Der Historiker als Detektiv - der Detektiv als Historiker: Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman [1. Aufl.] 9783839411087

Dieses Buch widmet sich dem detektivischen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft und der Beziehung von Historik,

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German Pages 542 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Narrative turn und detektivische Narrative
1. Geschichte als Romanze, Komödie, Tragödie und Satire
2. Der Holocaust und die »Grenzen der Repräsentation«
3. Geschichtserzählungen als »Synthesis des Heterogenen«
4. Geschichtsschreibung als detektivische Erzählung
5. Fiktionale und historiographische Narrative
6. Von der enquête zum examen
II. Der Historiker als Untersuchungsrichter
1. Forensische Beredsamkeit und der Historiker als Inquisitor
1.1 Gerichtsrede und Geschichtsschreibung in der antiken Rhetorik
1.2 Rechtspraxis und Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert
1.3 Auf Geständnissuche: Johann Martin Chladenius
2. Die Reform des Strafrechts und die Geschichtswissenschaft
2.1 Freie richterliche Beweiswürdigung und vollgültiger Indizienbeweis
2.2 Die Germanistentagungen 1846/1847
2.3 »Strafrechtliche Erfahrungen«: Droysen im Verfassungsausschuss 1848
3. Droysens kriminalistische Methodik
3.1 Heuristische Befragungstechnik
3.2 Vom »Geständnis« zum »Tatort« der Vergangenheit
3.3 Die Kritik des Tatbestandes
3.4 Forschend-verstehende Interpretation
4. Droysens Typologie historiographischer Darstellungen
4.1 Einblick in die Forschung
4.2 Die erzählende Darstellung
4.3 Die untersuchende Darstellung
4.4 Droysen als Theoretiker des Kriminalromans
5. Geschichtsdarstellung und zeitgenössische Kriminalliteratur
5.1 Die juristische »Geschichtserzählung«
5.2 Schillers ›kriminalanthropologische‹ Geschichtskonzeption
5.3 Kriminal-Geschichten im Neuen Pitaval
5.4 Detektivisches Erzählen in Untersuchungsrichtergeschichten
6. Geständnis, Indizien, Forschungsfabeln
III. Geschichtstheorie im golden age of crime
1. Vom Untersuchungsrichter zum Detektiv: Marc Bloch
2. Robin George Collingwood: Der Historiker als Detektiv
2.1 Geschichte, Archäologie und Detektion
2.2 »Who killed John Doe?« Collingwood und Agatha Christie
2.3 »Wissenschaftliche Geschichtsschreibung«
2.4 Frage und Antwort
2.5 Der Rätselroman als Reflexionsfigur der Historik
2.6 Historische Einbildungskraft und re-enactment
2.7 Indizienbeweis, Eingeständnis und abduktives Schlussfolgern
2.8 Die Rhetorik des Detektivromans
3. Einwände und Übergänge
3.1 Siegfried Kracauers Unbehagen an der ratio des Detektivs
3.2 Detektivische Befragung und hermeneutisches Gespräch
3.3 Kritik der Geschichtsschreibung in Josephine Teys The Daughter of Time
IV. Der Nationalsozialismus als Kriminalroman
1. Der Nationalsozialismus im französischen und britischen Kriminalroman
1.1 Okkupation und Kollaboration im französischen Kriminalroman
Die Besatzung Frankreichs als roman noir bei Léo Malet
Scheinidentitäten bei Boileau & Narcejac
Meurtres pour Mémoire: Didier Daeninckx
1.2 Der Nationalsozialismus im britischen Thriller
Der Faschismus im britischen Agentenroman nach 1945
Der Nationalsozialismus als hardboiled-Fiktion
Ein SS-Kriminalkommissar »entdeckt« den Holocaust
Zur Kritik des Historikers Raul Hilberg
2. Serielle Aufklärung: NS-Täter im Kriminalroman der DDR
2.1 Der Aufstieg Hitlers als »gangsterhistorie«
2.2 Krimi-Diskurse über den Faschismus im Systemkonflikt
2.3 Plotkonstruktionen im DDR-Kriminalroman
Historischer Krimi-Materialismus und kumulative Verbrechen
West-Ermittlungen – Ost-Ermittlungen
Die Historisierung des Faschismus
2.4 Kommissar Maigret in der DDR: Jürgen Kuczynski
2.5 Von der »historienfarce« zur kriminalistischen Romanze
3. Kriminalistische Fiktionen in der Bundesrepublik
3.1 Das Serienmörder-Paradigma
Die Tötungsfabrik
Triebtäter im nationalsozialistischen Unrechtsstaat
Der NS-Täter als Psychopath
Gesellschaftliche Psychopathologien I: Pavel Kohout
Gesellschaftliche Psychopathologien II: Horst Bosetzky
3.2 Retrospektive Detektivromane in der Bundesrepublik
Verdrängung und Rache
Spurensuche und Oral History
Geschichte, Recht und Gerechtigkeit
Verbrechen, Schuld und deutsche Identität
Über Habsucht und Profitgier
3.3 Von der Exklusion zur Inklusion der Täter
4. Die Repräsentation des Grauens
4.1 Angst und Erschrecken
4.2 Das Grauen bei Christopher R. Browning und Daniel Goldhagen
4.3 Detektivschema und NS-Historiographie
5. Literarischer Eigensinn und poetologischer Geschichtensinn
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Abkürzungen
Quellen
Romane
Filmographie
Literatur
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Der Historiker als Detektiv - der Detektiv als Historiker: Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman [1. Aufl.]
 9783839411087

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Achim Saupe Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

H i s t o i r e | Band 7

2009-07-28 09-24-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02de216666536342|(S.

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Achim Saupe (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.

2009-07-28 09-24-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02de216666536342|(S.

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Achim Saupe Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman

2009-07-28 09-24-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02de216666536342|(S.

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf sowie der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Julia Jungfer Umschlagbild: Markus Willeke Lektorat: Susanne Pocai, M.A.; Dr. Angelika Saupe Satz: Achim Saupe Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1108-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-07-28 09-24-31 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02de216666536342|(S.

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) T00_04 impressum - 1108.p 216666536470

Inhalt Vorwort ..............................................................................................

9

Einleitung ...........................................................................................

11

I

Narrative turn und detektivische Narrative

..................

25

1

Geschichte als Romanze, Komödie, Tragödie und Satire .........

27

2

Der Holocaust und die »Grenzen der Repräsentation« ............

32

3

Geschichtserzählungen als »Synthesis des Heterogenen« .......

38

4

Geschichtsschreibung als detektivische Erzählung ..................

45

5

Fiktionale und historiographische Narrative .............................

50

6

Von der enquête zum examen ...................................................

53

II Der Historiker als Untersuchungsrichter .......................

59

1 Forensische Beredsamkeit und der Historiker als Inquisitor ... 1.1 Gerichtsrede und Geschichtsschreibung in der antiken Rhetorik .............................................................. 1.2 Rechtspraxis und Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert 1.3 Auf Geständnissuche: Johann Martin Chladenius .................

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2 Die Reform des Strafrechts und die Geschichtswissenschaft .. 2.1 Freie richterliche Beweiswürdigung und vollgültiger Indizienbeweis ............................................................................. 2.2 Die Germanistentagungen 1846/1847 ..................................... 2.3 »Strafrechtliche Erfahrungen«: Droysen im Verfassungsausschuss 1848 ................................. 3 Droysens kriminalistische Methodik .......................................... 3.1 Heuristische Befragungstechnik ............................................... 3.2 Vom »Geständnis« zum »Tatort« der Vergangenheit ................. 3.3 Die Kritik des Tatbestandes ....................................................... 3.4 Forschend-verstehende Interpretation ..................................... 4 Droysens Typologie historiographischer Darstellungen .......... 4.1 Einblick in die Forschung .......................................................... 4.2 Die erzählende Darstellung ........................................................ 4.3 Die untersuchende Darstellung ................................................ 4.4 Droysen als Theoretiker des Kriminalromans .......................... 5 Geschichtsdarstellung und zeitgenössische Kriminalliteratur . 5.1 Die juristische »Geschichtserzählung« ...................................... 5.2 Schillers ›kriminalanthropologische‹ Geschichtskonzeption ... 5.3 Kriminal-Geschichten im Neuen Pitaval ...................................

60 64 68 78 78 93 98 103 105 108 110 119 125 126 134 137 146 151 153 156 165

5.4 Detektivisches Erzählen in Untersuchungsrichtergeschichten ............................................ 183 6

Geständnis, Indizien, Forschungsfabeln ................................... 192

III Geschichtstheorie im golden age of crime 1

................... 195

Vom Untersuchungsrichter zum Detektiv: Marc Bloch ............. 197

2 Robin George Collingwood: Der Historiker als Detektiv .......... 2.1 Geschichte, Archäologie und Detektion .................................... 2.2 »Who killed John Doe?« Collingwood und Agatha Christie ..... 2.3 »Wissenschaftliche Geschichtsschreibung« .............................. 2.4 Frage und Antwort ...................................................................... 2.5 Der Rätselroman als Reflexionsfigur der Historik ................... 2.6 Historische Einbildungskraft und re-enactment ...................... 2.7 Indizienbeweis, Eingeständnis und abduktives Schlussfolgern ............................................................................. 2.8 Die Rhetorik des Detektivromans .............................................. 3 Einwände und Übergänge ........................................................... 3.1 Siegfried Kracauers Unbehagen an der ratio des Detektivs .... 3.2 Detektivische Befragung und hermeneutisches Gespräch ..... 3.3 Kritik der Geschichtsschreibung in Josephine Teys The Daughter of Time ..................................................................

IV Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

207 208 212 216 223 226 229 233 240 246 246 249 252

................ 265

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Der Nationalsozialismus im französischen und britischen Kriminalroman ........................................................... 1.1 Okkupation und Kollaboration im französischen Kriminalroman ............................................................................ Die Besatzung Frankreichs als roman noir bei Léo Malet ....... Scheinidentitäten bei Boileau & Narcejac ................................ Meurtres pour Mémoire: Didier Daeninckx ................................ 1.2 Der Nationalsozialismus im britischen Thriller ....................... Der Faschismus im britischen Agentenroman nach 1945 ..... Der Nationalsozialismus als hardboiled-Fiktion ...................... Ein SS-Kriminalkommissar »entdeckt« den Holocaust ............ Zur Kritik des Historikers Raul Hilberg .................................... 2 Serielle Aufklärung: NS-Täter im Kriminalroman der DDR ...... 2.1 Der Aufstieg Hitlers als »gangsterhistorie« ................................ 2.2 Krimi-Diskurse über den Faschismus im Systemkonflikt ...... 2.3 Plotkonstruktionen im DDR-Kriminalroman ........................... Historischer Krimi-Materialismus und kumulative Verbrechen .................................................................................. West-Ermittlungen – Ost-Ermittlungen .................................... Die Historisierung des Faschismus .......................................... 2.4 Kommissar Maigret in der DDR: Jürgen Kuczynski ................ 2.5 Von der »historienfarce« zur kriminalistischen Romanze ........

274 275 278 282 287 292 298 302 308 319 325 325 333 343 344 346 356 361 370

3 Kriminalistische Fiktionen in der Bundesrepublik .................... 3.1 Das Serienmörder-Paradigma .................................................... Die Tötungsfabrik ....................................................................... Triebtäter im nationalsozialistischen Unrechtsstaat ............... Der NS-Täter als Psychopath ..................................................... Gesellschaftliche Psychopathologien I: Pavel Kohout .............. Gesellschaftliche Psychopathologien II: Horst Bosetzky ......... 3.2 Retrospektive Detektivromane in der Bundesrepublik ........... Verdrängung und Rache ............................................................ Spurensuche und Oral History ................................................. Geschichte, Recht und Gerechtigkeit ....................................... Verbrechen, Schuld und deutsche Identität ............................ Über Habsucht und Profitgier ................................................... 3.3 Von der Exklusion zur Inklusion der Täter .............................. 4 Die Repräsentation des Grauens ................................................ 4.1 Angst und Erschrecken .............................................................. 4.2 Das Grauen bei Christopher R. Browning und Daniel Goldhagen ....................................................................... 4.3 Detektivschema und NS-Historiographie ................................. 5

374 377 379 384 395 400 410 420 421 423 427 431 436 439 443 444 448 458

Literarischer Eigensinn und poetologischer Geschichtensinn . 463

Zusammenfassung ............................................................................ 471 Literaturverzeichnis ........................................................................... Abkürzungen ..................................................................................... Quellen ............................................................................................... Romane .............................................................................................. Filmographie ...................................................................................... Literatur .............................................................................................

485 485 486 486 493 495

Vorwort Wolfgang Wippermann und Hans Richard Brittnacher danke ich für die außerordentliche Unterstützung und die engagierte Betreuung dieser Arbeit, die 2007 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde und nun in leicht überarbeiteter und aktualisierter Fassung vorliegt. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Wolfgang Wippermann, dessen uneingeschränktes Engagement für seine Doktoranden ich ausdrücklich hervorheben möchte, sei herzlich gedankt für den kontinuierlichen Austausch über unsere Arbeiten. Das Evangelische Studienwerk Villigst e.V. hat die Dissertation nicht nur durch ein Stipendium, sondern auch intellektuell gefördert. Für den großzügigen Zuschuss für die Drucklegung möchte ich mich bei der Gerda Henkel Stiftung sowie der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. bedanken. Anregende Kommentare und wertvolle Hinweise lieferten José Brunner, Etienne François, Ulrich Raulff, Jörn Rüsen und Jürgen Straub, ebenso wie meine neuen Kolleginnen und Kollegen am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Zudem seien die inspirierenden Gespräche über gute und weniger gute Krimis und über das Schreiben der Geschichte als Krimi mit Elfriede Müller, Alexander Ruoff, Kerstin Schoof und Carsten Würmann erwähnt. Ohne die immer wieder ermutigende und auch finanzielle Unterstützung durch meinen Vater und meine Geschwister wäre diese Arbeit nicht entstanden. Aber auch all jenen Freunden, die sich in den vergangenen Jahren immer wieder nach dem Stand der Arbeit erkundigt haben oder einfach da waren, möchte ich danken. Julia Jungfer, deren wachsendes Interesse an der Arbeit mich herausforderte, danke ich für ihre Unterstützung, nicht zuletzt bei der grafischen Gestaltung des Titels. Von meinem Schreibtisch aus blicke ich auf eine ihrer Fotografien – diese besitzt eine visuelle Evidenz, die Texte und ihre Interpretation kaum einzuholen vermögen. Schließlich gilt mein besonderer Dank Angelika Saupe und Susanne Pocai für das Lektorat, Alexander Thomas und Felix Wiedemann für die Diskussion weiter Teile der Arbeit und Markus Willeke dafür, dass seine barrier tapes den Titel zieren.

Einleitung »›Total verrückt. Sie war Nazi, genauso wie ihr Vater. Vielleicht sogar noch fanatischer.‹ ›Das erklärt alles‹, sagte Giuseppe. ›Obwohl ich im 1 Augenblick nicht genau weiß, was.‹«

Giuseppe ist schwedischer Kriminalist. In Die Rückkehr des Tanzlehrers von Henning Mankell hinterlässt der Nationalsozialismus melodramatische Spuren im schwedischen Schnee: Ein per Internet verknüpftes internationales Netzwerk aus alten und neuen Nazis; ein brutaler Mord an einem Berliner Juden um 1940, dessen Sohn Jahre später Rache nehmen wird; die Tochter eines alten Nazis, die selbst zur Mörderin wird; ein schwedischer Kommissar, dessen Vater für die Nationalsozialisten kämpfte: Das historische Drama, das sich hinter dem Fall verbirgt, entpuppt sich auf wenigen Seiten der ausufernden kriminalistischen Fahndungsfiktion. Das Ergebnis der Ermittlungen beweist vor allem eine Tatsache: Wenn Kriminalisten auf den Plan treten, kommen schmerzhafte Wahrheiten ans Licht einer Welt, die weiterhin von unverbesserlichen Rassisten bevölkert wird und denen man entgegenzutreten hat. In Mankells Krimi erhebt ein Humanismus seine Stimme, moralinsauer, aber mit gesellschaftlicher Berechtigung. Giuseppe, dem Kriminalisten, möchte man freilich entgegenhalten, dass das Tochtersein kaum etwas erklärt, weder im Augenblick seines Sprechaktes, noch im Nachhinein aufgrund irgendwelcher allgemeiner Annahmen über den Einfluss von Vätern auf Töchter. Und auch die biographischen Umstände, die der Roman dem Leser anbietet, erklären nicht überzeugend, warum die Tochter dieses von der nationalsozialistischen Ideologie überzeugten Vaters selbst zur Mörderin aus Geschichte wird. Indem die Erzählung mit einem Eingeständnis der Tat durch die Tochter endet, behauptet die Narration: Es ist so gewesen, wie es der Detektiv herausgefunden hat. Henning Mankell greift in Die Rückkehr des Tanzlehrers wie andere Bestsellerautoren vor ihm – und solche, die es werden wollten, wurden und wollen – den Nationalsozialismus als Thema für den Kriminalroman auf. Den Repräsentationen des Nationalsozialismus im Rahmen einer fiktionalen Verbrechensgeschichte, eines Thrillers, oder einer retrospektiven detektivischen Aufklärungsgeschichte widmet sich die vorliegende Arbeit. Gleichzeitig will sie untersuchen, wie sich die Vorstellung vom Detektiv als Historiker ausgebildet hat. Dies führt die Arbeit zurück auf die hermeneutische Geschichtstheorie des 18. bis 20. Jahrhunderts, in der sich umgekehrt die Metapher vom Historiker als Untersuchungsrichter und Detektiv entfaltet.

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Henning Mankell, Die Rückkehr des Tanzlehrers, Wien: Paul Zsolnay 2002, S. 473.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Eine kriminalistische Repräsentation der Vergangenheit, den Nationalsozialismus mit eingeschlossen, ist kein Privileg des populären Kriminalromans. Sowohl populäre, auf ein breites Publikum ausgerichtete Geschichtsdarstellungen, als auch explizit wissenschaftliche Geschichtswerke haben eine Affinität zu kriminalistischen Erzählweisen. Fernsehtrailer versprechen »Geschichte wie ein Krimi«; eine Rezension über einen Syntheseversuch über das »Dritte Reich« aus der Feder des britischen Historikers Richard Evans spricht vom »Historiker in der Rolle des Kriminalkommissars«. 2 Schon 1940 berief sich Sebastian Haffner in Germany: Jekyll & Hyde auf den Klassiker der Verbrechensliteratur von Robert Louis Stevenson aus dem Jahr 1886, um den Aufstieg des Nationalsozialismus zu analysieren. 3 Und in der neueren »Täterforschung« wird die NS-Geschichtsforschung zu einer umfassenden historischen Kriminologie, die sich auch auf die Kriminalliteratur beruft: Laut Harald Welzer müsse man den Ausspruch »Es gibt keine Mörder, sondern nur Menschen, die Morde begehen« des Kommissars Kurt Wallander aus Mankells Roman Hunde von Riga und die Ansicht des Holocaustforschers Raul Hilberg, dass »die Deutschen nicht aus heiterem Himmel mordeten, sondern die Täter dem Morden einen Sinn beimaßen«, nur zusammenführen, um »sämtliche theoretischen Ausgangsbedingungen für eine sozialpsychologische Täterforschung« zu erlangen. 4 Diese Beispiele zeugen von den Interdependenzen von Kriminalistik, Kriminologie, Historik, Historiographie und Kriminalliteratur. In ihnen wird die historische Forschungspraxis vor dem Hintergrund detektivischer Fiktionen reflektiert, dem Kriminalroman analytisches Potential zugesprochen und es werden literarische Verbrecherbilder und Aufklärungsmodelle zur Analyse historischer Verbrechen zu Rate gezogen. Im Kriminalroman übernimmt schließlich der Detektiv die Arbeit des Historikers. Damit ist das Forschungsfeld der vorliegenden Arbeit in knapper Form umrissen: Sie widmet sich der Metapher des Historikers als Detektiv und der Repräsentation des Nationalsozialismus im Kriminalroman. Der Detektiv gehört zu den prominenten literarischen »Kollektivsymbolen« des 20. Jahrhunderts. 5 In ihm verkörpern sich ein spezifisches Forschungs2

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4

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Lothar Kettenacker, Der Historiker in der Rolle des Kriminalkommissars, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.11.2006. »Geschichte ist wie ein guter Krimi«, versprach ein Trailer 2005 für eine Fernsehdokumentation aus den Werkstätten des Guido Knopp im ZDF. Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde [1940], Berlin 1996. Robert Louis Stevenson, The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde, London: Longmans Green and Co. 1886. Zur Populärgeschichte Haffners: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 11-32, insb. S. 17ff. Harald Welzer, Wer waren die Täter? Anmerkung zur Täterforschung aus sozialpsychologischer Sicht, in: Gerhard Paul (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? (=Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; Bd. 2), Göttingen 2002, S. 237-253; hier S. 237. Zum Begriff »Kollektivsymbol« und dem im Folgenden gebrauchten Begriff des »Interdiskurses« vgl.: Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. Mit einem Beitrag von Jochen Hörisch und Hans-Georg Pott,

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Einleitung

ethos, die Suche nach Wahrheit und das Streben nach Gerechtigkeit. Doch mit der Wahrheitssuche und dem Gerechtigkeitsstreben sind die Konnotationen, die bei der Metapher vom Historiker als Detektiv mitschwingen, keineswegs erschöpft. Ein detektivischer Zugang zur Vergangenheit impliziert eine Metaphorik der Spur und des Spurenlesens, in erster Linie also kombinatorische Fähigkeiten bzw. ein logisches oder semiotisches Schlussverfahren auf der Basis von materiellen sowie sprachlichen Anzeichen. So ist das Spurenlesen eine Wissenskunst und eine Orientierungspraxis in Raum und Zeit. 6 Die Figur der Spur deutet nämlich die Problematik von Anwesenheit und Abwesenheit, von Vergangenheit und Vergegenwärtigung, sowie von Erinnerung und Wiedererkennen an, was in eine Psychologie der Spur und eine Analyse des Verdrängten und Unbewussten des historischen Gedächtnisses, oder aber – wie bei Immanuel Levinas oder Paul Ricœur – in eine Metaphysik der Spur münden kann. 7 Ihre imaginative Kraft erhält die Metapher des

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München 1983. Ders., Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik, in: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Methoden, Wiesbaden 2006, S. 407-430. Für Jürgen Link bildet die Literatur einen »reintegrativen Interdiskurs«, der zwischen den verschiedenen Spezialdiskursen der Einzelwissenschaften und ausdifferenzierten Lebenswelten vermitteln kann. Ich adaptiere den Begriff des Interdiskurses für die Beziehungen und Interferenzen zwischen Kriminalistik und Historik, historiographischer und kriminalliterarischer Darstellung. Dabei wird der Begriff des Interdiskurses jedoch nicht auf den Bereich der Literatur eingeschränkt, denn gerade die Geschichtswissenschaft fungiert sowohl als »Spezialdiskurs« als auch als »reintegrativer Interdiskurs«. Neben dem historiographischen Fachdiskurs ist es das Bestreben der Geschichtsschreibung, den politischen, ökonomischen, sozialen, technischen und mentalen Welten einen spezifisch historischen Sinn zu verleihen, um den Kontingenzen der Gegenwart zu begegnen und dem Leben einen Sinn zuzuweisen, und zwar im Hinblick darauf, dass die offene Zukunft und das Ende der eigenen Geschichte als weniger bedrohlich empfunden wird. Der »Detektiv« als ein »Kollektivsymbol« schafft hingegen einen assoziativen Bildraum, auf den sich verschiedene Diskurse per Analogie beziehen können. Mit der metaphorischen Bezugnahme auf das Kollektivsymbol »Detektiv« machen sich die Wissenschaften verständlich, indem sie bestimmte Logiken und Sinnschemata adaptieren, wie sie in der Literatur vorgeführt werden. Sybille Krämer/Gernot Grube/Werner Kogge (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt/M. 2007. Zur Semiotik der Spur vgl. vor allem die Theorie der Abduktion als logisches Schlussverfahren bei: Charles S. Peirce, Collected Papers, Cambridge 19311958. Hier Kapitel III, 2.6. Zum psychologischen Hintergrund: Jürgen Straub/Jörn Rüsen (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit, Frankfurt/M. 1998. Rolf Haubl/Wolfgang Mertens, Der Psychoanalytiker als Detektiv. Eine Einführung in die psychoanalytische Erkenntnistheorie (=Schriften zur psychoanalytischen Behandlung), Stuttgart 1996. Zur Metaphysik und dem Existenzialen der Spur bei Immanuel Levinas siehe einleitend: Zeèv Levy, Die Rolle der Spur in der Philosophie von Emmanuel Levinas und Jaques Derrida,

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Detektivs aber auch dadurch, dass die Praxis von Detektiven aus unterschiedlichen kriminalliterarischen Fiktionen mit divergierenden Ansätzen innerhalb der Geschichtstheorie in einen Zusammenhang gestellt werden kann. Schließlich verweist die Metapher vom Historiker als Detektiv darauf, dass sich Historiker in zentraler Weise mit dem Devianten, dem Kriminellen, dem Abnormen und dem Bösen in der Geschichte auseinandersetzen: mit dem »Abweichenden« und dem »Besonderen«. Das Abweichende stellt dabei immer eine besondere Herausforderung für die geschichtswissenschaftliche Erklärung dar, denn es entzieht sich einem unmittelbaren Verständnis, es lässt sich nicht einordnen, es konstituiert ein Forschungsproblem. Die Figur des Detektivs gehört sicher zu den bevorzugten zeitgenössischen Metaphern, mit denen Historiker ihre Forschungspraxis umschreiben. 8 Die Bezugnahme auf den Detektiv ist jedoch nicht die einzige Metapher, die im Bereich der Geschichtstheorie wiederholt auftaucht: Neben der verwandten metaphorischen Figur des Historikers als Richter, taucht der Historiker in geschichtstheoretischen Schriften etwa als Laborant oder Programmierer auf, womit ein Bezug zu naturwissenschaftlichen und mathematischen Erkenntnismodellen hergestellt wird. 9 Während die Rede vom Historiker als »Künstler« – insbesondere seit Rankes vielzitierter Äußerung, dass die Geschichte »Wissenschaft und Kunst zugleich« sein solle – ebenso wie Analogien zwischen Fotografie und Historiographie direkt auf Fragen der historiographischen Darstellung verweisen, ist die Rede von der »Werkstatt des Historikers« bzw. dem »Werkzeug des Historikers« der klassische Gegenpol, der auf die Anwendung der »historisch-kritischen Methode« abhebt. 10 in: Krämer/Grube/Kogge (Hg.), Spur, S. 145-154; sowie: Sybille Krämer, Immanenz und Transzendenz der Spur. Über das epistemologische Doppelleben der Spur, in: Krämer/Grube/Kogge (Hg.), Spur, S. 155-181. 8 Metaphern, die den Forschungsprozess der Historiographie umschreiben, sind bisher kaum untersucht worden, auch nicht bei: Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historischen Denken, München 1978. 9 Die Beziehung von Historiker und Richter beleuchten: Carlo Ginzburg, Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri, Berlin 1991. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bekommt die juristische Aufarbeitung insgesamt eine neue Dimension. Einführend für die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Zusammenhang mit der Arbeit von Historikern: Norbert Frei/Dirk van Laak/Michael Stolleis (Hg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, München 2000. Zum Verhältnis von Geschichte, Recht und Gerechtigkeit nach dem Holocaust: Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (=Übergänge; Bd. 50), München 2004, S. 488-515. Reinhart Koselleck, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: Dieter Simon (Hg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages (=Studien zur deutschen Rechtsgeschichte; Bd. 30), Frankfurt/M. 1987, S. 129-149. 10 Während im Französischen die historiographische Forschungspraxis auch als künstlerische Praxis gesehen wird, wenn Marc Bloch etwa vom Historiens à l’atelier oder François Furet vom L’atelier de l’histoire spricht, wird sie in der deutschsprachigen Tradition zum Handwerk, zur reinen Anwendung der

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Einleitung

In der neueren Historiographie ist die Vorstellung einer detektivischen Geschichtsschreibung mit der »Mikrogeschichte« und insbesondere mit dem Werk Carlo Ginzburgs verbunden. Für Ginzburg steht die Forschungsarbeit des Historikers in engem Zusammenhang mit dem am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden, von ihm sogenannten »Indizienparadigma« in den Humanwissenschaften. 11 Ginzburg sieht die Fiktionen um Sherlock Holmes vor dem Hintergrund der Spurenanalyse einer ganzen Reihe neuer Humanwissenschaften: der Kriminalistik, der Philologie, der Psychoanalyse, der Medizin, der Kunstgeschichte. Die Suche nach Spuren und Indizien ist für Ginzburg eine universelle Kulturtechnik und Wissenskunst: Indizien zu entziffern, kann wie im Fall des steinzeitlichen Jägers eine überlebensnotwendige pragmatische Tätigkeit sein, oder man deutet das Spurenlesen als eine anthropologische Grundkonstante menschlichen Erkenntniserwerbs. Die Spurensuche ist dabei nicht nur Teil dessen, was Historiker »Heuristik« oder »kritische Methode« nennen, und sie betrifft nicht nur die Feststellung eines »historischen Tatbestandes«. Der »indirekte« Indizienbeweis wirkt sich darüber hinaus auf die Form der Erklärung und der Interpretation bis hin zur Narration aus, wie diese Arbeit zeigen wird. Die damit angesprochenen Interferenzen zwischen Rechtsdiskurs und Historie sind für den Historismus des 19. Jahrhunderts bisher kaum beleuchtet worden. Dabei hat die Verknüpfung von wissenschaftlicher Wahrheitsfindung, Rechtsmetaphorik und Rhetorik, die mit dem Verfahren des Indizienbeweises in der Historiographie verbunden ist, seit den antiken Ausführungen zur forensischen Beredsamkeit eine lange und verwickelte Tradition. So steht etwa der neuzeitliche, naturphilosophisch gebrauchte Tatsachenbegriff bei »historischen Methode«. So verglich der deutsche Historiker Max Müller in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine gesammelten Aufsätze mit »Spänen« Chips from a German Workshop -, die während der Arbeit an seinem Hauptwerk gewissermaßen abgefallen waren. Der Mediävist und Hansehistoriker Ahasver von Brandt überführte die historische Praxis schließlich in seinem Buch Werkzeug des Historikers konsequent in ein »deutsches Handwerk«, indem er seinen Schülern und Studenten nahelegte, die Geschichte mit Schraubzwingen und Schleifinstrumenten der »historischen Hilfswissenschaften« zu bearbeiten. Siehe: Marc Bloch, Histoire et Historiens, hg. v. Etienne Bloch, Paris 1995. Auf deutsch bezeichnenderweise unter dem Titel erschienen: Marc Bloch, Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hg. v. Peter Schöttler, Frankfurt 2000. François Furet, L’atelier de l’histoire, Paris 1982. Friedrich Max Müller, Chips from a German Workshop, London 1867. Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 1958. 11 Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: Ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78-125. Zur Metapher des Historikers als Detektiv siehe neuerdings: Friedrich Lenger, Detektive und Historiker – Detektivgeschichten und Geschichtsschreibung, in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hg.), Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften, Köln 2009, S. 31-41.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Francis Bacon in enger Verbindung mit juristischen und historiographischen Wahrheitsdiskursen. 12 Allerdings ist bisher nicht gefragt worden, inwieweit auch die Geschichtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts als eine Indizienwissenschaft gelten kann, und ob dem Indizienparadigma eine »rechtshistorische Grundlage« beizumessen ist, welche über die Entstehung der modernen Kriminalistik hinausgeht. 13 Dieser Frage soll im Anschluss an Michel Foucaults Ausführungen zur Genealogie »juristischer Formen« nachgegangen werden, der die Epistemologien der Wahrheit und die Produktion von Wissen direkt an juristische Praktiken der Wahrheitsermittlung anbindet. 14 Die Bezugnahme auf die Figur des Detektivs berührt jedoch nicht nur verschiedene Strategien der Wahrheitsfindung und des Gerechtigkeitssinns, sondern auch die Frage, inwieweit sich historiographische Darstellungen in narrativer wie inhaltlicher Sicht als kriminalistische bzw. detektivische Narrative lesen lassen. Die Kriminalliteratur hat – bei allen Variationen – formale Narrative herausgebildet, die in einem weiten Sinn einem literarischen Realismus verpflichtet sind oder aber im Rätselroman des golden age of crime ein analytisches Erzählmodell entfalten und in denen der Prozess der Wahrheitsfindung in jeweils spezifisch imaginativer Weise dargeboten wird. Deshalb soll gezeigt werden, wie sich kriminalistische und historiographische Narrative sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht überschneiden. Der Blick auf die Metapher des Detektivs, auf kriminalistische Narrative innerhalb der Historiographie und historische Narrationen innerhalb der Kriminalliteratur ermöglicht es, das komplexe Beziehungsgeflecht von literarischer und historischer Geschichtserzählung um eine bedeutende Variante zu 12 Lorraine Daston, Baconsche Tatsachen, in: Rechtsgeschichte 1 (2002), H. 1, S. 36-55. Siehe auch ihre Aufsätze über die Geschichte der wissenschaftlichen Einbildungskraft, Objektivität und Neugierde: Dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt/M. 2001. Dies., Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit (=Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, Themen; Bd. 71), München 2001. 13 Während Carlo Ginzburg das detektivische Modell für die von ihm initiierte Mikrogeschichtsschreibung in Anspruch genommen hat, gibt es keine Studien, die der Frage nachgehen, inwiefern das Indizienparadigma schon im 19. Jahrhundert in den Geschichtswissenschaften Bedeutung erlangt hat. Zur Epistemologie der Spur und dem Indizienparadigma in der Archäologie, der Soziologie und der Ethnographie siehe: Cornelius Holtorf, Vom Kern der Dinge keine Spur. Spurenlesen aus archäologischer Sicht, in: Krämer/Grube/ Kogge (Hg.), Spur, S. 333-352. Ulrich Veit/Tobias L. Kienlin/Christoph Kümmel/Sascha Schmidt (Hg.), Spuren und Botschaften. Interpretationen materieller Kultur, Münster 2003. (Hg.), Spuren und Botschaften. Interpretationen materieller Kultur (=Tübinger archäologische Taschenbücher; Bd. 4), Münster 2003. Heinz Bude, Die soziologische Erzählung, in: Thomas Jung/Stefan Müller-Doohm (Hg.), »Wirklichkeit« im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 409429. 14 Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt/M. 2003.

