t l i c h e n N a c h b a r n interessiert w a r . D a s P r o b l e m b e s t e h t j e d o c h d a r i n , d a s s k e i n e d e r Q u e l l e n ein E n g a g e m e n t d e s K a i s e r s f ü r d i e T a u f e M i e s z k o I. e r w ä h n t . E s ist m ö g l i c h , d a s s d e r p o l n i s c h e H e r z o g , d a s E n g a g e m e n t d e s k a i s e r lichen H o f e s a u s A n g s t v o r e i n e r p o l i t i s c h e n A b h ä n g i g k e i t zu v e r m e i d e n suchte. 1 " M a n sollte d e s W e i t e r e n a n n e h m e n , d a s s sich d i e C h r i s t i a n i s i e r u n g P o l e n s in ihrer A n fangsphase unter der direkten Schirmherrschaft des Apostolischen Stuhls zutrug, dass der erste p o l n i s c h e B i s c h o f direkt v o m P a p s t o d e r auf s e i n e A n w e i s u n g hin g e w e i h t w u r d e , d a s s s c h l i e ß l i c h d a s e r s t e p o l n i s c h e B i s t u m mit d e r E r l a u b n i s R o m s e n t s t a n d . D i e s e S c h l u s s f o l g e r u n g e n e r g e b e n sich j e d o c h e b e n f a l l s nicht a u s d e n Q u e l l e n , d i e d i e T a u f e M i e s z k o s betreffen, sondern aus unseren Kenntnissen des damaligen kanonischen Rechts und der kirchlichen Bräuche. Der polnische Hof m a ß besonders engen und direkten
Beziehungen
zum
Papsttum
e i n e B e d e u t u n g bei. A u s d r u c k d i e s e r Politik w a r d i e O b l a t i o n d e s p o l n i s c h e n S t a a t e s , die M i e s z k o I. z w i s c h e n 9 9 0 u n d 9 9 2 z u g u n s t e n d e s hl. P e t r u s e r b r a c h t e , w a s w i r bereits e r w ä h n ten. D i e s e r u n g e w ö h n l i c h e A k t , d e r e r s t e d i e s e r Art in d e r G e s c h i c h t e E u r o p a s , hatte z w e i f e l s o h n e e i n e r e l i g i ö s e u n d ideelle M o t i v a t i o n . V o n d i e s e r Z e i t an k o n n t e d e r H e r r s c h e r P o l e n s a u f d i e v o m H i m m e l k o m m e n d e H i l f e d e s A p o s t e l f ü r s t e n r e c h n e n . V o n n u n an r e g i e r t e e r sein L a n d in d e s s e n N a m e n . D i e s m u s s j e d o c h a u c h von d u r c h a u s p o l i t i s c h e n M o t i v e n b e g l e i t e t w o r d e n sein. I n d e m d e r p o l n i s c h e K ö n i g d e m Papst d e n T r i b u t zahlte, w a s e i n e F o l g e d e r O b l a t i o n w a r . g e w a n n er d i e G u n s t d e s P a p s t e s , u n d i n d e m er d i e Z u g e h ö r i g k e i t s e i n e s S t a a t e s z u m hl. P e t r u s b e t o n t e , b r a c h t e e r d i e H o f f n u n g z u m A u s d r u c k , d a s s d i e p o l n i s c h e K i r c h e f ü r i m m e r direkt v o n d e m A p o s t o l i s c h e n Stuhl a b h ä n g i g sein w e r d e . D a h i n t e r s t e c k t e n P l ä n e , e i n e p o l n i s c h e K i r c h e n p r o v i n z zu g r ü n d e n . 1 7 D i e E n t s t e h u n g e i n e r n e u e n l o k a l e n G r o ß m a c h t ä n d e r t e d i e g e o p o l i t i s c h e L a g e in M i t t e l und Osteuropa. Mieszko, der erste polnische Herrscher, von dessen Existenz wir sicher wiss e n . w u r d e b e r e i t s in d e n s e c h z i g e r J a h r e n d e s 10. J a h r h u n d e r t s d e r k a i s e r l i c h e F r e u n d g e n a n n t u n d im J a h r e 9 6 5 h e i r a t e t e er D o b r a w a , d i e T o c h t e r d e s b ö h m i s c h e n F ü r s t e n B o l e s l a v I.. a l s o
16 Siehe Dusan TRESTI'K, Bohemia's Iron Year, in: Przemystaw URBANCZYK (Hg.). Europe around the Year 1000. Warschau 2001. 427-450. 17 Charlotte WARNKE. Ursachen und Voraussetzungen der Schenkung Polens an den heiligen Petrus, in: Klaus-Detlev GROTHUSEN und Klaus ZERNACK. Europa Slavica - Europa Orientalis. Festschrift für Herbert Ludat zum 70. Geburtstag, Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen. Reihe 1: Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 100. Berlin 1980. 127-177: Roman MICHALOWSKI. Princeps fundator. Studium ζ dziejow kultury politycznej w Polsce X XIII wieku [Studie zur Geschichte der politischen Kultur im Polen des 10.-13. Jahrhunderts], Warschau 1993. 6 0 - 6 2 .
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des Herrschers eines Reiches, das sich damals auf dem Höhepunkt seiner Macht befand.' 8 Seit dieser Zeit gestaltete auch Mieszko das Antlitz dieses Teils Europas mit. Die Beziehungen des polnischen Herzogs zu Deutschland machten eine Evolution durch. Nach einigen Reibungen zu Beginn der sechziger Jahre wurde er ein Freund von Otto I. und bezahlte ihm einen Tribut. Die Lage änderte sich zu Beginn der siebziger Jahre. 972 kam es zu einem Krieg zwischen Mieszko I. und dem Markgrafen Hodo, der in diesem Krieg besiegt wurde. Otto I. nahm Stellung zu diesem Konflikt auf dem Hoftag von Quedlinburg im Jahr darauf. Wenn man sich auf den Bericht der „Annales Altahenses Maiores" stützt19, dann geht daraus hervor, dass der Kaiser dem polnischen Herrscher gegenüber seine Ungunst erwies, indem er ihn zwang, seinen Sohn als Geisel an den deutschen Hof zu schicken. Gespannte Beziehungen bestanden ebenfalls während der Herrschaft Ottos II., als es zu bewaffneten Konflikten zwischen ihm und Mieszko kam. Es scheint, dass der Wandel des Klimas in den gegenseitigen Beziehungen die Folge der Tatsache war, dass der kaiserliche Hof in dem polnischen Herzog einen gefährlichen Rivalen auf dem Gebiet Polabiens erblickte. In den sechziger und siebziger Jahren stützte der Piastenstaat seine Politik auf ein Bündnis mit Böhmen, durch das er Erfolge im Kampf um die Herrschaft in Pommern verzeichnen konnte. Andererseits jedoch verwickelte dieses Bündnis die Polen in innerdeutsche Konflikte auf der Seite Heinrich des Zänkers und machte auch die Expansion in südliche Richtung unmöglich. Der Tod von Dobrawa im Jahre 977 erleichterte die Umwandlung der Politik im Dreieck Polen-Böhmen-Deutschland. Mieszko heiratete Oda, die Tochter von Dietrich, dem Markgrafen der Nordmark. Dies leitete eine Reihe von Ehebünden ein, die die Piastendynastie im Laufe der Jahrhunderte mit deutschen Adelsgeschlechtern einging. Die Eheschließung Mieszkos I. führte zur Beruhigung in den polnisch-sächsischen Beziehungen und schuf eine Grundlage für das polnisch-deutsche Bündnis. Es festigte sich sehr nach dem Ausbruch einer Reihe von slavischen Aufständen in den achtziger Jahren des 10. Jahrhunderts, Aufständen, die der sächsischen Herrschaft in Mittel- und Nordpolabien für knapp 200 Jahre ein Ende setzten. Es stellte sich heraus, dass der Kaiser nicht im Stande war, allein die rebellischen Slaven im Zaum zu halten. Wenn er dieses Ziel erreichen wollte, dann war er auf die Hilfe des in Gnesen herrschenden Fürsten angewiesen. Auf diese Weise entstanden die Voraussetzungen für die politischen Beziehungen zwischen den Piasten und den Ottonen, die ein paar Jahre später, jedoch bereits unter der Herrschaft Boleslaw Chrobrys, zu einer Neuordnung der polnisch-deutschen Beziehungen auf völlig neuen Grundlagen führten. Ausdruck dessen war die Gründung der polnischen Kirchenprovinz mit Sitz in Gnesen. Bevor es jedoch dazu kam, gelang es Mieszko I., der die Unterstützung des deutschen Hofes bekam, von den Böhmen Krakau und Schlesien zu erobern.
18 Die Fragen, die mit der Herrschaft Mieszkos I. und dessen Beziehungen zu Deutschen und Tschechen im Zusammenhang stehen, sind seit fast zweihundert Jahren Gegenstand von Diskussionen und heftigen Kontroversen. Die Fachliteratur zu diesem Thema ist sehr umfangreich. Eine sehr gute Einführung in diese Problematik bieten zwei neue Biographien des Herzogs: Jerzy STRZELCZYK, Mieszko Pierwszy [Mieszko der Erste], Posen 1992; Gerard LABUDA, Mieszko I, Breslau, Warschau und Krakau 2002. 19 Edmund von OEFELE (Hg.), Annales Altahenses Maiores, MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, Hannover 1868, 11.
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D i e O t t o n e n , die d a r i n d i e K a r o l i n g e r n a c h a h m t e n , f ü h r t e n e i n e k o n s e q u e n t e P o l i t i k , d i e d a r a u f a b z i e l t e , d i e c h r i s t i a n i s i e r t e n L ä n d e r , d i e an ihren G r e n z e n l a g e n , d e n M e t r o p o l i t e n unt e r z u o r d n e n , d e r e n Sitze sich a u f d e m G e b i e t D e u t s c h l a n d s b e f a n d e n . I n d e m sie n a c h d i e s e m G r u n d s a t z h a n d e l t e n , u n t e r s t e l l t e n sie d i e b ö h m i s c h e n B i s t ü m e r d e r M a i n z e r P r o v i n z , d i e in Polabien errichteten Bistümer den Mainzer, H a m b u r g e r und danach Magdeburger Provinzen u n d d i e d ä n i s c h e n D i ö z e s e n d e r H a m b u r g e r P r o v i n z e " D i e Z u s t i m m u n g O t t o s III. h i n s i c h t l i c h d e r E r r i c h t u n g d e s E r z b i s t u m s u n d d e r G n e s e n e r K i r c h e n p r o v i n z w a r e i n e A b w e i c h u n g von d e n f e s t g e l e g t e n W e g e n d e s p o l i t i s c h - k i r c h l i c h e n D e n k e n s . 2 1 N o c h zu B e g i n n d e r s e l b s t ä n d i g e n H e r r s c h a f t d e s K a i s e r s b e r ü c k s i c h t i g t e d e r d e u t s c h e H o f nicht d i e N o t w e n d i g k e i t , die territoriale Integrität d e r p o l n i s c h e n K i r c h e zu b e a c h t e n . W i r w i s s e n , d a s s im J a h r e 9 9 5 die E r w e i t e r u n g d e r G r e n z e n d e r M e i ß e n e r D i ö z e s e z u m O s t e n hin g e p l a n t w u r d e , so d a s s sie a u c h S c h l e s i e n u m f a s s t e , d a s d a m a l s b e r e i t s p o l n i s c h w a r . E s ist u n t e r d i e s e n U m s t ä n d e n wenig wahrscheinlich, dass der kaiserliche Hof damals den G e d a n k e n zuließ, eine polnische K i r c h e n p r o v i n z zu e r r i c h t e n . E i n e s k a n n als sicher a n g e s e h e n w e r d e n : W e n n ein s o l c h e r G e d a n k e ü b e r h a u p t e r w o g e n w u r d e , d a n n b e a b s i c h t i g t e m a n nicht, d i e s e r P r o v i n z d a s g a n z e L a n d v o n B o l e s l a w C h r o b r y zu u n t e r s t e l l e n . Z w i s c h e n 9 9 5 u n d 9 9 9 ä n d e r t e n j e d o c h d i e m a ß g e b e n d e n K r e i s e a m k a i s e r l i c h e n H o f ihre d i e s b e z ü g l i c h e M e i n u n g . D i e s e n W a n d e l k a n n m a n n u r d a n n v e r s t e h e n , w e n n m a n ihn v o r d e m H i n t e r g r u n d d e r a l l g e m e i n e n p o l i t i s c h e n A n s i c h t e n O t t o s III. u n t e r s u c h t . 2 2 In d e n letzten J a h r e n w u r d e n die i d e e l l e n K o n z e p t i o n e n d e s j u n g e n K a i s e r s e r n e u t , n a c h 6 0 J a h r e n . G e g e n s t a n d e i n e r lebh a f t e n D i s k u s s i o n . D i e s e D i s k u s s i o n w u r d e d u r c h d e n V e r s u c h h e r v o r g e r u f e n , d a s . w a s die G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g im 20. J a h r h u n d e r t v o n d e r Politik O t t o s III. m e i n t e , e i n e r r a d i k a l e n R e v i s i o n zu u n t e r z i e h e n . In F r a g e gestellt w u r d e d i e M e i n u n g , d i e b i s h e r als s e l b s t v e r s t ä n d lich galt, n a c h d e r sich d i e p o l i t i s c h e n A n s i c h t e n d e s j u n g e n H e r r s c h e r s w e s e n t l i c h v o n d e n
20 Arnold ANGENENDT. Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser. Könige, und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte. Arbeiten zur Frümittelalterforschung 15. Berlin und New York 1984. 274-289 und passim. 21 Informationen über die Gründung des Gnesener Erzbistums in der dem Treffen in Gnesen gewidmeten Fachliteratur. Siehe einige Titel in Anm. 25 und Sigismond Marie JEDUCKI. La creation du premier archeveche polonais ä Gniezno et ses consequences au point de vue des rapports entre la Pologne et l'Empire germanique, in: Revue Historique de Droit F r a n c i s et Etranger 4' serie. 12 (1933). 645-695: Jerzy STRZELCZYK. Polen, Tschechen und Deutsche in ihren Wechselwirkungen um das Jahr 1000. in: BOKGOI.TE (Hg.), Polen (wie Anm. 13), 43-59; Stanislaw TRAWKOWSKI. Wokol pocz^tkou arcybiskupstwa gnieznienskiego [Zu den Anfängen des Erzbistums Gnesen). in: Wojciech IWANCZAK und Stefan K. KUCZYNSKI (Hg.), Ludzie, Kosciöl, wierzenia. Studia ζ dziejow kultury i spoleczenstwa Europy Srodkowej (sredniowiecze - wczesna epoka nowozytna) [Menschen. Kirche. Glaubenswelten. Studien zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte Mitteleuropas (Mittelalter - Frühe Neuzeit)]. Warschau 2001. 109-123.
22 Das Grundwerk über den politischen Gedanken Ottos III. ist weiterhin das Buch von Percy Ernst SCHRAMM, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien und Texte zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit. Bd. 1-2. Studien der Bibliothek Warburg 17, Leipzig und Berlin 1929.
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A n s i c h t e n unterschieden hätten, nach denen sich d i e f r ü h e r e n O t t o n e n richteten. 2 3 Es ist hier nicht m ö g l i c h , zu der e r w ä h n t e n D i s k u s s i o n in ihrer g a n z e n Vielfalt Stellung zu n e h m e n . W i r w e r d e n lediglich versuchen, auf die E i g e n t ü m l i c h k e i t e n d e r Polenpolitik O t t o s III., der a l l g e m e i n e n Polenpolitik und nicht nur der kirchlichen Polenpolitik, s o w i e auf einige B e s o n d e r h e i t e n seines politischen D e n k e n s zu v e r w e i s e n . T h i e t m a r von M e r s e b u r g k o m m e n t i e r t e als ein zeitgenössischer C h r o n i s t die Einstellung des j u n g e n M o n a r c h e n zu B o l e s t a w C h r o b r y f o l g e n d e r m a ß e n : „ G o t t v e r z e i h e d e m Kaiser, d a ß er einen Tributpflichtigen z u m H e r r n m a c h t e [...]." 2 4 D i e s e W o r t e sind ein Z e u g n i s des U m b r u c h s , den d i e d e u t s c h e Politik unter seiner H e r r s c h a f t erlebte. D a s Ereignis, in d e m dieser U m b r u c h am deutlichsten z u m A u s d r u c k k a m , w a r das s o g e n a n n t e T r e f f e n in Gnesen. 2 5 I m Jahre 9 9 7 starb der Prager Bischof Adalbert, ein F r e u n d Ottos III., den M ä r t y r e r t o d w ä h r e n d seiner H e i d e n m i s s i o n in P r e u ß e n . E r w u r d e bald darauf kanonisiert und s e i n e m Kult b e a b sichtigte der Kaiser e u r o p a w e i t e n R a n g zu verleihen. B o l e s t a w C h r o b r y löste den L e i c h n a m des M ä r t y r e r s aus und setzte ihn in G n e s e n bei. Im Jahre 1000 pilgerte O t t o III. zur Grabstätte
23 Der Grund für die erwähnte Diskussion war das Erscheinen der Arbeit von Knut GÖRICH, Otto III. Romanus, Saxonicus et Italicus. Kaiserliche Rompolitik und sächsische Historiographie, Historische Forschungen 18, Sigmaringen 1993. Aus der umfangreichen Fachliteratur, die seit dem Erscheinen der Arbeit von Görich veröffentlicht wurde, nennen wir lediglich ein paar wichtigere Titel: Gerd ALTHOFF, Otto III., Darmstadt 1997(1. Aufl. 1996); Bernd SCHNEIDMÜLLER und Stefan WEINFURTER (Hg.), Otto III. - Heinrich II. eine Wende?, Mittelalter Forschungen 1, Sigmaringen 1997; Ekkehard EICKHOFF, Kaiser Otto III. Die erste Jahrtausendwende und die Entfaltung Europas, Stuttgart 1999; Jerzy STRZELCZYK, Otton III, Breslau, Warschau und Krakau 2000. Unsere Ansicht über das Buch von Görich stellten wir in: Przegl^d Historyczny 85 (1994), 151-156, dar; die deutsche Fassung dieser Rezension: Roman MICHALOWSKI, Die Politik von Otto III. in neuer Beleuchtung, in: Acta Poloniae Historica 75 (1997), 167-177. 24 Deus indulgent imperatori, quod tributrium faciens dominum ad hoc umquam elevavit /...] - Robert HOLTZMANN (Hg.), Thietmari Merseburgensis episcopi Chronicon, MGH Scriptores rerum Germanicarum N.S. 9, Berlin 1935, lib. 5, cap. 10, 232; deutsche Übersetzung Werner TRILLMICH (Hg.), Chronik, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 9, Berlin 1962, 205. 25 Für das Treffen in Gnesen ist weiterhin das Buch von Gerard LABUDA, Studia nad pocz^tkami panstwa polskiego [Studien zu den Anfängen des polnischen StaatesJ, Bd. 1, Uniwersytet Adama Mickiewicza, Historia 139, Posen 1987 (1. Aufl. 1946), 237-319, 505-510 von grundlegender Bedeutung. Viele gängige Ansichten stellte Johannes Fried in Frage: Johannes FRIED, Otto III. und Boleslaw Chrobry. Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars, der „Akt von Gnesen" und das frühe polnische und ungarische Königtum, Frankfurter Historische Abhandlungen 30, Stuttgart 1989, 2. Aufl. Stuttgart 2001; siehe unsere Rezensionen in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 18 (1991), 277-278; ebd., 30 (2003), 322-323 Aus der später entstandenen Fachliteratur erwähnen wir: Gerard LABUDA, Der „Akt von Gnesen" vom Jahre 1000. Bericht über die Forschungsvorhaben und Ergebnisse, in: Quaestiones Medii Aevi Novae 5 (2000), 145-188; Jerzy STRZELCZYK, Zjazd Gnieznieiiski [Das Gnesener Treffen], Posen 2000. Die Anwendung neuer Methoden in letzter Zeit brachte interessante Ergebnisse. Die polnische Historiographie neigte immer zur Monumentalisierung der Ereignisse in Gnesen. Im Lichte der neuesten Forschungen stellte sich heraus, dass das eine richtige Tendenz war. Es ist gelungen, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu beweisen, dass sich in dem kaiserlichen Gefolge auch der Abt Odilo von Cluny nach Gnesen begab: Wolfgang HUSCHNER, Abt Odilo von Cluny und Kaiser Otto III. in Italien und in Gnesen, in: BORGOLTE (Hg.), Polen (wie Anm. 13), 111-161. Wolfgang Huschner ist sogar geneigt zu behaupten, dass Odilo der Autor des ideellen Programms der Pilgerreise nach Gnesen war.
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des hl. Adalberts. Während seines Aufenthaltes gründete es das Gnesener Erzbistum, was von uns bereits erwähnt wurde. Gleichzeitig jedoch erhob er Boleslaw Chrobry in einen höheren Rang. Damals hob er wohl den Tribut auf, zu dessen Entrichtung noch Mieszko I. verpflichtet war. Von dem Aufstieg des polnischen Herrschers zeugen auch andere Fakten. Der Kaiser verlieh ihm die Würde eines „kaiserlichen Bruders" und den Titel eines „Mitarbeiters des Kaiserreiches" und schenkte ihm eine Kopie der heiligen Lanze, seiner wichtigsten Insignie. Diese Informationen verdanken wir dem Chronisten Gallus Anonymus 21 ', der zwar erst im 12. Jahrhundert schrieb, sich jedoch auf eine Quelle stützte 27 , die in der Zeit jener Ereignisse entstanden war. Gallus Anonymus behauptete außerdem, dass Otto III. Boleslaw in Gnesen zum König gekrönt hatte. Dies ist höchstwahrscheinlich eine irrtümliche Ansicht. Nichtsdestoweniger zeugen einige Angaben davon, dass Otto III. tatsächlich die Absicht hatte, dem polnischen Herrscher die königliche Würde zu verleihen, obgleich er diese Absicht nicht in die Tat umsetzte. Ziehen wir vor allem die Tatsache in Betracht, dass die vom Kaiser geschenkte Lanze eine Kopie der heiligen Lanze war, der königlichen Insignie par excellence. und erinnern wir uns daran, dass ungefähr in derselben Zeit der hl. Stephan, der ungarische König, die Zustimmung Ottos III. für die königliche Krönung erhielt. 2S dann ist die Ansicht, dass Otto III. die Absicht hatte, den Polenherzog in den Königsrang zu erheben, in höchstem Maße wahrscheinlich, auch wenn man die Geste des Aufsetzens des Diadems auf Bolestaws Haupt, wovon Gallus Anonymus berichtete, anders auslegt als die Ankündigung der königlichen Weihe. Die Würden und Privilegien, mit denen Otto III. Bolestaw Chrobry beschenkte und in Zukunft zu beschenken beabsichtigte, hatten ihre Begründung in den Plänen, die der Kaiser mit der Person des polnischen Herrschers verband. Diese Pläne fanden ihre deutlichste Widerspiegelung im Titel eines „Mitarbeiters des Kaiserreiches", der Boleslaw auf dem Treffen in Gnesen verliehen wurde. Dieser Titel hatte keine Analogie in der politischen Wirklichkeit des Mittelalters. Man sollte meinen, dass er ad hoc geschaffen wurde, mit dem Ziel, die Aufgaben, die vor dem polnischen Herrscher standen, zu beschreiben. Aufgaben, deren Charakter und Natur so ungewöhnlich waren, dass sie von keiner traditionellen monarchischen Titulatur beschrieben wurden. Was waren also die Pläne, die Otto III. in Bezug auf Boleslaw schmiedete und wie war die Bedeutung des Titels, den der letztere in Gnesen erhielt? Um dieses Problem zu lösen, sollte man zuerst die Antwort auf eine andere Frage finden, und zwar welche Aufgaben sich der Kaiser selbst stellte. Es wird bereits seit langem auf die Tatsache aufmerksam gemacht.
26 Karol Maleczynski (Hg.). Galli A n o n y m i C h r o n i c a e et Gesta d u c u m sive p r i n c i p u m P o l o n o r u m . M o n u m e n t a P o l o n i a e Historica N.S. 2. Krakau 1952. lib. 1. cap. 6. 17-21. 27 Zur G l a u b w ü r d i g k e i t des G a l l u s A n o n y m u s als Q u e l l e ü b e r die G e s c h i c h t e des T r e f f e n s in G n e s e n siehe A n h a n g . 28 Es existierte eine Art Parallelismus in der Politik Ottos III. g e g e n ü b e r Polen und g e g e n ü b e r U n g a r n , siehe: A l e x a n d e r G i u y s z t o r . Sylvestre II et les Eglises de P o l o g n e et de H o n g r i e . in: G e r b e r t o - Scienza. storia e mito. Atti del Gerberti S y m p o s i u m (25-27 luglio 1983). A r c h i v u m Bobiense. Studia 2. B o b b i o und P i a c e n z a 1985. 739 ff.
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dass O t t o III. als einziger der westlichen Kaisern den Titel servus Iesu Christi gebrauchte. 2 9 Ä h n l i c h e Titel, o b w o h l keiner v o n ihnen wirklich identisch ist, f ü h r t e gelegentlich d e r byzantinische Kaiser, so dass m a n im H a n d e l n Ottos III. gern die A n k n ü p f u n g an die B r ä u c h e des konstantinopolitanischen H o f e s sehen will. D i e S a c h e ist j e d o c h nicht so e i n f a c h , w e n n m a n berücksichtigt, dass sich der d e u t s c h e H e r r s c h e r als D i e n e r Jesu Christi ausschließlich w ä h r e n d d e r Pilgerfahrt nach G n e s e n bezeichnete. M a n sollte also a n n e h m e n , dass der uns interessierende Titel eine M a n i f e s t a t i o n der Rolle war, die der I m p e r a t o r in G n e s e n spielte. W i r wissen, dass dort E n t s c h e i d u n g e n g e t r o f f e n w u r d e n , deren Ziel die Festigung des C h r i s t e n t u m s in Polen und die E v a n g e l i s i e r u n g der N a c h b a r l ä n d e r war. Andererseits ist w i e d e r u m bekannt, dass sich die Apostel in ihren B r i e f e n mit d e m Titel servus Iesu Christi b e z e i c h n e t e n , i n s b e s o n d e r e der hl. P a u l u s (z.B. R o m 1,1; Phil 1,1). E s unterliegt d a h e r k e i n e m Z w e i f e l , d a s s O t t o III. nach e i n e m apostolischen Titel griff. D i e b y z a n t i n i s c h e n V o r b i l d e r k o n n t e n ihn z w a r inspirieren, aber in e i n e m solchen Falle k ä m e nicht die N a c h a h m u n g u m der N a c h a h m u n g willen in Frage, s o n d e r n eine N a c h a h m u n g , deren Ziel die B e t o n u n g des apostolischen C h a r a k t e r s der kaiserlichen W ü r d e war. 29 Das Buch von Percy Ernst SCHRAMM, Kaiser, Rom und Renovatio (wie Anm. 22), Bd. 1, 141-146, ist auch für diese Frage von grundlegender Bedeutung und in den untenstehenden Ausführungen berufen wir uns vor allem darauf. Zur Interpretation der Titulatur vgl. auch Mathilde UHURZ, Otto III. 983-1002, in: Karl UHURZ und Mathilde UHLIRZ, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III., Bd. 2, Berlin 1954, 543-544. Auf vergleichendes Material verweisen auch Josef DEER, Das Kaiserbild im Kreuz, 1. Aufl. 1955, in: DERS., Byzanz und das abendländische Herrschertum, hg. von Paul CLASSEN, Vorträge und Foschungen 21, Sigmaringen 1977, 174-176; Herwig WOLFRAM, Lateinische Herrschertitel im neunten und zehntnen Jahrhundert, in: DERS. (Hg.), Intitulatio, Bd. 2: Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im neunten und zehntnen Jahrhundert, MIÖG Ergänzungsband 24, Wien, Köln und Graz 1973, 156. Johannes FRIED, Swi?ty Wojciech i Polska [Der hl. Adalbert und Polen], in: Instytut Historii Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza w Poznaniu. Wyklady 5, Posen 2001, 26-35, behauptet, dass der Titel Ottos III. serx'us Iesu Christi nicht nur in Bezug auf den Apostel aus den Briefen des hl. Paulus, sondern auch in Bezug auf den Diener Gottes aus der Prophezeiung von Isaiah (Kapitel 49) interpretiert werden sollte. Wir sehen keine solche Notwendigkeit. Frieds Ansicht steht mit seiner Überzeugung im Zusammenhang, dass die Reise des Imperators nach Polen nach der Prophezeiung konzipiert wurde, die die Befreiung, also in der christlichen Exegese, die Bekehrung Ägyptens betrifft, so wie diese Prophezeiung im Kapitel 19 von Isaiah geschildert wurde sowie auch nach seinen anderen Prophezeiungen. Es scheint jedoch, dass diese Behauptung keine ausreichende Grundlage hat. Wie sehen denn diese Ähnlichkeiten aus? Isaiah sagt z.B., dass mitten in Ägypten, das das Symbol eines heidnischen Landes war, ein Altar angebracht wurde. Tatsächlich hat der Kaiser einen Altar in Gnesen errichten lassen. Es kommen jedoch folgende Zweifel auf: Einerseits war Polen damals bereits kein heidnisches Land mehr, andererseits ist es nicht nötig, die Errichtung des Altars im Gnesener Dom mit dem Willen zu erklären, die Prophezeiung von Isaiah erfüllen zu wollen. Den hl. Adalbert sollte man ehren, indem man seinen Leichnam in eine spezielle Confessio legte. Fried wiederum sagt, dass der Prophet Isaiah im 45. Kapitel prophezeie, Zion werde einen neuen Namen bekommen und werde ein königliches Diadem in der Hand Gottes sein, und während des Treffens in Gnesen bekam das Land zwischen Oder und Weichsel eine neue Bezeichnung, also den Namen „Polen" und Bolestaw selbst wurde zum König gekrönt. Der Forscher ist im Unrecht. In der Datierung des Dokuments von Otto III., das in Gnesen ausgestellt wurde (DO III, Nr. 349, 779) ist die Bezeichnung des Landes angegeben und es ist die „alte" Bezeichnung Sclavinia. Wenn das Land Boleslaws damals tatsächlich einen neuen Namen feierlich erhalten hätte, dann stünde er sicherlich in der Urkunde. Zweitens ist es wirklich nicht möglich zu beweisen, dass die königliche Krönung des polnischen Herrschers damals stattgefunden hat. Die genannten Thesen wurden in mancher Hinsicht noch schärfer formuliert in: Johannes FRIED, Der hl. Adalbert und Gnesen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998), 41-70.
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Den neutestamentlichen Briefen entnahm der Kaiser nicht nur den Titel servus lesit Christi. sondern auch den Titel frater et cooperator, den er Boleslaw Chrobry in Gnesen verlieh. Mit Hilfe einer identischen Formulierung bezeichnete Paulus im Brief an die Philipper (2,25) Epaphroditus, indem er ihn als seinen Bruder, Mitarbeiter und Kampfgefährten schilderte und betonte, dass er für die Philipper ein Apostel sei: Necessarium autem existimavi [sc. Paulus] Epaphroclitum frat rem et cooperatorem ei commilitonem meum, vestrum autem apostolum. et ministrum necessitatis meae mittere ad vos.·1" Zitieren wir also das entsprechende Fragment der Chronik von Gallus Anonymus: Et tanta sunt ilia die dileccione couniti. quod imperator eum [sc. Bolezlauum] frat rem et cooperatorem imperii constituit. et populi Romani amicum et sociitm appellavitDie sich in den beiden Fällen wiederholende Formulierung frater et cooperator lässt annehmen, dass wir es hier mit einer bewussten Anknüpfung zu tun haben. Es scheint also, dass Otto III. das ihn mit dem polnischen Herzog verbindende Verhältnis mit dem Verhältnis verglich, welches zwischen dem heiligen Paulus und Epaphroditus bestand. So wie der erwähnte Einwohner von Philippi ein Helfer des Völkerapostels in der Verbreitung des Evangeliums war, so sollte auch der Herrscher Polens ein Helfer des Kaisers in der Verkündung des Wortes Gottes sein. Wir können jetzt leichter verstehen, was sich in Gnesen abgespielt hat. Die dort getroffenen Entscheidungen hatten zum Ziel, das Christentum in Polen zu festigen und es in den Nachbarländern zu verbreiten. Sie erwuchsen aus der tiefsten Überzeugung Ottos III., dass die Evangelisierung seine Pflicht sei. Selbstverständlich fühlten sich die Vorgänger des Monarchen auf dem kaiserlichen Thron ebenfalls zu diesem Auftrag verpflichtet, doch scheint es. dass der junge Monarch diese Berufung tiefer als andere erlebte. Ein Beweis dafür ist unter anderem eben der ungewöhnliche Monarchentitel, den er während der Gnesener Pilgerfahrt trug - einen apostolischen Titel. Da Otto HI. die Pflicht der Evangelisierung tiefer empfand als andere deutsche Herrscher, griff er in der politischen Praxis zu originellen Lösungen, solchen, die der Erfüllung der Aufgabe besser dienten, sogar dann, wenn sie nicht immer den traditionell aufgefassten Interessen des deutschen Kaiserreiches entsprachen. Erstens veranlasste er die Entstehung der Gnesener Kirchenprovinz, zweitens erhob er Boleslaw Chrobry im Rang, indem er ihm das Amt des „Mitarbeiters des Kaiserreiches" anvertraute. In beiden Fällen schwächte er die Stellung Deutschlands gegenüber dem Piastenreich. andererseits jedoch bot er der lokalen Kirche und ihrem Herrscher Möglichkeiten einer ungehinderten und effektiveren Missionsführung in Polen und außerhalb seiner Grenzen. Da monokausale Erklärungen natürlich zu vermeiden sind, sollte man mit der Tatsache rechnen, dass Otto III. sich auch von anderen Gründen leiten ließ als die, die wir erwähnt haben. Möglicherweise haben diejenigen Forscher Recht, die meinen, dass der Kaiser Schlüsse aus Misserfolgen zog, die die bisherige Politik deutscher Herrscher verzeichnete.' 2 Sie be-
3 0 T o m a s z JASINSKJ. T y t u l a t u r a B o l e s t a w a C h r o b r e g o na Z j e z d z i e ΫΗΊΕΖΗΊΕΉΒ^ΗΙ [ D i e T i t u l a t u r Bolelaw
C h r o b r y s auf d e m G n e s n e r T r e f f e n ] , in: M e m o r i a e a m i c i et m a g i s t r i . S t u d i a
historyczne
p o s w i ^ c o n e p a m i ? c i P r o f . W a c t a w a Korty ( 1 9 1 9 - 1 9 9 9 ) . B r e s l a u 2 0 0 1 . 2 3 - 3 1 . 31 MALECZYNSKI ( H g . ) . G a l l i A n o n y m i C h r o n i c a e ( w i e A n m . 26). lib. 1. c a p . 6. 1 9 - 2 0 . 32 S i e h e z.B. D u s a n TRESTIK, V o n S v a t o p u l k zu B o l e s l a w C h r o b r y . D i e E n t s t e h u n g M i t t e l e u r o p a s d e s T a t s ä c h l i c h e n und a u s e i n e r Idee, in: P r z e m y s l a w URBANCZYK ( H g . ) . T h e N e i g h b o u r s of P o l a n d in the 10th C e n t u r y . W a r s c h a u 2 0 0 0 . 143.
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ruhte auf dem Versuch, Europa die Hegemonie des Kaiserreiches einseitig aufzuzwingen. Das Ende der Herrschaft Ottos II. und die Regentschaftszeit bewiesen, dass das Kaiserreich für ein solches Vorhaben einfach nicht stark genug war. Daher die Konzeption Ottos III., die darauf abzielte, andere Herrscher für seine Politik zu gewinnen, indem er ihre Ambitionen verwirklichen ließ. Eine gewisse Rolle in der Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen dem Kaiser und der Außenwelt gestaltet werden sollten, spielte die Idee der Familie der Könige. Man darf auch nicht vergessen, dass das Martyrium des hl. Adalbert, das am 23. April 997 erfolgte, eine recht große Bedeutung für die Gründung der polnischen Kirchenprovinz und den Aufstieg des polnischen Herrschers hatte.13 Diese Bedeutung sollte auf einigen Ebenen untersucht werden. Erstens ist es sehr wahrscheinlich, dass Otto III. sein ideelles Programm unter dem Einfluss des Todes seines Freundes formulierte. 14 Auf die erste deutlichere Spur des Interesses an Karl dem Großen, das der junge Monarch hatte, stoßen wir im Oktober des genannten Jahres und im Frühling des darauf kommenden Jahres erschien zum ersten Mal auf dem kaiserlichen Siegel die Devise Renovatio Imperii Romanorum. Das reife politische Programm Ottos III. kam in dem Kult des Königs der Franken und in der Losung der Erneuerung des Kaiserreiches zum Ausdruck. Zum Wesen dieses Programms gehörte in einem höheren Grad, als das bisher galt, die Missionspflicht des Kaisers. Zweitens war die Reise nach Gnesen eine Pilgerfahrt zur Grabstätte des hl. Adalbert. Ihr Höhepunkt war ein Ereignis, das viel zu denken gibt. Der barfuß schreitende Imperator legte den Leichnam des Heiligen eigenhändig in den Altar.·1'' Zahlreiche Analogien, besonders aus dem Kreise der Karolinger und der Kapetinger, lehren, dass der Herrscher sich eines gewissen Ritus bediente. Indem er sich voller Demut selbst entblößte und die Reliquie eigenhändig trug, manifestierte er seine Überzeugung, dass er selbst nicht im Stande sei, etwas zu tun, und dass er die ganze Hoffnung auf die Gunst Gottes setzt, die Gott ihm nicht verweigern wird aus Rücksicht auf die Verdienste des hl. Adalbert. Wir haben uns bereits auf das Zeugnis Bruns
33 Über die Ehre, die Otto III. dem hl. Adalbert bekundete, siehe u.a. Stanislaw TRAWKOWSKI, Pielgrzymka Ottona III do Gniezna. Ze studiow nad dewocj^_ wczesnosredniowieczn^ [Die Pilgerfahrt Ottos III. nach Gnesen. Studien zum frühmittelalterlichen religiösen Erleben], in: Jerzy DOWIAT u.a. (Hg.), Polska w swiecie. Szkice ζ dziejow kultury polskiej, Warschau 1972, 107-124; Teresa DUNINWASOWICZ, Le culte de Saint Adalbert vers l'an Mil et la fondation de l'eglise Saint-Adalbert Ä Liege, in: Joseph DECKERS (Hg.), La collegiale Saint-Jean de Liege. Mille ans d'art et d'histoire, Lüttich 1981, 35-38; DIES., Di sequenza in sequenza: Adalberte, Reichenau, Gniezno, in: Rene LEJEUNE und Joseph DECKERS (Hg.), Clio et son regard. Melanges offerts Ä Jacques Stiennon, Lüttich 1982, 189-198; Knut GÖRICH, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen. Überlegungen zu Heiligenverehrung, Heiligsprechung und Traditionsbildung, in: Gerd ALTHOFF und Ernst SCHUBERT (Hg.), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen, Vorträge und Forschungen 46, Sigmaringen 1998, 407^412; Johannes FRIED, Gnesen - Aachen - Rom. Otto III. und der Kult des hl. Adalbert. Beobachtungen zum älteren Adalbertsleben, in: BORGOLTE (Hg.), Polen (wie Anm. 13), 235-279. 34 Knut GÖRICH, Kaiser Otto III. und Aachen, in: WIECZOREK/HINZ (Hg.), Europas Mitte um 1000, S t u t t g a r t 2 0 0 0 , B d . 2, 7 8 6 - 7 9 1 .
35 HOLTZMANN (Hg.), Thietmari Merseburgensis episcopi Chronicon (wie Anm. 24), lib. 4, cap. 45, 182-184. Siehe Roman MICHAT-OWSKI, Adalbert, Sylvestre II et l'Eglise de Pologne, in: Flavio G. NUVOLONE (Hg.), Gerberto d'Aurillac da Abbate di Bobbio al Papa dell'Anno 1000. Atti del Congresso Internazionale Bobbio, Auditorium di S. Chiara, 2 8 - 3 0 settembre 2000, Archivum Bobbiense. Studia 4, B o b b i o 2001, 4 8 4 - 5 1 5 , bes. 5 0 4 - 5 1 3 .
Polen und E u r o p a u m das Jahr 1000
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von Q u e r f u r t b e r u f e n , d e r die M e i n u n g äußerte, dass seine eigene Missionsarbeit nur dank der Verdienste der M ä r t y r e r E r g e b n i s s e bringen k ö n n e / ' ' Für Otto III., der viele Ansichten seines F r e u n d e s Brun teilte, war die E v a n g e l i s i e r u n g d e r Heiden ein ü b e r g e o r d n e t e r A u f t r a g . U n t e r diesen U m s t ä n d e n schien das B e d ü r f n i s des Kaisers, d e m hl. Adalbert seine Ehre zu erweisen, o f f e n s i c h t l i c h zu sein. Der A u s d r u c k dieses Kults war das e i g e n h ä n d i g v o r g e n o m m e n e A n b r i n g e n der Reliquie auf d e m Altar sowie die G a b e n , die der M o n a r c h d e m M ä r t y r e r schenkte. U n t e r ihnen war ein w a h r h a f t königliches G e s c h e n k - die Errichtung des G n e s e n e r Erzbistums. Drittens schließlich w a r der hl. Adalbert aufs engste mit Polen und seinem H e r r s c h e r verb u n d e n . W i r haben bereits d a r ü b e r g e s p r o c h e n . Der Piastenherzog schien d e m n a c h gewisserm a ß e n d a f ü r prädestiniert zu sein, die E v a n g e l i s i e r u n g unter den Heiden zu betreiben, und unter den A r g u m e n t e n , die d a f ü r sprachen, war auch der U m s t a n d , dass die heiligen Reliquien nicht w o a n d e r s , sondern in Polen ihre letzte Ruhestätte f a n d e n . Für die d a m a l i g e n B e o b a c h t e r w a r es klar, dass dies der Wille des Märtyrers w a r . " Es besteht kein Z w e i f e l daran, dass B o l e s l a w C h r o b r y entschlossen war. die Pflichten eines „Mitarbeiters des Kaiserreichs", so wie sie im Jahre 1000 in G n e s e n umrissen w u r d e n , zu erfüllen.'* Noch w ä h r e n d der Herrschaft Ottos III. und mit seiner Hilfe holte er die J ü n g e r des hl. R o m u a l d in sein Land, d a m i t sie die Mission unter den Heiden führten. Es ist interessant, dass er die E r e m i t e n unweit der G r e n z e zu den Lutizen unterbrachte, h ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h sollten sie eben dieses V o l k evangelisieren. Und doch gehörten die g e n a n n t e n Gebiete nicht zur polnischen Kirche, sondern, z u m i n d e s t theoretisch, zur M a g d e b u r g e r Kirchenprovinz. N a c h d e m Heinrich II. den deutschen T h r o n bestiegen hatte, k a m es zu einem g r u n d l e g e n den W a n d e l . Die Z u s a m m e n a r b e i t z w i s c h e n Polen und D e u t s c h l a n d hörte auf und zwischen beiden Ländern entbrannte ein Krieg, der mit kurzen U n t e r b r e c h u n g e n über zehn Jahre dauerte.' 1 ' T r o t z d e m b e m ü h t e sich B o l e s l a w C h r o b r y weiterhin um die Evangelisierung, indem er Brun von Q u e r f u r t bei all seinen M i s s i o n s u n t e r n e h m e n unterstützte. M a n kann sogar sagen, er lebte in d e r Ü b e r z e u g u n g , dass er trotz der schlechten B e z i e h u n g e n mit d e m deutschen König weiterhin das A m t innehatte, das er in G n e s e n verliehen b e k a m und dass dieses A m t ihn sowie sein g a n z e s H a u s d a f ü r prädestinierte, eine h e r a u s r a g e n d e Rolle im Kaiserreich zu spielen. Im Jahre 1013 heiratete B o l e s l a w s Sohn, M i e s z k o . die kaiserliche Enkelin Richeza. 4 " A u s dieser E h e w u r d e 1016 Kasimir g e b o r e n , der auch einen zweiten N a m e n hatte - Karl. Bereits seit l a n g e m verweist m a n auf die Tatsache, dass dies ein s p r e c h e n d e r N a m e war. Boleslaw war wohl davon überzeugt, dass sein Enkel zu großen A u f g a b e n b e r u f e n war und stützte diese
36 Siehe A n m . 4. 37 Siehe A n m . 7. 38 Herbert LUDAT. An Elbe und O d e r um das J a h r 1000. Skizzen zur Politik des O t t o n e n r e i c h e s und der slavischen M ä c h t e in Mitteleuropa. Köln und W i e n 1971. 6 7 - 9 2 und passim. 39 Knut GÖRICH. Eine W e n d e im O s t e n ? Heinrich II. und B o l e s l a w C h r o b r y . in: S( HM IDNÜ I Ι Ι R/ WI.INI-URTI:R ( H g . ) . O t t o III. ( w i e A n m . 2 3 ) . 9 5 - 1 6 7 .
40 G e r a r d LABUDA. M i e s z k o II krol polski ( 1 0 2 5 - 1 0 3 4 ) . C z a s v p r z e l o m u w dziejach p a n s t w a polsk i e g o [Der polnische König M i e s z k o II. W e n d e z e i t e n in der G e s c h i c h t e d e s polnischen Staates 1. Polska A k a d e m i a Umiejqtnosci. R o z p r a w y W y d z i a l u H i s t o r y c z n o - F i l o z o l i c z n e g o 73. Krakau 1992. 2 9 - 4 0 .
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Überzeugung auf die kaiserliche Herkunft Kasimirs mütterlicherseits und die von ihm selbst bekleidete Würde, die der Enkel in Zukunft vererben sollte.41 Es scheint, dass Bolestaw Chrobry gegen Ende seines Lebens erneut die Rolle eines „Mitarbeiters des Kaiserreichs" zu spielen begann, in vollem Einverständnis mit dem Kaiser. Nach dem Frieden zu Bautzen griff er mit Hilfe der deutschen Truppen die Rus' an und eroberte Kiev. Von dort aus schickte er Gesandte zum byzantinischen Kaiser Basil II. und drohte ihm mit einem Gegenschlag, falls dieser nicht bereit wäre, ein treuer Freund zu sein. Die Information über diese Gesandtschaft verdanken wir Thietmar. Aus dem Kommentar, mit dem der Chronist dieses Ereignis versah, scheint hervorzugehen, dass Deutschland in hohem Maße an der weiteren Entwicklung des Geschehens interessiert war.42 Daraus folgt, dass der polnische Herzog eine Politik betrieb, die mit Heinrich II. abgesprochen war.43 Bei der Beurteilung der Politik von Boleslaw Chrobry sollte man jedoch das rechte Maß halten. Vor allem sollte man über ihn nicht so schreiben, als wäre er ein deutscher Adliger. Wir haben bereits erwähnt, dass Polen auf dem Wege der Eroberungen entstand: Die Piasten, eine Polanendynastie, unterwarfen mit Hilfe von Menschen und materiellen Mitteln, die der eigene Stamm lieferte, die im Oder- und Weichselgebiet angesiedelten Völker. Das Ergebnis war ein politischer Organismus, der keine einheitliche ethnische Grundlage hatte. Kein Wunder, dass man im 10. Jahrhundert für die Bezeichnung des neuen Staates und seiner Einwohner vor allem Termini benutzte, die sich auf die Abhängigkeitsbande und nicht auf die Stammes- oder die nationale Gemeinschaft bezogen. Die Autoren der Quellen schrieben also über den Staat des Mieszko, den Gnesener Staat oder über die Licicaviki, d.h. die Leute von Lestek. Der Durchbruch erfolgte erst um das Jahr 1000, als sich die ethnische Bezeichnung „die Polen" und die mit ihr verbundene Landesbezeichnung „Polen" zu verbreiten begannen. Sie existierten zwar bereits früher, ihre Bedeutung nahm jedoch um die Jahrtausendwende stark zu.44 Es reicht zu sagen, dass sie innerhalb einer kurzen Zeit andere Termini verdrängten, mit denen man bis zu diesem Zeitpunkt das Piastenreich und seine Einwohner bezeichnete. Wir würden darin das Ergebnis der bewussten Politik Boleslaw Chrobrys sehen. Sein Ziel war die Integration der Monarchie in die ethnische Gemeinschaft, die alle Einwohner des neu gegründeten Herzogtums umfasste, nicht nur die bodenständigen Polanen, an deren Stammesbewusstsein diese Gemeinschaft jedoch anknüpfen sollte. Höchst markant ist auch eine andere Tatsache. Boleslaw verlängerte in seinem Lande die Dauer der Fastenzeit um über zwei Wochen. In der lateinischen Kirche galt das Verbot,
41 Stanislaw KRTRZYNSKI, Karol Wielki i Boleslaw Chrobry, in: Przcglqd Historyczny 36, 1946, 1 9 - 2 5 ; LUDAT, A n E l b e ( w i e A n m . 3 8 ) , 8 5 - 9 2 .
42 HOLTZMANN (Hg.), Thietmari Merseburgensis episcopi Chronicon (wie Anm. 24), lib. 8, cap. 33, 530-532: Ad Greciam quoque sibiproximam nuncios misit [sc. Bolizlavus], qui eiusdem imperatori bona, si velletfidelis amicus haberi, promitterent; sin autem, hostem firmissimum ac invincibilem fieri intimaret. Inter haec omnia omnipotens Deus assistat medius et, quid sibi sit placitum et nobis proficuum, et nobis proficuum, clementer ostendat. 43 Siehe LUDAT, An Elbe (wie Anm. 38), 89; STRZELCZYK, Boleslaw (wie Anm. 1), 186-191. 44 Henryk LOWMIANSKI, Pocz^tki Polski [Die Anfänge Polens], Bd. 6, Teil 1, Warschau 1985, 21-23; Gerard LABUDA, Studia nad pocz^tkami pa stwa polskiego [Studien zu den Anfängen des polnischen Staates], Uniwersytet Adama Mickiewicza, seria Historia 140, Bd. 2, Posen 1988, 461-463. Zu den Ansichten Johannes FRIEDS über die Herkunft der Bezeichnung „Polen" siehe Anm. 29.
Polen und Europa um das Jahr 1000
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F l e i s c h zu v e r z e h r e n v o m A s c h e r m i t t w o c h an, in P o l e n h i n g e g e n v o n d e r S e p t u a g e s i m a an. E s g i b t G r ü n d e a n z u n e h m e n , d a s s d i e s e w i c h t i g e K o r r e k t u r n a c h d e m T r e f f e n in G n e s e n eing e f ü h r t w u r d e , j e d e n f a l l s v o r 1018. 4 5 D i e g e n a n n t e V e r s c h ä r f u n g galt bis 1248, als sie v o n d e m p ä p s t l i c h e n L e g a t e n J a c q u e s P a n t a l e o n a u f d e r B r e s l a u e r S y n o d e a u f g e h o b e n w u r d e . In d e r w e s t l i c h e n K i r c h e w u r d e seit d e n k a r o l i n g i s c h e n Z e i t e n die N o t w e n d i g k e i t e r w o g e n , die F a s t e n z e i t an d e r S e p t u a g e s i m a zu b e g i n n e n u n d u m d i e W e n d e d e s 10. z u m 11. J a h r h u n d e r t w u r d e d i e s e s P o s t u l a t v o r s i c h t i g e i n g e f ü h r t . In d e r V o r f a s t e n z e i t w u r d e es v e r b o t e n , E h e n zu s c h l i e ß e n s o w i e O r d a l i e n zu f ä l l e n u n d placita
saecularia
a b z u h a l t e n ( S y n o d e n in A a c h e n
9 9 2 . E n h a m 1009. S e l i g e n s t a d t 1023, B u r c h a r d s D e k r e t ) . M a n g i n g j e d o c h nicht s o weit, den V e r z e h r v o n F l e i s c h zu v e r b i e t e n . E s k a m n a t ü r l i c h vor, d a s s f r o m m e M e n s c h e n b e r e i t s an d e r S e p t u a g e s i m a a u f h ö r t e n F l e i s c h zu e s s e n (z.B. H e i n r i c h II.). D i e s resultierte j e d o c h aus ihrer p e r s ö n l i c h e n E n t s c h e i d u n g u n d w a r nicht d u r c h d a s k a n o n i s c h e R e c h t g e r e g e l t . W o f ü r sich K ö n i g e u n d B i s c h ö f e d e r w e s t l i c h e n L ä n d e r nicht e n t s c h i e d e n h a t t e n , d a f ü r e n t s c h i e d sich B o l e s l a w C h r o b r y : E r u n t e r s a g t e es, in d e r V o r f a s t e n z e i t F l e i s c h zu e s s e n u n d b e s t r a f t e d e n V e r s t o ß g e g e n d i e s e s V e r b o t mit b r u t a l e r H ä r t e . W a s w a r e n die U r s a c h e n d i e s e r Politik des polnischen Herrschers? E s d r ä n g e n sich z w e i A n t w o r t e n a u f . E r s t e n s k ö n n t e m a n m e i n e n , d a s s d i e s ein V e r s u c h w a r , d i e U n t e r t a n e n in ein V o l k z u s a m m e n z u s c h w e i ß e n . I n d e m d e r M o n a r c h d i e F a s t e n z e i t u m ü b e r z w e i W o c h e n v e r l ä n g e r t e , s c h u f e r ein E l e m e n t , d a s f ü r alle E i n w o h n e r d e s L a n d e s g e m e i n s a m w a r , u n a b h ä n g i g v o n ihrer S t a m m e s h e r k u n f t , u n d d a s sie g l e i c h z e i t i g v o n allen a n d e r e n N a t i o n e n u n t e r s c h i e d , ein E l e m e n t , d i e s sei h i n z u g e f ü g t , d a s r e l i g i ö s e n C h a r a k t e r hatte, a l s o im S t a n d e w a r , p o s i t i v e E m o t i o n e n b r e i t e r B e v ö l k e r u n g s k r e i s e u m sich zu vere i n e n . V o n d i e s e m M o m e n t an e r s c h i e n d i e e i g e n e n a t i o n a l e G e m e i n s c h a f t d e n a n d e r e n ü b e r l e g e n u n d g o t t g e f ä l l i g e r . E i n e a n d e r e I n t e r p r e t a t i o n , d i e mit d e r v o r h e r g e h e n d e n nicht im W i d e r s p r u c h steht, ist w a h r s c h e i n l i c h a u c h m ö g l i c h . Die V e r l ä n g e r u n g d e r F a s t e n z e i t w a r eine M a ß n a h m e , mit d e r e n H i l f e B o l e s l a w C h r o b r y m a n i f e s t i e r t e , w a s f ü r ein e i f r i g e r c h r i s t l i c h e r H e r r s c h e r e r w a r . D i e s sollte m a n m ö g l i c h e r w e i s e im K o n t e x t d e r p o l n i s c h - d e u t s c h e n B e z i e h u n g e n a u s l e g e n . D e r H e r r s c h e r P o l e n s vertrat k o n s e q u e n t d e n S t a n d p u n k t , d a s s e r w e i t e r h i n . . M i t a r b e i t e r d e s K a i s e r r e i c h s " w a r . u n g e a c h t e t d e s K r i e g e s , d e n i h m H e i n r i c h II. erklärt hatte. I n d e m er e i n e w i c h t i g e K o r r e k t u r d e s k a n o n i s c h e n R e c h t s v o r n a h m , d e r e n Ziel e i n e g r ö ß e r e L i e b e zu G o t t w a r , b e w i e s d e r H e r z o g , d a s s e r d i e i h m v o n O t t o III. a n v e r t r a u t e n Verpflichtungen erfüllte. D i e d a r g e s t e l l t e n T a t s a c h e n e r m ö g l i c h e n es. sich ein Bild v o n B o l e s l a w zu m a c h e n als e i n e m H e r r s c h e r , d e r e i n e r s e i t s mit d e n D e u t s c h e n e n g z u s a m m e n a r b e i t e n w o l l t e u n d sich a n d e r e r s e i t s g l e i c h z e i t i g d e u t l i c h v o n i h n e n d i s t a n z i e r t e . Er w a r b e m ü h t , s e i n e H e r r s c h a f t auf e t h n i s c h e G r u n d l a g e n zu s t ü t z e n , w o b e i d a s ethnos.
an d a s er a n k n ü p f t e , n i c h t s mit ir-
g e n d e i n e m d e u t s c h e n S t a m m g e m e i n s a m hatte. M a r k a n t ist e b e n f a l l s ein a n d e r e r U m s t a n d . B o l e s l a w n a h m e i n e s e l b s t ä n d i g e S t e l l u n g ein im H i n b l i c k auf d i e k i r c h l i c h e G e s e t z g e b u n g , o h n e H e i n r i c h II. u n d s e i n e B i s c h ö f e zu b e r ü c k s i c h t i g e n . W e n n er sich bei d e r V e r l ä n g e r u n g
45 Roman MICHALOWSKI. Post dziewiQciotygodniowy W Polsce Chrobrego. Studium Ζ dziejow polityki religijnej pierwszych Piastow [Das neunwöchige Fasten im Polen Boleslaw Chorbrys. Eine Untersuchung zur Geschichte der Religionspolitik der ersten Piasten], in: Kwartalnik Historyczny 109 (2002). 5 - 4 0 .
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der Fastenzeit der Vollmachten eines „Mitarbeiters des Kaiserreichs" bediente, bedeutet das, er war der Ansicht, dieses Amt berechtigte ihn dazu, eine kirchliche und religiöse Politik zu führen, unabhängig vom deutschen König. Nun ist es Zeit für eine Zusammenfassung. Das im 10. Jahrhundert entstandene Polen kam sehr schnell mit der Außenwelt in Kontakt. Es hatte einen wichtigen Trumpf in der Hand seine Militärmacht. Eine Ambition der polnischen Herrscher war es, an den Angelegenheiten der damaligen Welt teilzunehmen, und dabei gleiche Rechte zu haben. Sie wollten einen wichtigen und allgemein angesehenen Platz in dieser Welt einnehmen. Besonders die politische Konjunktur, die sich in der Herrschaftszeit Ottos III. verbreitete, erleichterte dieses Vorhaben. Von Kaisers Gnaden bekleidete Bolesiaw Chrobry ein hohes, auf sein Format zugeschnittenes Amt, dessen Hauptaufgabe die Verbreitung des Christentums war. Der Piastenherrscher identifizierte sich völlig mit dieser neuen Würde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er sich mit seinem Land im Kaiserreich „auflösen" wollte. Im Gegenteil, sein Ziel war, eine andere Stellung einzunehmen, die jedoch der Idee des Kaiserreiches irgendwie Untertan wäre.
Anhang: Zur Glaubwürdigkeit des Berichts von Gallus Anonymus über das Treffen in Gnesen Als wir über die Rolle schrieben, die Otto III. Bolesiaw auf dem Gnesener Treffen zuerkannte, beriefen wir uns auf das Zeugnis des Gallus Anonymus. Wir fühlen uns daher verpflichtet, die Ansicht zu begründen, dass dieses Zeugnis in dem Umfang, in dem wir uns seiner bedienten, völlig glaubwürdig ist. Die Notwendigkeit einer solchen Begründung ist dringend angesichts der neulich veröffentlichten Arbeit von Gerd Althoff. 46 Dieser verwies auf den Umstand, dass Gallus Anonymus in den Textstellen, die sich auf das Treffen in Gnesen und auf die Herrschaft Bolesiaw Chrobrys beziehen, Tatsachen erwähnt, die sicherlich nicht stattgefunden haben. Laut dem Inhalt der Chronik schenkte der polnische Herrscher dem Kaiser alle Gefäße, die während des dreitägigen Festmahls benutzt wurden und die ausschließlich aus Edelmetall waren. Überdies ließ er alle Teppiche, die die Wände zierten sowie die Tischdecken und Handtücher, die man benutzte wie auch unzählige andere Stoffe in sein Gemach bringen. Mehr noch, der Imperator wurde mit wunderbaren Kostbarkeiten beschenkt. Es fällt schwer, an die Richtigkeit dieser Beschreibung zu glauben. Erstens weil sie mit der Information im Widerspruch steht, die in den „Annales Quedlinburgenses" angegeben ist, nach der Otto III. keine Geschenke in Polen annehmen wollte, da er, wie er sagte, nicht gekommen sei, um zu nehmen, sondern um zu geben. Zweitens war es damals üblich, dass eine höher stehende Person einer niedriger stehenden Person wertvollere Geschenke überreichte, als die, die sie von ihr bekam. Wenn Bolesiaw also tatsächlich so gehandelt hätte, wie das Gallus Anonymus beschrieb, dann wäre es eine grobe Taktlosigkeit gewesen, um nicht zu sagen - ein Affront. Es gibt jedoch mehrere solche unwahrscheinlichen Geschichten in den besprochenen Textstellen der Chronik. Was kann man beispielsweise über die Beschreibung der
46 Gerd A l t h o f f , Symbolische Kommunikation zwischen Piasten und Ottonen, in: B o r g o l t e (Hg.), Polen (wie Anm. 13), 293-308.
P o l e n und E u r o p a u m d a s J a h r 1000
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unzähligen Reichtümer sagen, durch die Boleslaws Hof angeblich bekannt war? Wir erfahren z.B., dass die Hofdamen so viele Schmuckstücke trugen, dass sie nicht im Stande gewesen wären, sich fortzubewegen, wenn man sie nicht gestützt hätte. Gerd Althoff fasst seine Erwägungen folgendermaßen zusammen: „Wenn der Autor [d.h. Gallus Anonymus] - oder auch bereits die orale Tradition, aus der er schöpfte - Teile der Vorgänge in Gnesen und aus der Zeit Boleslaws so verformt hat, daß sie sehr anekdotischunterhaltsame. wenn nicht groteske Züge aufweisen, dürfte es schwer fallen, andere Teile seiner Geschichten wörtlich zu nehmen und zur Rekonstruktion des realen Geschehens in Gnesen zu verwenden, zumal in diesen Teilen ja auch von durchaus ungewöhnlichen Dingen die Rede ist." 47 Es ist nicht sicher zu behaupten, dass Gallus Anonymus bewusst nach komischen Effekten suchte oder sich sogar der Groteske bediente, als er über Boleslaw Chrobry schrieb. Die besprochene Chronik ist eine sehr ernstzunehmende politische Schrift. Im Jahre 1111 blendete Boleslaw III. Schiefmund seinen Bruder Zbigniew und verstieß somit er gegen den feierlich abgelegten Eid, dessen persönliche Sicherheit zu gewährleisten. Diese Ereignisse erschütterten den Thron. Der Herrscher wurde höchstwahrscheinlich exkommuniziert, jedenfalls fühlte er sich gezwungen, einen Bußgang nach Somogyvär in Ungarn zum hl. Ägidius. seinem Patron, und dann nach Gnesen zum hl. Adalbert vorzunehmen. Unter diesen Umständen bestellten die höfischen Kreise bei einem ausländischen Mönch, der Gallus Anonymus genannt wurde, eine Chronik, die eine Apologie des Herzogs sein sollte. Gemäß dem Wunsch der Auftraggeber war der Verfasser bemüht, in ihr zu beweisen, dass Boleslaw Schiefmund ein idealer Herrscher gewesen sei und dass die Polen nicht nur eine gottlose Tat begangen hätten, sondern auch das Land in die Katastrophe geführt hätten, wenn sie ihn vom Thron gestoßen hätten. In dieser Apologie gibt es viele Motive. Der Verfasser benutzt diverse Argumente, um den Leser zu überzeugen. Die Schlüsselrolle spielt dabei Boleslaw Chrobry. Seine Herrschaft wurde von dem Geschichtsschreiber als das „goldene Zeitalter", aetas aurea4S, bezeichnet. Mit dem Tode des Königs trat jedoch das „bleierne Zeitalter" ein. Die wichtigste Feststellung, die der Geschichtsschreiber formuliert, ist, dass Boleslaw III. Polen wieder auf einen solchen Stand bringen würde, auf welchem sich das Land früher, d.h. unter der Herrschaft Boleslaw I. befunden hatte. 49 Darauf ist die Notwendigkeit der Monumentalisierung der Herrschaft Boleslaw Chrobrys zurückzuführen. Es ist wahr, dass diese Monumentalisierung an einigen Stellen komische Effekte erzeugt, zumindest nach unserem Empfinden, die aber wohl nicht beabsichtigt waren. Sie resultieren eher aus dem Übereifer des Verfassers. Man findet solche komischen Effekte auch in den Textstellen des Werks, die Boleslaw Schiefmund gewidmet waren, und zwar in den Fragmenten, in denen der Geschichtsschreiber sichtlich bemüht war. den erwähnten Nachkommen Boleslaw Chrobrys möglichst gehoben darzustellen. 5 " Waren
4 7 ALTHOFF. S y m b o l i s c h e K o m m u n i k a t i o n ( w i e A n m . 4 6 ) . 307. 4 8 MALECZYNSKI ( H g . ) . Galli A n o n y m i C h r o n i c a e ( w i e A n m . 2 6 ) . lib. 1, c a p . 16. 37. 4 9 R o m a n MICHALOWSKI, R e s t a u r a t i o P o l o n i a e d a n s l ' i d e o l o g i e d y n a s t i q u e d e G a l l u s A n o n y m u s , iri: Acta Poloniae Historica
52 (1985), 5^3.