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Einleitung

erweitern: die Interdependenzen zwischen Historiographie und Kriminalliteratur. Damit rückt die für die Geschichtswissenschaften zentrale Frage nach der Stellung, Bedeutung und Funktion der Erzählung in den Fokus der Arbeit, die im Zuge des narrative turn thematisiert worden ist und eine Grundlagendiskussion in der Geschichtswissenschaft ausgelöst hat. Die interdisziplinär geführte, mittlerweile vierzig Jahre andauernde und zuletzt deutlich abgekühlte Debatte kann hier nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr soll in einem ersten und der theoretischen Verankerung der Arbeit dienenden Kapitel das Forschungsanliegen präzisiert werden – anhand eines selektiven Einblicks in Überlegungen von Hayden White, Paul Ricœur, Carlo Ginzburg und Michel Foucault. Jenseits der Debatte über die Erkenntnisgrundlagen und den Wissenschaftscharakter der Historiographie, die im Zusammenhang des narrative turn hinterfragt werden, besteht die Herausforderung des narratologischen Ansatzes in der Frage, inwieweit sich die moderne Geschichtswissenschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin in einem Austausch mit literarischen Erzählverfahren befindet. Die in der historiographiegeschichtlichen Forschung lange Zeit verbreitete Auffassung, dass die »Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaften« seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Anästhetik der historiographischen Darstellung geführt habe, soll dabei in Frage gestellt werden. 15 Die Arbeit versteht sich insgesamt als ein Beitrag zu einer transdisziplinären und kulturgeschichtlichen Narratologie. 16 Der Anspruch einer solchen 15 Die »Verwissenschaftlichung der Historiographie« kann als eines der wesentlichen Paradigmen der deutschsprachigen historiographiegeschichtlichen Forschung der letzten drei Dekaden angesehen werden. Vgl. etwa: Horst Walter Blanke: Historiker als Beruf, in: Karl-Ernst Jeismann (Hg.): Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung, Wiesbaden 1989, S. 343-360. Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt/M. 1993. Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung, in: Reinhart Koselleck/Hartmut Lutz/Jörn Rüsen (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung (=Beiträge zur Historik; Bd. 4), München 1982, S. 147-192. Ders., Die Verwissenschaftlichung der neueren Geschichtsschreibung, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Hamburg 1998, S. 245-260. 16 Astrid Erll/Simone Roggendorf, Kulturgeschichtliche Narratologie. Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative, in: Ansgar & Vera Nünning (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, 73-113. Joseph Vogl, Poetologien des Wissens um 1800, München 1999. Ders., Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M. 1991, S. 193-204. Auch: Arne Höcker/Jeannie Moser/Philippe Weber (Hg.), Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, Bielefeld 2006. Das narratologische Forschungsfeld hat sich in den letzten Jahren in einer Weise verbreitert, dass es kaum mehr überschaubar ist. Einen Überblick bietet: Jörg Schönert, Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie, in: Vittoria Borsó/Christoph Kann (Hg.), Ge-

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

kontextualisierenden und historisierenden Narratologie ist es, die Ausbildung und Bedeutung kultureller Narrative aufzuzeigen, die als historisch wandelbare Phänomene kollektiver Wirklichkeitserzeugung und intersubjektiver Verständigung aufzufassen sind. Dabei übernehmen sie Funktionen der historischen Sinnstiftung – ebenso wie sie selbstverständlich auch zur Dekonstruktion tradierter Modelle der Sinnerzeugung beitragen können. Zweitens will die Arbeit einen Beitrag zur Erforschung der Interdependenzen bzw. »Interferenzen« von Literatur und Geschichte leisten. 17 Neuere Arbeiten, die sich diesem Feld widmen, heben die starre Dichotomie von »Fakten und Fiktionen« bzw. von wissenschaftlichen und historiographischen Erzählungen auf, die sowohl dem Ansatz von Hayden White als auch vielen seiner Kritiker eingeschrieben ist. Explikative Sinnmuster, die sich aus der Narrativität historiographischer Darstellungen ergeben, müssen – dies zeigt gerade Paul Ricœur überzeugend – nicht mit einer vermeintlichen »Fiktionalität« des historischen Diskurses gleichgesetzt werden. Vielmehr geht es um Plausibilisierungsstrategien historiographischer Erzählungen durch die Auseinandersetzung mit literarischen Erzählverfahren bis hin zu ihrer Adaption durch die Geschichtswissenschaften. Die Interferenzen zwischen literarischen und historiographischen Erzählungen sind insbesondere im Hinblick auf die sogenannte Sattelzeit um 1800 und die Entstehung des Historismus umfangreich analysiert worden. So gehen die Arbeiten von Daniel Fulda und Johannes Süssmann der Frage nach, wie sich die »goethezeitliche Ästhetik« (Fulda) und die Entstehung des modernen Romans auf die Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgewirkt haben. 18 Die daran anschließenden Versuche, die Entwicklung der Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert mit den literarischen Avantgarden in Beziehung zu setzen, können jedoch kaum überzeugen, weshalb meist die Divergenzen deutlicher als die Konvergenzen herausgearbeitet

schichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien, Köln 2004, S. 131143. 17 Vgl. zum »Interferenz«-Begriff: Lothar Bluhm/Friedhelm Marx/Andreas Meier (Hg.), Interferenzen. Studien zum Verhältnis von Literatur und Geschichte (=Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; Bd. 120), Heidelberg 1992. Im Folgenden wird auch von Interdependenzen gesprochen sowie von einer »Beziehungsgeschichte« zwischen Kriminalistik, Kriminalliteratur und Geschichtsschreibung, die ihre Höhen und Tiefen, Leidenschaften und Aversionen, Trennungen und Wiederentdeckungen erlebt. 18 Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860 (=European Cultures; Bd. 7), Berlin York 1996. Johannes Süssmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke 1780-1824 (=Frankfurter historische Abhandlungen; Bd. 41), Stuttgart 2000. Jürgen Trabant (Hg.), Sprache der Geschichte (=Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien; Bd. 62), München 2005. Auch die Entstehung des historischen Romans des 19. Jahrhunderts ist so vor dem Hintergrund des narrative turn neu betrachtet worden, vgl. etwa: Ann Rigney, Imperfect Histories. The Elusive Past and the Legacy of Romantic Historicism, Ithaca und London 2001.

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Einleitung

werden können. 19 Da die Geschichtsschreibung ihren Wahrheitsbegriff in zentraler Weise der Kriminalistik entlehnt, erscheint es produktiver, die Historiographie vor dem Hintergrund der Ausbildung und geschichtlichen Entwicklung kriminalistischer Narrative zu betrachten. Damit versucht die Arbeit nicht, mit dem Instrumentarium einer erzähltheoretisch fundierten Narratologie historiographische Werke zu analysieren. 20 Vielmehr geht es um die Bezugnahme auf Kriminalistik und Jurisprudenz in der Geschichtstheorie und um strukturelle, historisch jedoch variable Parallelen zwischen Kriminalliteratur und Geschichtsschreibung. Die Arbeit handelt von den Vorstellungswelten von Historikern, die ihre Praxis als kriminalistische Tätigkeit auffassen, und von ihrem wissenschaftlichen Habitus, der sich aus der Adaption kriminalistischer Fiktionen stiftet. Schließlich geht sie einer Entwicklung innerhalb der Kriminalliteratur nach, deren zentrales Anliegen sowohl die Aufdeckung von historischen Verbrechen als auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist. In einem ersten einleitenden Teil wird der theoretische Hintergrund der Arbeit erweitert. Ausgehend vom narrative turn in der Geschichtswissenschaft und Hayden Whites Poetologie historiographischer Darstellungsformen wird 19 Für das 20. Jahrhundert sind diese Interdependenzen von Literatur und Historiographie allenfalls in einzelnen Beiträgen untersucht worden. Neben Paul Michael Lützeler, der allerdings die Differenz fiktionaler und historiographischer Geschichtsdarstellungen im Auge hat, sind hier insbesondere die Studien von Eberhard Lämmert zu nennen und die Aufsätze in dem von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp herausgegebenen Sammelband Literatur und Geschichte. Daniel Fulda, Formationsphase 1800. Historisch-hermeneutische Diskurse in der Rekonstruktion, in: Scientia Poetica 6 (2002), S. 153-171. Ders./Silvia Serena Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin 2002. Eberhard Lämmert, Geschichten von der Geschichte. Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman, in: Poetica 17 (1985), S. 228-254. Ders., »Geschichte ist ein Entwurf«: Die neue Glaubwürdigkeit des Erzählens in der Geschichtsschreibung und im Roman, in: The German Quarterly 63 (1990), S. 5-18. Paul Michael Lützeler, Fiktion in der Geschichte – Geschichte in der Fiktion, in: Poetik und Geschichte. Viktor Zmegac zum 60. Geburtstag, hg. v. Dieter Borchmeyer, Tübingen 1989, S. 11-21. Daniel Fulda, Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens, in: Poetica 31 (1999), S. 27-60. Gerade im Rahmen der deutschsprachigen Debatte über »Erzählen« und »Erklären« bekundeten Historiker den Willen, sich von den Erzählweisen der literarischen Moderne inspirieren zu lassen. Jürgen Kocka, Bemerkungen im Anschluss an das Referat von Dietrich Harth, in: Hartmut Eggert/Ulrich Profitlich/Klaus R. Scherpe (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 24-28. 20 Vgl. etwa mit umfangreichen Literaturhinweisen: Jan Eckel, Der Sinn der Erzählung. Die narratologische Diskussion in der Geschichtswissenschaft und das Beispiel der Weimargeschichtsschreibung, in: Ders./Thomas Etzemüller (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 201–229.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

auf die Debatte über die Grenzen der Darstellbarkeit des Holocaust eingegangen, in der einige der zentralen Kritikpunkte an Whites These der »Fiktionalität des Faktischen« deutlich werden. Mit Paul Ricœurs narratologischem Ansatz wird versucht, eine differenzierte Sicht auf die Unterschiede von wissenschaftlicher und fiktionaler Geschichtsschreibung zu werfen, um dann der Frage nachzugehen, inwieweit sich die Geschichtsschreibung als detektivische Narration lesen lässt. Um die erkenntnistheoretische Problematik zu umschiffen, die mit dem narrative turn und seiner Rezeption in der Geschichtswissenschaft verbunden ist, wird eine pragmatische Trennung von fiktiven und wissenschaftlichen Deutungen der Vergangenheit vorgeschlagen. Abschließend wird die narratologische Perspektive mit Foucaults Genealogie der juristischen Formen erweitert, da dadurch die Interdependenzen von juristischen Praktiken der Wahrheitsfindung und kriminalistischen Narrativen deutlicher werden. Der zweite Teil widmet sich dem Interdiskurs von Historik, Kriminalistik, Historiographie und Kriminalliteratur im 19. Jahrhundert. Der sich in diesem Zeitraum herausbildende Wissenschaftsanspruch der Historiographie stand im Spannungsfeld von Naturwissenschaften und den aufstrebenden neuen Humanwissenschaften. Zur Konstitution eines neuen Wissenschaftsverständnisses innerhalb der Historiographie trugen jedoch nicht nur eine allgemeine Ausdifferenzierung der Wissenschaften, eine Methodisierung und damit die Ausbildung geschichtswissenschaftlicher Standards bei, sondern auch die Abgrenzungsbemühungen gegenüber »romanhaften« Geschichtsdarstellungen, wie sie gerade der historische Roman des 19. Jahrhunderts mit seiner spielerischen Adaption historiographischer Verfahren hervorgebracht hatte. Sowohl die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft als auch der modernen Kriminalliteratur – solange man unter Ersterer vor allem eine methodengeleitete, institutionalisierte Wissenschaft und unter Letzterer vor allem die Ausbildung detektorischer Erzählweisen versteht – fällt in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Anfänge der modernen Detektivliteratur werden gemeinhin in Edgar Allan Poes Erzählungen The Murder in the Rue Morgue, The Mystery of Marie Roget und The Purloined Letter aus den 1840er Jahren gesehen, doch auch in Deutschland entfalten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts Ansätze eines detektorischen Erzählens in der Populärkultur. Etwa zeitgleich hält Johann Gustav Droysen 1857 erstmals seine Historik-Vorlesung. Sie ist das methodologische Hauptwerk des Historismus, dessen kriminalistischen Impetus es in dieser Arbeit im Hinblick auf die historische Forschung und Darstellung neu zu entdecken gilt. 21 Zu dem von Carlo Ginzburg formulierten »Indizienparadigma« der Humanwissenschaften fehlt bisher eine Untersuchung darüber, inwieweit es auch in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Relevanz erlangt hat und ob ihm eine rechtshistorische Dimension beizumessen ist. Ausgehend von Foucaults Genealogie der juristischen Formen wird gezeigt, wie sich die zeitgenössischen Strafrechtsreformen des 19. Jahrhunderts, insbesondere die 21 Johann Gustav Droysen, Historik, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hist.-krit. Ausg., hg. v. Peter Leyh, Stuttgart 1977.

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Einleitung

Einführung des »vollgültigen Indizienbeweises« und der »freien richterlichen Beweisführung« in den historiographischen Diskurs eingeschrieben haben. Diese Entwicklung wird ausgehend von der Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) von Johann Martin Chladenius hin zu Johann Gustav Droysen verfolgt, dessen Historik-Vorlesungen den Mittelpunkt des Kapitels bilden. Meine daran anschließende Frage ist, inwieweit sich diese rechtlichen Entwicklungen auf die Theorie der historiographischen Erzählung ausgewirkt haben. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, dass mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung eine »Entrhetorisierung« der Geschichtswissenschaft einhergeht, wird anhand von Droysens Unterscheidung von »untersuchender« und »erzählender« historiographischer Darstellung gezeigt, dass die moderne Wissenschaftsprosa vor dem Hintergrund der Entstehung neuer kriminalliterarischer Narrative zu interpretieren ist und auffallende strukturelle narrative Parallelen zu konstatieren sind. Die Interdependenzen der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zur Kriminalliteratur werden dann ausgehend von den Anleitungen zur »Geschichtserzählung« in der Jurisprudenz um 1800 über Friedrich Schillers Entwurf einer ›kriminalanthropologischen‹ Geschichtsschreibung bis hin zu den Pitavalerzählungen von Willibald Alexis verfolgt, die seit 1842 erscheinen. Dem Publikum weithin als historischer Romancier bekannt, verknüpft Alexis im Neuen Pitaval die Schilderung merkwürdiger Rechtsfälle mit der Darstellung von Geschichte, wie dies schon Schiller beabsichtigte. Hier wie auch in populären Untersuchungsrichtergeschichten entwickelt sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein kriminalistisches und detektorisches Erzählen, das als Hintergrund von Droysens Bemerkungen zur untersuchenden Darstellung interpretiert wird. Der dritte Teil zur Geschichtstheorie im golden age of crime zeigt anhand von Marc Bloch und Robin George Collingwood, wie sich in der Hochphase des »pointierten Rätselromans« die Metapher vom Untersuchungsrichter zur Metapher des Detektivs wandelt. 22 Mit der Analogie von Historiker und Detektiv verschiebt sich der Wirklichkeitsbezug – der in der heuristischen Fiktion des Untersuchungsrichters noch mit der kriminalistischen Praxis verbunden war – in die fiktiven Welten des Kriminalromans. Um jenen Horizont zurückzugewinnen, widmet sich die Interpretation von Collingwood den von diesem (und auch von Marc Bloch) bevorzugten Kriminalromanen Agatha Christies. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei Collingwoods kleine Detektivgeschichte Who killed John Doe?, die er zur Verdeutlichung seiner geschichtsmethodologischen Reflexionen geschrieben hat. Abseits einer rein innerdisziplinären Würdigung geht es hier um die Frage, welche Anregungen die Theoriebildung der Geschichte aus der Kriminalliteratur des golden age of crime erfahren konnte und welche Konsequenzen dies für geschichtstheoretische Überlegungen hatte. 22 Zum Begriff des »pointierten Rätselromans«: Ulrich Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay, Frankfurt/M. 1975. Das golden age of crime umfasst die Hochphase des klassischen, insbesondere britischen Detektivromans von Beginn der 1920er bis zum Ende der 1930er Jahre: Howard Haycraft, The Art of the Mystery Story. A Collection of Critical Essays, New York 1983.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wird der Kriminalroman zu einem Genre, welches sich der Möglichkeit historischen Erzählens und Aufklärens bewusst wird. Damit kommt es zu einer Umkehrung der Analogie: Der Detektiv wird zum Historiker. Einen spielerischen Umgang mit dem Detektivschema der Historiographie und den Möglichkeiten historischer Kriminalliteratur bietet der Roman The Daughter of Time von Josephine Tey. Hier wird nicht nur versucht, den seit William Shakespeare in Verruf geratenen britischen König Richard III. von seiner mörderischen Schuld zu entlasten. Vielmehr bietet dieser Kriminalroman darüber hinaus noch eine – äußerst unterhaltsame – Auseinandersetzung mit der historiographischen Forschungsliteratur über Richard III. Der Detektivroman zeigt hier – mit ironischen Brechungen – sein Potential als »wissenschaftliche«, untersuchende und diskussive Darstellungsform. Gleichzeitig zeugt die Form des Rätselromans jedoch von einer eskapistischen Tendenz, der wiederholt vorgeworfen wurde, die gesellschaftliche Realität einer kriminellen Wirklichkeit nicht erfassen zu können. Der vierte Teil der Arbeit widmet sich der Darstellung des Nationalsozialismus im Kriminalroman, wobei die Bezugnahme von Historikern auf Kriminalistik und kriminalliterarische Werke zwar weiterverfolgt wird, jedoch in den Hintergrund tritt. Während sich Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung auf den fiktionalen Detektiv berufen, um ihren Wahrheitsstatus durch die im Detektivroman ständig neu erzählte Fiktion gelingender Rekonstruktion zu behaupten, wird der Kriminalroman zu einer Gattung, die sich zunehmend der historischen Aufklärung widmet. Der Kriminalroman entwickelt sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer populären alternativen Geschichtsdarstellung, zu einer Variante historischen Erzählens, die das kollektive Gedächtnis und die Erinnerungskultur mitgestaltet. Die Arbeit untersucht dabei anhand von ausgewählten Kriminalromanen die Repräsentation des Nationalsozialismus in diesem Genre. Historische Epochen wie der Nationalsozialismus, in denen das Verbrechen unmittelbar mit der Herrschaftspraxis verwoben ist, fordern zu einer Darstellung im Krimigenre geradezu heraus. Dabei geht es sowohl um die genretypischen Besonderheiten als auch um das Verbindende zu historiographischen Erzählweisen. Da es sich bei der Kriminalliteratur um ein internationales Genre handelt, geht die Arbeit zwar auch auf englisch- und französischsprachige Kriminalromane ein, doch setzt sie ihren Schwerpunkt auf Kriminalromane aus der DDR und der Bundesrepublik bis in die Gegenwart. Diese »historischen Kriminalromane« 23 werden vor dem Hintergrund geschichtstheoretischer Debatten und öffentlicher Auseinandersetzungen über den Nationalsozialismus eingeordnet. Doch die Beziehung, in der die Kriminalromane zur Geschichtsschreibung stehen, ist keinesfalls einseitig. So wird auf das Engagement des DDR-Historikers Jürgen Kuczynski für eine Politisierung des DDR-Kriminalromans eingegangen, ebenso auf dessen eigene 23 Zum Genre jetzt insbesondere: Barbara Korte/Sylvia Paletschek, Geschichte und Kriminalgeschichte(n). Texte, Kontexte, Zugänge, in: Dies. (Hg.), Geschichte im Krimi, S. 7-27. Ray Broadus Browne/Lawrence A. Kreiser (Hg.), The Detective as Historian. History and Art in Historical Crime Fiction, Bowling Green 2000. Zum Begriff des »historischen Kriminalromans« und zur Forschungsliteratur vgl. ferner hier die Einleitung zu Kapitel IV.

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marxistische Alltagsgeschichtsschreibung vor dem Hintergrund seiner Rezeption von Werken George Simenons. Des Weiteren werden Parallelen zwischen populären Serienmörderfiktionen und der Psychohistorie, zwischen dem Ansatz der Oral History und der Entwicklung des hardboiled-Romans gezogen. Während die kriminalliterarischen Fiktionen von Historikern – wie etwa von Raul Hilberg – teilweise mit Argwohn bedacht werden, soll hier abschließend der Versuch unternommen werden, neuere historiographische Werke von Christopher Browning und Daniel Goldhagen als kriminalistische Narrative zu lesen. Die Auswahl der Kriminalromane erfolgte in zweierlei Hinsicht. Zunächst wurde jene Kriminalliteratur in die Interpretation aufgenommen, die im Rahmen geschichtstheoretischer Überlegungen eine wichtige Rolle gespielt hat. Ich greife dabei insbesondere auf solche Geschichtstheoretiker zurück, die explizit auf bestimmte Kriminalautoren verwiesen haben, oder bei denen es überliefert ist, dass sie bestimmte Krimiautoren bevorzugt gelesen haben. Bei Johann Gustav Droysen gibt es einen solchen direkten Bezug nicht, doch begründet sich meine Argumentation nicht nur vor dem Hintergrund, dass spätere Geschichtstheoretiker ein besonderes Faible für dieses Genre gehabt haben. Vielmehr geht es um strukturelle und inhaltliche Parallelen zwischen Droysens Ausführungen zur historischen Forschungspraxis und der zeitgenössischen Strafrechtsreform einerseits und seiner Typologie der »untersuchenden Darstellung« und Formen zeitgenössischen kriminalliterarischen Erzählens andererseits. Der Fokus auf die NS-Kriminalromane, der die zweite Perspektive darstellt, erfolgt im Hinblick auf zwei zentrale Überlegungen. Dies ist erstens meine These, dass die Kriminalliteratur in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer alternativen Geschichtsschreibung wird, die ihren Reiz durch ihre Nähe zur modernen Geschichtsschreibung gewinnt. Um dies aufzeigen zu können, erscheint die Konzentration auf eine bestimmte Epoche angebracht, die in der Kriminalliteratur wiederholt zur Darstellung gebracht wurde. Für die Thematisierung des Nationalsozialismus im Kriminalschema ist dies der Fall, wie die von mir in den Blick genommenen über 150 Romane zeigen.24 Trotz ihrer 24 Die Repräsentation des Nationalsozialismus im Kriminalroman ist keinesfalls ein Randthema. Bernard Schlinks Der Vorleser etwa, kein Kriminalroman im eigentlichen Sinne, jedoch detektivische Motive aufgreifend, ist der weltweit meistverkaufte deutsche Roman. Im Verlauf der Recherchen zu dieser Arbeit wurden ungefähr 150 Werke erfasst, die den Nationalsozialismus in kriminalliterarischer Weise darbieten. Diese Liste beansprucht keine Vollständigkeit, da thematische Recherchen innerhalb des Genres schwerfallen. Bei mehreren hundert jährlichen deutschsprachigen Neuerscheinungen von Kriminalromanen relativiert sich freilich die Bedeutung dieses Korpus, zumal insbesondere der Anteil der DDR-Kriminalromane aufgrund der umfassenden bibliographischen Erfassung besonders hoch ist. Durch die Konzentration auf die Kriminalliteratur über den Nationalsozialismus können weitere Interferenzen, wie etwa zwischen einer ethnographisch konzipierten Geschichtsschreibung und dem Aufkommen des amerikanischen hardboiledRealismus, oder aber dem Einzug neuerer geschichtstheoretischer Ansätze in die Kriminalliteratur, wie sie sich etwa in Umberto Ecos Der Name der Ro-

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

teils fragwürdigen literarischen Qualität deutet die ins Visier genommene Breite an kriminalliterarischen Erzählungen über den Nationalsozialismus an, dass es über die inhaltliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit hinaus zu einer (populär-)kulturellen Perspektive kommt, durch die insgesamt der Nationalsozialismus als Kriminalroman wahrgenommen werden kann und somit für die Geschichtskultur von größerer Bedeutung ist. Davon bleibt aber auch die professionelle Geschichtsschreibung nicht unberührt, indem sie selbst in einem engen Interdependenzverhältnis zur Kriminalliteratur steht und oftmals als kriminalistisches Narrativ zu charakterisieren ist. 25 Ein zweiter, wissenschaftstheoretischer Grund für die Konzentration auf Kriminalromane über den Nationalsozialismus ist, dass die Interdependenzen von Literatur und Geschichtsschreibung – und vor allem der narratologische Ansatz von Hayden White – im Hinblick auf die Darstellbarkeit des Holocaust in Frage gestellt worden sind. Auf diese Debatte wird im Folgenden einleitend eingegangen, um dahingehend zu argumentieren, dass der Holocaust weder zum Präzedenzfall einer narratologischen Theorie historiographischer Erkenntnis, noch zum Ausschlussgrund bestimmter Darstellungsformen gemacht werden kann. Vielmehr erscheint gerade angesichts der historischen Aufarbeitung und Erforschung des Nationalsozialismus die Aktualität kriminalistischer Narrative evident. Argumentiert wird im Folgenden auf der Grenze zwischen Kriminalistik und Historik, zwischen Kriminalliteratur und Geschichtsschreibung: Die moderne Geschichtsschreibung zeigt sich als eine Variation der Kriminalliteratur, und der Krimi – eine Literaturgattung, die dem literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts entsprungen ist – erscheint als eine Form der Geschichtsschreibung.

se oder in den Romanen von Ignacio Taibo II finden, nur am Rande betrachtet werden. 25 Mit jeder Repräsentation eines Verbrechens sind nicht nur eine kritische Rekonstruktion und Aufklärung, sondern sowohl reflexhafte Abwehrstrategien, kritische Distanzierung als auch wertorientierte Ordnungs- und Sinngebungsmuster verbunden. Jemanden oder etwas als »kriminell« einzustufen, bedeutet gleichzeitig, der Gesellschaft Sinn-, Deutungs- und Ordnungsmuster einzuschreiben. Dies trifft, gerade aufgrund der Analogien zwischen Kriminalistik und Historik, auch auf die Geschichtswissenschaften zu.

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Narrative turn und detektivische Narrative »Precisely because the historian is not (or claims not to be) telling the story ›for its own sake‹, he is inclined to emplot his stories in the most conventional forms – as fairy tale or detective story on the one hand, as Romance, Comedy, Tragedy, or 1 Satire on the other.«

Ausgangspunkt der interdiskursiven Verflechtungen von Historik und Kriminalistik einerseits und Geschichtsschreibung und Kriminalliteratur andererseits sind die Überlegungen Hayden Whites zur Poetologie des historischen Diskurses. White hatte insbesondere für die Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts nachzuweisen versucht, dass der historische Diskurs unterschiedlichen narrativen Sinnmustern wie der Romanze, der Komödie, der Tragödie und der Satire folgte. Die zentrale Problematik von Hayden Whites poetologischer Metatheorie des historischen Diskurses ist darin zu sehen, dass er auf die historiographische Forschungspraxis, die dokumentarische Beweiskraft und eine umfassender gedachte innerwissenschaftliche Referentialität der Geschichtsschreibung nicht näher eingegangen ist. Da die weitläufige und intensive innerwissenschaftliche Kritik, die seine Ausführungen hervorgerufen haben, hier nicht nachvollzogen werden kann, wird vor allem auf die im Anschluss an den narrative bzw. linguistic turn erfolgte Debatte über die »Grenzen der Repräsentation« des Holocaust eingegangen. Vor dem Hintergrund der im weiteren Verlauf der Arbeit analysierten Kriminalromane über den Nationalsozialismus kommt jener eine wesentliche Bedeutung zu, auch wenn sie nur einige zentrale Kritikpunkte an den theoretischen Überlegungen von Hayden White deutlich werden lässt. Hayden Whites Poetologie des historischen Diskurses werden die Ausführungen Paul Ricœurs gegenübergestellt, dessen Hermeneutik in existentieller Weise auf die Erfahrungen des Holocaust als dem Zivilisationsbruch der Moderne eingeht. Ricœurs Ansatz wird hier herangezogen, um den Interferenzen von historiographischen und literarischen Deutungen der Vergangenheit nachzugehen. Seine Stärken liegen in Ricœurs Augenmerk für die dokumentarische Beweiskraft des historischen Diskurses im Rahmen seiner Deutung der Geschichtswissenschaft als Praxis des Spurenlesens. Gleichzeitig überwindet er mit dem Begriff der Fabelbildung als »Synthesis des Heterogenen« die Differenzen zwischen literarischen und historiographischen Narrativen, die Hayden White vorschnell eingeebnet hatte und die in der dar1

Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973, S. 8.

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an anschließenden Auseinandersetzung wieder verstärkt hervortraten, um nicht zuletzt den prekären Status der Geschichte als Wissenschaft zu retten. Während White dem empirischen Bezug der Geschichtsschreibung kaum eine Bedeutung bei der Ausbildung narrativer historiographischer Sinnschemata zugewiesen hat, bleibt bei Paul Ricœur letztlich unklar, welchen narrativen Eigensinn historiographische Erklärungen entfalten. So richtet sich das Augenmerk auf Ansätze, insbesondere die Fallgeschichten der Mikrogeschichte und ihre theoretische Explikation, die die Geschichtserzählung in die Nähe detektivischer und kriminalistischer Narrationen überführt haben. Hier eröffnet sich jene Perspektive, die in dieser Arbeit zentral ist: die Interdependenzen von Geschichtsschreibung und Kriminalliteratur. Dabei ist freilich einige Vorsicht geboten: Um das Problem zwischen der von White pointiert herausgestellten »Fiktionalität« der Geschichte und der fingierten Faktizität literarischer Geschichtserzählungen wie etwa historischer Romane zu umschiffen, wird im Rahmen dieser Arbeit eine pragmatisch begründete Trennung fiktionaler und historiographischer Darstellungen und Deutungsversuche der Vergangenheit vorgeschlagen. Schließlich wird eine Erweiterung des narratologischen Ansatzes im Anschluss an Michel Foucaults Überlegungen zu einer Genealogie der juristischen Formen vorgenommen. Mit Foucaults Genealogie der juristischen Formen und Praktiken der Wahrheitsfindung, die in einer komplexen Beziehung zu wissenschaftlichen Formen der Wahrheitsproduktion stehen, soll ein kritischer, insbesondere historiographiekritischer Ausgangspunkt zurückgewonnen werden, den der narratologische Ansatz etwa bei Hayden White, Roland Barthes oder etwa Dominick LaCapra geprägt hat, danach jedoch zunehmend verloren gegangen ist.

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1 Geschichte als Romanze, Tragödie, Komödie und Satire Der unter den narratologischen Ansätzen prominenteste und sowohl aus Perspektive der Geschichtswissenschaften als auch der Literaturwissenschaften mit größter Vehemenz kritisierte Ansatz stammt von Hayden White. Dass White eine solche Resonanz gefunden hat, liegt in erster Linie an der Weise, wie er die Grenze zwischen geschichtswissenschaftlichen und literarischen Erzählungen einzureißen versuchte. White behauptet in seinem 1973 erschienenen Buch Metahistory und in seinen Aufsätzen über die »Fiktionalität des Faktischen« und zur »Bedeutung der Form« 2, dass Historikern nur eine bestimmte Anzahl von Darstellungsmodi zur Verfügung stehe, um eine Geschichte zu erzählen. Die Darstellung des Historikers beruhe letztlich auf einer Dramatisierung historischen Geschehens, dessen Sinn nur über eine narrative Metatheorie des historischen Diskurses erschlossen werden könne. 3 Der Historiker, der vor einem Chaos von Fakten stehe, weise nach der chronologischen Anordnung der Ereignisse – die eine erste Form der Erzählung darstellt – der Geschichte einen plot und damit der erzählten Vergangenheit einen Sinn zu. Dies ist bei White eine mehrgliedrige Operation. Im Anschluss an die für die Narratologie insgesamt grundlegende Aristotelische Poetik ist die erste, entscheidende Operation, die eine Erzählung vornimmt, der Geschichte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende zuzuweisen. Dies geschieht über das emplotment, einen »poetischen Akt«, bei dem der Historiker – so White im Anschluss an Northrop Fryes Anatomy of Criticism – auf die vier »archetypischen« Erzählformen der Romanze, der Komödie, der Tragödie und der Satire bzw. der Ironie zurückgreife, um mehr oder weniger bewusst der Geschichte einen wiedererkennbaren Sinn zu verleihen. 4 Für diese Plotmuster stellt White in seiner durchaus verwegenen Theorie Familienähnlichkeiten mit bestimmten formalen Argumentationsweisen als Grundmuster der Vermittlung des Geschichtensinns, mit ideologischen Ausrichtungen und schließlich mit sprachlichen Tropen her, die weniger im Sinne konkret zu analysierender rhetorischer Figuren im historiographischen Text gedacht sind, als vielmehr die Gedankenbewegungen eines Textes erfassen sollen. Die Sprache – so eine der zentralen Ausgangsüberlegungen – ist kein transparentes Medium, sondern strukturiert den Sinn jeder Erzählung. Weiterhin behauptet White, jedes beliebige Ereignis könne unabhängig von den historischen Ereignissen selbst in eben diesen vier Weisen erzählt werden. Der Historiker erfasse also keineswegs den romanzenhaften, tragi-

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Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1990. Ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Einführung v. Reinhart Koselleck (=Sprache und Geschichte; Bd. 10), Stuttgart 1991. Hayden White, Vergangenheiten konstruieren, in: Hans Rudi Fischer (Hg.), Wirklichkeit und Welterzeugung. In Memoriam Nelson Goodman, Heidelberg 2000, S. 327-338. Diese verschiedenen Gattungen, die der Geschichtserzählung eine sinnhafte Form zuweisen sollen, bleiben bei White – wohl auch aufgrund seiner Rezeption von Northrop Fryes Anatomy of Criticism – eigentümlich unbestimmt, während zugleich eine historisierende Perspektive fehlt.

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schen, komischen oder ironischen Sinn der Geschichte, wie es etwa Karl Marx im Anschluss an Hegel in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte implizit angedeutet hatte, wenn er davon sprach, »daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen […]: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« 5 Dagegen behauptet White aus konstruktivistischer Perspektive, dass einem historischen Geschehen keineswegs ein tragischer oder sonst ein Plot eingeschrieben sei, sondern dass Historiker ihre Geschichten nach dem einen oder anderen Narrationsmuster modellierten. 6 Die Rolle, die der Erzählung innerhalb der Geschichtswissenschaften zukommt, hat bei White einen negativen Beiklang denn für ihn ist die »Narrativität selbst schon ein ideologisches Instrument«. 7 Anders als die Chronik »offenbart die Geschichtserzählung eine Welt, die vermeintlich ›fertig‹, abgeschlossen, vorbei ist«. Insbesondere die »Geschlossenheit in der historischen Erzählung« zeige, dass die Geschichte an das »moralische Bewusstsein« als auch an die »moralische Autorität des Erzählers« angekoppelt bleibt. 8 Hayden Whites Poetologie historiographischer Darstellungsformen, mit der sich ein vehementer Angriff auf ein positivistisches Wissenschaftsverständnis verband, erlangte insbesondere deshalb eine derart kritische Resonanz unter Historikern und Literaturwissenschaftlern, weil mit seiner Position ein »postmoderner« Relativismus verbunden schien. Die Kritik entzündete sich insbesondere an seinem Fiktionsbegriff und an der weitgehenden Ausblendung sowohl des Forschungsprozesses als auch des Konstruktionscharakters historiographischer Interpretationen. So zeigten sich Historiker bezüglich der Behauptung von der Fiktionalität des Faktischen zur »Verteidigung der Geschichte« 9 und ihrem historischen Wahrheitsanspruch herausgefordert und beriefen sich dabei auf die Beweiskraft der Monumente und Dokumente der Vergangenheit, auf eine negative Einschränkung der historischen Einbildungskraft durch das »Vetorecht der Quellen« 10 oder auf eine umfassendere, insbesondere argumentative, wissenschaftsimmanente und intersubjektive 5

Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (=MEW; Bd. 8), Berlin/Ost 1972, S. 115. 6 Hayden White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Ders., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen, S. 102-122; hier S. 104. 7 Hayden White, Die Politik der historischen Interpretation: Disziplin und Entsublimierung, in: Ders., Die Bedeutung der Form, S. 78-107; hier S. 105. 8 Hayden White, Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung von Wirklichkeit, in: Ders., Die Bedeutung der Form, S. 11-39; hier S. 34f. 9 Richard J. Evans, In Defence of History, London 1997. 10 Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders./Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (=Beiträge zur Historik; Bd. 1), München 1977, S. 1746; hier S. 45f. Kosellecks rechtshistorische Metapher des »Vetorechts der Quellen« hat sich im geschichtswissenschaftlichen Diskurs in oft positivistischer Verkürzung verselbständigt. Auf die Problematik der Metapher verweist Koselleck selbst: Denn die Quellen mögen »uns vor Irrtümern schützen, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.«

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»Referentialität« der Geschichtsforschung. 11 Literaturwissenschaftler sahen hingegen in der Behauptung der »Fiktionalität« bzw. »Literarizität« der Historiographie das von ihnen bestellte Feld des literarisch Imaginären und die »poetologische Differenz« bedroht. Insbesondere die Erzählforschung widmete sich dabei den Unterschieden von fiktionalen und faktualen Erzählungen, wobei die Spezifik fiktionaler Weltentwürfe ontologisch, essentialistisch oder aber aufgrund ihrer textuellen Repräsentation begründet wurde.12 White setzt die Narrativität der Geschichte mit ihrer Fiktivität weitgehend gleich, und zwar im Wesentlichen über das Argument, dass der Historiker seine historische Einbildungskraft nutzen müsse, um aus einer lückenhaften und auswahlabhängigen Überlieferung eine in sich weitestgehend abgeschlossene Narration zu entfalten. 13 Dabei identifiziert White den Sinn, den eine narrative Darstellung von Ereignissen erzeugt, nicht nur als eine Erklärungsdimension, sondern vorschnell mit der »Wahrheit« historischer Erzählungen. Zudem berücksichtigt er kaum die kritische Selbstreflexivität und das theoretische Konstruktionsbewusstsein der Geschichtsschreibung. So trifft sein Angriff, dass sich aus dem Bezug auf die historischen Referenten – Monumente, Dokumente und Spuren – nicht auf die »Wahrheit« der Geschichtserzählung schließen lasse, vornehmlich die naiven Realisten unter den Historikern und jene, die ihre Erzählung allenfalls als stilistisch ausgefeilte Wiedergabe ihrer forschungsbasierten Rekonstruktionen und Interpretationen verstehen. Ausgehend von der Annahme, dass es eine Vielzahl gleichberechtigter, nicht anhand der historischen »Fakten« zu unterscheidender Erzählungen über eine historische Ereignissequenz gebe, sei der Sinn historischer Darstellungen nicht in ihrem Referenzcharakter gegenüber einer vergangenen Wirklichkeit zu suchen. Und so führt White Neuinterpretationen in der Historiographie weniger auf eine neu gewonnene Quellenbasis, auf neue Forschungsfragen oder auf veränderte Forschungsparadigmen zurück. Vielmehr versucht er, unterschiedliche historische Erzählungen mit der je anderen Auswahl und Gewichtung von Ereignissen zu erklären, die dann im Rahmen eines der kulturell vorhandenen literarischen Plotmuster dargeboten werden. Zudem betont er wiederholt den Legitimationscharakter historischer Erzählungen, die von Erinnerungsgemeinschaften politisch für die Ausbildung von Gruppenidentitäten und nationalen bzw. neuerdings transnationalen Meistererzählun11 Siehe Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. 12 Aus der vielfältigen Rezeption seien herausgehoben: Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde. (=LIR. Literatur, Imagination, Realität; Bd. 11), Trier 1995. Dorrit Cohn, The Distinction of Fiction, Baltimore 1999. Zur poetologischen Differenz: Hans-Jürgen Gerigk, Lesen und Interpretieren, Göttingen 2002, S. 17-40. 13 Wie sich die historische Imaginationskraft in ihrer Anbindung an die Quellen von einer dichterischen Phantasie unterscheidet, ist eine in der Geschichtstheorie immer wieder diskutierte Frage. Die oft gemachte Unterscheidung zwischen einer freien dichterischen Phantasie und einer quellengebundenen historischen Imaginationskraft ist nur bedingt überzeugend. Auch die dichterische Einbildungskraft bleibt an Wahrscheinlichkeitskriterien gebunden, selbst wenn sie phantastische oder irreale Welten erzeugt.

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gen genutzt werden. Damit berücksichtigt sein Ansatz – oftmals übersehen im ausschließlichen Streit über die Referentialität und Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung – die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen derselben. Doch der von ihm privilegierte konsenstheoretische Wahrheitsbegriff bleibt problematisch – wenn er etwa betont, dass sich die »Effektivität« einer historischen Interpretation im Rahmen von öffentlichen Diskursen zeige. 14 Denn eine ausschließliche Rückführung des Wahrheitsbegriffs auf den common sense geht die Gefahr ein, zeitspezifische Doktrinen und Meistererzählungen von Erinnerungsgemeinschaften vorschnell anerkennen zu müssen. Der Erkenntnisgewinn, den die Rückführung der Geschichtsschreibung auf literarische Sinnmuster wie die Tragödie, die Romanze, die Komödie oder aber die Satire mit sich bringt, bleibt umstritten, insbesondere solange diese Sinnmuster nicht eindeutig in Beziehung zu ideologischen Implikationen und sprachlichen Tropen gesetzt werden können, wie dies White letztlich vergebens angestrebt hat. Gerade weil eine historisierende Lektüre dieser – eben archetypischen – Formen fehlt, erlangen sie ihre Plausibilität zunächst durch ihre metaphorische Brillanz. Darüber hinaus erscheint es wenig sinnvoll, sie allein als Kriterien der Konstruktion von Geschichtserzählungen zu betrachten. Vielmehr können sie gleichfalls als Rezeptionsmuster aufgefasst werden, die es im Zuge einer metaphorischen Verknappung ermöglichen, einem größeren historischen Geschehenszusammenhang einen konsistenten Sinn zuzuweisen. Dabei kommt diesen Modellen weniger eine wissenschaftlich-erklärende als vielmehr eine historisch-sinnbildende Funktion zu. Sowohl in der biographischen und kollektiven Erinnerung als auch in populären und wissenschaftlichen Geschichtserzählungen sind solche dramatischen Sinngebungs- und Rezeptionsmuster jedoch immer wieder zu finden. 15 Ziel einer historischen Narratologie muss es deshalb sein, die narrative Sinnkonstituierung der Geschichtsschreibung mit kulturell verankerten und mit ideologischen Implikationen besetzten Narrativen in Beziehung zu setzen und diese als Deutungs- und Sinngebungsmuster und damit als Weisen der Welterzeugung aufzufassen. 14 White, Die Politik der historischen Interpretation, S. 104. 15 Insbesondere für Geschichtsdarstellungen in der Populärkultur ist eine Analyse vor dem Hintergrund von Genremustern erfolgversprechend: Zur Darstellung von Nationalsozialismus und Holocaust als Komödie vgl.: Margrit Frölich/Hanno Loewy/Heinz Steinert (Hg.), Lachen über Hitler – AuschwitzGelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust (=Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts; Bd. 19), München 2003. Darin insb.: Hanno Loewy, Fiktion und Mimesis. Holocaust und Genre im Film, S. 37-64. Das prominenteste Erzählmuster ist wohl die tragödienhafte Darstellung von Geschichte. Davon ist auch die Wirtschafts-, Sozial- bzw. Strukturgeschichte nicht ausgenommen: Axel Rüth, Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung (=Narratologia; Bd. 5), Berlin 2005, S. 118-121. Für die NS-Historiographie und die Selbstdarstellung von NSTätern: Hanno Loewy, Faustische Täter? Tragische Narrative und Historiographie, in: Paul (Hg.), Die Täter der Shoah, S. 255-264. Ders., Projektive Auserwähltheitskonkurrenz: »Tragische« Bilder und Selbstbilder der Täter, in: WerkstattGeschichte 36 (2004), S. 73-86.

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Dies wirft die Frage auf, ob es nicht explizit moderne Formen der historiographischen Verfabelung gibt. Ein Hinweis darauf, an welchen kulturell verankerten Narrativen sich die moderne Geschichtswissenschaft in ihrer Empirie, Referentialität und Standortgebundenheit orientiert, findet sich in einer Fußnote der Einleitung zu Metahistory von Hayden White und in seiner Rezeption des britischen Archäologen, Historikers und Geschichtsphilosophen Robin George Collingwood. White weist nämlich darauf hin – wie diesem Kapitel vorangestellt –, dass seine These von der Fiktionalität des Faktischen impliziere, dass gängige historiographische Studien eher mit konventionsgebundenen Kriminalromanen als mit Werken der hohen Literatur zu vergleichen seien. 16 Mit konventionsgebunden ist das gemeint, was John G. Cawelti als das Charakteristikum der Populärkultur bezeichnet hat. Der Detektivroman ist eine formula story – eine ständig neue Variation ein und desselben Themas: Verbrechen geschehen, Detektive, Polizisten und Spione betreten die Bühne, Spuren werden entziffert, Zeugen befragt, Tatsachen rekonstruiert, um schließlich eine rationale Erklärung zu suchen, indem Beweise konstruiert, abgewogen und in ein komplexes Geflecht von Ursachen und Wirkungen eingewoben werden. 17 Diesem wohl durchaus polemisch gemeinten Bonmot in Metahistory widmet sich die vorliegende Studie.

16 Vgl. White, Metahistory, S. 8, Fußnote 6. White arugumentiert, dass Fryes Taxonomie »archetypischer« Plotmuster bei vielschichtigen literararischen Werken zu abstrakt und beschränkt sei, um ihren Gehalt zu erfassen, während sie sich jedoch für die Analyse »beschränkter (»restricted«) Kunstgattungen wie dem Märchen, dem Kriminalroman und der Geschichtsschreibung eigne. Zum Vergleich von historischer und detektivischer Erkenntnis im Anschluss an Robin G. Collingwood auch: White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, S. 104. 17 John G. Cawelti, The Concept of Formula in the Study of Popular Literature, in: Journal of Popular Culture 3 (1969), S. 381-390. Ders., Adventure, Mystery, and Romance: Formula Stories as Art and Popular Culture, Chicago 1976. Caweltis Konzept der formula stories steht ebenso wie die amerikanische Filmgenreforschung in einem engen Zusammenhang mit Northrop Fryes Konzeption literarischer Archetypen, die auch Hayden White in Metahistory angeregt hat.

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2 Der Holocaust und die »Grenzen der Repräsentation« Hayden Whites Kritik des naiven Realismus im historiographischen Diskurs und der mit seinen Überlegungen verbundene – als »postmodern« wahrgenommene – Relativismus geriet Ende der 1980er Jahre zunehmend in die Kritik. Das bedeutendste Ereignis in diesem Kontext war die interdisziplinäre Tagung Probing the Limits of Representation: Nazism and the »Final Solution«, die 1990 in Los Angeles stattfand. Die im »Historikerstreit« debattierten Fragen der Singularität und Einzigartigkeit des Holocaust und die Frage der Vergleichbarkeit verschiedener Totalitarismen wurde hier mit einer Debatte über die Darstellbarkeit des Holocaust verknüpft, die darüber hinaus noch im Zeichen der Abwehr von »Revisionisten« und Holocaustleugnern stand, die in den 1980er Jahren verstärkt für Aufsehen sorgten. Im Rahmen dieser Debatte wurde der Holocaust zum Präzedenzfall der historiographischen Theoriereflexion erklärt, was in mehrfacher Hinsicht problematisch war. Angesichts des Holocaust sollten – so der Initiator der Konferenz und Herausgeber des entsprechenden Sammelbandes Saul Friedländer – die auf einem »abstrakten« Niveau geführten Theorien wieder an die historische Forschung angekoppelt und überprüft werden. 18 Mit der Ausrichtung auf die Singularität des Holocaust sowie auf die Grenzen des Verstehens und seiner Darstellbarkeit hatte die Diskussion jedoch selbst ein sehr hohes Abstraktionsniveau. So hätte von vornherein in Frage stehen können, ob angesichts der historischen Singularität des Holocaust und der vorhandenen Schwierigkeit, dieses Ereignis als »event at the limits« nachzuvollziehen, zu verstehen und zu erklären, überhaupt eine Überprüfung einer zunächst allgemein ausgerichteten Theorie des historischen Diskurses, wie sie White vorgelegt hatte, erfolgversprechend war. Der vehementeste Kritiker von Hayden White auf dieser Tagung, an der keine deutschen Historiker teilnahmen, war Carlo Ginzburg mit seinem Beitrag Just one Witness. 19 Ginzburg versuchte, White in Verbindung mit Giovanni Gentile zu bringen, einem Protofaschisten und Zeitgenossen von Benedetto Croce, der für Whites Theorie ein wichtiger Ausgangspunkt war. Nachdem Ginzburg auf diese äußerst fragwürdige Weise Whites vermeintliche gedankliche Nähe zu faschistischen Theoremen »aufgedeckt« hatte, behauptete er, dass Whites Position zur »Effektivität« historiographischer Interpretationen dazu führen könne, dass im Zweifelsfall auch die Darstellung eines Ho-

18 Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation: Nazism and the »Final Solution«, Cambridge/Mass. 1992, S. 2: »The extermination of the Jews of Europe as the most extreme case of mass criminalities must challenge theoreticians of historical relativism to face the corollaries of positions otherwise too easily dealt with on an abstract level.« Aus dem einleitenden Artikel spricht aber auch ein gewisses Unbehagen, den Holocaust zum Präzedenzfall geschichtstheoretischer Reflexionen zu machen. 19 Carlo Ginzburg, Just one Witness, in: Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation, S. 82-96.

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locaustleugners wie Faurisson als wahr betrachtet werden könnte, wenn sie innerhalb einer Erinnerungsgemeinschaft mehrheitsfähig geworden sei. 20 Ginzburgs Argumentation war – so hat es Paul Ricœur gesehen – weniger ein Plädoyer für eine realistische Darstellung der Verbrechen, sondern für die historische Wirklichkeit selbst.21 Ginzburg erinnert in seinem Artikel an ein Pogrom aus dem Jahr 1348, von dem nur das Zeugnis eines einzigen Überlebenden der jüdischen Gemeinde der provençalischen Stadt La Baume berichtet, da dieser zum Zeitpunkt des Pogroms nicht in der Stadt war. Das Massaker wäre nicht überliefert, hätte dieser »einzige Zeuge« seinen Bericht nicht auf einer Torarolle niedergeschrieben. Carlo Ginzburg nimmt diesen Fall zum Anlass, um den Stellenwert der Zeugenschaft in der Geschichtsschreibung zu problematisieren. So erinnert er an den Satz non stabit testis unus contra aliquem aus dem Deuteronomium (19.15), dem er den Satz des Codex Justinianus testis unus, testis nullus beifügt. Im Gegensatz zu dem Rechtsgrundsatz, nach dem das Zeugnis eines Einzelnen zu keiner richterlichen Urteilsbildung führen kann, besteht Ginzburg auf dem besonderen Stellenwert des einzelnen Zeugen, dessen Bericht ein Ereignis vor dem Vergessen bewahren kann. Im Hinblick auf die Vernichtung der europäischen Juden wirkt das Argument jedoch insgesamt verfehlt, da der Holocaust von Opfern und Tätern ausreichend dokumentiert ist. 22 Dennoch wirft Ginzburg eine berechtigte Frage auf, wenn er auf unterschiedliche Rezeptionsweisen von Erzählungen der Opfer und der Täter aufmerksam macht: So erfordern die Erzählungen der Opfer, Überlebenden und Davongekommenen – so scheint es – eine andere Wahrnehmung als etwa die bürokratischen Aktenbestände der Massenvernichtungen oder die relativierenden Erzählungen der Täter, über deren Tun wir insbesondere durch die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Massenverbrechen informiert sind. Die Frage, die hier implizit aufgeworfen wird, ist, inwieweit eine kriminalistisch konzipierte Geschichts20 Ebd., S. 93. Die überzeugendste Analyse der Auseinandersetzung zwischen Hayden White und Carlo Ginzburg liefert: James E. Young, Hayden White, postmoderne Geschichte und der Holocaust, in: Jörn Stückrath/Jürg Zbinden (Hg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich (=Interdisziplinäre Studien; Bd. 2), Baden-Baden 1997, S. 141-151; hier insb. S. 148: Young zeigt, dass beide Diskutanten nicht klar genug zwischen Interpretation und der Negation eines historischen Tatbestandes unterscheiden. So verwandelt sich »eine Interpretation […] nicht in eine Lüge, wenn sie Fakten leugnet, sondern macht deutlich, daß es sich von vornherein nicht um eine Interpretation handelte.« 21 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 396. 22 Das von Ginzburg vorgebrachte Argument ist auch im Hinblick auf die Verfolgung der Juden während der Schwarzen Pest von 1348 kaum überzeugend: Denn auch wenn nur ein einziges Dokument über die Verfolgung der Juden von La Baume vorhanden ist, fügt es sich dennoch in eine ganze Reihe weiterer Berichte über Pogrome zur gleichen Zeit ein. So ist es möglich, die Berichte zu prüfen, indem man sie mit anderen Dokumenten vergleicht, und ihnen Glauben zu schenken, solange nichts am Wahrheitsgehalt zweifeln lässt.

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schreibung überhaupt in der Lage ist, den Entrechteten Gehör zu verschaffen. Ginzburg markiert damit eine – auch aus seiner Sicht – äußerst schwer auszulotende Grenze zwischen der richterlichen und der historischen Urteilsbildung: Der Historiker braucht seine Interpretation nicht auf gerichtsverwertbare Aussagen zu stützen, solange gute Gründe für die Plausibilität eines einzelnen Zeugen vorliegen, oder aber wenn er – wie es zur geschichtswissenschaftlichen Praxis gehört – von den Zeugen abstrahiert, um einen Gesamteindruck der Zeit auf der Basis von Quellen und seiner eigenen Gegenwart zu gewinnen. 23 Schließlich kann er auch – frei nach Walter Benjamin – die Geschichte gegen den Strich bürsten, indem er den Opfern bzw. Besiegten der Geschichte mehr Raum gibt, als er dies in der öffentlichen Geschichtskultur verankert sieht. Indem White die historiographische Praxis von der kritischen Betrachtung und Analyse des dokumentarischen Spurenmaterials weitestgehend abgetrennt hatte, schien es für die Kritiker angebracht zu sein, dem narrativen Relativismus von White zu unterstellen, dass er der Leugnung historischer Tatsachen argumentativ nichts entgegenzubringen habe. Dabei handelte es sich um einen ungerechtfertigten Angriff. Denn einer von Whites grundlegenden Gedanken bleibt bestehen: Solange sich Historiker oder sonstige Diskursteilnehmer nicht grundsätzlich vom Wahrheitsanspruch der Historie entfernen und gut bezeugte Ereignisse leugnen, kann aus der reinen Rekonstruktion von Fakten nicht erklärt werden, warum Historiker zu unterschiedlichen, interpretierenden Erzählungen kommen. Wenn White anerkannte, dass miteinander konkurrierende Erzählungen auf »der Basis der genauen Übereinstimmung mit den verbürgten Tatsachen beurteilt, kritisiert und entsprechend klassifiziert werden können«, so war dies kein Widerruf seiner theoretischen Überlegungen. 24 Denn weder in Metahistory noch in seinen Aufsätzen hat Hayden White bestritten, dass es der Geschichtswissenschaft um die wahrheitsgetreue Rekonstruktion von Daten und eine quellengetreue Interpretation bestellt ist: Vielmehr ging es ihm um die Frage, wie auf der Basis anerkannter Fakten historiographische Erzählungen Sinnschemata folgen, die nur im Rahmen einer Poetologie des historischen Diskurses sichtbar gemacht werden können. 25

23 Die Problematik der Zeugenschaft ist im Hinblick auf den Holocaust durch den »Fall Binjamin Wilkomirski« nochmals deutlich geworden: Wilkomirski alias Dosseker alias Grosjean erfand in Kenntnis authentischer Zeugnisliteratur seine eigene Opfergeschichte, die zunächst von der Allgemeinheit der Rezipienten als authentisch angesehen wurde, gerade weil sie wiederkehrende Motive und Topoi der Opfererzählungen kopierte. Dazu: Irene Dieckmann/Julius H. Schoeps (Hg.), Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich 2002. Daniel Ganzfried (Hg.), … alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals, Berlin 2002. 24 So: Martin Jay, Of Plots, Witnesses and Judgements, in: Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation, S. 97-107. 25 Peter Burke, Die Metageschichte von Metahistory, in: Stückrath/Zbinden (Hg.), Metageschichte, S. 73-85; hier S. 84f.

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Die von White betonte »Fiktionalität des Faktischen« bezieht sich demnach nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form der historiographischen Erzählung. Auf inhaltlicher Ebene hielt White die Unterscheidung zwischen tatsächlich stattgefundenen Ereignissen im historiographischen Diskurs und imaginären bzw. erfundenen Ereignissen im literarischen Diskurs aufrecht, auch wenn er seine Polemik gegen die »Fiktionalität« historiographischer Erzählweisen im Zuge seiner Auseinandersetzung mit revisionistischen Darstellungen des Nationalsozialismus und der Frage nach der Repräsentation des Holocaust abgeschwächt hat. 26 White unterstrich nun, dass historiographische Narrationen immer eine faktische Grundlage haben, ebenso wie er zwischen erzählend-narrativen und verstärkt analysierenden, reflektierenden bzw. diskussiven Darstellungen unterschied. Schließlich fragte er, ob die narrativen Modelle der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts für die Darstellung des Holocaust überhaupt noch angemessen seien, und ob man angesichts des Holocaust die Repräsentationsmodi nicht neu auszutarieren habe oder auf explizit »moderne« bzw. »postmoderne« Erzählweisen zurückgreifen müsse, um diesem Zivilisationsbruch gerecht zu werden. 27 Die Debatte über die Repräsentierbarkeit des Holocaust hat mindestens zu einem Resultat beigetragen. So fordert der Holocaust – auch wenn er wohl kaum als Präzedenzfall historiographischer Theoriereflexionen angesehen werden kann – doch zu einer erneuten Reflexion der historischen Epistemologie heraus. Dies betrifft einerseits eine kritische Reflexion und Distanzierung von der Sprache der Täter. Gefordert ist eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber den Zeugnissen der Opfer, womit gleichzeitig in Frage steht, ob das kriminalistische Paradigma der Geschichtswissenschaften überhaupt in der Lage ist, der Geschichte der Opfer gerecht zu werden. Gleichzeitig warf die Debatte die Frage auf, wie und ob überhaupt die Perspektive von Opfern, Überlebenden und Tätern zusammengeführt werden können. Die Frage, ob das Beschreiben des Holocaust eine notwendig neue Reflexivität der Sprache einfordere, ist mit der Literatur (und mit dem Diskurs über die Literatur) über den Holocaust eng verbunden – man denke nur an Theodor W. Adornos vielgedeuteten Satz, dass es nach Auschwitz nicht mehr 26 Vgl. Hayden White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: Ders., Die Bedeutung der Form, S. 40-77; hier S. 41. Ders., Die Politik der historischen Interpretation, S. 78-107. 27 Hayden White, Historical Emplotment and the Problem of Truth, in: Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation, S. 37-53. White sieht hier in einem »intransitiven Schreiben« – ein Begriff, den er von Roland Barthes übernimmt – und in einer »middle voicedness« einen Weg, den Holocaust »angemessen« zu repräsentieren. Dahinter liegt die Privilegierung eines »ironischen Modus«, der auf die Widerständigkeit der eigenen Sprache aufmerksam macht, Sinnstrukturen offen legt, den Konstruktionscharakter und die Bewusstheit des Selbst betont, und der tendenziell multiperspektivisch vorgeht. Siehe dazu die Ausführungen zum ironischen Modus bei: Young, Hayden White, postmoderne Geschichte, S. 151ff. Ricœur bezweifelt mit dem etwas einfachen Argument, dass der Totalitarismus auch »modern« sei, die Forderung Whites nach einer Veränderung der Darstellungsform: Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 396.

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möglich sei, Gedichte zu schreiben. 28 So reflektieren viele literarische Werke über den Holocaust immer auch die Möglichkeiten der Sprache, dieses unerhörte Ereignis zur Darstellung zu bringen und zu begreifen. 29 Zudem forderte gerade die Zeugnisliteratur – lange Zeit von der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung überhaupt nicht als Quelle wahrgenommen – einen neuen interpretierenden Nachvollzug ein, der nicht mehr den Konventionen einer traditionell kriminalistisch ausgerichteten Quellenkritik folgen konnte: Die Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen, Tagebüchern und Lebenserinnerungen kann nicht – bzw. nicht allein – im Hinblick auf einen beweisbaren Tatsachengehalt der Erzählungen erfolgen. Um ihre Authentizität – die individuellen Erfahrungen des Leidens ebenso wie die Auswirkungen der Geschichte auf das Weiterleben – zu bewahren, muss anerkannt werden, dass das »narrative Begreifen sich selbst mit dem Verlauf der Ereignisse verwoben hat«. 30 Die Frage des Authentischen betrifft – solange man damit den Begriff des Zeugnisses verbindet – die vorliegenden Kriminalromane nicht. Vielmehr werfen sie die Frage der Angemessenheit der Darstellung auf – und zwar, weil sie die Geschichte des Nationalsozialismus durch die Wahl des Genres in den Bereich der Populärkultur einfügen. 31 Zudem taucht die Frage der Angemessenheit insbesondere dann auf, wenn etwa im hardboiled-Thriller die Genrehelden Tabubrüche gegenüber dem »Sagbaren« begehen und damit gewohnte Interpretationsmuster in Frage stellen. Doch resultiert daraus, die Angemessenheit oder Annehmbarkeit einer Darstellung auf die Form der Fabelbildung zurückzuführen, wie dies White versucht hat? Die Frage, ob eine Fabelkomposition angesichts des Holocaust als angemessen empfunden wird, gehört – so Ricœur – einer »anderen Region unserer rezeptiven Kapazität [an] als der, die unsere narrative Kultur erzogen hat«. 32 Diese Feststellung bleibt jedoch fragwürdig. Zwar kann die Frage der Angemessenheit in einen Bereich der ethischen Bewertung verschoben 28 Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft (=Gesammelte Schriften; Bd. 10), Frankfurt/M. 1977, S. 11-31; hier S. 30f. Vgl. auch die Infragestellung des Diktums durch Adorno selbst: Ders., Negative Dialektik (=Gesammelte Schriften; Bd. 6), Frankfurt/M. 1970, S. 355f. 29 James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/M. 1992. 30 Young, Hayden White, postmoderne Geschichte, S. 151. 31 Das Problem der Einordnung der Kriminalliteratur in den Bereich der Trivialliteratur ist heute in der Forschung weitgehend überholt. Angesichts vieler hier vorgestellter Romane und ihrer eingeschränkten literarischen Qualitäten mag es sich freilich wieder stellen. Abseits dieser Frage wird die Kriminalliteratur hier als eine Genreliteratur begriffen, die zur Ausbildung formaler narrativer Muster beigetragen hat, in deren Rahmen die Fragen nach dem Bösen, dem Kriminellen, der Aus- und Abgrenzung, der Konstitution des Normalen und Gesellschaftlichen und schließlich – in ganz zentraler Weise – nach »historischer Wahrheit« immer neu gestellt werden. Die Kriminalliteratur schafft also gerade durch ihre rituelle Formelhaftigkeit eine Kultur der Erzählbarkeit von Gewalt. 32 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 395.