5 0 S i e h e z.B. MALECZYNSKI (Hg.), Galli A n o n y m i C h r o n i c a e ( w i e A n m . 26). lib. 2. c a p . 86-87.
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wir, die Menschen, die um die Wende des 20. zum 21. Jahrhunderts leben, nicht ebenfalls Zeugen politischer Propaganda, die so aufdringlich und so gedankenlos war, dass sie ans Groteske grenzte? In einem wesentlichen Punkt hat Gerd Althoff allerdings Recht. Eine so sehr ä these geschriebene Chronik muss Tatsachen verformt haben, und wenn wir auf ihrer Grundlage über das Treffen in Gnesen schreiben wollen, dann dürfen wir das nicht vergessen. Man muss jedoch auch im Auge behalten, dass Gallus Anonymus auf die Ereignisse in Gnesen aus einer über hundertjährigen Perspektive blickte. Seine Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht hing also von der Glaubwürdigkeit seiner Informanten ab. Wenn sich der Geschichtsschreiber lediglich der oralen Tradition bedient hätte, könnten wir das Werk für eine eher unwichtige Quelle halten. Als der Autor jedoch über das Treffen in Gnesen schrieb, hatte er einen Text vor sich, was man leicht beweisen kann. Vor allem berief er sich selbst auf den Liber de passione [Adalberti] martyris als eine Quelle, die über die Pilgerreise Ottos III. zur Grabstätte des hl. Adalberts informierte, und wir haben Beweise dafür, dass er sich dieser Quelle bediente.51 In der Beschreibung der Vorgänge kommt die Phraseologie zum Ausdruck, die für die Atmosphäre um das Jahr 1000 charakteristisch war, die an die Idee der Renovatio Imperii Romanorum anknüpfte. Es kommen also solche Formulierungen vor wie populi Romani amicus et socius oder cooperator Imperii. Überdies ist die Schreibweise in den Kapiteln, die den Aufenthalt des Kaisers in Polen betreffen, anders, als in den übrigen Textstellen. Im Grunde genommen hatte Gallus Anonymus über diesen König wenig Konkretes zu sagen. Er nutzte Verallgemeinerungen oder schrieb über Bräuche, nennt aber fast überhaupt keine Einzelheiten. Er schrieb zwar darüber, welche Länder der König Polens besiegte und wo er die Grenzen des Königreiches festlegte, allerdings kein Wort über die Chronologie dieser Ereignisse oder darüber, welche Herrscher in welchen Schlachten besiegt wurden. Er wusste auch nichts über die Kriege, die der Hauptheld seiner Chronik gegen Heinrich II. führte. Mit Genugtuung stellte der Geschichtsschreiber fest, dass Bolesiaw Chrobry heidnische Länder bekehrte und dort mit der Zustimmung des Papstes Bischöfe ernannte, aber der Leser erfährt nichts darüber, wo diese Bischöfe residierten, wer sie waren und wie der Papst hieß. Anders ist es im Falle des Treffens in Gnesen. Hier nannte er viele Einzelheiten. Es unterliegt keinem Zweifel, dass er diese Details aus einer geschriebenen Quelle schöpfte. Wir haben das Recht anzunehmen, dass der Autor dieser Quelle unter der Herrschaft Boleslaw Chrobrys schrieb und dass er gut informiert war. Bestimmt kannte er die Lebensbeschreibung des hl. Adalberts, die nicht bis in unsere Zeit erhalten blieb.52 Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir das Liber de passione [Adalberti] martyris vor uns haben, wenn wir die Chronik des Gallus lesen. Der Geschichtsschreiber aus dem 12. Jahrhundert schrieb sicher nicht alles aus seiner Vorlage ab, wie er sogar selbst feststellt. Man muss auch damit rechnen, dass er manche Fakten neu interpretierte, indem er sich nach der Ideologie richtete, die er verkündete, oder weil er die in fernen Zeiten liegenden Ereignisse nicht verstand. 5 1 LABUDA, S t u d i a ( w i e A n m . 2 5 ) , 4 2 - 5 2 .
52 Über dieses Leben u.a. WENSKUS, Studien (wie Anm. 1), 202-246; Henryk FROS, Wczesne zywoty sw. Wojciecha [Zum frühen Leben des hl. Adalbert], in: Antoni BARCIAK (Hg.), Srodkowoeuropejskie dziedzictwo sw. Wojciecha. Internationale wissenschaftliche Konferenz, Kattowitz 1998, 104-106; Johannes FRIED, Gnesen - Aachen - Rom. Otto III. und der Kult des hl. Adalbert. Beobachtungen zum älteren Adalbertsleben, in: BORGOLTE (Hg.), Polen (wie Anm. 13), 235-279. FRIED, Gnesen (wie Anm. 33), 268-272.
Polen und E u r o p a u m das Jahr 1000
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G e r d A l t h o f f verwies in einer f r ü h e r e n Arbeit auf ein b e l e h r e n d e s Beispiel. 5 ' Gallus A n o n y m u s stellte, wie bekannt, die B e h a u p t u n g auf, dass der Kaiser den polnischen H e r z o g z u m K ö n i g krönte und schilderte die S z e n e der K r ö n u n g . D a s wichtigste F r a g m e n t lautet f o l g e n d e r m a ß e n : Cuius fsc. Bolezlaui] gloriam et potential» et divitias imperator Romamts
considerans, admirando dixit: Per coronain imperii mei, maiora sunt que video, quam fama percepi. Suorumque consultu magnatum coram omnibus adiecit: non est dignum tantum ac vi rum talem sicut unum de principibus ducem aut comitem nominari, sed in regale solium glorianter redimitum diademate sublimari. Et accipiens imperiale diadema capitis sui. capiti Bolezlaui in amicitie fedus inposuit | . . . ] / ' D e r Leser hat das Recht, sich zu w u n d e r n . A u s d e m letzten Satz geht hervor, dass das A u f s e t z e n der K r o n e auf B o l e s l a w s S c h l ä f e n ein Z e i c h e n der F r e u n d s c h a f t s s c h l i e ß u n g w a r und nicht der E r h e b u n g des P o l e n h e r z o g s in den Königsrang, w o v o n im v o r h e r g e h e n d e n Satz die R e d e war. Wir haben es hier mit einem W i d e r s p r u c h zu tun, der wahrscheinlich die F o l g e einer irrtümlichen Interpretation eines früheren T e x t e s war. M a n kann sich f o l g e n d e Situation vorstellen: In der V o r l a g e ist die R e d e von d e m A u f s e t z e n der Krone, das j e d o c h nicht die königliche K r ö n u n g bedeutete, sondern ein Teil des Ritus der F r e u n d s c h a f t s s c h l i e ß u n g war. Gallus A n o n y m u s legte das j e d o c h anders aus. Er wusste aus der Tradition, dass Boleslaw C h r o b r y ein König war, da er aber die deutschen A n n a l e n nicht kannte, w u s s t e er nicht, d a s s die K r ö n u n g erst im Jahre 1025 erfolgte, w o r ü b e r die polnischen A n n a l e n s c h w e i g e n . Als er dann im Uber de passione [Adalbert!I martxris den entsprechenden Satz las, meinte er. dass der polnische M o n a r c h eben w ä h r e n d des T r e f f e n s in G n e s e n die K ö n i g s w ü r d e verliehen b e k a m . Dies tat er u m s o williger, als er auf diese W e i s e das Problem gelöst sah. w a n n und unter welchen U m s t ä n d e n die K r ö n u n g stattfand. Ein Historiker, der sich mit d e m T r e f f e n in G n e s e n befasst, befindet sich d e m n a c h in einer schwierigen Lage. Er kann das Z e u g n i s von Gallus nicht außer Acht lassen, da der Chronist Z u g a n g zu g l a u b w ü r d i g e n I n f o r m a t i o n e n hatte und sie in einem s c h w e r festzustellenden U m f a n g benutzte. Andererseits darf der F o r s c h e r nicht alles, w a s der G e s c h i c h t s s c h r e i b e r angibt, unkritisch a n n e h m e n . Es kann aber keinen Z w e i f e l daran geben, dass vieles aus Gallus" B e s c h r e i b u n g des T r e f f e n s in G n e s e n trotz des größten Kritizismus noch zu retten ist. Aus d e m e r w ä h n t e n T e x t erfahren wir einerseits z.B.. dass Otto III. B o l e s l a w C h r o b r y die heilige L a n z e schenkte. In den S a m m l u n g e n des W a w e l - D o m e s befindet sich tatsächlich eine Lanze, die der. die in der W i e n e r H o f b u r g a u f b e w a h r t wird, sehr ähnlich ist. 55 Es ist b e s t i m m t eine N a c h a h m u n g , o b w o h l eine recht misslungene. Die älteste I n f o r m a t i o n über das K r a k a u e r E x e m p l a r s t a m m t aus einer Quelle aus d e m 13. Jahrhundert. D a m a l s galt die K r a k a u e r Lanze als eine uralte polnische königliche Insignie. Die von Gallus übermittelte I n f o r m a t i o n findet also ihre Bestätigung im Lichte anderer Quellen, allerdings mit der Korrektur, dass der Kaiser den polnischen H e r z o g nicht mit d e m Original der heiligen L a n z e b e s c h e n k t e , sondern mit einer Kopie. Ein anderes, e i n f a c h e r e s Beispiel: N a c h d e m G e s c h i c h t s s c h r e i b e r schenkte Boleslaw C h r o b r y Otto III. den A r m des hl. Adalberts. Die W a h r h a f t i g k e i t dieser Ansicht weckt nicht die geringsten Vorbehalte. Dass Otto III. eine Handreliquie aus Polen mitgebracht
53 ALTHOFF. O t t o III. (wie A n m . 23). 144. 54 MALECZYNSKI (Hg.). Galli A n o n y m i C h r o n i c a e (wie A n m . 26). lib. 1. cap. 16. 19. 55 M i e c z y s t a w ROKOSZ. W a w e l s k a w l o c z n i a B o l e s l a w a C h r o b r e g o [Die Lanze Boleslaw C h r o b r y s im W a w e l | . in: R o c z n i k K r a k o w s k i 55 (1989). 1 7 - 4 4 .
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habe, gibt eine unabhängige italienische Quelle aus dem 11. Jahrhundert an56, außerdem werden die sterblichen Überreste des Märtyrers seit jeher in Kirchen verehrt, die von dem erwähnten Kaiser gestiftet wurden, wie z.B. auf der Isola Tiberina in Rom. 57 Im Kontext des vorliegenden Vortrags ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Information, nach der der polnische Herrscher in Gnesen „Mitarbeiter des Kaiserreichs» wurde, von besonderer Bedeutung. Darüber berichtet zwar keine andere Quelle, dennoch sollte man die genannte Tatsache als sicher ansehen. Den Titel cooperator imperii kann man, wie wir bereits erwähnten, nur erklären, wenn man sich auf die von Otto III. vertretene Ideologie beruft, und konkret, auf seine apostolische Würde, die ihre Widerspiegelung in dem Titel servus Iesu Christi fand. Dieser Kontext war nur für den Kaiser und einen engen Kreis seiner Mitarbeiter verständlich. Der Vorstellungskraft des Gallus Anonymus war er völlig unzugänglich, da der Autor seine Chronik hundert Jahre später verfasste. Für unseren Geschichtsschreiber war dies wahrhaftig eine lectio difficillissima.
56 Michele MASTROCOLA (Hg.), Inventio atque translatio sanctorum Abundii et Abundantii ex Codice Ariananiensi descripta, in: DERS., Note storiche circa le diocesi di Civita C., Orte e Gallese, Collana storica „Pian Paradiso". Studi della Chiesa nell'Alto Lazio 1, Civita C. 1964, 250. 57 Casimire da ROMA, Memorie istoriche delle Chiese, e dei Conventi dei frati Minori della Provincia Romana, Rom 1764 [tatsächlich 1744], 2 6 4 - 3 3 2 , bes. 297-307.
Das Kiever Reich in Europa um das Jahr 1000 Ludwig Steindorff
Folgt man d e r altrussischen „Povest" v r e m e n n y c h let", d e r am A n f a n g des 12. J a h r h u n d e r t s z u s a m m e n g e s t e l l t e n „ E r z ä h l u n g von den v e r g a n g e n e n J a h r e n " , auch N e s t o r - C h r o n i k g e n a n n t ' , so trafen im Jahre 9 8 6 b e i m Kiever Fürsten V l a d i m i r vier G e s a n d t s c h a f t e n ein. die f ü r den Übertritt von der Gentilreligion zur Universalreligion w a r b e n : Die W o l g a b u l g a r e n 2 stellten den Islam vor: die „ D e u t s c h e n " , laut Text vom Papst entsandt, sprachen f ü r die W e s t k i r c h e . Die C h a z a r e n ' vertraten das J u d e n t u m . Die Griechen beauftragten einen Philosophen, der erst die S c h w ä c h e n der anderen L e h r e n erläuterte, dann die christliche Heilsgeschichte erzählte und eine Darstellung des J ü n g s t e n Gerichts zeigte. A b s c h l i e ß e n d sagte er: ...Wenn du mit den G e r e c h t e n auf der rechten Seite willst zu stehen k o m m e n , so lass dich taufen!" V o l o d i m e r aber ließ es ruhen in seinem Herzen und sagte: .Ich warte noch ein w e n i g ' , da er n a c h f o r s c h e n wollte über alle Religionen." 1 " Im F o l g e j a h r bildete V l a d i m i r der C h r o n i k zufolge auf Anraten seiner Bojaren eine G e s a n d t s c h a f t von zehn M ä n n e r n , die er zuerst zu den W o l g a b u l g a r e n schickte, damit sie sich v o m islamischen G l a u b e n eine A n s c h a u u n g v e r s c h a f f t e n . Sie kehrten ernüchtert zurück.
1 Die N e s t o r c h r o n i k . Die altrussische C h r o n i k , zugeschrieben d e m M ö n c h des Kiever H ö h l e n k l o s t e r s Nestor, übers, von Ludolf MÜLLKR. H a n d b u c h zur N e s t o r c h r o n i k 4. M ü n c h e n 2001. V I I - X X (Einleitung zur Ü b e r s e t z u n g ) : z u s a m m e n f a s s e n d zur f r ü h e n russischen Chronistik G e r h a r d PODSKAI.SKY. Christentum und theologische Literatur in der Kiever R u s ' ( 9 8 8 - 1 2 3 7 ) . München 1982. 2 0 2 - 2 1 5 . 2 V o m T u r k v o l k der Bulgaren ließ sich ein Z w e i g am E n d e des 7. J a h r h u n d e r t südlich der D o n a u nieder und w u r d e hier bald sprachlich slavisiert. Ein anderer Z w e i g gelangte w a h r s c h e i n l i c h in der ersten H ä l f t e des 8. J a h r h u n d e r t s an die mittlere W o l g a . R e i c h s b i l d u n g und A n n a h m e des Islam e r f o l g t e n am A n f a n g des 10. Jahrhunderts. Das Reich fiel 1236 d e m M o n g o l e n s t u r m z u m O p f e r . Vgl. Istvän ZIMONYI. W o l g a b u l g a r e n , in: L e x i k o n des Mittelalters 9 (1998). 3 1 5 - 3 1 7 : S i m o n FRANKLIN und Jonathan SHKPARD. T h e E m e r g e n c e of R u s 7 5 0 - 1 2 0 0 . L o n d o n und N e w York 1996. 6 5 - 6 6 . 3 Die R e i c h s b i l d u n g des T u r k v o l k e s der C h a z a r e n an der unteren W o l g a erfolgte im 8. JahrhundertIhr Khaganat erlebte seine wirtschaftliche Blütezeit im 9. und 10. Jahrhundert. Die O b e r s c h i c h t b e k a n n t e sich w a h r s c h e i n l i c h seit d e m E n d e des 9. J a h r h u n d e r t z u m J u d e n t u m . Das C h a z a r e n r e i c h . das unter d e m A n g r i f f des Kiever Fürsten S v j a t o s l a v . des Vaters V l a d i m i r s . 965 s c h w e r gelitten hatte, war zu der Zeit, als die G e s a n d t s c h a f t (angeblich) erfolgte, schon weitgehend verfallen. Vgl. z u s a m m e n f a s s e n d Dieter LUDWIG. C h a z a r e n . in: L e x i k o n des Mittelalters 2 (1983). 1 7 8 3 - 1 7 8 8 : FRANKI.IN/SHKPARD. T h e E m e r g e n c e of Rus ( w i e A n m . 2).
95-96.
4 Povest" vremennych let. hg. von D. S. I . i r n \ι ι \ . Bd. 1. Moskau und Leningrad 1950. 74: Ü b e r s e t z u n g : Die Nestorchronik (wie A n m . 1). 131. Die Ü b e r s e t z u n g von Müller folgt auf weite Strecken fast wortgleich der älteren Ü b e r s e t z u n g von R e i n h o l d TRAUTMANN. Die altrussische Nestorchronik. Povest' vremennych let. Slavisch-Baltische Quellen und Forschungen 4. Leipzig 1931.
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Auf einer weiteren Reise begaben sie sich erst zu den Deutschen und dann ins Byzantinische Reich nach Konstantinopel; hier wurden sie feierlich von Kaiser und Patriarch empfangen. Nach ihrer Rückkehr stellten sie in einem zusammenfassenden Bericht über ihre Reisen den Islam noch einmal in karikierend negativem Lichte dar und fassten zusammen: „Nicht gut ist ihr Gesetz". Bei den Deutschen hätten sie im Gottesdienst „keinerlei Schönheit" gesehen. „Und so kamen wir zu den Griechen, und sie führten uns dahin, wo sie ihrem Gott dienen, und wir wissen nicht: Sind wir im Himmel gewesen oder auf der Erde; denn auf Erden gibt es einen solchen Anblick nicht oder eine solche Schönheit; und wir vermögen es nicht zu beschreiben. Nur das wissen wir, dass dort Gott bei den Menschen weilt. Und ihr Gottesdienst ist besser als [der] aller anderen [fremden] Länder. Wir aber können jene Schönheit nicht vergessen; denn jeder Mensch, wenn er von Süßem gekostet hat, nimmt danach Bitteres nicht an. 5 " Es ist nicht entscheidend, dass die Erzählung in dieser Form mit Sicherheit auf literarischer Gestaltung beruht. 6 Allerdings brauchen wir insofern in ihr keine reine Fiktion zu sehen, als dass sie sich den Ausführungen von Aleksandr Nazarenko zufolge als Reflex diplomatischer Kontakte des Kiever Reiches in alle genannten Richtungen erweist. 7 Es bestanden Kenntnisse über die religiöse Praxis aller vier Herrschaftsräume; zudem ist die Anwesenheit von Anhängern von Islam und Judentum in Kiev nachgewiesen. 8 Für die weiteren Ausführungen ist auch nicht von Belang, ob damals eine reale Chance bestand, Vladimir könnte sich dem Islam oder dem Judentum zuwenden. Für uns ist nur bedeutsam, dass die Integration in den orbis christianus mit der Notwendigkeit zur Wahl zwischen zwei konkurrierenden Polen verbunden war, nämlich Byzanz und der Westkirche. Bei den Christianisierungsprozessen im östlichen Europa treffen wir zudem vielfach auf eine gewisse Konkurrenzbefindlichkeit von Papsttum und Reich, wie sie im Falle Mährens, Kroatiens, Ungarns und Polens zum Tragen kam. Unter dem Aspekt europäischer Gemeinsamkeit kann man gewiss Arnold Angenendt zustimmen: „Erst die Missionierung, die von der Taufe Chlodwigs bis zur Christianisierung der baltischen Völker im 15. Jahrhundert tausend Jahre in Anspruch nahm, hat jenen inneren Verbund herbeigeführt, der Europa ausmacht. 9 " Aber mit dem Abschluss der Christianisierung war auch die konfessionelle Zweiteilung Europas vollendet 10 , sowohl bezogen auf die kirch-
5 Povest' vremennych let (wie Anm. 4), 75; Übersetzung: Die Nestorchronik (wie Anm. 1), 133-134. 6 Im Übrigen bietet der arabische Geograph al-MarwazI eine ähnliche umgekehrte Erzählung. Vladimir habe sich, enttäuscht vom bereits angenommenen Christentum, dem muslimischen Herrscher von Chorezmien zugewandt. Vgl. Hansgerd GÖCKENJAN und Istvän ZIMONYI, Orientalische Berichte über die Völker Osteuropas und Zentralasiens im Mittelalter. Die Gayhäni-Tradition, Veröffentlichungen der Societas Uralo-altaica 54, Wiesbaden 2001, 253 f. 7 Aleksandr V. NAZARENKO, Drevnjaja Rus' na mezdunarodnych putjach. Mezdisciplinarnye ocerki kul'turnych, torgovych, politiceskich svjazej IX-XII vekov [Die alte Rus' auf internationalen Reisen. Interdisziplinäre Essays zu den kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen vom 9 . 12. Jahrhundert], Moskau 2001, 391^*34. 8 FRANKLIN/SHEPARD, T h e E m e r g e n c e of R u s ( w i e A n m . 2), 160.
9 Arnold ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 2. Aufl., Darmstadt 2000, 27. 10 Dass hieraus bald innerhalb des Christentums eine Dreiteilung werden sollte und dass Judentum und Islam ebenso zur Ausbildung der modernen europäischen Identität beigetragen haben, sei hier nicht weiter ausgeführt.
Das Kiever Reich in Europa um das Jahr 1000
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liehen Hierarchien als auch in gegenseitiger Fremdheit. Diese Ambivalenz zwischen Gemeinsamkeit und Abgrenzung ist auch schon fassbar bei der Beschäftigung mit dem „Kiever Reich in Europa um das Jahr 1000", also in der Zeitschicht, als das Kiever Reich ungefähr zeitgleich mit Polen und Ungarn gerade das Christentum angenommen hatte und als laut dem Annalisten Lampert von Hersfeld bereits 973 Gesandte der Rusci am Quedlinburger Hoftag teilgenommen hatten." Die Diskussion um die Ethnogenese der Rus' und die Kiever Reichsbildung wird in vielen Einzelheiten immer noch kontrovers geführt. Aber in großen Linien ist doch eine communis opinio erkennbar: Seit dem 7. Jahrhundert bildeten sich ostslavische Stammesherrschaften aus, doch eine großräumige Herrschaftsbildung erfolgte erst seit der Präsenz von Warägern im Zusammenhang mit der normannischen Expansion von Skandinavien aus. Der Volksname Rus', bald auch als Landesname dienend, ist wahrscheinlich skandinavischen Ursprungs. Dass sich der Name, über das Finnische vermittelt, ursprünglich auf skandinavisch *rödR. ,Ruderer", bezieht, ist auch ohne sichere Nachweisbarkeit durchaus plausibel. An der Ethnogenese der Kiever Rus', wie wir sie im 9. und 10. Jahrhundert verfolgen können, waren Ostslaven und Waräger beteiligt. Letztere wurden sprachlich schnell slavisiert. Am „Weg von den Warägern zu den Griechen" nach den Worten der Nestor-Chronik, also entlang der Flüsse von der Ostsee bis ins Schwarze Meer, wurden feste Plätze als Burgstädte und Fürstensitze ausgebaut 12 , unter ihnen Novgorod, Smolensk und Kiev. 13 Entlang dieser Achse entwickelte sich der Herrschaftsraum der Kiever Rus". Schon früh finden wir Nachrichten von der Rus' auch in westlichen Quellen. Wie die Annales Bertiniani unter dem Jahr 839 erzählen, waren „Männer der Rhos" von ihrem Herrscher nach Konstantinopel entsandt worden und kamen nun, da ihnen aus nicht näher bekannten Gründen von Konstantinopel aus der direkte Rückweg in ihre Heimat versperrt war. im Gefolge einer byzantinischen Gesandtschaft zu Ludwig dem Frommen nach Ingelheim. Hier erkannte man in ihnen Schweden. Kaiser Theophylos bat in einem Begleitschreiben. Ludwig der Fromme möge den Männern die Reise durch sein Reich gestatten. 14 Ob es sich bei den in der Raffelstettener Zollordnung von 903/5 erwähnten Händlern der Rugi um auf der Donau reisende Leute aus der Rus' handelt oder ob damit in archaisierender Weise nach dem germanischen Stamm der Rugier benannte Händler aus Böhmen gemeint sind, bleibt umstritten. 15 1 1 Siehe Anm. 29. 12 Verwiesen sei nur auf neuere deutschsprachige Überblicke zum Forschungsstand: Carsten GOEHRKH. Frühzeit des Ostslaventums. unter Mitwirkung von Ursel KXI.IN. Erträge der Forschung 277. Darmstadt 1992. 157-169: Peter NITSCHE, Die Waräger und die Gründung des ältesten ostslavischen Staates. Eine wissenschaftliche Kontroverse unter politischen Vorzeichen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001). 507-520: Gottfried SCHRAMM. Altrusslands Anfang. Historische Schlüsse aus Namen. Wörtern und Texten zum 9. und 10. Jahrhundert. Freiburg 2002. Ohne das Grundmodell der Ethnogenese in Frage zu stellen, hält Schramm ( I I I ) es für sinnlos zu versuchen, eine zuverlässige Deutung des Namens Rus' zu erarbeiten. 13 Vgl. aus primär archäologischer Sicht Eduard MÜHLE. Die städtischen Handelszentren der nordwestlichen Rus". Anfänge und frühe Entwicklung altrussischer Städte (bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts). Stuttgart 1991. 14 Annales Bertiniani: Annales de Saint-Bertin. hg. von F. GRAT. J. VIEIU.ARD. S. CI.EMENCH]. Paris 1964. 3 0 - 3 1 .
15 Vgl. das Forschungsreferat bei NAZARENKO. Drevnjaja Rus" (wie Anm. 7). 79-89. der seinerseits für die Identifikation mit der Rus' argumentiert.
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Ludwig Steindorff
Erste Ansätze der Christianisierung der Rus' fallen noch in die früheste Zeitschicht der Christianisierung im östlichen Europa, ins 9. Jahrhundert. 867 sandte Patriarch Photios einen Brief an die östlichen Patriarchen mit der Erwähnung, das wilde Volk der Rhos habe „sich jetzt liebevoll eingeordnet in die Reihe derer, die uns gehorsam und unsere Freunde sind"; es habe Bischof und Hirten empfangen. 16 Diese Ereignisse liegen also ungefähr zeitgleich mit der Entsendung der Brüder Konstantin und Method durch Kaiser Michael III. ins Mährische Reich zu Fürst Rostislav 863 und mit den damit verbundenen Anfängen der slavischen Schriftlichkeit17 wie auch mit der Annahme des Christentums durch den bulgarischen Khan Boris 864 oder 865 nach dem östlichen Ritus. Außerhalb ostkirchlicher Bezüge ist ungefähr aus dieser Zeit die Errichtung eines Bistums für Kroatien in der Stadt Nin zu erwähnen. 18 Der Missionsarbeit zur Zeit des Photios war offensichtlich kein Erfolg beschieden. Trotzdem hat es schon lange vor der eigentlichen Christianisierung 988 kleine christliche Gruppen in Kiev gegeben, auch solange die Fürsten noch heidnisch waren. Im byzantinisch-russischen Vertrag von 912 waren auf der Seite der Rus' anscheinend noch alle Heiden. Der Text stellt Christen und Männer der Rus' gegenüber. 19 Im Vertrag von 945 aus der Zeit des Fürsten Igor befanden sich unter den Vertretern der Rus' schon Christen: Die Getauften schworen in einer Kirche in Konstantinopel, die Ungetauften legten den Eid bei abgelegten Waffen vor dem Kirchengebäude ab. In der Minatio des Vertragstextes, der nur in der Nestorchronik überliefert ist, werden Vertragsbrüchige mit dem Fluch „von Gott und von Perun", also
16 Deutsche Übersetzung des Briefes in: Peter HAUPTMANN und Gerd STRICKER (Hg.), Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860-1980), Göttingen 1988, 3 9 ^ 0 ; vgl. Hartmut Rüss, Das Reich von Kiev, in: Manfred HELLMANN (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 1,1, Stuttgart 1 9 8 1 , 1 9 9 - 4 2 4 , h i e r 2 6 7 - 2 8 2 , 2 8 5 f.; FRANKLIN/SHEPARD, T h e E m e r g e n c e of R u s ( w i e A n m . 2), 5 4 .
17 Für ihre Arbeit in Mähren entwickelten Konstantin, unter dem Mönchsnamen Kyrill 867 verstorben, und sein Bruder Method die dem slavischen Lautstand angepasste glagolitische Schrift. Ihre Zeichen sind aus Kreuz, Dreieck und Kreis frei gestaltet. Die glagolitische Schrift hat sich bis in die frühe Neuzeit nur im westkirchlich ausgerichteten Kroatien gehalten. Vgl. Ludwig STEINDORFF, Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2001, 6 4 - 6 9 . Schon seit dem Ende des 9. Jahrhunderts wurde das Glagolitische in Bulgarien durch das - nach dem Schöpfer der glagolitischen Schrift benannte - Kyrillische abgelöst, das dieselbe Zeichenverteilung hatte, allerdings die Buchstabenformen so weit wie möglich dem Griechischen entlehnte. Alle orthodoxen Slaven haben die kyrillische Schrift übernommen. 18 Zur Einführung: Francis DVORNIK, Byzantine Missions among the Slavs. SS. Constantine-Cyril and Methodius, New Brunswick/NJ 1970; Alexis Peter VLASTO, The Entry of Slavs into Christendom, Cambridge 1970; Günter STÖKL, Geschichte der Slavenmission, Die Kirche in ihrer Geschichte 2,E, 2. Aufl. Göttingen 1976; Manfred HELLMANN, Die politisch-kirchliche Grundlegung des Osthälfte Europas, in: Handbuch der europäischen Geschichte 1, Stuttgart 1976, 857-938; stark vergleichend ausgerichtet: Arnold ANGENENDT: Mission zwischen Ost und West, in: Gerhard BIRKFELLNER (Hg.), Millenium Russiae Christianae. Tausend Jahre Christliches Rußland 988-1988, Köln, Weimar und Wien 1995, 3 - 2 4 . Neuerdings auch: Alexander V. NAZARENKO, Ungarn und Rus' um das Jahr 1000, in: Ferenc GLATZ (Hg.), Die ungarische Staatsbildung und Ostmitteleuropa (= Begegnungen. Schriftenreihe des Europa Institues Budapest, Band 15), Budapest 2002, S. 191-208; Märta FONT, Ungarn und die Kiewer Rus' um 1000, in: Die ungarische Staatsbildung und Ostmitteleuropa, S. 209-218. Christian Lübke, Das östliche Europa, München 2004 (= Die Deutschen und das europäische Mittelalter), 106-122; 161-173. 19 Povest' vremennych let (wie Anm. 4), 26, (912); Die Nestorchronik (wie Anm. 1), 40.
Das Kiever Reich in Europa um das Jahr 1000
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d e m C h r i s t e n g o t t u n d d e m s l a v i s c h e n H a u p t g o t t , b e d r o h t . 2 0 In d e n V e r t r ä g e n k ö n n e n w i r e i n e V o r s t u f e d e r E i n b i n d u n g in d e n Orbis christianus
erkennen. Vorbedingung dauerhafter
C h r i s t i a n i s i e r u n g w a r e n s t a b i l e F o r m e n d e r K o m m u n i k a t i o n auf d e r E b e n e v o n H a n d e l . R e c h t und „Politik". N a c h d e m F ü r s t I g o r 9 4 5 auf e i n e m T r i b u t z u g b e i m S t a m m d e r D e r e v l j a n e n e r s c h l a g e n w o r d e n w a r , f o l g t e i h m s e i n e F r a u O l ' g a in d e r H e r r s c h a f t . W a h r s c h e i n l i c h s c h o n v o r h e r in K i e v a u f d e n c h r i s t l i c h e n N a m e n H e l e n a g e t a u f t , u n t e r n a h m sie 9 5 7 e i n e R e i s e an den K a i s e r h o f n a c h K o n s t a n t i n o p e l . D a s s s e i t e n s d e r R u s ' d i e R e i s e mit H a n d e l s i n t e r e s s e n verb u n d e n w a r , zeigt sich an d e r Z u s a m m e n s e t z u n g d e r G r u p p e , d e r z a h l r e i c h e K a u f l e u t e a n g e h ö r t e n . M u t m a ß l i c h s p r a c h O l ' g a bei K a i s e r K o n s t a n t i n VII. P o r p h y r o g e n n e t o s a u c h d i e F r a g e e i n e r e i g e n e n K i r c h e n o r g a n i s a t i o n f ü r ihr R e i c h a n . d o c h k o n n t e sie k e i n e Z u s a g e n erhalten 2 1 , d e n n 9 5 9 t r a f e n G e s a n d t e O l ' g a s bei O t t o I. e i n . Die N a c h r i c h t d a r ü b e r f i n d e n w i r in d e r v o m späteren M a g d e b u r g e r Erzbischof Adalbert verfassten Fortsetzung der Chronik des Regino von Prüm: „Gesandte der Helena, der Königin der Russen, die unter R o m a n o s , d e m Kaiser v o n K o n s t a n t i n o p e l g e t a u f t w o r d e n w a r , k a m e n z u m K ö n i g u n d b a t e n ( u n a u f r i c h t i g , w i e sich später herausstellte), man m ö g e diesem Volk einen Bischof und Priester bestellen. U n a b h ä n g i g d a v o n , d a s s d i e T a u f e k e i n e s f a l l s z u r Z e i t v o n R o m a n o s I. ( 9 2 0 - 9 4 4 ) . vielm e h r u n t e r K o n s t a n t i n P o r p h y r o g e n n e t o s u n d w a h r s c h e i n l i c h a u c h in K i e v u n d nicht in K o n s t a n t i n o p e l e r f o l g t ist. steht d i e Z u v e r l ä s s i g k e i t d e r N a c h r i c h t a u ß e r Z w e i f e l . E s ist g e r a d e z u e i n e U m k e h r d e r S i t u a t i o n im V e r g l e i c h z u r V o r g e s c h i c h t e d e r m ä h r i s c h e n M i s s i o n von Konstantin und Method. Der mährische Fürst Svatopluk hatte der kirchenslavischen „Vita C o n s t a n t i n i " z u f o l g e 861 b e i m b y z a n t i n i s c h e n K a i s e r M i c h a e l III. u m d i e E n t s e n d u n g von „ B i s c h o f u n d L e h r e r " g e b e t e n . D a m a l s w a r es d a s Ziel g e w e s e n , sich ü b e r e i n e n e i g e n e n Bischof aus der kirchlichen Abhängigkeit vom Erzbistum Salzburg - und damit verbunden - d e r p o l i t i s c h e n A b h ä n g i g k e i t v o m o s t f r ä n k i s c h e n R e i c h zu l ö s e n . D i e S i t u a t i o n e n sind allerdings dadurch unterschieden, dass das Mährische Reich j a bereits christianisiert war. ihm fehlte nur eine eigene Kirchenorganisation. U r s p r ü n g l i c h w a r L i b u t i u s , M ö n c h d e s M a i n z e r K l o s t e r s St. A l b a n , als B i s c h o f
zur
E n t s e n d u n g in die R u s ' v o r g e s e h e n . E r w u r d e zu W e i h n a c h t e n 9 5 9 : ' in F r a n k f u r t d u r c h E r z b i s c h o f A d a l d a g v o n H a m b u r g - B r e m e n g e w e i h t . B e m e r k e n s w e r t ist d i e s i n s o f e r n , d a s s d a m i t d a s K i e v e r R e i c h als L a n d d e s N o r d e n s verortet w u r d e , w a r e n d o c h u n t e r A d a l d a g d i e d ä n i s c h e n B i s t ü m e r S c h l e s w i g , R i p e n u n d A a r h u s errichtet w o r d e n . U m 9 6 8 w u r d e i h m d a s
20 Povest' vremennych let (wie Anm. 4). 38 (945): Die Nestorchronik (wie Anm. 1). 64-65. 21 Rüss. Das Reich von Kiev (wie Anm. 15). 292: Carsten GOHHRKH. Männer- und Frauenherrschaft im Kiever Fürstenhaus: Olga von Kiew als Regentin (945-960/61). in: Forschungen zur Osteuropäischen G e s c h i c h t e 5 0 ( 1 9 9 5 ) . 1 3 9 - 1 5 4 . h i e r 1 4 3 - 1 4 4 . 1 4 7 - 1 4 8 : FRANKI.IN/SHF.PARD. T h e E m e r g e n c e o f R u s ( w i e
Anm. 2). 137: NAZARFNKO. Drevnjaja Rus' (wie Anm. 7). 219-310. In der Kontroverse, ob Ol'ga schon in Kiev oder erst in Konstantinopel getauft wurde, spricht sich Nazarenko für Letzteres aus. 22 Lateinisch und deutsch: Adalberts Fortsetzung der Chronik Reginos. in: Albert BALFR und Reinhold RAU (Bearb.). Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 8. Darmstadt 1971. 214-217. 23 Da die Annalen den Jahresanfang auf Weihnachten legen, ist die Nachricht schon unter 960 eingeordnet.
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neue Bistum Oldenburg im Land Wagrien unterstellt.24 Allerdings gab es beim Aufbruch des Libutius Verzögerungen. Er starb am 15. Februar 561. Nun wurde Adalbert, damals Mönch im Trierer Kloster St. Maxim, als Bischof für die Rus' bestimmt. Wie aus der von ihm selbst verfassten Fortsetzung der Chronik des Regino von Prüm ersichtlich, erlebte er dies, in Erwartung anderer Ämter, offensichtlich als Kränkung und entwürdigenden Auftrag. Dennoch machte er sich noch im selben Jahr wohlausgerüstet auf den Weg, kehrte allerdings im Folgejahr unverrichteter Dinge zurück. Bei Angriffen auf seine Gruppe während der Reise hatten einige seiner Leute das Leben verloren. Trotz des Misserfolgs diente die Reise durchaus als Sprosse auf der Karriereleiter Adalberts, denn 968 wurde er Erzbischof des neugegründeten Erzbistums Magdeburg. Der Vorwurf des enttäuschten Adalbert, die Bitte der Fürstin Ol'ga um die Entsendung eines Bischofs sei unaufrichtig gewesen, war mit ziemlicher Sicherheit nicht gerechtfertigt. Denn die Gesandtschaft traf zu einer Zeit in Kiev ein, als Ol'gas Sohn, gerade volljährig geworden, bereits die Herrschaft übernommen hatte.25 Er war ein konsequenter Gegner des Christentums. Als seine Mutter ihn laut „Povest' vremennych let" aufforderte, sich taufen zu lassen, antwortete er: „Wie soll ich allein ein anderes Gesetz annehmen? Und die Gefolgschaft wird darüber lachen."26 Svjatoslav zog 967 als Verbündeter des byzantinischen Kaisers an die Donau gegen Bulgarien. Der ursprünglich erneut gegen Bulgarien geführte Feldzug 970 endete in einem Zusammenstoß mit dem byzantinischen Heer unter Kaiser Johannes Tsimiskes. Den darauf geschlossenen Frieden beschwor Svjatoslav ausschließlich bei den heidnischen Göttern.27 Auf der Rückkehr aus Bulgarien Richtung Kiev wurde der Fürst 972 in einem Hinterhalt von den Pecenegen getötet.28 Für Ostern des nächsten Jahres nun berichtet ausschließlich Lampert von Hersfeld davon, unter den Gesandtschaften auf dem Quedlinburger Hoftag seien auch Rusci gewesen.29 Jüngst hat Aleksandr Nazarenko die Angabe bei Lampert benutzt, um auch sie als einen Beleg für das von ihm postulierte dichte und planvoll aufgebaute Netz von Gesandtschaften zwischen dem Kiever Reich und anderen Reichen Europas heranzuziehen.30 Im Falle der Authentizität
24 Jürgen PETERSOHN, Der südliche Ostseeraum im kirchlich-politischen Kräftespiel des Reichs, Polens und Dänemarks vom 10. bis 13. Jahrhundert. Mission - Kirchenorganisation - Kultpolitik, Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 17, Köln und Wien 1979, 19-21. 25 Zum Herrschaftswechsel von Ol'ga zu Svjatoslav siehe GOEHRKE, Männer- und Frauenherrschaft (wie Anm. 20), 149. Goehrke zufolge verzögerte Ol'ga bewusst die Herrschaftsübernahme von Svjatoslav über seine Volljährigkeit hinaus, da er für das Heidentum eintrat. 26 Povest' vremennych let (wie Anm. 4), 46 (955); Die Nestorchronik (wie Anm. 1), 78. 27 Povest' vremennych let (wie Anm. 4), 52 (971); Die Nestorchronik (wie Anm. 1), 89. 28 Ausführliche Darstellung bei FRANKUN/SHEPARD, The Emergence of Rus (wie Anm. 2), 145-150. 29 Lamperti monachi Hersfeldensis Annales. Lampert von Hersfeld. Annalen, übers, von Adolf SCHMIDT, erläutert von Wolfgang Dietrich SCHMITZ, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 13, Darmstadt 1962, 32; auch: Mechthild KELLER, Die Darstellung der Ostslawen in Chronik und Annalen des 9.-13. Jahrhunderts, in: Mechthild KELLER (Hg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.-17. Jahrhundert, West-östliche Spiegelungen A 1, München 1985, 57-84, hier 6 3 - 6 7 . 30 NAZARENKO, Drevnjaja Rus' (wie Anm. 7), 338-339; von der Authentizität gehen auch KELLER, Die Darstellung der Ostslawen (wie Anm. 28), 64 und FRANKLIN/SHEPARD, The Emergence of Rus (wie Anm. 2), 151 aus.
Das Kiever Reich in Europa um das Jahr 1000
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w ü r d e d i e N a c h r i c h t d a f ü r s t e h e n , d a s s d i e R u s ' u n a b h ä n g i g v o n ihrer N i c h t - Z u g e h ö r i g k e i t z u r c h r i s t l i c h e n W e l t s c h o n b e d i n g t e n A n t e i l an d e r e n K o n v e n t i o n e n hatte. M a n k ö n n t e d a n n u n t e r S v j a t o s l a v s S ö h n e n J a r o p o l k als E n t s e n d e r d e r G e s a n d t s c h a f t a n s e h e n . S v j a t o s l a v h a t t e d i e s e m s c h o n 9 7 0 d e n F ü r s t e n s i t z in K i e v z u g e t e i l t . D o c h es bleibt d a s P r o b l e m , d a s s d i e d e m E r e i g n i s z e i t n ä h e r e n älteren Q u e l l e n alle n i c h t s v o n d e n G e s a n d t e n d e r R u s ' wissen. 1 1 D i e s spricht stark g e g e n d i e G l a u b w ü r d i g k e i t d e r N a c h r i c h t . W i r k ö n n e n a u s d e r A n g a b e v i e l m e h r auf L a m p e r t s A n l i e g e n s c h l i e ß e n , d i e B e d e u t u n g d e s Ereignisses durch eine möglichst lange Reihe von Völkern herauszustreichen. B i s 9 8 0 g e l a n g es S v j a t o s l a v s S o h n V l a d i m i r , s e i n e B r ü d e r alle a u s z u s c h a l t e n . O f f e n s i c h t l i c h als A l t e r n a t i v e z u r A n n a h m e e i n e r H o c h r e l i g i o n u n t e r n a h m er d e n k u r z f r i s t i g e n V e r s u c h , d i e h e i d n i s c h e R e l i g i o n in R i t u s u n d G e s t a l t u n g d e r S a k r a l r ä u m e a u f z u w e r t e n u n d als Mittel d e r H e r r s c h a f t s l e g i t i m a t i o n e i n z u s e t z e n . E r e r r i c h t e t e n ä m l i c h - s o w o h l d u r c h d i e C h r o n i k als a u c h a r c h ä o l o g i s c h e r w i e s e n - in K i e v e i n e T e m p e l a n l a g e mit z a h l r e i c h e n Götterstatuen. D i e s e r Schritt b l i e b e i n e E p i s o d e . 9 8 8 trat V l a d i m i r z u m C h r i s t e n t u m d e s ö s t l i c h e n R i t u s ü b e r . W i e e i n l e i t e n d e r z ä h l t , ist die E n t s c h e i d u n g als b e w u s s t e W a h l z w i s c h e n
mehreren
R e l i g i o n e n d a r g e s t e l l t . D o c h ist nicht zu ü b e r s e h e n , d a s s d i e r e l i g i ö s e B i n d u n g g e r a d e an B y z a n z faktisch durch die vorgegebene Verkehrslage, durch die bestehende K o m m u n i k a t i o n ü b e r H a n d e l . H e e r z ü g e u n d w a r ä g i s c h e S ö l d n e r in b y z a n t i n i s c h e n D i e n s t e n v o r g e z e i c h n e t w a r . , : A u s d e r N e s t o r c h r o n i k selbst ist es nicht m ö g l i c h , die U m s t ä n d e d e r C h r i s t i a n i s i e r u n g zu e i n e r g e s c h l o s s e n e n E r z ä h l u n g zu v e r a r b e i t e n , v i e l m e h r p r ä s e n t i e r t d i e C h r o n i k
eine
A u f r e i h u n g v o n E r z ä h l m o t i v e n , die alle auf die A n n a h m e d e s C h r i s t e n t u m s h i n f ü h r e n : S i e g d e s ö s t l i c h e n C h r i s t e n t u m s im W e t t s t r e i t d e r R e l i g i o n e n - T a u f e n a c h E r p r o b u n g d e r S t ä r k e d e s C h r i s t e n g o t t e s als H e l f e r im K r i e g - T a u f e als Preis f ü r d i e Heirat e i n e r C h r i s t i n - Erblindung und W i e d e r g e w i n n u n g des Augenlichts nach der Taufe.5" D i e k o n k r e t e n k u r z f r i s t i g e n Z u s a m m e n h ä n g e lassen sich erst m i t h i l f e d e r A n g a b e n d e s arab i s c h - c h r i s t l i c h e n C h r o n i s t e n Y ^ h j ä v o n A n t i o c h i e n e r s c h l i e ß e n : '4 U m e i n e R e b e l l i o n s e i n e s V e t t e r s z w e i t e n G r a d e s , B a r d a s P h o k a s , n i e d e r z u w e r f e n , w a n d t e sich K a i s e r B a s i l e i o s II. an V l a d i m i r mit d e r Bitte u m E n t s e n d u n g w a r ä g i s c h e r T r u p p e n . D i e s e r k n ü p f t e die E r f ü l l u n g d e r Bitte an B e d i n g u n g e n : E r v e r l a n g t e A n n a P o r p h y r o g e n n e t a , d i e „ p u r p u r g e b o r e n e " S c h w e s t e r d e s K a i s e r s , z u r F r a u u n d w a r d a f ü r bereit, d a s C h r i s t e n t u m a n z u n e h m e n . O f f e n s i c h t l i c h
31 Zusammenstellung der Quellen: Johann Friedrich BÖHMER. Regesta Imperii II.2. Die Regesten des K a i s e r r e i c h e s unter Otto II. 9 5 5 ( 9 7 3 ) - 9 8 3 . bearb. von L e o MIKOI.ETZKY. G r a z 1950. 2 7 4 - 2 7 5 . No. 605.
d - f . - Vgl. den Beitrag von Jänos GUI.YA in diesem Band. 32 FRANKLIN/SHEPARD. The Emergence of Rus (wie Anm. 2). 161. halten demgegenüber die Entscheidung für nicht als vorgegeben und führen sogar aus. bei einer erfolgreichen Kriegsführung gegen die Wolgabulgaren wäre eine Annahme des Islam denkbar gewesen. 33 Vgl. die früher genannten Belege für die Jahre 986 und 987: des Weiteren Povest' vremennych let ( w i e A n m . 4 ) . 7 5 - 7 7 ( 9 8 8 ) : D i e N e s t o r c h r o n i k ( w i e A n m . 1). 1 3 4 - 1 3 6 .
34 Peter KAWERAU. Arabische Quellen zur Christianisierung Rußlands. Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen 2.7. Wiesbaden 1967. 14-19.
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war damit die Zusage von Byzanz verbunden, dem Kiever Reich sogleich eine eigene Kirchenorganisation durch die Einsetzung eines Metropoliten in Kiev zu gewähren. 35 Die Kaiserschwester zur Frau zu erhalten, war eine ungeheuerliche Forderung. Sie beinhaltete den Anspruch der sofortigen Aufnahme in den engsten Kreis der „Familie der Könige". Der Anspruch ist auch daran zu ermessen, dass Otto dem Großen Anna Porphyrogenneta als Frau für Otto II. verweigert worden war. Stattdessen hatte dieser nur eine Kaisernichte geheiratet, nämlich Theophanu. In seiner Zwangslage gab Basileios II. die Zustimmung. Die Taufe Vladimirs erfolgte wahrscheinlich am 6. Januar 988 in Kiev. Der Kaiser selbst übernahm die Patenschaft, so dass der Kiever Fürst den Taufnamen Basileios, slavisch Vasilij, erhielt. Im Folgejahr eroberte Vladimir die von Anhängern von Bardas Phokas gehaltene Stadt Cherson auf der Krim. Hier fand die Heirat mit Anna statt. Auf die Verbindung von Heirat einer christlichen Prinzessin und Taufe treffen wir bekanntlich auch im Falle Polens: Mieszko nahm das Christentum anlässlich der Eheschließung mit der böhmischen Prinzessin Dobrava an. Ähnlich öffnete die Taufe Gezas von Ungarn wahrscheinlich 973 den Ärpäden den Weg zur Verschwägerung mit dem bayrischen Herzogshaus, indem Gezas Sohn Stephan 994/5 Gisela, die Schwester Herzog Heinrichs IV., des späteren deutschen Königs Heinrich II., heiratete. Bemerkenswert ist auch eine weitere Parallele: Anders als die früher christianisierten Reiche im östlichen Europa erhielten alle drei Länder - das Kiever Reich, Polen und Ungarn - bereits sehr kurz nach der Christianisierung eine eigene Kirchenprovinz bzw. Ungarn sogar zwei. Bei der Bischofsweihe waren die Länder damit unabhängig vom Mitwirken von Bischöfen aus anderen Ländern. Die kirchliche Emanzipation wirkte zugleich als weltlicher Machtgewinn. Die Taufe Vladimirs nach östlichem Ritus brachte noch keineswegs die Abschließung gegenüber Geistlichen des westlichen Ritus. Hiervon zeugt der Brief des Missionsbischofs Brun von Querfurt, der 1008 von Polen aus an den deutschen König Heinrich II. schrieb. Brun, 1004 zum Erzbischof geweiht, verbrachte nach Aufenthalten in Ungarn und bei den Szeklern den Winter 1007/8 bei Vladimir, dem „Fürsten der Russen, groß an Herrschaft und
35 Maßgeblich für die Rekonstruktion der Abläufe: Andrz.ej POPPE, The Political Background to the Baptism of Rus'. Byzantine-Russian Relations 9 8 6 - 9 8 9 , in: Dumbarton Oaks Papers 30 (1976), 197-224, nachgedruckt in: DERS., The Rise of Christian Russia, London 1982, No. 2; zur Frage der Realisierung der zugesagten Metropolie vgl.: PODSKALSKY, Christentum und theologische Literatur (wie Anm. 1), 2 4 - 2 8 . - Zusammenfassend auch Ekkehard EICKHOFF, Kaiser Otto III. Die erste Jahrtausendwende und die Entfaltung Europas. Stuttgart 1999, 71-72, 117-121. - In Anlehnung an Gunther WOLF, Spätkarolingische und ottonische Beziehungen zum Kiever Reich der Rus, in: DERS. (Hg.), Kaiserin Theophanu. Prinzessin aus der Fremde - des Westreichs Große Kaiserin, Köln, Weimar und Wien 1991, 146-154, hier 148, geht Eickhoff davon aus, im Winter 989/90 hätten Kaiserin Theophanu und Papst Johannes XV. eine Gesandtschaft zu Vladimir geschickt. Als Beleg dient eine entsprechende Nachricht aus der im 16. Jahrhundert in Moskau entstandenen Nikon-Chronik. Doch gilt die Zuverlässigkeit von nicht durch ältere Quellen abgestützten Aussagen der Nikon-Chronik als äußerst zweifelhaft. Im Einklang mit der Tendenz der Chronik dürfte die fiktive Nachricht eingefügt worden sein, um den Eindruck vom großen Prestige des Kiever Reichs weiter zu erhöhen.
D a s K i e v e r Reich in E u r o p a u m das Jahr 1000
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an S c h ä t z e n " . V o n dort wollte er weiter zur M i s s i o n i e r u n g d e r Pecenegen. i < ' V l a d i m i r warnte ihn in offensichtlich w o h l w o l l e n d e r Absicht vor den G e f a h r e n und geleitete ihn dann zur befestigten Grenze. N a c h ersten bedrohlichen Situationen w u r d e B r u n bei den P e c e n e g e n j e d o c h gut a u f g e n o m m e n und konnte eine w i n z i g e christliche G e m e i n d e g r ü n d e n . Vor allem gelang es ihm, einen Frieden z w i s c h e n der Rus' und den Pecenegen zu vermitteln.' 7 Z w a r war mit der A n n a h m e des C h r i s t e n t u m s nach b y z a n t i n i s c h e m Ritus durch V l a d i m i r den Heiligen f ü r das Kiever Reich ein weiterer Schritt zur V e r f e s t i g u n g der Z w e i p o l i g k e i t E u r o p a s erfolgt, aber letztlich m i n d e s t e n s so b e d e u t s a m w a r die Z u g e h ö r i g k e i t zur G e s a m t h e i t des orbis christianus. Die strukturelle A n g l e i c h u n g der e h e m a l s nicht-christlichen Reiche an der nördlichen und östlichen Peripherie verlief u n a b h ä n g i g von der Missionsrichtung, die sich schließlich durchgesetzt hatte, überall ähnlich. Z u r A n g l e i c h u n g an die christliche W e l t gehörten hier wie dort d e r A u f b a u der kirchlichen Hierarchie und transpersonale Herrscherlegitimation. G e m e i n s a m war die Prägung von Stadtbild und Stadtplan über die Rolle der Stadt als christliches S a k r a l z e n t r u m . S o b e g a n n Vladimir fast unmittelbar nach der T a u f e den Bau der dann 9 9 6 g e w e i h t e n Z e h n t k i r c h e in Kiev, in d e r e r 1015 auch bestattet wurde. Z u r Christianisierung gehörte in Ost und W e s t g l e i c h e r m a ß e n wie dort der A u s b a u einer K l o s t e r l a n d s c h a f t in e n g e r V e r b i n d u n g mit der E n t f a l t u n g des S t i f t u n g s w e s e n s als einer F o r m sozialen Handelns, in d e m sich religiöses Anliegen und Prestigegewinn miteinander verbanden. 3 9 Überall ging es u m die G e w i n n u n g von eigenen Heiligenkulten. Im Kiever Reich wie auch in N o r w e g e n und B ö h m e n g e h ö r e n die ältesten e i n h e i m i s c h e n Heiligen z u m T y p des M ä r t y r e r f ü r s t e n : Boris und Gleb 4 0 , die nach d e m T o d V l a d i m i r s 1015 auf Betreiben ihres Bruders S v j a t o p o l k u m g e b r a c h t w u r d e n . Olaf der Heilige und W e n z e l . M o r d f ä l l e im Z u g e von M a c h t k ä m p f e n innerhalb der Dynastie w u r d e n als Martyrien gedeutet. Im A u f b a u des Kultes u m einen Heiligen aus der Dynastie kann man auch eine Christianisierung des A h n e n k u l t e s sehen. Die Ganzheitlichkeit d e r christlichen Welt zeigt sich im W a n d e r n von Texten: Die slavische W e n z e l s v i t a aus B ö h m e n beeinflusste die Ü b e r l i e f e r u n g z u m T o d von
3 6 Zur e b e n s o w e n i g e r f o l g r e i c h e n k o n k u r r i e r e n d e n m u s l i m i s c h e n Missionstätigkeit vgl. GÖCKF.NJAN/ ZIMONYI. O r i e n t a l i s c h e Berichte (wie A n m . 6), 222. A n m . 13. 37 Epistola B r u n o n i s ad H e n r i c u m r e g e m , hg. von H e d v i g i s KARWASINSKA. M o n u m e n t a Poloniae historica 4.3. W a r s c h a u 1973. 9 7 - 1 0 0 : deutsch: H. G. VOIGT. Brun von Q u e r f u r t . M ö n c h . Eremit. Erzbischof der H e i d e n und Märtyrer. Stuttgart 1907. 9 7 - 1 0 6 : vgl. auch FRANKLIN/SHEPARD. T h e E m e r g e n c e of R u s (wie A n m . 2 ) , 1 7 7 . 38 Z u r T r a g w e i t e dieses T r a n s f o r m a t i o n s p r o z e s s e s vgl. Frank KÄMPFER. V o n heidnischer Bildwelt zur christlichen Kunst. Die B e d e u t u n g der A n n a P o r p h y r o g e n n e t a f ü r die Initialzündung der altrussischen Kultur, in: BIRKFELLNER. M i l l e n i u m R u s s i a e Christianae (wie A n m . 17). S. 1 0 9 - 1 3 7 . 39 Vgl. L u d w i g STEINDORFF. G l a u b e n s w e l t und Prestige. S t i f t u n g e n in der G e s c h i c h t e Altrusslands, in: M i c h a e l BORGOLTE (Hg.). S t i f t u n g e n in den g r o ß e n Kulturen des alten E u r o p a (erscheint d e m n ä c h s t ) . 4 0 Zu Boris und G l e b vgl. Gail LENHOFF. T h e M a r t y r e d Princes Boris and Gleb: Α Socio-Cultural Study of the Cult and the Texts, C o l u m b u s / O h i o 1989; A n d r z e j POPPE. Politik und Heiligen v e r e h r u n g in der K i e v e r R u s ' . D e r apostelgleiche H e r r s c h e r und seine M ä r t y r e r s ö h n e , in: Jürgen PETERSOHN (Hg.). Politik und H e i l i g e n v e r e h r u n g im Hochmittelalter, V o r t r ä g e und F o r s c h u n g e n 4 2 . S i g m a r i n g e n 1994. 4 0 3 - 4 2 2 .
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Boris und Gleb.41 Anfänge der Verehrung Vladimirs fallen auch schon in das 11. Jahrhundert, doch durchgesetzt hat sich der Kult erst im 13. Jahrhundert. 42 Während sich das frühe Christentum in einer von Schriftlichkeit geprägten Welt entfaltet hatte, folgte in den frühmittelalterlichen Reichsbildungen die Entwicklung einer Schriftkultur erst aus der Christianisierung. Ausgehend von zentralen Sakraltexten weitete sich der Bereich des Schriftwürdigen und Schriftbedürftigen allmählich weiter aus. Zu den frühen nicht-sakralen Schriftzeugnissen aus der Kiever Rus' gehören neben der im 11. Jahrhundert begonnenen Chronistik die von Fürsten erlassenen ustavy, Gesetzessammlungen zur Abgrenzung der Prärogativen von weltlicher und geistlicher Gewalt. 43 Mit der Entscheidung für den östlichen Ritus durch Vladimir war bezogen auf die Schriftkultur eine wichtige Weiche gestellt. Die von Westen aus neuchristianisierten Länder wie Polen oder Ungarn hatten mit dem Latein als universaler Schrift- und Liturgiesprache im Prinzip sofort Zugang zum gesamten lateinischen Texterbe. Die Slavia orthodoxa ging vom Ritus in kirchenslavischer Sprache und einer daraus erwachsenden slavischen Schriftkultur aus, so dass die Rezeption des griechischen (und lateinischen) Texterbes von der Übersetzung bzw. vorweg von der Entscheidung zur Übersetzung abhing. Als weitere Ost und West gemeinsame Auswirkung der Christianisierung sei schließlich auf die Ordnung der Zeit nach dem kirchlichen Kalender verwiesen. Zugleich wurde dieser zu einem der Distanz schaffenden Merkmale zwischen Ost und West, denn neben der Gemeinsamkeit der Hochfeste treffen wir zugleich auf die vielen Differenzen in Heiligenkalendern und Fastenfristen. Welche Hauptmerkmale lassen sich nun abschließend für die Kiever Rus' in Europa um das Jahr 1000 nennen? Entscheidend war der Eintritt in die christliche Welt. Er öffnete den Weg zur Integration über den Ausbau des Handels und über dynastische Heiratsverbindungen gerade nach Westen hin: nach Polen, Skandinavien, ins Reich, nach Ungarn und sogar nach Frankreich. 44 Trotz der schon damals offensichtlich wachsenden Entfremdung zwischen Ostund Westkirche wurde selbst über die Taufe nach östlichem Ritus zugleich die Verbindung zum Kulturraum des Westens gestärkt.
41 N o r m a n W. INGHAM, The Martyred Prince and the Question of Slavic Cultural Continuity in the Early Middle Ages, in: Henrik BIRNBAUM und Michael S. FLIER (Hg.), Medieval Russian Culture, Berkeley, Los Angeles und London 1984, 3 1 - 5 3 . 4 2 Jukka KORPELA, Prince, Saint and Apostle: Prince Vladimir Svjatoslavic of Kiev, his P o s t h u m o u s Life, and the Religious Legitimization of the Russian Great Power, W i e s b a d e n 2001; Boris USPENSKIJ, Kogda byl kanonizirovan Vladimir Svjatoslavic? [Wann wurde Vladimir Svjatoslavic kanonisiert?], in: Palaeoslavica 10(2002), 271-281.
43 Zu den ustavy. PODSKALSKY, Christentum und theologische Literatur (wie A n m . 1), 1 9 1 - 1 9 3 ; allgemein zur Entfaltung der Schriftlichkeit in der R u s ' vgl. Simon FRANKLIN, Writing, Society and Culture in E a r l y R u s ' , c. 9 5 0 - 1 3 0 0 , C a m b r i d g e 2 0 0 2 .