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werden, doch bleibt jede Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in ein Geflecht moralischer Wertungen eingebunden, auch wenn dies Historiker für ihre Arbeiten immer wieder bestritten haben. Die Frage der Angemessenheit einer Darstellung kann so nur im Vergleich mit konkurrierenden Narrativen bewertet werden und bleibt darüber hinaus Aufgabe öffentlicher geschichtskultureller Auseinandersetzungen.

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3 Geschichtserzählungen als »Synthesis des Heterogenen« Paul Ricœur hat sich in seinem Werk kontinuierlich mit der Bedeutung der literarischen und historiographischen Erzählung für die Erinnerung, das Gedächtnis und die Geschichte beschäftigt. Ricœur privilegiert den narratologischen Ansatz, als auch für ihn jede Fabelkomposition einen kausalen Zusammenhang herstellt, indem aus dem unhintergehbaren »nach einander« der Erzählung ein begründendes »durch einander« resultiert. Jedes Erzählen impliziert eine narrative Form der Erklärung, »indem das Erzählen des Geschehenen bereits das Erklären der Gründe ist, aus denen es geschehen ist«.33 In der historiographischen Erzählung ist die Konstruktion der Fabel ein Werk des Urteils, indem die Erzählung an einen Erzähler angebunden wird, der einen eigenen Standpunkt gegenüber der erzählten Geschichte einnimmt. 34 Ricœur versteht die Fabelkomposition (mise en intrigue) als eine »Synthesis des Heterogenen«. Die Erzählung ist in der Lage, Umstände, Absichten, Kalküle, Handlungen, Hindernisse, Missgeschicke, Glück und Unglück, unbeabsichtigte Ergebnisse, »zufällige und vorhergesehene Begegnungen« zu integrieren, und zwar als eine »dissonante Konsonanz«. 35 Die Fabelkomposition ermöglicht es, Kontinuitäts- und Diskontinuitätserfahrungen, Kohärenzen und Inkohärenzen wie auch Kontingenzen zu erfassen. Die Fabel erzeugt eine Konsonanz unter Einschluss des Dissonanten. Deshalb spricht Ricœur von der »dissonanten Konsonanz«, die die Fabel zu erzeugen vermag. Wenn Ricœur davon überzeugt ist, dass die historische Erzählung es schaffe, die unterschiedlichsten Momente einer Geschichte bzw. die Ergebnisse der Forschung zu einer »sinnvollen Einheit« zu integrieren, dann zeigt sich, dass die Geschichtserzählung hier im Gegensatz zu White positiver eingeschätzt wird. Im Gegensatz zu White und vielen seiner Kritiker, die von einer starren, teilweise ontologisch begründeten Dichotomie von fiktionaler und historischer Erzählung ausgehen, spricht Ricœur von der »Überkreuzung von Histo-

33 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, 3 Bde., München 1988-1991; hier Bd. I, S. 232. 34 Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 268. 35 Ebd., S. 268 u. S. 287. Der Begriff der »dissonanten Konsonanz« ist im Hinblick auf die Konstituierung von – historischem – Sinn durch Erzählung zunächst offener als Jörn Rüsens Modell von vier zentralen Formen bzw. Typen historischer Erzählung, dem »traditionalen«, dem »exemplarischen«, dem »kritischen« und dem »genetischen Erzählen«. Vgl. Jörn Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Ders., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt/M. 1990, S. 153-231. Die von Rüsen benannten Typen historischen Erzählens betonen den funktionalen, »geschichtslogischen« Sinn historischen Erzählens und wenden sich gegen einen poetologischen Erzählbegriff. Damit können jedoch weder der literarische Eigensinn, den eine narrative Geschichtsschreibung erzeugt, noch die Interferenzen zwischen Literatur und Geschichtsschreibung im Hinblick auf die Ausbildung detektivischer Erzählmodelle überzeugend erforscht werden. Zur Kritik vgl. auch: Fulda, Die Texte der Geschichte, S. 32. Auf einen nichtsdestotrotz lohnenswerten Vergleich der Modelle Rüsens und Ricœurs im Hinblick auf die Sinnkonstitution durch Geschichtsschreibung soll hier verzichtet werden.

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rie und Fiktion« im Zusammenhang mit der Konstitution der menschlichen Zeiterfahrung. 36 So liegt für Ricœur die Gemeinsamkeit von fiktionaler und historischer Erzählung darin, dass sie auf je spezifische Weise als Erzählungen von Subjekten in der Zeit eine »narrative Identität« ausbilden: »Der zarte Sprößling, der aus der Vereinigung von Geschichte und Fiktion hervorgeht, ist die Zuweisung einer spezifischen Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft, die man ihre narrative Identität nennen kann. ›Identität‹ wird hier als eine Kategorie der Praxis aufgefaßt. Die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber? Auf diese Frage wird zunächst so geantwortet, daß jemand benannt wird, das heißt, durch einen Eigennamen bezeichnet wird. Doch worauf stützt sich die Dauerhaftigkeit des Eigennamens? Was berechtigt dazu, daß man das so durch seinen Namen bezeichnete Subjekt der Handlung ein ganzes Leben lang, das sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt, für ein und dasselbe hält? Die Antwort kann nur narrativ ausfallen. Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt, wie Hannah Arendt nachdrücklich betont hat, die Geschichte eines Lebens erzählen. Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an. Die Identität des wer ist also selber bloß eine narrative Identität.«37

Historische und fiktionale Erzählungen erforschen das Leben, und ein »erforschtes Leben« ist für Ricœur ein »gereinigtes und geklärtes Leben – gereinigt durch die kathartischen Wirkungen, die von den historischen und fiktiven Erzählungen unserer Kulturen ausgehen«. 38 Aus einer historiographischen Perspektive klärt sich ein Leben zwar niemals gänzlich auf, es erklärt sich jedoch immer neu, solange es von Interesse ist. Die in historischen und fiktionalen Erzählungen sich konfigurierende narrative Identität betrifft dabei nicht nur das Individuum, sondern auch Gemeinschaften, denn »Individuum 36 Ricœur, Zeit und Erzählung III, S. 294-311. Die »Fiktionalisierung der Historie« sieht Ricœur weniger auf der Darstellungsebene, denn vielmehr als ein Rezeptionsphänomen: So imitiert die historische Imaginationskraft – die der Historiker benötigt, um sich einen Ereignisvorgang vorzustellen – die aus der literarischen Tradition stammenden Fabelbildungen. Deshalb bleibt es möglich, eine Ereignissequenz metaphorisch als tragisch, komisch usw. zu sehen. Insofern lässt sich auch ein Werk der Geschichtsschreibung »als Roman« lesen. Gleichzeitig spricht Ricœur von der »Historisierung der Fiktion«, denn die fiktionale Erzählung zeigt etwas, »als ob es geschehen sei«. Die Fiktionserzählung imitiert die historische Erzählung in zweifacher Weise: Erstens entfaltet sich im Akt des Lesens eine narrative Stimme, von der der Leser annimmt, dass sie der Vergangenheit angehört, gewissermaßen aus ihr spricht. Zweitens muss die fiktionale Erzählung im Anschluss an Aristoteles wahrscheinlich und notwendig sein, und das heißt für Ricœur, dass die fiktionale Erzählung »in einer Nachahmungsbeziehung zur Gewesenheit« stehen muss, um glaubwürdig zu sein. 37 Ebd., S. 395. 38 Ebd., S. 396. Deshalb wird Ricœur an anderer Stelle gegen jene, die von den Grenzen des Verstehens angesichts des Holocaust sprechen, ausrufen: »Man muss ihn erzählen.« Erzählen hat für Ricœur insofern auch die zentrale therapeutische Funktion der Ver- und Durcharbeitung von Traumata.

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und Gemeinschaft konstituieren sich in ihrer Identität dadurch, daß sie bestimmte Erzählungen rezipieren, die dann für beide zu ihrer tatsächlichen Geschichte werden«. 39 Über Ricœurs Konzeption der narrativen Identität wird es so möglich, fiktionale und historische Erzählungen in einem Zusammenhang zu denken, ohne dass dabei die Spezifik beider Varianten des Erzählens verloren geht. Mit Blick auf die französische Schule der Annales sah sich Ricœur dazu herausgefordert, die Bedeutung der Erzählung für die Geschichtswissenschaften zu überdenken. Denn die strukturalistische Geschichtsschreibung wandte sich gegen das traditionelle historische Erzählen der Ereignis- und Politikgeschichte, in dem die Ereignisse die klassischen Wendepunkte der Erzählung sind und die großen historischen Persönlichkeiten als tragende Figuren die Handlung bestimmen. 40 Ricœur wies jedoch auch der strukturalistischen Geschichtsschreibung eine dramatische Affinität nach, und zwar über den Kunstgriff der von ihm sogenannten »Quasi-Fabeln«, der »Quasi-Figuren« und des »Quasi-Ereignisses«. 41 Strukturen, Mentalitäten und andere Kon39 Ebd., S. 397. 40 Diese Opposition zwischen der klassischen Politikgeschichte und der Sozialgeschichte hat auch die deutschsprachige Historiographie um 1980 bestimmt. Vgl. dazu etwa: Koselleck/Lutz/Rüsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung. 41 Für die Argumentation von Ricœur ist die Nähe von narratologischen und intentionalen Erklärungsmodellen entscheidend. Für Ricœur bleibt jede Form der Geschichtsschreibung auf ein intentionales Verstehensmodell angewiesen. Unter historischer Intentionalität versteht Ricœur den »Sinn des poetischen Zielstrebens, auf dem das Historische der Geschichte beruht, das sie davor bewahrt, sich in den Wissensformen aufzulösen, mit denen sich die Geschichtsschreibung aufgrund ihrer Vernunftehe mit Wirtschaftswissenschaften, Geographie, Demographie, Ethnologie und Soziologie der Mentalitäten und Ideologien verbindet.« Im Rahmen seiner Analyse der historischen Erklärung bezieht sich Ricœur folgerichtig auf intentionale Erklärungsmodelle historischer Ereignisse, insbesondere auf die Theorien von Dray und von Wright, die er um das Erklärungsmodell kausaler Zurechnung im Sinne von Max Weber erweitert. Den Ausdruck der »Quasi-Fabel« entwickelt Ricœur anhand von Max Webers Ausführungen über die »singuläre kausale Zurechnung«. Dort heißt es, »um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche«. Eine historische Erklärung eines Phänomens beruht also darauf, sich einen anderen Verlauf der Geschichte, also eine »Quasi-Intrige« vorzustellen, um sodann die Bedeutung der entscheidenden Faktoren für den nachzuvollziehenden historischen Prozess in einem Wahrscheinlichkeitskalkül abzuwägen. Dies ist freilich auch eine Beschreibung dessen, was im Detektivroman durchgespielt wird: Immer wieder geht der Detektiv verschiedene mögliche Tatverläufe durch, um dann im Rahmen einer Abwägung des Wahrscheinlichen auf den tatsächlichen Tatverlauf bzw. auf die beste bzw. plausibelste Erklärung eines Geschehens zu schließen. Max Webers Analogisierung von historischer kausaler Zurechnung und zeitgenössischer Kriminalistik wäre eine eigene Untersuchung wert. Hier wird er nicht in die Genealogie kriminalistischer Geschichtstheorien aufgenommen, da sein Wissenschaftsethos es ihm nicht

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struktionen in historiographischen Texten nehmen danach die Form von Quasi-Figuren an, deren Veränderungen innerhalb der Zeit aufgezeigt und als Erzählung konfiguriert werden. So bleibt auch eine theoriegeleitete Geschichtsschreibung an eine spezifisch narrative Intentionalität gebunden, in der das historische Ereignis nicht nur zum Ablauf einer Fabel beiträgt, sondern diesem Ablauf im Anschluss an Aristoteles die »dramatische Form« einer Schicksalswende verleiht. 42 Ricœur hat das Verhältnis zwischen der narrativen Sinnkonstitution durch die Fabelkomposition und der erklärenden, wissenschaftlichen Dimension der Historiographie als das Verhältnis zwischen einer allgemeinen auto-explikativen Intelligibilität der Erzählung und der um explikative Rationalität bemühten geschichtswissenschaftlichen Erzählung gedeutet. In erster Linie sei die Intelligibilität der narrativen Intrige in Alltagserzählungen zu erkennen, während sie in verfeinerter Form in der Literatur auftrete. Für die historische Erzählung unterscheidet Ricœur zwischen einem Diskurs ersten und zweiten Grades. So ist für ihn der Diskurs ersten Grades derjenige, den die Menschen von einst selbst über sich geführt haben. Sobald die Historiographie mit ihrer spezifischen explikativen Rationalität versucht, das Geschehen zu erklären, kommt es zu der Konstruktion eines Diskurses zweiten Grades, der den Diskurs ersten Grades gemäß der jeweils aktuellen »Sinnkriterien« der Gelehrten rekonstruiert. 43 In Zeit und Erzählung konstatiert Ricœur dementsprechend eine »Verselbständigung der historischen Erklärung« im Rahmen der geschichtswissenschaftlichen Forschung, der er eine »dienende und berichtigende Funktion« gegenüber der immanenten bzw. auto-explikativen Erklärungsdimension der Erzählung zuweist. 44 Im Gegensatz zu narratologischen Theorien wie derjenigen von Hayden White, die die narratologische Erklärungsdimension privilegieren, besteht Ricœur darauf, dass der Diskurs der historischen Erzählung über die immanente Erklärungsdimension hinausgeht. Diesen »epistemologischen Einschnitt«, den die Historie vollzieht, wenn sie zur Wissenschaft wird, kennzeichnet er mit den drei Merkmalen »Begriffsbildung, Objektivitätsstreben und kritische Reflexion«, denn »zwischen der narrativen und der historischen Erklärung bleibt ein Abstand bestehen, und zwar die Forschung selbst«. 45 Paul Ricœur legt in seiner Beschreibung der historischen Forschungspraxis besonderen Wert auf den Begriff des Spurenlesens, und ebenso wie Carlo Ginzburg verknüpft er die Tätigkeit des Spurenlesens mit derjenigen des Jägers und Detektivs, auch wenn bei ihm der kriminalistische Aspekt des Spurenlesens im Vergleich zu anderen Geschichtstheoretikern nur eine marginale

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ermöglichte, die narrative Dimension historischen Erklärens zu erkennen. Siehe: Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 7. Ausg., Tübingen 1988, S. 1145. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 337. Paul Ricœur, Vernunft und Zufall in der Geschichte, Tübingen 1986, S. 27. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 263 u. 233. Ebd., S. 265.

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Rolle spielt. 46 Die Spur gehört für ihn vielmehr zu den »notwendigen Vorbedingungen für alle Schöpfungen der historischen Praxis«, denn »nur unter der Voraussetzung, daß die Vergangenheit eine Spur hinterlassen hat […] wird es überhaupt möglich, daß Archive eingerichtet und Dokumente gesammelt werden«. Dabei unterscheidet sich jedoch die Spur von anderen Zeichen, da sie nicht auf einen bedeutungsstiftenden Akt zurückzuführen ist, und so ist sie, eine Formulierung Marc Blochs aufgreifend, ein »Zeugnis wider Willen«. Die Spur bleibt jedoch ein rätselhaftes Phänomen, denn »die Spur signifiziert, ohne erscheinen zu lassen«. Im Begriff der Spur vereinigen sich so verschiedene Dimensionen der Zeit: Sie zeigt an, dass jemand an einem bestimmten Ort vorübergegangen ist und verweist so auf ein Vergangensein. Da die Spur nur »mit der Uhr in der Hand« und dem »Kalender in der Tasche«, also nur im Hinblick auf die Datierbarkeit bestimmter Zeitpunkte zurückzuverfolgen ist, impliziert sie gleichfalls einen linearen Zeitbegriff und ein »Rechnen mit der Zeit«. Das Lesen der Spur verweist darüber hinaus auf die Erstreckung der Zeit im Raum und damit auf eine »öffentliche Zeit«: Denn das Zurückverfolgen der Spur ist – man erkennt hier deutlich die Auseinandersetzung mit Heidegger – ein Akt des umsichtigen Besorgens. Für Ricœur ist dies der Punkt, an dem die Spur das Empirische mit dem Existenzialen der menschlichen Zeiterfahrung verbindet. 47 Dabei beruft er sich auf Marc Bloch, nach dem uns das Dokument »ein Phänomen hinterlassen hat, das selber als solches nicht fassbar ist«. Während Historiker den Spuren der vergangenen Wirklichkeit folgen, indem sie die Spuren als »durch die Sinne wahrnehmbare Markierung« betrachten, Archive aufsuchen und Dokumente auswerten, entgeht ihnen jedoch, dass die Spur nicht nur das Empirische signifiziert, sondern auch das »Existenziale«. Diese Attraktivität der Spurenmetaphorik, die das Empirische mit dem Existenzialen zu verbinden vermag, bleibt dennoch problematisch. Gerade wenn die Metapher ausschließlich vor ihrem kriminalistischen Horizont ausgedeutet wird, kann sie ein positivistisches Wissenschaftsverständnis befördern. Schließlich bleibt es fraglich, ob das Bild der Spur als zurückverfolgbare Fährte überhaupt für die Geschichtswissenschaften tragfähig ist, da hier Spuren interessegeleitet konstruiert werden. So muss aus der Vielzahl der Markierungen der Vergangenheit eine Auswahl getroffen werden, die dann in einem Begründungszusammenhang zu Indizien der Beweisführung werden. 48

46 Vgl. hier und im Folgenden: Ricœur, Zeit und Erzählung III, S. 185-200. 47 Hayden White bemerkt in Ricœurs Philosophie eine Tendenz zur Tragik, da sich das Paradox der historischen Existenz nur in symbolischer Form, nur als narrative Geschichte erfassen lasse. Damit widerstehe Ricœur der »häufigsten Versuchung«, nämlich der Ironie des historischen Diskurses. Vgl. Hayden White, Die Metaphysik der Narrativität. Zeit und Symbol in Ricœurs Geschichtsphilosophie, in: Ders., Die Bedeutung der Form, S. 175-193; hier S. 190. Einer ironischen Lesart der Historiographiegeschichte hat White sicherlich selbst neue Geltungskraft verschafft. 48 Dass auch in der kriminalistischen Praxis Spuren konstruiert werden, zeigt: Jo Reichartz, Die Spur des Fahnders oder: Wie Polizisten Spuren finden, in: Krämer/Grube/Kogge (Hg.), Spur, S. 309-332. Die Bedeutung des Interpre-

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Ricœur tendiert in seinem Spätwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen dazu, das Nachvollziehen einer Geschichte aufgrund ihrer narrativen Dimension stärker von den spezifisch historischen Weisen der Erklärung abzugrenzen, als dies zuvor bei ihm der Fall war. So äußert Ricœur im Rahmen einer Replik auf den erwähnten Tagungsband Probing the Limits of Representation, dass Whites These, nach der die Fabelkomposition als ein erklärender Modus der historischen Repräsentation anzusehen sei, ein »kategorialer Fehler« sei. Die Fabelkomposition sei »für die wissenschaftlichen Prozeduren des historischen Wissens bestenfalls gleichgültig« und könne »schlimmstenfalls […] an deren Stelle treten«. 49 Die erklärende Kraft der Historie führt er hingegen auf die Dialektik von Verstehen und Erklären als zentraler historiographischer Operation zurück, auf die Interpretation auf der Grundlage dokumentarischer Beweise. So sei eine klare Grenze zwischen historischer und fiktionaler Erzählung zu ziehen, was Ricœur in klassischer Weise mit dem referentiellen Moment und der dokumentarischen Beweiskraft und der Entzifferung von Spuren begründet, wodurch die Geschichte grundsätzlich von der Fiktion unterschieden sei. Trotz dieser im Hinblick auf Zeit und Erzählung vorgenommenen Relativierung der narrativen Erklärungsdimension in historiographischen Erzählungen erscheint es ihm weiterhin sinnvoll, über die »Tiefenstrukturen des Imaginären als Matrizen« des historischen Wissens nachzudenken. Dabei wird nun die Erzählung als Medium der Geschichte durch das »Prestige des Bildes« ergänzt, das für ihn mit der »ikonischen Konstitution« des Gedächtnisses verbunden ist. 50 Während Hayden White annahm, den Prozess des Forschens außer Acht lassen zu können, um eine Theorie historiographischer Darstellungsweisen zu entfalten, resultiert bei Ricœur aus der empirisch vorgehenden, spurensuchenden Forschungspraxis der Geschichtsschreibung eine Differenz zu literarischen Narrativen. Angesichts der spezifischen »Rationalität« der historiographischen Erzählung tritt die narrative Konfiguration der Geschichtsschreibung in den Hintergrund und erscheint nur noch als »Quasi-Fabel«. Unter der Hand wird damit die traditionsreiche Unterscheidung von »Geschichtsforschung« und »Geschichtsschreibung« sowohl bei Hayden White (durch die Nichtberücksichtigung des Forschungsaspekts) als auch bei Paul Ricœur fortgeschrieben. Die beiden widerstreitenden Momente bleiben also bestehen: der intelligible, analytische, auf »Verifizierbarkeit pochende Pol« einerseits und der literarisch-narrative Pol der historiographischen Erzählung andererseits, der »das Moment der Objektivität durch Subjektivität zu unterlaufen« bedroht. 51

tationshorizontes beim Spurenlesen zeigt am Beispiel der Archäologie: Holtorf, Vom Kern der Dinge keine Spur, S. 333-352. 49 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 390. 50 Ebd. 51 Stephan Jaeger, Historiographisch-literarische Interferenzen. Möglichkeiten und Grenzen des Diskursbegriffes, in: Fulda (Hg.), Literatur und Geschichte, S. 61-85; hier S. 74f.

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Dem entgegenzuhalten ist, dass jeder analytische Zugriff, der Problembezug der Historiographie und die Versuche des Verstehens und Erklärens, in narrativer Weise dargeboten werden müssen. So zeigt sich die spezifische Rationalität der historischen Erzählung direkt in ihren Texten, und zwar in ihrem konstruktionsbedingten Aufbau ebenso wie in der Form von Fußnoten, Exkursen, Erörterungen und Zusammenfassungen, die den referentiellen und diskussiven Charakter eines problemorientierten Zugriffs deutlich werden lassen. Das Interessante an den Interferenzen von Geschichtsschreibung und Kriminalliteratur ist nun, dass durch die Adaption kriminalistischer Narrative und die Figur des Detektivs nicht nur das subjektive Moment in der Geschichtsschreibung Einzug hält, sondern darüber hinaus ein gleichzeitig analytisches und rhetorisches Erzählmodell Entfaltung findet, das Wissenschaftlichkeit und Narration verbindet.

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4 Geschichtsschreibung als detektivische Erzählung Die Kritik von Carlo Ginzburg an Hayden White verdeckt, dass gerade Ginzburg – nicht nur in der Adaption des Kriminalschemas für die Mikrogeschichte – sich wiederholt mit der Literatur als Inspirationsquelle für die Konzeption der Geschichtsschreibung auseinandergesetzt hat. So ist es auch für ihn eindeutig, dass »Erzählmuster […] in jedem Stadium der Forschung wirksam sind, Schranken bilden und Möglichkeiten schaffen«. 52 Seinen Einspruch gegen einen sprachphilosophischen Relativismus und Skeptizismus, wie er ihn mit dem linguistic turn verbunden sieht, formuliert Ginzburg dabei mit dem im Anschluss an die aristotelische Rhetorik formulierten Argument, dass jedem Beweisverfahren gleichzeitig eine rhetorische Dimension zukommt, die sogar den »grundlegenden Kern« bilde. So begründet sich Ginzburgs Plädoyer für eine wahrheitsgetreue Rekonstruktion historischer Erfahrungen auf einer – ins Positive gewendeten – Anerkennung der Rhetorik. 53 Für Carlo Ginzburgs Werke, deren Umfang mehr dem Format der Novelle als dem des Romans entspricht, ist wiederholt konstatiert worden, dass sie »kriminalromanartige Züge« tragen. 54 Das hängt nicht zuletzt von seinen Quellen ab, oft Rechtsfälle aus Inquisitionsakten. Narrativ folgen die Rekonstruktionen der mikrogeschichtlichen Fallstudien der Kommunikationssituation des Verhörs. Was Ginzburgs Werke hervorhebt, ist sein reflektiert fragender Umgang mit den Quellen und sein Versuch, eine Lektüre zu unternehmen, die gegen die Perspektive der Inquisitoren eine »Geschichte von unten« in den Blick bekommen will. Gleichzeitig entwirft er in seinen Büchern und Essays ein Plateau von bedeutungsvollen und anscheinend weniger bedeutungsvollen Zeichen, deren Verknüpfungen dann durch die Analyse hervorgebracht werden. Die wissenschaftliche und auch literarische Faszination, die von solchen kriminalistischen Fallanalysen ausgeht, findet sich in anderen Studien wieder – in dem Klassiker der Mikrogeschichte Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre von Natalie Zemon Davis, aber auch in Büchern von Simon Schama und Alain Courbier, die nicht eindeutig der Forschungsrichtung der Mikrogeschichte zugeordnet werden können. 55 Doch sowohl Ginzburgs als auch Davis’ Hypothesenbildung, die Ver-

52 Carlo Ginzburg, Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, Berlin 2001, S. 33. Von der Beschäftigung mit der Literatur und Fiktion zeugen insbesondere seine Aufsätze in: Ders., Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999. 53 Ginzburg, Die Wahrheit der Geschichte, S. 59. Vgl. auch Kapitel II, 4.1. 54 Insbesondere trifft dies zu auf: Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/M. 1979. Vgl. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M. 2001, S. 285-313; hier S. 287. 55 Natalie Zemon Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, München 1984. Alain Corbin, Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben, Frankfurt/M. 1999. Simon Schama, Dead Certainties. Unwarranted Speculations, London 1991. Zur Narrativik, Epistemik und Pragmatik von Fallstudien auch: Johannes Süßmann/Susanne Scholz/Gisela Engel (Hg.): Fallstudien. Theorie –

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knüpfungen und Kombinationen, die mit reichhaltigen Analogien und Assoziationen arbeiten, sind als »suggestive Darstellungstechnik« oder als »Rhetorik des Wahrscheinlichen« wiederholt kritisiert worden. 56 Neben Ginzburgs Bezugnahme auf eine morphologische Methode bleibt ein Kernpunkt der Kritik, dass gerade Ginzburg dazu neigt, seine detektivischen Rekonstruktionen letztlich eindimensional auf die Frage des whodunit zuzuspitzen, was bei ihm auf die Wiederentdeckung vermeintlich untergründiger, »uralter« Traditionen hinauslaufe. 57 Angesichts dieser Überführungskünste der Mikrogeschichte fragt sich, ob Ginzburgs Versuch, die Beweiskraft auf der Grundlage von Dokumenten im Zusammenspiel mit der Rhetorik zu sehen, überzeugend ist. Obwohl er die historische Praxis als Indizienverfahren kennzeichnet, das seinerseits ein durchaus unsicheres, auf »indirekten« Beweisen beruhendes Verfahren bleibt, beharrt er auf dem schwerwiegenden Wort des »Beweises« (proof). Gerade vor dem Hintergrund der Einführung des vollgültigen Indizienbeweises und der freien Beweiswürdigung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, deren Auswirkungen auf die hermeneutische Theorietradition noch aufgezeigt werden, scheint es sinnvoller, von Gewissheit (evidence) auf der Basis guter, intersubjektiv überprüfbarer Gründe zu sprechen – und zwar sowohl für die Rekonstruktionen vor Gericht als auch in der Historiographie. 58 In einer neueren Studie über Werke der französischen Historikerschule der Annales hat nun Axel Rüth auf die strukturelle Ähnlichkeit von historiographischen und detektivischen Erzählungen hingewiesen. Mit Bezug auf narratologische Analysen des Detektivromans von Tzetvan Todorov erkennt Rüth eine »narrative Verdoppelung«, welche die Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts von derjenigen des 19. Jahrhunderts abhebt. 59

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Geschichte – Methode (=Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge; Bd. 1), Berlin 2007. Klaus Graf, Carlo Ginzburgs Buch »Hexensabbat«. Eine Herausforderung an die Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft, in: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5 (1993), S. 1-16. Auch: Michael Maurer, Geschichte und Geschichten, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), S. 674-691. Zur Kritik an der Adaption des Detektivschemas siehe: Dominick LaCapra, Der Käse und die Würmer. Der Kosmos eines Historikers im 20. Jahrhundert, in: Ders., Geschichte und Kritik, Frankfurt/M. 1987, S. 38-63; hier S. 46: Ginzburgs Darstellung in Der Käse und die Würmer sei »auf befremdliche Weise anekdotenhaft und geometrisch, in der Projektion einfühlsam, in der Reduktion analytisch und insgesamt fragmentarisch«. Die Adaption des Detektivromans sorge dafür, dass »der whodunit nur einen einzigen Urheber entlarven wird«, nämlich eine untergegangene und verschwundene mündliche Volkskultur, die Ginzburg aus den Inquisitionsakten im Fall des Müllers Menocchio rekonstruiert haben will. Ginzburg, Die Wahrheit der Geschichte, S. 9. Diesen Einspruch erwähnt Ginzburg selbst, übergeht ihn jedoch mit dem Hinweis, dass die italienische und die deutsche Sprache diese doppelte Bedeutung des Wortes evidence nicht kennen. Rüth, Erzählte Geschichte, S. 45ff.

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Ebenso wie Detektivromane erzählen moderne historiographische Werke entgegen dem objektivistisch-realistischen Ideal des 19. Jahrhunderts zwei Geschichten: die (rekonstruierte) Geschichte und die Geschichte der Rekonstruktion der Geschichte, also einerseits die Geschichte selbst, die weitgehend ihrer chronologischen Struktur folgt, und die Aufklärungs- oder Ermittlungsgeschichte. So berichtet die historiographische Ermittlungsgeschichte »von der fortschreitenden Erkenntnis des Historikers im Umgang mit seinen Quellen« 60, und sie ist jener »Diskurs zweiten Grades«, den Paul Ricœur mit der Forschungspraxis der modernen Geschichtsschreibung verbunden hat. Mit dieser zunehmenden Gewichtung der zweiten Geschichte, der Ermittlungsgeschichte, gewinne die Historiographie eine selbstreflexive Dimension. Wichtig sei dabei nicht nur der dargebotene Forschungsprozess, sondern auch die Auseinandersetzung mit der Forschung und der öffentlichen und wissenschaftlichen Rezeption eines historischen Geschehenszusammenhanges. In diesen zweiten Geschichten des historischen Diskurses werde das historische Ereignis selbst zum »Subjekt der Veränderung«. 61 Rüth spricht zudem von zwei »idealtypischen historiographischen Erzählerrollen«, die der Historiker einnehmen kann. Ausgehend von Genettes Begriff der »Stimme« als Vermittlungsinstanz der Erzählung könne der Historiker die Rolle des »Mystagogen« und des »Detektivs« einnehmen. Unter dem Historiker als Detektiv versteht Rüth einen Erzähler, bei dem die Reflexivität einen breiten Raum einnimmt, der sich als akribischer Spurensucher in Szene setzt und der sich auf einen kritischen Leser einstellt. So entspreche der Detektiv dem Ideal der wissenschaftlichen Geschichte, da er »Objektivität im Sinne von Überprüfbarkeit« liefert. 62 Rüth, der sich nicht näher mit dem forensisch-kriminalistischen Paradigma der Geschichtsschreibung befasst, kommt zu zwei einschränkenden Bemerkungen: So sei ein wesentlicher Unterschied zwischen Kriminalroman und Geschichtsschreibung, dass die Kriminalgeschichte ihre Kohärenz der zweiten Geschichte verdanke, die davon handelt, wie sich der Detektiv immer tiefer in die Vergangenheit zurückarbeitet. Der Detektiv sei hier der Held einer Aufklärungsgeschichte, und die erste Geschichte – der aufzuklärende Fall – sei allein eine Funktion der zweiten Geschichte, insofern sie die Lösung des Rätsels und das Ende der Erzählung beinhaltet. Rüth hält dem entgegen, dass der Historiker nie der Held seiner Bücher sei, sondern allein im 60 Ebd., S. 45f. Auch: Dorrit Cohn, Freud’s Case Histories and the Question of Fictionality, in: Dies., Distinction, S. 38-57. 61 Rüth, Erzählte Geschichte, S. 83. 62 Ebd., S. 194. Der »Mystagoge« ist für Rüth ein Erzähler, der besonderen Wert auf Anschaulichkeit legt, der auf Fußnoten weitgehend verzichtet, der sich auch an eine nicht-wissenschaftliche Leserschaft richtet und der auf die Autorität des Historikers setzt, der in die Tiefen der Vergangenheit vordringt. Der Mystagoge hebt im suggestiven Spiel den Vorhang für das Schauspiel der Vergangenheit, während der reflektierende, seine Verfahren offenlegende detektivische Historiker die Distanz zur Geschichte ins Gedächtnis rufe. Der Mystagoge stehe deshalb – so Rüth – in der Tradition der Micheletschen »Beschwörung der Vergangenheit«, während der Detektiv der »später einsetzenden verwissenschaftlichten Geschichtsschreibung« zuzuordnen sei.