44 Unabhängig von Einzelkorrekturen noch i m m e r vollständigste Z u s a m m e n s t e l l u n g : N. de BAUMGARTEN, Genealogies et mariages occidentaux des Rurikides russes du X c au XIIL siecle, Orientalia Christiana 9,1, R o m 1927.
Das Kiever Reich in Europa um das Jahr 1000
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D i e G e s a n d t s c h a f t d e r F ü r s t i n O l ' g a zu O t t o d e m G r o ß e n , die - letztlich w e n i g w a h r scheinliche - T e i l n a h m e von Gesandten der R u s ' am Quedlinburger H o f t a g oder der Aufenthalt B r u n s v o n Q u e r f u r t in K i e v b i l d e n g e g e n ü b e r d e m F a k t o r d e r d a u e r h a f t e n o s t k i r c h l i c h e n A u s r i c h t u n g in d e r C h r i s t i a n i s i e r u n g n u r M a r g i n a l i e n in d e r G e s c h i c h t e d e s K i e v e r R e i c h e s u n d d e r O t t o n e n h e r r s c h a f t . D e n n o c h d i e n e n d i e N a c h r i c h t e n als Z e u g n i s s e f ü r die W e i t r ä u m i g k e i t p o l i t i s c h e r , r e l i g i ö s e r u n d k u l t u r e l l e r H o r i z o n t e im E u r o p a u m d i e e r s t e J a h r tausendwende.
Grundlagen kultureller Identität
Die lateinische Kultur als tertium comparationis der europäischen Nationen Fidel Rädle
Wer in unseren Zeiten über die lateinische Kultur und ihre historische Rolle in Europa sprechen will, muss sich wappnen gegen die Gefahr und die Versuchung zu lamentieren. Denn der Gegenstand, um den es hier geht, ist keine selbstverständliche Größe mehr, ja er verschwindet allmählich ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein und wird allenfalls noch verteidigt von einer Minderheit, die man samt ihrem Anliegen eher belächelt als respektiert. Ich will mich bemühen, in diesem Beitrag aus der Sicht des mediävistischen Literaturwissenschaftlers sine ira et studio einige grundlegende Fakten der europäischen Kulturgeschichte anzusprechen, die so evident sind, dass sich das neu vereinigte Europa wenigstens darüber gar nicht mehr eigens einig zu werden brauchte. Ich meine die kulturelle Formung, die jede einzelne Nation Lateineuropas, in der Regel ohne ausdrückliche Wahl, in einer entscheidenden Phase ihrer Geschichte erfahren hat und die für sie zu einem Identität stiftenden und stabilen Fundament geworden ist. Dieses allen Europäern gemeinsame Fundament ist die lateinische Kultur. „Lateinische Kultur" meint natürlich zuerst einmal die Welt der Antike und das Erbe der Antike, das heißt der vorchristlichen „heidnischen" Epoche, die, in Schriften und anderen Monumenten auf einzigartige Weise dokumentiert, sozusagen abgeschlossen vor uns liegt und als ein Menschheitsmodell zu besichtigen ist. Dabei hat man diese antike Epoche zugleich zu sehen als einen dynamischen, also auch konfliktreichen, historischen Prozess, in dem die allmählich sich etablierende politische Weltmacht Rom die ihr weit überlegene griechische Kultur beerbt und sich angeeignet hat. Insofern ist implizit auch das Griechische gemeint, wenn im folgenden von der antiken lateinischen Kultur die Rede ist.1 Ein vergleichbarer Prozess der Aneignung, der Nachahmung, der Instrumentalisierung, der Selektion und der Neuprägung des Überkommenen ist kennzeichnend für diejenige Epoche der lateinischen Kultur, die auf die heidnische Antike folgte und die man früher einmal stolz, heute eher kleinlaut, das christliche Abendland nannte oder nennt. In dieser Epoche hat sich
1 Der d u r c h a u s g e n e r a l i s i e r e n d e C h a r a k t e r dieses Ü b e r b l i c k s schließt den k o n s e q u e n t e n Einsatz detaillierter A n m e r k u n g e n im v o r g e g e b e n e n R a h m e n v e r s t ä n d l i c h e r w e i s e aus; d e s h a l b w e r d e n im F o l g e n d e n , a b g e s e h e n von d e n allgemein orientierenden L i t e r a t u r a n g a b e n , nur noch die Zitate und einige w e n i g e spezifische A u s s a g e n bibliographisch n a c h g e w i e s e n .
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Europa formiert, und sie soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Die entscheidende Phase dieses Prozesses, der im wesentlichen mit dem Humanismus abgeschlossen ist, liegt natürlicherweise in der Spätantike. 2
A. Die Begegnung zwischen Christentum und heidnischer Antike Das Ende der Antike und damit der Anfang des christlichen Abendlandes lässt sich natürlicherweise nicht mit einem genauen Datum markieren. Politisch endet das römische Kaisertum im Westen mit der Erhebung des germanischen Söldnerführers Odoaker zum Herrscher Italiens im Jahre 476. Aber schon seit dem Ökumenischen Konzil von Konstantinopel (381) ist die Religion der Christen Staatsreligion, und bereits die zweite Hälfte des vierten und die ersten Jahrzehnte des fünften Jahrhunderts werden im lateinischen Westen zur kreativsten und kulturell reichsten Phase des neu erweckten und nun auch politisch geschützten Christentums. Es ist die Zeit von dreien der vier großen lateinischen Kirchenväter: Ambrosius (333/4 in Trier geboren, gestorben 397 in Mailand), Hieronymus (um 347 in Dalmatien geboren, gestorben 420 in Bethlehem) und Augustinus (354 in Thagaste, Numidien geboren, in Mailand 387 von Ambrosius getauft, als Bischof von Hippo in Afrika im Jahre 430 gestorben), und es ist auch die Zeit der ersten Blüte christlicher Dichtung, verkörpert in dem schon erwähnten Hymnendichter Ambrosius, in den Bibelepikern Juvencus (aus Spanien) und Sedulius, in dem „christlichen Horaz" Prudentius (gestorben um 405, ebenfalls ein Spanier) sowie in dem Gallier Paulinus von Nola (gestorben 431). Diese Autoren, unter ihnen wenigstens drei „Konvertiten" (Augustinus, Prudentius, Paulinus), repräsentieren mit ihrer sehr diversen Herkunft zugleich die geographische Erstreckung der damaligen christlichen Kultur im lateinischen Westen. Noch fehlt der Osten und der Norden des späteren christlichen Lateineuropa, das sich im 10. und 11. Jahrhundert durch den Zugewinn der Ungarn, der Polen und der Dänen komplettierte. Zu erwähnen bleibt noch ein Sonderfall: Bereits im fünften Jahrhundert begann im Nordwesten, von Britannien aus, die Christianisierung Irlands. Obwohl Irland zu keiner Zeit von den Römern erobert und zivilisiert worden war und über eine indigene Schriftkultur verfügte, erfolgte auch diese Mission in lateinischer Sprache - zumindest sind die schriftlichen Zeugnisse aus dieser Frühzeit lateinisch, wie natürlich auch die besonders reiche gelehrte Literatur der folgenden drei Jahrhunderte, in denen die Iren vor allem auf dem Gebiet der Grammatik und der Bibelexegese dem Festland tatsächlich etwas zu bieten hatten.
2 Vgl. dazu Reinhart HERZOGS vorzügliche „Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike" in: Reinhart HERZOG, Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 2 8 4 bis 3 7 6 nach Christus, Handbuch der lateinischen Literatur der Antike 5, München 1989, 1 - 4 4 , s o w i e Manfred FUHRMANN, R o m in der Spätantike. Portrait einer Epoche, Zürich 1994; ferner die einschlägigen Aufsätze aus den folgenden Sammelbänden: Paul Egon HÜBINGER (Hg.), Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, W e g e der Forschung 201, Darmstadt 1968; DERS. (Hg.), Zur Frage der Periodengrenze zwischen Altertum und Mittelalter, W e g e der Forschung 51, Darmstadt 1969; Richard KLEIN (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, W e g e der Forschung 267, Darmstadt 1971; Horst-Theodor JOHANN (Hg.), Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike, W e g e der Forschung 277, Darmstadt 1976; als Nachschlagewerk sehr nützlich: Siegmar DÖPP und W i l h e l m GEERLINGS (Hg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg, Basel und Wien 1998.
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D i e C h r i s t i a n i s i e r u n g E u r o p a s v o l l z o g sich also, w i e m a n sieht u n d w o r ü b e r m a n sich e i n e n A u g e n b l i c k a u c h w u n d e r n d a r f , a u s s c h l i e ß l i c h in l a t e i n i s c h e r S p r a c h e . D i e s e E n t w i c k l u n g war keineswegs das Resultat einer zentralen politischen oder organisierten kirchlichen Vero r d n u n g . D a s P a p s t t u m w a r bis in d a s h o h e M i t t e l a l t e r s c h w ä c h e r als m a n zu d e n k e n g e n e i g t ist, u n d d e r P a p s t w a r k e i n e s w e g s H e r r u n d V e r w a l t e r d e r c h r i s t l i c h e n K u l t u r , v i e l m e h r w a r er selber n u r ein m e h r o d e r w e n i g e r g e f r a g t e r Teil v o n ihr. D i e c h r i s t l i c h e K u l t u r existierte o h n e h i n u n d o h n e ihn. D i e c h r i s t l i c h e K u l t u r e x i s t i e r t e ü b e r h a u p t , n a c h d e m sie e i n m a l in d e n g l ä u b i g e n V ö l k e r n W u r z e l n g e s c h l a g e n hatte, j e n s e i t s u n d u n a b h ä n g i g v o n p o l i t i s c h e n Machtstrukturen und geographischen Grenzen. W o h e r a b e r b e z o g d a s C h r i s t e n t u m d i e Vitalität, die es m i t e i n e m M a l v o r a n d e r e n k o n k u r rierenden
K u l t e n a u s z e i c h n e t e u n d zu s e i n e m t r i u m p h a l e n S i e g f ü h r t e ? E s w a r z u n ä c h s t , na-
türlich, die B o t s c h a f t d e s E v a n g e l i u m s mit i h r e n die H e r z e n e r g r e i f e n d e n L e h r e n u n d Z u s a g e n für das persönliche und gemeinschaftliche Glück des erlösten Menschen, wobei, neben der u n ü b e r p r ü f b a r e n J e n s e i t s h o f f n u n g , die im H i e s i g e n zu e r f a h r e n d e S o l i d a r i t ä t d e r p r a k t i z i e r ten D i a k o n i e , c h r i s t l i c h neu u n d r e v o l u t i o n i e r e n d N ä c h s t e n l i e b e g e n a n n t u n d o f f e n b a r a u c h gelebt, am überzeugendsten gewirkt haben könnte. Dazu k a m dann, nach Jahrhunderten der Diskriminierung und Verfolgung, der politische U m s c h l a g zugunsten der Christen. W a s aber diese Religion zur damaligen Zeit vor anderen Religionen und Kulten auszeichn e t e . w o d u r c h sie b e s o n d e r s stark u n d l e b e n s f ä h i g - z u k u n f t s f ä h i g - w u r d e , w a r d e r U m s t a n d , d a s s sie nicht e t w a erst e i n m a l alles, w a s v o r ihr w a r , v e r n i c h t e t e u n d d a n n in i h r e m Sinn neu m a c h t e . D a m i t soll k e i n e s w e g s g e l e u g n e t w e r d e n , d a s s die C h r i s t e n d a m a l s w i e s p ä t e r viel K o s t b a r e s u n d S c h ö n e s b e s e i t i g t h a b e n , n u r weil es e b e n nicht c h r i s t l i c h w a r . A b e r es b l e i b t d o c h b e m e r k e n s w e r t , d a s s d a s C h r i s t e n t u m als e i n e B u c h r e l i g i o n d a s E x i s t i e r e n d e , z u m a l d a s in B ü c h e r n Ü b e r l i e f e r t e , d a n k b a r , s c h o n e n d u n d rational p r ü f e n d a u f n a h m u n d d a s B r a u c h b a r e f ü r s e i n e Z w e c k e nutzte. A u g u s t i n u s hat f ü r d i e s e n V o r g a n g ein Bild e r f u n d e n , das v o m Mittelalter, von den Humanisten und noch von Ignatius von L o y o l a ' gern aufgegriff e n w o r d e n ist: D i e C h r i s t e n sollen, so steht in „ D e d o c t r i n a Christiana", mit d e n p a g a n a n t i k e n K u l t u r s c h ä t z e n g e n a u so v e r f a h r e n , w i e es d i e Israeliten ( n a c h E x o d u s 11.2) mit d e m G o l d d e r Ä g y p t e r g e t a n h a b e n . D i e Israeliten n ä m l i c h h a t t e n in M o s e s ' A u f t r a g im V o r f e l d d e r g e p l a n ten F l u c h t v o n i h r e n ä g y p t i s c h e n N a c h b a r n b z w . N a c h b a r i n n e n gezielt g o l d e n e G e f ä ß e a u s g e l i e h e n , d i e sie d a n n b e i m A u s z u g a u s Ä g y p t e n e i n f a c h m i t g e h e n ließen, u m sie in J e r u s a l e m e i n z u s c h m e l z e n u n d z u m S c h m u c k d e s T e m p e l s f ü r d e n w a h r e n G o t t neu zu v e r w e n d e n . 4
3 Vgl. Georg Michael PACHTLER S.J. (Hg.), Ratio Studiorum et Institutiones scholasticae Societatis Iesu, Teil 1. M o n u m e n t a Germaniae Paedagogica 2, Berlin 1887, 27. 4 Vgl. Sancti Aurelii Augustini De doctrina Christiana, cura et studio Iosephi MARTIN. C o r p u s Christianorum, Series Latina 32, Aurelii Augustini Opera, Pars IV. 1. Turnhout 1962. 73.
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Β. Antikes Gold für den Christengott Und es war vieles, was man in solchem Sinn von der Antike übernehmen und gut gebrauchen konnte. Zu nennen sind hier wenigstens vier wichtige Punkte: 1. Bei der theologischen Grundlegung des Christentums wird die christliche Lehre mit der antiken, zumal der griechischen Philosophie produktiv abgeglichen und dadurch intellektuell stabilisiert. 2. Die stoische Moralphilosophie, für die vor allem Seneca steht, ist in ihrem anthropologisch wichtigsten Bereich, nämlich der Lehre von der Beherrschung der Affekte durch die dominierende Vernunft, mit dem Christentum durchaus kompatibel und diesem deshalb hochwillkommen. 3. Die philologische Methode der Auslegung poetischer Texte, wie sie in der griechischen Antike vor allem von den Alexandrinern (im 3. und 2. vorchristlichen Jahrhundert) an Homer und auch an den griechischen Dramatikern praktiziert worden war, wird konsequent in die Bibelexegese übernommen. Sichtbarstes Zeugnis und Modell dafür ist der Psalmenkommentar des Cassiodor aus dem 6. Jahrhundert 5 , der am Rande seiner Auslegung die rhetorischen Figuren des Psalmisten eigens markiert. Theologie ist durch das ganze Mittelalter und erst recht in der Reformation zum überwiegenden Teil Bibelexegese, in der Regel lateinische. 4. Die großen epischen Dichtungen der Römer, darunter Vergils Nationalepos „Aeneis", werden zum Modell für Bibelepen, in denen zwar der notorisch lügenhafte polytheistische Mythos der Antike durch die „Wahrheit des Evangeliums" ersetzt ist, die sich jedoch formal völlig den heidnischen Vorbildern anschließen. Das gilt zum Beispiel für die konsequente Übernahme des feierlichsten Verses der europäischen Literatur, des Hexameters, der auch noch in ihrem letzten großen Bibelepos, dem „Messias" des Quedlinburgers Friedrich Gottlieb Klopstock, zu Ehren gekommen ist.
C. Die lateinische Sprache als Vehikel des Paradigmenwechsels Die elementarste Basis und zugleich Garantie für dieses Weiterleben der Antike im Christentum ist freilich die, wenn auch über lange Zeit gefährdete und reduzierte Weiterexistenz der antiken Schule 6 , deren traditionelle Hauptaufgabe das richtige Erlernen
5 Vgl. Wolfgang BÜRSGENS, Cassiodor, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur (wie Anm. 2), 120 f.; Jose Miguel ALONSO-NUNEZ und Joachim GRUBER, Cassiodor(us), in: Lexikon des Mittelalters 2, 1551-1554.
6 Zur „Kanonisierung der alten Schule" vgl. HERZOG, Einführung (wie Anm. 2), 12. Dass die ziemlich mühelose Integration des heidnischen Bildungssystems und seiner Inhalte in die christliche Kultur nicht nicht etwa nur im griechischen Osten gelang (dies die These von Robert A. KASTER, Guardians of Language. The Grammarian and Society in Late Antiquity, Berkeley, Cal., 1988), sondern auch im lateinischen Westen, hat jüngst Ulrich SCHINDEL überzeugend nachgewiesen: Ulrich SCHINDEL, Der Beruf des Grammaticus in der Spätantike, in: Jürgen DUMMER und Meinolf VIELBERG (Hg.), Leitbild Wissenschaft?, Altertumswissenschaftliches Kolloquium 8, Stuttgart 2003, 173-189, bes. 180 ff.
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und die Pflege der lateinischen Sprache durch die Lektüre der klassischen Autoren war. Die Grammatiken, nach denen auch die Christen noch tausend Jahre lang Latein lernten, stammten von dem Nichtchristen Donat und dem zumindest in seinem artigraphischen Werk nicht christlich geprägten Priscian, und diese orientierten sich nur an der antiken Latinität. Allein durch ihre Beispielsätze aus den klassischen Autoren (besonders aus Vergil, Terenz, Cicero und Sallust) war die heidnische Antike in jeder Schulstunde auch im frömmsten Kloster präsent, und das hat die Christen, von Ausnahmen abgesehen, auf Dauer nicht gestört. 7 Um eine Ausnahme zu erwähnen: Der schon genannte Cassiodor fand es immerhin befremdlich, dass zu seiner Zeit (im 6. Jahrhundert) zwar ein intensiv genutzter öffentlicher Lehrbetrieb in den weltlichen Wissenschaften existierte, dass es aber für die Unterweisung in der Heiligen Schrift keine magistri publici gab. 8 Wenn der gewaltige Paradigmenwechsel von der polytheistisch heidnischen zur monotheistisch christlichen Kultur so vergleichsweise sanft und ohne die erwartbaren Zerstörungen, auch ohne das übliche Blutvergießen, vor sich ging (die späteren Religionskriege unter den Christen waren ungleich schlimmer), so ist das zu einem erheblichen Teil der Tatsache zu verdanken, dass die antike Kultur nicht etwa militärisch von außen, sondern gewissermaßen von innen erobert und transformiert wurde. Sichtbarstes Zeichen dafür ist das ungestörte Weiterleben der lateinischen Sprache unter den Christen, deren Grundlagentext, die Bibel, rechtzeitig ins Lateinische übersetzt wurde. Normalerweise ist die Sprache das primäre Identifikationsmedium eines Volkes und zugleich das wirksamste Herrschaftsinstrument einer jeden Macht. Es fügte sich für die Christen wunderbar, dass man die lateinische Sprache so lassen und in Dienst nehmen konnte, wie man sie vorfand. Sie wurde zum primären Identifikationsmedium nun nicht mehr eines Volkes, denn bald sprach kein Volk mehr diese Sprache als Muttersprache, vielmehr wurde sie zum Identifikationsmedium der christlichen Kultur, natürlich auch zu einem Herrschaftsinstrument, das die Volkssprachen empfindlich zu spüren bekamen. Darauf ist noch zurückzukommen. Aber die Sprache ist ja nichts ohne die Energie der darin ausgedrückten Ideen und ohne die sie tragenden und belebenden Individuen. Die innere Machtergreifung der christlichen Kultur wäre nicht gelungen, wenn es nicht überzeugende Individuen gegeben hätte, die in ihrer eigenen Existenz den Übergang von der alten zur neuen Kultur persönlich vollzogen und sozusagen verbürgt und verantwortet haben. Sie überschauten diesen weltanschaulichen Tausch, sie erkannten sehr wohl, was für das Neue aufzugeben war, und der Verzicht auf den elitären intellektuellen und ästhetischen Glanz der paganen Antike zugunsten der simplicitas. der Einfalt des Evangeliums, fiel ihnen in den meisten Fällen nicht leicht. Die Briefe des Hieronymus und Augustins „Confessiones" zeugen von solchen Konflikten. Die durchweg noch antik gebildeten Männer, die innerhalb ihrer eigenen Vita die Wende zur neuen christlichen Kultur vollzogen, dabei nach Kräften die Werte der Antike in das Christentum investierten und so mit dem antiken Gold dem Christentum mehr Glanz - oder überhaupt erst Glanz - verliehen, das sind die wahren Patres, die Väter des christlichen Europa.
7 Über die zeitweiligen christlichen Ergänzungen der Donat-Grammatik vgl. Louis HOLTZ. Donat et la tradition de l'enseignement grammatical, Paris 1981, 2 1 9 - 3 2 6 . 8 Cassiodori Senatoris Institutiones, hg. von Roger Α. B. M Y N O R S , Oxford (1937) 1961, 3 (Praefatio).
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Ich möchte nun von der bereits durch die Völkerwanderung gestörten, aber kulturell noch ergiebigen patristischen Zeit in eine Epoche übergehen, in der sich die Konturen Europas mit einem kohärenten geistigen Leben deutlicher abzuzeichnen beginnen, in das Reich Karls des Großen. 9 Zuvor aber müssen aus der zunehmend chaotisch werdenden Welt der sterbenden Antike noch drei Personen erwähnt werden, die das christliche Mittelalter mitbegründet haben.
D. Gründer des Mittelalters An erster Stelle steht, nicht dem geistigen Format seiner Person, aber der Bedeutung seines Lebenswerks nach, Benedikt von Nursia (1. Hälfte des 6. Jahrhunderts), der Gründer des Benediktinerordens und damit des vielfältig verzweigten und institutionalisierten abendländischen Mönchtums überhaupt. 10 Das folgenreichste, spezifisch unorientalische, Prinzip dieses Ordens ist das durch Gottesdienst und zivilisatorische wie kulturell-wissenschaftliche Arbeit disziplinierte klösterliche Gemeinschaftsleben. Wie die militärisch bewehrten Grenzen und Burgen das Territorium sicherten, so sicherten die Klöster in ganz Europa oft als geistliche Grenzmarken und als Basislager für die Missionare, die ja außer dem neuen Glauben auch Zivilisation brachten, die christliche Kultur. Wenn man allein bedenkt, dass der weitaus größte Teil der antiken Literatur überhaupt nur durch die unermüdliche und gegenüber den heidnischen Inhalten erstaunlich furchtlose, wahrhaft tolerante Tätigkeit der Skriptorien gerettet worden ist, dann ahnt man etwas von der Bedeutung der Klöster für Europa. Sie ist keineswegs geringer als die der Universitäten. Ein älterer Zeitgenosse Benedikts war Boethius, den man, da er in seinem Hauptwerk als Christ noch gar nicht zu erkennen ist, den „letzten Römer" genannt hat. Er hatte sich die Lebensaufgabe gestellt, die philosophischen Werke des Aristoteles und Piatos ins Lateinische zu übersetzen. Er kam damit nicht weit, weil er bereits mit 45 Jahren (im Jahre 524 in Pavia) von Theoderich wegen angeblichen Hochverrats hingerichtet wurde, doch stammten die wichtigsten lateinischen Schriften zur Logik, die man im Westen vor der großen Rezeption des Aristoteles im Hochmittelalter besaß und im Unterricht gebrauchte, von Boethius. Dazu kamen zwei weitere ebenfalls aus dem Griechischen übersetzte Schulbücher zur Musik und zur Arithmetik. Kaum zu ermessen aber ist die bis zum Humanismus dauernde Nachwirkung der
9 Vgl. dazu jetzt Paul Leo BUTZER u.a. (Hg.), Karl der Große und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, Bd. 1: Wissen und Weltbild - Charlemagne and his Heritage. 1200 Years of Civilization and Science in Europe, Vol. 1: Scholarship, Worldview and Understanding, Turnhout 1997; im vorliegenden Zusammenhang zentral der Aufsatz von Johannes FRIED, Karl der Große, die Artes liberales und die karolingische Renaissance, S. 2 5 - 4 3 ; ferner Rudolf SCHIEFFER, Über soziale und kulturelle Voraussetzungen der frühmittelalterlichen Literatur, in: Klaus VON SEE (Hg.), Europäisches Frühmittelalter, Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 6, Wiesbaden 1985, 71-90. 10 Vgl. Matthias SKEB OSB, Benedikt von Nursia, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur (wie Anm. 2), 106 f.; vgl. auch Rudolf HANSLIK, Benedikt von Nursia, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), 1867 f., sowie den für die Geschichte des Ordens wichtigen Artikel „Benediktiner, -innen" von Raoul MANSELLI u n d D i e t m a r v o n HUEBNER u.a., e b d . ,
1869-1902.
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„Consolatio P h i l o s o p h i a e " . In d i e s e m prosimetrischen W e r k beschreibt Boethius. wie er kurz vor seiner Hinrichtung von d e r personifizierten Philosophie im G e f ä n g n i s a u f g e s u c h t und getröstet wird. Die Philosophie lehrt ihn, z w i s c h e n d e m w a h r e n Glück, d e m summum bonum, und den vergänglichen Gliicksgütern dieser Welt zu unterscheiden. V o n der Karolingerzeit an hat man die „Consolatio P h i l o s o p h i a e " gelesen und k o m m e n t i e r t und f ü r Trostschriften und sonstige W e r k e literarisch (z.B. f ü r die T e c h n i k des alternierenden W e c h s e l s z w i s c h e n Vers und Prosa o d e r f ü r die T e c h n i k d e r Personifikation) z u m M o d e l l g e n o m m e n . M a n darf a n n e h m e n , dass j e d e r literarisch tätige G e b i l d e t e z w i s c h e n d e m 9. und d e m 16. Jahrhundert dieses W e r k g e k a n n t hat. Ein weiterer Repräsent d e r christlich-lateinischen Kultur ist hier zu nennen, der sich, bereits mitten in den Wirren der L a n g o b a r d e n k ä m p f e , durch e n e r g i s c h e und f o l g e n r e i c h e literarische und kirchenpolitische Aktivität a u s g e z e i c h n e t hat: G r e g o r der Große, d e r letzte der vier lateinischen Kirchenväter. G r e g o r , übrigens B i o g r a p h Benedikts, ist. als erster M ö n c h überhaupt, im Jahre 5 9 0 Papst g e w o r d e n und, von d i e s e m schwierigen A m t a u f g e r i e b e n , 6 0 4 gestorben. Er hat einige f ü r J a h r h u n d e r t e m a ß g e b l i c h e moraltheologische, e x e g e t i s c h e und pastorale W e r k e geschrieben, die in keiner Bibliothek des Mittelalters fehlten. Seine „Dialogi". f r o m m e v o l k s t ü m l i c h e G e s c h i c h t e n über w u n d e r b a r e Ereignisse, haben alle e u r o p ä i s c h e n Literaturen mit E r z ä h l m o t i v e n versorgt und sind f r ü h in die V o l k s s p r a c h e n übersetzt w o r d e n .
E. Karls des Großen lateinisches Reich Amabat peregrines
et in eis sitscipiendis
magnam
habebat curam. „er hegte große
S y m p a t h i e n f ü r A u s l ä n d e r und war sehr daran interessiert, sie bei sich a u f z u n e h m e n " , so beginnt Einhard von Fulda ein Kapitel seiner B i o g r a p h i e Karls des G r o ß e n . " In der Tat vers a m m e l t e Karl die h e r a u s r a g e n d e n Gelehrten seiner Zeit aus Italien. Spanien. Gallien. Irland und Britannien an seinem Hof, der zu einer Art e u r o p ä i s c h e r A k a d e m i e werden sollte. Es waren die bedeutendsten R e p r ä s e n t a n t e n der lateinischen Kultur seines Reiches. Karl, im Jahr 8 0 0 vom Papst in R o m gekrönt, verstand dieses Reich als ein neues Imperium Romanian und sah sich selbst gern in der Rolle des D i c h t e r f r e u n d e s A u g u s t u s . Er organisierte sein I m p e r i u m nach den Prinzipien von O r d n u n g und Recht, nach der norma rectitudinis. die alles, zumal alles G e s c h r i e b e n e , also zuerst einmal die S p r a c h e selber betraf. O b w o h l er. wie Einhard ausdrücklich berichtet, die V o l k s s p r a c h e förderte 1 2 , galt seine erste S o r g e der lateinischen Sprache, die er o f f e n b a r selber beherrschte und die das e n t s c h e i d e n d e und einende Instrument seiner H e r r s c h a f t w u r d e . " Eines d e r p r o m i n e n t e s t e n Z e u g n i s s e der sog. Karolingischen B i l d u n g s r e f o r m , die im wesentlichen auf den Ideen des A n g e l s a c h s e n Alkuin beruht, ist die „Epistola de litteris
11 Einhardi Vita Karoli M a g n i . hg. von O s w a l d HOI.DER-EGGF.R ( M G H SS. rer. G e r m , in u s u m scholarum [25]). H a n n o v e r 1911, N e u d r u c k 1965. 2 6 (cap. 21). 12 Vita Karoli (wie A n m . 11), 33 (cap. 29). 13 Vgl. M a n f r e d FUHRMANN, Latein u n d E u r o p a . G e s c h i c h t e des gelehrten Unterrichts in D e u t s c h l a n d von Karl d e m G r o ß e n bis W i l h e l m II., Köln 2 0 0 1 . 7 - 1 5 .
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colendis" („Brief über die literarische Bildung"), kurz vor oder um 790 zunächst an den Fuldaer Abt Baugulf gerichtet, danach als allgemeines Mahnschreiben im Reich bekannt gemacht. 14 Es ging in diesem Brief um die dringend notwendige Verbesserung der literarischen Bildung in den Klöstern, genauer um die sorgfältige Pflege der lateinischen Sprache, die der Bemühung um moralische und geistliche Vervollkommnung der Mönche analog sein sollte. Dieser Bemühung liegt ein wahrhaft humanistisches Prinzip zugrunde, nämlich der schon für Cicero leitende und von den Humanisten im 15. bis 17. Jahrhundert wie ein Dogma verkündete Gedanke, dass recte loqui und recte vivere sich gegenseitig bedingen, dass Sprache eine den Menschen disziplinierende geradezu moralische Norm und der eigentliche humane Ausdruck seiner Persönlichkeit ist. Der etwas komplizierte zentrale Satz aus Karls Brief lautet: Notum igitur sit deo placitae devotioni vestrae, quia nos una cum fidelibus nostris consideravimus utile esse, ut per episcopia et monasteria nobis Christo propitio ad gubernandum commissa praeter regularis vitae ordinem atque sanctae religionis conversationem etiam in litterarum meditationibus eos, qui donante domino discere possunt secundum uniuscuiusque capacitatem discendi Studium debeant impendere, qualiter, sicut regularis norma honestatem morum, ita quoque docendi et discendi instantia ordinet et ornet Seriem verborum, ut, qui deo placere appetunt recte vivendo, ei etiam placere non neglegant recte loquendo. Scriptum est enim: ,Aut ex verbis tuis iustificaberis aut ex verbis tuis condemnaberis15 - „Also sei Eurer gottgefälligen Frömmigkeit kund, dass wir es gemeinsam mit unseren Getreuen für nützlich gehalten haben, dass (an den Bischofsitzen und 16 ) in den Klöstern, die uns durch die Gnade Christi zur Lenkung anvertraut sind, abgesehen vom rechten Leben gemäß der Ordensregel und einem gewissenhaften christlichen Lebenswandel, diejenigen, die durch Gott dafür begabt und gemäß der geistigen Fähigkeit eines jeden in der Lage sind, sich zu bilden, ihren Lerneifer auch auf die Beschäftigung mit geschriebenen Texten lenken sollten, damit genau so wie die Vorschrift der monastischen Regel dem sittlichen Leben, so auch der eifrige Einsatz für das Lehren und Lernen der Sprache 17 die rechte Ordnung und Zierde verleihe, so dass alle, die sich darum bemühen, durch ein rechtes Leben Gott zu gefallen, auch danach streben, ihm durch eine einwandfreie Sprache zu gefallen." Und jetzt folgt eine Drohung mit einem bedenklich umgedeuteten Zitat aus dem Matthäusevangelium: „Denn es steht geschrieben:, Von deinen Worten hängt es ab, ob du gerechtfertigt oder aber verdammt wirst.',,' 8 Die Bemühung um die korrekte lateinische Sprache wird zum primären Anliegen der von Karl systematisch eingerichteten Schulen, und das bleibt so durch das ganze Mittelalter. Die Grammatik ist das Hauptfach und die Königin der Sieben freien Künste, die freilich alle nach lateinischen Lehrbüchern der Antike und Spätantike gelehrt werden. Von der karolingischen Zeit an gibt es zahlreiche dem aktuellen Schulbetrieb entstammende Kommentare zu Donat
14 Vgl. Thomas MARTIN, Bemerkungen zur ,Epistola de litteris colendis', in: Archiv für Diplomatik 31 (1985), 227-272, die beiden überlieferten Fassungen sind S. 231 bis 235 ediert. 15 Epistola (wie Anm. 14), 231 f. (nach der Metzer Handschrift). 16 Die Erwähnung der episcopia ist erst in der späteren Fassung dazugekommen. 17 Series verborum ist eine im Mittelalter geläufige Etymologie für sermo. 18 Mt. 12, 37; im Matthäusevangelium geht es natürlich nicht um die fehlerhaften lateinischen Wörter, sondern um die unnützen Worte, das unnütze Gerede, der Menschen.
Die lateinische K u l t u r als tertium
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und auch zu Priscian. Es ist die Zeit, in der sich die lateinische Sprache durch eine bewusste Selbstbesinnung und Selbstreinigung von der schleichenden Infektion durch die aus dem Lateinischen allmählich abgesunkenen romanischen Volkssprachen abtrennt und diese vulgärlateinischen Volkssprachen allmählich in die Freiheit und in ihr eigenes Recht entlässt. Allerdings hat die erdrückende Präsenz der lateinischen Sprache im tradierten Schrifttum und in der aktuellen Schule die Volkssprachen, die romanischen wie die germanischen und slavischen, dermaßen eingeschüchtert, dass diese sich erst im Hochmittelalter oder noch später eigene literarische Leistungen zutrauen, die dann auch objektiv mit der lateinischen Literatur konkurrieren konnten. Es würde hier zu weit führen, die Entwicklung der volkssprachigen Literaturen in ihrem sich nur vorsichtig emanzipierenden Verhältnis zur lateinischen Literatur im einzelnen zu verfolgen. Es gibt volkssprachige Bereiche, wie etwa den französisch dominierten höfischen Roman oder den Minnesang, der unabhängig vom Lateinischen gedeiht. In der Regel aber orientieren sich die volkssprachigen Literaturen an lateinischen Modellen und bedienen sich aus dem reichen Schatz der lateinisch tradierten Stoffe.
F. Die lateinische Liturgie Bisher war im wesentlichen von der europaweit lebendigen lateinischen Literatur, der christlichen und der christlich vermittelten antiken Literatur, die Rede. Sie bildet in der Tat den großen Vorrat an lateinischem Lesestoff, den Kanon für die mittelalterliche Schule und den sonstigen mit Literatur befassten Kulturbereich. Doch fast noch wichtiger, weil elementarer und näher an den Herzen als an den Köpfen war das Lateinische im geistlichen Leben, vor allem in der Liturgie. In den Gottesdienst gehörten die Lesungen ausgewählter Stücke, der sog. Perikopen, aus der lateinischen Vulgata, über die gepredigt wurde. So hat jeder Christ im Laufe seines Lebens immer wieder die zentralen Texte der Heiligen Schrift gehört oder zumindest erklärt bekommen: die Texte der Passion, die biblischen Gleichnisse (vom Verlorenen Sohn, von den Klugen und Törichten Jungfrauen, von den Talenten, vom Sämann), die Erzählungen über Maria und Martha, über die wunderbare Brotvermehrung, über die Erweckung des Lazarus usw. In jeder Totenmesse wurde seit dem 13. Jahrhundert die Sequenz „Dies irae" gesungen oder gebetet, die. von der Musik gerettet, nicht anders als die vertonten Messen, sogar noch heute zum lateinischen Vorrat der europäischen Kultur gehört. Die geistlich Lebenden, Mönche oder Weltgeistliche, beteten jahrhundertelang täglich im Brevier eine große Zahl zum Teil sehr alter lateinischer Hymnen und in jedem Fall einmal pro Woche den ganzen lateinischen Psalter." Soviel andeutungsweise zum universalen Lebensraum des Lateinischen im kirchlichen Alltag. Nur mit einem einzigen Satz kann ich darauf hinweisen, dass der Bereich des Rechtslebens natürlich eine machtvolle Domäne der lateinischen Sprache war.
19 Ü b r i g e n s w a r der Psalter - s p r a c h p ä d a g o g i s c h eine H o r r o r v o r s t e l l u n g - die erste Lateinfibel der mittelalterlichen Klosterschüler.
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G. Die lateinische Kultur der europäischen Universitäten der Humanismus Jenseits des elementar schulischen und des kirchlichen Lebens erhält das Lateinische seit dem 12. Jahrhundert eine stabile Heimstätte und eine große Aufgabe in der europäischen Institution der Universität. 20 Die Universitäten waren mit der Mobilität ihrer Professoren und Studenten und durch deren internationalen Multiplikationseffekt den Kloster- und Domschulen natürlich überlegen. Sie lehren bis in die frühe Neuzeit herein exklusiv lateinisch und werden zu den wahren Umschlagplätzen für das geistige Leben in Europa, mit Schwerpunkten zunächst in Italien, Frankreich, England, Spanien, später in Mitteleuropa (Prag gegründet 1347, Krakau 1364, Wien 1365, Heidelberg 1386, Köln 1388, Erfurt 1392, Leuven 1424, Basel 1460 und so weiter). Selbstverständlich bekommen sie auch zu tun mit einer geistigen Strömung, die im 14. Jahrhundert von Italien ausgeht und ganz Europa erfasst: Ich meine den Humanismus. Er wird ausgelöst und befördert durch die Wiederentdeckung der Antike, und führt noch einmal, wie tausend Jahre zuvor, zu einer Konfrontation der „herrschenden" christlichen mit der paganantiken Welt. Er führt insbesondere zu einer ungeahnten, hybriden Glorifizierung der von der Verderbnis des Mittelalters gereinigten lateinischen Sprache. Sie nämlich ist die anerkannte „Königin" (regina) Europas, deren Herrschaft keines eigenen sie tragenden Volkes bedarf, weil sie eben über allen und über alle Nationen herrscht. Sie ist das veredelte „Saatgut", das Europa fruchtbar macht, sie besitzt schließlich eine „sakramentale" Kraft und stellt geradezu eine „göttliche Macht" dar. Erfunden hat diese Ruhmesmetaphern der italienische Humanist Lorenzo Valla, der in der Vorrede zu seinen „Elegantiarum linguae Latinae libri sex" (1449) schreibt:... ita [... ] constat: nullos tarnen ita linguam suam ampliasse, ut nostrifecerunt: qui [...] brevi spatio linguam Romanam [...] celebrem et quasi reginam effecerunt et, quöd ad ipsas provincias attinet, velut optimam quandam frugem mortalibus adfaciendam sementem praebuerunt: opus nimirum multo praeclarius, multoque speciosius, quam ipsum imperium propagasse. [...] Magnum ergo Latini sermonis sacramentum est, magnum profectö numen, quod apud peregrinos, apud barbaros, apud hostes sancte atque religiose per tot secula custoditur, ut non tarn dolendum Romanis, quam gaudendum sit, atque ipso etiam orbe terrarum exaudiente gloriandum. Amisimus Romam, amisimus regnum, amisimus dominatum, tametsi non nostra, sed temporum culpa: veruntamen per hunc splendidiorem dominatum in magna adhuc orbis parte regnamus.21 - „So steht denn fest [auch wenn es viele andere Imperien von langer Dauer gegeben hat], dass kein anderes Volk den Einflussbereich seiner Sprache so ausgedehnt hat wie unsere römischen Vorfahren, welche ihre Sprache in kurzer Zeit berühmt und gewissermaßen zur Königin gemacht haben und sie, was die römischen Provinzen betrifft, den Menschen dort wie eine hervorragende Frucht zum Aussäen anboten. Das ist nun freilich eine viel beachtlichere und viel glanzvollere Leistung, als nur die politische Macht ausgeweitet zu haben. [...] So hat die lateinische Sprache eine
20 Vgl. Jacques VERGER, Universität, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997), 1249-1255, und Walter RÜEGG (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993. 21 Laurentius Valla, Opera omnia, mit einem Vorwort von Eugenio GARIN, Teil 1: Scripta in editione Basilensi anno M D X L collecta, Turin 1962, 3 f.
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tief geheimnisvolle Kraft, f ü r w a h r eine göttliche Macht, die (sogar] bei f r e m d e n Völkern, bei Barbaren und bei unseren Feinden schon so viele Jahrhunderte als unantastbar angesehen und heilig gehalten wird. Deshalb sollten wir R ö m e r nicht traurig sein, sondern uns vielmehr freuen und uns selbst, während alle Welt uns dabei zuhört, rühmen: zwar haben wir unser altes R o m verloren, wir haben unser früheres Reich verloren, wir haben unsere Herrschaft verloren, allerdings nicht durch unsere Schuld, sondern durch die Ungunst der Zeiten. - jedoch: durch diese glanzvollere Macht [der lateinischen Sprache] üben wir heute noch immer in einem großen Teil der Welt unsere Herrschaft aus." Es hat fast etwas von Tragik, aber es war natürlich unvermeidlich, dass der H u m a n i s m u s mit seinem Sprachpurismus zwar den Höhepunkt, zugleich aber auch das Ende der alltäglich erfahrbaren lateinischen Kultur Europas brachte. Die Humanisten sagten sich los v o m angeblich dunklen und d u m m e n Mittelalter (seither gibt es diese Vorstellung) und sprangen zurück in die Antike, deren authentische Sprache und deren authentisches Lebensgefühl sie wiederbeleben wollten. Keine Kultur und keine Sprache ist so zu verpflanzen. In Wahrheit bewirkte der H u m a n i s m u s eine in die Neuzeit führende h u m a n e Emanzipation (zwei der drei Namen, die nach Nietzsche auf der „Fahne der A u f k l ä r u n g " s t e h e n " , sind Humanisten: Petrarca und Erasmus: dazu kommt Voltaire), und er bewirkte insgesamt eine Säkularisierung des Lebens, die konsequenterweise die Kultur auch f ü r die Volkssprachen öffnete. Die Reformation profitierte zunächst vom H u m a n i s m u s , dessen Kultivierung der alten Sprachen von Luther selber und zumal von Melanchthon unterstützt wurden, später aber ging sie ihren eigenen W e g . und sie wählte f ü r die Verkündigung ihres Evangeliums gegen die Papisten realistischerweise die Volkssprache. Die lateinische Sprache blieb bestehen in der Katholischen Kirche, und sie hatte natürlich noch für einige Jahrhunderte in den Gymnasien beider Konfessionen einen hoch respektierten Platz. 11 Im H u m a n i s m u s war die lateinische Sprache zum letzten Mal M e d i u m und Inbegriff der von Erasmus so genannten Gelehrtenrepublik, der res publica litteraria. In dieser Gelehrtenrepublik äußerten christlich sozialisierte und an der Antike gebildete Männer über die nationalen Grenzen hinweg mit großem Freimut ihre Gedanken über die wünschbare Entwicklung der Völker. Ich möchte z u m Abschluss noch an einen solchen Humanisten erinnern, an einen Mann, der mit seiner eigenen Vita nicht nur f ü r den Glanz, sondern auch für die Tragik der europäischen Kultur steht: Es ist Juan Luis Vives, ein 1492 in Spanien (in Valencia) geborener Jude, der, obwohl getauft, aus Angst vor der Inquisition, der seine Eltern zum O p f e r gefallen waren, nach seinem Studium in Paris nicht mehr in seine Heimat zurückkehrte, sondern in Frankreich, in England und in den Niederlanden ein zum Teil einsames Leben verbrachte. Er hat ein denkwürdiges lateinisches Oeuvre hinterlassen, das für mehr als ein Jahrhundert in Europa fast so bekannt war wie das seines Freundes Erasmus. : J Sein
22 Friedrich NIETZSCHE. M e n s c h l i c h e s A l l z u m e n s c h l i c h e s I. 26. in: NIETZSCHE. W e r k e . Kritische G e s a m t a u s g a b e , hg. von G i o g i o COLLI und M a z z i n o MON TINARI. Abt. 4. Bd. 2. Berlin 1967. 4 2 f. 23
Vgl. d a z u FUHRMANN (wie A n m .
13).
24 Vgl. T h o m a s B. DEUTSCHER, Juan Luis Vives. in: Peter G. BIETENHOLZ (Hg.). C o n t e m p o r a r i e s of E r a s m u s . A Biographical Register of the R e n a i s s a n c e and R e f o r m a t i o n . Bd. 3. T o r o n t o . B u f f a l o . L o n d o n 1987. 4 0 9 - 4 1 3 .
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eigentlicher Beitrag zur Kultur, zur geistigen Erziehung dieses Europa und zum politischen, gesellschaftlichen und religiösen Diskurs seiner Zeit besteht darin, dass er in seinen Werken unermüdlich die Prinzipien praktischer Humanität propagierte. 25 Er wollte die Individuen innerlich stärken und die kirchliche wie die staatliche Gemeinschaft, schließlich die Staaten untereinander, befrieden, indem er ihnen durch Erziehung und aufklärende Bildung das kostbare Gut der dignitas hominis empfahl, das der italienische Humanismus bei der Begegnung mit der Antike enthusiastisch wiederentdeckt hatte. In seinem großen Werk über die Wissenschaften und ihre Vermittlung („De disciplinis") liest man ein schönes Bekenntnis zur humanen Erziehung des Menschen, das zum Abschluss dieser Überlegungen zitiert sei: Cogitanti mihi nihil esse in vita vel pulchrius vel praestabilius cultu ingeniorum, quae disciplinae nominantur, qui nos a ferarum ritu et more separat, humanitati restituit, et ad Deum extollit ipsum, visum est de Ulis, quantum ipse quidem assequerer, litteris mandare.26 - „Da ich bedachte, dass es nichts Schöneres und nichts Wertvolleres im Leben gibt als die unter dem Begriff der disciplinae27 gefasste Ausbildung der geistigen Anlagen des Menschen, die uns unterscheidet vom Verhalten und der Art der Tiere, die uns vielmehr recht eigentlich zu Menschen macht und sogar zu Gott emporhebt, habe ich beschlossen, davon, soweit ich eben dazu in der Lage wäre, in diesem Buch zu handeln."
25 Vgl. August BUCK, Juan Luis Vives' Konzeption des humanistischen Gelehrten, in: DERS., Studien zu Humanismus und Renaissance. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1981-1990, hg. von Bodo GUTHMÜLLER, K a r l KOHUT u n d O s k a r ROTH, W i e s b a d e n 1991, 1 4 1 - 1 5 4 .
26 Emilio HIDALGO-SERNA (Hg.), Juan Luis Vives. Über die Gründe des Verfalls der Künste. De Causis corruptarum artium, Lateinisch-deutsche Ausgabe, Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen, Reihe 2: Texte, 28), München 1990, 118. 27 Gemeint sind die disciplinae bzw. art es liberales.
Heiraten - ein Instrument hochmittelalterlicher Politik Hedwig Röckelein
Zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert wurden zahlreiche interethnische Ehen zwischen den Führungsschichten der Slaven, der Ungarn, der Franken, der Skandinavier und der Angelsachsen geschlossen. 1 Diese Eheschließungen waren sozial, politisch und kulturell wirksam.
1. Die Ehe als soziale Tatsache Dass es zwischen diesen unterschiedlichen Ethnien überhaupt zu Heiratsbeziehungen kommen konnte, setzt voraus, dass die Ehe im sozialen und politischen Leben dieser gentes trotz aller Differenzen eine vergleichbare Bedeutung hatte. Über die Regeln und Rituale des Heiratens gab es offenbar in Laienkreisen einen übergentilen Konsens. Das ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass der Westen sich bis ins 12. Jahrhundert hinein mit divergierenden und konkurrierenden Rechtsauffassungen zur Ehe herumschlug und die kirchlichen Positionen lange Zeit mit den weltlichen Vorstellungen nicht in Einklang standen. Die politische Heiratspraxis scheint aber von den juristischen und theologischen Kontroversen weitgehend unberührt geblieben zu sein. Dessen ungeachtet stellt sich das historiographische Problem, dass die Nachrichten über sexuelle Beziehungen und Vertragsehen fast ausnahmslos aus der Feder westlicher Kleriker und Mönche stammen, die im kanonischen Eherecht bewandert waren und daher diese Heiraten nicht nur als soziale und politische Tatsachen, sondern auch moralisch bewerteten.
1 Die d u r c h S c h r i f t q u e l l e n in d i e s e m Z e i t r a u m n a c h g e w i e s e n e n E h e s c h l i e ß u n g e n sind so zahlreich, dass sie an dieser Stelle nicht alle a u s f ü h r l i c h b e h a n d e l t w e r d e n k ö n n e n . Ich w e r d e d a h e r Beispiele ausw ä h l e n , an d e n e n strukturelle Z ü g e der Heiratspolitik a u f g e z e i g t werden k ö n n e n . Für einige D y n a s t i e n b e z i e h u n g s w e i s e G e n t i l v e r b ä n d e liegen detaillierte U n t e r s u c h u n g e n vor: Kurt ENGELBERT. Die d e u t s c h e n F r a u e n der Piasten von M i e s z k o I. (+ 992) bis Heinrich I. ( t 1238), in: Archiv f ü r schlesische Kircheng e s c h i c h t e 12 (1954), 1 - 5 1 ; M a n f r e d HELLMANN, Die Heiratspolitik Jaroslavs d e s W e i s e n , in: F o r s c h u n g e n zur o s t e u r o p ä i s c h e n G e s c h i c h t e 8 (1962), 7 - 2 5 ; Raissa BLOCH. V e r w a n d t s c h a f t l i c h e B e z i e h u n g e n des s ä c h s i s c h e n A d e l s z u m russischen F ü r s t e n h a u s e im 11. J a h r h u n d e r t , in: L e o SANTIFALLER (Hg.). Festschrift f ü r Albert B r a c k m a n n , W e i m a r 1931, 1 8 5 - 2 0 6 ; N i c o l a s Pierre Serge de BAUMGARTEN. G e n e a l o g i e s et m a r i a g e s o c c i d e n t a u x des R u r i k i d e s R u s s e s du X e au XIII'' siecle. Orientalia Christiana 9. R o m 1927. Auf die V e r b i n d u n g e n des o s t f r ä n k i s c h e n A d e l s zu den b ö h m i s c h e n P r e m y s l i d e n und Piasten wird hier nicht e i n g e g a n g e n . Vgl. dazu die Ü b e r s i c h t „ H e i r a t s v e r b i n d u n g e n von P r e m y s l i d e n und Piasten mit deutschen A d e l i g e n im 11. J a h r h u n d e r t " , in: H a g e n KELLER, Z w i s c h e n regionaler B e g r e n z u n g und u n i v e r s a l e m Horizont. D e u t s c h l a n d im I m p e r i u m der Salier und S t a u f e r 1 0 2 4 - 1 2 5 0 , Propyläen G e s c h i c h t e D e u t s c h l a n d s 2. Berlin 1986. 99.
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Das übergentile Eheverständnis basierte auf vergleichbaren Sozialsystemen in den westlichen und den slavischen beziehungsweise ungarischen Ethnien: auf einer tribalen und patriarchalen Gesellschaftsstruktur, die den Prinzipien der Patrilinearität und Patrilokalität verpflichtet war, und in der der Frauentausch praktiziert wurde. 2 In einem zirkulären, auf Reziprozität angelegten Tauschsystem (Marcel Mauss) 3 gaben die Aristokraten und Monarchen des Westens wie des Ostens ihre Schwestern und Töchter gleichrangigen oder niederrangigeren Fürsten in die Ehe. Die zeremoniellen Regeln und die vertraglichen Vereinbarungen der Eheschließung wurden durch den Gentilverband und die Familie des Bräutigams bestimmt. Mit der Hochzeit wechselte die Braut von der Herkunftsfamilie in die patria potestas und den Rechtsschutz der Familie ihres Bräutigams und Ehemannes. In der Kiever Rus' symbolisierte der Ritus des Schuheausziehens 4 die Subordination der Ehefrau unter die Gewalt des Ehemannes, verbunden mit eingeschränkter Rechts- und Geschäftsfähigkeit. Nach den Berichten des Bonifatius - der freilich kein Augenzeuge war - und des al-Masudi verbrannten die Slawen die Witwe des Fürsten nach dessen Tod. 5 Seit dem 11. Jahrhundert gibt es über die Witwenverbrennung jedoch keine Nachrichten mehr. Im Westen wie im Osten waren heterosexuelle Partnerschaften sozial und ethisch auch außerhalb der „legitimen" Form der Vertragsehe akzeptiert. Für Polen und die Kiever Rus' sind diese Partnerschaften im 11. und 12. Jahrhundert vielfach bezeugt. Das Zusammenleben von Mann und Frau ohne Ehevertrag war bis ins 12./13. Jahrhundert hinein, bis sich die kirchliche Ehemoral durchsetzte, keineswegs sanktioniert oder gesellschaftlich geächtet. Allerdings bewerten die klerikalen Schriftsteller der Zeit die Kohabitation ohne conubium/conjugium pejorativ als „Konkubinat". Die griechische Kirche verurteilte das Konkubinat sogar noch schärfer als die römische. Ein bischöfliches Dekret aus Polen stärkte unter Berufung auf das kanonische Recht den Konsens (consensus de praesenti) der Heiratswilligen gegenüber dem Willen der Eltern.6 Während die Kinder aus undotierten Beziehungen im Westen keinen Anspruch auf das familiäre Erbe erheben konnten, partizipierten sie in den slavischen Gesellschaften an Besitz und Herrschaft. Dies führte nach dem Tod des Fürsten häufig zu Rivalitätskämpfen zwischen den legitimen und illegitimen Nachkommen. Die katholische Kirche bekämpfte die polygamen und polygynen Beziehungen in den Führungsschichten des Westens bereits in merowingischer Zeit, im Osten seit dem 10. Jahrhundert. Bischof Adalbert von Prag zog die Feindschaft des böhmischen Adels auf sich, weil er die Polygamie verfolgte. 7 Als Mieszko I. von Polen 965 die christliche Prinzessin Dobrava
2 Zu den Heiratsregeln der slavischen und ungarischen Gesellschaften im Früh- und Hochmittelalter vgl. Aleksander GIEYSZTOR, La femme dans les civilisations des X c -XIII e siecles: la f e m m e en Europe Orientale, in: Cahiers de Civilisation Medievale 20 (1977), 189-200. Zu den Verhältnissen im Westen vgl. Gerard FRANSEN, La formation du lien matrimonial au Moyen Age, in: Rene METZ und Jean SCHLICK (Hg.), Le lien matrimonial. Actes du Colloque de Cerdic, Hommes et Eglise 1, Straßburg 1970, 106-126. 3 Marcel MAUSS, Die Gabe. Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1968; franz. Originalausgabe: Essai sur le don, Erstdruck in: Annee Sociologique 2. ser. 1 (1923/24). 4
GIEYSZTOR, L a f e m m e ( w i e A n m . 2 ) , 196.
5 Die Quellen bei GIEYSZTOR, La f e m m e (wie Anm. 2), 195. 6 Zu den Quellen vgl. GIEYSZTOR, La femme (wie Anm. 2), 192. 7 Hedwig KARWASINSKA (Hg.), Sancti Adalberti episcopi Pragensis et martyris vita prior, Monumenta Poloniae Historica N.S. 4,1, Warschau 1962, 18.
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von Böhmen heiraten wollte, musste er zuvor seine sieben heidnischen Frauen entlassen.* Im 12. Jahrhundert predigte Bischof Otto von Bamberg den Pruzzen nicht nur das Evangelium, sondern auch die Monogamie. lJ Die westlichen Missionare berichten regelmäßig über polygame Praktiken bei den heidnischen gentes. Möglicherweise verbirgt sich dahinter aber eher ein xenophobes Stereotyp der Christen als die realen Verhältnisse. Gieysztor nimmt an - freilich ohne es beweisen zu können - , dass bei den Polen wie bei anderen slavischen Stämmen polygame Geschlechterbeziehungen schon vor dem Beginn der Christianisierung eher die Ausnahme als die Regel waren. 10 Eine multiethnische, politisch anerkannte und wirksame Ehe bedurfte ohnehin der Dotierung und vertraglichen Regelung und wurde bei den Franken. Slaven und Ungarn gleichermaßen in einem mehrstufigen rituellen Prozess öffentlich und vor Zeugen vollzogen." Das Heiratsverfahren wurde eingeleitet mit der Verabredung der Eltern von Braut und Bräutigam über die Höhe der unter den Familien zu tauschenden Güter, der D o s i : und der Aussteuer für die Braut", sowie über die Anteile der Ehepartner wie der in der Ehe gezeugten Kinder am mobilen wie immobilen Erbe. Mit der Verlobung der Brautleute gingen beide Seiten eine bindende Verpflichtung zur Heirat ein. Der Bruch des Verlobungsversprechens war mit Sanktionen belegt. Mit der Übergabe der Braut aus der Hand des Brautvaters in die des Bräutigams, einem sich anschließenden festlichen Gastmahl und der körperlichen Vereinigung fand der Hochzeitsritus seinen Abschluss. Klerikale Autoren berichten bis ins 13. Jahrhundert
8 C a r o l u s MALECZYNSKI (Hg.). G a l l u s A n o n y m u s . C r o n i c a et gesta d u c u m sive p r i n c i p u m Polonorum..
Monumenta Poloniae Historica N.S. 2. Krakau 1952. 15. c. 5: Adluic tarnen in tcmto gentilitatis errore inrolrebütur, quod sua consueludine VII u.xoribits abutebatur. Postremo unam christianissimam de Bohemia Dubroueam nomine in matrimonium requisivit. At ilia, ni ρ ravam consuetudinem illam dimittat, sesequefieri christianumpromittat, sibi nubere recitsavit. Vgl. d a z u G I E Y S Z T O R . La f e m m e (wie A n m . 2). 190. 9 Jan WIKARJAK und C a s i m i r LIMAN (Hg.). E b b o n i s Vita S. Ottonis episcopi B a b e n b e r g e n s i s . M o n u m e n t a Poloniae Historica N.S. 7,2. W a r s c h a u 1969. lib. II. c. 12. 74: uniisquisque contentus sit una it.xore. 10 GIEYSZTOR. La f e m m e (wie A n m . 2). 190. 11 Für die Slaven vgl. GIEYSZTOR. La f e m m e (wie A n m . 2). 191 und 193 f.: f ü r den W e s t e n vgl. Cyrille VOGEL. L e s rites de la celebration du mariage: leur signification dans la f o r m a t i o n du lien durant le haut m o y e n äge. in: II m a t r i m o n i o nella societä a l t o m e d i e v a l e . 2 2 - 2 8 aprile 1976. Settimane di studio del C e n t r e Italiano di Studi s u l F A l t o M e d i o e v o 24. S p o l e t o 1977. Bd. 1. 3 9 7 - 4 7 2 . 12 GIEYSZTOR. La f e m m e (wie A n m . 2). 192 f. vertritt die Ansicht, d a s s in den slavischen Gesell-
schaften die dos. das dotalitium, die donatio propter nuptias seit dem 13. Jahrhundert den Brautpreis, das wiano abgelöst h a b e (von lat. vendere , k a u f e n ' ) . A u c h in der älteren rechtshistorischen F o r s c h u n g des W e s t e n s w u r d e die T h e s e vertreten, die M u n t e h e der v ö l k e r w a n d e r u n g s z e i t l i c h e n G e r m a n e n sei eine „ K a u f e h e " g e w e s e n (vgl. s o d a s H a n d w ö r t e r b u c h zur deutschen R e c h t s g e s c h i c h t e 1 (1971). Sp. 811 f.). D a z u j e d o c h kritisch: Fritz MEZGER, Did the institution of m a r r i a g e by p u r c h a s e exist in Old G e r m a n i c law?, in: S p e c u l u m 28 (1943). 3 6 9 - 3 7 1 . Die Juristen hatten dabei die dos. d a s W i t w e n g u t . als ..Kaufpreis'" interpretiert. Zu den g e r m a n i s c h e n Praktiken vgl. Paul MIKAT. Dotierte E h e - rechte Ehe. Z u r E n t w i c k l u n g d e s E h e s c h l i e ß u n g s r e c h t s in f r ä n k i s c h e r Zeit, O p l a d e n 1978. 13 Ü b e r die Kosten f ü r die V e r e h e l i c h u n g der T ö c h t e r berichtet Ibrahim ibn Y a ' k ü b . der sich 9 6 5 bei seinem B e s u c h a m Hof Ottos des G r o ß e n über die Hochzeitsriten der Slaven e r k u n d i g t e : T a d e u s KOWALSKI (Hg.), Relatio I b r a h i m - i b n - J a k u b de itinere Slavico. M o n u m e n t a P o l o n i a e Historica N.S. 1. Krakau 1946. 50.
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hinein vom Ritus der Brautentführung bei den Polen und den Kiever Rus' und verurteilen ihn als rechtswidrigen raptus. Auch die frühmittelalterlichen leges des Westens verurteilten diese Praxis und sprachen der Brautfamilie das Recht auf Fehde zu. Gieysztor meint, die Entführung sei in Polen in der Regel mit Zustimmung der Braut erfolgt, vor allem dann, wenn die Familien die Zustimmung zur Ehe verweigerten. 14 Das Fehderecht der Brautfamilie sei bei den Slaven schon früh durch Geldbußen abgelöst worden. Während sich die Rechtsauffassungen und sozialen Praktiken der Eheschließung und des Brautraubes beziehungsweise der Brautentführung im Westen wie im Osten glichen, divergierten die Ansichten über Ehehinderung, die Auflösung der Ehe, Trennung, Scheidung und Verstoßung der Ehefrau stark.15 Wenngleich bei den Polaben und Böhmen schon in der Zeit vor der Christianisierung Endogamieregeln - ähnlich denen des westlichen profanen Rechts galten 16 , so wurden sie jedoch durch kanonischrechtliche Vorschriften weiter verschärft. 17 Die Auffassungen des profanen Rechts und der sozialen Praktiken im Osten glichen sich im Verlauf des Hochmittelalters durch den zunehmenden Einfluss des Kirchenrechts denen im Westen an. Das patrilokale Prinzip erforderte es, dass die Braut, nicht der Bräutigam, das Elternhaus verließ und zum künftigen Ehepartner zog. In den interethnischen, sozial hochrangigen Ehen konnte die Ehefrau im Haus ihres Mannes meist in Frieden leben, solange die politische und militärische Führung des Fürsten unangefochten war. Geriet seine Herrschaft in die Krise, verstieß er seine Frau oder starb er, so verschlechterte sich ihre Lage. Meistens versuchten die verstoßenen Ehefrauen und die Witwen in ihre Heimat, in den Schutz ihrer Herkunftsfamilie zurückzukehren. 18 Gertrud, die Tochter Herzog Bertholds IV. von Meranien, heiratete um 1200 den ungarischen Prinzen Andreas (vgl. Taf. 1). Als dieser 1203 gegen seinen Bruder, König Emmerich von Ungarn, rebellierte und deshalb gefangen genommen wurde, schickte man Gertrud zu ihrem Vater zurück. Erst nachdem Andreas von seinen Anhängern aus der Gefangenschaft befreit worden war, kehrte Gertrud zu ihrem Gemahl nach Ungarn zurück. „Die Krönung ihres Mannes zum König zu Pfingsten 1205 verschaffte ihr schließlich die Möglichkeit, über Jahre hinweg entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der ungarischen Politik zu nehmen."" 14 GIEYSZTOR, La f e m m e (wie A n m . 2), 191 f.
15 Zu den Trennungsregeln der Slaven vgl. GIEYSZTOR, La femme (wie Anm. 2), 194. 16 GIEYSZTOR, La f e m m e (wie A n m . 2), 191.
17 Otto von Bamberg versuchte den Pruzzen die strengen kirchenrechtlichen Inzestregeln, die eine Ehe unter natürlichen wie geistlichen Verwandten bis ins siebte Grad untersagten, plausibel zu machen. WIKARJAK/LIMAN, Ebbonis Vita (wie Anm. 9), 74: Interdixit etiam, ne quis commatrem suam ducat in uxorem, neque proprium cognatam suam usque in sextam et septimam generationem ... Belege für die Polygamie der Pommern bei anderen christlichen Autoren: WIKARJAK/LIMAN, Ebbonis Vita (wie Anm. 9), 74, Anm. 280. 18 Zu den Problemen adeliger Frauen in der Fremde im Spätmittelalter vgl. Karl-Heinz SPIESS, Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern des Spätmittelalters, in: Irene E R P E N und Karl-Heinz SPIESS (Hg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, 17-36. 19 Alois SCHÜTZ, Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter II: Die Familie der Andechs-Meranier, in: Josef KIRMEIER und Evamaria B R O C K H O F F (Hg.), Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, München 1993, 69.
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Verstarb der Ehemann der „fremden" Prinzessin oder Königin, so kehrte die Witwe häufig endgültig in ihre Heimat zurück. Oda von Stade, verheiratet mit Svjatoslav, einem Sohn des Großfürsten Jaroslav des Weisen von Kiev, kehrte 1075/76 nach dem Tod ihres Ehemannes mit ihrem unmündigen Sohn Jaroslav an die Elbe zurück, da die Brüder des Verstorbenen dem erbberechtigten Neffen die Herrschaft streitig machten. 20 Die reichen Schätze an Gold, Silber und kostbaren Gewändern, die die Witwe Oda und deren Bruder Burchard mitbrachten, versetzten die westlichen Historiographen, Lampert von Hersfeld und Albert von Stade, in Staunen. 21 Oda heiratete in Sachsen erneut und gebar eine Tochter Akarina. Wie Oda, so gingen auch andere aus der Fremde zurückgekehrte adelige Witwen in ihrer Heimat eine zweite Ehe ein. Kunigunde ( t 8 VI 1140), die Tochter des Grafen Otto von Orlamünde und der Adele von Löwen, war seit etwa 1074 mit Jaropolk, dem Enkel des Kiever Großfürsten Jaroslav des Weisen, verheiratet (als dessen Ehefrau nahm sie den Namen Irene an).22 1085 wurde Jaropolk von seinem Cousin Vladimir II. Monomach aus der Regierung vertrieben. Kunigunde und ihre Schwiegermutter, Gertrud von Polen, wurden in Kiev gefangen gesetzt und ihrer gesamten Habe beraubt. Um sich nach dem Tod ihres Gatten nicht erneut in Gefahr zu begeben, kehrte Kunigunde 1087 mit ihrer Tochter nach Sachsen zurück - die beiden Söhne blieben in Kiev - und ging eine zweite Ehe mit Cono (= Kuno von Beichlingen) (t 1103) ein, dem Sohn des Grafen Otto von Northeim. 23 Einige der in die Heimat zurückkehrenden Witwen begaben sich ins Kloster, das ihnen neben der rechtlichen und militärischen Sicherheit den Vorteil der Unabhängigkeit brachte und sie vor unliebsamen Wiederverheiratungsplänen ihrer Familie schützte. Die Härten des schutzlosen Lebens in der Fremde lernte Mathilde, die Tochter des Markgrafen Dietrich von der Nordmark kennen 24 , nachdem sie das Kloster verlassen hatte, um den Slavenfürsten Prebizlav zu heiraten. In kriegerischen Auseinandersetzungen wurde ihr Ehemann erschlagen, sie geriet in Gefangenschaft und brachte dort einen Sohn zur Welt. Viele Jahre später leitete sie das Laurentiuskloster in Magdeburg als Äbtissin. Nach dem Tod König Stephans I. von Ungarn im Jahr 1038 wurde dessen Witwe Gisela, eine Tochter des bairischen Liudol-
20 Lampert von Hersfeld, Annales, M G H SS rer. germ. [38], 386 und 394. Zum „Kampf der Oheime gegen die N e f f e n " vgl. BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie Anm. 1), 194; Richard G. HUCKE, Die Grafen von Stade 9 0 0 - 1 1 4 4 . Genealogie, politische Stellung, Comitat und Allodialbesitz der sächsischen Udonen, Einzelschriften des Stader Geschichts- und Heimatvereins 8, Stade 1956, 69. Zur Identität und den Namensverwechslungen der Ehemänner und Söhne Odas vgl. unten S. 108. 21 Lampert von Hersfeld, Annales, M G H SS rer. germ. [38], ad a. 1075, 225 Z. 30 ff.; Albert von Stade, Annales Stadenses, M G H SS XVI, ad a. 1112, 319: infinitam pecuniam. Zur Ehe vgl. unten S. 108, sowie BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie Anm. 1), 188 und 194. 22 Annalista Saxo, M G H SS VI, ad a. 1 0 6 2 e t a d a . 1 1 0 3 , 6 9 3 und 737. Vgl. BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie Anm. 1), 196 ff., und BAUMGARTEN, Genealogies (wie Anm. 1), Tafel II („Maison de Tourov") Nr. 1, sowie unten S. 109 Anm. 46. 23 Karl-Heinz LANGE, Der Herrschaftsbereich der Grafen von Northeim, 950-1144, in: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen, Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsen 24, Göttingen 1969, Stammtafel als lose Beilage. 2 4 E N G E L B E R T , P i a s t e n ( w i e A n m . 1), 3 f.
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fingerherzogs Heinrichs des Zänkers, entmachtet und ihrer Güter beraubt. Sie kehrte vermutlich 1043 nach Baiern zurück und verbrachte den Rest ihres Lebens (f um 1060) als Äbtissin im Benediktinerinnenkloster Niedernburg zu Passau. 25 Die Ezzonin Richeza (Taf. 2) kehrte nach dem Tod ihres Gemahls, Mieszko II. von Polen (t 1034), 1036 in die Heimat zurück und ließ sich im mittelrheinischen Kloster Brauweiler nieder, wo sie die Überreste der Verstorbenen ihrer Herkunftsfamilie zusammenführte und eine Familiengrablege einrichtete. 26 Sie überlebte ihren Gatten um fast 30 Jahre und starb am 21. März 1063 im thüringischen Saalfeld. 27 Die Chronik von Brauweiler berichtet, Richeza habe ihren Gatten bereits vor dessen Tod verlassen, da dieser sich eine Nebenfrau genommen hatte. Verkleidet und in der Begleitung weniger Getreuer sei sie, der Sitten und Gebräuche der Polen überdrüssig, nach Sachsen zu Kaiser Konrad II. geflohen, der sie ehrenvoll aufgenommen und reich beschenkt habe.28 Die polnischen Quellen hingegen kolportieren, Richeza habe nach dem Tod Mieszkos versucht, die Herrschaft für den unmündigen Sohn Kazimierz zu führen, sei aber von den Einheimischen vertrieben worden. Es ist nicht auszuschließen, dass Richeza Polen bereits 1031 verließ, nachdem Mieszko durch seinen Stiefbruder Otto-Bezprim bedrängt und entmannt worden war.29 Sie nahm die polnischen Kroninsignien mit und übergab sie Konrad II.30, wohl in der Absicht, sie für ihren Sohn Kazimierz zu sichern. Doch Konrad II. unterstützte nicht die Exilantin, sondern deren Widersacher Otto-Bezprim. Er verhalf ihm 1032 zur Macht um den Preis einer Rangminderung. Konrad zwang Otto-Bezprim, auf den polnischen Königstitel zu verzichten. 31 Richeza vergrub sich in Brauweiler nicht in Trauer und Untätigkeit, sondern kämpfte um ihren Rang als regina quondam Poloniae. Kaiser Konrad II. gestattete ihr, weiterhin den Titel
25 Birgit M. HIELSCHER, Gisela, Königin von Ungarn und Äbtissin von Passau-Niedernburg, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 10 (1968), 265-289, besonders 275 ff. Nach dem Tod Stephans schweigen die Quellen über Gisela. Es ist umstritten, ob sie in Ungarn oder in Baiern starb. Die Nachricht vom Abbatiat und Lebensabend in Niedernburg geht auf humanistische Gelehrte des 16. Jahrhunderts zurück. 26 Zur Memorial-, Bau- und Stiftungstätigkeit Richezas in Brauweiler, Klotten und Saalfeld vgl. Klaus Gereon BEUCKERS, Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Eine Untersuchung zur Stiftungstätigkeit im 11. Jahrhundert, Kunstgeschichte 42, Münster 1993, 69-85, zu den Umbettungen ihrer verstorbenen Verwandten nach Brauweiler, ebd., passim. 27 Obwohl Richeza 1047 in Brauweiler den Schleier genommen hatte, verließ sie den Konvent wegen der Auseinandersetzungen mit Erzbischof Anno von Köln und zog sich 1056 auf die thüringischen Güter um Saalfeld und Kronach zurück, die nach dem Aussterben der sächsischen Liudolfinger 1012 an Richezas Mutter Mathilde gefallen waren. Von Thüringen aus unterhielt Richeza enge Kontakte zu ihrer Familie in Polen. Vgl. dazu BEUCKERS, Die Ezzonen (wie Anm. 26), 80. Anno von Köln rächte sich später an Richeza. Trotz ihres ausdrücklichen Wunsches, in Brauweiler bestattet zu werden, ließ der Erzbischof sie im Kölner Dom beisetzen und konsumierte die beträchtlichen Einnahmen aus ihrer Totengedenkstiftung. Vgl. dazu Zygmunt SWIECHOWSKI: Königin Richeza von Polen und die Beziehungen polnischer Kunst zu Köln im 11. Jahrhundert, in: Kölner Domblatt 40 (1975), 27^18, hier 28. 28 Brunwilarensis monasterii Fundatio, M G H SS XI, 403, Z. 34. Die „Fundatio Brunwilarensis" ist eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte Polens im 11. Jahrhundert. 29 SWIECHOWSKI, Königin Richeza (wie Anm. 27), 33. 30 Brunwilarensis monasterii Fundatio, M G H SS XI, 403: Accepit namque ab ipsa duarum ipsius regisque sui coniugis coronarum insignia ... 31 Annales Hildesheimenses, M G H SS rer. germ. [8], ad a. 1032, 37.
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der polnischen Königin zu führen 3 2 ; auch in den Urkunden Kaiser Heinrichs III. wird sie noch als Königin tituliert. Die Ezzonin arbeitete daran, ihrem Sohn Kazimierz, der ihr mit seiner Schwester Gertrud an den Rhein gefolgt war, die Herrschaft über Polen zurückzugewinnen. Richeza wurde dabei von ihrem Bruder Hermann, Erzbischof von Köln ( 1 0 3 6 - 1 0 5 6 ) " , von ihrem Schwager, Großfürst Jaroslav von Kiev (1016-1054) 1 4 , und von Aaron ( t 1059), vermutlich einem gebürtigen Schotten, unterstützt. 1041 konnte Kazimierz trotz eines Aufstandes in Polen und trotz böhmischer Einfalle dank der Unterstützung dieser Gruppe von Verwandten und Geistlichen die polnische Herrschaft übernehmen. 1 5 Aus Dankbarkeit setzte Kazimierz Aaron zum Abt des Benediktinerklosters Tyniec und zum Leiter der Mission in Krakau und Polen ein. 16
2. Die Ehe als politische Tatsache Die Eheschließung zweier sozial hoch stehender Partner verband zwei Genealogien dauerhaft miteinander. Stammten die Partner aus unterschiedlichen Ethnien, so wurden nicht nur zwei Dynastien, sondern zugleich zwei politische Verbände miteinander verknüpft. Die soziale Tatsache der Ehe war in diesen Kreisen somit auch eine politische Tatsache. Interethnische Ehen wurden unter gleichrangigen wie unter rangunterschiedenen Familienverbänden geschlossen. Im Westen entwickelte sich das matrimonium/conubium erst in ottonischer Zeit zum Instrument internationaler politischer Beziehungen. Heinrich I. und Otto I. waren außerordentlich geschickte Heiratsstrategen. Ihre ehepolitischen Initiativen festigten nicht nur das ostfränkische Reich im Inneren, sondern prägten auch über mehrere Generationen hinaus die politische Landschaft Mittel- und Westeuropas. Die Fürsten der an das Regnum Francorum orientalium angrenzenden gentes der Polen, Böhmen, Mährer, Ungarn und Kiewer Rus verheirateten im Verlauf des 10. bis 13. Jahrhunderts viele ihrer Nachkommen mit zentral-, westund nordeuropäischen Fürsten und Monarchen. Unter ihren Töchtern und Schwestern befinden sich Königinnen des östlichen wie des westlichen Frankenreichs, Dänemarks. Schwedens und Norwegens. Großfürst Jaroslav I. (Taufname: Georg) von Kiev, gen. der Weise (Mudryi) (1016-1054). dessen Vater Vladimir ( t 15 VII 1015) sich nach griechischem Ritus hatte taufen lassen 17 , suchte die Anbindung an den Westen durch politische Heiraten 18 , um sich gegen Rivalen aus
32 B r u n w i l a r e n s i s monasterii Fundatio, M G H S S XI. 4 0 3 . Z. 35: concessitque in regno proprio, quoad viveret, auctoritate potiri semper eademque gloria ...
ei eaclein in suo,
sicut
3 3 H e r m a n n stieg unter K a i s e r Heinrich III. z u m E r z k a n z l e r f ü r Italien auf. 34 Kazimierz hatte die Stiefschwester Jaroslavs, D o b r o g n i e v a . geheiratet. K a z i m i e r z ' Schwester Gertrud heiratete Isjaslav. den S o h n Jaroslavs des W e i s e n . Vgl. dazu unten S. 109. 35 Vgl. d a z u SWIF.CHOWSKI, Königin R i c h e z a (wie A n m . 27). 35 f. 36 SWIECHOWSKI, K ö n i g i n R i c h e z a (wie A n m . 27). 42. 37 M a n f r e d HF.LLMANN, V l a d i m i r der Heilige in der zeitgenössischen a b e n d l ä n d i s c h e n Ü b e r l i e f e r u n g , in: J a h r b ü c h e r f ü r G e s c h i c h t e O s t e u r o p a s N.F. 7.4 (1959). 3 9 7 - 4 1 2 . 38 Vgl. HELLMANN, Heiratspolitik (wie A n m . 1); die g e n e a l o g i s c h e T a f e l bei BAUMGARTEN. G e n e a logies (wie A n m . 1), Taf. I und K o m m e n t a r , 8 - 9 : BLOCH. V e r w a n d t s c h a f t l i c h e B e z i e h u n g e n (wie A n m . 1). 186.
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der eigenen Familie im Kiever Reich durchsetzen zu können. 39 Er heiratete (wahrscheinlich) 1019 Ingigerd-Irene (t 10 II 1050), die Tochter König Olafs I. von Schweden. 1040 tauchten seine Brautwerber am Hof Kaiser Konrads II. (1024-1039) in Allstedt auf, um dessen verwitwetem Sohn Heinrich (III.) Jaroslavs Tochter Anna als Gemahlin anzutragen. 40 Obwohl Jaroslav reiche Geschenke überbringen ließ, lehnte der ostfränkische König das Angebot des Großfürsten ab. Jaroslav blieb hartnäckig und erneuerte seine Offerte an der Wende des Jahres 1042 nach 1043 in Goslar.41 Heinrich III. (1039-1056) beschied seine Boten erneut abschlägig, weil er bereits mit Herzog Wilhelm V. von Aquitanien die Ehe mit dessen Tochter Agnes (von Poitou) verabredet hatte. Bei anderen westlichen Monarchen und beim byzantinischen Basileus fielen Jaroslavs Heiratsangebote auf fruchtbareren Boden: Seine Stiefschwester Dobrogniega Maria (* nach 1011, t 1087) gab er 1038 Kazimierz I. (Lebenszeit: 1016-1056, Regierung: 1041-1056), dem Sohn des polnischen Königs Mieszko II. und der Richeza in die Ehe (vgl. Taf. 2).42 Seinen Sohn Svjatoslav II. (* 1027, f 27 XII 1076) vermählte er mit Oda43, der Tochter des Grafen Lippold von Stade44 und der Ida von Elsdorf 45 . Um 1043 verheiratete
39 Jaroslav gewann erst 1036 die Alleinherrschaft über das Kiever Reich. Zur Förderung des Christentums nach griechischem Ritus, zum Aufbau der Kirchenorganisation, zur Fixierung des kirchlichen und weltlichen Rechts, der Einführung feudaler Strukturen, der geistlichen Immunität, zur Wirtschafts-, Städteund Kulturpolitik Jaroslavs vgl. Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 1: Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter, 3. Aufl. Stuttgart 1992, 142, bes. 9 3 4 - 9 3 7 . 40 Annalista Saxo, M G H SS VI, ad a. 1040,684, Z. 49 ff. Heinrich III. war in erster Ehe mit Kunigunde (Gunhild), der Tochter König Knuts von Dänemark, verheiratet. Sie starb am 18. Juni 1038. Jaroslav und Konrad II. hatten sich nach dem Tod Bolestaw Chrobrys von Polen ( t 1025) gegen Mieszko II. ( t 1034) verbündet und dessen Stiefbruder Otto-Bezprim unterstützt. Vgl. dazu oben S. 106. 41 Lampert von Hersfeld, Annales, M G H SS rer. germ. [38], ad a. 1042,58 Z. 13 ff.; Annales Altahenses maoires, M G H SS rer. germ. [4], ad a. 1043, 32. Vgl. BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie Anm. 1), 186; ENGELBERT, Piasten (wie Anm. 1), 12; HELLMANN, Heiratspolitik (wie A n m . l ) , 19. 42 Annalista Saxo ad a. 1040, M G H SS IV S. 684. HELLMANN, Heiratspolitik (wie Anm. 1), 18 f.; BAUMGARTEN, G e n e a l o g i e s ( w i e A n m . 1 ) , T a f . I, N r . 1 8 .
43 Oda war zunächst dem Kloster Ringelheim (nicht Rinteln, wie Albert annimmt!) zur Ausbildung übergeben worden (vgl. HUCKE, Grafen von Stade (wie Anm. 20), 68), bevor ihre Mutter Ida sie einem rex Ruzie in die Ehe gab. Über die Ehe Odas berichtet Albert von Stade, Annales Stadenses, M G H SS XVI, ad a. 1112, 319. Zu den Ehebeziehungen der Söhne Jaroslavs sind die Quellen widersprüchlich. Anders als BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie Anm. 1), 188 ff., geht BAUMGARTEN, Genealogies (wie Anm. 1), Taf. I, Nr. 22 und Taf. III (Icre Maison de Galicie) davon aus, dass Oda von Stade mit Jaroslavs Sohn Vladimir (* 1020, ΐ 4 X 1052) verheiratet war und Svjatoslav II. mit Kilikia. BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie Anm. 1), 192 nimmt hingegen an, dass Kilikia Svjatoslavs erste Ehefrau war, von der er vier Söhne (Gleb, Roman, David und Oleg) hatte. Nach BAUMGARTEN, Genealogies (wie Anm. 1), Taf. I, Nr. 25 sowie Tafel V und XII war Kilikia die Tochter eines Grafen Etheler von Dithmarschen. Mit einem Etheler von Dithmarschen war auch Odas Mutter Ida von Elsdorf in dritter Ehe verheiratet (vgl. HUCKE, Grafen von Stade (wie Anm. 20), 65). 44 Lippolds Mutter, die domina Glismodis, war eine Schwester Bischof Meinwerks von Paderborn (1009-1036). Vgl. HUCKE, Grafen von Stade (wie Anm. 20), 65. 45 Zu ihr vgl. HUCKE, Grafen von Stade (wie Anm. 20), 58-71. Lippold und Ida hatten zwei Kinder: neben Oda einen Sohn Burchard, der Propst in Trier wurde. 1075 sandten Heinrich IV. und der nach Polen exilierte Isiaslav von Kiev ihn als Botschafter zum regierenden Großfürsten. Der bei Albert von Stade genannte Sohn Odas und Svjatoslavs, Varteslav, ist vermutlich Jaroslav. Vgl. BAUMGARTEN, Genealogies
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er seinen Sohn Isiaslav I. (* 1025, ermordet 3 X 1078) mit Kazimierz' Schwester Gertrud ( t 4 I 1 107).46 Seine Tochter Elisabeth traute er 1044 König Harald Sigurdsson „dem Harten" von Norwegen ( t 1066) an 47 , die Tochter Anastasia 1046 König Andreas I. von Ungarn. 48 Anna, die Heinrich III. mehrfach zurückgewiesen hatte, gab er 1051 König Heinrich I. von Frankreich ( t 1060) zur Frau. 49 Den größten Coup landete Jaroslav freilich nicht im Westen, sondern im Osten. Es gelang ihm, 1046 seinen Sohn Vsevolod I. (*1030, t 13 IV 1093) mit einer nahen Verwandten (Tochter oder Nichte?) Kaiser Konstantins IX. Monomachos zu vermählen. SH Berücksichtigt man die militärische Macht des Rutenenfürsten, seinen Reichtum und die europaweiten politischen Beziehungen, die Jaroslav durch die Heiratsbündnisse geknüpft hatte, so muss die Reaktion der ostfränkischen Salier Konrad II. und Heinrich III. auf die Heiratsangebote Jaroslaws als ein gravierender politischer Affront eingestuft werden. Das Verhalten der ostfränkischen Herrscher belastete denn auch das internationale politische Klima über Jahre hinweg.
(wie A n m . 1). T a f . IV. Nr. 6 und BLOCH, V e r w a n d t s c h a f t l i c h e B e z i e h u n g e n (wie A n m . 1). 105 f. mit abw e i c h e n d e n T o d e s d a t e n . Zu weiteren E h e b e z i e h u n g e n der G r a t e n von S t a d e und den Kiever R u s ' vgl. unten S. 110 zu E u p r a x i a . 4 6 HELLMANN. Heiratspolitik (wie A n m . 1). 21: BAUMGARTEN. G e n e a l o g i e s (wie A n m . 1). T a f e l I. Nr. 23 (das G e b u r t s j a h r f ü r Isiaslav I. w e g e n eines Z a h l e n d r e h e r s hier falsch). A u c h Isiaslavs ältester Sohn Jaropolk heiratete eine westliche A d e l i g e : K u n i g u n d e , die T o c h t e r des G r a f e n O t t o von O r l a m ü n d e . seit 1062 M a r k g r a f von M e i ß e n , u n d der Adele von L ö w e n . Vgl. dazu BLOCH. V e r w a n d t s c h a f t l i c h e Bez i e h u n g e n (wie A n m . 1). 196 ff.; BAUMGARTEN, G e n e a l o g i e s (wie A n m . 1). T a f e l II (..Maison de T o u r o v " ) Nr. 1. und oben S. 104. Ein b e m e r k e n s w e r t e s Z e u g n i s dieser B e z i e h u n g sind die sog. Kiever M i n i a t u r e n im Psalter E r z b i s c h o f Egberts von Trier in Cividale. den G e r t r u d zw ischen 1078 und 1087 anfertigen ließ. A r t h u r HASELOFF und Heinrich Volbert SAUERI.AND, Der Psalter Erzbischof Egberts von Trier. C o d e x G e r t r u d i a n u s in Cividale, Trier 1901; Franz RONIG. D e r Psalter des Trierer E r z b i s c h o f s Egbert in Cividale. in: DERS. (Hg.). Egbert. E r z b i s c h o f von Trier 9 7 7 - 9 9 3 . G e d e n k s c h r i f t der D i ö z e s e Trier z u m 1000. T o d e s tag. Trierer Zeitschrift 18. Trier 1993. Bd. 2. 1 6 3 - 1 6 8 : Faksimile: C l a u d i o BARBERI (Hg.). Psalterium Egbert. F a c s i m i l e del ms. C X X X V I del M u s e o A r c h e o l o g i c o N a z i o n a l e di C i v i d a l e del Friuli. Relaziorii della S o p r i n t e n d e n z a per i Beni A m b i e n t a l i . Architettonici. A r c h e o l o g i c i . Artistici e Storici del FriuliV e n e z i a Giulia 13. Triest 2000. G e r t r u d ließ in den C o d e x G e b e t e eintragen, die die N a c h w e l t f ü r sie und ihren Sohn J a r o p o l k - P e t r u s verrichten sollte. Vgl. d a z u B r y g i d a KÜRBIS. Die G e r t r u d i a n i s c h e n G e b e t e im Psalterium Egberti. Ein Beitrag zur G e s c h i c h t e der F r ö m m i g k e i t im 11. J a h r h u n d e r t , in: E u r o p a slavica E u r o p a orientalis. Festschrift f ü r Herbert Ludat z u m 70. G e b u r t s t a g . G i e ß e n e r A b h a n d l u n g e n zur Agrarund W i r t s c h a f t s f o r s c h u n g des e u r o p ä i s c h e n O s t e n s 100. Berlin 1980. 2 4 9 - 2 6 1 : Luitpold WALLACH. La C h r o n i q u e de Berthold de Z w i e f a l t e n , in: R e v u e B e n e d i c t i n e 4 9 (1937). 1 4 1 - 1 4 6 . hier 145 f.. hingegen zählt den C o d e x E g b e r t u s zu den G e s c h e n k e n S a l o m e s an das Kloster Z w i e f a l t e n , vgl. dazu unten S. 131. 47
BAUMGARTEN. G e n e a l o g i e s ( w i e A n m .
1 ) . T a f . I. N r . 2 7 : H E L L M A N N . H e i r a t s p o l i t i k ( w i e A n m .
1).
21. Elisabeth heiratete nach d e m T o d Haralds 1067 König Sven von D ä n e m a r k . 48
B A U M G A R T E N . G e n e a l o g i e s ( w i e A n m . 1). T a f . I. N r . 2 4 : H E L L M A N N . H e i r a t s p o l i t i k ( w i e A n m . 1). 2 1 .
49
BAUMGARTEN. G e n e a l o g i e s ( w i e A n m .
1). T a f . I. N r . 2 8 . V g l . E N G E L B E R T . P i a s t e n ( w i e A n m .
1).
12: HEI.LMANN. Heiratspolitik (wie A n m . 1). 14: GIEVSZTOR. La f e m m e (wie A n m . 2). 196. Zu A n n a von Kiev vgl. R o g e r HALLU. A n n e de Kiev, reine de France. Editiones Universitatis catholicae U k r a i n o r u m S. C l e m e n t i s p a p a e 9, R o m 1973; R e g i n e PERNOUD, Leben der Frauen im H o c h - und Spätmittelalter. Frauen in G e s c h i c h t e und G e s e l l s c h a f t 8. P f a f f e n w e i l e r 1991 ( O r i g i n a l a u s g a b e : La f e m m e aux t e m p s d e s cathedrales. Paris 1980). 176-184. Bereits kurz nach d e m T o d Heinrichs I. von Frankreich heiratete A n n a erneut. Sie v e r m ä h l t e sich a m 4. A u g u s t 1060 mit d e m G r a f e n R u d o l f II. von C r e s p y und Valois ( t 1071). 5 0 BAUMGARTEN, G e n e a l o g i e s (wie A n m . 1). Taf. I. Nr. 2 6 sowie die T a f e l n V. VI. IX. Χ. XI. XIII. XIV.
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Dem Kiever Großfürstentum wurde 1089 späte Genugtuung zuteil - Jaroslav konnte diesen Triumph nicht mehr genießen, da er bereits 1054 verstorben war als der Sohn Heinrichs III., Kaiser Heinrich IV., Jaroslavs Enkelin Eupraxia-Praxedis-Adelheid zur Frau nahm.51 Für die Ruthenentochter war dies bereits die zweite Ehe. Ihre erste Ehe mit Markgraf Heinrich I. („dem Langen") von Stade (* 1055, f 1087)52 hatte vermutlich Oda von Stade gestiftet, die Schwiegertochter Jaroslavs des Weisen. Nach dem Tod ihres Ehemannes Svjatoslav war Oda um 1077 nach Sachsen zurückgekehrt. 53 Als Markgraf Heinrich von Stade am 27. Juni 1087 gestorben war, wurde Eupraxia- Adelheid, die Tochter Jaroslavs, 1088 mit Kaiser Heinrich IV. vermählt. 54 Die feierliche Trauung und die Krönung der Adelheid-Eupraxia fanden am 14. August 1089 in Köln statt. Der salische Herrscher war keineswegs nur am Reichtum der Kieverin interessiert, sondern erhoffte sich von dieser ehelichen Verbindung die politische Unterstützung des regierenden Großfürsten Vsevolod, des Metropoliten von Kiev, Johannes' II., und des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos im Kampf gegen die Reformpartei der römischen Kirche, insbesondere gegen Papst Urban II. Heinrich ließ Eupraxia wegen der hohen politischen Bedeutung wie eine Geisel bewachen. Die Kiever Fürstentochter, die anderes gewohnt war, konnte sich der Aufsicht durch Flucht entziehen. Sie rächte sich an Heinrich, indem sie der kirchlichen Reformpartei zuarbeitete, ihren Ehemann 1094 aufs schwerste beschuldigte und danach in ihre Heimat zurückkehrte. 55 Die Ehe Heinrichs IV. und Eupraxias konnte die politische Krise des Herrschers und seinen Konflikt mit der römischen Kurie nicht bereinigen. Immerhin zeigen die Eheschließungen der Kinder und Enkel Jaroslavs, dass Konfessionsunterschiede zwischen griechischen und römischen Christen selbst nach dem Schisma von 1054 politische Ehen noch nicht behinderten. Vorbehalte gegen Ehen mit römischen Christen artikulierten orthodoxe Theologen erstmals am Ende des 11. Jahrhunderts, und zwar just in der soeben genannten hochpolitischen Angelegenheit, nämlich der Scheidung Eupraxias von Heinrich IV. beziehungsweise die Annullierung dieser Ehe. Sie begründeten die unterschiedliche Konfessionszugehörigkeit als Ehehindernis mit den abweichenden Auffassungen zur Eucharistie. Die Verbindungen der Kiever Rus' zum Westen brachen allerdings erst in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts vollständig ab, verursacht durch die Plünderungen christlicher Kreuzfahrer in Konstantinopel 1204 und durch die Einfälle der Tartaren. 56 Mit den Heiraten erkannten die westlichen Monarchen und Aristokraten die Fürsten im Osten als politische Partner an, wenngleich nicht unbedingt als gleichrangige. Der Austausch
51 BAUMGARTEN, Genealogies (wie A n m . 1), Taf. V, Nr. 4. Praxedis war die Tochter Vsevolods I. aus der Ehe mit einer nahen Verwandten des byzantinischen Kaisers M o n o m a c h o s . Zu ihr vgl. S. P. ROZANOV, Eupraxie-Adelheid, fille de Vsevolod (1071-1109), in: Bulletin de l ' A c a d e m i e des sciences de l ' U R S S , Classe des humanites, Leningrad 1929, 617 ff. Zu den Ehen der Praxedis-Eupraxia-Adelheid vgl. ENGELBERT, Piasten (wie A n m . 1), 13;HELLMANN,Heiratspolitik(wieAaanm. 1), 23; BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie A n m . 1), 201 ff. 52 HUCKE, Grafen von Stade (wie A n m . 20), 32 f. 53 Vgl. dazu oben S. 104. 54 Heinrich IV. hatte als Brautwerber und diplomatischen Botschafter den kaisertreuen Papst Clemens III., den vormaligen Erzbischof Wibert von Ravenna, 1088/89 nach Kiev gesandt. Vgl. dazu H E L L M A N N , H e i r a t s p o l i t i k ( w i e A n m . 1), 2 3 f . 55
V g l . H E L L M A N N , H e i r a t s p o l i t i k ( w i e A n m . 1), 2 4 .
5 6 H E L L M A N N ( w i e A n m . 1), 9 f . ; B L O C H , V e r w a n d t s c h a f t l i c h e B e z i e h u n g e n ( w i e A n m . 1), 2 0 6 .
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der Heiratskandidatinnen erfolgte in beiden Richtungen. Mehrere Mitglieder des polnischen Hauses der Piasten wählten Ehefrauen aus dem Westen (Taf. 3 ) . " Den Anfang machte Herzog Mieszko I. (963-992), der sich 966 auf Anregung seiner ersten Gemahlin, der böhmischen Prinzessin Dobrava ( t 977), im Jahr 965 hatte taufen lassen. 58 Er nahm 980 in zweiter Ehe Oda zur Gemahlin, die Tochter des Markgrafen Dietrich von der Nordmark (965-985). Sie war zusammen mit ihrer Schwester Mathilde, von der bereits die Rede war", im Laurentiuskloster zu Kalbe an der Milde erzogen worden. Thietmar von Merseburg 6 *' kolportiert, Bischof Hillward von Halberstadt (968-996) habe daran Anstoß genommen, dass Oda den himmlischen Bräutigam zugunsten eines Kriegsmannes verschmähte, und dass sie Mieszko heiratete, ohne päpstliche Dispens einzuholen. Dieser Vorwurf ist aber ungerechtfertigt, denn Oda lebte nicht als Nonne in einem Benediktinerinnenkloster, sie hatte nicht das Gelübde lebenslänglicher Keuschheit abgelegt, sondern war Kanonisse in einem Stift, das sie jederzeit zum Zweck der Eheschließung wieder verlassen konnte. Voll des Lobes ist Thietmar dann über Odas Verdienste in Polen: Sie habe den Frieden gesichert, die Mission vorangetrieben und dafür gesorgt, dass Gefangene, die der Polenfürst während der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den sächsischen Markgrafen gemacht hatte, freigelassen wurden. Die AndechsMeranierin Hedwig, die 1186 Heinrich (I.), den späteren Herzog von Schlesien (1201-1238). zum Gemahl nahm - er hatte bei der Taufe den Namen des ostfränkischen Kaisers Heinrich II. empfangen - , war sie bereits die 10. Prinzessin aus dem ostfränkisch-deutschen Reich, die in die Piastendynastie einheiratete (vgl. Taf. 1 und 3).61 Bereits in ottonischer Zeit wurden nicht nur westliche Prinzessinnen an den polnischen Hof verheiratet, sondern auch polnische Prinzessinnen an den sächsischen Adel. Herzog Boleslaw I. Chrobry von Polen, der selbst in erster Ehe eine Tochter des Markgrafen Ricdag von Meißen (979-985) zur Frau genommen hatte 62 , führte im Winter 1002/03 seine Tochter
57 Nicht behandelt w e r d e n hier A g n e s von Österreich und W l a d y s l a w II. von Polen (Piasten B a b e n b e r g e r - Staufer), vgl. ENGELBERT, Piasten (wie A n m . 1). 21 ff.: Christina. T o c h t e r A l b r e c h t s des Bären, und W l a d y s l a w II. von Polen (Piasten - A s k a n i e r ) . vgl. ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1). 24 ff.: A d e l h e i d von S u l z b a c h u n d B o l e s t a w der L a n g e von Polen. Vgl. dazu ENGELBERT. Piasten (wie A n m . I). 2 6 ff. 58 Vgl. d a z u o b e n S. 100 f. die N a c h r i c h t d e s G a l l u s A n o n y m u s , und C o r d u l a NOLTE. Christianisierung und religiöses L e b e n im Friihmittelalter. Ü b e r l e g u n g e n aus g e s c h l e c h t e r g e s c h i c h t l i c h e r Perspektive, in: Christiane EIFERT (Hg.), W a s sind F r a u e n ? W a s sind M ä n n e r ? G e s c h l e c h t e r k o n s t r u k t i o n e n im historischen W a n d e l , F r a n k f u r t a m M a i n 1996. 7 6 - 9 8 , hier 80 f. zur Darstellung T h i e t m a r s von M e r s e b u r g . 5 9 Vgl. d a z u o b e n S. 104. 6 0 D a s f o l g e n d e nach T h i e t m a r von M e r s e b u r g . C h r o n i c o n . M G H S S rer. g e r m . N.S. 9. IV 57(36). 197. 61
E N G E L B E R T . P i a s t e n ( w i e A n m . 1), 1.
62 B o l e s l a w verstieß seine erste Frau nach k u r z e r Ehe. D e r G r u n d ist nicht bekannt. Vielleicht entließ er sie. weil sie ihm keinen S o h n gebar. Vgl. ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1). 4. Z u r politischen Bed e u t u n g der E h e n z w i s c h e n den p o l n i s c h e n Piasten und d e n E k k e h a r d i n e r n . den M a r k g r a f e n von M e i ß e n , vgl. Herbert LUDAT. An Elbe und O d e r u m das J a h r 1000. S k i z z e n zur Politik d e s O t t o n e n r e i c h e s und der slavischen M ä c h t e in M i t t e l e u r o p a . Köln und W i e n 1971. Kap. 3: Piasten und E k k e h a r d i n e r . 1 8 - 3 2 . Z u r G e n e a l o g i e und den m e h r f a c h e n H e i r a t s v e r b i n d u n g e n z w i s c h e n Piasten und E k k e h a r d i n e r n vgl. Gabriele RUPP. Die E k k e h a r d i n e r . M a r k g r a f e n von M e i ß e n , und ihre B e z i e h u n g e n z u m Reich und zu den Piasten. E u r o p ä i s c h e H o c h s c h u l s c h r i f t e n . R e i h e 3, 691, F r a n k f u r t a m M a i n u.a. 1996. 2 7 8 . Taf. II.
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Regelind/Reglindis ( t um 1014/kurz nach 1015?) aus seiner (dritten) Ehe mit Emnild dem Markgrafen Hermann von Meißen ( t 1038) als Braut zu. 65 Als H e r m a n n s Vater. Ekkehard I. von Meißen, am 30. April 1002 in Pöhlde heimtückisch ermordet wurde, verlor Boleslaw Chrobry einen wichtigen Bündnispartner gegen die böhmischen Premysliden. Als Gegenleistung f ü r die Huldigung und Anerkennung seiner Herrschaft auf d e m H o f t a g in Merseburg am 2 4 . - 2 8 . Juli 1002 empfing Boleslaw von Heinrich II. die Mark Lausitz zu Lehen, die f ü r den polnischen Fürsten geostrategisch wichtig war. In der Ehe Regelinds mit Hermann manifestieren sich die gemeinsamen Interessen der polnischen Piasten und der Ekkehardiner gegen die B ö h m e n / ' 4 Allerdings berührten Bolestaws Eroberungen in Böhmen im Jahr 1003 massiv die Interessen Heinrichs II., des Lehnsherrn der böhmischen Fürsten. Als Heinrich II. und Bolestaw nach langjährigen K ä m p f e n am 30. Januar 1018 in Bautzen endlich Frieden schlossen, wurde der Vertrag durch die (vierte) Ehe Boleslaws mit Oda. der Schwester des Grafen Hermann von Meißen besiegelt.' 0 Zygmunt Swiechowski hat die These vertreten, die Piasten hätten sich vorzugsweise mit den Gegnern Heinrichs II. verehelicht dazu zählten phasenweise die Ekkehardiner und Ezzonen um ihre Unabhängigkeit vom ostfränkischen König zu sichern und ein Gegengewicht gegen seine Machtansprüche auf Böhmen und Polen zu bilden. 6 '' Die politischen Beziehungen wurden vor allem durch Ehen der Adeligen befestigt, die in den Grenzregionen des ostfränkischen Reiches lebten. Mehrere der Markgrafen der Nordmark und der bairischen Ostmark sowie der Grafen von Meißen waren mit polnischen und russischen Fürstenkindern verheiratet 6 7 , so etwa Markgraf Burchard II. von der sächsischen Nordmark (Mitte 11. Jahrhundert), der eine Slavin aus der gens der Ruzen geehelicht hatte. 6 * Wie an den Strategien Jaroslavs von Kiev, der polnischen Piasten, der Ekkehardiner und der Andechs-Meranier zu sehen ist, wurde die Heiratspolitik nicht nur bi-, sondern multilateral betrieben. Eine große Kinderschar war die Voraussetzung, um solch weiträumige politische Netzwerke durch Eheschließungen knüpfen zu können. Die Ehen verbanden nicht nur die sozialen und politischen Führungsschichten, die Fürsten und Monarchen Europas untereinander. sondern bezogen auch die aristokratischen Eliten mit ein. Der ostfränkische König demonstrierte seinen höheren Rang gegenüber den polnischen Fürsten Mieszko I. und Boleslaw Chrobry, indem er ihnen nicht die eigene Tochter oder Schwester als Ehepartnerin anbot, sondern die Töchter seiner Vasallen, der Markgrafen von Meißen. Zwischen d e m ost-
63 ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1). 5. R e g e l i n d s M u t t e r E m n i l d . die mit d e m slavischen M a g n a t e n D o b r o m i r verheiratet war. s t a m m t e vermutlich aus o s t f r ä n k i s c h - s ä c h s i s c h e m Adel. Z u r o n o m a s t i s c h - b e sitzgeschichtlichen B e g r ü n d u n g f ü r diese Z u w e i s u n g vgl. LUDAT. Elbe (wie A n m . 62). 22 ff. Die Funktion und der H e r r s c h a f t s b e r e i c h D o b r o m i r s sind in der F o r s c h u n g umstritten ( A n g e h ö r i g e r der elbslavischen D y n a s t i e n der Heveller o d e r d e r Milsener. o d e r Herr des K r a k a u e r L a n d e s ? ) . 64 RUPP. E k k e h a r d i n e r (wie A n m . 62). Kap. 6: Die E k k e h a r d i n e r und die Piasten. 179-190. 65 ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1). 5. Z u m Vertrag von Bautzen vgl. RUPP. E k k e h a r d i n e r (wie A n m . 62). 188 f. 6 6 SWIECHOWSKI, Königin R i c h e z a (wie A n m . 27). 32. 67 Zu den P i a s t e n v e r b i n d u n g e n vgl. ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1): zu den russischen Heiratsb e z i e h u n g e n vgl. BLOCH. V e r w a n d t s c h a f t l i c h e B e z i e h u n g e n (wie A n m . 1). 187 ff. 68 L a m p e r t von H e r s f e l d , A n n a l e s . M G H SS rer. g e r m . [38], ad a. 1057. 71: Annalista S a x o . M G H SS VI. 692 Z. 6 ff: S ä c h s i s c h e W e l t c h r o n i k , M G H D e u t s c h e C h r o n i k e n II. 199 Ζ. 11. Vgl. BLOCH. V e r w a n d t schaftliche B e z i e h u n g e n (wie A n m . 1), 187 f.
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fränkischen Reich und Polen wurden Frauen zwar in beiden Richtungen getauscht, die ersten Heiratsverbindungen waren jedoch asymmetrisch. Sie spiegeln den Suprematsanspruch des ostfränkischen Herrschers gegenüber den polnischen Fürsten. Die Rangerhöhung des polnischen Fürstenhauses durch eine Eheschließung erfolgte erst 1018, als König Heinrich II. Mieszko II., dem Sohn des polnischen Fürsten, Richeza, die Nichte Kaiser Ottos III., in die Ehe gab. Die Braut stammte zwar nicht vom regierenden ostfränkischen Monarchen ab, war aber dennoch von königlichem Geblüt, denn ihre Mutter Mathilde war die Schwester Kaiser Ottos III. (Taf. 2).69 Die Polen standen den Ezzonen wohlwollend gegenüber, hatte Otto III. doch die Herrschaft Boleslaw Chrobrys anerkannt und aufgewertet, indem er ihm im Jahr 1000 in Gnesen zum Zeichen der Freundschaft das kaiserliche Diadem auf das Haupt gesetzt und ihn zum Bruder und Mitarbeiter in der Regierung bestimmt hatte.70 Die Vermählung des polnischen Thronprätendenten mit einer Nichte des Kaisers nährte die Hoffnung der Piasten auf den Königstitel. Kurz vor seinem Tod nahm Boleslaw Chrobry tatsächlich den Titel rex Polonorum an und vererbte ihn seinem Sohn Mieszko II. Monarchen, Fürsten und Adel verabredeten Ehen häufig in Verbindung mit politischen Verträgen und Friedensschlüssen. Verträge wurden oft schon nach kurzer Zeit gebrochen, das matrimonium hingegen sicherte ein politisches Bündnis auf Dauer, zumindest für die Lebenszeit der Ehepartner, sofern es nicht vorzeitig zu einer Auflösung des Ehebundes kam. Bei der Eheverabredung im Rahmen politischer Verträge war die Braut Teil der Geschenke, die als Zeichen der Freundschaft, des Friedens und der Absicherung der politischen Verabredungen zwischen den Vertragspartnern getauscht wurden. Ihre Situation unterschied sich manchmal kaum von der einer Geisel. Als Kaiserin Agnes, die Witwe des ostfränkischen Königs Heinrich III., während der Regierung für ihren unmündigen Sohn Heinrich IV. 1063 dringend einen Frieden mit den Ungarn brauchte, verheiratete sie ihre Tochter Judith mit dem ungarischen Thronfolger Salomon.71 Vermittler des Friedensbündnisses wie der Ehe war Papst Viktor II. (1054-1057). Ihn, vormals Bischof von Eichstätt, und Agnes hatte Heinrich III. auf dem Sterbebett zu Vormündern Heinrichs IV. bestellt. Als Ehefrau Salomons nahm Judith den Namen Sophia an. Auch die zweite Ehe der Judith-Sophia wurde von einem Geistlichen arrangiert. Nach dem Tod Salomons 1087 bereitete der Pommernmissionar und spätere Bischof von Bamberg (1102-1139), Otto (* um 1065), 1088 das Ehebündnis zwischen Judith und dem polnischen Herzog Wladyslaw I. Herman (1070-1102) vor (Taf. 3). Heinrich IV. gab seiner Schwester
69 Ursula LEWALD, Die Ezzonen. Das Schicksal eines rheinischen Fürstengeschlechtes, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 43 (1979), 120-168; Eduard HLAWITSCHKA, Königin Richeza von Polen - Enkelin Herzog Konrads von Schwaben, nicht Kaiser Ottos II.?, in: Lutz FENSKE, Werner RÖSENER und Thomas Ζ ο τ ζ (Hg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1984, 221-244; Stanislaus von HALKO, Richeza, Königin von Polen, Gemahlin Mieczyslaws II., Diss. Freiburg/Schweiz 1914. 70 So zumindest die Schilderung des Aktes von Gnesen im Jahr 1000 nach MALECZYNSKI (Hg.), Gallus Anonymus (wie Anm. 8), 19 f., c. 6. Auf die umstrittene Deutung des Aktes kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. dazu die Beiträge in: Michael BORGOLTE (Hg.), Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen", Berlin 2002. Zur politischen Bedeutung der Eheverbindung Mieszkos mit Richeza vgl. LUDAT, Elbe (wie Anm. 62), Kap. 5: Piasten und Ottonen, 67-92.
71 Vgl. die genealogische Tafel bei ENGELBERT, Piasten (wie Anm. 1), 22.
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Judith diesen Geistlichen als Kaplan mit nach Polen. 72 Der Sohn Wtadyslaw Hermans und Judith-Sophias, Boleslaw III. (1102-1138), heiratete ebenfalls eine Adelige aus dem Westen. 7 · Salome war die Tochter des mächtigen und reichen oberschwäbischen Grafen Heinrich I. von Berg. Auch diese Ehe stiftete Bischof Otto von Bamberg. Sie wurde im Rahmen eines Friedensschlusses zwischen Kaiser Heinrich V. und Boleslaw III. 1110 in Bamberg besiegelt. 74 Als König Heinrich II. 1013 in Merseburg mit dem polnischen Herzog Boleslaw I. Chrobry (992-1025) Frieden schloss, rekrutierte er in Ermangelung eigener Kinder die Tochter seines Gefolgsmannes Ezzo, um den Vertrag mit einem Ehebündnis zu besiegeln. Pfalzgraf Ezzo (Erenfrid) gab anlässlich dieses Friedensschlusses seine Tochter Richeza ( t 21 III 1063) dem Sohn Boleslaw Chrobrys, Mieszko II. ( t 1034), in die Ehe. 75 Als Mieszko II. 1025 an die Macht kam, schloss er sich der lothringischen Opposition gegen Konrad II. an. die auch von Richezas Familie unterstützt wurde. 76 Mathilde, die Herzogin von Oberlothringen. Tochter Herzog Hermanns II. von Schwaben und Schwester der Kaiserin Gisela, dankte dem polnischen König Mieszko II. für seine Loyalität mit der Übergabe eines liturgischen Buches, das sie mit einem überschwänglichen Widmungsschreiben versah (Abb. 1 ).77 Das Lobgedicht der Mathilde auf den tugendhaften, gerechten und barmherzigen Fürsten in der Art eines Fürsten-
72 W t a d y s l a w I. H e r m a n w a r ein Enkel der E z z o n i n R i c h e z a . Er verdankte den zweiten N a m e n seinem G r o ß o n k e l . E r z b i s c h o f H e r m a n n von Köln. Die V e r b i n d u n g w a r für Judith wie f ü r W t a d y s l a w H e r m a n die zweite Ehe. Die B e m ü h u n g e n O t t o s und das Hochzeitsfest sind a u s f ü h r l i c h b e s c h r i e b e n durch den M ö n c h H e r b o r d des B a m b e r g e r Klosters auf d e m M i c h e l s b e r g . Vgl. dazu ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1). 13-15. 73 Eine T o c h t e r W t a d y s l a w H e r m a n s und Judiths w u r d e Äbtissin von G a n d e r s h e i m , vielleicht auch von Q u e d l i n b u r g , eine zweite heiratete Jaroslav V l a d i m i r , den Fürsten der R u s ' . eine dritte einen polnischen A d e l i g e n . 74 Vgl. ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1). 16. 75 Vgl. dazu oben S. 114. 76 ENGELBERT. Piasten (wie A n m . I). 8. Z u m V o r g a n g vgl. Harry BRESSLAU. J a h r b ü c h e r des D e u t s c h e n R e i c h e s unter K o n r a d II. ( 1 0 2 4 - 1 0 3 9 ) . J a h r b ü c h e r der d e u t s c h e n G e s c h i c h t e 12.1. Berlin 1879. Bd. I. 90. 77 Die H a n d s c h r i f t ist ein Liber O f f i c i o r u m . das W i d m u n g s b i l d und die Epistola w u r d e n später nach getragen. Der C o d e x s t a m m t aus d e m ersten Viertel des 11. J a h r h u n d e r t s . H a r t m u t H o f f m a n n n hat sie der F r o u m u n d - S c h u l e des Klosters T e g e r n s e e z u g e s c h r i e b e n . B r y g i d a Kürbis h i n g e g e n halt sie f ü r ein Erzeugnis des R e i c h e n a u e r o d e r des St. Galler Skriptoriums. Sie g e h ö r t e später d e m Zisterzienserkloster Neuzelle bei F r a n k f u r t an der Oder. Vgl. Florentine MÜTHERICH. Epistola Mathildis Suevae. Zu einer verschollenen H a n d s c h r i f t d e s I I . J a h r h u n d e r t s , in: Frieda DETTWEILER (Hg.). Studien zur B u c h m a l e r e i und G o l d s c h m i e d e k u n s t des Mittelalters. Festschrift f ü r Karl H e r r m a n n U s e n e r . u.a. M a r b u r g an der Lahn 1967. 1 3 7 - 1 4 2 . mit S c h w a r z - W e i ß - A b b i l d u n g 139: Farbige N a c h z e i c h n u n g der Miniatur: Philipp Anton DETHIER. Epistola inedita Mathildis S u e v a e . . . ad M i s e g o n e m II.. P o l o n i a e r e g e m , et c o m m e n t a r i u s critic o - h i s t o r i c o - e x e g e t i c u s in earn e p i s t o l a m . Berlin 1842. I n n e n s p i e g e l . Zur P r o v e n i e n z des Illuminators vgl. Jerzy PIETRUSINSKI. Epistola Mathildis Suevae. Ο zaginionej miniaturze. in: Studia Z r ö d t o z n a w c z e 26 (1981). 5 3 - 7 2 . Z u r wieder a u f g e f u n d e n e n H a n d s c h r i f t (ohne die W i d m u n g s m i n i a t u r ) , j e w e i l s mit Abbild u n g m e h r e r e r Seiten aus d e m C o d e x vgl. Florentine MÜTHERICH. Epistola Mathildis Suevae. Eine w ied e r a u f g e f u n d e n e H a n d s c h r i f t , in: Studia Z r ö d t o z n a w c z e 26 (1981). 7 3 - 7 8 : B r y g i d a KÜRBIS. Die Epistola Mathildis S u e v a e an M i e s z k o II. in n e u e r Sicht. Ein F o r s c h u n g s b e r i c h t , in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), 3 1 8 - 3 4 3 und T a f . I X - X I V : R o m a n MICHALOWSKI. Princeps f u n d a t o r . S t u d i u m Ζ d z i e j ö w kultury politycznej w P o l s c e X - X I I I w i e k u . W a r s c h a u 1989. 8 5 - 1 1 7 .
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Abb. 1
Herzogin Mathilde von Lothringen überreicht dem polnischen König Mieszko II. einen Ordo Romanus
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spiegeis™, e n t s t a n d e n u m 1025-27 7 1 ', lässt M i e s z k o II. in e i n e m g a n z a n d e r e n L i c h t e r s c h e i n e n als d i e k a i s e r t r e u e n M a g d e b u r g e r A n n a l e n , die d e n p o l n i s c h e n F ü r s t e n als A n t i c h r i s t , als B e l i a l , als b l u t i g e s U n g e h e u e r u n d C h r i s t e n v e r f o l g e r b e s c h i m p f t e n u n d verfluchten. 1(11 Als N e b e n e f f e k t der multiethnischen Ehen entstanden Exilräume für politisch Verfolgte. D e n n die F r a u e n a m f r e m d e n H o f b o t e n V e r w a n d t e n A s y l , w e n n d i e s e i h r e H e i m a t a u s p o l i t i s c h e n G r ü n d e n v e r l a s s e n m u s s t e n . A l s n a c h d e m T o d O t t o s III. 1002 d e r b a i r i s c h e H e r z o g Heinrich aus der Linie der Liudolfinger z u m König gewählt wurde, hoffte dessen Bruder Brun m i t d e m b a i r i s c h e n H e r z o g s a m t b e l e h n t zu w e r d e n . D o c h H e i n r i c h setzte d e n B r u d e r s e i n e r G e m a h l i n K u n i g u n d e in d a s A m t . B r u n v e r b ü n d e t e sich d a r a u f h i n mit d e n G e g n e r n K ö n i g H e i n r i c h s , d e m G r a f e n H e i n r i c h v o n S c h w e i n f u r t , mit B o l e s l a w C h r o b r y u n d mit d e m H e r z o g v o n Böhmen. 1 * 1 D i e T r e u l o s i g k e i t g e g e n ü b e r s e i n e m k ö n i g l i c h e n B r u d e r b r a c h t e B r u n j e d o c h b a l d in B e d r ä n g n i s , s o d a s s er d a s L a n d v e r l a s s e n m u s s t e . E r s u c h t e u n d f a n d A s y l bei s e i n e r und Heinrichs Schwester Gisela, der Königin von U n g a r n . " Gisela, die Mutter Bruns. Heinr i c h s u n d G i s e l a s setzte sich f ü r d i e A u s s ö h n u n g d e r z e r s t r i t t e n e n B r ü d e r e i n . s i I m A p r i l 1004 n a h m d a r a u f h i n H e i n r i c h s e i n e n B r u d e r w i e d e r in G n a d e n auf u n d i n v e s t i e r t e ihn 1006 z u m Bischof von Augsburg. A u c h d i e u n g a r i s c h e K ö n i g i n G e r t r u d a u s d e m H a u s d e r A n d e c h s - M e r a n i e r (vgl. T a f . 1). G e m a h l i n K ö n i g A n d r e a s ' II. ( 1 2 0 5 - 1 2 3 5 ) , g e w ä h r t e ihren B r ü d e r n , B i s c h o f E k b e r t v o n B a m b e r g u n d M a r k g r a f H e i n r i c h IV. v o n Istrien. A s y l . A l s K ö n i g P h i l i p p v o n S c h w a b e n a m 21. A u g u s t 1208 in d e r b i s c h ö f l i c h e n P f a l z zu B a m b e r g e r m o r d e t w u r d e , z o g m a n nicht n u r den Täter. Pfalzgraf Otto von Wittelsbach, zur Rechenschaft, sondern auch die Gastgeber des E r m o r d e t e n , d i e B r ü d e r G e r t r u d s . 8 4 K ö n i g O t t o I V . v e r h ä n g t e d i e R e i c h s a c h t ü b e r sie u n d z o g ihre R e i c h s l e h e n ein. Sie v e r l o r e n allen B e s i t z , alle R e c h t e . W ü r d e n u n d E i n k ü n f t e , w u r d e n f r i e d - u n d r e c h t l o s / 5 Sie taten g u t d a r a n , a m H o f G e r t r u d s in U n g a r n Exil zu s u c h e n , d e n n d e r 78 Die Epistula in Düsseldorf. Universitätsbibliothek. C 91. 2*-3R. Faksimile: MÜTHERICH. Epistola Mathildis Suevae (wie Anm. 77). 74. Edition: Epistola dedicatoria Suevae ad Misegonem regem, in: Philipp Anton DETHIER. Epistola inedita Mathildis Suevae ... ad Misegonem II.. Poloniae regem, et commentarius critico-historico-exegeticus in eam epistolam. Berlin 1842.4 f. (so übernommen bei MIGNF.. PL 151. 1331). Zum Inhalt der Epistola und den Laudationsformeln ausführlich KÜRBIS. Epistola (wie Anm. 77). 326 ff. Ob die Epistola den polnischen Hof je erreichte ist fraglich. Ebenso ist bislang ungeklärt, wie die Handschrift in das Kloster Neuzelle gelangte, einer Gründung Heinrichs des Erlauchten. Markgraf von Meißen, aus dem Jahr 1268. 79 Zur Datierung der Epistola vgl. KÜRBIS. Epistola (wie Anm. 77). 332 ff. 80 Annales Magdeburgenses (Chronographus Saxo). MGH SS XVI. 169.Z.51 ff. Das Bild Mieszkos II. blieb bis in die polnische Historiographie des 18.-20. Jahrhunderts hinein kontrovers. Vgl. dazu SWIECHOWSKI. Königin Richeza (wie Anm. 27). 28 f. Anm. 6. 81 Thietmar. Chronicon. MGH SS rer. germ. N.S. 9. VI 2. 276 f. 82 Zum Ungarnexil Bruns vgl. Stefan WEINEURTER. Heinrich II. (1002-1024). Herrscher am Ende der Zeiten. Regensburg 1999. 114. Schon im frühen 10. Jahrhundert hatten die Ungarn oppositionellen bairischen Herzögen Asyl gewährt, beispielsweise dem Liutpoldinger Herzog Arnulf, der wegen der Auseinandersetzungen mit König Heinrich I. um 915 das Land verlassen musste. 83 Vita Meinwerci. MGH SS rer. germ. [59], c. 9. 16. 84 SCHÜTZ. Geschlecht II (wie Anm. 19). 76 f.: Balint HOMAN. Geschichte des ungarischen Mittelalters. Bd. 2: Vom Ende des 12. Jahrhunderts bis zu den Anfängen des Hauses Anjou. Berlin 1944. 11 ff. 85 Das Verfahren war nicht rechtmäßig, weil den Beschuldigten keine Möglichkeit zur Verteidigung gegeben wurde. Am meisten profitierte von dem Verfahren Herzog Ludwig von Baiern. an den König Otto die eingezogenen Reichslehen ausgab.
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weifische Thronfolger, Otto IV., verfolgte den Mörder gnadenlos und ließ ihn töten. Ekbert und Heinrich hätten vermutlich dasselbe Schicksal erlitten, wären sie nicht aus dem Land geflohen. Obwohl Andreas II. von Ungarn bei Papst Innozenz III. zugunsten seiner geächteten Schwäger intervenierte, ließ sich die weifische Partei nicht dazu erweichen, die Güter der Meranier zu restituieren. 86 Der Aufenthalt am ungarischen Hof fand viele Jahre später einen künstlerischen Niederschlag beim Neubau des Bamberger Doms, den Bischof Ekbert nach seiner Rückkehr ins Reich forcierte. Man geht heute davon aus, dass der um 1220 angefertigte sog. Bamberger Reiter, die erste lebensgroße Reiterstatue seit der Antike, den hl. König Stephan I. von Ungarn darstellt. Vielleicht war es Ekberts Dankesgabe für das Exil und die politische Unterstützung, die ihm Gertrud und Andreas von Ungarn gewährt hatten.
3. Die Ehe als kulturelle Tatsache Internationale Ehen von hohem Rang förderten nicht nur die politische Verständigung und den Frieden, sondern auch den kulturellen Austausch. Die kulturelle Einheit Europas begann sich erst seit dem 10. Jahrhundert zu entwickeln und es besteht kein Zweifel, dass die Übernahme des kanonischen Eherechts im Osten wie der Austausch von Kulturgütern im Rahmen von Eheschließungen einen ebenso bedeutenden Beitrag dazu leisteten wie religiöse und verfassungsrechtliche Angleichungsprozesse. Die kulturelle Einheit entstand durch den Transfer von Gütern, Ideen und sozialen Praktiken, dazu zählen auch das Heiratsverhalten sowie die rechtlichen und moralischen Einstellungen zu Ehe und Sexualität. 87 Seit dem 12. und 13. Jahrhundert wurden christliche Religion und kirchliches Recht von den Oberschichten der slavischen und ungarischen Gesellschaften adaptiert und führten zu einer Modifikation des profanen Rechts. Die soziale Tatsache der Ehe durchlebte im Westen wie im Osten einen radikalen Wandel, da die kirchenrechtlichen Kontroversen um die Ehe nach jahrhundertelangen Debatten innerhalb der römischen Kirche im 4. Laterankonzil des Jahres 1215 abgeschlossen und in eine Norm überführt wurden. Die Synodalen verständigten sich darauf, dass nur nochmonogame Beziehungen als legitime Ehen anzuerkennen seien (Verbot der Polygamie und Polygynie), dass vor der Trauung die Zustimmung der Brautleute einzuholen sei (Konsens), dass der Priester als Liturge und Zeuge an den Hochzeitsfeierlichkeiten teilzunehmen habe, dass die Ehe ein Sakrament (Mysterium) und daher unauflöslich sei, dass das Heiratsverbot unter engsten Blutsverwandten auf die Schwägerlinie und geistliche Verwandte,
86 Der weitere Verlauf der welfisch-meranischen Auseinandersetzungen ist erläutert bei SCHÜTZ, Geschlecht II (wie Anm. 19), 77. Vgl. die dort unter Anm. 174 ff. genannten Urkunden. Angesichts der harten Haltung des Weifen gegen die Meranier nimmt es nicht Wunder, dass die Brüder Gertruds zusammen mit dem Landgrafen Hermann von Thüringen, der seinen Sohn Ludwig Elisabeth, der Tochter Andreas' von Ungarn, verlobt hatte, gegen Otto IV. und für die Königserhebung Friedrichs II. von Schwaben votierten. 87 Zum Einfluss des kirchlichen Eherechts auf das Heiratsverhalten im Osten vgl. Aleksander GIEYSZTOR, Le tradizioni locali e le influenze ecclesiastiche nel matrimonio in Polonia nei secoli X-XIII, in: II matrimonio nella societä altomedievale, Settimane di studio del Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo 24,1, Spoleto 1977, Bd. 1, 321-346; im Westen: Jean GAUDEMET, Le mariage en Occident. Les mceurs et le droit, Paris 1987.