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Dienste einer vergangenen Wirklichkeit stehe, die er sichtbar machen will. Schließlich schränkt Rüth die Funktion der zweiten Geschichte in der Geschichtswissenschaft insofern ein, als sie allein die Überprüfung der erzählten »ersten« Geschichte gewährleiste. 63 Rüth öffnet den Blick für die strukturellen Parallelen von historiographischen und detektivischen Erzählungen. Seine Unterscheidung von detektivischen und mystagogischen historiographischen Texten läuft jedoch letztlich auf das konventionelle Gegensatzpaar von »analytischen« und »anschaulichen« Erzählweisen hinaus. Durch einen konventionellen Wissenschaftsbegriff, der sich vor allem auf Überprüfbarkeit beruft, entsteht zudem das Paradox, dass das von ihm untersuchte Werk von Natalie Zemon Davis, welches methodisch der Mikrogeschichte verpflichtet ist, seiner Meinung nach einer »mystagogischen« und nicht einer detektivischen Geschichtsschreibung entspricht. Warum jedoch die einfühlende, psychologische Interpretation von Davis und ihr Wahrheitsforschungsprozess, in dem Wahrscheinlichkeiten reflektiert und ausgedeutet werden, nicht »detektivisch« sein sollen, ist kaum überzeugend und hängt mit dem höchst einseitigen Bild zusammen, das Rüth vom Detektivroman hat. So wird die Figur und die Stimme des Detektivs letztlich für Historiker vereinnahmt, die mit einer kontrollierten historischen Imaginationskraft und einer kontrollierten Subjektivität den Wissenschaftsstandards des ausgehenden 20. Jahrhunderts folgen und die sich dabei als federführendes Subjekt der Rekonstruktion in die Geschichte, über die sie berichten, einschreiben. Da Rüth die detektivische Erzählerrolle stark an das Wissenschaftsparadigma der »Überprüfbarkeit« anbindet, erinnert sein Verständnis der Detektivgeschichte an jene Fairness-Gebote, die Kriminalromanautoren des golden age of crime aufstellten: Danach sollte die Lösung eines Falles nur auf der Basis jener Indizien und clues erfolgen, die im Text zuvor gestreut wurden. 64 Über die von Axel Rüth aufgezeigten strukturellen Parallelen von detektivischen und modernen historiographischen Narrativen hinaus soll es hier um eine Historisierung des detektivischen Paradigmas im Interdiskurs von Histo63 Ebd., S. 47. Diese These erzeugt einigen Widerspruch, denn der Historiker wird – nicht nur wenn er Erfolg hat und öffentliches und wissenschaftliches Renommee erlangt, sondern vielmehr dann, wenn er sein detektivisches alter ego im Text entfaltet – durchaus zum Helden seiner Bücher: Zu einem Helden, der eine neue Interpretation vorlegt, zu einem Helden, der eine neue Sicht der Dinge eröffnet, zu einem Helden, der einen neuen Stil und einen neuen Ansatz durchsetzt, zu einem oft genug einsamen Helden, der wissenschaftliche Kämpfe zu bestehen hat. 64 Vgl. dazu den »Detective Story Decalog« von R. A. Knox – ein Krimiautor des golden age of crime – und den »Detection Club Oath«, den die Mitglieder des 1932 gegründeten Detection Club ablegten, sowie den ernst gemeinten Versuch von S. S. Van Dine [d. i. W. H. Wright], »Twenty Rules for Writing Detective Stories« aufzustellen. Dazu auch: Anja Wulff, Die Spielregeln der Detektiverzählung, in: Paul Gerhard Buchloh/Jens P. Becker, Der Detektivroman. Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen Detektivliteratur, 4., unveränd. Aufl., Darmstadt 1990, S. 81-95.

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rik, Kriminalistik, Historiographie und Kriminalliteratur gehen. Dabei wird das Detektivschema wie bei Rüth als explizit modernes und »wissenschaftliches« Erzählmodell verstanden. Darüber hinaus wird jedoch gezeigt, dass es sich hierbei um ein variables Muster historischer Sinnbildung handelt, welches nicht unter einen eindimensionalen Wissenschaftsbegriff subsumiert werden kann. In aller Deutlichkeit tauchen die strukturellen narratologischen Ähnlichkeiten erstmals in Johann Gustav Droysens Unterscheidung von »untersuchender« und »erzählender« Darstellung auf – und damit zu einem Zeitpunkt, an dem ebenso wie die vielbekundete »Verwissenschaftlichung« der Geschichtsschreibung sich auch der klassische Kriminalroman ausbildet. Die neue Wissenschaftlichkeit, die die Geschichtsschreibung zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangt, ist kein Resultat einer Entrhetorisierung, kein Ergebnis der Erfindung einer autonomen, anästhetischen Wissenschaftsprosa, sondern das Ergebnis einer interdiskursiven Verflechtung kriminalistischer und wissenschaftlicher Schreibweisen, die mit der Ausbildung des klassischen Detektivschemas neue Repräsentationsformen entwickelt.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

5 Fiktionale und historiographische Narrative Für diese Arbeit wird eine pragmatische Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen historischen Erzählungen vorgeschlagen, die sich gegen narratologische, essentialistische oder ontologische Abgrenzungsversuche richtet. 65 Ausgehend von einem pragmatischen Fiktionsbegriff bietet es sich an, neben einem »autobiographischen Pakt« 66 und einem »fiktionalen Pakt« 67 von einem »historiographischen Pakt« 68 zwischen Autor und Leser zu sprechen. Dieser an »Tatsachenkonventionen« 69 gebundene historiographische Pakt garantiert dem Leser qua Konvention, dass das von ihm in die Hand genommene Werk in die Gattung der wissenschaftlichen Historiographie einzuordnen ist. Während die Fiktion voraussetzt, dass der Leser freiwillig seine Ungläubigkeit aufgibt, wendet sich der Historiker an einen misstrauischen Leser, der von ihm erwartet, dass er seine Erzählung beglaubigt. 70 Ebenso

65 Einleitend zur Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Erzählungen vgl.: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin 2008. Peter Blume, Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur, Berlin 2004. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (=Allgemeine Literaturwissenschaft; Bd. 2), Berlin 2001. Gérard Genette, Fiktion und Diktion, München 1992. 66 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994. 67 Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1994, S. 103. Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 279-287. Wiklef Hoops, Fiktionalität als pragmatische Kategorie, in: Poetica 11 (1979), S. 281-317. Siegfried J. Schmidt, Ist Fiktionalität eine linguistische oder eine texttheoretische Kategorie?, in: Elisabeth Gülich/Wolfgang Raible (Hg.), Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht, Frankfurt/M. 1972, S. 59-80. 68 Vgl. Angelika Epple, Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus (=Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 26), Köln 2003, S. 19-24. Dies., Historiographiegeschichte als Diskursanalyse und Analytik der Macht. Eine Neubestimmung der Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der Geschlechtergeschichte, in: L’Homme 15 (2004), H. 3, S. 67-86. Dies., Von Werwölfen und Schutzengeln. Historiographiegeschichte als Analyse des historischen Apriori, in: Eckel/Etzemüller (Hg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, S. 171–200. Auch: Ruth Klüger, Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur, Göttingen 2006, S. 87. 69 Siegfried J. Schmidt, Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1991, S. 112-116. Die »Tatsachenkonvention« ist an die Kriterien der Wahrheit und Nützlichkeit gebunden, während diese in der Ästhetikkonvention als nachrangig betrachtet werden können. 70 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 404 u. 425, der damit auf Samuel Coleridges »the willing suspension of disbelief« im Zuge der Rezeption von Literatur anspielt.

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wie sich die Fiktion durch sogenannte Fiktionssignale zu erkennen gibt, streut jedes wissenschaftliche Buch im Umkehrschluss »Wissenschaftssignale«, die dem Leser deutlich machen, dass es sich um ein den zeitgenössischen Wissenschaftspraktiken folgendes Werk handelt. Über die sogenannten Paratexte – zu denen neben dem Autorennamen Titel, Umschlagsgestaltung, Verlag, Widmung, Vorwort, Fußnoten, Quellen- und Literaturverzeichnis zu zählen sind – wird auf explizite und implizite Weise diese Zuordnung zur Historiographie signalisiert. Mit diesem historiographischen Pakt ist die Vorstellung verbunden, dass sich der Autor an historisch variable, aber eben wissenschaftliche Standards hält, zu denen auch die Wahrheitstreue gehört. Während es die Bildungsautorität des Historikers im 19. Jahrhundert diesem noch erlaubte, auf ausufernde Fußnotentexte zu verzichten, ist der akademische Historiker des 20. und 21. Jahrhunderts – inzwischen mit den technischen Möglichkeiten des Computers ausgerüstet – darauf angewiesen, seine Argumentation durchgängig zu belegen, so dass sie intersubjektiv nachvollziehbar und auf dem Stand der neuesten Forschung erscheint. Was als fiktionstypische oder aber wissenschaftliche Merkmale angesehen wird, bleibt historisch variabel und ist als vermeintlicher Regelkanon wesentlich offener, als dies von den Fachwissenschaften meistens behauptet wird. Zu diesem historiographischen Pakt gehört ebenfalls, dass Autor und Erzähler im Fall der Historiographie weitestgehend identisch sind, weshalb der Historiker für seine Aussagen zur Verantwortung gezogen werden kann. Diese Annahme einer Identität von Autor und Erzähler innerhalb der Historiographie heißt jedoch nicht, dass der historiographische Text keine prägnante Erzählstimme, keine eigene Rhetorik oder keinen eigenen erzählerischen Stil entfalten darf. 71 Er kann mit der Stimme des Augenzeugen sprechen, des Verteidigers, des Untersuchungsrichters, des Detektivs, des Angeklagten, des sich zur Wehr setzenden Marginalisierten oder eines »Mystagogen«, und er kann diese je nach Position und Zweck der Darstellung nüchtern, beschwörend, distanziert, emotionalisierend, pastoral oder kalt analytisch klingen lassen. Diese Stimme kann einem Text inhärent sein, bleibt jedoch auch vom Rezeptionsprozess abhängig und kann einem Text zugeschrieben werden. Von den erzähltheoretischen Argumenten, die gegen eine solche pragmatische Abgrenzung von historiographischen und fiktionalen Texten sprechen können und die für eine stärkere Differenzierung zwischen beiden Textgattungen plädieren, muss das Problem der Referentialität hervorgehoben werden. So geht etwa Dorrit Cohn von einer unhintergehbaren Differenz zwischen historischem und fiktionalem Erzählen aus und argumentiert, dass »objektive Kriterien« und »narratologische Kennzeichen« für Fiktionalität existieren. 72 Ihr zentrales Argument ist, dass die narratologische Unterscheidung von story und plot nicht problemlos auf die Historiographie übertragen werden könne, da diese im Gegensatz zur Fiktion immer an eine Referenzebene gebunden sei. Zudem gibt sie zu bedenken, dass Historiker bei ihrer Arbeit Informationslücken füllen müssen, um der Vergangenheit einen konsistenten Verlauf zu verleihen. Solche Leerstellen hätten in der Historiographie jedoch einen anderen Stellenwert als in der Fiktion. Denn was in einem fiktiven 71 Vgl. hierzu Rüth, Erzählte Geschichte, S. 35. 72 Dorrit Cohn, Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität, in: Sprachkunst 26 (1995), S. 105-112, hier S. 108.

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Werk nicht erwähnt werde, sei für selbiges irrelevant. Die historiographische Erzählung werde hingegen dahingehend bewertet, ob der Historiker seine Auswahl von Ereignissen überzeugend vorbringt und wie diese vor dem Hintergrund des historischen Wissens einzuschätzen ist. Dies führt Cohn zu der Aussage: »A novel can said to be plotted, but not be emplotted.« 73 Problematisch wird dies jedoch vor dem Hintergrund fiktiver Geschichtserzählungen wie etwa historischer Kriminalromane, die einem starken historischen Realismus verpflichtet sind und ebenso wie die Historiographie eine – den Ansprüchen der Fiktion genügende – Auswahl aus dem Bestand faktualen Wissens treffen müssen. Während die Literaturwissenschaften diesbezüglich oft von der Autonomie der Fiktion ausgehen, erscheint dies aus der Perspektive einer historischen Narratologie fragwürdig, die gerade die Interferenzen zwischen Literatur und Historiographie untersuchen will. Denn indem die Literatur am Diskurs über die Vergangenheit teilnimmt, können auch fiktive Geschichtserzählungen Geschichtsbilder prägen. Insofern können romanhafte Geschichtsdarstellungen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Geschichtsbilder und historischer Metanarrative reflektiert werden, die ihrerseits Teil einer geschichtlich geprägten Welterfahrung sind und auf historisches Wissen rekurrieren. Darüber hinaus lassen sich strukturelle Analogien von Erzählverfahren und Erzählmustern sowie eine beiderseitige Adaption von Erzählstrategien erkennen, so dass die Grenze zwischen Historiographie und Fiktion hinsichtlich der Darstellungsverfahren durchlässig bleibt.

73 Dorrit Cohn, Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective, in: Dies., Distinction, S. 109-131; hier S. 114.

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6 Von der enquête zum examen Mit der fast ausschließlichen Fokussierung auf erkenntnistheoretische Probleme der Referentialität, des Wahrheitsanspruches historiographischer Darstellungen und des Fiktionspotentials der Literatur ist der kritische Blick auf den Konstruktionscharakter der Geschichtsschreibung, der mit den narratologischen Analysen der Geschichtsschreibung von Hayden White oder auch Roland Barthes verbunden war, weitgehend verlorengegangen. Doch auch Ansätze, in denen etwa an Jacques Derridas il n’y a pas de hors-texte angeschlossen wird und Auffassungen über die »Textualität der Geschichte« bzw. die »Geschichte als Text« dogmatisch vertreten werden, verlieren diese kritische Ausrichtung der frühen narratologisch ausgerichteten Historiographieforschung oft genug aus dem Blick. Die Versuche, die Objektivitäts- und Wissenschaftsideale historiographischer Narrationen als ideologische Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeitserzeugung zu dechiffrieren, sind jedenfalls weitgehend im Sande verlaufen. Im Spannungsfeld von Historik, Kriminalistik, Historiographie und Kriminalliteratur erscheint es deshalb sinnvoll, den Ansatz einer historischen Narratologie um Michel Foucaults Genealogie der juristischen, wahrheitserzeugenden Praktiken zu erweitern. Denn die Verknüpfung von Rhetorik und Beweis in der forensischen Tradition und die Bezugnahme auf Kriminalistik und Kriminalliteratur auch durch die moderne Geschichtsschreibung veranlassen dazu, die historiographischen Praktiken der Wahrheitsfindung im Zusammenspiel mit der Modifikation des Rechts zu sehen und nicht allein im Interdiskurs von Literatur und Geschichtsschreibung zu verankern. Foucaults schwarze Romane zur Geburt des Gefängnisses, der Psychiatrie und Klinik, seine Genealogie der Straf-, Reglementierungs- und Erziehungssysteme gehören wohl zu den wichtigsten crime stories, die auf dem Feld der Wissenschaftsgeschichte geschrieben worden sind. Sein zentrales Projekt einer »Geschichte der Wahrheit« versucht, Praktiken der Erfassung und Verifikation von Wissen aufzuzeigen, mit denen reguliert wird, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft als wahr gilt. Für Foucault sind die juristischen Praktiken, mit denen man über Schuld und Verantwortung urteilt, Wiedergutmachung verlangt oder Strafe auferlegt, Formen des Macht-Wissens, die sowohl paradigmatische Wahrheitskriterien als auch Subjektivitätsmuster aufstellen und ausbilden. 74 Foucaults Genealogie verortet diese juristischen Praktiken in einem gewagten diachronen Längsschnitt recht eindeutig in der abendländischen Geschichte und ihrem Umgang mit dem Recht. Jedoch ist seine Genealogie so angelegt, dass sich die verschiedenen juristischen Praktiken zeitlich überschneiden bzw. wiederkehren können. Dabei versucht er, historische Verlaufs- und Transformationsprozesse, Brüche und Ablösungen zu beschreiben. So kann zu einer bestimmten Zeit die relative Einheitlichkeit solcher Praktiken plausibel werden, während gleichzeitig konkurrierende und ihren Gegenstandsbereich anders einrichtende Wahrheitspraktiken beobachtet werden können. 75

74 Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 13. 75 Vgl. Martin Saar, Nachwort, in: Ebd., S. 155-163.

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In seiner Genealogie der juristischen Formen identifiziert Foucault drei idealtypische Wahrheitspraktiken, die im Hinblick auf ihre sozialgeschichtlichen Hintergründe und ihre herrschaftsstabilisierende Funktion erläutert werden: Das ist die vor allem in archaischen Gesellschaften praktizierte Probe (épreuve), und das sind zwei Formen der Untersuchung: die inquisitorische enquête und die mit der seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden Überwachungs- und Kontrollgesellschaft verbundene »Prüfung« (examen). Die Probe ist dabei mit Ritualen des Schwurs und Eides verbunden sowie mit körperlichen und physischen Proben wie dem Zweikampf oder Gottesurteilen als Konfrontation des Einzelnen und seines Körpers mit den natürlichen Elementen. Mit der épreuve sind für Foucault Wissensformen wie die Alchimie oder aber die mittelalterliche universitäre disputatio verbunden, in der zwei Gegner mit der Waffe des Wortes einen Streit ausfechten. Dabei standen die Zeugen, auf die man sich in der disputatio berief, nicht für Wahrheit, sondern für Kraft, denn je größer die Anzahl der Autoren und ihrer Autorität war, desto höher waren die Chancen auf den Sieg. 76 Die Praxis der Folter ist für Foucault eine Mischform von épreuve und enquête, da sie nicht mehr nur den Körper erprobt, sondern diese Probe gleichzeitig mit einem Wahrheitsbeweis verbindet, indem sie auf ein Geständnis zielt und somit der »Abschluß eines von der Inquisition angeordneten Verfahrens« ist.77 Das Geständnis, der Beichte folgend, wird zum »Hauptritual«, von dem man sich die Produktion der Wahrheit verspricht und das Individuum zum »Geständnistier« macht. 78 Mit der enquête bezeichnet Foucault diverse Untersuchungsverfahren, die von der kirchlichen Praxis der visitatio und der inquisitorischen Ermittlung und Beweisaufnahme über bestimmte Verwaltungsformen wie empirische Erhebungen, Befragungen und Bestandsaufnahmen aller Art bis hin zu speziellen Verfahren wie Vermessung oder Inspektion reichen. Die enquête hängt eng mit der Entwicklung rationaler Formen des empirischen und logischen Beweises zusammen, der Entwicklung der Philosophie, rationaler und wissenschaftlicher Systeme, der Rhetorik als Kunst des Überredens und Überzeugens und drittens mit einer Art von Erkenntnis, die auf Zeugnissen und Erinnerung aufbaut. Für Foucault ist – nicht nur mit dem Blick auf Francis Bacon – die Gerichtsuntersuchung die juristisch-politische Matrix des experimentellen Wissens und damit der empirischen Wissenschaften. Die Untersuchung wurde zum Ort der Naturwissenschaften, indem sie sich von ihrem politisch-juristischen Modell löste. Im Unterschied zur Probe der disputatio geht es in der enquête darum, etwas gesehen zu haben, Texte gelesen zu 76 Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 76. 77 Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 10. Aufl., Frankfurt/M. 1992, S. 291f. 78 Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 75-83; hier S. 75 u. 77. Zu den rechtsgeschichtlichen Hintergründen siehe: Michael Niehaus, Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion, München 2003, S. 113-132. Niehaus stellt klar, dass das einzige geregelte Verfahren, über das die souveräne Macht verfügt, um per inquisitionem zum Geständnis zu gelangen, weniger die Folter als das Verhör ist, und zwar zunächst das Verhör der Zeugen. Niehaus geht ebenso wie Foucault weder auf die Einführung der Schwurgerichte noch des Indizienbeweises ein.

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haben, um zu wissen, was tatsächlich gesagt worden ist. Hier gilt es, Bescheid zu wissen über das Gesagte wie auch über den Gegenstand, von dem das Gesagte handelt, das Gesagte mit dem Blick auf die Natur zu überprüfen und Autoren nicht als Autoritäten, sondern als Zeugen zu begreifen. 79 Mit examen bezeichnet Foucault schließlich Untersuchungsverfahren, die auf Kontrollwissen basieren und der Verhaltenskontrolle dienen. 80 Paradigmatisch ist hier der kontrollierende Blick des Bentham’schen Panoptikums, welches das Zeitalter der Disziplinargesellschaft, der Überwachung und der sozialen Kontrolle einläutet. Während die inquisitorische Untersuchung ein Verfahren war, mit dem man in der gerichtlichen Praxis in Erfahrung zu bringen hoffte, was geschehen war und ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis durch das Zeugnis von Menschen zu vergegenwärtigen suchte, die entweder über ein bestimmtes Wissen verfügten oder an einem Ereignis selbst teilgenommen hatten, geht es in der Prüfung nicht mehr um die Rekonstruktion eines Ereignisses, sondern um Überwachung und Kontrolle, um zu bestimmen, ob sich jemand so verhält wie erwünscht, ob er sich konform und regelgerecht verhält, und ob er Fortschritte im Hinblick auf eine Angleichung der Werte macht. Das examen orientiert sich nicht mehr an der Frage, wer etwas getan hat, sondern an einer aufgestellten Norm, an dem, was korrekt und nicht korrekt ist, was sich gehört und was nicht. Aus dieser Form des Macht-Wissens gehen nach Foucault die Humanwissenschaften, die Psychiatrie, die Psychologie und die Soziologie hervor. 81 Foucault war der Auffassung, dass sich die enquête aus der historischen Verwurzelung im Inquisitionsverfahren gelöst habe und sich so die naturwissenschaftlichen Disziplinen von der politisch-juristischen Sphäre trennen konnten. Dagegen seien die von der Disziplinarmacht gebrauchten Techniken der Prüfung der politisch-juristischen Macht ganz nahe geblieben, indem die Humanwissenschaften mit ihren spezifischen Techniken der Tests, der Dossiers, der Gespräche, der Befragungen und Vernehmungen, der Konsultationen und Anamnesen, der Gutachten und Fallgeschichten ein disziplinäres Wissen produzieren. 82 Die Disziplinarmacht sammelt Wissen und ist ein »Objektivierungsmechanismus« 83, indem sie durch das Examinieren Individualität dokumentierbar und beschreibbar macht. Mit dieser Neuformierung des Wissens kommt es auf der narrativen Ebene zu einem Wandel der biographischen (Selbst-)Darstellung, die bis ins 19. Jahrhundert ein Privileg der Macht war. 84 So setzen die »Disziplinarprozeduren […] die Schwelle der beschreibbaren Individualität herab und machen aus der Beschreibung ein Mittel der Kontrolle und eine Methode der Beherrschung. Es geht nicht mehr um 79 Vgl. Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 52f u. S. 76f. Ders., Überwachen und Strafen, S. 289. 80 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 238-250. Zum Panoptismus vgl. ebd., S. 251-292. 81 Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 86f. 82 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 290. 83 Ebd., S. 241. 84 Ebd., S. 246f: »Betrachtet werden, beobachtet werden, erzählt werden und Tag für Tag aufgezeichnet werden, waren Privilegien. Die Chronik eines Menschen, die Erzählung seines Lebens, die Geschichtsschreibung seiner Existenz gehörten zu den Ritualen seiner Macht.«

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ein Monument für ein künftiges Gedächtnis, sondern um ein Dokument für die fallweise Auswertung.« 85 Innerhalb dieser Genealogie der juristischen Praktiken, also Praktiken, welche die Beziehungen der Subjekte zu sich selbst und zur Wahrheit regulieren, Praktiken, die von den Wissenschaften aufgegriffen werden, um spezifische Methoden auszubilden, geht Foucault auf die inneren Entwicklungen der Geschichtsschreibung, der Geschichtsforschung und der Geschichtstheorie nur am Rande ein. Die vielfältigen Anregungen, die Foucault für die aktuelle Geschichtsschreibung gegeben hat, haben sich vielleicht auch deshalb nicht auf die Historiographiegeschichtsschreibung erstreckt. 86 Für Foucault war es wohl eindeutig, dass die enquête jene juristische Praktik ist, die als Vorbild für die Geschichtswissenschaften dient und die durch die Nähe von historischer und juristischer Forensik seit der Antike klar und deutlich zu erkennen ist. Stärker als bei Foucault vorgesehen, lässt sich erkennen, dass sich die Brüche in den juristischen Praktiken der Wahrheitsfindung auch in der historiographischen Theoriebildung aufzeigen lassen. Im Hinblick auf die Beziehungsgeschichte von Jurisprudenz und Historiographie im Umfeld der hier in den Vordergrund gestellten Historik Droysens entsteht damit die Frage, in welcher Beziehung der juristische Diskurs und die juristische Praxis der Wahrheitsfindung zu den Techniken der historiographischen Wahrheitsfindung stehen. Dabei muss auch das Primat der juristischen Formen der Wahrheitsfindung in Frage gestellt werden und das Augenmerk darauf gelenkt werden, ob nicht auch umgekehrt die Praxis der Geschichtsforschung – eine Praxis, die ihre eigene Theorie der Wahrheit entfalten will – Auswirkungen auf die juristischen Praktiken haben konnte. Im Gegensatz zu den klassischen Humanwissenschaften, die sich im Zuge der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft als Wissenssysteme ausbilden, scheint sich die traditionelle Geschichtsschreibung für Foucault nicht refor85 Ebd., S. 247. 86 Vgl. dazu Jürgen Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt/M. 2002. Michael Maset hat auf theoretischer Ebene versucht, den Wert der Diskursanalyse für die Historiographiegeschichtsschreibung herauszustellen. Dies läuft jedoch allenfalls auf eine diskursanalytisch erweiterte Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte im Sinne von vom Bruch, Raphael und Weber hinaus: Lutz Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. Die Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994. Wolfgang Weber, Sozialgeschichtliche Aspekte des historiographischen Wandels 1880-1945, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880-1945, Frankfurt/M. 1997. Rüdiger vom Bruch, Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte. Geschichtswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft, in: Küttler/Rüsen/Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt/M. 1993, S. 257-270. Vgl. Michael Maset, Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung (=Campus Historische Studien; Bd. 32), Frankfurt/M. 2002, S. 120ff und S. 151-160.

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mieren zu können, da sie als »Mutter aller Wissenschaften vom Menschen« 87 den untersuchenden nicht durch den kontrollierenden und examinierenden Blick der Humanwissenschaften zu ersetzen vermag. Doch verweist Foucaults Genealogie der juristischen Praktiken auf einen Bruch innerhalb der Produktion von Wissen, der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht und der von ihm anhand der Analyse des Bentham’schen Panoptikums exemplarisch beschrieben wird. Mit Blick auf die Entwicklung der Kriminalliteratur und die Geschichtstheorie fallen nun weitere juristische Praktiken ins Auge, die im Umfeld der Strafrechtsreformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts institutionalisiert werden und die sowohl für die Kriminalliteratur als auch für die Geschichtsschreibung an Bedeutung gewinnen. Dies sind die Einführung des »vollgültigen Indizienbeweises« und der »freien Beweiswürdigung« sowie die Einrichtung von Schwurgerichten. Inwieweit sich diese neuen juristischen Praktiken auf die Theorie und narrative Konzeption der Geschichtswissenschaften ausgewirkt haben, wird zu klären sein.

87 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 439.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter »Für die Darstellung der Untersuchung kann man nun entweder so verfahren, dass man zu suchen scheint, oder so, 1 dass man zu finden scheint …«

Die von Foucault anhand der unterschiedlichen juristischen Formen pointiert herausgearbeiteten Brüche in der Epistemologie der Wahrheit spiegeln sich auch in der Geschichtswissenschaft um 1800. Schon in der antiken Rhetorik hatte die Verknüpfung von Rechtspraxis und Historie bestanden, die sich auch in der Geschichtstheorie des 18. Jahrhunderts fortschrieb, wie im Rekurs auf die Allgemeine Geschichtswissenschaft (1852) von Johann Martin Chladenius gezeigt wird. Das 18. Jahrhundert erlebte jedoch eine Krise der juristischen Wahrheitsfindung, die eng mit der Abschaffung der Folter und der Frage zusammenhing, auf welcher Grundlage nun vor Gericht Recht gesprochen werden konnte. Im Interdiskurs von Historik und Kriminalistik um 1800 berief sich die juristische Literatur wiederholt auf die Praxis der Geschichtsforschung, um für die Einführung des Indizienbeweises im Strafrecht zu plädieren. Nachdem es zur Einführung des vollgültigen Indizienbeweises und der freien Beweiswürdigung im Zuge der Französischen Revolution gekommen war, konnte deshalb auch die historische Beweisführung eine neue, am Rechtsdiskurs orientierte Legitimität gewinnen. Auch die wohl bedeutendste geschichtstheoretische Schrift des 19. Jahrhunderts, die Historik (1857) von Johann Gustav Droysen, enthält die sich im Zuge der Strafrechtsreform in der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts herausbildende Vorstellung, dass die Praxis des historiographischen Forschens der Arbeit des Untersuchungsrichters folge. Dabei blieb Droysen jedoch nicht bei dem Entwurf einer kriminalistischen Methodik stehen, sondern er entwickelte eine Typologie der historiographischen Darstellungsformen, die in den Ausführungen zur »untersuchenden« Darstellung deutliche Anleihen bei der zeitgenössischen, im Entstehen begriffenen modernen Kriminalliteratur nahm. Diese wiederum rekurrierte selbst auf die »juristische Geschichtserzählung« sowie auf die Erzählung über vergangene Verbrechen in der Pitavaltradition – während die Verknüpfung von geschichtsmethodologischen, kriminalanthropologischen und poetologischen Fragen in prominenter Weise bei Friedrich Schiller zu erkennen war.

1

Droysen, Historik, S. 226. Die hier zitierte Ausgabe von Peter Leyh aus dem Jahr 1977 im Folgenden: [H/Seitenzahl]. Vgl. zur Publikationsgeschichte der Historik-Vorlesungen Droysens hier Kapitel II, 2.3.