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e t w a d i e T a u f p a t e n , a u s z u d e h n e n sei (Inzest), a u s w e l c h e n G r ü n d e n e i n e D i s p e n s erteilt u n d e i n e E h e a n n u l l i e r t w e r d e n k ö n n e . D i e c h r i s t l i c h e n E h e r e g e l n w u r d e n z u e r s t v o n d e n Eliten a d a p t i e r t , w e n n g l e i c h d i e k a n o n i s c h e n I n z e s t v e r b o t e g r a v i e r e n d e V e r ä n d e r u n g e n d e s adelig e n H e i r a t s v e r h a l t e n s mit sich b r a c h t e n . D e r „ M a r k t " d e r e r l a u b t e n E h e p a r t n e r r e d u z i e r t e sich d a d u r c h d r a s t i s c h u n d z w a n g d e n A d e l , sich w e i t r ä u m i g e r zu o r i e n t i e r e n . D i e
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S c h i c h t e n , d i e A r m e n und B e s i t z l o s e n , t a n g i e r t e das k i r c h l i c h e E h e r e c h t h i n g e g e n k a u m . D i e B r a u t a u s d e m W e s t e n , d i e in die ö s t l i c h e F r e m d e z o g . v e r m i t t e l t e nicht n u r d i e n e u e n N o r m e n des römisch-kirchlichen Rechts, sondern auch Kulturgüter. Technologien und kulturelles W i s s e n , d a s ihr d u r c h A u s b i l d u n g u n d S o z i a l i s a t i o n m i t g e g e b e n w o r d e n w a r : die latein i s c h e S c h r i f t l i c h k e i t u n d d i e c h r i s t l i c h e R e l i g i o n r ö m i s c h e r P r ä g u n g . Mit d e r B r a u t k a m e n m a t e r i e l l e K u l t u r g ü t e r an d e n H o f d e s K ö n i g s o d e r F ü r s t e n : G e s c h e n k e u n d die A u s s t e u e r . U n d sie reiste in d e r R e g e l n i c h t allein, s o n d e r n in B e g l e i t u n g e i n e s H o f s t a a t e s , g e i s t l i c h e r u n d w e l t l i c h e r B e r a t e r , d i e f ü r l ä n g e r e Z e i t o d e r auf D a u e r zu ihrer V e r f ü g u n g blieben. S!< A n d e r s als in d e r M e r o w i n g e r z e i t , als C h r i s t i n n e n h ä u f i g e r d e n K o n f e s s i o n s w e c h s e l ihres H e r r s c h e r g e m a h l s b e w i r k t e n 8 9 , t r a f e n die P r i n z e s s i n n e n a u s d e m W e s t e n m e i s t auf F ü r s t e n f a m i l i e n , d i e sich bereits in d e r z w e i t e n o d e r m e h r G e n e r a t i o n e n z u m C h r i s t e n t u m r ö m i s c h e r o d e r g r i e c h i s c h e r P r ä g u n g b e k a n n t e n . D a s W e r k d e r C h r i s t i a n i s i e r u n g d e r breiten B e v ö l k e r u n g w a r h i n g e g e n n o c h zu leisten. D e n B r ä u t e n a u s d e m W e s t e n u n d a u s d e m g r i e c h i s c h e n K u l t u r k r e i s w i r d ein b e a c h t l i c h e r A n t e i l a m A u f b a u d e r K i r c h e n o r g a n i s a t i o n , an d e r E n t w i c k l u n g d e r K l o s t e r k u l t u r , d e r w e i b l i c h e n R e l i g i o s i t ä t u n d d e r E i n f ü h r u n g d e r S c h r i f t l i c h k e i t zugeschrieben. U m s t r i t t e n ist d i e R o l l e G i s e l a s , d e r T o c h t e r d e s b a i r i s c h e n H e r z o g s H e i n r i c h s d e s Z ä n k e r s , bei d e r C h r i s t i a n i s i e r u n g Ungarns. 9 1 1 A l s sie d e n S o h n d e s A r p ä d e n f ü r s t e n G e z a h e i r a t e t e , w a r dieser wahrscheinlich bereits getauft. D a wir aufgrund der widersprüchlichen Quellenlage w e d e r d e n Z e i t p u n k t d e r H o c h z e i t ( z w i s c h e n 9 9 1 u n d 1004. w a h r s c h e i n l i c h 9 9 6 / 9 7 ) n o c h d e n d e r T a u f e V a j k s e x a k t r e k o n s t r u i e r e n k ö n n e n 9 1 , ist k a u m zu s a g e n , o b G i s e l a e i n e n E i n f l u s s auf die E n t s c h e i d u n g z u g u n s t e n d e s r ö m i s c h e n - u n d g e g e n d a s g r i e c h i s c h e - C h r i s t e n t u m
88 So überwies Heinrich IV. seiner Schwester Judith den Kleriker Otto als Kaplan, als sie die Ehe mit Wladyslaw I. Herman einging. Vgl. dazu oben S. 114/115. Beispiele aus dem Spatmittelalter bei SPIESS. Unterwegs (wie Anm. 18). 33 f. 89 Vgl. dazu Cordula NOLTK. Conversio und christiimitas. Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert. Monographien zur Geschichte des Mittelalters 41. Stuttgart 1995. 90 Geza ERSZEGI. Die Christianisierung Ungarns anhand der Quellen, in: Alfried WIFCZOREK und Hans-Martin HINZ (Hg.). Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte. Kunst und Archäologie. Bd. 2. Stuttgart 2001. 600-607: Läs/.ΐό VESZPREMY. König Stephan der Heilige, in: ebd.. 868-870: Läszlö VESZPRF.MY. Königin Gisela von Ungarn, in: ebd.. 608-612: György GYÖRFFY. König Stephan der Heilige. Budapest 1988: Konrad SZÄNTO. Das Leben der seligen Gisela, der ersten Königin von Ungarn. Budapest 1988.
91 Die Quellen zusammengefasst bei HiF.LSRHER. Gisela (wie Anm. 25). 266 ff. Aus diesem Befund ergeben sich eine Reihe ungelöster Fragen: Bekräftigte Adalbert den Übertritt Vajks zum Christentum durch die Firmung oder taufte er ihn. als er um 995 zum ersten Mal in Ungarn war? War Vajk schon getauft, als er Gisela heiratete? Oder ließ er sich unter ihrem Einfluss taufen? Es scheint, dass Vajk die Nachfolge seines Vaters Geza um 997 in den westlichen Teilen Ungarns (Pannonien) antrat.
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hatte oder nicht.92 Auch ihr Anteil am Aufbau der Kirchenorganisation ist unklar. Das Verdienst kann mit gleichem Recht dem Benediktinermönch Gerhard aus Venedig zugeschrieben werden, den Vajk nach seiner Taufe ins Land holte.93 Während die westlichen Quellen der Zeit den Anteil Giselas am ungarischen Missionsprozess betonen, verschweigen die ungarischen Chronisten ihre Beteiligung weitgehend. 94 Die moderne ungarische Forschung schreibt ihr die Mitwirkung an der Gründung des Frauenklosters Stuhlweißenburg (Szekesfehervär) und der Propstei Obuda zu, den Import des Evangeliars von Bakonybel und eine Güterschenkung an denselben Konvent (DHA Nr. 27) sowie die Einführung der Patrozinien des hl. Emmeram in Neutra und des hl. Hippolyt in Zobor bei Neutra. 95 Mit den Auswirkungen der Ehen polnischer Herrscher mit Frauen aus dem Westen hat sich Zygmunt Swiechowski aus bau- und architekturgeschichtlicher Sicht näher befasst. 96 In den archäologischen Untersuchungen nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich der Befund ab, dass die romanische Architektur und Kunst Polens weit stärker von den im Reich tradierten Techniken geprägt wurde, als man früher annahm. Sie sind wohl mit den Einflüssen gleich zu setzen, die aus Böhmen, Mähren und Burgund sowie durch die Architektur der Zisterzienser nach Polen kamen. Viele in Italien beheimatete Techniken und Stilrichtungen wurden vermutlich nicht direkt, sondern über das Reich nach Polen vermittelt. 97 Der Kulturtransfer im Gefolge interethnischer Hochzeiten hat in Polen im späten 11. und im 12. Jahrhundert deutliche Spuren hinterlassen. Die Vermählung der Ezzonin Richeza mit dem polnischen König Mieszko II. erwies sich in dieser Hinsicht als besonders folgenreich. Sie, ihr Sohn Kazimierz I., und ihre beiden Enkel Wladyslaw Herman (1080-1102) und Boleslaw II. (1058-1079) holten aus dem Rheinland Benediktiner als Missionare und Handwerker (v.a. aus der Mainzer Dombauhütte) für den Kirchenbau. 98 Richeza und Mieszko II.
92 Bei seiner Herrschaftsübernahme hatte sich Vajk jedenfalls für den römischen Ritus entschieden und wurde dafür im Jahr 1000/01 von Papst Silvester II. mit der Königs würde ausgezeichnet. Der östliche Teil des Landes (Siebenbürgen), in dem sein Verwandter, Fürst Gyula, und der Magnat Ajtony herrschten, wurde dagegen zunächst von Missionaren aus Byzanz christianisiert. Dort praktizierte man nach griechischem Ritus. Erst als König Stephan ab 1002 auch die Herrschaft über die östlichen Landesteile antrat, wurde der Einfluss der Griechen zurückgedrängt (Durchsetzung der lateinischen Kirche erst 1028). Vgl. ERSZEGI, Christianisierung (wie Anm. 90), 600-607. 93 Unklar ist, ob die Idee, je zehn Dörfer zum Bau einer Kirche zu verpflichten, auf König Stephan und westliche Kleriker oder auf einen Vorschlag Giselas zurückgeht. Vorbild für die Dekanie ist jedenfalls ein Beschluss des Mainzer Konzils von 847. Unsicher ist auch, ob Gisela sich für die christliche Erziehung ihres Sohnes Emmerich einsetzte und den Marienkult in Ungarn verankerte. Vgl. dazu ERSZEGI, Christianisierung (wie Anm. 90), 607. 94 Gisela hat in Ungarn, soweit überhaupt von ihr die Rede ist, eine sehr schlechte Presse. Das ist vermutlich auf den Umstand zurückzuführen, dass in der Krise der Arpädendynastie nach dem Tod Stephans I. die Gegner alles daran setzten, die Aktivitäten der westlichen Königin der damnatio memoriae anheim zu geben. 95 VESZPREMY, Königin Gisela (wie Anm. 90), 611 f. 96 Zygmunt SWIECHOWSKI, Romanische Baukunst Polens und ihre Beziehungen zu Deutschland, in: Westfalen 43 (1965), 161-190. Auf die Bedeutung der Heiratsverbindungen für den Kulturtransfer weist er S. 161 ausdrücklich hin. 97 SWIECHOWSKI, Romanische Baukunst (wie Anm. 96), 163. 98 Vgl. Zygmunt SWIECHOWSKI, Romanesque Art in Poland, Warschau 1983, 19 ff.; S W I E C H O W S K I , Romanische Baukunst (wie Anm. 96), 186 ff.
Heiraten - ein I n s t r u m e n t hochmittelalterlicher Politik
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n a h m e n u n m i t t e l b a r nach ihrer Hochzeit auf d e m K r a k a u e r W a w e l R e s i d e n z und ließen die Kirchen zu Ehren der Heiligen G e r e o n , Felix und A d a u c t u s errichten. Diese Patrone brachte R i c h e z a aus der Bischofsstadt K ö l n m i t . w In A n l a g e und Ausstattung w u r d e St. G e r e o n in Krakau nach d e m Vorbild von St. G e r e o n zu Köln und St. Michael zu Hildesheim gestaltet. 1 " 1 ' W l a d y s l a w I. H e r m a n ließ die Kathedrale in Krakau von rheinischen Bauleuten konzipieren und a u s f ü h r e n . Sie w u r d e erst w ä h r e n d der R e g i e r u n g seines S o h n e s Bolestaw III. u m 1118 vollendet."" Die rheinischen Missionare, unter ihnen wahrscheinlich auch M ö n c h e aus Brauweiler. gründeten nach den A u f s t ä n d e n von 1038 neue Benediktinerklöster in T y n i e c . Lubin. M o g i l n o . Plock und Breslau. A u c h sie v e r g a b e n A u f t r ä g e an rheinische Bauleute." i : Aaron, der Richeza bei der W i e d e r g e w i n n u n g der polnischen K ö n i g s w ü r d e f ü r ihren Sohn Kazimierz unterstützt hatte 1 "' und 1046 in Köln z u m Missionsbischof f ü r Polen eingesetzt worden war. w u r d e erster Abt des Klosters Tyniec. Er ließ aus Köln Reliquien des hl. Gereon und liturgische B ü c h e r nach Krakau bringen. D e m Kloster T y n i e c schenkte er ein S a k r a m e n t a r ( „ S a c r a m e n t a r i u m T i n e c e n s e " ) , das zu den h e r a u s r a g e n d e n W e r k e n der Kölner Skriptorien des 11. J a h r h u n d e r t s zählt. 1 " 4 S w i e c h o w s k i n a h m an" 15 , die H a n d s c h r i f t sei ein persönliches Legat Richezas an A a r o n g e w e s e n , e b e n s o wie ein Reisekelch und eine kostbare Patene. die man in e i n e m G r a b von T y n i e c f a n d . Dieser Ansicht w u r d e j e d o c h in j ü n g s t e r Zeit widers p r o c h e n . e b e n s o der V e r m u t u n g , die H e d w i g s g l ä s e r im D o m s c h a t z zu Krakau und der sog. Adalbertkelch aus T r e m e s s e n im D o m s c h a t z zu G n e s e n seien mit R i c h e z a in V e r b i n d u n g zu bringen."" 1 In Polen waren u m diese Zeit aber nicht nur rheinische H a n d w e r k e r und Künstler tätig. W l a d y s l a w H e r m a n ließ auch B a u e x p e r t e n aus d e m niedersächsischen R a u m k o m m e n . Sie errichteten die Kirche St. A n d r e a s in Krakau, die Sieciech. ein Palatin W l a d y s l a w H e r m a n s gestiftet hatte. 1 " 7 W ä h r e n d die sächsisch-thüringischen Bauleute aber überall in Polen tätig waren, konzentrierten sich die rheinischen Experten auf Kleinpolen, auf die Residenzen Richezas und ihrer N a c h k o m m e n in Krakau und Plock. 1 "* Sie errichteten nicht nur Sakral-
9 9 KÜRBIS. Epistola (wie A n m . 77). 327 macht a u f g r u n d der Epistola M a t h i l d e s von Oberlothringen, die M i e s z k o II. als E r b a u e r der Kirchen lobt, g l a u b h a f t , dass die Bautätigkeit auf d e m K r a k a u e r W a w e l nicht erst 1041 mit der H e r r s c h a f t K a z i m i e r z ' begann. Diese T h e s e wird durch neuere a r c h ä o l o g i s c h e B e f u n d e unterstützt. 100 SWIECHOWSKI. R o m a n i s c h e B a u k u n s t (wie A n m . 96). 172 f. Die r h e i n l ä n d i s c h e n Bauleute, die auf d e m K r a k a u e r W a w e l tätig w a r e n , zogen weiter nach Prag, w o sie u m 1060 mit d e m Bau des Veilsd o m s b e g a n n e n . D a h e r gibt es z w i s c h e n der G e r e o n s k i r c h e auf d e m K r a k a u e r W a w e l und d e m Prager V e i t s d o m zahlreiche stilistische Ü b e r e i n s t i m m u n g e n . 101 SWIECHOWSKI. R o m a n i s c h e Baukunst (wie A n m . 96). 186. 102 Vgl. dazu SWIECHOWSKI. Königin R i c h e z a (wie A n m . 27). 4 2 ff. 103 Vgl. d a z u oben S. 107. 104 W a r s c h a u . Biblioteka N a r o d o w a ( e h e m . Biblioteka O r d y n a c j i Z a m o y s k i c h ) : BN rps B O Z 8. Peier BLOCH und H e r m a n n SCHNI rzi.ER. Die ottonische K ö l n e r M a l e r s c h u l e . Bd. 1: Katalog und T a f e l n . Düsseldorf 1967. 100-103. Nr. X V I . mit T a f e l n . 3 7 3 - 3 9 0 . 105 SWIECHOWSKI. Königin R i c h e z a (wie A n m . 27). 45. 106 BEUCKF.RS. E z z o n e n (wie A n m . 26). 69. A n m . 539. 107 Parallelen zur Kirche der A u g u s t i n e r - C h o r h e r r e n auf d e m G e o r g s b e r g in G o s l a r sieht SWIECHOWSKI. R o m a n i s c h e B a u k u n s t (wie A n m . 96). 175. 108 SWIECHOWSKI. R o m a n i s c h e B a u k u n s t (wie A n m . 96). 189. W l a d y s l a w H e r m a n residierte meist in Plock.
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bauten, Kirchen und Klöster, sondern auch profane Architektur, die Hof- und Festungsanlagen der königlichen Residenzen. Während der Regierung Mieszkos II. und Richezas wurde die Palastanlage auf der Insel Ostrow im Lednica-See, zwischen Posen und Gnesen gelegen, umgebaut. Nach westlichem Vorbild ließ man einen langgezogenen rechteckigen Palas mit großem Versammlungssaal errichten. Daran schloss sich der Sakralbereich an, dessen Zentrum eine oktogonale Kapelle bildete.109 In Giecz wurde eine ähnliche Anlage begonnen, sie blieb wegen der politischen Unruhen aber unvollendet." 0 Im 12. Jahrhundert entstand im schlesischen Teil Polens Kirchen- und Klosterarchitektur nach westlichen Vorbildern. Vermittlerin der kulturellen Anleihen aus dem Westen war Hedwig, eine Tochter Herzog Bertholds IV. von Meranien. Sie hatte um 1186 den Piastenprinzen Heinrich geheiratet, der später Herzog von Schlesien wurde. 1202 gründete Heinrich auf dem Eigengut der Piasten in Trebnitz das erste Frauenkloster in Schlesien. Er ließ es von Papst Innozenz III. in päpstlichen Schutz aufnehmen und stattete es mit Zustimmung des Bischofs Cyprian von Breslau mit Zehnten in Steinau und Stuben und mit eigenen Gütern großzügig aus. 1 " In den Gründungs-, Immunitäts- und Schenkungsurkunden des Zisterzienserinnenklos ters Salvator und Bartholomäus tritt zwar nur Herzog Heinrich von Schlesien als Petent und Stifter in Erscheinung, wir haben aber Grund zu der Annahme, dass Hedwig ein ebenso starkes Interesse an der Gründung hatte wie ihr Gemahl." 2 Der Konvent war als Grablege des Herzogspaares konzipiert." 3 Kirche und Kloster wurden vermutlich in den 30er des 13. Jahrhunderts vollendet." 4 Hedwig, die seit dem Tod Heinrichs I. 1238 in Trebnitz als Witwe (nicht als Nonne) lebte, vermachte dem Kloster 1242 das Gut Schawoine mit stattlichen 400 Hufen bestem Ackerlandes." 5 Die Besitzübertragung erfolgte als praecaria oblata mit lebenslänglicher Nutzung für Gertrud, die Tochter Hedwigs und Heinrichs, Äbtissin des Klosters. Das Gut war ursprünglich Allodialbesitz der Piasten gewesen und Hedwig anlässlich der Hochzeit mit Heinrich als Witwenausstattung (dos) übergeben worden.
109 SWIECHOWSKI, Königin Richeza (wie Anm. 27), 39, 37 Abb. 6, 38 Abb. 7. 110 SWIECHOWSKI, Königin Richeza (wie Anm. 27), 39. 111 Die Rechte des Klosters wurden am 22. November 1202 von Papst Innozenz III. (Heinrich APPELT (Hg.), Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1: 971-1230, Köln u.a. 1971, Nr. 78) und zu Ostern 1203 von Bischof Cyprian von Breslau (APPELT [Hg.], Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1 [wie Anm. 111], Nr. 84) bestätigt. In beiden Urkunden tritt nur Heinrich als Petent beziehungsweise Schenker seines Allodiums in Erscheinung. Der Gründungsakt wurde wahrscheinlich am 28. Juni 1202 vollzogen. 112 Die Dotierung fand am 22. Januar 1203 in Anwesenheit von Hedwigs Verwandten, Bischof Ekbert von Bamberg und Dompropst Poppo von Bamberg, statt (APPELT [Hg.], Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1 [wie Anm. 111], 5 4 - 5 8 , Nr. 83). 113 Als Wächterinnen der Memoria wurden Hedwigs und Heinrichs Töchter eingesetzt. Die Tochter Gertrud wurde 1212 zweite Äbtissin des Konvents. Seit 1223 befand sich auch deren Schwester Adelheid unter den Nonnen. 114 Zur Baugeschichte vgl. SWIECHOWSKI, Romanesque Art (wie Anm. 98), 258 f., Nr. 102. 115 Heinrich APPELT (Hg.), Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 2: 1231-1250, bearb. von Winfried IRGANG, Köln u.a. 1977, 141 f., Nr. 234. Vgl. Josef KIRMEIER und Evamaria BROCKHOFF (Hg.), Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, München 1993, 242, Kat.-Nr. 91, Abb. S. 154.
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Abb. 2
Skulpturen am T x m p a n o n der Trebnit/er
KloMerkirch
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Hedwig hatte ihre Erziehung und Ausbildung im Benediktinerinnenkloster Kitzingen am Main genossen." 6 Aus dem Kloster St. Theodor in Bamberg, dem ihr Onkel Poppo von Andechs als Propst vorstand, holte sie Nonnen nach Trebnitz. Zur ersten Äbtissin setzte sie ihre Kitzinger Erzieherin Petrissa ein. Die Trebnitzer Klosterkirche ist zwar im romanischen Stil gebaut, in der Wölbung deuten sich aber erstmals in der schlesischen Architektur Zeichen des gotischen Stils an." 7 Die polnischen Bauaufseher und die Steinmetze hatten auch an anderen Kirchen der Region mitgewirkt." 8 Das Tympanon an der Westfassade der Klosterkirche von Trebnitz indes - es zeigt Bathseba und ihre Magd, die dem Saitenspiel König Davids lauschen - hat große Ähnlichkeit mit den manierierten spätromanischen Skulpturen am und im Bamberger Dom (um 12201237).119 Initiator und Promotor des Bamberger Domneubaus war Hedwigs Bruder, Bischof Ekbert (1203-1237), von dem bereits als Auftraggeber des sog. Bamberger Reiters und als Asylanten am Hof der Schwester, Gertrud von Ungarn, die Rede war.120 Ekbert hatte 1203 dem der Gründung folgenden Akt der Dotierung des Klosters Trebnitz ebenso beigewohnt wie ihr Onkel Poppo.121 Es kann als sicher gelten, dass Hedwig und ihre geistlichen Verwandten die Handwerker für die Ausschmückung des Konvents aus Bamberg kommen ließen. Der Skulpturenschmuck der Kapitelle und der Tympana ist für eine Zisterze, die dem apostolischen Armutsideal folgend nur spärlich und mit floralen Ornamenten ausgestaltet sein durfte, viel zu aufwendig geraten. Das ist wohl der Doppelfunktion des Gebäudes als Klosterkirche und als Grablege der Stifter geschuldet. Die Steinmetze der mainfränkischen Werkstatt arbeiteten nicht nur für die repräsentative Grabstätte des Herzogspaares in Trebnitz, sondern auch für deren Palast und Kapelle in Legnica.' 22 Die kulturellen Beziehungen der westlichen Prinzessinnen an osteuropäischen Höfen spiegeln sich nicht nur in der Großarchitektur, sondern auch in der handwerklichen Kleinkunst, die in der herrscherlichen Repräsentationskultur aber eine bedeutende Rolle spielte. Herzogin Hedwig vermittelte nicht nur die Steinmetze für den Bau der Trebnitzer Klosterkirche, son-
116 Vgl. dazu und zum Folgenden Alois SCHÜTZ, Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter V: Hedwig, Herzogin von Schlesien, in: Josef KIRMEIER und Evamaria BROCKHOFF (Hg.), Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, München 1993, 145-164. 117 Paul CROSSLEY, The Architecture of Queenship. Royal Saints, Female Dynasties and the Spread of Gothic Architecture in Central Europe, in: Anne J. DUGGAN (Hg.), Queens and Queenship in medieval Europe. Proceedings of a conference held at King's College London, April 1995, Woodbridge 1997, 263-300, bes. 277 ff. 118 SWIECHOWSKI, Romanesque Art (wie Anm. 98), 259: „In addition to the brothers from Lubio we meet here the stone cutter Jakub who seems to have been the superviser of the work {magister operis) and the builder (coemenlarius) Dalemir of Zajczkow." 119 Das Tympanon abgebildet bei SWIECHOWSKI, Romanesque Art (wie Anm. 98), Abb. 180-184, und in: Josef KIRMEIER und Evamaria BROCKHOFF (Hg.), Herzöge und Heilige (wie Anm. 115), 161. Zu den Übereinstimmungen mit der Paradiespforte und den Schranken am Georgschor des Bamberger Doms vgl. SWIECHOWSKI, Romanesque Art (wie Anm. 98), 65 f. 120 Hedwigs Schwester Gertrud war mit König Andreas II. von Ungarn verheiratet. Vgl. dazu oben S. 102. 121 APPELT (Hg.), Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1 (wie Anm. 111), 57, Nr. 83. 122 SWIECHOWSKI, Romanesque Art (wie Anm. 98), 66 und Abb. 185.
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dem stiftete auch liturgische Geräte, die in ihrer Heimat gefertigt worden waren. Erhalten hat sich ein Weihrauchfass, das vermutlich in einer Regensburger Werkstatt gefertigt wurde123, und sich heute noch in Trebnitz befindet. Als Judith-Sophia, die Schwester des ostfränkischen Königs Heinrichs IV., 1088 in zweiter Ehe den polnischen Fürsten Wladyslaw I. Herman heiratete (Judith starb 1092/96), übergab sie dem Krakauer Dom ein wertvolles liturgisches Buch. Der Codex entstand vermutlich Ende des 11. Jahrhunderts oder um 1100 im Kloster St. Emmeram zu Regensburg. Die seitenfüllende Miniatur Folio 2v zeigt im oberen Register drei Herrscher: einen HEINRICUS REX'24, einen HEINRICUS IMΡERA TOR125 und einen CHVONRADUS REXl2\ im unteren Register drei Regensburger Äbte beziehungsweise Heilige: EBERHARDUS ABBAS, S. RAMVOLDUS ABBAS, RVOTPERTUS ABBAS. In der älteren deutschen Forschung wurde der Anteil der Königin Gisela an der kulturellen Entwicklung Ungarns hoch eingeschätzt. Man nahm an, der sog. ungarische Krönungsmantel sei von Regensburger Sanktimonialen oder von Handwerkern in Baiern angefertigt worden
Abb. 4
Krönungsmantel Stephans I. und der Gisela
123 KIRMEIER/BROCKHOFF (Hg.), Herzoge und Heilige (wie Anm. 115), 243, Kat.-Nr. 93 und Abb. S. 153. Die Provenienz des Gerätes ist umstritten. Neben Regensburg sind auch maasländische Werkstätten im Gespräch (Umkreis des Reiner von Huy). 124 Heinrich V.. Mitkönig seit 1099, Neffe der Judith. 125 Heinrich IV., Kaiser seit 1084, gest. 1106, Bruder Judiths. 126 Bruder Heinrichs V., Neffe Judiths, Mitkönig seit 1087, König von Italien seit 1093, abgesetzt 1098.
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Abb. 8
Pluvialc (sog. ..blauer Kunigundcnmantel' 1 ) der Königin Kunigunde
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und Gisela h a b e ihn nach U n g a r n gebracht und in S t u h l w e i ß e n b u r g d e p o n i e r t . 1 " . Die W e r k s t a t t b e s t i m m u n g basierte auf den technischen und i k o n o g r a p h i s c h e n Parallelen zwischen d e m „ungarischen K r ö n u n g s m a n t e l " und den liturgischen M ä n t e l n im B a m b e r g e r D i ö z e s a n m u s e u m . die Heinrich, d e m B r u d e r Giselas, und K u n i g u n d e , ihrer S c h w ä g e r i n , als Besitzer und T r ä g e r zugeschrieben w e r d e n . N a c h wie vor geht man d a v o n aus. dass der sog. Sternenmantel Heinrichs II. in einer R e g e n s b u r g e r Werkstatt bestickt wurde, wahrscheinlich von den K a n o nissen des Stiftes N i e d e r m ü n s t e r . Inzwischen wird der Kulturtransfer nicht m e h r allein in W e s t - O s t - R i c h t u n g als einseitiges Kulturgefälle interpretiert, sondern als A u s t a u s c h in beide R i c h t u n g e n . Die neuere ungarische F o r s c h u n g und mit ihr E v a K o v ä c s geht h i n g e g e n davon aus. dass sowohl d e r sog. ungarische K r ö n u n g s m a n t e l wie auch das sog. G i s e l a - K r e u z , das die Königin d e m R e g e n s b u r g e r Niedermünsterstift als M e m o r i a l k r e u z f ü r ihre M u t t e r schenkte, in einer ungarischen Werkstatt im V e s z p r e m t a l gefertigt w u r d e n . D a die technischen und künstlerischen Unterschiede zwischen den „ B a m b e r g e r M ä n t e l n " und d e m „ungarischen K r ö n u n g s m a n t e l " nur gradueller, nicht f u n d a m e n t a l e r N a t u r sind, könnte man sich aber g e n a u s o gut vorstellen, dass mit Gisela o d e r durch ihre V e r m i t t l u n g bairische H a n d w e r k e r nach Ungarn k a m e n , die d e m Königshof und den d e m K ö n i g s h a u s n a h e s t e h e n d e n Klöstern ihre K e n n t n i s s e und Fertigkeiten anboten. W e n i g beachtet w u r d e in dieser Kontroverse, dass die G r u n d s t o f f e der liturgischen G e w ä n der h o c h w e r t i g e S e i d e n s t o f f e orientalischer W e r k s t ä t t e n sind (aus B y z a n z . Syrien. Ä g y p t e n . Persien), die im W e s t e n in lokalen W e r k s t ä t t e n situationsbezogen bestickt w u r d e n . Zu den orientalischen S t o f f e n hatte der ungarische Hof durch seine Kontakte nach B y z a n z direkten Z u g a n g und war nicht auf die H a n d e l s k o n t a k t e der o s t f r ä n k i s c h e n H e r r s c h e r nach V e n e d i g und Unteritalien a n g e w i e s e n . Die Regeln des G a b e n t a u s c h s verlangen nach Gütertausch in beide R i c h t u n g e n , nach Reziprozität. Sieht man bei der Interpretation der materiellen wie der schriftlichen Ü b e r l i e f e r u n g von m o d e r n e n nationalen und patriotischen Interessen ab. so spiegeln die mittelalterlichen K u l t u r b e z i e h u n g e n tatsächlich einen solchen reziproken T a u s c h . A u c h die Prinzessinnen aus d e m Osten, die E h e n mit westlichen A d e l i g e n und K ö n i g s s ö h n e n eingingen, brachten Kulturgüter aus ihrer Heimat mit. Als die B r a u t w e r b e r und T ö c h t e r b e z i e h u n g s w e i s e Enkelinnen des Kiever G r o ß f ü r s t e n Jaroslav des W e i s e n eintrafen, gerieten die G e s c h i c h t s s c h r e i b e r im W e s t e n ins S c h w ä r m e n o b der M e n g e und Qualität der G a b e n an Silber. Gold und kostbaren
127 Diese A r g u m e n t a t i o n stützt sich auf die G r o ß e L e g e n d e des hl. Stephan und den h u m a n i s t i s c h e n G e s c h i c h t s s c h r e i b e r A n t o n i o Bonfini. Zu den K i r c h e n a u s s t a t t u n g e n Giselas (liturgische P a r a m e n t e ) vgl. a u s f ü h r l i c h SZÄNTÖ. Leben (wie A n m . 90). 71 ff. 128 Renate BAUMGÄRTEL-FI.F.ISCHMANN. D e r S t e r n e n m a n t e l Kaiser Heinrichs II. und seine Inschriften. in: Walter KOCH (Hg.). Epigraphik 1988. F a c h t a g u n g für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik. G r a z . 10.-14. Mai 1988. R e f e r a t e und R o u n d - T a b l e - G e s p r ä c h e . V e r ö f f e n t l i c h u n g e n der K o m m i s s i o n für die H e r a u s g a b e der Inschriften des d e u t s c h e n Mittelalters 2. W i e n 1990. 1 0 5 - 1 2 5 : R e n a t e Β \ ι NK.AKII I FI.KISCΉΜΛΝΝ. Die Kaisermäntel im B a m b e r g e r D o m s c h u t z , in: Bericht des Historischen Vereins B a m b e r g 133 (1997). 8 3 - 9 2 . 129 Eva K o v Ä c s . Die Kasel von S t u h l w e i ß e n b u r g ( S z e k e s f e h e r v ä r ) und die B a m b e r g e r P a r a m e n t e . in: A l f r i e d WIECZOREK und H a n s - M a r t i n HINZ (Hg.). E u r o p a s Mitte u m 1000. Beiträge zur G e s c h i c h t e . Kunst und A r c h ä o l o g i e . Stuttgart 2 0 0 1 . Bd. 2. 6 4 0 - 6 5 1 : E v a K o v Ä c s . Der K r ö n u n g s m a n t e l : Das M e ß g e w a n d von K ö n i g Stephan und Königin Gisela, in: Eva K o v Ä c s und Z s u z s a LOVAG. Die u n g a r i s c h e n K r ö n u n g s i n s i g n i e n . 2. Aufl. Budapest 1988. 5 9 - 7 9 .
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Abb. 9
Gisela-Kreuz
Gewändern. Eupraxia-Adelheid brachte ihrem Bräutigam Heinrich von Stade sogar K a m e l e mit an die Elbe, so zumindest die Chronik des Klosters Harsefeld u m 1575. 1 , 0 A u c h Jaroslavs Tochter A n n a k a m nicht mit leeren Händen als Braut Heinrichs I. in Frankreich an. Suger von Saint-Denis schenkte sie einen kostbaren Hyazinthen, der in einen Reliquienschrein der Dornenkrone Christi eingearbeitet und im Schatz des Königsklosters verwahrt wurde. 1 3 1 Im Gepäck führte sie außerdem ein kostbares Evangeliar in kirchenslavischer Sprache, das wahrscheinlich in B ö h m e n hergestellt worden war. 132 Die Kapetinger hielten das liturgische Buch in hohen Ehren und ließen darauf Eide schwören. 1 3 3
130 Georgius ROTH (Hg.), Chronicon monasterii Rosenfeldensis seu Hassefeldensis, Bremen 1745 (ND 2002), 125: Haec venit in istam regionem cum magna pompa, pretiosas vestes et gemmas camelis portantibus, divitiasque infinitas. Vgl. BLOCH, Verwandtschaftliche Beziehungen (wie Anm. 1), 203. Vgl. oben S. 106. 131 PERNOUD, Leben (wie A n m . 49), 179.
132 Reims, Bibliotheque municipal, Ms. 255 (A 29). 133 PERNOUD, Leben (wie A n m . 49), 181.
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Einen regen Kulturtransfer von Ost nach West bewirkte die Ehe Salomes ( t 27 VII 1144). der Tochter des Grafen von Berg, mit Herzog Boleslaw III. von Polen (1102-1138). 1 3 4 Bis heute kann man Reste dieses Güterverkehrs im schwäbischen Kloster Zwiefalten bestaunen, dem Hauskloster der Grafen von B e r g . 1 " Der Transfer ist durch zwei Zeitgenossen, die Zwiefaltener M ö n c h e Berthold und Ortlieb, ausführlich dokumentiert. 1 3 6 Abt Berthold listet in der Chronik des Klosters die Geschenke Bolestaws und Salomes an den Zwiefaltener Konvent minutiös auf und vergisst auch nicht, ihren Wert in westlicher W ä h r u n g zu verrechnen. 1 , 7 Von Boleslaw erhielten die Zwiefaltener M ö n c h e demnach ein schwarzes Pluviale (cappa). auf d e m weiße Rinder eingewebt waren, goldene und silberne Geräte, kostbare Pelze (.maxime in midtipiicibus ei diversis pretiosi velleris rebus) und viele andere Dinge im Werte von 70 Mark. Salome schenkte d e m Kloster eine goldene Stola, zwei seidene Alben, einen silbernen Krug, einen elfenbeinernen Schrein, der mit Gold eingelegt war. ihren roten Mantel mit goldenem Saum (aurifrisio decoratum) zu einem Pluviale. einen anderen golddurchwirkten Mantel (mantellum auro intextum) zu einem M e s s g e w a n d . Ferner drei dorsalia (Rückenlaken f ü r Sitzbänke), eins mit einem seidenen Saum, ein zweites mit weißen Löwen und das dritte rot mit weißen Blättern. 1139, ein Jahr nach Bolestaws T o d . machte Salome d e m Doppelkloster Zwiefalten das kostbarste Geschenk: Sie übergab d e m Frauenkonvent ihre eigene Tochter Gertrud als Nonne. Die Entscheidung, o b auch ihre Tochter Agnes, das 13. Kind in der Geschwisterfolge. Gott geweiht werden solle, überließ sie ihren beiden Söhnen Boleslaw IV. und Mieszko III. und ihren Schwiegertöchtern. Der ..Familienrat" beschloss. dass die dreijährige Agnes (* 1137, t nach 1182) keine geistliche Karriere machen, sondern dem gleichaltrigen Prinzen Mstislav (II.) von Kiev anverlobt werden sollte. Mit dem Vollzug der Hochzeit im Jahr 1151 setzte Agnes die lange Tradition der politischen Ehen zwischen d e m polnischen Fürstenhaus und d e m Kiever Großfürstentum fort. 1 s Für die entgangene „Braut Christi" entschädigte Salome die Zwiefaltener M ö n c h e im Jahr 1140 großzügig. Sie übergab der schwäbischen Delegation, die sie in Polen besuchte. ..100 Pfund
134 Vgl. dazu E d i n a Β ο ζ ό κ γ . Le tresor de reliques de l ' a b b a y e de Z w i e f a l t e n . U n precieux temoig n a g e des e c h a n g e s culturels entre Orient et O c c i d e n t , in: Les e c h a n g e s culturels au M o y e n A g e . Χ Χ Χ Ι Γ C o n g r e s de la Societe des Historiens M e d i e v i s t e s de l ' E n s e i g n e m e n t Superieur Public. Universite du Littoral Cöte d ' O p a l e . juin 2001. Paris 2002. 1 1 7 - 1 3 3 . Zur Ehe z w i s c h e n S a l o m e und Boleslaw III. vgl. ENGELBERT. Piasten (wie A n m . 1). 17ff.. und oben S. 115. 135 Zur G r a b l e g e der G r a f e n von Berg vgl. Ortlibi De f u n d a t i o n e monasterii Zw ilvildensis. M G H SS X. 85. Z u r F a m i l i e vgl. I m m o EBERL. Die G r a f e n von Berg, ihr H e r r s c h a f t s b e r e i c h und dessen adlige Familien, in: U l m und O b e r s c h w a b e n , Zeitschrift für G e s c h i c h t e und Kunst 4 4 (1982). 2 9 - 1 7 1 . 136 1) Bertholdi Z w i f a l t e n s i s Liber de c o n s t r u c t i o n e monasterii Z w i v i l d e n s i s . in: Luitpold WAI.I.ACH (Hg.). Berthold of Z w i e f a l t e n ' s „ C h r o n i c l e " , reconstructed and edited with an introduction and notes, in: Traditio 13 (1957). 1 8 7 - 2 4 8 . hier c. 11: De Bolzelao duce eiusc/ue u.xore: 2) Ortlibi De f u n d a t i o n e m o n a s terii Z w i l v i l d e n s i s . M G H SS X. 91 f. Der Translationsbericht ist ein N a c h t r a g zur K l o s t e r f u n d a t i o in der H a n d s c h r i f t Stuttgart. W ü r t t e m b e r g i s c h e L a n d e s b i b l i o t h e k . C o d . hist. 4° 156. fol. 51 sq. 137 WALLACH (Hg.). Bertholdi Z w i f a l t e n s i s Liber de c o n s t r u c t i o n e (wie A n m . 135). 200. c. 11. 138 Mstislav II. ( t 13 VIII 1172) w a r ein S o h n Isiaslavs II. von Kiev. Vgl. BAUMGARTEN. G e n e a l o g i e s (wie A n m . I). T a f . V. Nr. 36. A g n e s ' Vater Boleslaw III. w a r in erster E h e mit Z b y s l a v a . einer T o c h t e r des Kiever G r o ß f ü r s t e n Sviatopolk II. M i c h a e l verheiratet g e w e s e n (vgl. BAUMGARTEN. G e n e a l o g i e s (wie A n m . 1). Taf. II. Nr. 13). Ihr älterer B r u d e r B o l e s l a w (IV.) hatte u m 1136 V i e r c h o s l a v a geheiratet, die T o c h t e r V s e v o l o d s . d e s Fürsten von N o v g o r o d und B r u d e r Isiaslavs IL. vgl. BAUMGARTEN. G e n e a l o g i e s (wie A n m . 1), T a f . V, Nr. 35.
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Silber, eine Kasel mit goldenem Saum, ein goldenes Kreuz im Gewicht von mehr als vier Mark Gold, eine goldverzierte Stola mit leinenem Altartuch (cum fanone), ein Zingulum, eine ganz mit Gold durchwirkte Dalmatik im Werte von 50 und mehr Mark, ein feingewebtes (subtiles) Gewand des Subdiakons mit Gold verziert, ein kleines Kommuniontuch (mappulam vel fanonem) mit Gold durchwebt, die beide einen Wert von 20 Mark haben können. Eine aus Seide gewebte Rückendecke {dorsale), einen elfenbeinernen Schrein, einen sehr schönen Kristall, drei Pferde, zwei Unzen Gold, zwei Felle, eines grau [Zobel?], das andere ein Hermelin (unam canam, alteram migalinam). Ferner eine Bischofsmitra mit Handschuhen im Wert von vier Mark, drei Pallien und andere kleine Geschenke. Dies alles kam trotz der weiten Entfernung und der Gefahren von Räubern wohlbehalten bei uns an. Einige Stücke zum Beispiel ein großes mit Gold geschriebenes Psalterium, eine Rückendecke und ein Teppich, den wegen ihrer Größe kaum zwei Pferde hätten tragen können, blieben zurück." 139 Unter den Geschenken Salomes stehen die Textilien an erster Stelle. Es war üblich, weltliche repräsentative Frauenkleidung, Herrscherinnen- und Brautmäntel, in sakrale Paramente umzugestalten. Der Zuschnitt dieser Mäntel war aufgrund der Webtechniken geschlechtsneutral, so dass Kleriker die Überwürfe der Frauen ohne gravierende Umarbeitungen tragen konnten. Der hohe materielle Wert der Seidenstoffe, die symbolisch aufgeladenen Muster der Textilien, erzeugt durch komplexe Webtechniken, waren in weltlicher wie im geistlicher Umgebung das Privileg der Eliten. Der Osten wie der Westen bezog diese Stoffe aus dem Orient, aus Persien, Syrien oder Ägypten. Unter den Geschenken Boleslaws befanden sich neben den hochwertigen orientalischen Textilien aber auch polnische Eigenprodukte: Rauchwaren und hochwertige Silberschmiedearbeiten. Salome ihrerseits überließ den Zwiefaltener Mönchen eine Reihe von Reliquien. Die wertvollste, die rechte Hand des Erzmärtyrers Stephanus, stammte aus dem Nachlass Boleslaws. 140 Im Nachtrag zur Gründungsgeschichte des Klosters Zwiefalten erzählt der Mönch Ortlieb in aller Breite die Migration dieser hochrangigen Reliquie.141 Sie gehörte dem byzantinischen Kaiserhaus und war Prinzessin Barbara Komnena, der Tochter oder Nichte des Alexis Komnenos (1081-1118), als Aussteuer mitgegeben worden, als diese Svjatopolk II. von Kiev heiratet.142 Svjatopolk II. Michael (* 1050, Regierung 1093-1113), der Enkel Jaroslavs des 139 WALLACH (Hg.), Bertholdi Zwifaltensis Liber de constructione (wie Anm. 135), 200, c.l 1. 140 WALLACH (Hg.), Bertholdi Zwifaltensis Liber de constructione (wie Anm. 135), 200: Denique ista praefata Salome Boloniae ductrix „... transmisit dona: manum s. Stephani prothomartiris cum cute, carnibus et unguibus, absque pollice et alias reliquias sanctorum nonaginta ... Den fehlenden Daumen hatte vielleicht Robert II., Herzog der Normandie, 1035 in Jerusalem an sich genommen. Vgl. dazu BOZOKY, Tresor (wie Anm. 133), 125, Anm. 40. Zu weiteren Arm- und Handreliquien des Erzmärtyrers Stephan im Abendland ebd., 120, Anm. 18. 141 Ortlibi De fundatione monasterii Zwilvildensis, MGH SS X, 91 f. Der Translationsbericht ist ein Nachtrag zur Klosterfundatio in der Handschrift Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. hist. 4° 156, fol. 51 sq. 142 Svjatopolk war Ende des 11. Jahrhunderts (?) oder 1103 (?) mit der griechischen Prinzessin seine dritte Ehe eingegangen. Ihr Vater (?) Alexis Komnenos versah sie mit einer reichen Aussteuer an Schmuck, silbernen und goldenen Gefäßen und eben jener Reliquie. Zu Reliquien als Aussteuergaben vgl. Edina BOZOKY, Le role des reines et princesses dans les translations de reliques, in: Reines et princesses au Moyen Age. Actes du cinquieme colloque international de Montpellier. Universite Paul-Valery (24-27 novembre 1999), Publications de Γ universite Paul-Valery, Montpellier III: Les Cahiers du C.R.I.S.I.M.A. 5, Montpellier 2001, 349-360.
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W e i s e n , w a r d u r c h s e i n e M u t t e r G e r t r u d , d e r T o c h t e r d e s p o l n i s c h e n F ü r s t e n M i e s z k o II., mit B o l e s l a w III. b l u t s v e r w a n d t u n d u n t e r s t ü t z t e ihn politisch u n d m i l i t ä r i s c h bei d e r D u r c h s e t z u n g seiner Herrschaft.14' Das politische und verwandtschaftliche Bündnis wurde durch mehrere E h e n g e s t ä r k t . S v j a t o p o l k g a b B o l e s l a w III. ( 1 1 0 2 - 1 1 3 8 ) seine T o c h t e r Z b y s l a v a ( t 1109) in d i e E h e (es w a r B o l e s l a w s e r s t e E h e ) . S e i n e T o c h t e r M a r i a . Z b y s l a v a s H a l b s c h w e s t e r , vers p r a c h er u m 1118 e i n e m p o l n i s c h e n Prinzen. 1 4 4 Z u r A u s s t e u e r M a r i a s g e h ö r t e u.a. d e r A r m d e s hl. S t e p h a n u s . D o c h d e r H e i r a t s p l a n k o n n t e nicht v e r w i r k l i c h t w e r d e n , weil P a t r i c i u s alias P e t e r W l o s t , d e r B r a u t w e r b e r u n d G e s a n d t e B o l e s l a w s . ein s c h l e s i s c h e r A r i s t o k r a t , d i e Braut m i t s a m t ihrer r e i c h e n A u s s t e u e r nicht bei s e i n e m H e r r n a b l i e f e r t e , s o n d e r n f ü r sich b e h i e l t . W e g e n F e l o n i e w u r d e d e r V a s a l l zu e i n e r h o h e n B u ß e verurteilt. E r m u s s t e d e r K i r c h e alle R e i c h t ü m e r als A l m o s e n ü b e r l a s s e n , d i e er sich u n r e c h t m ä ß i g a n g e e i g n e t hatte. U m die A u f l a g e d e r B i s c h ö f e u n d d e s P a p s t e s e r f ü l l e n zu k ö n n e n - e r sollte 7 0 K i r c h e n a u f seinen E i g e n g ü t e r n e r r i c h t e n - verfiel P e t e r W l o s t auf die Idee, B o l e s l a w III. d i e S t e p h a n s r e l i q u i e im T a u s c h g e g e n d i e D o m ä n e R o t s k i n a n z u b i e t e n , die 5 . 0 0 0 H u f e n u m f a s s t e . B o l e s l a w n a h m d a s A n g e b o t a n . d i e reich a u s g e s t a t t e t e D o m ä n e g i n g in d e n B e s i t z d e s K l o s t e r s B r e t i s l a w ü b e r . N a c h d e m T o d B o l e s l a w s III. s c h e n k t e - w i e g e s a g t - seine z w e i t e , ihn ü b e r l e b e n d e G e m a h l i n S a l o m e d i e w e r t v o l l e S t e p h a n s r e l i q u i e d e m K l o s t e r Z w i e f a l t e n , d e s s e n K i r c h e die G r a b l e g e ihrer A h n e n b e h e r b e r g t e . N e b e n d e r H a n d d e s hl. S t e p h a n 1 4 5 e r h i e l t e n die Z w i e f a l t e n e r M ö n c h e v o n S a l o m e w e i t e r e 9 0 Reliquien 1 4 ' 1 , d a r u n t e r ein S t ü c k v o m hl. K r e u z , j e e i n e n Z a h n d e s hl. J o h a n n e s d e s T ä u f e r s , d e s hl. P a n c r a t i u s . d e r hl. C a e c i l i a . e i n e n T r o p f e n d e s hl. B l u t e s u n d d e r M i l c h M a r i a e s o w i e e i n G l i e d d e r K e t t e d e s hl. Petrus. 1 4 " D i e Z w i e f a l t e n e r M ö n c h e m u s s t e n später viele d e r k o s t b a r e n G e s c h e n k e , d i e sie von S a l o m e u n d d e r e n b e i d e n S c h w e s t e r n R i c h i n z a ( v e r h e i r a t e t mit d e m H e r z o g von B ö h m e n ) u n d S o p h i a ( v e r h e i r a t e t mit d e m H e r z o g v o n M o r a v i e n ) e m p f a n g e n hatten 1 4 *, a u s N o t ver-
1 4 3 Zur Genealogie der Rjurikiden vgl. B A U M G A R T E N , Genealogies (wie Anm. 1 ) . Taf. I I . Nr. 1 3 . Svjatoslav war ein Enkel. Boleslaw III. ein Urenkel Mieszkos II. Faktisch kam Boleslaw III. erst 1 107 an die Macht, nachdem er seinen Halbbruder Zbigniew vertrieben hatte. 144 Zu dieser Geschichte vgl. Β ο ζ ό κ ν . Tresor (wie Anm. 133). 122 f. 145 Die Hand des hl. Stephan wurde 1156 bei der Weihe der östlichen Kirche durch Bischof Hermann von Konstanz zusammen mit 27 anderen Reliquien in den Altar eingelassen. Vgl. Georg W A I T Z (Hg.i. Notae Zwifaltenses. MGH SS XXIV. 829. und Β ο ζ ό κ ν . Tresor (wie Anm. 133). 128. 146 W A L L A C H (Hg.). Bertholdi Zwifaltensis Liber de constructione (wie Anm. 135). 200: Denique isla praefata Salome Boloniae duetrix ... transmisit dona: maiunn s. Stephaniprothomaniris cum cute, carnibus et unguibus. absque potlice et alias reliquias sanctorum nonaginla ... 147 Zur Identifizierung der übrigen Reliquien vgl. Β ο ζ ό κ ν . Tresor (wie Anm. 133). 127. und Herrad S P I L L I N G . Sanctarum reliquiarum pignera gloriosa. Quellen zur Geschichte des Reliquienschatzes der Benediktinerabtei Zwiefalten. Bad Buchau 1992. Darin S. 63-105 das Reliquieninventar aus dem Ende des 15. Jahrhunderts nach der Handschrift Stuttgart. Württembergische Landesbibliothek. Cod. theol. et phil. 8° 70. 148 W A L L A C H (Hg.). Bertholdi Zwifaltensis Liber de constructione (wie Anm. 135). 201: Ista res Deo dilectae sorores ad oniaiuim istum locum oncenerunt in nimm (vgl. Is 60.13 und Ps 2.2). Der drei Schwestern gedachten die Zwiefaltener Mönche wegen ihrer großzügigen Gaben am 31. Mai jedes Jahres, anlässlich des Todestages der Sophia: Sophia er. et duetrix Moravie. soror Salome dueisse: ista ei sorores eins multa bona feeerunt nobis. Franciscus Ludovicus B A U M A N N (Hg.). Necrologium Zwifaltense. MGH Necrologia Germanica 1. Berlin 1888. 253. Zu weiteren Gönnern des Klosters aus dem slavischen Raum vgl. Β ο ζ ό κ γ . Tresor (wie Anm. 133). 127 f.
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Hedwig Röckelein
kaufen. 149 Das wertvollste Geschenk, die Stephansreliquie, behielten sie. Sie gehört bis heute zum unveräußerlichen Schatz der Klosterkirche.
4. Zusammenfassung Im 10. Jahrhundert entstand ein Netz internationaler Beziehungen unter den Monarchen, Fürsten und Aristokraten des Westens und des Ostens auf der Basis gegenseitiger Heiratsverbindungen, das langfristig einen friedlichen und generationenübergreifenden Austausch herbeiführte. In diesem Netzwerk, an dem Partner gleichen und verschiedenen sozialen Ranges und Ansehens beteiligt waren, zirkulierten Güter und Menschen bi- und multilateral. Eheschließungen und kultureller Gütertausch (materielle Güter und technische Kenntnisse) stabilisierten politische Verträge und garantierten deren lange Dauer. In der älteren Forschung wurde der kulturelle Austausch als ein Gefälle von West nach Ost gedeutet. Heute sieht man auf der Ebene der kulturellen Güter und Techniken hingegen eher eine Gleichwertigkeit der beteiligten Parteien. Vergleicht man den quantitativen und qualitativen Wert der Güter, so stellt sich der Austausch als ein reziprokes Geben und Nehmen auf hohem Niveau dar. Den politischen Heiratsinteressen waren kulturelle und rechtliche Grenzen gesetzt durch profane und kirchliche Inzestregeln. Das biologisch determinierte Heiratspotential konnte allerdings durch Mehrfachheirat erhöht werden. In der Regel heirateten die Fürsten nach Ablauf der rituellen Trauerzeit von einem Jahr erneut. Das friedensstiftende Potential einer interethnischen Ehe wirkte, solange beide Partner lebten. Starb der Ehemann vor seiner Frau, so kehrte sie häufig in ihre Heimat zurück. Der Versuch, das consortium regni der Herrscherin nach fränkischem Vorbild auf die Regierung für den unmündigen Sohn und Thronprätendenten auszudehnen, gelang den Witwen aus dem Westen nur selten im fremden Land. Wie es scheint, besaßen die Gemahlinnen der böhmischen und polnischen Herrscher weiter reichende Herrschaftsrechte als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen. 150 Erst im Gefolge der Tartareneinfälle von 1238-1240 wurden die Herrschafts- und Erbrechte der polnischen und russischen Fürstinnen eingeschränkt. 151 Die Witwe im Rang der Regierung für den unmündigen Thronprätendenten besaß im Westen gewisse politische Handlungsspielräume. Westlichen Prinzessinnen, die einen slavischen oder ungarischen Fürsten oder König heirateten, fiel es jedoch schwer, stellvertretend die Regierung für den unmündigen Sohn zu führen. Die doppelte strukturelle Benachteiligung der Herrscherin, ihr Status als Fremde und als Munthörige, erlaubte dies in der Regel nicht. Wie am Beispiel der Ezzonin Richeza zu sehen ist, konnte die Unterstützung des unmündigen Thronfolgers aber von der Heimat aus gelingen, sofern Blutsund Schwägerverwandte sowie mächtige Geistliche sich dafür einsetzten. Die Klöster waren nicht nur ein Schutzort, in den sich die Witwen in Ermangelung überlebender männlicher Muntwalter zurückzogen, sondern auch die Orte, an denen die Erinnerung an die politische und kulturelle Bedeutung der internationalen Ehebeziehung bewahrt wurde. Die Bräute aus
149 WALLACH (Hg.), Bertholdi Zwifaltensis Liber de constructione (wie Anm. 135), 201: Ex his maxima pars pro victu et vestitu fratrum consumpta, pro restauratione antiquorum, pro constructione novorum aedificiorum aliisque diversis necessitatibus venundata ... 150 MALECZYNSKI (Hg.), Gallus Anonymus, Cronica (wie Anm. 8), 32-34, c. 13, hier der Emnild, der dritten Gemahlin Boleslaw Chrobrys. 151
V g l . GIEYSZTOR, L a f e m m e ( w i e A n m . 2), 197.
Heiraten - ein Instrument hochmittelalterlicher Politik
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d e m W e s t e n trugen durch die Implantation religiöser Institutionen zur Verbreitung d e r lateinischen Schriftlichkeit und Liturgie im Osten bei. Dieser Kulturtransfer ist freilich nicht allein ihr Verdienst: Daran waren Kleriker. M ö n c h e und D i p l o m a t e n g e n a u s o beteiligt wie die fürstlichen Frauen. In den W e s t e n brachten sie m o b i l e Schätze. G o l d - und Silberwaren, S c h m u c k und Geld, wertvolle S t o f f e , T e p p i c h e und Pelze. U n d sie machten den W e s t e n mit den hochrangigen T e c h n o l o g i e n o s t e u r o p ä i s c h e r M e t a l l h a n d w e r k e r bekannt.
Vom Europa der Humanisten zum Osteuropa der Imperien Michael G. Müller
Das 10. Jahrhundert und die „Ostpolitik" der Ottonen, speziell auch der „Quedlinburger Hoftag", waren und sind für Historiker aus guten Gründen Anlass, über die Anfänge europäischer Integration und gemeinsamer europäischer Identitätsbildung nachzudenken. Bei einer Betrachtung dessen, was die Frühe Neuzeit an Wandlungsprozessen in der Region gebracht hat. sind indessen vor allem gegenläufige Entwicklungen in den Blick zu nehmen: die neuerliche Segmentierung Europas nach dem Spätmittelalter, und zwar auf wirtschaftlicher. sozialer und politischer Ebene, aber auch auf der Ebene der Kommunikation sowie der Identitätsentwürfe. In der Frühen Neuzeit hat sich die Teilung zwischen West- und Osteuropa angebahnt, die unsere Wahrnehmung von europäischer Geschichte bis an das Ende des 20. Jahrhunderts bestimmen sollte. Ein regionalgeschichtliches Beispiel mag verdeutlichen, welche Transformationsprozesse hier angesprochen sind. Es ist das Beispiel der Entwicklung des Königlichen Preußen und seiner großen Städte Danzig und Thorn. Sie waren erst nach (und als Folge) der mittelalterlichen ..Osterweiterung" Europas entstanden, hatten aufgrund ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Ausstrahlung einen beträchtlichen Anteil an der ..Europäisierung Osteuropas" seit dem hochmittelalterlichen Landesausbau und stiegen Schritt für Schritt zu europäischen Metropolen auf. Jedenfalls waren sie europäische Metropolen am Ende des 16. Jahrhunderts - a l s Mittelpunkte europaweiter Handelsnetze, als Zentralorte im konfessionellen Netzwerk reformierter Theologie und Bildung in Europa, nicht zuletzt als Plätze der Interaktion zwischen patrizischen und adligen Eliten in Mitteleuropa. 1 Die städtischen Herrenschichten bestanden zu dieser Zeit ausschließlich aus sogenannten academici mit zum Teil beeindruckenden humanistischen Bildungskarrieren. Patrizier wie der spätere Erste Bürgermeister von Thorn Heinrich Stroband : studierten in Krakau. Basel. Bologna. Genf und Leiden. Sie sprachen neben Deutsch und Polnisch natürlich Latein, Französisch und Italienisch, unternahmen Kavalierstouren und sammelten politische Erfahrungen als diplomatische Abgesandte ihrer Städte oder auch Sekretäre polnischer Senatoren oder deutscher Reichsfürsten. Ihre Heiratskreise reichten geographisch von Livland, dem Großfürstentum Litauen und der Krone Polen über Norditalien und die Schweiz bis in die Niederlande und nach Schottland, sozial von den
1 Vgl. Michael G. MÜLLER. Z w e i t e R e f o r m a t i o n und städtische A u t o n o m i e im Königlichen P r e u ß e n . Danzig. Elbing und T h o r n in der E p o c h e der K o n f e s s i o n a l i s i e r u n g . Berlin 1997. 2 Siehe M a r i a n BISKUP (Hg.), Historia Torunia [ G e s c h i c h t e T h o m s ] . Bd. 2.2. bes. Kap. 5 (verf. von Stanislaw S a l m o n o w i c z ) . 169 ff.
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Michael G. Müller
Patriziaten der großen unter den alten Hansestädten sowie der führenden polnischen Städte bis zu den senatsfähigen adligen Familien in der Republik. Der „Wir-Entwurf" dieser patrizischen Herrenschichten war sozial ein aristokratischer, klar abgegrenzt gegen die jeweiligen Bürgerschaften der eigenen Stadt. Territorial bezog er sich auf die verschiedenen Handlungsund Erfahrungsräume der städtischen Eliten, wobei die Loyalitäten zu einzelnen territorialen Einheiten hierarchisch klar abgestuft waren: Die eigene Stadt wurde als das „Vaterland" wahrgenommen, der polnisch-litauische Unionsstaat als das politische Bezugsfeld und Handlungshorizont, die reformierten Kirchen Europas als die Welt der eigenen „Religionsverwandten", schließlich das Europa des Welthandels und das Europa der Humanisten als „unser" Aktionsund Orientierungsraum. 3 Einhundert Jahre später, am Ausgang des 17. Jahrhunderts, stellte sich das Koordinatensystem städtischen Denkens und Handelns im Königlichen Preußen bereits erheblich anders dar. Der wirtschaftliche wie der politische Handlungsspielraum der Städte hatte sich deutlich verkleinert; die städtischen Eliten verstanden und gaben sich bescheidener. So waren die alten patrizischen „Dynastien" zwar sozial sehr wohl „oben geblieben" und hatten ihre innerstädtische Machtstellung ungeachtet wirtschaftlicher Rückschläge auch gegen äußere Eingriffe wie gegen die innerstädtische Bürgeropposition verteidigt, aber die Nachkommen des „großen" Thorner Stroband glaubten und versuchten längst nicht mehr, europäische Akteure zu sein. Man studierte jetzt in Königsberg, Frankfurt oder Greifswald - weil deren Universitäten nicht nur geographisch nahe lagen, sondern, nach dem Wechsel der Städte zum Luthertum, auch konfessionell unverdächtige Orte waren. Mit der Abkehr der Preußen vom Reformiertentum und mit dem Fortschreiten der Gegenreformation in Polen-Litauen waren aber auch Beziehungen auf vielen anderen Ebenen gekappt worden - denn die akademischen Gymnasien sanken jetzt zu reinen Landesschulen ab, die Städte fungierten jetzt nicht länger als Arbeitgeber und religiöser Zufluchtsort für verfolgte protestantische Humanisten, und die familialen Netzwerke zwischen preußischen Patriziern und reformierten polnisch-litauischen Adelsfamilien waren zerrissen. Politisches Handeln schließlich reduzierte sich für die städtischen Räte auf das schwierige Geschäft, die ständigen Bedrohungen des Landesfriedens seitens der unmittelbaren Nachbarn (Schweden, Brandenburg, die Krone Polen) abzuwehren und die Restbestände städtischer Autonomie zu verteidigen - was im Verlauf der Epoche der Nordischen Kriege mit dem begrenzten Instrumentarium städtischer Politik immer weniger gelang. 4 Dies führte einerseits zu einer weiteren Aufwertung der lokalen Identität (der Loyalität zum städtischen „Vaterland") wie auch zu einer Art Renaissance des „preußischen" Landesbewusstseins, 5 gleichzeitig aber dazu, dass sich aus Danziger und Thorner Sicht die „Welt" als Handlungs- und Wahrnehmungsraum dramatisch verkleinerte, provinzialisierte.
3 Michael G. MÜLLER, Städtische Gesellschaft und territoriale Identität im Königlichen Preußen um 1600. Zur Frage der Entstehung deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa, in: Nordost-Archiv N.F. 6 (1997), H. 2 [ersch. 1999], 565-584. 4 Siehe Edmund CIE LAK (Hg.), Historia Gdahska [Geschichte Danzigs], Bd. 3,1, Danzig 1993. 5 Karin FRIEDRICH, The Other Prussia: Royal Prussia, Poland and Liberty, 1569-1772, Cambridge 2000; Milos REZNI'K, Pomori mezi Polskem a Prusem. Patriotismus a identity Ν Krälovskych Prusech Ν dobe deleni Polska [Pommerellen zwischen Polen und Preußen. Patriotismus und Identität im Königlichen Preußen in der Epoche der Teilungen Polens], Prag 2001.
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N o c h einmal einhundert Jahre später, um 1800. war praktisch alles anders g e w o r d e n . N a c h d e m die T e i l u n g e n Polens D a n z i g und T h o r n der H e r r s c h a f t s g e w a l t der H o h e n z o l l e r n M o n a r c h i e u n t e r w o r f e n hatten, waren mit den alten Stadtprivilegien auch die wirtschaftliche A u t o n o m i e der Städte und die alten H e r r e n s c h i c h t e n v e r s c h w u n d e n . Jedenfalls galt dies in d e m Sinne, dass die alten Patriziate jetzt auch innerstädtisch nicht nur das politische Gestalt u n g s m o n o p o l . sondern auch die Definitionsmacht in B e z u g auf städtische Identität verloren hatten. Die wirtschaftlichen und administrativen Leitlinien setzte k ü n f t i g die provinziale Kriegs- und D o m ä n e n k a m m e r , und die wirtschaftliche Initiative ging auf ein in provinzialem R a h m e n h a n d e l n d e s G e w e r b e b ü r g e r t u m über. Städtische Ö f f e n t l i c h k e i t wurde z u n e h m e n d b e s t i m m t durch ein Milieu von „ N e u p r e u ß e n " , in d e m das aus anderen Ländern zuwandernde Personal der G a r n i s o n e n u n d der P r o v i n z i a l v e r w a l t u n g dominierte. So k a m es in D a n z i g b e z e i c h n e n d e r W e i s e schon kurz vor 1800 zu einem stadtöffentlichen Disput ü b e r Fragen von Stadterweiterung und D e n k m a l p f l e g e , in d e m die . . A u t o c h t h o n e n " angesichts rigider M a ß n a h m e n d e r baulichen S t a d t e r n e u e r u n g den ..Tod" des alten D a n z i g proklamierten. ( > Es ging bei d e m Konflikt d a r u m , dass die neuen Herren der Stadt die S e m a n t i k der tradierten Identitätskultur nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, dass die Repräsentanten der alten M e t r o p o l e n k u l t u r D a n z i g s a u s g e s t o r b e n waren b e z i e h u n g s w e i s e sich zur A b w a n d e r u n g genötigt gesehen hatten, dass schlicht die veränderte wirtschaftlich-kulturelle und politische R o l l e n z u w e i s u n g an D a n z i g im R a h m e n der p r e u ß i s c h e n Provinz W e s t p r e u ß e n der traditionellen Selbstpositionierung d e r städtischen Eliten eklatant widersprach. Freilich k ö n n t e man sagen, dass es sich hier um eine klassische E r z ä h l u n g über den N i e d e r g a n g alter Stadtstaaten im Zeichen des A u f s t i e g s der f r ü h m o d e r n e n Flächenstaaten handelt, vergleichbar mit der G e s c h i c h t e des N i e d e r g a n g s von V e n e d i g oder G e n u a . Riga o d e r auch N o v g o r o d . Der Z u s a m m e n h a n g mit der S e g m e n t i e r u n g E u r o p a s in der F r ü h m o derne bedarf also der B e g r ü n d u n g . Z u n ä c h s t gilt, dass D a n z i g und Thorn niemals Stadtstaaten waren, deren politische Akteursrolle mit denen von G e n u a oder V e n e d i g verglichen werden kann. V i e l m e h r haben die preußischen Städte i m m e r , und z w a r gerade auch in der Phase ihrer E n t w i c k l u n g zu europäischen M e t r o p o l e n , ihren Status mit eindeutig überlegenen und explizit als vorgeordnet a n e r k a n n t e n Territorialmächten a u s g e h a n d e l t : ihr A u t o n o m i e p r o b l e m bestand also nicht in der Existenz k o n k u r r i e r e n d e r und politisch-militärisch überlegener O r d n u n g s m ä c h t e an sich. Ferner: D a s S y n d r o m von k r i s e n h a f t e n E n t w i c k l u n g e n , mit denen D a n z i g und T h o r n z w i s c h e n d e m f r ü h e n 17. und späten 18. Jahrhundert konfrontiert waren, w a r spezifisch f ü r O s t e u r o p a und betraf dieses als G a n z e s : D a n z i g und Thorn e r f u h r e n im 17. und 18. Jahrhundert vor allem deshalb einen N i e d e r g a n g , weil sie von denselben Kontraktions- und Segreg a t i o n s p r o z e s s e n b e t r o f f e n waren wie der Rest der G r o ß r e g i o n . O d e r anders gesagt: E u r o p a w a r schon in West und Ost geteilt - ö k o n o m i s c h , politisch und. w e n n man so will, zivilisatorisch - lange b e v o r O s t e u r o p a in den Diskursen der A u f k l ä r u n g , wie sie zuletzt Larry W o o l f rekonstruiert hat." im 18. Jahrhundert eigentlich . . e r f u n d e n " wurde. D a h i n t e r standen Prozesse der wirtschaftlichen Kontraktion in O s t e u r o p a , z u d e m Prozesse divergenter sozialer E n t w i c k lungen und gegenseitiger kultureller A u s g r e n z u n g , schließlich die Entstehung politischer
6 P e t e r O l i v e r LOEW. U n t e r s u c h u n g e n z u r G e s c h i c h t e d e r l o k a l e n G e s c h i c h t s k u l t u r in D a n z i g z w i s c h e n 1793 u n d 1997. D i s s . phil. F U B e r l i n 2 0 0 0 . 7 L a r r y WOLFF. I n v e n t i n g E a s t e r n E u r o p e . T h e m a p of c i v i l i z a t i o n on t h e m i n d of t h e E n l i g h t e n m e n t . S t a n f o r d / C a l . 1994.
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Systemgrenzen, die über gleich mehrere Epochen erstaunlich stabil blieben. Gleichgültig jedenfalls, wann die Weggabelung zwischen westlichen und östlichen Entwicklungswegen in Europa im 15., 16. oder 17. Jahrhundert erreicht wurde - am Ende der Frühneuzeit stand eine Teilung Europas, die zeitgenössisch, und bis heute, von allen Mittel- und Osteuropäern als eine fundamentale Teilung wahrgenommen wurde und wird. Die „begnadeten Regionen Europas", von denen der ungarische Historiker Jenö Szücs in seinem klassischen Essay von 1983 über „Die drei historischen Regionen Europas" gesprochen hat8, lagen in der Moderne westlich von Elbe, Saale und Böhmerwald. Die Regionen östlich davon sollten dagegen nur eine depravierte und deformierte, in jedem Fall aber verspätete Geschichte der Modernisierung erfahren. Die Konsequenz daraus war angeblich, wie uns auch transition-Experten heute zu erklären versuchen, dass die bürgerliche Revolution von 1789 noch immer die Zukunft des europäischen Ostens sei. Das Problem von Danzig und Thorn bestand also darin - um auf unsere Beispielregion zurückzukommen - dass diese europäischen Metropolen der Frühneuzeit spätestens im 18. Jahrhundert irreversibel in Osteuropa als dem rückständigen Teil des Kontinents angekommen waren. Die an der Osteuropäischen Geschichte Interessierten beschäftigt in diesem Kontext vor allem die folgende Frage: Inwieweit wirkt der bias in Bezug auf die Osteuropäische Geschichte als einer per Definition „rückständigen" Geschichte in unseren eigenen Forschungsansätzen und Deutungsmustern fort? Ferner: Welche Fragen müssten wir eigentlich stellen, um die Osteuropäische Gesellschafts-, Politik- und Kulturgeschichte als eine Geschichte „zu eigenem Recht" betrachten zu können? 9 Einerseits kommt es wohl darauf an, sich um eine möglichst präzise Analyse der trennenden Faktoren in der Frühneuzeit bemühen - und zwar um zu verstehen, welche realen Erfahrungen und welche RealitätsWahrnehmungen hinter der invention of Eastern Europe in der Aufklärung tatsächlich standen. Andererseits bedarf es sicher einer rationalen Verständigung darüber, nach welchen Parametern die seit der Frühneuzeit auseinandergehenden europäischen Wege in die Moderne eigentlich verglichen werden können. Die in West und Ost verschiedenen Verläufe von nationalen Modernisierungsgeschichten in Europa an einem (westlichen) Idealtypus von bürgerlicher Transformation zu messen, erscheint wenig produktiv, da vor diesem Hintergrund die Entwicklung des „bürgertumsarmen" Ostens allemal nur als Defizitgeschichte erzählt werden kann. Lohnender ist es wohl zu erkunden, wie die universellen Herausforderungen der Frühmoderne auf je besonderen Wegen bewältigt wurden und wie effizient die jeweiligen Lösungsversuche, ob auf der Basis bürgerlicher oder anderer Gesellschaftsentwürfe, waren. Denn schließlich haben die europäischen Gesellschaften der Moderne sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage formuliert, was die Zukunft von Klassen, von Nationen, von Europa sein sollte. Nach welchen Kriterien aber sollten die konkurrierenden sozialen, territorialen, ethnischen Entwürfe, auch die jeweiligen Projekte von Europa, die in diesem Zusammenhang formuliert wurden, gegeneinander abgewogen werden? Waren die Gesellschaftsentwürfe und die politisch-sozialen Lösungsversuche in Osteuropa angesichts der Herausforderungen der Frühneuzeit wirklich von vornherein „weniger wert" als die im europäischen Westen formulierten?
8 Deutsch: Jenö S z ü c s , Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main 1990. 9 Michael G. MÜLLER, Die Historisierung des bürgerlichen Projekts - Europa. Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), 163-170.
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S e h r k n a p p sollen b e i d e A s p e k t e im F o l g e n d e n k o m m e n t i e r t w e r d e n . Z u m ersten die F r a g e : W a s hat W e s t - u n d O s t e u r o p a im S i n n e r e a l g e s c h i c h t l i c h e r E r f a h r u n g e n n a c h d e m S p ä t m i t t e l a l t e r auf u n t e r s c h i e d l i c h e E n t w i c k l u n g s w e g e g e f ü h r t ? Es w a r e n dies S t r u k t u r v e r ä n d e r u n g e n u n d E r e i g n i s s e auf sehr v e r s c h i e d e n e n E b e n e n . Z u n e n n e n w ä r e z u n ä c h s t die s i m p l e T a t s a c h e , d a s s die E r r i c h t u n g t a t a r i s c h e r H e r r s c h a f t in d e n L ä n d e r n d e r K i e v e r R u s ' i m 13. J a h r h u n d e r t d a f ü r v e r a n t w o r t l i c h w a r , d a s s d e r P r o z e s s d e s h o c h - u n d s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h e n L a n d e s a u b a u s an e b e n d i e s e r H e r r s c h a f t s g r e n z e im O s t e n vorerst e n d e n sollte. 1 0 F e r n e r spielte d e r s e h r viel k o m p l e x e r e W i r k u n g s m e c h a n i s m u s eine R o l l e , der mit der A u s p r ä g u n g einer h a n d e l s ö k o n o m i s c h e n A r b e i t s t e i l u n g z w i s c h e n e u r o p ä i s c h e m W e s t e n u n d O s t e n seit d e m 16. J a h r h u n d e r t
v e r b u n d e n w a r : E i n e d r a m a t i s c h s t e i g e n d e N a c h f r a g e im
europäischen
N o r d w e s t e n v e r s c h a f f t e O s t m i t t e l u r o p a l a n g f r i s t i g C h a n c e n , seine A g r a r ü b e r s c h ü s s e
und
die E r z e u g n i s s e d e r W a l d p r o d u k t i o n profitabel auf e i n e m e u r o p ä i s c h e n M a r k t a b z u s e t z e n , sich also in eine S c h l ü s s e l p o s i t i o n im h a n d e l k a p t i t a l i s t i s c h e n „ W e l t s y s t e m " des f r ü h n e u zeitlichen E u r o p a zu e r o b e r n . In d e r R e t r o s p e k t i v e g e s e h e n m u s s t e d e r O s t e n d a f ü r j e d o c h e i n e n h o h e n Preis e n t r i c h t e n . In d e m M a ß e n ä m l i c h , w i e O s t e u r o p a seine a g r a r i s c h e n und w a l d w i r t s c h a f t l i c h e n L e i s t u n g s p o t e n t i a l e a u s b a u t e (auf der G r u n d l a g e der n e u e n , der sog. „ z w e i t e n " L e i b e i g e n s c h a f t ) , w u c h s a u c h die K l u f t z w i s c h e n p r o t o - i n d u s t r i e l l e n M i l i e u s im W e s t e n u n d n e o - f e u d a l e n S t r u k t u r e n im O s t e n . D i e o s t e l b i s c h - p r e u ß i s c h e . die p o l n i s c h e , zu e i n e m g e w i s s e n Teil a u c h die r u s s i s c h e G u t s h e r r s c h a f t als w i r t s c h a f t l i c h e s , soziales und p o l i t i s c h e s O r d n u n g s s y s t e m w a r e n P r o d u k t e d i e s e r s p e z i f i s c h n e u z e i t l i c h e n Interaktion zwis c h e n W e s t u n d Ost. D a b e i w u r d e w i r t s c h a f t s g e s c h i c h t l i c h ein „ e h e r n e s " G e s e t z w i r k s a m : D i e P r e i s s c h e r e z w i s c h e n a g r a r i s c h e m u n d g e w e r b l i c h e m A n g e b o t ließ d e n L i e f e r a n t e n der a g r a r i s c h e n u n d W a l d p r o d u k t e a m E n d e k e i n e C h a n c e , d a die Preise f ü r die aus d e m O s t e n g e l i e f e r t e n R o h s t o f f e u n d N a h r u n g s m i t t e l sehr viel l a n g s a m e r stiegen als die f ü r g e w e r b l i c h e P r o d u k t e . H i n z u k a m , d a s s die K r i e g e des 17. J a h r h u n d e r t s f ü r die m e i s t e n A k t e u r e auf d e m o s t e u r o p ä i s c h e n K o n f l i k t f e l d mit m e h r o d e r w e n i g e r g r o ß e n - in P o l e n - L i t a u e n d r a m a t i s c h e n - E i n b u ß e n an W i r t s c h a f t s k r a f t v e r b u n d e n w a r e n . D e r W e g in die m o d e r n e h a n d e l s k a p i t a listische Ö k o n o m i e E u r o p a s , k o m p l i z i e r t d u r c h die K r i e g s Verluste d e s 17. J a h r h u n d e r t s , w a r so f ü r d e n O s t e n z u g l e i c h d e r W e g in die R ü c k s t ä n d i g k e i t s k r i s e . D a s s d e n n a u c h D a n z i g u n d T h o r n als h a n d e l s k a p i t a l i s t i s c h e U m s c h l a g p l ä t z e seit d e m 17. J a h r h u n d e r t im A b s t i e g w a r e n , erklärt sich d a d u r c h w e i t g e h e n d . " H i n z u k a m j e d o c h n o c h e t w a s a n d e r e s , n ä m l i c h d e r U m s c h l a g in d e n e u r o p ä i s c h e n M a c h t v e r h ä l t n i s s e n seit d e m 17. J a h r h u n d e r t , bei d e m die e r w ä h n t e n w i r t s c h a f t l i c h e n P o t e n t i a l e s o w i e d e r soziale u n d k u l t u r e l l e „ Z i v i l i s i e r t h e i t s g r a d " d e r A k t e u r e n u r e i n e n a c h g e o r d n e t e R o l l e spielten. S e h r v e r k ü r z t f o r m u l i e r t : A u c h die S t a a t e n mit e i n e m „ Z i v i l i s a t i o n s r ü c k s t a n d " g e g e n ü b e r d e n P i o n i e r s t a a t e n e u r o p ä i s c h e n W a n d e l s hatten als m ä c h t e p o l i t i s c h e
Akteure
hier, im 18. J a h r h u n d e r t , g l e i c h e , z u m Teil s o g a r privilegierte C h a n c e n . Für R u s s l a n d galt dies d e s h a l b , weil d e r U m s t a n d eines v e r g l e i c h s w e i s e s e h r niedrigen S t e u e r a u f k o m m e n s d e s e i n z e l n e n U n t e r t a n e n d u r c h d e n ( w i e es d a m a l s n o c h s c h i e n ) u n e r s c h ö p f l i c h e n Vorrat an R o h s t o f f - u n d M e n s c h e n r e i c h t u m d e s R e i c h s m e h r als k o m p e n s i e r t w u r d e - u n d weil die
10 Klaus Z e r n a c k . Osteuropa. Eine E i n f ü h r u n g in seine Geschichte. München 1977. 70 f. 11 Peter K r i e d t e , Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980.
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autokratische Staatsmacht darüber weitgehend umstandslos verfügen konnte. A u c h das j u n g e K ö n i g t u m Preußen konnte sich behaupten, weil das politische System des hohenzollerischen Absolutismus es gestattete, weitaus mehr Ressourcen f ü r die „Staatszwecke" der Rüstung und Kriegführung in expansiver Perspektive zu mobilisieren als andere Staaten mit wesentlich stärker ausgeprägten Strukturen ständischer Partizipation - z u m Beispiel Polen-Litauen. Nicht zuletzt war das bevölkerungs- und ressourcenarme S c h w e d e n fähig, die Rolle einer militärischen Führungsmacht in E u r o p a zu spielen, da die Reichsleitung die Landeseliten in das Projekt einer Großmachtbildung durch Expansion einzubinden vermochte und da - wenigstens im 17. Jahrhundert - die Eroberungsarmeen sich auf f r e m d e m Territorium selbst ernährten und finanzierten.12 Die Bilanz des 17. und des 18. Jahrhunderts - nach der Liquidierung des böhmischen und des ungarischen Ständestaats durch die habsburgische Reichsbildung sowie nach der Teilung Polens zwischen Preußen, der Habsburger-Monarchie und Russland - war, dass die Strukturunterschiede zwischen Ost und West in Europa politisch konsolidiert und perpetuiert wurden. 1 3 Denn alle drei imperialen Mächte in Osteuropa sorgten f ü r die rechtliche Festschreibung beziehungsweise Restauration feudaler Eigentumsordnungen. Alle drei imperialen Mächte setzten ferner im 19. Jahrhundert darauf, die klassischen sozialen Konflikte zu perpetuieren - um dann ihrerseits als Mediatoren zwischen „ A l t e m " und „ N e u e m " gesellschaftlich F u ß fassen zu können. Dieses Kalkül ging zum Teil sehr wohl auf. In verschiedenen Z u s a m m e n h ä n g e n konnten sich die imperialen Regimes als „ m o d e r n e " O r d n u n g s m ä c h t e profilieren - sei es als Beförderer der Bauernbefreiung, sei es als vorgeblich neutrale „Moderatoren" im Prozess des Aushandelns der Bedingungen f ü r einen restringierten bürgerlichen Wandel. Letztlich aber sollte die Herrschaft der imperialen M ä c h t e in Osteuropa eher darauf hinauslaufen, die unausgetragenen Konflikte zwischen alten und (potentiellen) neuen Eliten in den jeweiligen Reichsleitungen auf die jeweils beherrschten Gesellschaften zu übertragen: Im Ungarn des 18. Jahrhunderts wie auch im geteilten Polen agierten die jeweiligen O r d n u n g s m ä c h t e letztlich in d e m Sinne, dass Entfeudalisierungsprozesse verlangsamt, aber auch die Bestrebungen traditionaler Eliten, die wirtschaftlich-sozialen und auch kulturellen Beziehungen auf regionaler oder nationaler Ebene neu auszuhandeln, eher blockiert wurden. 1 4 Auf unsere preußischen Beispiele bezogen hieß das: Danzig und Thorn befanden sich seit d e m Herrschaftswechsel aufgrund der Teilungen Polens in einem Reorientierungsprozess, der ihnen einerseits weitgehende Anpassungsleistungen an die Funktionslogiken des bürokratisierten Hohenzollernstaats abverlangte, anderseits aber gerade die Freiräume f ü r „bürgerliche" Selbstorganisation verweigerte. Die Zugehörigkeit zu Osteuropa stellte die ehemaligen osteuropäischen Metropolen am Ende außerhalb oder zumindest an die Peripherie des Milieus europäischer Geschichte der Bürgerlichkeit.
12 Klaus ZERNACK, Das Zeitalter der Nordischen Kriege als frühneuzeitliche Geschichtsepoche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1974), 55-79; Robert FROST, The Northern Wars. War, state and society in northeastern Europe, 1558-1721, Harlow u.a. 2000. 13 Klaus ZERNACK, Osteuropa (wie Anm. 10), 73 ff.
14 Michael G. Müller, Adel aber nicht Elite. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 50 (2001), 4 9 7 - 5 1 3 .
V o m Europa der Humanisten z u m Osteuropa der Imperien
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So könnte man folgendermaßen rekapitulieren: Die frühneuzeitliche Teilung Europas in West und Ost war ein realgeschichtlicher Prozess, der im Spätmittelalter begonnen hatte und seine W i r k u n g bis ins 19. und 20. Jahrhundert entfalten sollte. Das hatte mit der Geschichte von Eroberungen und Reichsbildungen zu tun - von der mongolisch-tatarischen Herrschaftsbildung in der R u s ' bis zu den Teilungen Polens. Es hatte aber auch zu tun mit der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung in Europa seit d e m 16. Jahrhundert. Ferner spielte der machtpolitische Aufstieg von in gewisser Weise „unzivilisierten" Mächten in Osteuropa (den Nachzüglern in den Prozessen des wirtschaftlich-sozialen W a n d e l s und der modernen Staatsbildung) seit der W e n d e v o m 17. zum 18. Jahrhundert eine Rolle: diese sollten den j e unterworfenen Gesellschaften oft andere, neue - und aber eben „nicht-westliche" - Entwicklungswege aufnötigen. Daran knüpft sich die zweite Frage - danach, wie man die seit d e m 17./18. Jahrhundert deutlich divergenten W e g e west- und osteuropäischer Gesellschaften in die Moderne vergleichen kann, und welche Implikationen dies im Hinblick auf die Geschichte europäischer Identitätsbildung gehabt haben mag. Eindeutig als Irrweg hat sich hier der Vorschlag erwiesen, die bürgerliche Modernisierungsgeschichte der sog. Pioniergesellschaften des europäischen Nordwestens als Vergleichsmaßstab f ü r Europa allgemein zu verabsolutieren. Denn eine Annäherung an moderne „Bürgerlichkeit" gab es sicher auf verschiedenen W e g e n und mit verschiedenen Projekten, und zwar auch außerhalb der bewussten Pioniergesellschaften. 1 ' Außerdem: Die jeweilige Entwicklung von Diskursen der „bürgerlichen V e r b e s s e r u n g " einerseits und die Bilanz realer Anpassungs-/Modernisierungsleistungen andererseits waren verschiedene Dinge. Nicht j e d e Rhetorik von citoyennite im 17./18. Jahrhundert zielte buchstäblich auf ein egalitäres Projekt von bürgerlicher Partizipation, auch nicht im nordwestlichen Europa. Entsprechend gilt, dass auch nicht jedes Projekt von „neuer Adligkeit" im Osteuropa des 18. Jahrhunderts buchstäblich als Gegenentwurf zu modernen bürgerlichen Werten interpretiert werden kann."' Oft waren die Anforderungen an wirtschaftliche, soziale und rechtliche Anpassung, welchen sich alte und neue Eliten in West- und Osteuropa nach dem 16. Jahrhundert stellen mussten, gleichermaßen dramatisch. O f t erscheinen, aus heutiger Perspektive, die tatsächlich erbrachten Anpassungsleistungen als durchaus verrechenbar zwischen West und Ost - und die Wertesysteme, an denen die bewussten Anpassungsleistungen gemessen wurden, als durchaus kompatibel. Als Beispiel: O b man an der W e n d e vom 18. zum 19. Jahrhundert rationales Wirtschaften, soziale Solidarität und nationalen Konsens im deutschen Kontext als bürgerliche und im polnischen oder ungarischen Kontext als adelige Werte definierte, ist letztlich wohl wenig bedeutsam. So k o m m t man, wenn man nach gemeinsamen Handlungsbedingungen in Europa fragt - nach Ähnlichkeiten zwischen den Herausforderungen in der Frühneuzeit sowie nach den funktionalen Äquivalenten in den Antworten darauf - letztlich doch wieder auf G e m e i n s a m keiten. über die genannten Strukturgrenzen hinweg. Die Geschichte politischer Theorie in der europäischen Frühneuzeit wäre ein Feld, auf dem sich das demonstrieren ließe.'" Nicht nur
15 S i e h e o b e n . A n m . 9. 16 D a z u d e m n ä c h s t M i c h a e l G . M ü u . r . R . . . L a n d b ü r g e r " . E l i t e n k o n z e p t e im p o l n i s c h e n A d e l im 19. J a h r h u n d e r t . in: E c k e h a r d CONZE u n d M o n i k a WIKNFORD ( H g . ) (im D r u c k ) . 17 D a z u j e t z t ein S o n d e r h e f t d e r H i s t o r i s c h e n Z e i t s c h r i f t : L u i s e SCHORN-SCHÜTTE. P o l i t i s c h e s D e n k e n im E u r o p a d e r F r ü h e n N e u z e i t (im D r u c k ) .
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im humanistischen 16. Jahrhundert haben die Staatstheoretiker im Osten und im Westen über dieselben Probleme nachgedacht und ähnliche Antworten darauf gefunden - damals auch in direkter Kommunikation miteinander (wie zum Beispiel zwischen dem Polen Andrzej Frycz Modrzewski und Jean Bodin). Vielmehr wurden auch später, als die politische Sprache keine unmittelbar gemeinsame mehr war und vermeintlich singulare nationale Politikerfahrungen die jeweiligen Diskurse bestimmten, die „großen Fragen" nach dem Wesen des modernen Staats sowie den Grundwerten von Freiheit, Recht oder Individualität unter Bezug auf dieselben Wertesysteme gedacht. Selbst die polnisch-litauische Republik, die sich mit ihrem Sarmatenkult des 17. Jahrhunderts eine scheinbar radikal Europa-abgewandte politische Selbstdeutung gegeben hatte,18 verstand sich letztlich als eine klassisch europäische monarchia mixta und verhandelte ihre inneren Probleme mit den Kategorien des alteuropäischen aristotelischen Staatsverständnisses. Die Rezeption der Aufklärung war hier dann, wie wohl in den meisten Teilen Europas, vor allem eine Frage des pragmatischen Transfers zwischen Altem und Neuen. Die Staatsbürgergesellschaft und der durch das Recht regulierte Staat mussten auch in Polen-Litauen nicht erst neu erfunden werden. Allenfalls ging es um die Übersetzung der alten republikanischen Rhetorik in eine neue Sprache der Zivilgesellschaft.' 9 Dennoch bleibt natürlich die Tatsache, dass die Zeitgenossen - im Westen ebenso wie im europäischen Osten - seit dem 18. Jahrhundert die Ost-West-Teilung Europas als Realität und in gewisser Weise auch als ein europäisches Dilemma wahrgenommen haben. Für den Westen war der neu erfundene Osten einerseits ein Objekt, an dem sich über die Kontrastierung ein positives Selbstbild gewinnen ließ, andererseits (im Kontext der Aufklärung) ein Raum für die Projektion von neuen gesellschaftlichen Gestaltungsvisionen. 20 Für den Osten dagegen lieferte das sich Messen am „Westen" sowohl legitimatorische als auch subversive Argumente. Nicht nur Peter 1. und Katharina II. setzten darauf, ihre eigene Rolle als Autokraten und reformerische Neuerer im Sinne eines radikalen Kontinuitätsbruchs zugunsten der europäischen Verwestlichung zu stilisieren. (Die Formulierungen in der Adresse des russischen Großkanzlers G. I. Golovkin an Peter den Großen anlässlich des Friedensschlusses von Nystad im Jahr 1721, wonach Russland dank Peter „aus nichts [et]was, und der Gemeinschaft policirter Völker einverleibt worden" sei,21 zeugt davon). Vielmehr galt ähnliches auch für den polnischen König Stanislaw August Poniatowski, der seine Regierungsleistung als den Eintritt Polens in die Aufklärung zu stilisieren bemüht war und, um des Kontraste willen, seinerseits
18 Stanislaw GRZYBOWSKI, Sarmatyzm [Sarmatismusj, Warszawa 1996; Hans-Jürgen BÖMELBURG, Das polnische Geschichtsdenken und die Diffusion einer humanistischen Nationalgeschichte im östlichen Europa, 1500-1700. (Habil.-Schrift Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2004), passim. 19 Zur Einführung in die polnische politische Sprache der Aufklärung und deren „Übersetzbarkeit" in westliche Kategorien noch immer nützlich: Jörg K. HOENSCH, Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter, Köln-Wien 1973. Siehe auch das Frühneuzeit-Kapitel in Rudolf JAWORSKI, Christian LÜBKE und Michael G. MÜLLER, Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt am Main 2000. 2 0 WOLFF ( w i e A n m . 7).
21 Die den westlichen Diplomaten in deutscher Sprache im Druck zugänglich gemachte Version des Texts zitiert bei Heinrich DOERRIES, Rußlands Eindringen in Europa in der Epoche Peters des Großen. Studien zur zeitgenössischen Publizistik und Staatskunde, Osteuropäische Forschungen N.F. 26, Königsberg 1939, 97 f.
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an der Verbreitung der negativen L e g e n d e ü b e r das alte - „ s a r m a t i s c h e " und e u r o p a f e r n e Polen m i t w i r k t e . " D e r Osten wie der W e s t e n waren so daran beteiligt, seit d e m 18. Jahrhundert die B e h a u p t u n g von der Unterlegenheit und R ü c k s t ä n d i g k e i t O s t e u r o p a s im kollektiven W i s sen der E u r o p ä e r über sich selbst fest zu verankern. U n a b h ä n g i g d a v o n freilich hat es auch in der Frühen Neuzeit, und später, stets die Vision von e i n e m g e m e i n s a m e n E u r o p a g e g e b e n . A u c h das vielfältig segmentierte E u r o p a dachte über „das E u r o p ä i s c h e " nach, und die G e s e l l s c h a f t e n in Ost und West definierten sich i m m e r j e auch mit B e z u g auf ihr Europäisch-Sein. D a s bedeutet natürlich nicht, dass E u r o p a sich tatsächlich j e m a l s als eine H a n d l u n g s e i n h e i t dargestellt, nicht e i n m a l , dass es wirklich eine K o m m u n i k a t i o n s g e m e i n s c h a f t gebildet hätte. Eine „europäische Ö f f e n t l i c h k e i t " stellte sich allenfalls kurzfristig und punktuell her - vielleicht in b e s t i m m t e n Phasen des Dreißigjährigen Kriegs, sicher um und 1789 und 1848. : 5 D o c h war E u r o p a als politisch-kulturelle Realität stets d a d u r c h präsent, dass die einzelnen e u r o p ä i s c h e n G e s e l l s c h a f t e n sich an E u r o p a als historischer E r f a h r u n g s e i n h e i t und Vision zugleich m a ß e n . A u c h f ü r innergesellschaftliche A u s h a n d l u n g s p r o z e s s e n ä m l i c h war es unerlässlich, den politischen, zivilisatorischen oder kulturellen Ort der j e w e i l s eigenen Gesellschaft innerhalb E u r o p a s zu b e s t i m m e n , die eigenen politisch-sozialen G e s e l l s c h a f t s e n t w ü r f e auf ein e u r o p ä i s c h e s W e r t e s y s t e m zu beziehen und diese damit zu legitimieren b z w . eine eigene „ M i s s i o n " in und f ü r E u r o p a zu beschreiben. Die B e r u f u n g auf historisch e r w o r b e n e F ü h r u n g s - und O r d n u n g s a n s p r ü c h e , wie sie zum Beispiel in E d m u n d B u r k e s B e s c h r e i b u n g E u r o p a s als der ..great W e s t e r n Republic" 2 4 g e w i s s m i t g e d a c h t w u r d e n , war eine d e r F o r m e n , ü b e r E u r o p a zu reden - eine andere die des Russen N i k o l a j K a r a m z i n . der die E r n e u e r u n g des überalterten, an seinem eigenen zivilisatorischen Erbe leidenden E u r o p a von dessen östlicher Peripherie her v e r h i e ß . D a b e i ist nur von geringer B e d e u t u n g , dass die verschiedenen E u r o p a - D i s k u r s e des 18. J a h r h u n d e r t s und der Folgezeit nur selten m i t e i n a n d e r k o m m u n i z i e r t e n , v i e l m e h r meist Debatten in europäischen T e i l g e s e l l s c h a f t e n (und ü b e r diese selbst) waren. D e n n auch die national segmentierten E u r o p a - D e b a t t e n haben wahrscheinlich doch zu e i n e m bricolage von „Europäizität". also zu e i n e m informellen und ungezielten g e m e i n s a m e n Arbeiten an e u r o p ä i s c h e r Identität, beiget r a g e n . J e d e n f a l l s gingen die Ü b e r e i n s t i m m u n g e n z w i s c h e n den vielfältigen E u r o p a - E r z ä h lungen der Neuzeit über ein bloßes Zitieren der g e m e i n s a m e n antiken U r s p r ü n g e sowie der V e r b u n d e n h e i t im C h r i s t e n t u m weit hinaus. Praktisch alle E u r o p a - E n t w ü r f e enthielten zum Beispiel eine Botschaft, die sich einerseits mit den A n f ä n g e n m o d e r n e r E u r o p a - V o r s t e l l u n g e n
22 M e m o i r e s du roi S t a n i s l a s - A u g u s t e P o n i a t o w s k i . 2 Bde.. St. Petersburg 1 9 1 4 - 1 9 2 4 . 23 Siehe Jörg REQUATE und Martin SCHULZE WESSEL (Hg.). E u r o p ä i s c h e Ö f f e n t l i c h k e i t . T r a n s n a t i o nale K o m m u n i k a t i o n seit d e m 18. J a h r h u n d e r t . F r a n k f u r t a m Main u.a. 2002. 2 4 A n n u a l Register 1772. 25 N i k o l a j M . KARAMZIN. Ο d r e v n e j i novoj Rossii ν eja politiceskom i g r a z d a n s k o m otnosenijach | V o n i alten und neuen R u ß l a n d in seinen politischen und staatsbürgerlichen B e z i e h u n g e n ] , Berlin 1861: siehe auch Ν. V. MINAEVA. E v r o p e j s k i j ligitimizm i evolucija politiceskich predstavlenij N . M . K a r a m z i n a [Der e u r o p ä i s c h e L e g i t i m i s m u s und die Entw icklung der politischen Vorstellungen N . M . K a r a m z i n s ] . in: Istorija S S S R (1972)" 5, 1 5 0 - 1 5 9 . 2 6 Michael G. MÜLLER. E u r o p e a n History: a ΊΒΣΟΗ de parier'.', in: E u r o p e a n R e v i e w of History 10 (2003). N o . 2. 4 0 9 - 4 1 4 .
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bei Herder in Verbindung bringen lässt27 und die andererseits aber auch für das Projekt der europäischen Osterweiterung im 21. Jahrhundert Geltung besitzt: dass nämlich nicht nur die staatlich-territoriale Vielfalt, sondern auch die kulturelle Diversität das Europäische an Europa wesentlich ausmachen.
27 Johann Gottfried HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Riga und Leipzig 1785.
Visionen für Europa. Zwischen regionaler Vielfalt und europäischer Einheit
Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer „europäischen Identität" um 973 und 2003 - eine Skizze Kai Hendrik Patri
Der Wiener Historiker Michael Mitterauer grenzt sich in seinem jüngst erschienenen, übrigens sehr anregenden Buch „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs" entschieden von einer identifikatorischen Nutzung seiner Befunde für die Gegenwart ab. Mitterauer wörtlich: „Und auch die E u r o p ä i s c h e Union' lässt sich weder in ihren aktuellen Grenzen noch unter Einbeziehung bestimmter Kandidatenländer als räumliches Produkt dieses Sonderwegs begreifen. Erweiterungsdebatten unter dieser Prämisse münden notwendig in [...] Legitimationsideologien." 1 An anderer Stelle: „Es geht um .Europa erklären', nicht um .Europa bauen'." 2 Dass diese Abgrenzung für die jetzt folgenden Ausführungen nicht in gleicher Weise gelten kann, liegt auf der Hand. Die Zielsetzung unseres gesamten Symposiums, aber auch speziell das Thema dieses Beitrags bedingen eine Anbindung an die aktuelle Thematik einer sich erweiternden und mittelfristig vielleicht auch intensiver zusammenwachsenden Europäischen Union, mithin eben an das Projekt eines „Europa bauen". Wo es Mitterauer um das Aufzeigen faktischer Ursachen und Ursachenverkettungen für eine Sonderentwicklung geht, wird hier zumindest auch von subjektiven Befindlichkeiten der Menschen im mittelalterlichen und heutigen Europa die Rede sein. Ich stimme mit Mitterauer aber darin überein, dass es sich keineswegs um eine geschlossene „De-finition" Europas und des Europäischen handeln kann', um das Abstecken vermeintlich unverrückbarer Grenzen. Letzteres wäre sowohl unserem Forschungsgegenstand unangemessen, zutiefst ahistorisch, wie auch ein Rückfall in allzu bekannte Muster des Exklusionsdenkens, die gerade dem euro päischen Kontinent im vergangenen Jahrhundert wenig erfreuliche Zeiten beschert haben. Der Gegenstand dieses Beitrags sind Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer ..europäischen Identität" im Mittelalter einerseits, in der Gegenwart andererseits, mit gelegentlichen Seitenblicken auch auf die Jahrhunderte dazwischen. Es mag zunächst fragwürdig erscheinen. das moderne Konzept kollektiver Identitäten, noch dazu bezogen auf einen kontinentalen Gesamtzusammenhang, auf das Mittelalter zurückzuprojizieren. Wie Michael Borgolte im 2002 erschienenen dritten Band des „Handbuchs der Geschichte Europas" vielleicht allzu apodiktisch, aber wohl im Kern zutreffend schreibt: ...Europa' war im hohen Mittelalter kein Ort der Sehnsucht und des Schmerzes, nicht einmal ein Raum der Erfahrung, und nur wenige Zeitgenossen machten sich von ihm überhaupt eine Vorstellung. Gegenwart wie Zukunft des
1 M i c h a e l MITTFRAUHR. W a r u m E u r o p a ? Mittelalterliche G r u n d l a g e n eines S o n d e r w e g s . M ü n c h e n 2 0 0 3 . 296. 2 Ebd.. 8. 3 Ebd.. 296.
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Kontinents und seiner Bewohner fanden bei niemandem Interesse [...]". 4 Selbst in historiographischen Chroniken dieser Zeit, so Borgolte, spielte „Europa" „als Begriff, als geographische und historische Einheit oder gar als Wertegemeinschaft" 5 selten eine Rolle. Auf den ersten Blick betrachtet könnten wir jetzt sofort aufhören. Wie kann eine Größe Kristallisationspunkt kollektiver und individueller „Identitäten" sein, wenn sie nicht als Objekt von Sehnsucht und Schmerz, ja nicht einmal als Gegenstand des Interesses taugt? An dieser Stelle sind allerdings gleich mehrere Relativierungen angebracht. Erstens: Dem sozialpsychologischen Konzept von „Identität" ist per se eine Fluidität zu eigen, die Überlappungen und vor allem graduelle Abstufungen zulässt. Im stärksten Fall ist das Bewusstsein einer Gruppenoder Großgruppenzugehörigkeit entscheidend für das Selbstverständnis der betroffenen Individuen, und das fragliche Kollektiv wird als Loyalitätspol über alle konkurrierenden Loyalitäten gestellt. Im schwächsten Fall, für den die Verwendung des Begriffs „Identität" Geschmackssache sein mag, handelt es sich um das bloße Bewusstsein einer Zugehörigkeit, die gegenüber anderen Zugehörigkeiten eine marginale Rolle spielt. In der überwiegenden Zahl der Fälle, auf die der Terminus sinnvoll angewandt werden kann, ist das Zugehörigkeitsbewusstsein zumindest in gewissem Grad für das Selbstbild der Betroffenen konstitutiv, zudem auch affektiv besetzt. Bei den nicht allzu reichlichen, aber eben doch vorhandenen Belegstellen des Wortes „Europa" in Texten des frühen und hohen Mittelalters lässt sich über den Bedeutungsgrad für den jeweiligen Verfasser oft nur spekulieren. Wir werden aber an einzelnen Beispielen sehen, dass eine Aufladung über den reinen Vorgang des Benennens hinaus zumindest nicht ausgeschlossen war. Zweitens: Auch im 10.-13. Jahrhundert sind hinreichend Prozesse, Strukturen und Institutionen zu beobachten, die potentiell einen Einblick in länderübergreifende Zusammenhänge ermöglichten (unabhängig davon, ob man diesen Zusammenhang zeitgenössisch als „Europa" oder, wie über weite Strecken eher üblich, als christianitas und ähnlich etikettierte). Für die Jahre 1050-1250 stellt Borgoltes erwähntes Buch selbst diese Phänomene sehr umfassend und anschaulich dar. Dass trotz Schüben verstärkter horizontaler Mobilität nur ein kleiner Teil der europäischen Bevölkerung mit solchen Einblicken konfrontiert war, entwertet nicht die Fragestellung als ganze; diese Einschränkung galt schließlich für alle das unmittelbare Lebensumfeld überschreitenden Bezüge und keineswegs nur für den kontinentalen. Drittens schließlich: Wenn in diesem Beitrag von Entstehungsfaktoren einer „europäischen Identität" die Rede ist, dann interessieren selbstverständlich auch Aspekte, die teilweise erst in ihrer langfristigen Folgewirkung - und nicht unbedingt schon in der Zeit ihres Auftretens - identitätsbildend geworden sind. Der Titel dieses Aufsatzes ist auch nicht so zu verstehen, als habe sich im Laufe der letzten 1030 Jahre (oder gar zu Beginn dieser Zeitspanne) eine europäische Identität „gebildet", die jetzt nur noch „stabilisiert" werden müsste. Wie etwa an der Wahlbeteiligung bei Europawahlen, aus Umfragen und anderen Indizien ablesbar, fühlt sich durchaus nicht jeder Bürger der Europäischen Union oder der in die EU hinzukommenden Länder in einem affektiven, über das Faktische hinausgehenden Sinne „als Europäer" bzw. „als Europäerin". Insofern stehen die Worte „Entstehungs-"
4 Michael BORGOLTE, Europa entdeckt seine Vielfalt 1050-1250. Handbuch der Geschichte Europas 3, S t u t t g a r t 2 0 0 2 , 11.
5 Ebd.
Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer „europäischen Identität" um 973 und 2003
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und „Stabilisierungsfaktoren" nicht in einer strikten zeitlichen Abfolge zueinander. Was für die einen eine bereits vorhandene Identifikation mit Europa verstärken oder stabilisieren kann, mag bei anderen erst die Rahmenbedingungen für eine solche Identifikation schaffen oder vorbereiten. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" gilt für die Zeit um 973 ebenso wie, natürlich auf einem deutlich höheren Niveau, für die Gegenwart. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an vier Hauptfragen: Welche Faktoren gaben im frühen und hohen Mittelalter Anlass, von „Europa" als einer zusammenhängenden Größe zu sprechen oder es sich zumindest als eine solche Größe zu denken? In welchen Kontexten taucht das Wort „Europa" in dieser Zeit tatsächlich auf? W o zeichneten sich damals - über den Wortgebrauch hinaus - Entwicklungen ab, die das Selbstverständnis des Kontinents bis in die Gegenwart geprägt haben? Und welche Aspekte können dazu beitragen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger der weiter wachsenden Europäischen Union tatsächlich als „Europäer" empfinden? Wenn im Rahmen der letztgenannten Frage Mittelalter und Gegenwart zusammengebunden werden, dann eher in Gestalt von Strukturanalogien und nicht als „Vergleich" sensu stricto. Alles andere würde zu Anachronismen führen. Da das hier dokumentierte Symposium dem Hoftag von Quedlinburg 973 gewidmet war. also einem politischen Ereignis, sei als erster Bedingungsfaktor die Herausbildung eines europäischen Mächtesystems genannt, deren „Neuankömmlinge" - hier konkret Ungarn, Polen und Böhmen, ebenso dann die anglonormannischen, spanischen oder skandinavischen Königreiche - unter dem Vorzeichen der Alterität, nicht der Alienität wahrgenommen wurden." Wie Michael Borgolte pointiert heraushebt, setzte sich nach dem Zwischenspiel des Karolingerreichs vom späten 9. Jahrhundert an eine multipolare Ordnung auf dem europäischen Kontinent durch, in den folgenden Jahrhunderten zementiert durch einen nicht ununterbrochenen, aber doch graduellen Bedeutungsverlust des westlichen und oströmischen Kaiserreichs zugunsten der regna.1 Auch das Papsttum, dessen enormer Stellenwert für die Integration des westlichen Europa noch zu behandeln sein wird, konnte seine zuzeiten quasi-imperialen Ansprüche nicht dauerhaft in eine wirkliche politische Omnipotenz u m s e t z e n / Spätestens seit der Frühen Neuzeit brachte die europäische Mächtevielfalt ein ausgeprägtes Gleichgewichtsdenken hervor, das alle Überdehnungen hegemonialer Ansprüche - sei es der Habsburger, sei es Frankreichs unter Ludwig XIV. oder Napoleon, sei es Deutschlands im Gefolge der Reichseinigung von 1871 - früher oder später konterte. Ich kann mir den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, dass Denkbilder einer unipolaren Weltordnung, wie sie Tony Blair im Kontext des Irakkrieges vertreten hat, mit dieser Grundtendenz der europäischen Geschichte kaum vereinbar sind. Übrigens finden sich Ansätze des späteren Gleichgewichtsdenkens anscheinend bereits im
6 Zu diesem Begriffspaar siehe Horst TURK, Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik. in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 22.1 (1990). 8 - 3 1 . 7 BORGOI.TE. Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4). 17. 24. 70. 221 und passim. Vgl. auch Johannes FRIED, Die Formierung Europas 840-1046. Oldenbourg Grundriß der Geschichte 6.2. Aufl. München 1993. 1 f. und 61. Anders hingegen bei Ferdinand SEIBT. Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre. Frankfurt am Main 2002. 393. der das Kriterium der Multipolarität erst in der Frühen Neuzeit verortet: „Das politische Mittelalter endet da. wo Europa sich nicht mehr unter imperialem pseudorömischem Vorzeichen versteht, sondern als eine gleichberechtigte Gesellschaft von Souveränen." 8 BORGOI.TE. Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4). 75-94.
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Mittelalter. Wie Karl Leyser erwähnt, registrierte z.B. der burgundische Mönch Rodulf Glaber den Abstieg der Karolinger mit ihrem imperialen Habitus und das spätere Nebeneinander der Ottonen und Salier mit den Kapetingern mit unverhohlener Genugtuung. 9 Versuchen wir nun die begriffsgeschichtliche Dimension einzubeziehen: In der Forschung ist häufig die Auffassung vertreten worden, die Verwendung des „Europa"-Begriffs sei nach einer ersten Blüte zur Zeit Karls des Großen mit dem Zerfall des Karolingerreichs wieder deutlich zurückgegangen. Jürgen Fischer vermutet in seiner 1957 erschienenen Monographie „Oriens - Occidens - Europa", dass die mit dem Ausdruck occidens ursprünglich einhergehende negative heilsgeographische Konnotation die Historiographen und Panegyriker des Karlsreichs nach einem anderen Terminus für den überwiegend nordalpinen Herrschaftsbereich der Franken suchen ließ. Dabei griffen sie (und zwar bezeichnenderweise vor allem die aus der irischen und angelsächsischen Peripherie an Karls Hof gekommenen Verfasser) auf das Wort „Europa" zurück, das schon einige Jahrhunderte zuvor bei Sulpicius Severus mit der Würde eigener Heiligengestalten, insbesondere Sankt Martins von Tours, versehen worden war.10 Nun wurde Karl der Große mit den Epitheta eines Europae venerandus apex oder gar pater Europae bedacht. Fischer vertritt die Auffassung, dass diese politische Verwendung von „Europa" ansatzweise schon unter den ersten Ottonen, verstärkt im Zuge der renovatioPolitik Ottos III., dem Begriff des Imperium „geopfert" worden sei." Karl Leyser stellt dies in einem 1992 posthum in der Zeitschrift „Past & Present" erschienenen Artikel in Frage. Er meint gar, man könne versucht sein, den ottonischen Autor Liutprand von Cremona als „ersten Europäer" zu bezeichnen. 12 Generell vermutet Leyser, dass die gebildeten Kleriker, in deren Schriften sich Hinweise auf „Europa" finden, die Vorstellung der Kontinente und von Europe 's distinctive quality über ihren engeren Kreis hinaus auch an adlige Laien weitergegeben haben könnten - gehörten doch die meisten der fraglichen Kleriker zu höfischen Kreisen. Außerdem, so Leyser, „Europe could come to mean something to a lay noble who had accompanied a Carolingian or Ottonian royal overlord all the way to Rome and back. Such knowledge could be communicated also to their fellows who had stayed at home." 13 Auch Jürgen Fischer selbst wies zumindest die ältere Auffassung Elisabeth Pfeils, wonach die Geschichtsschreibung zur Zeit Ottos I. gänzlich „den Blick auf Europa verloren" 14 habe, als unzutreffend zurück, schließlich begegne der Europabegriff, den man „doch wohl als Indiz für den ,Blick auf Europa' nehmen" müsse, bei Widukind von Corvey, Liutprand von Cremona
9 Karl LEYSER, Concepts of Europe in the Early and High Middle Ages, in: Past & Present 137 (1992), 2 5 - 4 7 , hier 47.
10 Jürgen FISCHER, Oriens - Occidens - Europa. Begriff und Gedanke „Europa" in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 15, Wiesbaden 1957, v.a. 77. Zur besonderen Rolle der Peripherie vgl. Bernd SCHNEIDMÜLLER, Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas. Konvergenz und Differenzierung, in: Heinz DUCHHARDT und Andreas KUNZ (Hg.), „Europäische Geschichte" als historiographisches Problem, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 42, Mainz 1997, 5 - 2 4 , bes. 10; ferner BORGOLTE, Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4), 12. 11 FISCHER, Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10), 24. 12 LEYSER, Concepts of Europe (wie Anm. 9), 25 f. 13 Ebd., 29. 14 Elisabeth PEEIL, Die fränkische und deutsche Romidee des frühen Mittelalters, Forschungen zur mittelalterlichen und neueren Geschichte 3, München 1929, 203.
Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer ..europäischen Identität" um 973 und 2003
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und in anderen Quellen der ottonischen Zeit. 15 Widukind zieht eine Parallele zwischen Karl dem Großen und Otto dem Großen im Hinblick auf die Überwindung der Awaren und Ungarn. α quibus hostibus [...] tota iam fere Europa liberata sit."' Auch im Begriffsgebrauch der „Vita Sancti Deicoli", geschrieben um 965 in einem von Otto I. geförderten Kloster der Diözese Besan$on, scheine „Europa" „mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verwendet" 1 7 zu sein - und zwar hier bezogen auf den gesamten christlichen Raum des Erdteils, ebenso wie bei Liutprand.'* Eine für die damalige Zeit ungewöhnlich emotionale Verwendung des Begriffs findet sich in den 1007 oder 1008 begonnenen Annalen von Quedlinburg, die die Zeitspanne von 985 bis 1030 abdecken. Dort heißt es zum Jahre 1022. dem vor der Pest aus Italien nach Deutschland fliehenden Heinrich II. sei die Mater Europa zu Hilfe geeilt. |l) Ähnlich hatte Theodulf von Orleans zur Zeit Ludwigs des Frommen in seiner ..Schlacht der Vögel" Europa als opiums ager apostrophiert. 20 Karl Leyser kommentiert: So trivial die panegyrischen Dichtungen des 9. Jahrhunderts in ihren Kontexten auch gewesen sein mögen, ihre Verfasser und ihre höfische Zuhörerschaft „fühlten sich als Europäer". : l In den erwähnten Quedlinburger Annalen wird meines Erachtens auch die Verknüpfung des Europabegriffs mit dem politischen Mächtesystem besonders deutlich. Im Bericht über den Zug Heinrichs II. nach Merseburg anno 1021 fällt die Formulierung cunctis, ut ita dicam, Europae primis ibidem confluentibus.-- Mehr noch: In der Notiz über das Osterfest Ottos III. in Quedlinburg 991 heißt es. tibi etiam marchio Tuscanorum Hugo et dux Sclavonicus Misico cum caeteris Europae primis ibidem confluentibus aff'uere. ad obsequium imperatorii honoris.1' Hier wird also eine in Quedlinburg stattfindende und von einem Chronisten ebenda beschriebene Zusammenkunft ausdrücklich ein Treffen der „Ersten Europas" genannt, wobei ausgerechnet ..ältestes" Lateineuropa. Hugo von Tuscien. und slavisches ..Neueuropa" (im Sinne des Historikers Oskar H a l e c k P ) mit dem polnischen Herzog Mieszko als Beispiele für die Europae primis dienen. Man kann vermuten, dass derselbe Verfasser, hätte er auch
15 F I S C H E R . Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10). 99. 16 Zitiert nach F I S C H E R . Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10). 101. 1 7 F I S C H E R . Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 1 0 ) . 1 0 3 . 18 Zu Liutprands ..vision of Europe as a whole", inklusive By/.anz. siehe LEYSER. Concepts of Europe (wie Anm. 9). 42. 19 Zitiert bei L E Y S E R . Concepts of Europe (wie Anm. 9). 4 5 . sowie bei F I S C H E R . Oriens - Occidens Europa (wie Anm. 10). I I I . 2 0 Zitiert bei L E Y S E R . Concepts of Europe (wie Anm. 9 ) . 3 4 . sowie bei F I S C H E R . Oriens - Occidens Europa (wie Anm. 10). 84. 21 LEYSER. Concepts of Europe (wie Anm. 9). 39: ..However trivial and occasional the contexts of all the panegyrical ninth-century verse that has been surveyed here may have been, its authors and their courtly audience felt themselves to be Europeans." 22 M G H S S I I I . 86. 23 Ebd.. 68. Die Stelle lautet vollständig: 991. Theophanu imperatrix cum filio suo imperalore tertio Ottone paschale fest um imperiali gloria apud Quedelingensem peregit ciritatem: ubi etiam marchio Tuscanorum Hugo et dux Sclavonicus Misico cum caeteris Europae primis ibidem confluentibus aff'uere. ad obsequium imperatorii honoris, quae quilibet pretiosissima possederat. pro xeniis deferendo: e quibus Misico aliique quam plurimi honorifice in patriam redierunt. 24 Oskar HAI.ECKI. Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte. Darmstadt 1957. 29: siehe schon: DERS.. Der Begriff der osteuropäischen Geschichte, in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte 9 [N.F. 51 (1935). 1-21. bes. 8.
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schon das Osterfest 973 geschildert, in Analogie zu den beiden zitierten Stellen ebenfalls von „europäischen" Größen gesprochen hätte. Die von Jänos Gulya in seiner Initiative zu diesem Symposium angeregte Formulierung eines frühen „europäischen Gipfeltreffens" gewinnt so zusätzlichen Nachdruck. In diesem Zusammenhang könnte man auch das an Oskar Haleckis Arbeiten angelehnte Diktum Klaus Zernacks anführen, wonach erst der Entstehungsprozess des außerantiken, außerkarolingischen und außerbyzantinischen „Neueuropa" das für Europa später so zentrale nationale Prinzip in die europäische Geschichte eingeführt und mithin Europa „im vollen historischen Sinne" überhaupt erst hergestellt habe.25 Auch Johannes Fried betont, im 9.-11. Jahrhundert sei die „Einheit in nationaler Vielfalt zum Kennzeichen der europäischen Kultur" avanciert, wobei die Formierung der neuen „Großvölker" etwa bei Dänen und Polen keineswegs später einsetzte als bei Franzosen oder Italienern. 26 Herfried Münkler weist darauf hin, dass das in den 1950er Jahren zur EWG zusammengeschlossene „Europa der Sechs" im wesentlichen mit dem Reich Karls des Großen deckungsgleich war27 - demgegenüber, so könnte man sagen, ist das Europa der jetzt hinzukommenden (überwiegend ostmitteleuropäischen) Länder das „Quedlinburger Europa" von 973. Stärker noch als die weltlichen Mächte trug die römische Kirche zum Zusammenwachsen der ihr zugehörigen Teile Europas bei.28 Michael Borgoltes Formulierung, das Papsttum sei „wohl die stärkste Kraft kultureller Vereinheitlichung des Kontinents" gewesen 29 , kann man schwerlich widersprechen. Das gilt für die von Fidel Rädle in seinem Beitrag zu diesem Band eingehend dargestellte Rolle der lateinischen Sprache ebenso wie für die Homogenisierung des Kirchenrechts, die Laterankonzilien mit ihren Teilnehmern von der Iberischen Halbinsel bis Ostmitteleuropa und von Süditalien bis Skandinavien 30 oder die mit dem Reformpapsttum verbundenen neuen monastischen Verbände der Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner. Für die religiöse Sphäre zu nennen sind ferner die Pilgerfahrten und die Verehrung regional situierter, aber im Endeffekt „gemeineuropäischer" Heiliger. Der bald ebenfalls heilig ge-
25 Klaus ZERNACK, Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: DERS., Preußen - Deutschland - Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hg. von Wolfram FISCHER und Michael G. MÜLLER, 2. Aufl. Berlin 2001, 3 - 4 2 , bes. 5-10, Zitat 8. Zernack verweist auf die in Anm. 24 genannten Texte Haleckis. Die Zusammenkunft von Gnesen anno 1000 bezeichnet Halecki (Europa, 34) als „das Enddatum im Aufbau Europas". Er bezieht sich dabei wiederum auf Christopher DAWSON, The Making of Europe. An Introduction to the History of European Unity, London 1932. 26 FRIED, Die Formierung Europas (wie Anm. 7), 16. 27 Herfried MÜNKLER, Die politische Idee Europa, in: Mariano DELGADO und Matthias LUTZBACHMANN (Hg.), Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995, 9 - 2 7 , hier 13. 28 Siehe dazu ausführlich MITTERAUER, Warum Europa? (wie Anm. 1), 152-198. 29 BORGOI.TE, Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4), 80. Freilich weist Borgolte sofort auch darauf hin, dass diese vereinheitlichende Kraft „gleichzeitig zu neuen Brüchen beigetragen hat; das Schisma mit der Ostkirche von 1054, das sich trotz großer Anstrengungen nie mehr beseitigen ließ, war nur eine dieser Abtrennungen" (ebd.). Eingedenk der Absage an eine unflexible „De-finition" Europas, die zu Beginn des vorliegenden Artikels ausgesprochen wurde, sollte die Nennung des römisch-kirchlichen Einigungsimpulses mithin nicht als Neigung missverstanden werden, Byzanz oder die jüdische Kultur aus „Europa" hinauseskamotieren zu wollen. 30 Siehe hierzu u.a. MITTERAUER, Warum Europa? (wie Anm. 1), 154.
E n t s t e h u n g s - und Stabilisierungsfaktoren einer ..europäischen Identität" u m 9 7 3 und 2 0 0 3
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s p r o c h e n e ungarische König Stephan f a n d mit seiner Fürsorge f ü r auf d e m L a n d w e g reisende J e r u s a l e m p i l g e r e u r o p a w e i t A n e r k e n n u n g . J o h a n n e s Fried meint gar. die T a u f e U n g a r n s habe „wie ein S i g n a l " gewirkt: „Es ist, als hätte die lateinische Christenheit nur darauf gewartet, um endlich a u f z u b r e c h e n , die E n g e ihrer bisherigen Welt z u r ü c k z u l a s s e n [...]". 3 1 Die F r e q u e n z der Pilgerfahrten nach J e r u s a l e m stieg j e d e n f a l l s durch die Ö f f n u n g des L a n d w e g s spürbar an. Die Pilgerfahrt nach S a n t i a g o de C o m p o s t e l a w u r d e seit Ende des 11. J a h r h u n d e r t s ..ein e u r o p ä i s c h e s P h ä n o m e n " 3 2 . G r u p p e n aus Frankreich. Italien und D e u t s c h l a n d sind schon seit den 1060er b z w . 1070er Jahren n a c h g e w i e s e n ' 3 (nebenbei e r w ä h n t , über den J a k o b s w e g verbreitete sich auch die r o m a n i s c h e Architektur nach Spanien 3 4 ). Ferdinand Seibt weist darauf hin. dass sich die Santiagopilger auch und gerade aus den ärmeren B e v ö l k e r u n g s s c h i c h t e n rekrutierten 3 5 , die ansonsten an den „ M o b i l i t ä t s s c h ü b e n " des hohen Mittelalters k a u m partizipierten. W a s die Heiligen betraf, so erlangten auch . . N e w c o m e r " wie d e r 1170 in C a n t e r b u r y e r m o r d e t e Erzbischof T h o m a s Becket eine überregionale Verbreitung 3 ' 1 - und vermittelten wohl gleichzeitig ein B e w u s s t s e i n von d e r Existenz ihrer H e i m a t g e g e n d e n , in d i e s e m Falle Englands, in die übrigen Länder. Z u r Stellung der Kirche im e u r o p ä i s c h e n G e s a m t r a h m e n sei ein wichtiger H i n w e i s Michael Mitterauers a n g e f ü h r t : G e r a d e die in anderen Bereichen, e t w a im ö k o n o m i s c h e n Bereich, erfolgte S c h w e r p u n k t v e r l a g e r u n g v o m M i t t e l m e e r r a u m nach N o r d w e s t e u r o p a , die R o m quasi in die g e o g r a p h i s c h e Peripherie rücken ließ, e r m ö g l i c h t e eine eigenständige E n t w i c k l u n g des Papsttums. „Die . p r o d u k t i v e T r e n n u n g ' z w i s c h e n weltlicher und geistlicher Macht, die f ü r die E n t w i c k l u n g E u r o p a s so wichtig wurde, hat in dieser r ä u m l i c h e n Konstellation eine entscheidende Voraussetzung."" Generell n a h m im hohen Mittelalter die g e o g r a p h i s c h e Mobilität verschiedener G r u p pen signifikant zu. N e b e n den schon e r w ä h n t e n F e r n w a l l f a h r t e n betrifft dies e t w a die Karrieremöglichkeiten in der höfischen V e r w a l t u n g - man d e n k e z.B. an die E n g l ä n d e r in der Kanzlei und H o f k a p e l l e R o g e r s II. in Palermo 3 * den Fernhandel, den A u s b a u des S t ä d t e w e s e n s oder das Rittertum, d e m Robert Bartlett in seinem Buch „The M a k i n g of E u r o p e " (dt.: „Die G e b u r t E u r o p a s aus d e m Geist der G e w a l t " ) die ..Europäisierung E u r o p a s " in den Jahren z w i s c h e n 9 5 0 und 1350 zuschrieb. 3 " Nicht vergessen darf m a n meines Erachtens - gerade w e g e n der Parallele im 20. Jahrhundert - auch die E x i l e r f a h r u n g , meist im G e f o l g e dynastischer Streitigkeiten. Ein b e s o n d e r s a n s c h a u l i c h e s Beispiel aus d e m 11. Jahrhundert liefert Margarete, die später als Heilige verehrte E h e f r a u des schottischen Königs M a l c o l m III.