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1 Forensische Beredsamkeit und der Historiker als Inquisitor Seit der antiken Rhetoriktradition, seit Aristoteles, Cicero und Quintilian und den Ausführungen zur forensischen Beredsamkeit besteht ein enges Verhältnis zwischen Rechtssprechungspraxis und Historie, zwischen historischer und juristischer Beweisführung. Während im Römischen Recht der Indizienbeweis lange Zeit ein vollgültiger Beweis zur Verurteilung in Strafprozessen war, richtete sich seit der Einführung des Inquisitionsprozesses im Mittelalter und dessen Modifikation in der Frühen Neuzeit die juristische Wahrheitsfindung auf das Geständnis des Angeklagten, das im Zweifelsfall unter der Folter erpresst werden musste. In den Auseinandersetzungen des historischen Pyrrhonismus, jener skeptischen Strömung, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die Epistemologie der Historie in eine produktive Krise gestürzt hatte, zeigt sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine gewisse Verunsicherung darüber, inwieweit sich die historische Kritik auf den Indizienschluss berufen konnte. Denn einerseits wurden die Ausführungen zur forensischen Beredsamkeit weiterhin rezipiert und die Plausibilität der Analogie von historischer und juristischer Wahrheitsfindung anerkannt, andererseits wurden jedoch Indizienschlüsse als Wahrscheinlichkeitstheoreme angesehen, die vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses keinen wissenschaftlichen Status beanspruchen konnten. Diese Problematik zeigt sich auch in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) von Johann Martin Chladenius. Die Geschichtstheorie des 18. Jahrhunderts konnte insofern nicht problemlos an die forensische Tradition anschließen, als der Status des Indizienbeweises vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rechtssprechungspraxis prekär und die Geschichtserkenntnis auf die Autopsie und damit im übertragenen Sinne auf das »Geständnis des Angeklagten« ausgerichtet blieb. So zeigt sich bei Chladenius der Historiker als ein Inquisitor, dem letztlich die Mittel fehlen, aus den Indizien zur Gewissheit historischer Erkenntnis vorzudringen, sobald ihm glaubwürdige Augenzeugen fehlen. 1.1 G ERICHTSREDE

UND

G ESCHICHTSSCHREIBUNG R HETORIK

IN DER ANTIKEN

Aristoteles hatte in der Poetik die Dichtung als die Darstellung allgemeiner und möglicher Geschehnisse bestimmt, die den Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit folgen sollte. Die Geschichtsschreibung hingegen sei am Einzelnen und Besonderen orientiert, an dem, was wirklich geschehen sei. 1 Die im Hinblick auf die Geschichtstheorie wichtigere Schrift ist jedoch seine Rhetorik, in der die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zum spezifischen Gegenstand der Gerichtsrede wird. Die Gerichtsrede unterscheidet sich dabei von der beratenden Rede, die sich der Zukunft zuwendet,

1

Aristoteles, Poetik. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, 1451b.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter

und der Lobrede, die auf die Gegenwart ausgerichtet ist.2 Da diese drei Zeitdimensionen mit ihren spezifischen Redeweisen nicht als isolierte Entitäten begriffen werden, darf sich eine Rede nicht auf einen dieser Aspekte beschränken, wenn sie ihre Aussagen über Vergangenes in den Raum einer Kommunikationsgemeinschaft stellt. Zudem haben diese Redeweisen jeweils eine normative Dimension für die Gegenwart: die Lobrede das Schöne und den Wert an sich, die beratende Rede das Nützliche und die Gerichtsrede das Gerechte. Obwohl jede Rede auf die Zukunft ausgerichtet ist, indem sie eine Beurteilung fördert, bleibt sie auch auf die Vergangenheit bezogen: Während die Gerichtsrede ein vergangenes Geschehen darlegen muss, beruft sich die Lobrede auf die Vergangenheit, während die beratende Rede die Geschichte als Entscheidungshilfe für die Zukunft nutzt. Aristoteles ist im Rahmen seiner Ausführungen zur Gerichtsrede primär daran interessiert, wie den Richtern ein überzeugendes Bild der Vergangenheit vermittelt werden kann. Die historische narratio muss den Zusammenhang chronologisch und folgerichtig herleiten, damit dieses verständlich wird. Sie soll weder ausführlich noch knapp sein, aber danach streben, den Sachverhalt, die Absichten und Ziele der Handelnden klar darzustellen. 3 Des Weiteren gilt es die Auffassungsgabe und die vorhandenen Vorinformationen zu berücksichtigen, um ein überzeugendes Geschichtsbild zu entwerfen. Geschichte wird dabei als ein durch Ursachen zu begründender Prozess angesehen, wobei der Mensch als Subjekt der Geschichte immer als Verursacher gilt, der zur Verantwortung gezogen werden kann. Im ersten Jahrhundert v. Chr. entwirft Cicero eine rhetorische Theorie der Geschichtsschreibung, die zwischen sachlicher und sprachlicher Gestaltung unterscheidet. Die sachliche Gestaltung orientiert sich an der forensischen Rede, wobei neben der chronologischen Anordnung auf eine kausale Darstellung der Ereignisse, auf Absichten, Ziele, Fähigkeiten und moralische Haltung der Handelnden zu achten ist. Bei der sprachlichen Ausgestaltung betont Cicero vor allem den Unterschied zwischen der um Ausgeglichenheit bemühten Geschichtsschreibung und der pointierten und scharf argumentierenden juristischen Rede. So fordert er vom Geschichtsschreiber, keine Partei für jemanden zu ergreifen und nichts Falsches zu sagen oder Teile der Wahrheit zu verschweigen, womit er die Wahrheitsforderung der außerrhetori2

3

Aristoteles, Rhetorik. Übersetzt und erläutert v. Christof Rapp. Zweiter Halbband (=Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung; Bd. 4,2), Berlin 2002, hier 1355b 25. Ich beziehe mich im Folgenden auf den einführenden, stark die kommunikationstheoretischen Aspekte der Rhetorik betonenden Aufsatz von: Eckhardt Kessler, Das rhetorische Modell der Historiographie, in: Koselleck/Lutz/Rüsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, S. 37-80. Vgl. auch: Hans-Jürgen Becker, Art. Forensische Beredsamkeit, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gerd Ueding, Tübingen 1992ff, hier Bd. 5, Sp. 391-398. Hanns Hohmann, Art. Gerichtsrede, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Sp. 770-815. Aristoteles, Rhetorik 1416 b, 16ff. Dagegen kann die Verteidigungsrede diejenigen Dinge auslassen, die der Ankläger schon vorgebracht hat und die dem Publikum allgemein bekannt sind. Die antike Rechtspraxis, auf die die aristotelische Rhetorik Bezug nimmt, beschreibt kurz und prägnant: Rapp, Einleitung, S. 337-345.

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schen Geschichtsreflexion in die Rhetorik integriert.4 Dennoch bleibt die Wahrheit der Geschichtsschreibung in der Rhetorik Ciceros an den Erwartungshorizont des Publikums gebunden, während keine Aussage darüber getroffen wird, wie sie überhaupt festgestellt werden soll. In seiner für die weitere Tradition der forensischen Praxis maßgeblichen Rhetorik unterscheidet Quintilian zwischen der Wahrheitsforderung der Geschichtsschreibung und anderen erzählenden Gattungen wie der Tragödie oder der Komödie. Sowohl die Gerichtsrede als auch die historische Erzählung, die beide vergangenes Geschehen überzeugend darstellen wollen, müssten klar, kurz und wahrscheinlich sein, so dass der Tatverlauf präzise vermittelt werden kann. 5 Den wesentlichen Unterschied zwischen der forensischen Gerichtsrede und der Geschichtserzählung sieht Quintilian in den unterschiedlichen Intentionen: Die forensischen Redner wollen aufgrund eines starken Gegenwartsinteresses die Richtigkeit der eigenen Darstellung darlegen, während die Geschichtsschreiber ein plausibles Bild der Vergangenheit zeichnen wollen. Auch wenn der Gegenstand der Rede formal gleich sei, so würden sich doch forensische und historische Rede in ihrem Sprachgebrauch unterscheiden, denn im Anschluss an Cicero ist eine gemäßigte Sprache das Kennzeichen des Geschichtsschreibers. Im Gegensatz zur Unterscheidung aus der aristotelischen Poetik, nach der die Historie von den tatsächlichen Dingen handelt, während die Dichtung den Anforderungen der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit folgen müsse, betont Quintilian, dass die Geschichtserzählung wahrscheinlich, aber nicht wahr sein müsse. Damit will er keinesfalls die Geschichtsfälschung legitimieren, sondern den prekären Status der Schilderung eines der Beobachtung entzogenen vergangenen Ereignisses markieren. Denn auch die Geschichtserzählung muss mit der allgemeinen Natur- und Welterfahrung, mit der allgemeinen Struktur menschlichen Handelns, mit der besonderen Struktur der Handlungssituationen und schließlich mit dem Erfordernis logischer Widerspruchsfreiheit in Einklang gebracht werden können. 6 Faktische Wahrheit mag zwar der Erzählung größere Wirksamkeit verleihen, kann jedoch nicht das alleinige Ziel der historischen Erzählung sein, da sie keine »kommunika4

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Der Unterschied zu Aristoteles ist, dass dieser keine eigene rhetorische Theorie der Geschichtsschreibung entworfen hatte. Aristoteles hatte aber schon darauf aufmerksam gemacht, dass das Wahre von Natur aus überzeugender sei als das Unwahre: Vgl. Aristoteles, Rhetorik I 1355a 21ff. Fabius Quintilianus, Marcus, Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch-Deutsch, hg. u. übersetzt v. Helmuth Rahn, 2 Bde. (=Texte zur Forschung; Bd. 2 u. 3), 2. Aufl., Darmstadt 1988, hier: IV 2, 31. Quintilian inst. IV 2, 52. Daraus ergibt sich, dass die Lüge bzw. die Verdrehung eines Sachverhaltes unter den Bedingungen einer Kommunikationsgemeinschaft niemals den Anspruch auf Wahrscheinlichkeit einlösen kann, denn sie ist nicht in Einklang mit plausibleren Gegengeschichten zu bringen. Damit wird von Quintilian im Gegensatz zu Aristoteles’ Bestimmung aus der Poetik nun auch die Wahrheit der historischen Erzählung ausdrücklich nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit betrachtet. Zieht man jedoch die aristotelische Theorie der Enthymemata hinzu, war auch hier schon die Wahrscheinlichkeit mit den Formen des Indizienbeweises integriert.

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tionstheoretische Kategorie« ist: Häufig sei das Wahre wenig glaubwürdig und deshalb schwer vermittelbar. 7 Quintilian erweitert so die Reflexionsmöglichkeiten über die Historie, indem er den Blick von der intentionalen auf die narrative Ebene der Wahrheitsproblematik richtet. 8 Wahrheit ist nicht die Übereinstimmung der Darstellung mit einer vergangenen Realität, sondern wird von einer Kommunikationsgemeinschaft mitbestimmt, die eine Darstellung für sich als wahr anerkennt. Dazu reichen allerdings nicht der gute Wille und die Glaubwürdigkeit des Geschichtsschreibers, sondern die Erzählung muss so strukturiert werden, dass sie den Vorstellungen des Publikums von Faktizität entspricht. Die gemeinsame Orientierung von Historiker und Richter an einem empirisch zu erfassenden Sachverhalt findet sich innerhalb der Tradition der forensischen Rede in den Ausführungen zur inventio. Historiker und Richter erfinden ihren Stoff nicht, sondern sie gewinnen ihn durch eine kritische Befragung dessen, was in der Gegenwart von der Vergangenheit als Zeugnis oder Spur erhalten geblieben ist. Die Analogie von forensischer Rede und historischer Darstellung beruht darauf, dass im juristischen Prozess ebenso wie in der Geschichtsschreibung ein in sich abgeschlossenes Geschehen der Vergangenheit betrachtet wird, welches es im Hinblick auf eine Kommunikationsgemeinschaft zu bewerten gilt. Die Wahrheitsfindung vor Gericht macht über die Ermittlung des Tathergangs deutlich, dass unterschiedliche und sich widersprechende Darstellungen und Bewertungen existieren. Darüber hinaus zeigt sie, dass Darstellungen der Vergangenheit umstritten bleiben, solange eine Kommunikationsgemeinschaft sich nicht auf eine sie selbst überzeugende Einschätzung der Vergangenheit einigen kann. Geschichte wird ausgehend von der forensischen Beredsamkeit als verursachtes und zu beurteilendes menschliches Handeln begriffen. Deshalb finden nur solche Themen Aufnahme in die Historie, bei denen ein Spannungsverhältnis zwischen geltenden normativen Vorstellungen und der Sicht auf die Geschichte existiert. Daraus leitet sich schon für die antike Geschichtsschreibung ab, dass es einen wertneutralen Zugriff auf die Geschichte nicht geben kann. Die Regeln zur historischen narratio tendieren dabei zu einer neutralen Berichterstattung, die im Hinblick auf eine Kommunikationsgemeinschaft und nicht im Hinblick auf Einzelinteressen ihre Überzeugungskraft entfalten muss. Wenn im Unterschied zu den fiktiven Gattungen seit Aristoteles in der Geschichtsschreibung nicht die Möglichkeit, sondern die Tatsächlichkeit und Faktizität eines Geschehens betont werden müssen, so impliziert die rhetorische Tradition seit Quintilian die Möglichkeit einer historischen Wahrscheinlichkeitstheorie, die die Wahrheit an Plausibilitätskriterien anbindet.

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Ebd., IV 2, 34. Kessler, Das rhetorische Modell der Historiographie, S. 50.

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1.2 R ECHTSPRAXIS

UND

G ESCHICHTSSCHREIBUNG

IM

18. J AHRHUNDERT

Am Übergang zum 18. Jahrhundert stand die geschichtstheoretische Debatte über die Erkenntnismöglichkeiten der Historie im Zeichen des historischen Pyrrhonismus. Der Pyrrhonismus stellte die Möglichkeit historischer Gewissheit radikal in Zweifel und führte zu einer grundlegenden epistemologischen Skepsis in der Theorie der Historie.9 Während in der älteren Forschung der Pyrrhonismus als eine Krise des historischen Bewusstseins und als der »große Erdrutsch« bezeichnet wurde, nach dem es »nichts Gewisses mehr gab als die Gegenwart« 10, erscheint er neuerdings als eine kritische Zuwendung zur Vergangenheit und als ein Schlüssel zur Weiterentwicklung der historisch-kritischen Methode. 11 Diese neuere Erklärung des historischen Pyrrhonismus, die vor allem die Langzeitwirkung dieses skeptischen Zugangs zur Geschichte berücksichtigt, gewinnt an Plausibilität sowohl durch den Bedeutungszuwachs historischer Begründungsstrategien im Bereich des Rechts als auch durch den gleichzeitigen Aufstieg antiquarischer Forschung. So wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Jurisprudenz zur Führungswissenschaft an den deutschen Universitäten, womit sich eine Historisierung des Rechts und eine gewisse Verrechtlichung der historischen Methode bemerkbar machte. 12 Die Paradedisziplin der Rechtsgelehrsamkeit war das jus publicum, welches den Ursprüngen deutschen Rechts und dem Gewohnheitsrecht nachging und die Geschichte als Begründungsinstanz des Rechts einsetzte. Auf dem Boden der Jurisprudenz entstand eine gewichtige historische Literatur mit Arbeiten zur Reichsgeschichte und Staatenkunde, mit Monographien zur territorialen Rechtsgeschichte, zur Literaturgeschichte und zu den historischen Hilfswissenschaften, insbesondere der diplomatischen Kunst. Eine »Verrechtlichung« der historischen Methode – die ihrerseits in der Tradition der forensischen Beredsamkeit stand – zeigt sich etwa in De fide historica commentarius (1679/1702) von Johann Eisenhart, für den die juristische Wahrheit der histo-

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Der Begriff Pyrrhonismus geht auf den Skeptiker des Altertums Pyrrho aus Elis zurück, einen Zeitgenossen von Aristoteles. Zur Lehre Pyhrros sowie zum historischen Pyrrhonismus vgl. einleitend: Malte Hossenfelder/Winfried Schröder, Pyrrhonismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, Sp. 1719-1724. 10 Paul Hazard, Die Krise des Europäischen Geistes, 5. Aufl., Hamburg 1939, S. 57. 11 Vgl. Markus Völkel, »Pyrrhonismus historicus« und »fides historica«. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis (=Europäische Hochschulschriften R. 3; Bd. 313), Frankfurt/M. 1987, S. 339. 12 Nokter Hammerstein, Jus und Historie, Göttingen 1972. Meta Scheele, Wissen und Glaube in der Geschichtswissenschaft. Studien zum historischen Pyrrhonismus in Frankreich und Deutschland (=Beiträge zur Philosophie; Bd. 18), Heidelberg 1930, S. 102-110. Als problematisch erweist sich, dass diese Studien trotz der jeweiligen Berücksichtigung des Interdiskurses von Jurisprudenz und Historie gerade dem Prozess der »Verrechtlichung« der historischen Methode wenig Raum widmen.

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rischen weitgehend entsprach, wobei das Kernstück der Kritik die genaue Analyse der Umstände (circumstantiae) war. 13 Lenglet du Fresnoy kürzte in seiner Méthode pour étudier l’histoire (1713) die Diskussion über die historische Wahrheitsfindung in gewisser Weise pragmatisch ab, indem er die Frage aufwarf, warum man sich nicht wie in juristischen Fragen mit zwei glaubwürdigen Zeugen begnüge. 14 Gleichzeitig hatte sich seit dem 17. Jahrhundert, angeregt durch die antiquarische Forschung, die Unterscheidung von ursprünglichen Autoritäten und abgeleiteten Quellen durchgesetzt. Die antiquarische Forschung unternahm es nun verstärkt, die literarischen Quellen mit nichtschriftlichen Überresten zu überprüfen und trieb damit die kritische Quellenforschung maßgeblich voran. 15 Damit muss dem Antiquarianismus zwar nicht, wie es Arnoldo Momigliano getan hat, die Rettung der Geschichte vor der Skepsis zugesprochen werden, weil dieser durch die empirische Faktensicherung dem historischen Zweifel die Wirkung genommen habe. 16 Jedoch scheint die pyrrhonistische Skepsis die antiquarisch-historischen Forschungsbemühungen verstärkt zu haben. Der skeptische Blick auf die Erkenntnismöglichkeiten der Historie, der mit dem Pyrrhonismus verbunden war, stand in einem engen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Wissenschaftsbegriff. Seit René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz bestand die terminologische Gegenüberstellung der scientia als des Inbegriffs des theoriefähigen und allgemein ableitbaren Wissens und der historia als Erkenntnis empirischer Begebenheiten. So unterschied etwa Leibniz die reinen Wissenschaften, die sich mit notwendigen Vernunftwahrheiten befassen, von jenen Wissenschaften wie der Historie, die sich mit zufälligen oder hypothetischen Wahrheiten beschäftigen. 17 So blieb die Historie auf die bloße Wahrscheinlichkeit ihrer Aussagen verwiesen: auf ein bezeugtes, jedoch gerade dadurch problematisches Wissen über Einzelnes

13 Johann Eisenhart, De fide historica commentarius, Helmstedt 1679, erw. Neuaufl. 1702, S. 48f. 14 Lenglet du Fresnoy, Méthode pour étudier l’histoire, Paris 1713. Zitiert nach Des Herrn Abts Langlet du Fresnoy Anweisung zur Erlernung der Historie. Nebst einem anietzo vollständigen Verzeichniß der vornehmsten Geschichtsschreiber, worinnen ihre Werke beurtheilet und die besten Ausgaben vermerkt werden, 4 Bde., Gotha 1754; hier Bd. 4, S. 25. 15 Wolfgang Weber, Zur Bedeutung des Antiquarianismus für die Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft, in: Küttler/Rüsen/Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt 1994, S. 120-135. 16 Arnoldo Momigliano, Alte Geschichte und die antiquarische Forschung, in: Ders., Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Bd. 2: Spätantike bis Spätaufklärung, hg. v. Glenn W. Moss, Stuttgart 2000, S. 136; insb. S. 27. 17 Joachim Scharloth, Evidenz und Wahrscheinlichkeit. Wahlverwandtschaften zwischen Romanpoetik und Historik im 18. Jahrhundert, in: Fulda/Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte, S. 247-275; hier S. 253ff.

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und abwesende Begebenheiten, die als experientia aliena dem menschlichen Irrtum und der Verfälschungsabsicht ausgeliefert waren. 18 Ganz in diesem Sinn war etwa Christian Thomasius der Auffassung, dass Wahrscheinlichkeit nur zu bloßer Meinung führen konnte, nicht aber zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Dennoch kommt es schon bei Thomasius zu einer Reintegration der Wahrscheinlichkeitsproblematik in die Erkenntnistheorie und zu einer Aufwertung wahrscheinlicher Aussagen, da probabilistische Überlegungen auch für die wissenschaftliche Erkenntnis notwendig sein können. 19 Die Frage nach den Erkenntnisbedingungen der Historie und ihrem Status als wissenschaftliche Erkenntnis drehte sich dabei um den vielschichtigen Begriff der fides historica, mit dem die Erkenntnis der Geschichte an Überzeugungs- und Argumentationsleistungen, an »Evidenz« und »Augenscheinlichkeit« gebunden wurde. Im Rahmen der Debatten über den Pyrrhonismus, aber auch noch im späten 18. Jahrhundert zeigt sich dabei eine begriffliche Abgrenzung von Wahrheit und Gewissheit einerseits und Wahrscheinlichkeit und Evidenz andererseits. Dennoch wollten die Theoretiker der Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts den Glauben an eine historische Gewissheit nicht vorschnell aufgeben. So implizierte der Begriff der fides historica sowohl die Wahrscheinlichkeitskalküle, die Historiker im Zuge ihre Aussagen über vergangenes Geschehen anstellen, als auch den Glauben, den ein Historiker seinen als aufrichtig erkannten Zeugen entgegenbringen muss. So verteidigte etwa Friedrich Wilhelm Bierling den »wissenschaftlichen« Charakter der Historie, indem er von einer »historischen Gewißheit« sprach, die er definierte als »die Vorwegnahme der Wahrheit, die aus Mutmaßungen von Umständen herrührt, die gewöhnlich nicht täuschen«. 20 Dabei teilte er das von Zeugen überlieferte Wissen über Geschichte in drei Wahrscheinlichkeitskategorien auf. Aus Quellen, die über jeden Verdacht erhaben seien, resultiere »wenn auch nicht die Gewissheit der Erkenntnis, so doch die des Glaubens«. Am Ende der Wahrscheinlichkeiten standen hingegen jene historischen Begebenheiten, über deren Umstände und Ursachen keine genauen Aussagen getroffen werden können. Dabei ist es äußerst interessant, der Rhetorik seiner Beispiele zu folgen: Während die Beispiele, denen ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad und damit ein großes Maß an historischer Gewissheit innewohnte, weitgehend banale historische Daten betrafen, zog Bierling jene Beispiele, bei denen nur unter größten Schwierigkeiten »Gewissheit« erzeugt werden konnte, aus dem reichhaltigen Fundus historischer Kapitalverbre18 Arno Seifert, Cognitio Historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976. 19 So: Luigi Cataldi Madonna, Wissenschafts- und Wahrscheinlichkeitsauffassung bei Thomasius, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung; mit einer Bibliographie der neueren Thomasius-Literatur, Hamburg 1989, S. 115-136. Vgl. auch: Seifert, Cognitio Historica, S. 150-162. 20 Friedrich Wilhelm Bierling, De fide historica, in: Ders., Dissertatio de Pyrrhonismo Historico, Oder von der Ungewisheit der Historie, Rinteln 1707, S. 115. Abgedruckt in: Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, 2 Bde. (=Fundamenta historica; Bd. 1), Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, Bd. 1, S. 154-169; hier S. 157f.

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chen, deren Umstände im Dunkeln blieben oder aus Gründen der Staatsräson geheim gehalten werden mussten. In De fide juridica (1699), einer kritischen Replik auf Johann Eisenharts Verknüpfung von rechtlichen und historischen Wahrheitsfragen, betonte Christian Thomasius, dass der Charakter eines gerichtlichen Zeugen mit dem eines historischen Zeugnisses kaum vergleichbar sei, da es hier unter anderem keinen Zeugeneid, keine rechtlich wirksamen Merkmale der Person und auch kein Verbot der Aussage in eigener Sache gebe. Die fides historica ergänze zwar die fides juridica, doch eine Vermischung sei unangebracht, zumal sich Historiker davor hüten sollten, blindlings juristische Entscheidungsregeln zu übernehmen. 21 Dass die historische Kritik einer anderen Intention als der juristischen Faktensicherung folge und in ihrer Urteilskraft weniger eingeschränkt sei, behauptete nochmals Jahre später Hieronymus Loretto in einem pädagogisch orientierten Kompendium zweifelhafter historischer Erkenntnisse. So meinte Loretto, dass die »rechtliche Vermuthung aber bey einem Geschichtsschreiber um so weniger Platz greifen [kann], als es hier nicht, wie in denen Gerichtshöfen, darum zu thun ist, einen wegen seiner Handlungen […] zu verdammen oder loszusprechen, sondern die Critik hat ganz andere Gesetze, nach welchen auch auf einen bloßen Verdacht, unter Verbindung der mit einschlagenden Umstände, ein Urtheil zu sprechen erlaubt ist.« 22 Diese Kritik der Übertragung juristischer Beweisverfahren auf das historische Verfahren, die bei Thomasius und noch bei Loretto geführt wurde, verhinderte nun keinesfalls, dass sich Theoretiker der historischen Praxis – wie etwa Johann Martin Chladenius – einer Adaption juristischer Wahrheitspraktiken enthalten hätten. Ob das Wechselverhältnis von Jus und Historie im 18. Jahrhundert als eine bloße Indienstnahme der Historie durch die Jurisprudenz bezeichnet werden muss oder aber die historische Kritik von Juristen zu einer erneuerten Erkenntnistheorie der Geschichte beitrug, kann nach wie vor als umstritten gelten. 23 Vor dem Hintergrund der Genealogie der juristi21 So Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, S. 117-120 u. 134ff. Vgl. dazu Christian Thomasius, Dissertatio de fide juridica, Halle 1699, Cap. II, § 57-67, S. 77-88. 22 Hieronymus Loretto, Die Wahrheit in den Geschichten oder vom historischen Glauben. Nach dem Bayle mit häufigen Anekdoten und Exempeln erläutert, Frankfurt u. Leipzig 1782. Zitiert nach Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, S. 291. 23 Zur ersten These siehe Hammerstein, Jus und Historie, S. 105. Die zweite These vertreten von Joseph Engel, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: Hundert Jahre Historische Zeitschrift, HZ 189 (1959), S. 223-378; hier S. 277. Vgl. auch Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, S. 102 u. 202: Völkel ist zunächst der Auffassung, dass die juristische Praxis vor Gericht wesentliche erkenntniskritische Anregungen für die »historische Methode« entwickeln konnte, kommt dann jedoch zu dem Schluss: »Als weniger bedeutend […] erweist sich das Verhältnis der juristischen Methodenlehre zur Aufgabe der Sicherung historischer Wahrheit. Die Zeit unmittelbarer, schöpferischer Berührung, wie etwa bei Eisenhart, ist nur kurz, zumal sich Juristen, Thomasius zeigt es deutlich, früh entschieden gegen

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schen Praktiken bei Foucault scheint jedoch etwas ganz anderes naheliegender zu sein. So kann man davon ausgehen, dass die zeitgenössische Rechtsprechungspraxis des 18. Jahrhunderts gerade deshalb nicht problemlos an eine Theorie der Geschichte angebunden werden konnte, da in der Strafrechtspraxis – jenem Ort, der seit der Antike die Praxis der historischen Wahrheitsfindung verdeutlichte – der Indizienbeweis nicht als vollgültiger Beweis vor Gericht anerkannt war, sondern die Indizien allein den Einsatz der Folter regelten. 1.3 A UF G ESTÄNDNISSUCHE : J OHANN M ARTIN C HLADENIUS Deutlich wird die Verknüpfung von Rechtssprechungspraxis und historischen Praktiken der Wahrheitsermittlung insbesondere in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) von Johann Martin Chladenius. 24 Mit seiner Theorie des Sehepunktes und seinen Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Erzählung leistete Chladenius einen wichtigen Beitrag zu einer relationalen Erkenntnistheorie einer hermeneutisch konzipierten Geschichtswissenschaft. Weil seine Allgemeine Geschichtswissenschaft traditionale Merkmale aufweist, drängt sie sich für einen Vergleich geradezu auf – um jene Neuerungen innerhalb der Geschichtstheorie zu erkennen, die Droysens Historik vornehmen wird. Diese traditionalen Merkmale sind in der Priorität sinnlicher Evidenz als Wahrheits- bzw. Gewissheitsfaktor zu sehen, in der im methodischen Zentrum stehenden Zeitgeschichte und vor allem darin, dass Chladenius noch nicht auf den modernen Reflexionsbegriff der »Geschichte überhaupt« bzw. den »Kollektivsingular Geschichte« zurückgreifen konnte. 25 Chladenius argumentiert auf der Basis der Gegenüberstellung von Notwendigkeits- und Wahrscheinlichkeitswissenschaften, von »allgemeiner« und »historischer« Vernunftlehre. Er versucht ein Regelsystem der Erkenntnis des durch empirische Forschung gewonnenen Besonderen aufzustellen und somit eine Vermischung von fides juridica und historica wenden. Der zeitüblichen Auffassung entspricht es wohl eher, dass der Jurist über die richtige psychologische Disposition verfügt, die historische Methode anzuwenden, nicht aber, daß diese adäquat durch juristische Vorgehensweisen ausgedrückt werden könnte.« 24 Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird, Neuauflage der Ausgabe Leipzig 1752. Mit einer Einleitung von Christof Friedrich und einem Vorwort von Reinhart Koselleck (=Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung; Bd. 3), Wien 1985. [Im Folgenden: AG] 25 Vgl. Reinhart Koselleck, Vorwort, in: AG VII-IX; hier S. VIII. Christoph Friedrich, Die »Allgemeine Geschichtswissenschaft« von Johann Martin Chladenius, in: AG XI-LII; hier S. XXV. Zur Ausbildung des Kollektivsingulars Geschichte vgl. Reinhart Koselleck, Artikel Geschichte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593-718; hier S. 647-658. Ders., Vergangene Zukunft, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1992, S. 320-326.

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die Geschichtswissenschaft als »ein Stück Vernunfftlehre« zu konzipieren. Im Kapitel »Von der Gewissheit; oder der historischen Erkenntniß« wendet er sich gegen eine rein deduktive bzw. demonstrative Auffassung von Gewissheit. So basiert eine historische Gewissheit auf Evidenz und Augenscheinlichkeit, auf dem, »was jeder vor sich selbst empfunden, d. i. gesehen, geschmeckt, gefühlt« hat. [AG 281] Dies bedeutet eine Rückführung der historischen Erkenntnis auf die Autopsie des Geschehens. Chladenius Allgemeine Geschichtswissenschaft ist keinesfalls auf die Auseinandersetzung mit der Erkenntnis vergangenen Geschehens beschränkt, was der Titel möglicherweise vermuten ließe. Sein Werk ist vielmehr eine Kommunikations- als eine Geschichtstheorie, die sich der Tradierung von Geschehen in Geschichten widmet. Sie will die »Veränderung in der Welt« aufzeigen, wenn Begebenheiten in der Anschauung erfasst und in Erzählungen und Geschichten transformiert werden. [AG 115] Seine Ausführungen sind eine Analyse jener ›magischen Kanäle‹ – um es modern zu formulieren –, durch die das von den Augenzeugen wahrgenommene Geschehen hindurch muss, bis es zu glaubwürdigen Erzählungen gerinnt. Der Optik entleiht Chladenius den Begriff des Sehepunkts, der die Relation der Position eines Zuschauers zu dem von ihm betrachteten »Cörper« beschreibt. 26 Der Sehepunkt impliziert diverse Anschauungen desselben Geschehens je nach »Stand, Stelle und Gemüthsverfassung« des Zuschauers. 27 Indem Chladenius zudem zeigt, dass die Wahrnehmung komplexer Ereignisse nicht nur durch den Sehepunkt, sondern oft genug von den zur Verfügung stehenden Materialien eingeschränkt ist, verweist er auf die unhintergehbare Standortgebundenheit jedes synthetischen Anschauungsurteils. 28 Die Analyse verschiedener »Hauptarten der Sehepuncte« – derjenigen von Interessierten, von Fremden, von Freunden und Feinden, aus höheren und niederen Sphären, von Gelehrten und Ungelehrten usw. – ist darauf ausgerichtet, dass in der Einsicht, dass es unterschiedliche Sehepunkte gibt, die Gewissheit nicht abhanden kommen darf, dass man allen unterschiedlichen Ausführungen zum Trotz dennoch von »einerley Sache« spricht. [AG 102] Chladenius geht des Weiteren auf die »Verwandlung der Geschichte im Erzehlen« ein. [AG 115] Er operiert mit einem narratologischen Geschichtsbzw. Geschichtenbegriff, wenn er definiert, »eine Reyhe von Begebenheiten wird eine Geschichte genennet.« [AG 7] Der Zuschauer erfasst im Anschauungsurteil bzw. in der »Vorstellung einer Geschichte« jedoch nur ein »Bild«, aus dem ein »verjüngtes Bild« in Form einer Erzählung erzeugt werden

26 Vgl. AG 100. Zur Theorie der »Anschauung von Cörpern« vgl. ebd. S. 27-58. 27 AG 98-103; insb. 103: »Und diese Arten [von Sehepunkten/ A. S.] verdienen in unserer Anleitung zur historischen Erkenntniß besonders bemercket zu werden: weilen die daraus flüssenden Erzehlungen in manchen Fällen so verschieden ausfallen können, daß, wenn man Leute von verschiedenen Sehepuncten ihre Erzehlungen gegen einander halten, sie einander gar nicht verstehen: Fremde aber sich einbilden, einer müsse darunter muthwillig die Unwahrheit sagen.« 28 Vgl. AG 114 u. 110f. Von »synthetischen Anschauungsurteilen« lässt sich deshalb sprechen, weil für Chladenius jeder Begriff bzw. jede Anschauung eine kompexitätsreduzierende Leistung ist.