31 FRIED. Die F o r m i e r u n g E u r o p a s (wie A n m . 7). 52. 32 BORGOI.TE. E u r o p a entdeckt seine Vielfalt (wie A n m . 4). Zitat 23. 33 Ebd.. 153. 34 Ebd.. 143. 35 SEIBT. Die B e g r ü n d u n g E u r o p a s (wie A n m . 7). 109. 36 BORGOI.TE. E u r o p a entdeckt seine Vielfalt (wie A n m . 4). 105. 37 MITTERAUER. W a r u m E u r o p a ? (wie A n m . 1). 153. 38 BORGOETE. E u r o p a entdeckt seine Vielfalt (wie A n m . 4). 113 und 204. 39 Robert BARTLETT. Die G e b u r t E u r o p a s aus d e m Geist der Gewalt. E r o b e r u n g . K o l o n i s i e r u n g und kultureller W a n d e l von 9 5 0 bis 1350. M ü n c h e n 1996. V.a. 3 2 5 - 3 5 0 . BORGOI.TE. E u r o p a entdeckt seine Vielfalt (wie A n m . 4). 2 3 7 - 2 4 2 . setzt sich a u s f ü h r l i c h mit Bartletts K e m t h e s e a u s e i n a n d e r und plädiert für gewisse Modifikationen.
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Sie stammte aus einem angelsächsischen Königshaus, wuchs als Verbannte in Ungarn auf und musste nach ihrer Heimkehr wiederum vor den normannischen Invasoren nach Schottland fliehen. Sie und ihre Söhne leiteten eine stärkere kulturelle und administrative Orientierung Schottlands an England und Kontinentaleuropa ein.40 In diesem Fall fließen mit Heiratspolitik und Fluchterfahrung gleich zwei wesentliche Momente einer Transzendierung des regionalen Horizonts zusammen. Eines ihrer Kinder benannte Margarete nach David, dem Bruder des ungarischen Königs Salomon. Dieser Sohn, der spätere König David I., übertrug die höfische Kultur nach Schottland und beschleunigte den Feudalisierungsprozess in seinem Herrschaftsbereich. 41 Dass die in den politischen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts dramatische Ausmaße annehmende Exilerfahrung direkte Auswirkungen auf die politische Einigung Europas hatte, ist bekannt - gingen doch wesentliche Impulse für diesen Prozess von Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien aus. Nicht zu leugnen, aber vor dem Hintergrund konfrontativer Theorien ä la Samuel Huntington42 für die Gegenwart nicht gerade nachahmenswert ist das Faktum, dass Äußerungen eines europäischen „Gemeinschaftsgefühls" im Mittelalter oft an die Abwehr äußerer kriegerischer Bedrohungen geknüpft waren. Die Mitte des 8. Jahrhunderts entstandene Fortsetzung der Chronik Isidors von Sevilla bezeichnet etwa die Sieger der Schlacht von Tours und Poitiers gegen die Araber 732 als Europenses, die dann in suas patrias zurückgekehrt seien43; dies zugleich der einzige bekannte Fall vor dem Aufkommen des Humanismus, wo vom Namen des Kontinents eine Personenbezeichnung abgeleitet wurde. 44 Dass auch im EU-Vertrag der Begriff „Identität" bezeichnenderweise zunächst da auftaucht, wo es um die Möglichkeit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik geht45, ist wohl mehr als eine reine Kuriosität. Angesichts der späteren kolonialen und imperialistischen Expansion Europas in andere Teile der Welt mag erstaunen, dass der Kontinent in Texten des ersten nachchristlichen Jahrtausends auffallend häufig als ein „Leidender" angesprochen wird: so schon um 400 bei Claudius Claudian, der Alarich und Gildo als die „Feinde Europas und Libyas" nennt46, oder später bei Alkuin, der einem von den Wikingern vertriebenen Bischof mit dem Hinweis auf die viel schlimmeren Zeiten zu trösten versucht, in denen Europa von Hunnen und Awaren verwüstet wurde - er sah den Kontinent also im Besitz einer (Leidens-)Geschichte, der er
40 BORGOLTE, Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4), 139. 41 Ebd. 42 Samuel P. HUNTINGTON, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. 43 Zitiert u.a. bei FISCHER, Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10), 51. 44 Basileios KARAGEORGOS, Der Begriff Europa im Hoch- und Spätmittelalter, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 48 (1992), 137-164, hier 145 und 150; vgl. FISCHER, Oriens - Occidens Europa (wie Anm. 10), 51. Eine Adjektivableitung findet sich laut FISCHER, 84 und 144 Anm. 33, im Mittelalter erstmals bei Theodulf von Orleans (Europeia regna). Zur Begriffsgeschichte vgl. auch den Aufsatz von Anna-Dorothee VAN DEN BRINCKEN, Europa in der Kartographie des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973), 289-304. 45 Vgl. Frank R. PFETSCH, Die Problematik der europäischen Identität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 25-26/98 (12. Juni 1998), 3 - 9 , hier 3. 46 FISCHER, Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10), 41.
Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer ..europäischen Identität" um 973 und 2003 sich z u g e h ö r i g f ü h l t e . 4 7 D a s M o m e n t e i n e s g e m e i n e u r o p ä i s c h e n
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Betroffenseins'· begegnet
k e i n e s w e g s n u r im Z u s a m m e n h a n g mit K r i e g e n u n d V e r h e e r u n g e n , s o n d e r n e t w a a u c h in d i v e r s e n C h r o n i k e n a n l ä s s l i c h e i n e r V i e h s e u c h e 810 4N o d e r in d e n H i l d e s h e i m e r A n n a l e n anl ä s s l i c h e i n e r H u n g e r s n o t i m J a h r e 868 4 ". In d e n zuletzt g e n a n n t e n F ä l l e n ist f r e i l i c h u n k l a r , o b mit . . E u r o p a " n a c h k a r o l i n g i s c h e m S p r a c h g e b r a u c h n u r d a s f r ä n k i s c h e R e i c h o d e r d e r ges a m t e Erdteil zu v e r s t e h e n ist. D i e K r e u z z ü g e t r u g e n ( d u r c h d i e K r e u z z u g s p r e d i g t e n a u c h weit ü b e r d e n K r e i s d e r t a t s ä c h l i c h e n T e i l n e h m e r h i n a u s ) z w e i f e l s o h n e z u r V e r b r e i t u n g e i n e s G e m e i n s c h a f t s e m p f i n d e n s in d e r l a t e i n i s c h e n C h r i s t e n h e i t bei, w e n n g l e i c h sie e r s t a u n l i c h w e n i g b e g r i f f s g e s c h i c h t l i c h e W i r k u n g e n h i n t e r l i e ß e n . D i e K r e u z f a h r e r figurierten z w a r , nicht n u r in d e r F r e m d b e z e i c h n u n g d u r c h B y z a n t i n e r u n d A r a b e r , ü b e r w i e g e n d pars pro toto als „ F r a n k e n " . M l D e n n o c h f o r m u liert d e r e n g l i s c h e H i s t o r i k e r S i m o n L l o y d - g e n a u e r g e s a g t sein d e u t s c h e r Ü b e r s e t z e r
die
K r e u z z ü g e „ f ö r d e r t e n d i e E r k e n n t n i s , d a s s alle E u r o p ä e r e i n e g e m e i n s a m e Identität h a b e n " / 1 D a s galt nicht n u r f ü r d i e K r i e g s z ü g e ins H e i l i g e L a n d selbst, s o n d e r n a u c h f ü r die a u f d e r I b e r i s c h e n H a l b i n s e l . S o w e r d e n b e i s p i e l s w e i s e unter d e n K r e u z f a h r e r n , die K ö n i g S a n c h o I. v o n P o r t u g a l 1189 bei d e r E r o b e r u n g d e r A l g a r v e u n t e r s t ü t z t e n , a u s d r ü c k l i c h d ä n i s c h e Teiln e h m e r erwähnt.''- D a s h ä s s l i c h e G e s i c h t d i e s e s . . I d e n t i t ä t s f a k t o r s " - v o n d e n r h e i n i s c h e n J u d e n p o g r o m e n 1096 ü b e r d i e g e t ö t e t e n B e w o h n e r d e r e r o b e r t e n S t ä d t e zu d e n K r i e g s z ü g e n g e g e n H ä r e t i k e r , u n b o t m ä ß i g e B a u e r n o d e r d a s O s t r ö m i s c h e R e i c h - b r a u c h t hier nicht n ä h e r g e z e i c h n e t zu w e r d e n . U n g l e i c h a n k n ü p f u n g s f ä h i g e r e r s c h e i n t a u s h e u t i g e r Sicht die T a t s a c h e , d a s s a u c h B i l d u n g ( ü b e r die f a k t i s c h e W i r k u n g h i n a u s ) im M i t t e l a l t e r o f f e n b a r als . . g e m e i n e u r o p ä i s c h e s " b z w . E u r o p a z u s a m m e n b i n d e n d e s G u t e m p f u n d e n w e r d e n k o n n t e . In d e r zu B e g i n n d e s 11. J a h r h u n d e r t s e n t s t a n d e n e n „ V i t a F r i d o l i n i " w u r d e b e i s p i e l s w e i s e S a n k t G a l l e n als Jons pientiae,
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provincias
derivatus
...
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b e z e i c h n e t . ' ' W a r u m ein a n s o n s t e n
s o l i d e s B u c h wie J ü r g e n F i s c h e r s e r w ä h n t e S t u d i e in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g v o n e i n e m „ A b s i n k e n " d e s E u r o p a b e g r i f f s spricht 5 4 , a l s o B i l d u n g o f f e n k u n d i g „ n i e d r i g e r " v e r o r t e t als p o l i t i s c h e M a c h t , v e r m a g ich nicht zu s a g e n . Paris a v a n c i e r t e im 12. J a h r h u n d e r t z u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n H a u p t s t a d t E u r o p a s u n d z o g S t u d e n t e n d e s g a n z e n K o n t i n e n t s an. A n f a n g
47 LEYSER. Concepts of Europe (wie Anm. 9). 33. 48 FISCHER. Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10). 81. 49 Ebd.. 94. 50 BORGOI.IE. Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4). 12. 51 Simon LLOYD. Die Kreuzzugsbewegung 1096 bis 1274. in: Jonathan RILKY-SMITH (Hg.). Illustrierte Geschichte der Kreuzzüge, übers von Christian Rochow. Frankfurt am Main 1999. 4 6 - 8 2 . Zitat 81. BORGOLTF.. Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4). 226. zitiert diese Passage ohne genaue Titel- und Seitenangabe. Das englische Original enthält an dieser Stelle freilich den Ausdruck westerners: Simon LLOYD. The Crusading Movement. 1096-1274. in: Jonathan RILHY-SMITH (Hg.). The Oxford Illustrated History of the Crusades. Oxford 1995. 3 4 - 6 5 . hier 64. MITTERAUER. Warum Europa? (wie Anm. 1). 161. nennt Kreu/.zugspredigt und Kreuzzugszehnt ..Faktoren der Integration und der Penetration innerhalb des von den Päpsten erfassten Großraums". 52 BORGOLTE. Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4). 155. 53 Zitiert nach FISCHER. Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10). 113. 54 Ebd.
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des 13. Jahrhunderts gab es dort sogar ein besonderes Studienprogramm für Griechen. 55 Ludolf von Kroppenstedt, der spätere Erzbischof von Magdeburg 1192-1205, studierte in Paris zeitgleich mit Thomas Becket und einem Ungarn namens Lucas, der später Erzbischof von Gran (Esztergom) wurde und dort sehr früh den Becketkult etablierte. 56 Auch die Musik konnte schon im späten 12. Jahrhundert quasi völkerverbindend sein, wenn König Bela III. von Ungarn einen Landsmann zum „Erlernen der Singweise" nach Paris schickte.57 Die spezifisch europäische Institution der um 1200 zuerst in Bologna, Paris und Oxford entstehenden Universitäten zeitigte eine dauerhafte Wirkung. Die sich in ihrer Autonomie als selbstbehauptungsfähig erweisenden Universitäten bildeten im Bereich gesellschaftlicher Definitionsmacht eine „dritte Kraft" neben geistlicher und weltlicher Autorität (wiewohl natürlich nicht von ihnen unbeeinflusst), in dieser Hinsicht strukturanalog zur späteren Öffentlichkeit. Eine geistig-politische „Bewegung", die zwar keine kontinentalen, aber doch immerhin mehrere Länder übergreifende Dimensionen gewann, war die zweite Welle der sog. Gottesfriedensbewegung, die von Burgund 1020-1040 bis nach Flandern, Katalonien und Italien ausstrahlte. 58 Selbstverständlich wäre es allzu weit hergeholt, hier eine wirkliche Parallele zur Friedensbewegung der letzten Jahrzehnte zu ziehen, war doch selbst das allgemeine Fehde- und Tötungsverbot der treuga dei auf die Christenheit beschränkt, und trug worauf etwa Michael Mitterauer hinweist 5 ' - durchaus zu einer Militarisierung der Kirche bei, die das Fehdeverbot mit gewaltsamen Mitteln durchzusetzen versuchte, von der Koppelung an die Kreuzzugsbewegung 60 einmal ganz abgesehen. Dennoch haben die so unterschiedlichen „Friedensbewegungen" des Mittelalters und der Gegenwart immerhin eine strukturelle Gemeinsamkeit: die potentiell gemeinschaftsstiftende Wirkung des Bestrebens, als schädlich erkannte physische Gewalt einzudämmen. Die aufsehenerregende Geste Heinrichs III., der sich unter dem Einfluss der Gottesfriedensidee nach seinen Ungarnkriegen 1043/44 Buße auferlegte und seine Feinde um Verzeihung bat, mag bei allen Unterschieden an ähnlich spektakuläre Gesten im 20. Jahrhundert denken lassen - wenngleich Willy Brandt in Warschau oder Mitterrand und Kohl in Verdun über den Schatten nicht ihrer eigenen Taten, sondern des Handelns ihrer Nationen in der jüngeren Vergangenheit sprangen. Was die Zukunft der Europäischen Union betrifft, darf man gespannt sein, ob die Prognose des ehemaligen französischen Finanz- und Wirtschaftsministers Dominique StraussKahn sich bewahrheiten wird. Strauss-Kahn meinte in einem Artikel in „Le Monde", am 11. März 2003 in der „Frankfurter Rundschau" abgedruckt, die europaweiten Demonstrationen gegen den Irakkrieg hätten die „Einheit des alten Kontinents" gezeigt. Er schreibt gar: „Am Samstag, dem 15. Februar 2003, ist auf der Straße eine Nation geboren. Diese neue Nation ist die europäische Nation." 61 Die Geburt sei von den Kommentatoren fast unbemerkt
55 BORGOLTE, Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4), 283. 56 Ebd., 284. 57 Ebd. 58 Zur Gottesfriedensbewegung siehe u.a. Hartmut HOFFMANN, Gottesfriede und Treuga Dei. Schriften der Monumenta Germaniae Historica 20, Stuttgart 1964. 59 MITTERAUER, Warum Europa? (wie Anm. 1), 215. 60 Siehe dazu u.a. Franco CARDINI, Europa und der Islam. Geschichte eines Mißverständnisses, München 2000, 59 f. 61 http://w ww.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt= 170721.
Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer ..europäischen Identität" um 9 7 3 und 2003
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geblieben, aber wenn man sich auf die Völker und nicht auf die Regierungen fokussiere, werde man die Tragweite erkennen. Dass Strauss-Kahn in diesem Punkt wohl vorrangig die Befindlichkeit in den jetzigen EU-Mitgliedsländern im Auge hat, ist nicht zu leugnen, dennoch kann man seinen Gedankengang zumindest für diesen Teil des Kontinents nicht von vornherein als absurd abtun. Die Gefahr, dass intensivierte Zusammengehörigkeit auf der einen Seite mit spaltenden Effekten auf der anderen korreliert - etwa die kirchliche Einheil Lateineuropas mit dem Schisma von 1054 - ist dabei natürlich immer gegeben, aber durchaus nicht zwangsläufig. Ich werde darauf am Schluss noch einmal zurückkommen. Nach der Aufzählung der Kontexte, in denen die Sammelbezeichnung „Europa" in mittelalterlichen Quellen begegnet, sind wenigstens zwei Aspekte zu nennen, die sich erst langfristig als identitätsprägend erwiesen: die Kommunebildungen im 12. Jahrhundert, bisweilen auch als revolution communale bezeichnet, von denen der liberale französische Historiker Augustin Thierry schon in den 1820er Jahren eine Traditionslinie zur Französischen Revolution von 1789 zog w , und die mit der europäischen Variante des Lehnswesens verknüpfte Ständeverfassung, in der Otto Hintze 1931 die Wurzel der späteren parlamentarischen Repräsentativverfassungen sah/' 3 Ohne auf den in den Perserkriegen griechischerseits geprägten alten Topos von „europäischer Freiheit" versus „asiatischen Despotismus" zu verfallen, kann das Moment begrenzter Herrschaft (resultierend nicht zuletzt aus der schon angesprochenen Distinktion zwischen weltlicher und geistlicher Autorität) als ein auch heute weitgehend konsensfähiges Charakteristikum europäischer Gemeinwesen gelten - gelegentliche scharfe Gegenbewegungen wie im Absolutismus oder Faschismus freilich nicht ausgeschlossen. Nicht in allen Punkten hinterließ das Mittelalter der Neuzeit ein so konstruktives Erbe. Die von Robert Ian Moore für die Zeit um 1100 konstatierte Entwicklung Europas hin zu einer persecuting societyM - wobei Moore das 1184 im Kanon „Ad abolendam" vereinbarte gemeinsame Vorgehen von Papst Lucius III. und Kaiser Friedrich I. als ..the first truly European-wide measure against heretics" bezeichnet" 5 - ließ sich in den folgenden Jahrhunderten zunächst ebenso wenig wieder abschütteln wie umgekehrt die Ansätze zu Ständen und Gewaltenteilung. Die Tatsache, dass die englische Magna Charta Libertatum und die Beschlüsse des Vierten Laterankonzils zur Disziplinierung des Glaubenslebens ins selbe Jahr datieren (1215), ist bezeichnend für den widersprüchlichen Weg Europas. Europäische Tradition des Dissentierertums und Charakteristika einer „Verfolgergesellschaft" standen ebenso nebeneinander wie die kulturelle Mittlerrolle des europäischen Judentums und die Diskriminierungen oder gewalttätigen Übergriffe gegen dieselbe Minderheit.
62 BORGOI.TE. Europa entdeckt seine Vielfalt (wie A n m . 4). 65. 63 Otto HINTZE. Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, in: Historische Zeitschrift 143 (1931). 1 - 4 7 . bes. 1. 64 Robert Ian MOORE. T h e Formation of a Persecuting Society. Power and Deviance in Weslern Europe. 9 5 0 - 1 2 5 0 . Reprint O x f o r d 1994. Auf Seite 5 schreibt Moore. ..Whether we choose to see the epoch since 1100 as one of progress or decline, to step back a little further is to see that around that time Europe b e c a m e a persecuting society." - BORGOLTE. Europa entdeckt seine Vielfalt (wie A n m . 4). 273. 347, 353. 4 0 4 spricht fälschlich von „ R o g e r I. M o o r e " . 65 MOORE. The Formation of a Persecuting Society (wie A n m . 64). 8.
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Aus der Perspektive von Historikern, Sozialwissenschaftlern und Philosophen unserer Zeit - oder auch schon des 18. Jahrhunderts - scheint weitgehend Konsens zu sein, dass die Anerkennung und Wertschätzung der „Einheit in der Vielfalt" einen wesentlichen Aspekt europäischer Identität ausmacht und ausmachen muss. Edgar Morin meint in seinem 1987 erschienenen Buch „Penser l'Europe", Europa zu denken bedeute, es als einen Komplex anzuerkennen, „der die größten Unterschiede in sich vereinigt, ohne sie zu vermengen". 66 „Das Wichtige an der europäischen Kultur" seien nicht nur ihre Schlüsselideen, sondern zugleich „die Tatsache, daß alle diese Ideen auch Gegensätze haben". 67 Der Topos, dass Europas Identität in seiner Nicht-Identität besteht, findet sich ebenso in Norman Davies' Gesamtdarstellung der europäischen Geschichte 199668 oder in Wolf Lepenies' Budapester Vortrag „Die Übersetzbarkeit der Kulturen. Ein europäisches Problem, eine Chance für Europa" von I99269, bei Diderot ebenso wie bei Gadamer oder dem niederländischen Schriftsteller Cees Noteboom 70 , um nur stellvertretend einige wenige zu nennen. Die feministische Theoretikerin Rosi Braidotti meint, Europäerin zu sein bedeute für sie, sich in die historischen Widersprüche der europäischen Identität zu stellen und „the political need to turn them into spaces of critical resistance to hegemonic identities of all kinds" zu empfinden. 71 Völlig unbekannt war die ausdrückliche Anerkennung der europäischen Völkervielfalt und Heterogenität auch im Mittelalter nicht: Der Dichter des „Waltharius", entstanden im frühen 10. Jahrhundert im Kloster Sankt Gallen, sah Europa durch die Koexistenz mancherlei Völker charakterisiert, die moribus ac Unguis varias ... cultu tum relligione72 verschieden seien, und der Kirchenchronist Adam von Bremen bezeichnet mit Jumne (Vineta, Wollin) an der Odermündung ausgerechnet eine überwiegend von heidnischen Slaven bewohnte Stadt als die „größte Stadt Europas". 73 Diese Dialektik einer „europäischen Identität" sollte man bei der Frage, wie das Zusammenwachsen der Europäischen Union auf der Ebene der Mentalität ihrer Bürger untermauert werden kann, immer mitbedenken. Gewiss gibt es zahlreiche Bedingungsfaktoren, die auf der Hand liegen: sie Einbindung von Peripherien oder bislang nicht integrierten Ländern in einen als avanciert empfundenen Wirtschaftsraum; eine möglichst ausgewogene Mischung aus Momenten der Homogenität (heute etwa: demokratische Staatsordnungen und funktio-
66 Edgar MORIN, Europa denken, Frankfurt am Main 1988, 27. 67 Ebd., 128. 68 Norman DAVIES, Europe. A History, Oxford 1996, 16 und passim. 69 Wolf LEPENIES, Die Übersetzbarkeit der Kulturen. Ein europäisches Problem, eine Chance für Europa. Delivered at the Opening Ceremony of Collegium Budapest, 15 December 1992. Collegium Budapest/Institute for Advanced Study, Public Lectures no. 1, Budapest 1993, 19. 70 Siehe dazu Luisa PASSERINI, From the Ironies of Identity to the Identities of Irony, in: Anthony PAGDEN (Hg.), The Idea of Europe. From Antiquity to the European Union, Cambridge 2002, 191-208, hier 198. 71 Rosi BRAIDOTTI, Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York 1994, 8, zitiert nach: PASSERINI, From the Ironies of Identity (wie Anm. 70), 207. 72 Zitiert nach FISCHER, Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10), 150 Anm. 209. 73 KARAGEORGOS, Der Begriff Europa (wie Anm. 44), 138; FISCHER, Oriens - Occidens - Europa (wie Anm. 10), 114; BORGOLTE, Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 4), 12; LEYSER, Concepts of Europe (wie Anm. 9), 46.
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nierende Zivilgesellschaften) einerseits und dem Zulassen von Heterogenitäten andererseits: die Notwendigkeit einigender Symbole - wie die Heiligengestalten und Wallfahrtsorte des Mittelalters, so nun vielleicht die Europahymne, die Erkennungsmelodie der Eurovision oder die Europafahne mit dem Sternenkranz.^ Optimistisch stimmt in dieser Hinsicht die Tatsache, dass die Europafahne zunehmend auch von Bürgerinnen und Bürgern in nicht-staatlichen, nicht-offiziellen Zusammenhängen genutzt wird, wie 2000 bei den Protesten gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich oder jüngst bei den Kundgebungen zum Irakkrieg und den Protesten der Zyprioten gegen die Spaltung ihrer Insel. Eine wichtige Rolle spielen könnten auch europäische lieuxde memoire'-. Als solche Erinnerungsorte würden sich z.B. gerade etwa Quedlinburg oder Gnesen (Gniezno) hervorragend anbieten. Dass die Anerkennung der Gleichrangigkeit aller Mitgliedstaaten unverzichtbare Vorbedingung ist. um in allen Ländern eine Identifikation mit „Europa" zu stärken, ist ebenfalls klar. Die Ereignisse von Quedlinburg 973 und von Gnesen knapp drei Jahrzehnte später könn ten den Bürgerinnen und Bürgern in den ..alten" Mitgliedsstaaten vor Augen führen, dass das Hinzukommen der ost- und ostmitteleuropäischen Staaten eine Bereicherung für ganz Europa bedeuten wird, analog zum Mittelalter. Also: kein kleinliches Aufrechnen der kurz- und mittelfristigen Kosten, sondern ein Bewusstsein der langfristigen Stärkung. Die Funktionsträger in Brüssel können aus der mittelalterlichen Parallele lernen, dass ein Gleichgewicht zwischen gemeinsamen Werten und funktionsfähigen Zentralinstanzen einerseits, nationaler bzw. einzelstaatlicher Eigenverantwortung und Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten in den Beitrittsländern andererseits die solideste Basis für ein Zusammenwachsen darstellt. Die Bürgerinnen und Bürger in den Beitrittsländern können aus der mittelalterlichen Parallele sehen, dass Integration keine „Einbahnstraße" darstellt und sie selbst keinesfalls mit leeren Händen ins vereinigte Europa kommen - man nehme Ungarn und die Jerusalempilger im 11. Jahrhundert. Wichtig wäre freilich auch, dass das europäische Zusammenwachsen den Blick in die außereuropäische Welt nicht einschränkt, dass keine „Festung Europa" (sei es konkret oder mental) hochgezogen wird. Auch in diesem Punkt könnte das Mittelalter zeigen, dass Identität und Offenheit keine Gegensätze darstellen, sondern sich zueinander komplementär verhalten. Die niederländische Wissenschaftlerin Krijnie N. Ciggaar hebt in ihrem 1996 erschienenen Buch „Western Travellers to Constantinople" hervor: ..Western Europe was original in its willingness to accept foreign elements and foreign ideas. By its consciousness of its own identity it could open its frontiers to foreign influences [...]". ''
74 Zur Institutionalisierung dieser Symbole bis Ende der 1980er Jahre siehe Markus GÖI.DM:R. Politische Symbole der europäischen Integration. Rechtshistorische Reihe 62. Frankfurt am Main 1988. 75 Zu diesem Thema veranstaltete z.B. das Institut für Europäische Geschichte Mainz im März 2000 eine Tagung in Loveno di Menaggio (Italien). Besonders bedenkenswert erscheint mir die Anregung des Pariser Historikers Etienne FRANCOIS, der jüngst in einem Vortrag auf dem Maurice-HalbwachsSymposium der Universität Göttingen (..Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis"'. 4. 7. 2003) auch und gerade für die Nutzung ..geteilter" Erinnerungsorte wie Straßburg. Versailles oder Tannenberg/ Grunwald plädierte, d.h. Erinnerungsorte, bei denen über die Thematisierung unterschiedlicher, oft gegensätzlicher nationaler Perzeptionen eine Verschränkung zwischen nationaler und gesamteuropäischer Dimension hergestellt werden kann. 76 Krijnie N. CIGGAAR. Western Travellers to Constantinople. The West and Byzantium. 962-1204: Cultural and Political Relations. Leiden 1996. 354. Auf der Grundlage dieses Bewusstseins, so Ciggaar ebendort. habe Westeuropa auch von der ..Byzantine fount of life and learning" profitieren können.
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Ein letzter Punkt noch: Einen möglichen Ansatzpunkt für eine vertiefte „europäische Identität" sehe ich (gerade angesichts der Genese der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg) im Selbstverständnis Europas als ein „Kontinent, der aus seinen Fehlern lernt". Die Bedeutung des Lernens, auch des Fehler-Machens und Fehler-Gemacht-Habens, für die individuelle Sozialisation und Identitätsbildung bei Kindern und Jugendlichen ist bekannt. Dasselbe Phänomen könnte also auch für kollektive Identitäten fruchtbar zu machen sein. Eine ansatzweise ähnliche Idee findet sich (in Anlehnung an Max Weber) bei Winfried Schulze, der das „Reaktionsmodell [...] von ,challenge' und ,response',, als Charakteristikum der europäischen Geschichte bezeichnet 77 . Bei ihm allerdings eher zweckrational bzw. einfach als faktisches Verhaltensmuster gedacht, noch nicht als bewusster Identifikationsfokus. Identität stiftet, um ein Wort John Stuart Mills aufzugreifen, die gemeinsame Erinnerung an „kollektive Gefühle des Stolzes und der Scham". 78 „Fehler", oft genug mit mörderischen oder zumindest beklagenswerten Konsequenzen, hat es in der europäischen Geschichte reichlich gegeben, aber immer wieder auch Korrekturen 79 : Die Aufgipfelung der homogenisierenden persecuting society in den Konfessionskriegen brachte letztlich Toleranzedikte wie das Edikt von Nantes hervor; die im Mittelalter allzu unangefochtene Dominanz der kirchlichen Hierarchie und Dogmatik trug zur Durchsetzungskraft der europäischen Aufklärung bei; die Auswüchse des Absolutismus bildeten das Ferment für die Ausbreitung der Idee der Volkssouveränität·, der chauvinistisch übersteigerte Nationalismus und die Weltkriege brachten letztlich den europäischen Einigungsprozess auf den Weg und führen dazu, dass die meisten europäischen Staaten heute auf der Rolle der UNO in der Weltpolitik insistieren. Und hier wären wir wieder bei dem zitierten Zeitungsartikel von Dominique Strauss-Kahn: Dass das von Donald Rumsfeld so genannte „alte Europa" aus seinen Fehlern im 20. Jahrhundert - oder, um präziser zu sein, zum größten Teil den deutschen Fehlern im 20. Jahrhundert - gelernt hat, tunlichst keine völkerrechtswidrigen Angriffskriege mehr führen zu wollen, ist zweifellos ein geeigneter Mosaikstein für eine wachsende europäische Identität. Wenn wir darauf achten, die aus den gleichen Erfahrungen, aber anderen Erfahrungsperspektiven erwachsenen konfligierenden Interessenlagen von Beitrittsländern wie Polen oder den baltischen Staaten nicht einfach arrogant „abzubügeln", sondern sie in einer gemeinsamen Meinungsbildung mit den von uns gezogenen Schlussfolgerungen zu integrieren, könnte gegen den äußeren Anschein aus den Ereignissen der letzten Monate tatsächlich ein Schub für die innere Einheit Europas erwachsen.
77 Winfried SCHULZE, Was war, was bleibt, was wird. Geschichte Europas - Europäisches in der Geschichte, in: Wege nach Europa. Spuren und Pläne. Friedrich Jahresheft 9 (1991), 26-28, hier 27. 78 Zitiert nach PFETSCH, Die Problematik der europäischen Identität (wie Anm. 45), 8. 79 Zur Klarstellung sei hier (wie schon in der Diskussion des Quedlinburger Vortrags) noch einmal betont: Die teleologische Vorstellung einer „Erfolgsgeschichte", bei der historische Fehlentwicklungen früher oder später zwangsläufig korrigiert würden, liegt mir fern. Gemeint ist vielmehr, dass diejenigen Fälle, in denen eine solche Wendung erfolgt ist - immer durch eine konkrete Anstrengung von konkreten Gruppen und Individuen, die jedes Mal auch hätte ausbleiben können - , zur realitätsbezogenen Fundierung eines europäischen Gemeinschaftsbewusstseins einen nachhaltigeren Beitrag leisten könnten als vieles andere.
Die Bedeutung „europäischer Öffentlichkeit" für die transnationale Kommunikation religiöser Minderheiten im 18. Jahrhundert Martin Schulze Wessel
M i l a n K u n d e r a b e r i c h t e t in s e i n e m 1 9 8 6 v e r ö f f e n t l i c h t e n E s s a y „ T h e T r a g e d y of C e n t r a l E u r o p e " v o n e i n e r E p i s o d e a u s d e m u n g a r i s c h e n A u f s t a n d d e s J a h r e s 1956. D e r D i r e k t o r der ungarischen Nachrichtenagentur habe aus seinem Büro, das unter Beschuss sowjetischer P a n z e r g e l e g e n hätte, d i e N a c h r i c h t an d i e w e s t l i c h e n A g e n t u r e n a b g e s e t z t : ..Wir s t e r b e n f ü r Ungarn und E u r o p a . " E u r o p a w a r hier d e r A d r e s s a t e i n e s A p p e l l s . D a b e i h a n d e l t e es sich nicht -
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Q u e d l i n b u r g 9 7 3 - u m e i n e K o n t a k t a u f n a h m e mit d e r Politik, s o n d e r n mit e i n e r e u r o p ä i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t . E u r o p a f u n g i e r t e in d e m A p p e l l nicht n u r als A d r e s s a t , s o n d e r n a u c h als W e r t , f ü r d e n es sich zu s t e r b e n l o h n t e . M i l a n K u n d e r a sah in d i e s e r H i n w e n d u n g n a c h W e s t e u r o p a ein t r a g i s c h e s M i s s v e r s t ä n d n i s : D e m A d r e s s a t e n , d e m W e s t e u r o p a in d e r Zeit d e s S y s t e m g e g e n s a t z e s , sei d i e k u l t u r e l l e D i m e n s i o n a b h a n d e n g e k o m m e n , in d e r M i t t e l e u r o p a - O s t m i t t e l e u r o p a w ü r d e n w i r h e u t e s a g e n - seine Identität verteidigte. 1 Heute
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Ö f f e n t l i c h k e i t " mit S k e p s i s zu b e t r a c h t e n als 1956 o d e r 1986. D e n n o c h t a u c h t d e r B e g r i f f in d e r p o l i t i s c h e n S p r a c h e i m m e r w i e d e r a u f . A u f d e m G i p f e l p u n k t d e s B o s n i e n k r i e g s sah J a n R o s s in d e r F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e n Z e i t u n g e i n e e u r o p ä i s c h e r Ö f f e n t l i c h k e i t in d e r m o r a l i s c h e n E r s c h ü t t e r u n g ü b e r d a s V e r s a g e n d e r e u r o p ä i s c h e n Politik e n t s t e h e n . 2 In derselben Zeitung erkannten Jürgen H a b e r m a s und Jaques Derrida 2003 den Gründungsmomeni: e i n e r e u r o p ä i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t in d e r E m p ö r u n g e u r o p ä i s c h e r D e m o n s t r a n t e n ü b e r d i e a m e r i k a n i s c h e I r a k p o l i t i k u n d d a s V e r s a g e n d e r e u r o p ä i s c h e n D i p l o m a t i e . ' Die k o l l e k t i v e n W e r t u r t e i l e s c h i e n e n in e i n e r e u r o p ä i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t v o r ü b e r g e h e n d t a t s ä c h l i c h j e n e beh e r r s c h e n d e R o l l e zu s p i e l e n , d i e m a n sonst n u r im n a t i o n a l e n B e z u g s r a h m e n k e n n t . O b e i n e europäische Öffentlichkeit aber tatsächlich eine auch nur zeitweise w i r k s a m e Kraft gegen die g e r a d e in d e r I r a k f r a g e zu T a g e t r e t e n d e p o l i t i s c h e E n t z w e i u n g d e r e u r o p ä i s c h e n D i p l o m a t i e darstellte, m u s s d a h i n g e s t e l l t b l e i b e n .
1 Milan KUNDERA. The Tragedy of Central Europe, in: The New York Book Review. 26. 4. 1986. 33-38. Die Dokumentation der daran anschließenenden Diskussion siehe in: Erhard BUSEK und Gerhard WILFINGF.R (Hg.). Aufbruch nach Mitteleuropa. Wien 1986: George SCHÖPFI.IN und Nancy WOOD (Hg.). In Search of Central Europe. Cambridge 1989. Siehe auch den Zeitschriftenband Daedalus I 19 (1990). 2 Jan Ross. Europas Selbstverachtung. Bilder aus Sonstwoland: Bosnien und die Moral, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20. 7. 1995. 3 Jaques DERRIDA und Jürgen HABERMAS. Die Erneuerung Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 31.5. 2003.
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Die jüngste politische Entwicklung scheint eher der politologischen Diskussion Recht zu geben, die die Möglichkeit der Entstehung eines Kommunikationsraums Europa skeptisch betrachtet. Dabei betont einer der führenden Vertreter in dieser Diskussion, Peter Glotz, zugleich die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit. Nur sie verbürge die Legitimität des politischen Handelns der Europäischen Union. Das Gelingen der politischen Integration sieht Glotz an das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit gebunden. Andere Politologen und Soziologen betonen dagegen, dass eine europäische Öffentlichkeit nicht nach dem Vorbild der im 18./19. Jahrhundert entstandenen nationalen Öffentlichkeiten in Europa konzipiert werden könne. 4 Nimmt man diese Öffentlichkeiten mit ihrem relativ hohen - wenn auch auf die männliche gebildete Bevölkerung beschränkten - Integrationspotential zum Maßstab, so kann eine europäische Öffentlichkeit in der Tat nur defizitär beschrieben werden. Die Mediennetze und Aufmerksamkeitsstrukturen in Europa sind - ungeachtet des erreichten hohen Grads an politischer Integration - weiterhin national strukturiert, und es gibt wenige Anzeichen dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Dennoch erübrigt sich die Frage nach europäischer Öffentlichkeit nicht. Es lohnt sich, auch nach den medialen und politischen Wirkungen von Appellen zu fragen, die an eine europäische Öffentlichkeit gerichtet werden, die nicht oder nur schwach institutionell gestützt ist. Ein Beispiel dafür stellt der von Kundera zitierte ungarische Appell an eine europäische Öffentlichkeit 1956 dar. Diese Fragerichtung, die von Jörg Requate und mir erprobt wurde, geht von drei Hypothesen aus. 5 1) Wir nehmen - in einer ersten Hypothese - an, dass der appellativen Rede von einer „europäischen Öffentlichkeit", wie sie z.B. in oben zitiertem Zeitungsartikel geführt wird, zwar eine Fiktion zugrunde liegt, die jedoch von weitreichender kommunikativer Bedeutung ist und damit sehr wohl erfolgreich sein kann. Der Appell an „die europäische Öffentlichkeit" kann, so wenig diese als funktionierende Kontrollinstanz europäischer Politik existiert, transnationale Kommunikation initiieren. Dabei wirkt die normative Vorstellung von einer Öffentlichkeit als Raum einer kommunikativen Regelung von politischen Fragen mit den realen kommunikativen Zusammenhängen in Europa zusammen. 2) Von solchen Appellen machen - so die zweite Hypothese - vor allem solche Gruppen Gebrauch, die in ihren staatlichen Zusammenhängen verhältnismäßig machtlos waren und damit zumeist auch über keinen oder einen nur sehr eingeschränkten Zugang zu eigenen, nationalstaatlichen Medien verfügten. Für solche Gruppen konnte unter bestimmten Voraussetzungen die „europäische Öffentlichkeit" ein Ersatzforum bilden, um ihre spezifischen Interessen zu thematisieren. Diese Gruppen weisen ein breites Spektrum auf. Soziale Gruppen, die ihre Projekte in der Öffentlichkeit ihres Staates nicht angemessen thematisieren konnten, mochten in dem Appell an eine europäische Öffentlichkeit einen W e g zur Etablierung ihrer Themen und letztlich zur
4 Peter GLOTZ, Integration und Eigensinn. Kommunikationsraum Europa - eine Chimäre?, in: Lutz ERBRING (Hg.), Kommunikationsraum Europa, Konstanz 1995, 17-26. 5 Zum Folgenden: Jörg REQUATE und Martin SCHULZE WESSEL, Europäische Öffentlichkeit. Realität und Imagination einer appellativen Instanz, in: DIES. (Hg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, 11-42.
Die B e d e u t u n g ..europäischer Ö f f e n t l i c h k e i t " für die transnationale K o m m u n i k a t i o n
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Realisierung ihrer Projekte sehen. Die Herstellung einer europäischen Ö f f e n t l i c h k e i t hatte dabei nicht w e n i g e r einen P r o j e k t c h a r a k t e r als die Realisierung der an sie adressierten F o r d e r u n g . Für die v o r m o d e r n e Zeit lässt sich dieser Z u s a m m e n h a n g am Beispiel der H u g e n o t t e n in den Generalstaaten zeigen. Als G l a u b e n s f l ü c h t l i n g e , die f ü r ihr A n l i e g e n der T o l e r a n z in Frankreich spätestens seit der W i d e r r u f u n g des Edikts von N a n t e s (1685) keinen öffentlichen Spielraum m e h r hatten, waren sie m a ß g e b l i c h a m A u f b a u eines Z e i t u n g s w e s e n s in den Generalstaaten beteiligt, das nicht nur in seiner Verbreitung g r e n z ü b e r s c h r e i t e n d war und die Generalstaaten zu e i n e m „geistigen U m s c h l a g p l a t z E u r o p a s " m a c h t e , sondern sich auch p r o g r a m m a t i s c h e u r o p ä i s c h gab. D e r Titel der von d e m Hugenotten Pierre Bayle seit 1684 in A m s t e r d a m h e r a u s g e g e b e n e n Zeitschrift Nouvelle de la Republique de Lett res illustriert dies a m besten. 6 A u c h in der M o d e r n e ist dieser Z u s a m m e n h a n g i m m e r wieder a n z u t r e f f e n : V o n B e w e g u n g e n wie d e m Jeune Europe, das sich in Zeiten des V o r m ä r z als eine Art „liberale Internationale" verstand, bis hin zu den v e r s c h i e d e n e n Sozialistischen Internationalen ging es solchen B e w e g u n g e n i m m e r d a r u m , ihre nationale Marginalisierung durch internationalen Z u s a m m e n s c h l u s s zu k o m p e n s i e r e n . Dabei ist z w a r der Z u s a m m e n s c h l u s s nicht z w a n g s l ä u f i g mit e i n e m Appell an die europäische Ö f f e n t l i c h k e i t v e r b u n d e n , beides scheint aber nicht selten z u s a m m e n gefallen zu sein. 3) Geht m a n davon aus. dass gesellschaftliche oder politische M a r g i n a l i s i e r u n g es als attraktiv erscheinen lassen, sich an „ E u r o p a " zu w e n d e n , so liegt als dritte H y p o t h e s e nahe, dass dies auch f ü r g e o g r a p h i s c h vom e u r o p ä i s c h e n Z e n t r u m aus gesehen „ m a r g i n a l e " G r u p p i e r u n g e n galt, g a n z gleich ob es sich dabei um nationale o d e r k o n f e s s i o n e l l e G r u p p e n mit ihren spezifischen A n l i e g e n handelte, denn meist v e r f ü g t e n diese G r u p p e n w e d e r über die Möglichkeit einer wirkungsvollen internationalen V e r n e t z u n g noch über ein Projekt, das von vornherein als europäisch oder gar universal zu e r k e n n e n war. Doch hatten und haben gerade die von der Peripherie h e r k o m m e n d e n V e r s u c h e . Europa als Appellationsinstanz und K o m m u n i k a t i o n s r a u m f ü r spezifische Interessen zu nutzen, eine signifikante B e d e u t u n g f ü r die situativ g e b u n d e n e Entstehung e u r o p ä i s c h e r Ö f f e n t l i c h k e i t . Mit Hinblick auf die Frage nach einer „ k o m m u n i k a t i v e n Herstellung E u r o p a s " erscheint es lohnend, h i e r e i n e n b e s o n d e r e n S c h w e r p u n k t zu setzen. Die Entstehung e u r o p ä i s c h e r Ö f f e n t l i c h k e i t wird also nicht als ein Prozess verfolgt, der sich als k o m m u n i k a t i v e V e r d i c h t u n g im europäischen Z e n t r u m vollzieht, um sich von dort langsam in die Peripherie auszubreiten, sondern als situationsabhängiges Wechselspiel z w i s c h e n Peripherie und Z e n t r u m . Die Rolle der Peripherie f ü r die E n t s t e h u n g einer e u r o p ä i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t ist in der einflussreichen und a n r e g e n d e n Studie Larry W o l f f s ..Inventing Eastern E u r o p e " in einer sehr pointierten W e i s e beschrieben w o r d e n , von der sich unsere A u f f a s s u n g allerdings unterscheidet. W o l f f fasst O s t e u r o p a als eine Peripherie E u r o p a s auf. durch deren Erfindung und
6 H a n s BOTS und R e n e BASTIAANSH. Die H u g e n o t t e n und die niederländischen Generulstaaten. in: Rudolf von THADDEN und Michelle MAGDALAINÜ (Hg.). Die H u g e n o t t e n . M ü n c h e n 1985. 5 5 - 7 2 .
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Definition sich die westeuropäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts selbst über eine europäische Identität (in der Abgrenzung von Osteuropa) verständigten. Aus der von Larry Wolff rekonstruierten Perspektive der westeuropäischen Aufklärer ist Osteuropa ein bloßes Objekt, das kartographiert, erschlossen und erobert wurde. 7 Wolff hat gewiss mit der Auffassung Recht, dass das Zentrum-Peripherie-Problem für die Herstellung von europäischer Öffentlichkeit von grundlegender Bedeutung ist. Diese Bedeutung ist allerdings nicht in der Dichotomie eines Subjekts der westeuropäischen Aufklärung und dem Objekt der mit Osteuropa identifizierten Peripherie zu suchen, sondern in einer Interaktion zwischen Zentrum und Peripherie. Diese Peripherie hat keine festen Grenzen und ist mit dem historischen Osteuropa-Begriff, den Wolff zugrundelegt, nicht identisch. Zentrum und Peripherie bezeichnen das Gefälle von bestimmten Wahrscheinlichkeiten von Kommunikationsakten: Sehr viel wahrscheinlicher tritt der Fall ein, dass ein Pole, Serbe oder Russe in Paris die Aufmerksamkeit der dortigen Medien für ein bestimmtes Projekt seiner Herkunftsregion zu gewinnen sucht, als der umgekehrte Fall. Nur insofern kann Osteuropa - aber eben nicht nur Osteuropa, sondern auch weite Teile Südeuropas - in diesem Zusammenhang als Peripherie gelten. Umgekehrt ist auch der Empfänger des Appells nicht eindeutig geographisch bestimmbar. Meist wird er in den westeuropäischen Metropolen gesehen, in einigen Fällen reicht er aber über den eigentlich europäischen Kontext hinaus, schließt Nordamerika mit ein und tendiert zur Weltöffentlichkeit. Die geographische Unbestimmtheit der europäischen Öffentlichkeit berührt indessen nicht das strukturelle Problem, das zur Diskussion steht, nämlich die Nutzung eines mit „allgemeinen" Werten assoziierten Forums für die Verhandlung spezifischer Interessen, die kein adäquates nationalstaatliches Forum hatten. Die durch Appelle von der Peripherie initiierte transnationale Kommunikation in Europa verfügte über keine wirksame Institutionalisierung. Sie war meist an Ereignisse gebunden, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchten, seien es Revolutionen oder soziale und ethnische Konflikte. Die Möglichkeiten und Grenzen von transnationalen Appellen sollen im Folgenden an zwei Beispielen aus der Religionsgeschichte des 18. Jahrhunderts analysiert werden. Den Ausgangspunkt bilden zwei Begebenheiten, die ereignisgeschichtlich in der Historiographie meist nicht in einen Zusammenhang gestellt werden, die aber in ihren kommunikationsgeschichtlichen Weiterungen als analoge Phänomene zu konzipieren sind. Die Begebenheiten betreffen zwei religiöse Minderheiten in Polen bzw. in der Habsburgermonarchie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ihr faktischer Verlauf soll in aller Kürze geschildert werden: 1724 war es in Thorn, einer protestantisch dominierten Stadt im katholisch geprägten Königreich Polen, im Verlauf einer Beisetzungsfeier auf dem Friedhof der lutherischen Johannes-Kirche in der Thorner Neustadt zu Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und einigen Jesuiten gekommen, die die Feier angeblich verhöhnt hatten. Die Lutheraner stürmten daraufhin das Jesuitenkolleg, zerstörten das Gebäude vollständig und vernichteten dabei auch einige Anbetungsgegenstände. Die Stadtverwaltung, die sich bei dem Aufruhr pas-
7 Larry WOLFF, Inventing Eastern Europe: The Map Stanford 1994; vgl. auch Maria TODOROVA, Imagining the Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999). Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Gesellschaft 28 (2002), 493-514.
of Civilization on the Mind of the Enlightment, Balkans, New York 1997 (dt.: Die Erfindung des Siehe dazu: Frithjof Benjamin SCHENK, Mental Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und
Die B e d e u t u n g ..europäischer Ö f f e n t l i c h k e i t " f ü r die transnationale K o m m u n i k a t i o n . . .
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siv verhielt, wurde vor dem Hofgericht in Warschau angeklagt, das die beiden Bürgermeister und zwölf weitere Bürger zum Tode verurteilte. Fast alle Verurteilten wurden bald darauf hingerichtet. Der Rechtsstatus des Protestantismus in Thorn schien vorübergehend gefährdet, tatsächlich wurde er aber nach dem Urteil und den Hinrichtungen nicht eingeschränkt, sieht man davon ab, dass die lutherische Marienkirche an einen katholischen Orden übergeben und ein städtisches Gymnasium geschlossen werden musste.* Zwanzig Jahre später, am 22. Dezember 1744, wies Maria Theresia die 10.000 Juden aus der Stadt Prag aus. Offenbar unterstellte sie (fälschlich), dass einzelne Prager Juden mit ihrem Kriegsgegner Friedrich II. kollaboriert hätten. Für die meist in der Stadtnähe unterkommenden Prager Juden wie für die 30.000 Landjuden Böhmens drohte die Gefahr der Ausweisung aus dem Land, bis die Königin den Juden erst nach fast vier Jahren, im Spätsommer 1748. die Rückkehr in ihr inzwischen geplündertes, zerstörtes Ghetto gestattete.^ Fraglos sind die Ereignisse in ihrem Ereignischarakter wie auch in ihren strukturellen Voraussetzungen grundverschieden: Die böhmischen Juden waren rechtlos, der Status der Protestanten in Polen war rechtlich gesichert. Die Ausweisung der Prager Juden entsprang purer Willkür der Monarchin, während das Urteil gegen den Thorner Magistrat aufgrund eines formal nicht zu beanstandenden Gerichtsverfahren erging. Zweifellos erfordert ein umfassendes Verständnis grenzüberschreitender Kommunikation im 18. Jahrhundert eine
8 R o m u a l d FRYDRYCHOWICZ. Die V o r g ä n g e zu T h o r n im Jahre 1724. in: Zeitschrift d e s westpreußischen G e s c h i c h t s v e r e i n s 11 (1884). 6 4 - 9 8 : Stanislaw KUJOT. S p r a w a toru ska ζ r. 1724 | D e r T h o r n e r Rechtsstreit v o m J a h r e 1724], in: R o c z n i k T o w a r z y s t w a Przyjaciöl N a u k w Poznaniu 20 (1894). H e f t 8; DERS.. D o k u m e n t a o d n o s c ce sie d o s p r a w y toru skiej ζ r. 1724 [ D o k u m e n t e , den T h o r n e r Rechtsstreit von 1724 b e t r e f f e n d l . in: ebd. 21 (1895). H e f t 8: DI-:RS.. Das T h o r n e r Blutgericht. K a m m 1911: Franz JACOBI. D a s T h o r n e r Blutgericht 1724. Halle 1896: Gotthold RHODE. E n g l a n d und das T h o r n e r Blutgericht 1724. in: Historische Zeitschrift 164 (1941). 4 9 6 - 5 2 8 : W o l d e m a r GASTPARY. S p r a w a toru ska w roku 1724 [Der T h o r n e r Rechtsstreit im Jahre 1724], W a r s z a w a 1969: Hartmut SANDF.R. Das T h o r n e r Blutgericht von 1724 in zeitgenössischen niederländischen S c h r i f t e n , in: Bernhart JXHNIC; und Peter LETKEMANN (Hg.). T h o r n . Königin an der W e i c h s e l 1 2 3 1 - 1 9 8 1 . Göttingen 1981. 3 6 1 - 3 6 8 : Jerzy DYGDAEA. K o n f l i k t y s p o l e c z n o - u s t r o j o w e w T o r u n i u w latach 1 7 1 6 - 1 7 1 8 [Sozialstruktuelle Konflikte in T h o r n in den Jahren 1 7 1 6 - 1 7 1 8 ) . in: Zapiski historyczne 4 8 ( 1 9 8 3 ) . 7 1 - 1 0 4 : Stanyslaw SAEMONOWICZ. T h e Toru U p r o a r of 1724. in: A c t a P o l o n i a e Historica 4 7 ( 1 9 8 3 ) . 5 5 - 7 9 : DERS.. Podröze czeladnika ze scinawy i j e g o pobyt w T o r u n i u w 1724 roku. P r z y c z y n e k do d z i e j ö w T u m u l t u Toruiiskiego 1724 r. [Die Reisen eines H a n d w e r k s g e s e l l e n nach S c i n a w a und sein A u f e n t h a l t in T h o r n im Jahre 1724. Ein Beitrag zur G e s c h i c h t e d e s T h o m e r T u m u l t e s 1724], in: Zapiski historyczne 4 8 ( 1 9 8 3 ) . 1 7 5 - 1 8 3 : DERS.. Z y c i e luteranow torunskich w X V I I - X V I I I w. [ D a s L e b e n der T h o r n e r L u t h e r a n e r im 17. und 18. J a h r h u n d e r t | . in: O d z o d z e n i e i R e f o r m a c i j a w Polsce 34 (1989). 1 1 5 - 1 3 0 : G r z e g o r z KRÖE. Anglia w o b e c w y d a r z e n toruhskich 1724 roku [ E n g l a n d und die T h o r n e r Ereignisse des Jahres 1724]. in: Zapiski historyczne 5 6 (1991). S. 2 5 - 4 6 . 9 A l f r e d von ARNETH. Die A u s w e i s u n g der Juden aus Prag im Jahre 1744. in: Die J u d e n in Prag. Bilder ihrer t a u s e n d j ä h r i g e n G e s c h i c h t e . Prag 1927: V l a d i m i r LIPSCHER. Z w i s c h e n Kaiser. Fiskus. A d e l . Z ü n f t e n : Die J u d e n im H a b s b u r g e r r e i c h des 17. und 18. J a h r h u n d e n s . Zürich 1983: Stefan PLAGGENBORG. M a r i a T h e r e s i a und die b ö h m i s c h e n J u d e n , in: B o h e m i a 3 9 (1998). 1 - 1 6 . F ü r die transregionalen A s p e k t e des T h e m a s b e s o n d e r s wichtig: MEVORACH. Die I n t e r v e n t i o n s b e s t r e b u n g e n in E u r o p a zur V e r h i n d e r u n g der V e r t r e i b u n g der J u d e n aus B ö h m e n und M ä h r e n . 1 7 4 4 - 1 7 4 5 . in: J a h r b u c h des Instituts f ü r d e u t s c h e G e s c h i c h t e 9 (1980), 1 5 - 8 1 . Siehe dort den V e r w e i s auf die wichtigsten Editionen von Q u e l l e n , w e l c h e die e u r o p ä i s c h e n Interventionen z u g u n s t e n der P r a g e r J u d e n b e t r e f f e n .
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Zusammenschau der medialen Wirkungen beider Ereignisse, die unter der Problemstellung der Transterritorialität durchaus miteinander zu vergleichen sind. Beide Glaubensgemeinschaften erkannten, dass ihre Angelegenheit innerhalb der Grenzen ihres Staates für sie nicht vorteilhaft geregelt werden würde. Beide Gruppen dehnten ihren Handlungsrahmen über die Grenzen aus und erzielten damit einen Teilerfolg: Die Ausweisung der Juden aus Prag wurde zwar ausgesprochen, aber nach vier Jahren widerrufen, und der Status der Protestanten in Thorn wurde nach den Hinrichtungen nicht erheblich gemindert. Im Hinblick auf das Problem der Transterritorialität knüpfen sich an diesen Befund zwei Fragen: 1. Welche Kommunikationsnetze wurden von den betroffenen Gruppen aufgebaut und genutzt? 2. Welche politische Semantik nutzten die Appelle, welche Europa-Vorstellungen flössen darin ein, und auf welchen Resonanzboden trafen sie in Mittel- und Westeuropa?
1. Die Kommunikationsnetze der religiösen Minderheiten Die Thorner Protestanten und die Prager Juden bauten Kommunikationsnetze auf, um ihre Angelegenheiten in Europa zu verbreiten. Dabei ist zwischen der Verbreitung von Nachrichten durch persönliche Netzwerke und der Nachrichtenvermittlung durch das gedruckte Wort zu unterscheiden. Im Folgenden werden zunächst die persönlichen Netzwerke der Thorner Lutheraner und Prager Juden und dann ihre Verbreitungskanäle für gedruckte Medien dargestellt. a) Persönliche Netzwerke 1. Für die Thorner Lutheraner, für die Protestanten in Polen überhaupt, war grenzüberschreitende Kommunikation ein lange eingeübtes Mittel, um die eigene Stellung im Königreich Polen zu sichern. Die Thorner Lutheraner verfügten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts über gut eingespielte persönliche Kontakte nach Brandenburg. 10 Die Netzwerke zwischen Polen und Brandenburg liefen in einzelnen Personen zusammen. Eine zentrale Schaltfunktion nahm der Berliner Hofprediger Daniel Ernst Jablonski ein, seitdem er 1699 zum Senior der Großpolnischen Unität geworden war. Die Netzwerke der Thorner Protestanten waren eng mit der brandenburgischen Politik, mit dem Hof und der Diplomatie, verbunden. Der privilegierte Zugang der Thorner Protestanten zu politischen Entscheidungsträgern in Preußen war für sie ein Vorteil, aber auch eine Crux, denn ihre Anliegen konnten im Sinne fremder politischer Interessen sehr leicht umgedeutet werden. So betrieb der Berliner Gesandte in Warschau, von Schwerin, gegen die Interessen der Betroffenen zunächst eine Verschärfung des Konflikts, den er als Anlass zur Annexion Thorns durch Preußen nutzen wollte. Erst nachdem die Urteile gesprochen
10 Gotthold RHODE, Brandenburg-Preußen und die Protestanten in Polen 1640-1740, Leipzig 1941.
Die Bedeutung ..europäischer Öffentlichkeit" für die transnationale Kommunikation
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u n d v o l l s t r e c k t w a r e n , n a h m e n sich d e r G e s a n d t e u n d die p r e u ß i s c h e Politik d e r T h o r n e r A n g e l e g e n h e i t an. N u n k o n n t e es a l l e r d i n g s nur n o c h e i n g e s c h r ä n k t u m P r ä v e n t i o n (also d i e V e r h i n d e r u n g d e s U r t e i l s s p r u c h s ) g e h e n , es g i n g v o r a l l e m u m Kompensation oder Vergeltung. 2. I m P r a g e r Fall w a r e n p e r s ö n l i c h e N e t z w e r k e d a s M e d i u m s c h l e c h t h i n , d a s d i e C a u s a b e k a n n t m a c h t e u n d in d e m auf e i n e P r ä v e n t i o n - d i e V e r h i n d e r u n g e i n e r endgültigen
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b) Gedruckte Medien 1. Mit d e r Intensität d e r B r i e f k o m m u n i k a t i o n f ü r d i e C a u s a d e r P r a g e r J u d e n ist d i e D i c h t e d e r P r e s s e - V e r ö f f e n t l i c h u n g e n in d e r T h o r n e r A f f ä r e v e r g l e i c h b a r . A b g e s e h e n v o n d e r V e r t r e i b u n g d e r S a l z b u r g e r P r o t e s t a n t e n 1731 g a b es im 18. J a h r h u n d e r t kein r e l i g i o n s p o l i t i s c h e s E r e i g n i s , d a s d i e P r e s s e i n t e r n a t i o n a l in d e m M a ß e b e s c h ä f t i g t e w i e d a s Urteil g e g e n d i e T h o r n e r P r o t e s t a n t e n . E i n e p o l n i s c h e B i b l i o g r a p h i e n e n n t
1 1 Als Vermittler zwischen den Gemeinden und den Fürsten hatten die Hofjuden eine wichtige Funktion. Diese setzten sich in ihrer Funktion als Oberälteste nicht nur für die Aufrechterhaltung der rabbinischen Jurisdiktion und den Fortbestand ihrer religiösen Riten und Traditionen ein. sondern, so Selma Stern, sie ..nutzten ihr Ansehen bei den Herrschern. - oft im Widerspruch mit ihrer Rolle als Diener ihrer Fürsten - um die politische, wirtschaftliche, finanzielle und rechtliche Lage ihrer Glaubensgenossen zu verbessern." Beispiele von transregionaler, auf Ostmitteleuropa bezogener Fürsprache gab es zahlreiche: Samson Wertheimer verschaffte der ungarischen Gemeinde Eisenstadt wichtige Geleits- und Handelsprivilegien. Leffmann Behrens bewahrte durch Fürsprache die Kremser Juden vorder Ausweisung. Samuel Oppenheimer bewirkte Steuererleichterungen für die verarmte Gemeinde von Prag. Siehe Selma STERN. Der Hotjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert. ND Tübingen 2001. 180-182. 12 M E V O R A C H . I n t e r v e n t i o n s b e s t r e b u n g e n ( w i e A n m . 8 ) . 8 0 .
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165 Druckschriften in deutscher, lateinischer, polnischer, holländischer, englischer und französischer Sprache, hinzu kommen mehrere hundert Zeitungsartikel." Die meisten Schriften richteten sich offenbar an protestantische Öffentlichkeiten im Reich, in den General Staaten und England. Wie die persönlichen Netzwerke der Thorner Protestanten war auch ihre Flugschriftenpropaganda eng mit dem Berliner Hof verbunden. Der Hofprediger Daniel Jablonski verfasste sofort nach den Ereignissen eine Broschüre mit dem Titel „Das betrübte Thorn", die durch Übersetzungen und als Vorlage für andere Flugschriften die Deutung der Affäre europaweit prägte. 14 2. Für die Prager Juden waren Presseveröffentlichungen dagegen von nachrangiger Bedeutung. Zwar machten einige Juden den Versuch, auf das Schicksal der Prager Juden aufmerksam zu machen, und in der preußischen Presse erschienen einige Berichte über die Vertreibung. Doch stand die Publizität dieses Ereignisses in den Printmedien weit hinter dem Ereignis von Thorn zurück.15 Die Thorner Protestanten wie die Prager Juden verbreiteten ihre Anliegen sehr effizient über die Grenzen. Die transterritoriale Kommunikation der Thorner Lutheraner war staatlich bedingt, die der Prager Juden nicht-staatlich organisiert. Die Appelle beider ostmitteleuropäischen Gruppen richteten sich zunächst an Öffentlichkeiten im Reich. Wichtige entfernte Öffentlichkeiten in Nordwesteuropa erreichten sie über Schaltstellen in reichsdeutschen Städten oder Staaten. Beide Netzwerke waren in ihrer Kommunikation schriftlich (Brief, Zeitung), was keine formale Gemeinsamkeit war: Indem die betroffenen Gruppen sich schriftlicher Kommunikationsformen bedienten und dabei ihre Darstellungen mit der Wiedergabe von amtlichen Dokumenten (wie dem Vertreibungsdekret bzw. dem Urteilsspruch) erhärteten, polemisierten sie implizit gegen ihre katholischen Gegner, denen sie die Kommunikationsform des Gerüchts mit allen seinen pejorativen Konnotationen zuschrieben. Nur durch das Streuen von Gerüchten hätten es die Jesuiten in Polen bzw. in Wien dahin gebracht, die Herrscher in Wien und Warschau gegen die Protestanten bzw. Juden einzunehmen.
2. Politische Semantik und transterritoriale Resonanz der Appelle Auch gut verbreitete Nachrichten verbürgen nicht, dass daraus Meinungen entstehen oder gar Handlungen folgen. Wie wurden aus Botschaften Meinungen, wie wurden aus Meinungen Interventionen? „Die öffentliche Empörung ergriff auch die europäischen Höfe" - so lautet ein gängiges Interpretationsmuster in der Geschichtsschreibung, welches das Engagement der
13 Henryk BARANOWSKI, Bibliografia miasta Torunia [Bibliographie der Stadt Thorn], Warschau 1972. 14 Daniel Ernst JABLONSKI, Das betrübte Thorn, oder die Geschichte so sich zu Thorn von d. Juli 1724 bis auf gegenwärtige Zeit zugetragen, Berlin 1725. Für die Nachrichtenverbreitung von Bedeutung war auch die Schrift: Michael M. LILIENTHAL, Der Thornischen Tragödie Erster, Zweyter, Dritter Actus, in: Erleutertes Preussen 1725/26. Vgl. dazu: SALMONOWICZ, The Toruh Uproar (wie Anm. 7), 73. 15 M E V O R A C H , I n t e r v e n t i o n s b e s t r e b u n g e n ( w i e A n m . 8 ) , 2 2 .
Die B e d e u t u n g „ e u r o p ä i s c h e r Ö f f e n t l i c h k e i t " f ü r die transnationale K o m m u n i k a t i o n ...
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europäischen Politik in der T h o r n e r A f f ä r e zu erklären versucht. 1 6 D a s ist nur teilweise richtig. O f f e n b a r entstanden mit den P r e s s e v e r ö f f e n t l i c h u n g e n tatsächlich ö f f e n t l i c h e M e i n u n g e n , w a s man nicht selbstverständlich voraussetzen darf, aber die hohe Zahl von Leserbriefen, vor allem in englischen Z e i t u n g e n , deutet darauf hin.' 7 Die g r e n z ü b e r g r e i f e n d hergestellten ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g e n verlangten nach g r e n z ü b e r s c h r e i t e n d e m politischen H a n d e l n . Sie e n t w a r f e n d a f ü r einen E r w a r t u n g s h o r i z o n t , der die Intervention als Prävention größeren U n g l ü c k s erscheinen ließ: G r i f f e n die protestantischen M ä c h t e nicht ein. so ein häufiges A r g u m e n t , sei die Stellung des Protestantismus nicht nur in Thorn, sondern in Polen, vielleicht in E u r o p a bedroht. Dass sich e u r o p ä i s c h e H ö f e in L o n d o n . D e n H a a g und K o p e n h a g e n sehr bald intensiv f ü r die T h o r n e r A f f ä r e zu interessieren b e g a n n e n , war aber p r i m ä r nicht auf ö f f e n t l i c h e M e i n u n g e n , s o n d e r n auf die d i p l o m a t i s c h e Initiative der Berliner Politik z u r ü c k z u f ü h r e n , die j a auch in der N a c h r i c h t e n w e i t e r g a b e eine e n t s c h e i d e n d e Rolle spielte. Politisches Interesse - und nicht d e r Druck ö f f e n t l i c h e r M e i n u n g - stand also am A n f a n g des e u r o p ä i s c h e n staatlichen E n g a g e m e n t s in der T h o r n e r Frage. G l e i c h w o h l war die Politik doch intensiv auf Ö f f e n t l i c h k e i t e n bezogen, u m die Legitimität ihres eigenen H a n d e l n s herzustellen. A m Beispiel der englischen und auch der preußischen Politik lässt sich das zeigen. Die englischen Flugschriften zeichneten sich dadurch aus. dass sie eine in der Zeit leicht a b z u r u f e n d e antijesuitische S t i m m u n g herstellten. Der Feuilletonist des L o n d o n Journal. Britannicus. b r a n d m a r k t e den Jesuitenorden als Hort der Intoleranz und des Bösen schlechthin, den Jesuiten w u r d e die alleinige Schuld f ü r die Ereignisse in Thorn g e g e b e n . I s Mit dieser ö f f e n t l i c h e n S t i m m u n g in der T h o r n e r F r a g e setzte sich die englische Politik wirkungsvoll in B e z i e h u n g . O h n e eigene Interessen in Polen, entsandte sie einen ihrer f ü h r e n d e n D i p l o m a t e n . E d v a r d Finch, als S o n d e r b o t s c h a f t e r zunächst nach R e g e n s b u r g , dann nach W a r s c h a u , um den offiziellen englischen S t a n d p u n k t dort darzulegen. Diese d i p l o m a t i s c h e Mission hatte einen scharf akzentuierten B e z u g zur englischen und internationalen protestantischen Öffentlichkeit. Finch hielt vor den e v a n g e l i s c h e n G e s a n d t e n des R e i c h s t a g s in R e g e n s b u r g eine Rede, die sofort in die F l u g s c h r i f t e n p r o p a g a n d a einging. D a n a c h handelte die englische R e g i e r u n g nicht nur „zur U n t e r s t ü t z u n g der Verfolgten in Thorn und f ü r die R u h e und den Frieden in E u r o p a " , sondern ausdrücklich auch im E i n k l a n g mit der ..höchsten E r r e g u n g der englischen Nation über das blutige, u n g e r e c h t e und p r ä z e d e n z l o s e Urteil gegen die Stadt T h o r n . " Die L o n d o n e r R e g i e r u n g w e r d e Schritte ergreifen, kündigte Finch an. ..um den Geist der g a n z e n englischen Nation z u f r i e d e n z u s t e l l e n , die mit e i n m ü t i g e r S t i m m e nach Gerechtigkeit o d e r V e r g e l t u n g verlangt.
16 In d i e s e m Sinne v o r allem RHODE. B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n (wie A n m . 9). 17
K R O L . A n g l i a ( w i e A n m . 7 ) . 3 2 f.
18 Ebd.. 33. Z u m B e g r i f f der T o l e r a n z b z w . Intoleranz siehe: Friedrich HEER. Die dritte Kraft. D e r e u r o p ä i s c h e H u m a n i s m u s z w i s c h e n den Fronten d e s k o n f e s s i o n e l l e n Zeitalters. F r a n k f u r t
1959:
H e n r y KAMEN. Intoleranz und T o l e r a n z z w i s c h e n R e f o r m a t i o n und A u f k l ä r u n g . M ü n c h e n 1967: Heinz DUCHHARDT und G e r h a r d MAY (Hg.). U n i o n - K o n v e r s i o n - T o l e r a n z . D i m e n s i o n e n der A n n ä h e r u n g z w i s c h e n den christlichen K o n f e s s i o n e n im 17. und 18. J a h r h u n d e r t . M a i n z 2000. 19
KROL.. A n g l i a ( w i e A n m . 7 ) . 3 4 - 4 5 : R H O D E . E n g l a n d ( w i e A n m . 9 ) .
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Martin Schulze Wessel
Mourirpour Thorn ? Die Appelle der Thorner Protestanten führten zu Interventionsrhetorik, nicht zu Interventionen. Die Thorner Frage war ein Katalysator für neue außenpolitische Konstellationen, für Englands Bündnis mit Preußen, das sich ausdrücklich auf Thorn bezog. 20 Innenpolitisch bot sie speziell der englischen Politik die Möglichkeit, ihre Legitimität in einem antikatholischen Konsens mit der politischen Nation neu herzustellen. 21 Derselbe Befund ergibt sich für die preußische Politik: Auch der preußische Absolutismus heischte nach öffentlicher Zustimmung, nach dem Prestige und der Legitimität, die die evangelische Solidarität und der Einsatz für Toleranz verhießen. Ebensowenig wie London erwog Berlin eine Intervention zugunsten der Thorner Protestanten, etwa - wie der polnische Historiker Grzegorz Krol meinte - durch eine konkret geplante Teilung Polens, durch die Annexion Westpreußens. 22 Wie für England war auch für Preußen die Thorner Frage vor allem ein willkommenes Thema, das sich zum Anknüpfen bzw. Festigen außenpolitischer Bindungen eignete. Das betraf - neben der Allianz mit England - vor allem die Beziehungen zu Russland. Erstmals stimmten Berlin und Petersburg 1725 die Politik gegenüber „ihren" religiösen Minderheiten in Polen ab. Dieses Politikmuster, nicht die konkrete Politikplanung, wies allerdings in der Tat auf die Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts hin. 23 Auch in der Angelegenheit der Prager Juden entstanden durch grenzüberschreitende Kommunikation transterritoriale öffentliche Meinungen, die zu politischem Handeln drängten. Auch hier spielte der Erwartungshorizont der Öffentlichkeiten eine große Rolle. Die Amsterdamer Juden mahnten die Gemeinde in Venedig: „Man muss eilen, damit der Brand nicht größer wird und das Feuer übergreift auf andere Staaten ... Es ist ein fortschreitendes Unglück, das von einem Ende zum anderen die Grenzen überschreitet." 24 Allerdings war die Distanz zwischen den jüdischen Öffentlichkeiten und der politischen Macht nur durch das traditionelle Mittel der Fürsprache zu überwinden. Bei aller Mobilisierungskraft, die die Prager Angelegenheit innerhalb der jüdischen Öffentlichkeiten Europas entfaltete, hing der Erfolg für die Prager Juden letztlich von der Frage ab, ob durch jüdische Fürsprecher Zugang zu europäischen Fürsten gefunden werden konnte, die sich dann bei Maria Theresia für die Prager Juden verwendeten. In der Semantik der jüdischen Appelle spiegelte sich die besondere Situation wider: Nicht die emphatisch vorgetragene Klage über Maria Theresias Verstoß gegen das Gedankengut der Aufklärung stand im Vordergrund, sondern der nüchterne Hinweis auf die wirtschaftlichen Schäden der christlichen Händler, teilweise auch auf die politi-
20 Viktor LOEWE (Hg.), Preußens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Wilhelms I., Publikationen des Preußischen Staatsarchivs 91, Berlin 1913, 285-294, Nr. 70. 21 Zur legitimierenden Funktion der öffentlichen Darstellung von Außenpolitik im Zeitalter des Absolutismus siehe: Andreas GESTRICH, Politik im Alltag. Zur Funktion politischer Information im deutschen Absolutismus des frühen 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 5 (1990), 9 - 2 7 ; DERS., Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 22 KROL, Anglia (wie Anm. 7), 27. 23 Lucjan Ryszard LEWITTER, Peter the Great and the Polish Dissenters, in: Slavonic and East European Review 33 (1954), 75-101; Martin SCHULZE WESSEL, Russlands Blick auf Preußen. Die polnische Frage in der Diplomatie und politischen Öffentlichkeit des Zarenreiches und des Sowjetstaates 1697-1947, Stuttgart 1995. 24 Siehe Anm. 8.
Die Bedeutung ..europäischer Öffentlichkeit" für die transnationale Kommunikation ...
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s e h e n S c h ä d e n f ü r d i e c h r i s t l i c h e n H e r r s c h e r . D i e A p p e l l e d e r j ü d i s c h e n G e m e i n d e n richteten sich - g a n z im G e g e n s a t z zu d e m Fall d e r T h o r n e r P r o t e s t a n t e n - nicht an die G e g n e r d e s j e n i g e n H e r r s c h e r s , d e r d i e r e l i g i ö s e n V e r f o l g u n g e n zu v e r a n t w o r t e n hatte, s o n d e r n u m g e k e h r t z u n ä c h s t an d i e F ü r s t e n u n d g e i s t l i c h e n W ü r d e n t r ä g e r , d e n e n M a r i a T h e r e s i a n a h e s t a n d , w i e d e r M a i n z e r E r z b i s c h o f u n d a u c h d e r P a p s t . A b e r a u c h in d e r S a c h e d e r P r a g e r J u d e n spielte d a s M o t i v d e r L e g i t i m i e r u n g d e r H e r r s c h a f t v o r e i n e r g r e n z ü b e r s c h r e i t e n d e n Ö f f e n t l i c h k e i t e i n e g e w i s s e R o l l e . S o b e t o n t e d e r E r z b i s c h o f v o n M a i n z in s e i n e m S c h r e i b e n an d i e K ö n i g i n , d a s s ihr V o r g e h e n g e g e n d i e J u d e n „ e i n e n ä u ß e r s t ü b l e n E i n d r u c k im K a i s e r reich u n d im ü b r i g e n E u r o p a m a c h e n " w e r d e . 2 5 B i s J a n u a r 1745 t r a f e n a m W i e n e r H o f u.a. die B r i e f e d e r K ö n i g e v o n E n g l a n d u n d D ä n e m a r k , d e s H e r z o g s von B r a u n s c h w e i g , d e r S t ä d t e V e n e d i g u n d H a m b u r g e i n . D e r g r e n z ü b e r s c h r e i t e n d e A p p e l l d e r P r a g e r J u d e n erzielte also e i n e I n t e r n a t i o n a l i s i e r u n g d e r F ü r s p r a c h e . D i e zu d i e s e m Z w e c k h e r g e s t e l l t e t r a n s t e r r i t o r i a l e Ö f f e n t l i c h k e i t ü b e r s c h r i t t d a b e i nicht die G r e n z e n d e r e i g e n e n R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t . B e i d e A p p e l l e - die d e r T h o r n e r P r o t e s t a n t e n u n d d e r P r a g e r J u d e n - b l i e b e n in ihren N e t z w e r k e n an d i e M i t g l i e d e r d e r e i g e n e n R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t g e b u n d e n . D e n n o c h w a r die Semantik beider Appelle auf eine normative Instanz bezogen, die die Grenzen der eigenen R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t ü b e r s c h r i t t . Z w a r w u r d e , z u m i n d e s t im Fall d e r P r a g e r J u d e n , an den W e r t d e r T o l e r a n z nicht in e m p h a t i s c h e r W e i s e a p p e l l i e r t , d o c h ü b t e er z u s a m m e n mit d e r V o r s t e l l u n g e i n e s e u r o p ä i s c h e n F o r u m s d e n n o c h e i n e n o r m a t i v e K r a f t a u s . Selbst die k a t h o l i s c h e n V e r b ü n d e t e n M a r i a T h e r e s i a s l i e ß e n sich v o n d i e s e r V o r s t e l l u n g leiten. N u r so ist d i e W a r n u n g d e s E r z b i s c h o f s v o n M a i n z v o r d e m ü b l e n E i n d r u c k zu v e r s t e h e n , d e n d a s V o r g e h e n M a r i a T h e r e s i a s „ i m R e i c h u n d im ü b r i g e n E u r o p a " m a c h e . W e r t e w i e T o l e r a n z b i l d e t e n , a u c h w e n n sie nicht in ü b e r k o n f e s s i o n e l l e r Solidarität g e f o r d e r t w u r d e n , e i n e R e s s o u r c e , mit d e r e n H i l f e es d e n r e l i g i ö s e n M i n d e r h e i t e n in T h o r n u n d P r a g g e l a n g , d i e Politik d e r e u r o p ä i s c h e n S t a a t e n zu m o b i l i s i e r e n . D i e s e g r i f f e n - f r e i l i c h u n t e r h a l b d e r S c h w e l l e d e r I n t e r v e n t i o n - ein, a u c h u m ihre e i g e n e L e g i t i m i t ä t g e g e n ü b e r ihren j e w e i l i g e n n a t i o n a l e n Ö f f e n t l i c h k e i t e n u n d e i n e r d a r ü b e r h i n a u s w e i s e n d e n , t e n d e n z i e l l e u r o p ä i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t zu w a h r e n .
25 Auch die englische Regierung operierte in ihren Appellen an Wien mit der Instanz der ..Welt", vor der die Handlungen der habsburgischen Regierung einen schlechten Eindruck machen müssten. MEVORACH, I n t e r v e n t i o n s b e s t r e b u n g e n ( w i e A n m . 8 ) . 4 7 , 5 4 .
Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union. Zu den institutionellen Voraussetzungen und den Zielvorgaben des europäischen Integrationsprozesses Roland Sturm
1. Integration als Prozess Die S t a a t s w e r d u n g Europas, das Entstehen eines e u r o p ä i s c h e n G e m e i n w e s e n s , w u r d e in politischen R e d e n und w i s s e n s c h a f t l i c h e n S y m p o s i e n schon häufig b e s c h w o r e n . E u r o p a sollte zuerst stehen f ü r Frieden, dann f ü r W o h l s t a n d und schließlich auch f ü r die m o d e r n e Informationsgesellschaft. 1 Alle M i t g l i e d s l ä n d e r der E U k ö n n e n solche Ziel vorgaben b e f ü r worten. P r o b l e m a t i s c h e r wird es aber schnell, w e n n nach Einigkeit d a r ü b e r gestrebt wird, wie die V e r f a s s u n g und das W i r t s c h a f t s - und Sozialsystem der E u r o p ä i s c h e n Union im einzelnen gestaltet werden sollen, w e n n also die Frage nach der Finalität des europäischen Integrationsprozesses gestellt wird. Die E u r o p ä i s c h e Union half sich lange Zeit mit zwei stillschweigenden Konventionen ü b e r d u r c h a u s v o r h a n d e n e unterschiedliche Sichtweisen von Sinn und Z w e c k der Integrat i o n s b e m ü h u n g e n h i n w e g . Z u m einen vertraute sie auf die M e t h o d e M o n n e t . also das nach d e m E u r o p ä e r der ersten Stunde, Jean M o n n e t , b e n a n n t e Prinzip, dass der Integrationsprozess ständig in G a n g zu halten sei, o h n e dass die N o t w e n d i g k e i t bestünde, über das angestrebte E n d e r g e b n i s des Integrationsprozesses zu reden. Walter Hallstein, d e r von 1958 bis 1967 an d e r Spitze d e r E U - K o m m i s s i o n stand, fasste diese I n t e g r a t i o n s m e t h o d e in das Bild des Fahrrads, das ständig b e w e g t w e r d e n m ü s s e , u m nicht u m z u f a l l e n . Und in der P r ä a m b e l des E U - V e r t r a g s findet sich der noch heute verbindliche G e d a n k e , dass die Mitgliedstaaten der E U entschlossen sind, den Prozess der S c h a f f u n g einer i m m e r e n g e r e n Union der V ö l k e r Europas weiterzuführen. D a s P r o z e s s h a f t e der Integration verlieh der Integration so lange der Integrationsprozess in G a n g blieb D y n a m i k , und die Z u s t i m m u n g zu diesem Prozess schuf auch Legitimation. Hinzu k a m eine zweite stillschweigend akzeptierte K o n v e n t i o n . Die E u r o p ä i s c h e G e m e i n s c h a f t ignorierte, dass auf nationaler E b e n e im politischen D i s k u r s nur die j e w e i l s national mehrheitsfähigen Z u k ü n f t e E u r o p a s mit d e m Integrationsprozess v e r b u n d e n w u r d e n . Die nationalen Erwartungshaltungen hinsichtlich des entstehenden g e m e i n s a m e n E u r o p a s blieben so bis heute unterschiedlich. Dies w a r lange u n p r o b l e m a t i s c h , weil es die politischen Repräsentanten nicht in ihrer Integrationspolitik hinderte und weil dank der M e t h o d e M o n n e t grundsätzliche Debatten zur Klärung d e r g e m e i n s a m e n Zielsetzungen des Integrationsprozesses weitgehend ausblieben.
1 Vgl. G e r h a r d BRUNN, Die E u r o p ä i s c h e E i n i g u n g . Stuttgart 2 0 0 2 : Roland STURM. Die F o r s c h u n g s und T e c h n o l o g i e p o l i t i k der E u r o p ä i s c h e n U n i o n , in: W e r n e r WKIDENFKLD (Hg.): E u r o p a - H a n d b u c h . Bonn 2002, 4 9 0 - 5 0 2 .
Roland Sturm
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Die Vertiefung der Europäischen Union schritt in Kompromissschritten und damit wenig systematisch voran. Die Unklarheiten der heute geltenden Vertragswerke, ihre Formenvielfalt, ihre Mischung von Grundsätzlichem und Ausführungsbestimmungen und die fallweise aber uneinheitliche Einbeziehung europäischer Organe, wie des Parlaments oder des Rats in politische Entscheidungen, erklären sich unmittelbar aus der Logik des Integrationsprozesses. Die Vertiefung der Integration wurde ergänzt durch fortlaufende Erweiterungen, die alle unter der Prämisse standen, dass sie den erreichten Grad der Vertiefung der Integration nicht beschädigen dürfen. Dies erwies sich mit zunehmender Diversität der Ausgangslagen der neuen Mitgliedstaaten und ihrer Interessen als in hohem Maße problematisch. Die Probleme der Erweiterung machten sich zunächst aber weniger am acquis communautaire als an Finanzierungsfragen fest. Der Gedanke der Nachkriegszeit, dass eine europäische Friedensordnung allen Europäern nütze, wurde abgelöst durch den Wunsch nach ökonomischen Vorteilen durch den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Selbst die wohlhabenderen Länder der Norderweiterung von 1995, Österreich, Schweden und Finnland, wollten nicht nur Zahlerländer sein, sondern beharrten auf einen gesicherten Teilrückfluss ihrer Finanzbeiträge. Auch für die Finanzierung der EU gilt: Kompromisse waren eher möglich so lange es um konkrete Verhandlungsgegenstände im Prozess der Integration ging, wie beispielsweise die Anpassung von Marktordnungen in der Landwirtschaftspolitik. Weitaus schwieriger ist es, grundsätzliche Innovationen der europäischen Finanzordnung durchzusetzen. Eine neue Finanzordnung wurde mit der Agenda 2000 unter den Prämissen der Bedürfnisse noch vorwiegend der alten EU zuletzt im Jahre 1999 gefunden. Der Beschluss selbst war aber schon eine Art Anachronismus, denn die Agenda 2000 formulierte in erster Linie einen Kompromiss zwischen den finanziellen Interessen der Alt-Mitglieder der EU und wurde ihrer eigentlichen Aufgabe, die Weichen zu stellen für die finanzielle Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union, nicht gerecht. 2 Die Endlichkeit von Ressourcen bei wachsenden Bedürfnissen nach europäischen Finanztransfers vor allem im Bereich der Agrar- und Strukturpolitik und der Finanzierung der Osterweiterung war schon im Hinblick auf die Kompromissfähigkeit der alten EU-Länder ein Problem. Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um zu erkennen, dass die Verteilungskämpfe in der erweiterten EU im Vorfeld der nächsten Finanzierungsentscheidung im Jahre 2006 und bei eventuell ungünstigeren ökonomischen Rahmenbedingungen noch härter sein werden. Es ist nun fraglich geworden, ob die im Integrationsprozess entstehende engere Zusammenarbeit der Nationen alleine ausreicht, um die nötigen „Opfer" (so werden dies eine Reihe von Mitgliedsländern interpretieren bzw. innenpolitisch begründen) für die Vertiefung der EU zu rechtfertigen, oder ob es nicht doch einer Verbindung finanzieller Weichenstellungen mit politischen Zielen, die sich in ihrem Kern einer Vision des neuen Europas annähern, bedarf. Optimisten werden an dieser Stelle auf die neue europäische Verfassung verweisen, die am Ende des Prozesses stehen soll, den der Verfassungskonvent eingeleitet hat. Ein Urteil über die legitimatorische Kraft europäischer Verfassungspolitik kommt aber zu früh.
2 Roland STURM und Petra ZIMMERMANN-STEINHART, Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, in: Gegenwartskunde 48 (1999),
285-296.
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2. Europa mehr als ein Binnenmarkt? E s w ä r e a l l e r d i n g s v e r f e h l t , d a s ö k o n o m i s c h e D e n k e n im B e z u g auf d i e e u r o p ä i s c h e I n t e g r a t i o n als e i n e V e r i r r u n g d e s I n t e g r a t i o n s p r o z e s s e s a n z u s e h e n u n d es f ü r d i e g e g e n w ä r t i g e n P r o b l e m e d e s I n t e g r a t i o n s p r o z e s s e s v e r a n t w o r t l i c h zu m a c h e n . D i e e u r o p ä i s c h e I n t e g r a t i o n startete j a g e r a d e als e r f o l g r e i c h e s ö k o n o m i s c h e s P r o j e k t , als M o n t a n u n i o n b z w . E u r o p ä i s c h e W i r t s c h a f t s g e m e i n s c h a f t . V i e l e d e r n a c h f o l g e n d e n I n t e g r a t i o n s s c h r i t t e , j a die w e s e n t l i c h e n bisher, waren ö k o n o m i s c h e r Art. Hier wurden auch die größten
Integrationsfortschritte
erzielt. A u f d e n F e l d e r n d e r H a n d e l s - , d e r A g r a r - u n d d e r W ä h r u n g s p o l i t i k h a b e n d i e E U M i t g l i e d s t a a t e n fast v o l l s t ä n d i g auf ihre n a t i o n a l e S o u v e r ä n i t ä t v e r z i c h t e t . Die D u r c h s e t z u n g d e s B i n n e n m a r k t p r o j e k t s 3 m i t d e m Ziel d e r V o l l e n d u n g d e s B i n n e n m a r k t s , d a s 1993 startete u n d bis h e u t e im H i n b l i c k auf d i e L i b e r a l i s i e r u n g d e r M ä r k t e n o c h nicht völlig a b g e s c h l o s s e n ist, w u r d e g e r a d e z u als N e u s t a r t d e r e u r o p ä i s c h e n I n t e g r a t i o n e m p f u n d e n . U n d ä h n l i c h präg e n d f ü r d e n I n t e g r a t i o n s p r o z e s s w a r d e r B e g i n n d e r E u r o p ä i s c h e n W ä h r u n g s u n i o n im J a h r e 1999 4 , a u c h s y m b o l i s c h a b 2 0 0 1 mit d e m E u r o in d e n T a s c h e n d e r B ü r g e r . W i r t s c h a f t s i n t e g r a t i o n w a r in d e r E U a u c h i m m e r m e h r als nur d e r V e r s u c h z u r o p t i m a l e n G e s t a l t u n g d e s ö k o n o m i s c h e n R a u m s . V o n ihr w u r d e n w e i t g e h e n d e W o h l s t a n d s g e w i n n e erw a r t e t . ein e u r o p ä i s c h e r M e h r w e r t in F o r m v o n W a c h s t u m . A r b e i t s p l ä t z e n u n d E i n k o m m e n , d e r d i e B ü r g e r von d e n V o r t e i l e n d e r I n t e g r a t i o n ü b e r z e u g t u n d w e i t e r e I n t e g r a t i o n s s c h r i t t e r e c h t f e r t i g t . Die W i r t s c h a f t s i n t e g r a t i o n t r a n s p o r t i e r t e a u c h Ideen h i n s i c h t l i c h d e r R o l l e d e s S t a a t s in d e r W i r t s c h a f t u n d s e i n e r s o z i a l e n u n d r e g i o n a l p o l i t i s c h e n R o l l e . J e d e r d e r M i t g l i e d staaten v e r s u c h t e , sein V e r s t ä n d n i s d e r B a l a n c e v o n Staat u n d W i r t s c h a f t , seine S i c h t w e i s e d e r R o l l e d e s B i n n e n m a r k t s a u f d e r e u r o p ä i s c h e n E b e n e zu v e r a n k e r n . D i e s ist ein bis h e u t e nicht a b g e s c h l o s s e n e r P r o z e s s , d e r a b e r d e u t l i c h e W i d e r s p r ü c h e kreierte, w e n n m a n d e n err e i c h t e n S t a n d d e r e u r o p ä i s c h e n I n t e g r a t i o n w e n i g e r f a l l b e z o g e n als g r u n d s ä t z l i c h im H i n b l i c k auf e i n e m ö g l i c h e e u r o p ä i s c h e W i r t s c h a f t s v e r f a s s u n g zu v e r s t e h e n s u c h t . D i e e i n e Seite d e r M e d a i l l e d e r W i r t s c h a f t s i n t e g r a t i o n ist d i e V i s i o n d e s B i n n e n m a r k t s , d e r sich a u s z e i c h n e t d u r c h d i e vier F r e i h e i t e n v o n A r b e i t . D i e n s t l e i s t u n g e n . W a r e n u n d Kapital. H i e r w i r d w i r t s c h a f t l i c h e r W e t t b e w e r b , w e n n er d u r c h e i n e Politik d e r L i b e r a l i s i e r u n g d e r M ä r k t e u n d d e s R ü c k z u g s d e s S t a a t s z u s t a n d e g e k o m m e n ist, als G a r a n t d e s w i r t s c h a f t l i c h e n E r f o l g s d e r E u r o p ä i s c h e n U n i o n a n g e s e h e n , i n s b e s o n d e r e w e n n es g e l i n g t , d u r c h w i s s e n s c h a f t l i c h e I n n o v a t i o n e n f ü r E u r o p a e i n e F ü h r u n g s r o l l e in n e u e n T e c h n o l o g i e n zu s i c h e r n . B e i e i n e m T r e f f e n d e r S t a a t s - u n d R e g i e r u n g s c h e f s d e r E U in L i s s a b o n im J a h r e 2 0 0 0 w u r d e d i e s e I n t e g r a t i o n s p h i l o s o p h i e nicht n u r b e k r ä f t i g t , s o n d e r n z u m P r o g r a m m e r h o b e n .
Der
„ L i s s a b o n - P r o z e s s " setzte d e r E U d a s s t r a t e g i s c h e Ziel, d i e E U im J a h r e 2 0 1 0 z u m w e t t b e w e r b s t ä r k s t e n W i r t s c h a f t s r a u m d e r W e l t zu e n t w i c k e l n . D i e s e s s t r a t e g i s c h e Ziel w u r d e zuletzt b e i m T r e f f e n d e s E u r o p ä i s c h e n R a t s im Juni 2 0 0 2 in S e v i l l a b e k r ä f t i g t , trotz ö k o n o m i s c h e r R ü c k s c h l ä g e u n d d e u t l i c h e r H i n w e i s e d a r a u f , d a s s in d e r M e h r h e i t d e r M i t g l i e d s t a a t e n
3 Paolo CHCCHINI. Europa '92. Der Vorteil des Binnenmarktes. Baden-Baden 1988. 4 Rolf CAESAR und Hans-Eckart SCHARRER. Ö k o n o m i s c h e und politische Dimensionen der Euro-
päischen Wirtschafts- und Währungsunion, Baden-Baden 1999.
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die Bereitschaft fehlt, Wettbewerbsstärke mit sozialem Umbau und radikaler Entstaatlichung gleichzusetzen. 5 Ein Blick in den EG-Vertrag zeigt aber, dass der europäische Integrationsprozess durchaus auch eine andere Sicht der Dynamik der Vertiefung der europäischen Integration zulässt. Hier ist keineswegs nur eine Agenda zu finden, die staatliches Handeln in der Wirtschaft auf die Sicherung des Wettbewerbs und deren Innovationsfähigkeit beschränkt. Wenn der EG-Vertrag die soziale und regionale Kohäsion einfordert, Industriepolitik zulässt und den Agrarmarkt reguliert und sich zu sozialen Grundrechten und dem Verbraucherschutz äußert, so wird deutlich, dass er auch das Phänomen des Marktversagens kennt und, dass er neben die Freiheit des Wettbewerbs die Solidarität mit den „Verlierern" des Marktgeschehens stellt. Vertiefung der europäischen Integration heißt aus dieser Sicht, den sozialen und regionalen Ausgleich fördern, also quasi den europäischen Wirtschaftsraum wohlfahrtsstaatlich weiterzuentwickeln, Über den besten Weg zur Marktintegration und/oder zur Sozialintegration konnte im Verlauf des Integrationsprozesses jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten trefflich gestritten werden. Die beiden widersprüchlichen Grundelemente der Wirtschaftsintegration, also Wettbewerb und Solidarität, hatten im politischen Entscheidungsprozess auf europäischer Ebene in der Regel wenig miteinander zu tun. Der EG-Vertrag bringt beide zusammen, ohne die Fragen der Vereinbarkeit und der Prioritätensetzung zu stellen. Bei sachbezogenen Einzelentscheidungen der EU macht sich dies bei der Konsensfindung zwischen den Mitgliedsländern mitunter als schwerer Mangel bemerkbar. So wurden beispielsweise immer wieder auf der europäischen Ebene zur Beschlussfassung anstehende sozialpolitische Standards von der britischen Regierung mit dem Hinweis auf ihre Schädlichkeit für die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft zurückgewiesen. Diese Haltung, die aus der Sicht der Verfechter von anspruchsvolleren europäischen Sozialstandards als Versuch des Sozialdumpings gebrandmarkt wird, ist aus britischer Perspektive bloß konsequent. Britische Regierungen beklagen im Gegenzug, dass die ausgeprägten wohlfahrtsstaatlichen Neigungen anderer EU-Länder, wie Frankreich oder Deutschland, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft schwächen und sinnlose Ausgabenprogramme, das Paradebeispiel ist die Agrarpolitik, legitimieren. Hier mündet der unausgesprochene Widerspruch von Markt- und Sozialintegration exemplarisch in eine Auseinandersetzung über Integrationsziele der EU. Die EU-Kommission spricht im Hinblick auf eine künftige Gesellschaft Europas gerne vom europäischen Sozialmodell 6 , das es gegen die Einflüsse der Globalisierung zu verteidigen gelte. Die britische, die spanische oder auch die italienische Regierung und wohl auch einige Regierungen der Beitrittsländer halten inzwischen aber mehr von den Chancen der Globalisierung als von deren Abwehr. Aus ihrer Perspektive gilt es, die EU fit für den weltweiten Wettbewerb und zum attraktiven Wirtschaftsstandort zu machen. Die Marktskeptiker hängen dagegen eher einem Fortress Europe-Modell an, mit dem sich im Hinblick auf die Globalisierung die Idee verbindet: „Die EU soll im Zeichen der Wirtschafts- und Wäh5 Still sclerotic, after all these years. Why is Europe growing so slowly?, in: The Economist, 15.3.2003,33. 6 Zur Diskussion vgl. Martin BRUSIS, Optionen zur Verankerung von Solidarität in einer erweiterten Europäischen Union, C A P Working Paper 2002.
Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union
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rungsunion die R ü c k g e w i n n u n g wirtschaftspolitischer Handlungsfähigkeit ermöglichen, das e u r o p ä i s c h e G e s e l l s c h a f t s m o d e l l ' retten, d e n d r o h e n d e n . r a c e to t h e b o t t o m ' bei d e r B e s t e u e r u n g v o n K a p i t a l e i n k o m m e n v e r h i n d e r n , s o z i a l e u n d ö k o l o g i s c h e M i n d e s t s t a n d a r d s im W e l t h a n d e l d u r c h s e t z e n u n d als W ä h r u n g s m a c h t v o n g l e i c h zu g l e i c h m i t d e n U S A v e r h a n d e l n . M i t a n d e r e n W o r t e n : D u r c h d i e e u r o p ä i s c h e I n t e g r a t i o n soll G e s t a l t u n g s m a c h t z u r ü c k g e w o n n e n w e r d e n , d i e im n a t i o n a l e n R a h m e n - real o d e r v e r m e i n t l i c h -
verlorengegangen
ist.""
3. Die Zukunft des Nationalstaats in der EU D i e s e Ü b e r l e g u n g f ü h r t d i r e k t zu e i n e r w e i t e r e n u n g e l ö s t e n F r a g e n d e r Finalität d e s e u r o p ä i s c h e n I n t e g r a t i o n s p r o z e s s e s : d i e Z u k u n f t d e s N a t i o n a l s t a a t s in d e r E U . Die E u r o p ä e r d e r e r s t e n S t u n d e rissen G r e n z b ä u m e n i e d e r u n d b e t r a c h t e t e n d e n N a t i o n a l i s m u s als zu ü b e r w i n d e n d e G e i ß e l d e s 19. u n d 20. J a h r h u n d e r t s . Ihre H o f f n u n g , d a s s n a c h d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g d a s E n d e d e s N a t i o n a l s t a a t s u n m i t t e l b a r b e v o r s t ü n d e , trog j e d o c h . W e d e r die D y n a m i k d e r e u r o p ä i s c h e n I n t e g r a t i o n , n o c h g e m e i n s a m e I n t e r e s s e n o d e r die e u r o p ä i s c h e G e s c h i c h t e u n d K u l t u r h a b e n E u r o p a als a l l g e m e i n a k z e p t i e r t e d e m N a t i o n a l s t a a t ü b e r l e g e n e F o r m d e s R a u m e s v o n Identität u n d Politik k o n s t i t u i e r t . I n s o f e r n ist ü b r i g e n s d i e G e w i s s h e i t ü b e r d i e e n d g ü l t i g e n G r e n z e n d e r E U , f ü r die im Streit u m d e n Türkei-Beitritt* d e r E U A r g u m e n t e w i e die „politische Kultur Europas" angeführt wurden, schwer nachvollziehbar. Eine entsprechende S e l b s t v e r s t ä n d n i s d e b a t t e steht d e r E u r o p ä i s c h e n U n i o n erst n o c h b e v o r , w i e a u c h d e r Streit im V e r f a s s u n g s k o n v e n t ü b e r d i e F r a g e b e l e g t , o b e i n e e u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g in ihrer P r ä a m bel in i r g e n d e i n e r F o r m e i n e n H i n w e i s a u f G o t t e n t h a l t e n soll. Mit e i n e m g e w i s s e n R e c h t ließe sich a r g u m e n t i e r e n , d a s s d e r V i s i o n d e s E r s e t z e n s des N a t i o n a l s t a a t s d u r c h e i n e n e u r o p ä i s c h e n Staat'' a u s r e i c h e n d e P h a n t a s i e fehlt. D e r N a t i o n a l s t a a t als die v o n G e o r g Jellinek v o r g e d a c h t e E i n h e i t von T e r r i t o r i u m , V o l k u n d S o u v e r ä n i t ä t scheint d a m i t so a l t e r n a t i v l o s . d a s s er a u c h bei s e i n e r A b s c h a f f u n g in d e r e u r o p ä i s c h e n F o r m w i e d e r a u f t a u c h e n soll." 1 E i n e s o l c h e S i c h t w e i s e w i r d d e n h e u t i g e n R e a l i t ä t e n d e r E U nicht g e r e c h t u n d ist im H i n b l i c k auf d i e d e m o k r a t i s c h e F o r t e n t w i c k l u n g d e r E U - I n s t i t u t i o n e n politisch kontraproduktiv.
7 Michael KREILE. Globalisierung und europäische Integration, in: Wolfgang MERKEL und Klaus BUSCH (Hg.). Demokratie in Ost und West. Frankfurt am Main 1999. 607. 8 Petra ZIMMERMANN-STEINHART. Sind Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei sinnvoll·.', in: Gesellschaft-Wirtschaft-Politik ( G W P ) 52 (2003). 89-97.
9 So z.B. Peter GLOTZ. Der Irrweg des Nationalstaats. Stuttgart 1990. 10 Vgl. Petra DOBNER. Constitutionalism and the Transformation of the State, in: Rainer-Olaf SCHULTZF. und Roland STURM (Hg.). The Politics of Constitutional Reform in North America. Opladen 2000. 33-44: Christian GEUI.EN. Zwischen Wahn und Wirklichkeit. Die entstellte Wiederkehr der Vergangenheit: Europa als Wille und Vorstellung kommt vom Prinzip der Nation nicht los - obwohl es sich als dessen Überwindung begreift, in: Frankfurter Rundschau 18. 12. 2002. 19.
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Noch heute knüpft aber eine ganze Literatur zum demokratischen Defizit der EU" immer wieder an das Vorbild des Nationalstaats an. Gesucht wird vor allem das Staatsvolk. Aber auch die institutionelle Ausstattung der EU wird bemängelt. Kritisiert wird, dass das europäische Parlament nicht über alle Parlamentsfunktionen verfüge, beispielsweise bei der Gesetzgebung oder bei der Bestellung der Exekutive. Und der Ruf nach einer europäischen Regierung bzw. wenigstens einem europäischen Präsidenten, damit Europa ein „Gesicht" und eine „Stimme" bekomme, wurde nicht zuletzt als Reaktion auf außenpolitische Herausforderungen laut. Die Abweichungen vom traditionellen Nationalstaat in der Form und der Funktion von Staatlichkeit auf europäischer Ebene muss aber nicht als Defizit empfunden werden, sie kann auch als Chance gesehen werden, einen ersten effizienten postnationalen Staatenverbund zu kreieren, der nationale und regionale Vielfalt, multiple Identitäten und weitgehende individuelle Freiheitsräume mit einer neuen Form demokratischen Zusammenlebens und der Gestaltung des Gemeinwesens verbindet. Noch sind wir von Idealzuständen jeglicher Art weit entfernt, aber die Entscheidung steht an, ob die Logik des nationalstaatlichen Handelns in Europa sich wieder durchsetzt oder ob es gelingt, mögliche Vorzüge der neuen europäischen Staatlichkeit zu sichern. Der Integrationsprozess hat eine EU hervorgebracht, die ein historisch einmaliges Institutionengefüge hat. Nicht nur politisch-pragmatische Überlegungen, sondern auch die Probleme der heutigen Nationalstaaten mit der Integration und Repräsentation ihrer Bürger legen nahe, dieses neue Arrangement als Chance anzunehmen, allerdings auch im Hinblick auf seine innere Balance genau zu betrachten. Nationalstaatliche Interessenpolitik hat bestimmte Bereiche der Politik, wie die Außen- und Sicherheitspolitik, bisher in der zwischenstaatlichen Entscheidung belassen. Sie hat auch dazu geführt, dass föderale Konzepte für Europa als Bemühungen interpretiert werden, die Zentralgewalt, mit anderen Worten die EU-Kommission, zu stärken und nationale Souveränität zu begrenzen. Aber selbst eine prinzipielle Ablehnung der Europäisierung bestimmter Politikfelder muss, wenn äußere Zwänge übermächtig werden, nicht von Dauer sein, wie die Beispiele der Asylpolitik oder der europäischen justiziellen Zusammenarbeit zeigen. So lange es der EU selbst nicht in ausreichendem Maße gelingt, als politischer Kommunikationsraum zu fungieren, Ort des parteipolitischen Wettbewerbs zu werden und von den EU-Bürgern als die wichtigste Ebene politischer Teilhabe und politischer Repräsentation angesehen zu werden, bleibt die Einbindung des Nationalstaats, der im Augenblick noch eben diesen Status hat, eine unabdingbare Voraussetzung für eine demokratische Inwertsetzung der komplexen institutionellen Strukturen der EU. Nachgedacht wird beispielsweise über eine Zweite Kammer des Europäischen Parlaments, gebildet von Vertretern der nationalen Parlamente, die als Subsidiaritätsausschuss die Kompetenzübertragung mitgliedstaatlicher Kompetenzen auf die europäische Ebene kontrollieren. So soll Legitimität für Prozesse der Europäisierung und Teilhabe nationaler Repräsentanten an Entscheidungen auf europäischer Ebene garantiert werden.
11 Vgl. u.a. Frank DECKER, Governance beyond the nation-state. Reflections on the democratic deficit of the European Union, in: Journal of European Public Policy 9 (2002), 256-272.
E r w e i t e r u n g und V e r t i e f u n g der E u r o p ä i s c h e n U n i o n
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Die E i n b i n d u n g nationalstaatlicher Repräsentation in die z u k ü n f t i g e Gestalt der E U ist die k o n s t r u k t i v e Vision der Z u k u n f t des Nationalstaats in der E U . Hier ist die Arbeit des V e r f a s s u n g s k o n v e n t s gefragt. Ist er erfolgreich, g e w i n n e n die Vergleiche, die mit dem V e r f a s s u n g s k o n v e n t in Philadelphia 1787 angestellt w u r d e n Plausibilität; scheitert die e f f e k t i v e E i n b i n d u n g nationalstaatlicher Interessen, liegt f ü r den V e r f a s s u n g s e n t w u r f des V e r f a s s u n g s k o n v e n t s wohl eher der Vergleich mit der F r a n k f u r t e r P a u l s k i r c h e n v e r f a s s u n g von 1848 n a h e . ' : Bisher zeichnet sich b e i m K o n v e n t Ü b e r e i n s t i m m u n g hinsichtlich eines einheitlichen V e r f a s s u n g s d o k u m e n t s ab, in das die C h a r t a der G r u n d r e c h t e integriert wird. Die D r e i - S ä u l e n - S t r u k t u r der V e r t r ä g e soll zugunsten einer V e r t r a g s b e r e i n i g u n g aufgelöst werden, die nationalen P a r l a m e n t e werden institutionell in das V e r f a s s u n g s g e f ü g e der E U eingebunden und das nationale V e t o in Fragen der Z u w a n d e r u n g soll fallen. Kontrovers bleiben aber noch der N a m e der E U („Vereintes E u r o p a " w u r d e von Giscard d ' E s t a i n g vorgeschlagen), die G e m e i n s a m e A u ß e n - und Sicherheitspolitik, das Einrichten einer E U - P r ä s i d e n t s c h a f t , die Stärkung der K o m m i s s i o n , die Einrichtung eines K o n g r e s s e s der V ö l k e r E u r o p a s aus nationalen und E u r o p a a b g e o r d n e t e n zur Diskussion wichtiger Integrationsprobleme, die Ausstiegsoption aus der EU, die S t e u e r h a r m o n i s i e r u n g , die Rolle der Repräsentanten der Euro-Staaten bei der E U - W ä h r u n g s p o l i t i k und die Folgen der A b l e h n u n g einer neuen V e r f a s s u n g durch bisherige E U - M i t g l i e d s t a a t e n . 1 ' N e b e n den B e m ü h u n g e n des V e r f a s s u n g s k o n v e n t s um A u f r e c h t e r h a l t u n g der Integrationsd y n a m i k gibt es in der E U aber auch die eher destruktive engstirnige nationale Politik der I n t e r e s s e n d u r c h s e t z u n g ohne Rücksicht auf die Folgen f ü r die Integration. Einzelne Mitgliedsländer und Beitrittskandidaten haben sich in V e r h a n d l u n g s p r o z e s s e n i m m e r wieder solcher Taktiken bedient 1 4 , und der U m g a n g mit der außenpolitischen Identität der EU im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Irak-Krieg zeigte, dass sich auch in G r u p p e n von Staaten gegen den Geist der europäischen Verträge verstoßen lässt. Keine institutionelle Konstruktion kann den - aus EU-Sicht - R ü c k f a l l in nationalstaatliche D e n k w e i s e n verhindern. Inzwischen diskutiert der V e r f a s s u n g s k o n v e n t wohl auch deshalb die e r w ä h n t e Ausstiegsklausel aus den europäischen Verträgen. N a c h d e m die Beitrittsländer mit Erfolg die sowjetische V o r h e r r s c h a f t los w u r d e n und sich dabei nicht zuletzt auf ihre nationalen Interessen zur ü c k b e s a n n e n . fällt es ihnen ohnehin nicht leicht, den e u r o p ä i s c h e n G e d a n k e n im Sinne des Souveränitätstransfers national zu verankern. Nicht nur die Völker, auch die E n t s c h e i d u n g s träger in den Beitrittsländern sind stärker an den wirtschaftlichen Perspektiven des Binnenmarkts als an der E u r o p ä i s i e r u n g ihrer Politik mit allen Restriktionen f ü r ihre politische H a n d lungsfreiheit. die dies beinhalten m a g . interessiert. Bietet sich den Beitrittsländern die EU als Basar nationaler Interessen und nicht als m o d e r n e F o r m effizienter Staatlichkeit im 21. Jahrhundert. fällt es ihnen noch schwerer als heute, die EU als zivilisatorischen Fortschritt und nicht nur als attraktiven W i r t s c h a f t s r a u m zu sehen.
12 Philadelphia or F r a n k f u r t ? G r a n d i o s e hopes for the c o n v e n t i o n on E u r o p e ' s f u t u r e may get punctured. in: T h e E c o n o m i s t . 8. 3. 2 0 0 3 . 37. 13 Vgl. G e o r g e PARKER. F r o m talking s h o p to crucible of high politics: E u r o p e ' s conv ention is ev olving into a historic undertaking, in: Financial T i m e s . 31. 12. 2 0 0 2 . 7. 14 Vgl. R o l a n d STURM. W e l c h e s E u r o p a soll es sein? Interessenkonflikte im V o r f e l d der Erweiterung, in: Internationale Politik 5 8 (2003). 3 - 1 0 .
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Roland Sturm
Souveränitätsverzicht in der EU kann aber auch aus tagespolitischen Gründen sehr attraktiv sein, insbesondere wenn sich dadurch die nationalen Ziele besser verfolgen lassen. Für Kleinstaaten ist dies unmittelbar einsichtig. Die Mehrheit der Bevölkerung der EU lebt in sechs der in Zukunft 25 Mitgliedstaaten. In allen EU-Organen, in der Kommission, im Parlament und im Rat sind die Kleinstaaten gemessen an ihrer Bevölkerung überrepräsentiert. Damit gibt die EU den Kleinstaaten ein Gewicht, das sie alleine nie erreichen könnten. Aber auch größere Staaten können zu dem Schluss kommen, dass die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart am besten im Kontext verstärkter Integration bewältigt werden können, wie das Beispiel der deutsch-französischen Zusammenarbeit zeigt.15 Es ist anzunehmen, dass wir in Zukunft wegen der ungeklärten Integrationsziele wirtschaftlicher und politisch-institutioneller Art und auch wegen der misslungenen Vorbereitung der EU-Institutionen auf die Osterweiterung durch den Vertrag von Nizza16, die zu Politikblockaden und schwerfälligen Entscheidungsprozessen führen werden, als Folge solcher Einsichten verstärkt die Herausbildung eines Kerns integrationsbereiter Länder sehen werden. Nizza hat die verstärkte Zusammenarbeit einiger Länder im Rahmen der Verträge erleichtert und auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ausgeweitet, mit Ausnahme der Verteidigungspolitik. Inzwischen gibt es aber auch schon Stimmen in Belgien und Frankreich, die auch diese Einschränkung für überflüssig halten. Ganz so einfach wird das Vorpreschen der Anhänger eines Kerneuropa nicht werden, denn die vertraglichen Voraussetzungen für Alleingänge von Staatengruppen in der EU sind rigider als dies inzwischen die Anhänger einer Politik der Fortführung der europäischen Integration wünschen.
4. Intergouvernementale Lösungen auf dem Vormarsch? Die zukünftigen Strategien der europäischen Integration bleiben in ihrer Gewichtung ungeklärt. Die Erweiterung um ökonomisch bisher weniger erfolgreiche Staaten im Osten, die zahlenmäßige Dominanz von Kleinstaaten, ein schwerfälliges Institutionengefüge, ungeklärte Finanzierungsfragen, außenpolitische Konflikte bei gleichzeitig zunehmender außenpolitischer Verantwortung der EU, Handelskonflikte mit den wichtigsten Handelspartnern der EU im Rahmen der Welthandelsorganisation, die unklare Zukunft des Umgangs mit den Maastricht-Kriterien und die Bürgerferne der EU-Institutionen und Entscheidung legitimieren nicht länger das Ausklammern von Finalitätsfragen. Eigentlich kommt die Debatte schon zu spät. Vor der Osterweiterung hätte Klarheit über den Kern europäischer Identität, über eine tragfähige europäische Finanzverfassung, über effiziente europäische Institutionen und über die Europäisierung des politischen Raums als Voraussetzung für die Bürgernähe Europas geschaffen werden müssen. Das rasante Reformtempo der EU von Maastricht über Amsterdam nach Nizza ließ keinen Raum zur Konsolidierung der EU. Das Zeitfenster der Vertiefung blieb angesichts von bevorstehenden Erweiterungsrunden klein.
15 Vgl. Themenheft: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 20. 1. 2003. 16 Werner WEIDENFELD (Hg.), Nizza in der Analyse. Strategien für Europa, Gütersloh 2001.
Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union
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N u n ist d i e G e f a h r klar: I n t e g r a t i o n s u n w i l l i g e u n d i n t e g r a t i o n s u n f ä h i g e M i t g l i e d s l ä n d e r k ö n n e n e i n e B l o c k a d e a l l i a n z b i l d e n , u m d e n e r r e i c h t e n G r a d an V e r t i e f u n g d u r c h n e u e E n t scheidungsmechanismen und Politikblockaden auszuhebeln. Die wichtigste
institutionelle
F r a g e w i r d d a s z u k ü n f t i g e V e r h ä l t n i s v o n R a t u n d K o m m i s s i o n sein. 1 7 V e r l ö r e d i e K o m m i s s i o n ihr a l l e i n i g e s Initiativrecht bei d e r R e g e l s e t z u n g u n d s ä n k e sie zu e i n e m S e k r e t a r i a t d e s R a t s h e r a b u n d w ü r d e E u r o p a v o n e i n e m P r ä s i d e n t e n r e p r ä s e n t i e r t , auf d e n sich d i e S t a a t s - u n d R e g i e r u n g s c h e f s e i n i g e n , s o w ä r e d i e E U O r t d e s I n t e r e s s e n a u s t r a g s der Nationalstaaten geworden. W ü r d e aber die K o m m i s s i o n und das Europäische Parlament g e s t ä r k t , u n t e r a n d e r e m d u r c h d i e W a h l d e s K o m m i s s i o n s p r ä s i d e n t e n d u r c h die P a r l a m e n t s mehrheit nach E u r o p a w a h l e n und durch die A u s w e i t u n g der Mitentscheidungsrechte des P a r l a m e n t s u n d d i e Ü b e r t r a g u n g d e s G e s e t z e s i n i t i a t i v r e c h t s . so w ä r e d i e s ein S i g n a l f ü r die F o r t f ü h r u n g d e r I n t e g r a t i o n s p o l i t i k . S e l b s t v e r s t ä n d l i c h g e n ü g t die W e i s h e i t i n s t i t u t i o n e l l e r K o n s t r u k t i o n e n nicht, I n t e g r a t i o n s p o l i t i k auf D a u e r zu t r a g e n , a b e r im A u g e n b l i c k sind g e r a d e s o l c h e F r a g e n a u c h v o n s y m b o l i s c h e r B e d e u t u n g , weil sie im V e r f a s s u n g s k o n v e n t z u r E n t s c h e i d u n g a n s t e h e n . S i c h e r w i r d sich k e i n e d e r g e n a n n t e n A l t e r n a t i v e n in R e i n k u l t u r d u r c h s e t z e n . M a n k a n n d e s h a l b n u r h o f f e n , d a s s d e r E U ihre l a n g e T r a d i t i o n d e s S c h n ü r e n s v o n V e r h a n d l u n g s p a k e t e n hilft, zu E r g e b n i s s e n zu f i n d e n , d i e n a t i o n a l s t a a t l i c h e u n d r e g i o n a l e V i e l f a l t in d e r E U mit d e m G e d a n k e n d e r e u r o p ä i s c h e n E i n h e i t z u k u n f t s w e i s e n d v e r b i n d e n .
17 Vgl. u.a. Peter S u t h e r l a n d . A second European president would be divisive, in: Financial Times. Alberta M . Sbragia. Conclusion to Special Issue on the Institutional Balance and the Future of Governance: The Treaty of Nice. Institutional Balance, and Uncertainty, in: Governance 15 (2002). 2 0 . 1. 2 0 0 3 . 1 3 :
393-411.
Abbildungsverzeichnis
Der Hoftag in Quedlinburg 973 Von Jcinos Gulya Abb. Landkarte: Europa am Ende des 10. Jahrhunderts, in: Matthias PUHLF. (Hg.). Otto der Große, Magdeburg und Europa, Magdeburg 2001, Bd. 1. 578 f.
Heiraten - ein Instrument hochmittelalterlicher Politik Von Hedwig Röckelein Tafel 1: Stammtafel der Andechs-Meranier, Auszug, aus: Josef Kirmeier und Evamaria Brockhoff (Hg.). Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, München 1993, 272. Tafel 2: Die Familie Jaroslavs des Weisen. Rekonstruktion: Anne Katz nach Nicolas de Baumgarten, Genealogies et mariages occidentaux des Rurikides Russes du Xe au Xllle siecle, Orientalia Christiana 9, Rom 1927, und Raissa Bloch. Verwandtschaftliche Beziehungen des sächsischen Adels zum russischen Fürstenhause im 11. Jahrhundert, in: Leo Santifaller (Hg.), Festschrift für Albert Brackmann, Weimar 1931, 185-206. Tafel 3: Genealogie der Ezzonen und Hezeliniden. aus: Ursula Lewald. Die Ezzonen. Das Schicksal eines rheinischen FUrstengeschlechtes, in: Rheinische Vierteljahresblätter 43 (1979). 121. Abb.l: Herzogin Mathilde von Lothringen überreicht dem polnischen König Mieszko II. einen Ordo Romanus. Widmungsblatt der Handschrift Düsseldorf, Universitätsbibliothek. C 91 (die Miniatur ist seit 1857 verschollen; hier in der Nachzeichnung von Dethier aus dem jähr 1842), aus: Phil. Ant. Dethier, Epistola inedita Mathildis Suevae ... ad Misegonem II.. Poloniae regem, et commentarius critico-historioexegeticus in eam epistolam, Berlin 1842. Innenspiegel. Abb. 2: Skulpturen am Tympanon der Trebnitzer Klosterkirche, aus: Josef Kirmeier und Evamaria Brockhoff (Hg.), Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, München 1993, 161.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 3: Evangeliar aus St. Emmeram in Regensburg, Ende 11. Jahrhundert. Krakau, Bibliotheka Kapitulna, Ms. 208, 2v, aus: Alfried Wieczorek und Hans-Martin Hinz, Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Stuttgart 2001, Bd. 3, 526, Kat.-Nr. 26.01.06 Abb. 4: Krönungsmantel Stephans I. und der Gisela, Budapest, Magyar Nemzeti Muzeum, aus: Eva Koväcs, Die Kasel von Stuhlweißenburg (Szekesfeherver) und die Bamberger Paramente, in: Alfried Wieczorek und Hans-Martin Hinz, Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Stuttgart 2001, Bd. 2, 641, Abb. 417. Abb. 5: Krönungsmantel Stephans I. und der Gisela, Ausschnitt: Stephan. Budapest, Magyar Nemzeti Muzeum, aus: Eva Koväcs, Die Kasel von Stuhlweißenburg (Szekesfeherver) und die Bamberger Paramente, in: Alfried Wieczorek und Hans-Martin Hinz, Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Stuttgart 2001, Bd. 2, 646, Abb. 421. Abb. 6.: Krönungsmantel Stephans I. und der Gisela, Ausschnitt: Gisela. Budapest, Magyar Nemzeti Muzeum, aus: Eva Koväcs, Die Kasel von Stuhlweißenburg (Szekesfeherver) und die Bamberger Paramente, in: Alfried Wieczorek und Hans-Martin Hinz, Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Stuttgart 2001, Bd. 2, 647, Abb. 422. Abb. 7: Kaisermantel (sog. „Sternenmantel") Heinrichs II., aus: Josef Kirmeier u.a. (Hg.), Kaiser Heinrich II. 1002-1024, Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 44, Augsburg 2003, 13. Abb. 8: Pluviale (sog. „blauer Kunigundenmantel") der Königin Kunigunde, aus: Josef Kirmeier u.a. (Hg.), Kaiser Heinrich II. 1002-1024, Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 44, Augsburg 2002, 381. Abb. 9: Gisela-Kreuz, München, Schatzkammer der Residenz, Inv.-Nr. ResMüSch.8. Regensburg, nach 1006?, aus: Alfried Wieczorek und Hans-Martin Hinz, Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Stuttgart 2001, Bd. 2, 609.
Symposium in Quedlinburg (7.-9. Mai 2003) Teilnehmer (Stand: 30. 4. 2003)
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.
Prof. Dr. Althoff, Gerd Dr. Antz. Christian Ashauer. Gerhard Bahß. Sabine Prof. Dr. Bälint, Csanäd Dr. Bettecken. Winfried Böhm, Wolfgang Brecht, Eberhardt Dahl, Josef Prof. Dr. Freitag, Werner Gadow, Friedrich von und Gattin Goßlau, Friedemann Prof. Dr. Gulya, Jänos Dr. Hasse. Claus-Peter Prof. Dr. Hirsch, Erhard Dr. Hoffmann, Petra Dr. Hörold, Ulrike Prof. Dr. Huschner, Wolfgang Kachel, Bianka (MdL) Prof. Dr. Kiss, Csaba Gy. Dr. Klein, Angelika (MdL) Knauer. Gerhard Knolle, Karsten (MdEP) Dr. Kreiker, Sebastian Laurence, Lochee-Louineau Dr. Letko. Gerold Dr. Lücke, Monika Meinhardt, Matthias
29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55.
Meyer, Harald Prof. Dr. Michalowski, Roman Mittelstadt, Manfred Prof. Dr. Müller. Michael G. Patri. Kai Hendrik Dr. Peter, Hartmut Prof. Dr. Pollmann. Klaus Popien. Astrid Prof. Dr. Puhle. Matthias Prof. Dr. Rädle. Fidel Prof. Dr. Ranft. Andreas Reitmann, Thomas Riethmüller, Friedrich Dr. Roch-Lemmer. Irene Prof. Dr. Röckelein. Hedwig Ruch, Franz Schneider. Veronika Dr. Schnellhardt. Horst (MdEP) Prof. Dr. Schubert. Ernst Prof. Dr. Schulze Wessel. Martin Seiart, Hans-Gregor Prof. Dr. Siebrecht. Adolf Dr. Sobetzko, Werner (MdL) Prof. Dr. Steindorff. Ludwig Prof. Dr. Sturm. Roland Tichatschke. Detlef Wiese. Marga
Weiterhin Vertreter des Regierungspräsidiums Halle, Mitglieder verschiedener Kultur- und Heimatvereine und Museen des Harzvorlandes, Schüler und Lehrer des Europagymnasium ,.Richard v. Weizsäcker" Thale und des Dorothea-Erxleben-Gymnasium Quedlinburg, Studierende der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger der Stadt Quedlinburg und des Umlandes.