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muss. 29 Die Transformation eines Bildes in eine Erzählung findet dabei unter einer Fülle verschiedener Kriterien statt – Auslassung, Verkürzung, Ausdehnung, Mutmaßungen, Erläuterungen, »Verstümmelung« und verschiedene »Verdunckelungen«, die bei der kritischen Rezeption einer Erzählung zur analytischen Reflexion genutzt werden können. Chladenius zeigt, dass der allgemeine Wunsch nach einer »unparteyische[n] Erzehlung« nicht aufrechtzuerhalten ist. Bei einer Erzählung sei es gar nicht zu vermeiden, dass »jeder die Geschichte nach seinem Sehepunkte ansehe; und sie also auch nach demselben erzehle«. [AG 150] Unter dem Begriff der unparteiischen Erzählungen dürfe man deshalb nicht mehr verstehen, als dass keine vorsätzlichen Verdrehungen vorgenommen würden – eine Gefahr, der man nur durch den Vergleich verschiedener Erzählungen begegnen könne. Standortgebundenheit und Interesse sind bei Chladenius kein Makel der historischen Erkenntnis, sondern ihre Grundbedingung. So weist er die Angriffe des Pyrrhonismus auf die Historie zurück und ersetzt dessen Kritik an der subjektivistischen Willkür der Geschichtserzählungen durch ein »regelgeleitetes Verfahren eines produktiven Erkenntnissubjekts«. 30 Doch warum und zu welchem Zweck schrieb man eigentlich Geschichte? Im Sinne Chladenius’, um »ausserordentliches, verwickeltes, oder gar widerrechtliches« zu erfassen. Geschichten werden erzählt, um zu der »gewöhnlichste[n] Conclusion« zu kommen, ob eine »Sache recht oder unrecht sey«, was den »allgemeinen Begriff der Gestalt einer Geschichte« ausmache. Deutlich ist hier die Tendenz zu erkennen, die Geschichtserzählung als forensische Gerichtserzählung aufzufassen, wenn Chladenius den juristischen Begriff der species facti anführt und erläutert, dass es darin um die Anführung der »Umstände« gehe, wodurch »die Gerechtigkeit, oder die Ungerechtigkeit eines Handelns offenbar gemacht« werde. [AG 145] Damit war eine klare Ausrichtung der Erzählung auf die Umstände eines Geschehens intendiert, wohingegen er die rhetorische Beredsamkeit des »angenehmen« Erzählens in einen Kernbereich der Rhetorik, in die Redekunst überstellen wollte. [AG 153f] Chladenius, der sich des Konstruktionscharakters von Geschichte bewusst war, warnte den Geschichtsschreiber deshalb davor, »daß seine Erzählung nicht etwa das Ansehen einer Comödie oder Tragödie bekomme: Weilen sie sonst den Verdacht einer Fabel, bey sehr vilen Lesern nimmermehr vermeyden wird.« [AG 278 u. 154] Eine Vorstellung wie diejenige Droysens, dass die Vergangenheit aufgrund von Überresten zu vergegenwärtigen ist, gibt es bei Chladenius in solch dezidierter Fassung noch nicht. In seiner Theorie der »Ausbreitung und Fortpflanzung einer Geschichte« geht es um jene »Canäle«, durch die Nachrichten und Erzählungen hindurch müssen, bis sie von den »Gegenwärtigen zu den Abwesenden« im Hier und Jetzt erfasst werden können. 31 Die Überliefe29 Zum Begriff des verjüngten Bildes siehe: Johann Christian Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften, Leipzig 1742. Photomechanischer Nachdruck mit einer Einleitung v. Lutz Geldsetzer (=Instrumenta Philosophica. Series Hermeneutica; Bd. 5), Düsseldorf 1969, S. 213. 30 Süssmann, Geschichtsschreibung oder Roman?, S. 60. 31 AG 155-202; zur Metaphorik der Kanäle vgl. AG 159f.

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rungskanäle werden weniger als komplexes System verstanden, sondern vielmehr als direkte, parallel verlaufende Rohrleitungen von der Vergangenheit in die Gegenwart, vom »Autor« bzw. von der »Urkunde« über diverse »Nachsager« zu denjenigen, die damit etwas anfangen wollen. Dabei unterscheidet er zwischen Bekanntem oder Öffentlichem und Unbekanntem oder Geheimem, Letzteres dringt gewissermaßen durch »weniger Canäle« zu uns. Die »erste Erzählung« ist dabei der »Grund aller übrigen Erkenntniß«, während der Nachsager dazu angehalten wird, die Überlieferungskanäle zu benennen: »er ist verbunden, solches anzuzeigen«. [AG 161 u. 167] Ganz im Sinne einer juristischen Anleihe für die historische Methodik will Chladenius den »wahren Begriff des Zeugens bekannter machen« und fordert, statt vom Augenzeugen vom »Autor«, »Urheber« oder allenfalls vom »Zuschauer« als dem »ersten Aussager« zu sprechen, da »jede Erzehlung einen Urheber, aber nicht einen Zeugen, folglich auch keinen Augenzeugen« brauche. Zeugen seien nur dann nötig, wenn einer Geschichte widersprochen werde und wenn »das Ansehen des Autors nicht vollkommen ist.« [AG 157f] Und falls ein Zeuge gerade dort Ansehen genieße, wo der Autor dieses nicht habe, so kann dieses fehlende Ansehen durch den Zeugen ausgeglichen werden. Im Paragraphen »Wahrer Grund der Theorie von Zeugen« heißt es bei Chladenius, dass man vom Zeugen erwartet, dass er eine Aussage bestätigt und nicht etwa eine ganz neue Perspektive hinzufügt: »Ein Zeuge sagt das aus, was schon ein anderer ausgesagt hat. Diese Erklärung möchte wohl einen oder dem andern befremdlich vorkommen, weil sie von der gemeinen Erklärung des Wortes abgehet. Man darff aber diese gemachte Veränderung nicht für einen Fehler ansehen: Denn unsere Definition gehet nicht, von der gemeinen Bedeutung des Wortes, sondern von der in den Logicken gewöhnlichen Erklärung ab; und zwar darum, weil selbige falsch ist. Man sagt nehmlich: Ein Zeuge sey, der etwas aussagt. Das ist gantz wider den gemeinen Begriff eines Zeugens. Wer eine Klage vor Gericht anbringt, oder etwas denunciert, der sagt ohne Zweifel etwas aus: Wer wird aber der Klage oder der Denunciation vor ein Zeugniß ansehen? Ein anders ist Aussagen, ein andres Zeugen. Wenn bey einer Aussage kein Zweifel und Mißtrauen vorwaltet; so hat es dabey sein Bewenden; und es braucht gar keines Zeugnisses. Darinnen kommt alle Welt überein. Wenn man aber der Aussage nicht glauben will, alsdenn müssen erst Zeugen und Zeugnisse zu Hülffe genommen werden, und diese sind alsdenn vorhanden, wenn sich mehrere Personen finden, die eben das sagen, was der erste schon gesagt hat. In Prozessen werden zwar auch offters Zeugen genennet, die nicht eben das sagen, welches zu bezeugen sie beruffen sind, sondern entweder die Sache nicht wissen oder gar anders aussagen. In der That aber hat diejenige Parthey, deren Zeugen entweder nichts, oder das Gegentheil aussagen, gar keine Zeugen vor sich.« [AG 306]

»Zeugen« werden also zur Bestätigung von »Aussagern« in einem an der Gerichtspraxis orientierten argumentativen Zusammenhang benötigt. Der Zeuge muss »Verstand genug besitzen« und »aufrichtig seyn« und hat dann »eine beweisende Krafft, die wir aber deswegen nicht für untrüglich ausgeben«. [AG 307f] Wenn Zeugen nichts zum verhandelten Gegenstand zu berichten haben, ist ihre Aussage hinfällig. Dabei ist das »Ansehen« ein quellenkritisches Prinzip, welches jedoch in einer »vorkritischen Naivität der unmittelbar 71

Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

anschauenden Empfindung« mit ihrer »vorläufigen Unterstellung der Wahrhaftigkeit der Aussagen« verbleibt. 32 Geschichtsschreibung ist bei Chladenius weniger Rekonstruktion, als vielmehr kritisch zu prüfende Überlieferung, wie man es etwas haarspalterisch formulieren könnte. Traditionell vollzieht sich hier die historische Erkenntnis einerseits durch die eigene Anschauung, andererseits über die historioskopische Übernahme und neue Erzählung historischer Informationen aus bereits geschriebener Geschichte. Überlieferung besteht in der möglichst unverfälschten Weitergabe von in sich identischen Erzählungen, weshalb das Erforschen einer Geschichte unter Zuhilfenahme von materiellen Quellen unterdeterminiert erscheint und in gewisser Weise einen Ausnahmefall der Geschichtsschreibung darstellt. So steht im Zentrum der Allgemeinen Geschichtswissenschaft eine Analytik der Überlieferungskanäle, die nicht von einer absolut vergangenen Vergangenheit ausgeht, sondern von einer Gegenwärtigkeit berichtwürdigen Geschehens. Und dennoch ist, wie noch zu zeigen sein wird, gerade das Erforschen einer Geschichte der Ernstfall für eine Theorie exakter historischer Erkenntnis, da man es hier prinzipiell mit Wahrscheinlichkeitsmomenten zu tun hat. Eine Geschichtstheorie hingegen wie diejenige Droysens, die die rekonstruktive Seite der historiographischen Praxis betont, muss viel stärker die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart betonen, um erst dann in einem zweiten Schritt die Vergangenheit entweder als eine in sich abgeschlossene Epoche oder als Vorgeschichte der Gegenwart begreifen zu können. Chladenius war sich des Unterschiedes von Zeitgeschichte 33 – in der die Möglichkeit der Zeugenbefragung oder einer Tatortbesichtung gegeben ist – und »alter« Geschichte bewusst, doch wollte er diese in seiner Methodik zusammengefasst wissen. 34 Mit Chladenius bildet sich die historisch-kritische Quellenkunde im Grunde genommen schon aus, auch wenn er selbst dabei vornehmlich an den Zeithistoriker dachte. 35 Der Zeithistoriker hat widersprüchlichen Aussagen nachzugehen und ist auf der Suche nach dem vertrauenswürdigsten Zuschauer eines Ereignisses oder Urhebers einer Nachricht. 32 Friedrich, Die »Allgemeine Geschichtswissenschaft«, S. XLV. 33 Der Begriff Zeitgeschichte lässt sich für das 17. Jahrhundert nachweisen und wird um 1800 geläufig. Vgl.: Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur ›Zeitgeschichte‹, in: Victor Conzemius/Martin Greschat/ Hermann Kocher (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, Göttingen 1988, S. 17–31. 34 AG 321: »Wir müssen hier nicht gleich an alte Geschichte dencken; bey welchen freylich der Zweifel in Menge vorkommen; und wo man nicht fragen kann, wen man will; sondern alte und neue Geschichte müssen hier promilcue supponiert werden.« 35 Vgl. Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 383. Muhlack bezieht sich hier auf das vorletzte Kapitel »Von alten und ausländischen Geschichten«: AG 354-381. Die ›kritische Methode‹ für den Zeithistoriker findet sich hingegen im Kapitel »Von der historischen Wahrscheinlichkeit«, S. 317-353.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter

Darüber hinaus muss er eine Untersuchung der »Erzählungsart« vornehmen, Begriffe müssen in ihrem Kontext untersucht werden und nicht zuletzt muss eine Standpunktanalyse mit dem Ziel vorgenommen werden, »die wider einander lauffenden Aussagen mit einander zu vereinigen«. [AG 326] Trifft man auf widerstreitende Aussagen, muss davon ausgegangen werden, dass einer der »Aussager« vorsätzlich die Unwahrheit sagt, wobei das gefälschte Dokument auf ein mangelndes Ansehen zurückgeführt wird. Der Historiker von »alten und ausländischen Geschichten« geht im Grunde genommen in der gleichen Weise vor, denn er muss dabei verschiedene schriftliche und nichtschriftliche, »stumme« Quellengattungen analysieren und ihre Authentizität prüfen, wobei er mit Fehlern beim Abschreiben von Büchern zu rechnen hat. Grundsätzlich gilt, dass man an das zu glauben habe, welches nicht durch andere Nachrichten in Frage gestellt wird. Zudem muss die sprachliche und sachliche Bedeutung alter Schriften durch »Critick und Philologie« bzw. »Hermeneutick« kommentiert werden. Auch wenn die Erforschung der alten Geschichte ein Ausnahmefall bleibt, so findet doch die Praxis der zeitgenössischen Antiquare im Spiegel kriminalistischer Ausdeutung ihre Aufnahme in Chladenius’ Praxis der Historie. Denn jegliche Nachrichten erzeugen einen »Trieb noch mehr davon zu wissen«, so dass man entweder nachfragen kann, um die »Zusammenhaltung der Umstände unter sich […] heraus zu bringen«, oder aber man unternimmt mehr aus Eigeninteresse als aus methodischen Gründen eine Tatortbesichtigung: »denn manche reisen auch wohl gar an Ort und Stelle, um sich die Gelegenheit der Orte besser vorzustellen, und alles genauer zu erkundigen.« [AG 182f] Neben diesen Nachforschungen im Rahmen der Zeitgeschichte können Geschichten jedoch auch »entdeckt« werden, wobei laut Chladenius die Ausgangsfrage ist, wie man »Geschichte aus Folgen« erkennen kann, die »eine natürliche, obgleich nicht nothwendige Verbindung haben.« Für eine solche »handgreifliche« Erkenntnis (bei der man von einer beobachteten Tatsache auf eine Ursache schließt) bringt Chladenius das Beispiel eines »toten Cörper[s] mit vielen Wunden, woraus eine Menge Blut geflossen«, weshalb man sofort glaube, »der Mensch sey ermordet worden«. Doch handele es sich bei solchen Wahrnehmungsschlüssen, bei denen von einem sichtbaren Sachverhalt auf einen vergangenen Sachverhalt geschlossen wird, nicht um »Entdeckungen« im eigentlichen Sinne, sondern um ein sicheres »Wissen« des »untrüglichen Verstandes«: »Man heisset es wissen: denn also weiß man, dass jemand ermordet worden, wenn man den todten Leichnam gesehen.« [AG 198f] Insofern ist es etwas anderes, vom Messer im Bauch auf den Tatbestand des Mordes zu schließen als auf den Täter, der dieses Messer geführt hat. Und was passiert erst, wenn etwa »Missethäter durch Anzeichen in Untersuchung gezogen werden, aber alles läugnen?« Hier wird das Spurenlesen wesentlich komplexer: Das »Entdecken« im engeren Sinne muss als ein aktives »Aufspüren« verstanden werden, eine Vorgehensweise, die man in solchen Fällen brauche, »wo man aus einer Folge die Geschichte heraus bringt, da ein anderer nicht so leicht darauf verfallen seyn.« Entdeckungen beruhen auf der Tätigkeit des Spurenlesens nicht-offensichtlicher bzw. nicht-handgreiflicher Anzeichen, von Hinweisen also, die in sich Zweifel bergen: »Solche Folgen 73

Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

und Anzeichen einer Geschichte, die gar leichte übersehen werden, und unbemerckt bleiben, heissen Spuren.« Das Spurenlesen ist für Chladenius eine Konstruktionsleistung, bei der »der Verstand des Erfinders das meiste« tut. [AG 199] Diese Indizienschlüsse des Historikers als Geschichtenforschers bergen keine »gewissen Erkenntnisse«. [AG 296 u. 329] Anstatt nun jedoch zu der Einsicht zu gelangen, dass historische Erkenntnis eine ziemlich unsichere Angelegenheit ist, setzt Chladenius auf die Überlieferungskanäle und die Erfolgsstory der Inquisitionsgerichte, um mögliche Zweifel auszuräumen. Für Chladenius gibt es zwei Weisen des Spurenlesens: Das Entdecken bzw. Aufspüren einer Geschichte und die Erforschung bzw. Erkundigung einer Geschichte – eine Trennung, die wohl kaum nötig gewesen wäre, jedoch in Johann Gustav Droysens Unterscheidung einer Mimesis des Findens und einer Mimesis des Suchens wiederauftauchen wird. 36 Die erste Variante des Spurenlesens, das Erforschen, Erkundigen bzw. das »ans Licht bringen der Wahrheit« [AG 202], beruht auf dem Indizienschluss aus Aussagen, die auf eine zugrunde liegende Geschichte bezogen sind. Ausgangspunkt ist hier der Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Erzählung. Dabei handelt es sich um »den rechten natürlichen Weg vergangene Geschichte zu erkennen.« Das eigentliche historiographische, vergangenheitsorientierte Verfahren basiert also auf der Überprüfung fragwürdiger Anzeichen. Der Ratschlag, den Chladenius bereithält, ist jedoch allenfalls für die Zeitgeschichte plausibel: Man habe nämlich »Personen aufzusuchen, welche uns Nachricht davon geben können.« [AG 201] Das zweite Verfahren beruht auf hypothetischer bzw. fragender »Muthmassung«. Hier liegen Indizien vor, die dem Inquirenten erlauben, zur Spezialinquisition vorzudringen: »[…] wenn in einem Hause ein Diebstahl begangen wird, und einer von den Haußgenossen wird kurz darauf, ohne daß man eine Ursache weiß, flüchtig; so wird jeder auf ihn den Verdacht des begangenen Diebstahls werffen. Höret man vollends, dass er auf der Flucht einen Vorrath an Gelde blicken lassen, so wird jeder noch mehr auf ihn verfallen. Unterdessen giebt doch beydes noch keinen Beweiß der That ab, sondern nur ein Befugniß, genau zu inquirieren. Hingegen sind öfters Minen und andere geringe Handlungen Spuren gewesen, durch welche man auf iemand Verdacht zu werffen ist angeleitet worden, der auch hernach schuldig befunden worden.« [AG 330]

Die konjekturale Logik erweist sich nun in der Praxis der Inquisition. Indem die Geschichtswissenschaft sich auf das Modell des Inquisitionsprozesses beruft, ist sie auch auf das Geständnis der »ersten Aussage« oder des »Urhebers einer Nachricht« ausgerichtet: »Also bey einer Inquisition, die sich von einem geringen Verdachte anfänget, oder angefangen hat, braucht es zwar meistens viele Mühe, ehe man den Inquisiten zum Geständniß bringet: wenn aber das Geständniß einmal herausgebracht ist, so ist es in Ansehung des facti hernach eben so gut, als wenn man gleich anfangs durch eine nicht so schwer gemachte Aussage, die Beschaffenheit der That erkannt hätte.« [AG 200] 36 Vgl. Kapitel II, 4.

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Zwischen den Zeilen kann hier herausgelesen werden, dass die Geschichtswissenschaft schon zur Zeit von Chladenius den Indizienbeweis und die freie Beweiswürdigung gebraucht, da dieser meint, dass das Geständnis nur noch einmal den Sachverhalt der schon zuvor durch Kombinationsschlüsse hervorgebrachten Sachlage bestätigt. Historie ist somit gleichzeitig Strafrechtswissenschaft und eine Wissenschaft über »Geschichtenerzähler«: »Unsere Rechtslehrer gehen schwer daran, einen Inquisiten zu verdammen, so lange er läugnet; ohngeachtet seine Aussage wegen des darunter habenden grossen Vortheils sehr verdächtig ist; worinnnen sie sich genau nach dem Grundsatz der Aussagen und Nachrichten achten.« [AG 329]

Gute zehn Jahre nach der Abschaffung der Folter in Preußen ist der Inquisitionsprozess zwar noch auf das Geständnis des Angeklagten angewiesen, doch wird die Möglichkeit, mit Indizienschlüssen auf wahre Aussagen zu kommen, im Bereich der Geschichtswissenschaften trotz der rechtlich-inquisitorischen Semantik bei Chladenius schon affirmiert: Denn eine auf »Mutmassung«, »Nachforschung« und »Ausspüren« erlangte »historische Erkenntniß ist hernach derjenigen gleich zu schätzen, die wir unmittelbar aus Aussagen erhalten haben.« [AG 200] Dabei habe der inquirierende Geschichtsforscher bisweilen das Glück, dass ihm das Gericht bei der Suche wahrer Aussagen hilft: es komme vor, dass jemand »durch gerichtliche Untersuchung zum Aussagen und Geständniß gezwungen« werde. [AG 200f] Dem Zweifel begegnet Chladenius also mit der Idee einer inquisitorischen enquête. Zudem würden mit den aufgestellten »Regeln für alte und neue Geschichten« eine »ungemeine Menge von Zweiffeln wegfallen«. Kritischen Einspruch erheben zu wollen, sei ein Ding der »Unmöglichkeit«. Doch gebe es die Möglichkeit der »Wegschaffung« einer Aussage. [AG 331] Darunter versteht Chladenius der zeitgenössischen Gerichtspraxis folgend, dass man zur »Bestärckung des Ansehens wider den Verdacht der Leichtsinnigkeit den Eyd« fordern könne, so dass dann mancher seine Aussage zurückzieht. Oder aber man begegnet dem (Falsch-)Aussager mit »gegenwärtigem Uebel« oder »Drohung […], daß viele sich die Wahrheit zu sagen bequemen.« 37 Schließlich bieten sich Zeugen an, doch könne auch »durch gehäuffte Aussage die einmahl vorhandene widersprechende Aussage doch nicht weggeschaffet« werden. Freilich könne die Menge der Aussagen jedoch einen »Lügner irre und schamroth machen, daß er mit der Wahrheit heraus rückt.« [AG 328f] 37 AG 328; oder aber S. 305: »[…] Unwahrheiten wird durch Uebel begegnet. Diese können entweder nur gedrohet, oder würcklich angethan werden. Der Schwur wird auch hier als das beste Mittel angesehen, das Ansehen des Aussagers zu ergänzen. Denn die Beschwerung des Gewissens durch einen falschen Eiyd, wird kein ehrlicher Mann iemanden zu Gefallen, oder auch um Vortheils willen, über sich nehmen. Man muß aber wohl mercken, dass wir nur von Ergänzung des Ansehens reden. […] Denn wenn ein Anfänger sonsten noch kein Ansehen hat, (als ein fremder) oder gar das Ansehen eines bösen Buben vor sich hat, (wie die meisten Inquisiten) so kan weder Schwur, noch Tortur eine solche Gewissheit, als wir hier verlangen, hervorbringen.«

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Chladenius richtete sich in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft wie auch in seiner Schrift De Probalitate, idolum saeculi gegen Auffassungen, die mit dem Wahrscheinlichkeitscharakter der Historiographie ein unsicheres Wissen verbanden. Historische Schlussfolgerungen und Ursachenforschung beruhen für ihn hingegen auf Wahrscheinlichkeitsannahmen, die aus der kritischen Beurteilung einzelner »Urheber« folgen. 38 Gleichzeitig wandte er sich gegen zeitgenössische Versuche, die historische Wahrscheinlichkeit statistisch über die Anzahl der Zeugen oder über die zeitliche Nähe eines Berichts berechnen zu wollen. 39 Der Wahrscheinlichkeitsbegriff war bei ihm gleichzeitig forschungspragmatisch und psychologisch konzipiert. Gewissheit, Zweifel und Wahrscheinlichkeit bilden je einen spezifischen Zustand der Seele und bezeichnen damit auch eine Einstellung des Historikers gegenüber der in Frage stehenden Sache. 40 Chladenius forderte dabei vom Historiker, er solle »die ganze Beschaffenheit unserer wahrscheinlichen Erkenntniß von einer Sache klar und deutlich andern vor Augen legen.« [AG 334] Und schließlich verwies er darauf, dass für verschiedene Rezipienten unterschiedliche Erzählungen unterschiedlich wahrscheinlich sein konnten. Jede historische Erkenntnis war dabei interessengeleitet, denn eine »Sache, die uns nichts angehet, die untersuchen wir auch nicht.« [AG 349] Mit Chladenius’ Entgegnungen auf den Pyrrhonismus entwickelte sich die Tendenz, Geschichte als eine Wissenschaft von Wahrscheinlichkeiten aufzufassen. Chladenius wies darauf hin, dass es unmöglich sei, jeden Zweifel auszuschließen, den er als etwas zwischen Wissen und Nichtwissen verstand: »Wahrscheinlichkeit war eine Art des Zweifels, aber eine in der Geschichte notwendige«. 41 Hartnäckig suchte Chladenius das Wahrscheinlichkeitsproblem zu entproblematisieren. Den Skeptiker forderte er hingegen auf, »Untersuchung anzustellen; und alle dazu dienlichen Mittel würcklich anzuwenden; als in welchen Umständen sich alle Richter, die genugsam authorisiert sind, befinden müssen.« [AG 321] Mit seiner Widerlegung des Pyrrhonismus verfolgte Chladenius die Strategie, die historische Erkenntnis letzten Endes auf der Gewissheit der Anschauung zu gründen, auf sinnliche Evidenz und Autopsie, die sich im Traditionsprozess unverändert durchhält: Eine Evidenz,

38 Vgl. AG 339-345. Auch: Friedrich, Die »Allgemeine Geschichtswissenschaft«, S. XLIV. 39 Johann Martin Chladenius, De Probalitate, idolum saeculi, Coburg 1747. Auch: Vernünfftige Gedanken von dem Wahrscheinlichen und desselben gefährlichen Missbrauche, Greifswald 1748. Er wendet sich hier gegen Peter Ahlwardt, Vernünfftige und gründliche Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes, Greiffswald u. Leipzig 1741. 40 Vgl. Friedrich, Die »Allgemeine Geschichtswissenschaft«, S. XLV; und: AG 283 u. 337. 41 Astrid Witschi-Bernz, Bibliography of Works in the Philosophy of History, in: History and Theory, Beiheft 12 (1972), S. 68. So auch Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit, S. 27: »Seit Chladenius waren die Historiker besser abgesichert, in der Wahrscheinlichkeit eine eigene, eben eine historische Form der Wahrheit erblicken zu dürfen. Standortgebundenheit ist seitdem kein Einwand mehr, sondern Voraussetzung historischer Erkenntnis.«

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die jedoch ihrerseits durch die Theorie des Sehepunktes immer schon relational eingeschränkt ist. Vor dem Hintergrund der juristischen Anerkennung des vollgültigen Indizienbeweises und der freien richterlichen Beweiswürdigung entwickelt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Auffassung, dass es sich bei der Historie um eine Wissenschaft von Wahrscheinlichkeiten handele, die Annahme, dass man durch historisch-philologische Quellenprüfung zu »historischer Gewissheit« gelangen könne. In Chladenius’ Bezugnahme auf die inquisitorische enquête schwangen jedenfalls noch traditionale Momente mit, und sein Vorschlag, die »Aussager« auch in geschichtlichen Dingen auf die Folterbank zu zwingen, war nicht nur verwegen, sondern letztlich undurchführbar. So war seine Konzeption der historischen Wahrscheinlichkeit nicht direkt anschlussfähig an die zeitgenössische, geständnisorientierte juristische Praxis, während seine Ausführungen zur historischen Wahrscheinlichkeit über die zeitgenössische juristische Beweistheorie hinausführten.

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2 Die Reform des Strafrechts und die Geschichtswissenschaft Durch die Einführung von Geschworenengerichten im Zuge der Französischen Revolution kam es zu einschneidenden Veränderungen im europäischen Straf- und Beweisrecht. Zu den wichtigsten Reformen gehörte die Einführung des »vollgültigen Indizienbeweises« und der »freien richterlichen Beweiswürdigung«, die als rechtshistorischer Horizont für die Erneuerung der historischen Methodik bei Johann Gustav Droysen begriffen werden müssen. So war die jahrzehntelange Diskussion über die Strafrechtsreformen keineswegs ein Spezialdiskurs von Juristen und Staatswissenschaftlern, da die Thematisierung von Fragen der Wahrscheinlichkeit, der Gewissheits- und Überzeugungsbildung aufgrund von Indizien auch das wissenschaftliche Selbstverständnis betraf, insbesondere der historisch verfahrenden Wissenschaften. Denn in der Diskussion schrieb sich die antike Rhetoriktradition fort mit ihrer Analogie von historischem und juristischem Beweisverfahren, ebenso wie der Versuch von Chladenius und anderen, gerade in der Wahrscheinlichkeitsproblematik die wissenschaftliche Herausforderung zu sehen. So kam es im deutschen Vormärz auf den Germanistentagungen von 1846 und 1847 zu einem Schulterschluss von Juristen, Historikern und Literaturwissenschaftlern, um die Einführung von Schwurgerichten zu fordern und für ein neues Beweisrecht einzustehen. Gleichzeitig bezog man das neue Beweisrecht auf die eigene wissenschaftliche Praxis der Philologie, der Literaturgeschichte und der Geschichtswissenschaften und meinte in Indizienbeweisen und freier Beweiswürdigung das eigene Verfahren wiederzuerkennen. In der Frankfurter Nationalversammlung wurden diese rechtspolitischen Forderungen, die bis auf die Einführung von Geschworenengerichten schon zuvor in einzelnen deutschen Staaten durchgesetzt worden waren, in die Verfassung aufgenommen. Im Frankfurter Professorenparlament wirkte auch Droysen im Rahmen seiner Mitgliedschaft im Verfassungsausschuss an der Reform des Strafrechts und der Gerichtsverfassung indirekt mit. 2.1 F REIE

RICHTERLICHE

B EWEISWÜRDIGUNG

UND

VOLLGÜLTIGER I NDIZIENBEWEIS

Zu den zentralen Anliegen der Strafrechtsreformen des 19. Jahrhunderts gehörten die Abschaffung des geheimen, schriftlichen und inquisitorischen Verfahrens und damit die Einführung von Öffentlichkeit und Mündlichkeit sowie des Akkusations- bzw. Anklageprinzips im Strafverfahren. Eng damit zusammen hing die Frage nach dem Beweisrecht, welches seit der Abschaffung der Folter nach einer Reform verlangte. Hier war es vor allem die Frage nach der Urteilsmöglichkeit auf der Grundlage von Indizien, denen nach der Gesetzgebung der Constitutio Criminalis Carolina (1532) und dem gemeinrechtlichen Strafrecht keine volle Beweiskraft zukam, sondern – mit der Unterscheidung von schwachen und starken Indizien (ad inquirendum und ad torquendum), allein den Einsatz und die Art der Folter regelten. Hinzu kam die Frage, ob man in Deutschland wie in England und Frankreich Schwurgerichte einführen sollte, um die Macht der Richter zu beschränken – eine Forderung mit revolutionärem Impetus, waren doch die Geschworenengerichte 1790 in Frankreich eingeführt worden und auch in den französischen Gebie78

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ten Deutschlands nach ihrer Einführung von der Bevölkerung weitestgehend begrüßt worden. Mit der Einführung der Geschworenengerichte in Deutschland hing wiederum die Frage zusammen, ob man den Geschworenen bei ihrer Urteilsbildung überhaupt eine gewissenhafte und begründete Berücksichtigung umfangreicher Beweislagen zutrauen konnte. Diskutiert wurde, inwieweit sie von der öffentlichen Meinung beeinflusst waren und ob man sich deshalb nicht auf die Urteilsfindung durch gut ausgebildete Berufsrichter verlassen müsse, die dann jedoch einer gesetzlich geregelten Beweistheorie zu folgen hätten. Die Einführung des vollständigen Indizienbeweises bildete dabei wohl eine der umstrittensten Fragen der Strafrechtsreform des 18. und 19. Jahrhunderts, auch wenn sie aus der gesamten Reform des Strafrechts nicht herauszulösen ist. 1 Durch die Abschaffung der Folter in Preußen 1740/54 – im Jahr 1767 folgte Baden, 1769 Mecklenburg, 1770 Sachsen, 1787/88 Österreich und 1807 Bayern – verlor die bestehende Indizienlehre ihre Funktion, da sie nicht mehr wie zuvor die Voraussetzung der Erfolterung eines Geständnisses sein konnte. Das zentrale Problem der bis in die 1840er Jahre geführten Diskussion stellte der Artikel 22 der Carolina dar. Dieser Artikel verbot eine Verurteilung aufgrund eines reinen Indizienbeweises und bestimmte zugleich, dass die gegen einen Angeschuldigten vorliegenden Indizien die Anwendung der Folter zur Erlangung eines Geständnisses zur Folge haben. Grundsätzlich war für die Verhängung einer poena ordinaria, einer gesetzlich vorgegebenen Strafe, ein Vollbeweis (plena probatio) notwendig. Dieser bestand in der Carolina von 1532 im Zeugnis zweier glaubwürdiger Wissens- bzw. Augenzeugen, wobei die Zweizahl alttestamentarischen Ursprungs war. 2 Obwohl selten der Fall eintrat, dass für ein Verbrechen zwei Augenzeugen zu finden waren, konnte bei ansonsten noch so triftigen Verdachtsgründen nicht auf eine ordentliche Strafe entschieden werden. Starke Verdachtsmomente wie beispielsweise ein glaubwürdiger Augenzeuge oder von zwei Zeugen beglaubigte Indizien wurden als semiplena probatio gewertet, die ein zusätzliches Geständnis erforderten. Den Indizien kam keine vollständige Beweiskraft zu, zu einer Verurteilung bedurfte es entweder eines Geständnisses oder zweier vollgültiger klassischer, das heißt mit der notwendigen Dignität ausgestatteter Wissenszeugen, was im Artikel 67 der Carolina festgelegt war. Die Indizien, die eine Folteranwendung erlaubten, waren dabei in Kategorien eingeteilt und genau vorgegeben. Bei einer fehlenden eindeutigen Bestimmung war dem Richter erlaubt, Analogien zu anderen Bestimmungen zu ziehen. Die hohen Anforderungen in den gesetzlichen Beweisregeln der Carolina und im gemeinrechtlichen Strafverfahren an eine Verurteilung begründeten sich damit, dass die vorgesehenen Strafen peinliche Leibes- und Lebensstrafen waren. Fehlurteile waren »irreparabel«, sobald der vermeintliche Mörder enthauptet,

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René Pöltl, Die Lehre vom Indizienbeweis im 19. Jahrhundert (=Europäische Hochschulschriften, Reihe 2; Bd. 2735), Frankfurt/M. 1999; hier S. 475. Vgl. 4. Mos. 35; 30; 5. Mos 17,6; 19,15.

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die Hexe verbrannt, dem des Meineides Überführten die Zunge abgeschnitten oder dem Dieb die Hand abgehackt war. 3 Die Tragweite der mit der Abschaffung der Folter einhergehenden Änderung wurde im 18. Jahrhundert im Wesentlichen noch nicht erkannt. Zwar ordneten Friedrich II. in Preußen und Kaiser Joseph II. in Österreich an, dass bei hinreichender Gewissheit auf der Grundlage von ausreichenden Indizien auch ohne ein Geständnis verurteilt werden könne, doch blieb eine strafrechtliche Anpassung an die neu bestehende Situation aus. 4 Die Folter wurde zunächst einmal durch Ungehorsams- und Lügenstrafen ersetzt, um die bestehende Unsicherheit im Umgang mit der neuen Rechtslage auszugleichen – zumal sich auch so manches Geständnis erzeugen ließ. Der wichtigste Ersatz der Folter war jedoch ein System extraordinärer Strafen, das auf die Weiterentwicklung der Carolina durch Benedikt Carpzow (1595-1666) zurückzuführen war, der für mittelschwere Delikte die aus dem italienisch-kanonischen Recht stammende außerordentliche Strafe übernommen hatte, und nach der auch ohne Folter und Geständnis eine Strafe vollzogen werden konnte. Obwohl diese extraordinären Strafen mit der gesetzlichen Beweistheorie eigentlich nicht vereinbar waren, nahmen sie mit dem Erstarken des frühmodernen Staates zu, da die Strafbefreiung trotz subjektiver Schuldüberzeugung des Richters und schwerwiegendster Indizien immer unplausibler wurde. 5 Während nach der Carolina aufgrund von Indizien nur weitere Untersuchungsschritte eingeleitet werden durften, konnte nun bei verringerter Strafe ein Strafurteil bei halbem oder mehr als halbem Beweis erfolgen. Dass es dabei zu Fehlurteilen kommen konnte, war allen bewusst, und so meinte Gallus Aloys Kleinschrod, der unschuldig Betroffene müsse »es als einen Zufall ansehen, wenn er der öffentlichen Sicherheit dieses Opfer« zu bringen habe. 6 Die rechtswissenschaftliche Diskussion um die Reform des Indizienbeweisrechts begann 1774 mit Johann Christian Quistorps Schrift Rechtliches 3

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Vgl. Günter Jerouschek, Wie frei ist die freie Beweiswürdigung? Überlegungen zur Genese, Funktion und Perspektiven eines strafprozessualen Rechtsinstituts, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 189 (1992), S. 493-515; hier S. 499: Betrachtet man diese Beschränkung bei der Urteilsbildung, handelte es sich nach Jerouschek beim gemeinrechtlichen Strafprozess – abgesehen von der Folter – um ein »weit beschuldigtenfreundlicheres Verfahren, als dies mit der Einführung der freien Beweiswürdigung der Fall war.« Dass die gesetzliche Regelung der Abschaffung der Folter der ausgeübten Praxis folgte, zeigt das Beispiel Weimar, wo 1819 die Folter gesetzlich abgeschafft wurde, nachdem jedoch schon 1783 die letzte Folterung stattgefunden hatte. Wie eng die Einführung des Indizienbeweises mit der Abschaffung der Folter einherging, zeigen hingegen die Beispiele Hannover und Gotha, wo 1823 respektive 1828 die gesetzliche Abschaffung der Folter mit der gesetzlichen Zulassung des Indizienbeweises erfolgte. Jerouschek, Wie frei ist die freie Beweiswürdigung?, S. 495ff. Ein häufig genanntes Schulbeispiel führte den Fall an, dass ein Verdächtiger bei der Flucht vom Tatort mit gezücktem und blutigem Messer beobachtet wurde. Da es aber keine Tatzeugen gab, konnte die ordentliche Strafe nicht verhängt werden. Gallus Aloys Kleinschrod, Abhandlungen aus dem peinlichen Rechte und peinlichen Processe, Erster Theil, Erlangen 1798, S. 54f.

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Erachten, Wie man in Ermangelung eines vollständigen Beweises, wider einen Angeschuldigten, bey vorhandenen genugsamen Verdacht, zu verfahren sey, besonders an denjenigen Oertern, wo die Tortur abgeschafft worden, der darin und auch in späteren Schriften die ausgeübte Praxis extraordinärer Strafen zu legitimieren versuchte, wenn er der Auffassung war, dass »nach richterlichem Ermessen nach der Grösse der Anzeigen und der vorhandenen Verschuldung sofort und ohne Gebrauch der Folter auf Festungs- oder Zuchthausstrafe auf mehrere Jahre erkannt werden« dürfe. 7 Der hier genannte Kompromiss bestand darin, dass der Indizienbeweis zwar Rechtsfolgen verursachen sollte, dass jedoch die mit dem Indizienbeweis einhergehenden Unsicherheiten auf der Rechtsfolgeseite berücksichtigt werden sollten. Dem Indizienbeweis wurde deshalb der Status eines »halben Beweises« zugeordnet, dem der Reinigungseid und die absolutio ab instantia, die Ergänzung eines Beweises durch die Anwendung eines Eides, an die Seite gestellt wurden. Mit der Einführung von Geschworenengericht, Anklageprozess, Mündlichkeit, Öffentlichkeit und der intime conviction der Geschworenen in Frankreich und ihrem Export nach Deutschland in die französischen Rheinprovinzen erhielt die Debatte über eine Neuregelung des Strafverfahrens in Deutschland entscheidende Anstöße. Bis diese Prinzipien in der Mitte des 19. Jahrhunderts schrittweise übernommen wurden, kam es einstweilen zu einer verstärkten Diskussion, die gleichzeitig von zahlreichen neuen Strafgesetzgebungen in den Ländern des Deutschen Bundes begleitet wurde. Unzählige Modifikationen der Bestimmungen wurden erlassen, wie im Strafverfahren mit Indizien umzugehen sei. Grundsätzlich gab es zwei Modelle: Erstens die sogenannte »positive gesetzliche Beweistheorie«, bei der der Gesetzgeber Normen vorgab, an die der Richter bei seiner Überzeugungsbildung strikt gebunden war. Dabei wurden dem Richter strikte Merkmale vorgegeben, die die Vollständigkeit eines Beweises ausmachten. Das zweite Modell war die »negative gesetzliche Beweistheorie«. Diese gab dem Richter Grenzen seiner Überzeugungsbildung auf, indem sie ihm vorschrieb, welche Kriterien mindestens vorhanden sein müssen, um vom Vorliegen einer Tatsache überzeugt zu sein. 8 Diese Idee einer negativen gesetzlichen Beweiswürdigung ging auf Johann Anselm Feuerbachs Betrachtungen über das Geschworenen-Gericht von 1813 zurück. Feuerbach unternahm als Erster den Versuch einer Ausgrenzung bestimmter Konstellationen, die in keinem Fall eine rechtliche Gewissheit herstellen konnten. Feuerbachs Theorie wies dabei nicht den Weg, wie die Überzeugung zu finden war, sondern wie sie nicht hergestellt werden dürfe. Sie sollte den Richter nicht in einen »blinden Automaten« verwandeln und gleichzeitig verhindern, »daß er nicht auf Phantasieflügeln über das

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Johann Christian Quistorp, Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts, Zweyter Theil, Sechste mit sechs Bogen vermehrte und von Fehlern gereinigte Auflage, Rostock u. Leipzig 1796, S. 25. Ders.: Rechtliches Erachten, Wie man in Ermangelung eines vollständigen Beweises, wider einen Angeschuldigten, bey vorhandenen genugsamen Verdacht, zu verfahren sey, besonders an denjenigen Oertern, wo die Tortur abgeschafft worden, Rostock 1774. Vgl. Pöltl, Lehre vom Indizienbeweis, S. 270-276.

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Reich der Wahrheit hinausflattere«. 9 Insofern war eine negative Beweistheorie dazu gedacht, dem Richter orientierende Regeln an die Hand zu geben, wobei sie gleichzeitig versuchte, das Ermessen des Richters zu integrieren. Dass es zu einer Aufgabe nicht nur der positiven, sondern gerade auch der negativen gesetzlichen Beweistheorie kam, hing wesentlich mit der Forderung nach Schwurgerichten zusammen. Den Geschworenen wurde nämlich nicht zugetraut, dass sie die gesetzlichen Beweisregeln einhalten können. Zudem waren die Versuche, positive und negative Beweistheorien zu formulieren, eine Konsequenz aus der Tatsache, dass man in Deutschland zunächst weder Öffentlichkeit noch Mündlichkeit, geschweige denn Geschworenengerichte einführen und damit an der Position der Berufsrichter rütteln wollte, jedoch zur Beruhigung der Öffentlichkeit und vielleicht auch des Juristengewissens die richterliche Willkür einzuschränken gedachte. 10 Schließlich wurde erkannt, dass die gesetzlichen Beweisregeln die vielfältigen denkbaren Fallvarianten nicht erfassen konnten und so eine zuverlässige Wahrheitsforschung unmöglich machten. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mehrten sich deshalb die Stimmen, die die Befreiung des Richters von gesetzlichen Beweisregeln verlangten und in Mündlichkeit und Öffentlichkeit, in den Entscheidungsgründen und den Rechtsmitteln ausreichende Garantien für die Objektivität der freien richterlichen Beweiswürdigung sahen. 11 Das Verbot einer Verurteilung allein auf der Basis von Indizien wurde von den Gegnern eines vollgültigen Indizienbeweises als Beleg dafür gewertet, dass Indizien für eine Verurteilung generell nicht ausreichen konnten. Die Einordnung der Indizien erfolgte bei den Traditionalisten – die am Artikel 22 der Carolina festhalten wollten, weil ihnen eine Verurteilung auf der Basis von Indizien zu waghalsig erschien – in den Bereich »historischer Wahrscheinlichkeit«. 12 Im Zuge der Diskussion setzten sich jedoch die Befürworter einer Anerkennung des vollständigen Indizienbeweises durch, nicht zuletzt weil sie diesen Beweisen »historische Gewissheit« zusprachen. Die Beweisregel des Artikels 67 der Carolina, nach der mindestens zwei glaubwürdige Zeugen für einen vollgültigen Beweis benötigt wurden, wurde noch von Hanns Ernst von Globig nicht in Frage gestellt, obwohl er das Beweisrecht einer gründlichen Kritik unterzog. Globig, für den der Geschichtsschreiber ein »Wahrheitsforscher der historischen Wahrscheinlichkeit«13 war, versuchte das Beweisrecht durch eine »Theorie der Wahrscheinlichkeit« zu 9 10 11

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Johann Anselm Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenen-Gericht, Landshut 1813, S. 132. Vgl. Jerouschek, Wie frei ist die freie Beweiswürdigung?, S. 502. Er zeigt, dass die gesetzlichen Beweistheorien als Domäne der Berufsrichter galten. Vgl. Wilfried Küper, Historische Bemerkungen zur »freien Beweiswürdigung« im Strafprozeß, in: Klaus Wasserburg/Wilhelm Haddenhorst (Hg.), Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren. Festgabe für Karl Peters aus Anlaß seines 80. Geburtstags, Heidelberg 1984, S. 23-46; hier S. 40f. Solche kritischen Stimmen waren noch bis in die Mitte der 1840er Jahre zu hören: Pöltl, Lehre vom Indizienbeweis, S. 159 u. S. 173-175. Hans Ernst von Globig, Versuch einer Theorie der Wahrscheinlichkeit zur Gründung des historischen und gerichtlichen Beweises, Theil 1: Entwicklung der Wahrscheinlichkeitslehre, Regensburg 1806, S. 2.

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ergänzen, um die Mängel des »historischen Beweises« auszuräumen und um mit einer »Gradation der Gewissheit« subtilere und verfeinerte Beweisnormen zu finden. Seine Wahrscheinlichkeitstheorie der Beweiskraft, die die verschiedenen Beweismittel nach Harmonie und Disharmonie bewertete, glich einem mechanischen Berechnungsverfahren, nach dem man die Wertigkeit der Beweise beurteilen können sollte. Globigs Theorie ist noch als eine späte Auseinandersetzung mit dem historischen Pyrrhonismus zu verstehen, wenn er sich mit Überlegungen von Thomas Craig aus dem Jahre 1755 auseinandersetzt, der von einer Abnahme des historischen Glaubens mit der Vergrößerung des zeitlichen Abstandes zu einem vergangenen Ereignis ausging und dies mit einer algebraischen Formel berechnen wollte. 14 Dem hielt Globig entgegen, dass eine Theorie der Wahrscheinlichkeit historischer Aussagen nichts mit dem zeitlichen Abstand zu tun habe, doch ging auch er davon aus, dass der »auf Zeugnissen beruhende historische Glaube nicht länger in seinem vollen Werth verbleibe, als die Zeugen noch am Leben sind, und darüber befragt werden können«. 15 Auch für ihn war die unmittelbare Evidenz das wichtigste Wahrheitskriterium, doch könne man im Notfall auf Zeugnisse vom Hörensagen oder auf Urkunden zurückgreifen. Wie eine späte Replik auf Chladenius wirkt es dann, wenn er behauptet, dass der »Geschichtsschreiber […] die Wahrscheinlichkeit so nehmen muß, wie er sie findet« und deshalb »selten zu einer moralischen Gewissheit« gelangt. Dahingegen ständen »dem Regenten und dem Richter […] zu diesem Endzweck verschiedene Mittel zu Gebot, welche sie nach Belieben anwenden können, die der Privatmann theils nicht gebrauchen kann, theils wenn er könnte, nicht gebrauchen darf.« 16 Anders als bei Chladenius, der letztlich als Historiker argumentierte, bewirkte für den Rechtswissenschaftler Globig der historische Beweis als »Combination vieler unvollkommener oder geschwächter Beweismittel« allein eine »individuelle Überzeugung«, die »mehr die Sache der Empfindung als der deutlichen Vorstellung ist, und daher dem Irrthum und Betrug ausgesetzt bleibet.« 17 Globig war noch weit davon entfernt, die richterliche Entscheidung über die bloße logische Schlussfolgerung hinaus als einen Akt der Wertung zu sehen, in dem nicht nur der rechnende Intellekt, sondern alle richterlichen Persönlichkeitskräfte zusammenwirken. Eine solche Theorie verhinderte den Gedanken der freien Beweiswürdigung, der in der gewissenhaften Überzeugung des Richters die Beweiswürdigung als einen Persönlichkeitsakt anerkannte. 18

14 Thomas Craig hatte berechnet, dass die Geschichte Christi im Jahr 3150 keine Bedeutung mehr haben werde. Bekannt wurde die Theorie durch: Johann Daniel Titius, Philosophische Gedanken von dem wahren Begriffe der Ewigkeit, Leipzig 1755. 15 Globig, Versuch einer Theorie der Wahrscheinlichkeit, Theil 1, S. 268. 16 Globig, Versuch einer Theorie der Wahrscheinlichkeit, Theil 2: Kritische Berichtigung der gerichtlichen Beweise, S. 15. 17 Ebd., S. 293. 18 Wilfried Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen (=Münsterische Beiträge zur Rechts- und Staatswissenschaft; Bd. 11), Berlin 1967, S. 139.

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Juristen und Strafrechtstheoretiker des frühen 19. Jahrhunderts waren sich insgesamt darüber einig, dass es sich bei den Beweisen im Strafverfahren um »historische Beweise« handelte. Die Befürworter des Indizienbeweises griffen jedoch in die Trickkiste der Begrifflichkeiten und unterstellten den Indizienschlüssen »historische Gewissheit«: eine eingeschränkte Gewissheit also, weil sie »historisch« war, jedoch eine »Gewissheit« und eben keine »Wahrscheinlichkeit« mehr. So war etwa für Christoph Carl Stübel »mit dem Begriff der Gewissheit […] der Begriff der Wahrscheinlichkeit auf das genaueste« verbunden: 19 »Die dritte und letzte Art der Gewissheit ist die historische, welche auf historischen Gründen oder der Ueberzeugung eines Anderen beruhet. Der Ueberzeugung, welche sich blos auf historische Gründe beziehet, kann absolute Gewissheit nicht beygeleget werden. Denn diese schließen das Bewußtseyn der Möglichkeit des Gegentheils niemals aus. Der Bericht, den uns ein Anderer von seinen Ueberzeugungen bestattet, heißt in diesem Fall Zeugniß. Und die Gültigkeit eines solchen Zeugnisses hängt von so vielen zufälligen Umständen, in Ansehung der Tüchtigkeit und Aufrichtigkeit des Zeugens ab, dass das Gegentheil immer als möglich denkbar bleibt. Der Geschichtsforscher muß sich daher bloß mit der Gewissheit im weiten Sinne begnügen.«20

Doch Stübel zog – hier stellvertretend für andere Rechtstheoretiker seiner Zeit – eine positive Konsequenz aus dem Wahrscheinlichkeitsdilemma, die derjenigen von Chladenius glich. Zunächst war es für ihn klar, dass auch ein Richter nach der Beurteilung des Beweismaterials nicht zu einer Gewissheit im engeren Sinne kommen konnte, sondern vielmehr genötigt sei, »nach bloßer Wahrscheinlichkeit oder höchstens nach der Gewißheit im weiten Sinne rechtliche Angelegenheiten zu entscheiden«. Rechtswahrheiten seien jedoch weder übermenschlich noch moralisch oder religiös, vielmehr habe der Richter »bloß historische und andere aus der Erfahrung abgeleitete Gegenstände zu beurtheilen«. 21 Damit bezog Stübel eine Position, die eine Wende in der Bewertung historischer Indizienbeweise ermöglichte. Die Befürworter eines vollständigen Indizienbeweises setzten sich schließlich mit der Meinung durch, dass der Paragraph der Carolina, der den Umgang mit Indizien regelte, mit der Abschaffung der Folter seine Geltung verloren habe. Bestätigung suchten die Befürworter des Indizienbeweises in der Geschichte des Strafverfahrensrechts: Mit dem Rückgriff auf das römische Recht, welches durch die Carolina verdrängt worden war, wurde die Rechtmäßigkeit des Indizienbeweises begründet. Denn das römische Recht kannte den Grundsatz der freien Beweiswürdigung auch im Indizienbeweisrecht. Hier war in der Zeit der Republik eine Lehre vom Indizienbeweis entwickelt worden, nach der die Indizien nach Bedeutung und Zusammenhang unter19 Christoph Carl Stübel, Ueber den Tatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben und die zu einem verdammenden Endurteile erforderliche Gewissheit des erstern, besonders in Rücksicht der Tödtung, nach gemeinen in Deutschland geltenden und kursächsischen Rechten, Wittenberg 1805, S. 235. 20 Ebd., S. 243f. 21 Ebd., S. 244.

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schieden wurden. Im römischen Recht reichten einzelne Indizien in der Regel nicht aus für eine Verurteilung, doch je größer die Anzahl der Indizien war, desto eher konnte eine Verurteilung erfolgen. In der römischen Kaiserzeit erfuhren die anerkannten Indizien Einschränkungen, auch wenn ihnen immer noch volle Beweiskraft zukam. Im italienisch-kanonischen Recht kam es mit der Einführung des Inquisitionsprinzips und der Folter im 13. Jahrhundert zu einem Bruch innerhalb der Theorie der Indizien, denen nun keine vollständige Beweiskraft mehr zugesprochen wurde. Die Einführung des Indizienbeweises als vollgültigem Beweis konnte also durch die Rezeption des römischen Rechts begründet werden. Hinzu kam der Einfluss der Epistemologie Kants, die dem transzendentalen Subjekt erkenntnisfundierende Leistung zuschrieb. Das Subjekt der Beweisführung ist weniger das rechtsförmige Verfahren, sondern die Person des Richters oder das Kollektivsubjekt der Geschworenen, die das Kollektivbewusstsein repräsentieren sollen. Unter diesem Einfluss der Subjektivierung von Wahrnehmung und Schlüssen wurden Gewissheit, Wahrscheinlichkeit und Wahrheit als Beweisziele durch den neuen Leitbegriff der Überzeugung ersetzt. 22 So hatte Carl E. Jarcke mit der Einbeziehung der im Rahmen der Reflexion über die Beweisgründe gewonnenen Überzeugung in das gesetzliche Beweissystem eine Wandlung im Verständnis der Beweisregeln eingeleitet. In seiner Untersuchung Bemerkungen über die Lehre vom unvollständigen Beweise 23 formulierte er – angeregt durch Kant –, dass die »Wahrheit in der Übereinstimmung der Überzeugung des urtheilenden Subjects mit dem erkannten Objecte« liege. Damit wandte er sich einerseits gegen einen bei Feuerbach sichtbaren Realismus, für den die Wahrheit unabhängig vom Richter »in der Sache selbst« lag. Zugleich richtete sich dies gegen die von der französischen Rechtspraxis privilegierte Auffassung, nach der die Wahrheit allein »in der Überzeugung des urtheilenden Subjects« zu finden sei – eine Auffassung, die herausgelesen wurde aus der abschließenden Frage des Richters an die Geschworenen: »Avez-vous une intime conviction?« 24

22 Rudolf Stichweh, Zur Subjektivierung der Entscheidungsfindung im deutschen Strafprozeß des 19. Jahrhunderts, in: André Gouron (Hg.), Subjektivierung des justiziellen Beweisverfahrens. Beiträge zum Zeugenbeweis in Europa und den USA (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt/M. 1994, S. 265-300. 23 Carl E. Jarcke, Bemerkungen über die Lehre vom unvollständigen Beweise vornehmlich in Bezug auf die außerordentlichen Strafen, in: Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 8 (1825), S. 97-144. Vgl. dazu Küper, Richteridee der Strafprozessordnung, S. 226-231. 24 So der napoleonische Code d’instruction criminelle aus dem Jahr 1808. Ob die Idee der intime conviction einen »emotional-irrationalen Einschlag« gehabt hat und auf einem »nicht mehr artikulierbaren Totaleindruck, einem instinkthaft-intuitiven ›Wahrheitsgefühl‹« beruhte, wie es Wilfried Küper interpretiert hat, ist zu bezweifeln, da auch die intime conviction eine ordnungsgemäße Beweisaufnahme zur Voraussetzung hatte. Vgl. Küper, Richteridee der Strafprozessordnung, S. 169-177; Jerouschek, Wie frei ist die freie Beweiswürdigung?, S. 496.

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Wie Jarcke versuchte auch Carl Joseph Anton Mittermaier in Die Lehre vom Beweise im Strafprozesse (1834) einen transzendental reflektierten Erkenntnisbegriff in die Strafrechtsdiskussion einzuführen. Im Einklang mit der Tradition verglich er dabei die juristische mit der historischen Wahrheitsfindung. Die sichtbaren Spuren bei der Inaugenscheinnahme des Richters am Tatort sind für ihn »Grundlagen zu Schlussfolgerungen über den Causalzusammenhang zwischen einer gewissen Ursache und dem Tode«, weshalb »alle Rücksichten, nach welchen der Historiker von der Wahrheit vergangener Thatsachen sich überzeugt, auch diejenigen [sind / A. S.], nach welchen der Richter die Überzeugung von der Existenz und der Beschaffenheit der verübten Verbrechen sich verschafft.« 25 Die Erreichung der »historischen Wahrheit« liege überall dort vor, wo man sich von der »Existenz vergangener Begebenheiten und Handlungen, die in Zeit und Raum vorgekommen sind, […] überzeugen« wolle: »Wir gehen dabei von einer Masse von Einzelheiten, die wir in Raum und Zeit finden, aus, verbinden sie mit einander, und gelangen durch diese Verbindung und Prüfung zu dem Resultate, nach welchem wir ein Urtheil über die Existenz und die Beschaffenheit vergangener Ereignisse uns erlauben. Wir glauben, Wahrheit gefunden zu haben, wenn wir unsere Vorstellung von dem in Frage stehenden Gegenstande für völlig übereinstimmend mit dem Gegenstande ansehen. Bei der hierzu nöthigen Geistesoperation bedarf es einer Verbindung zwischen dem urtheilenden Subject mit dem zu erforschenden Object, und hier entsteht eine oft verhandelte Frage: ob die Wahrheit objectiv oder subjectiv sei.« 26

Mittermaier zeigte dann im Fortgang seiner Argumentation, dass die Unwägbarkeiten bei der Rekonstruktion vergangener Ereignisse nicht zu eliminieren sind: falsche Geständnisse, glaubwürdige, unglaubwürdige und widerstreitende Zeugen, sichere und unsichere Indizien. Selbst bei identischen Urteilen in der Tatfrage komme es bei verschiedenen Richtern zu unterschiedlichen Begründungsstrategien, die nicht zuletzt von der »Individualität« der Richter abhängig seien. Insofern war es für Mittermaier klar, »dass aber bei jeder Urtheilsfällung über die Wahrheit von Thatsachen gleichfalls Eigenthümlichkeiten des Urtheilenden einwirken, welche verursachen, dass jedes Urtheil über Wahrheit doch als ein subjectives erscheint.« 27 Mittermaiers Lehre vom Beweise im Strafprozesse kann als exemplarisches Dokument dafür angesehen werden, wie im Zuge der Diskussion über die Strafrechtsreformen die Begriffe Wahrheit und Wahrscheinlichkeit durch die Begriffe der Überzeugung und der Gewissheit langsam abgelöst wurden. Überzeugung ist für Mittermaier ein Zustand, »in welchem unser Fürwahrhalten auf völlig befriedigenden Gründen« ruht. Solange keine Gründe vorhanden seien, die auf die Annahme des Gegenteils verweisen, könne man 25 Carl Joseph Anton Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im Strafprozesse nach der Fortbildung durch Gerichtsgebrauch und deutsche Gesetzbücher in Vergleichung mit den Ansichten des englischen und französischen Strafverfahrens, Darmstadt 1834. Hier zitiert nach dem unveränderten fotomechanischen Nachdruck der Originalausgabe, Leipzig 1970, S. 62. 26 Ebd., S. 65. 27 Ebd., S. 69.

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von Gewissheit sprechen. Voraussetzung sei dabei jedoch, dass die Gründe auf Vernunft und Erfahrung beruhten und man alle Möglichkeiten nutze, »gewissenhaft alle Gründe zu erforschen«. 28 Gewissheit und Überzeugung wurden nun als identische Begriffe gebraucht, die rational zu begründen waren, jedoch immer auch fallibel blieben, »da in Gegenständen, zu welchen historische Wahrheit gehört, nie die absolute Wahrheit erreicht werden kann.« 29 Mittermaiers Beweistheorie, deren argumentatives Ziel die Anerkennung des vollgültigen Indizienbeweises war, unterscheidet verschiedene Beweisformen: den Beweis durch richterlichen Augenschein, durch Sachverständige, durch das Geständnis des Angeschuldigten, durch Zeugen, durch Urkunden und letztlich den »Beweis durch Zusammentreffen von Nebenumständen« (bzw. den »circumstantiellen Beweis«, den »Beweis durch Indizien« oder auch den »künstlichen Beweis«), die in einer Zusammenfassung der »wechselseitigen Unterstützung mehrer Beweisquellen« mündet. 30 Seine Argumentation für die Anerkennung des Indizienbeweises basiert auf der Überzeugung, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Beweisen sinnlicher Evidenz, den sogenannten »natürlichen« Beweisen, und den sogenannten »künstlichen« Beweisen, den Indizien, irrig sei. Zu Unrecht unterscheide man den natürlichen Beweis (Augenschein, Zeugen, Geständnis) vom künstlichen Beweis bzw. Indizienbeweis, weil Letzterer nicht auf sinnlicher Evidenz beruhe. 31 Vielmehr habe die Unterscheidung von natürlichem und künstlichem Beweis keine Bedeutung, da bei jedem Beweismittel erst die auf einer Kette von Schlüssen beruhende verständige Prüfung die Überzeugung von der Glaubwürdigkeit des Beweismittels und der Wahrheit der Tatsachen entstehen lässt. 32 Mittermaier erkannte also im Indizienbeweis nicht nur einen vollständigen Beweis, sondern kam zu dem Ergebnis, dass es nur Beweise auf der Basis allgemeinlogischer Schlussverfahren gebe. 33 Da man sich im Gerichtsverfahren nicht auf die den Geständnissen und Zeugnissen zugrunde liegende sinnliche Erfahrung stützen könne, komme es auf den bewertenden Verstand an, der mit den »Fundamentalschlüssen« – dem Schluss von der Möglichkeit auf die Wirkung, dem Analogieschluss und dem Indizienschluss, bei denen aus einer Reihe von Nebenumständen auf eine Haupttatsache geschlossen wird – diejenigen Mittel bereitstelle, mit denen mit Gewissheit auf einen Tatbestand geschlossen werden könne. 34 28 Ebd., S. 70ff. Für Mittermaier fordert die Gewissheit »nothwendig einen Inbegriff von Gründen«, wie dies im englischen Ausdruck evidence geschehe, der gleichzeitig Beweis und Gewissheit bezeichnet. 29 Ebd., S. 74; vgl. auch S. 61. 30 Ebd., S. 402-458. 31 Ebd., S. 130. 32 Ebd., S. 140. Ebenso: Julius Friedrich Heinrich Abegg, Lehrbuch des gemeinen Criminalprocesses mit besonderer Berücksichtigung des preußischen Rechts, Königsberg 1833, S. 225. 33 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im Strafprozesse, S. 136-140. 34 Ebd., S. 125-131; insb. S. 126: »Nicht unseren Sinnen allein, sondern der durch den Verstand angestellten, selbst auf gewisse Schlüsse gebauten Prüfung des Ergebnisses der Sinne trauen wir, und leiten daraus das Urtheil über die Gewissheit ab.«

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Emphatisch und die Lichtmetaphorik der Aufklärung nutzend beschrieb Mittermaier die Wirkungsmacht der Indizien (»stumme Zeugnisse«), die »wie man zu glauben versucht wird, von der Vorsehung selbst in Verbindung mit dem Verbrechen gebracht sind, damit aus dem Dunkel, in welches der schlaue Verbrecher seine That hüllte, ein Strahl hervorbreche, welcher in der Seele der Richter Licht anzündet und die Spur zeigt, durch deren Verfolgung dies Verbrechen entdeckt werden kann.« 35 Mittermaier wollte den Indizienbeweis jedoch nicht auf stumme Zeugen einschränken, denn auch bei richterlichem Augenschein, Geständnis und Zeugnis komme es auf eine subjektive Einschätzung der Anzeichen vor dem Hintergrund der Handlungsumstände an: »Es ist überall nur eine Kette von Vermuthungen, worauf wir unsere Ueberzeugung bauen.«36 Für diejenigen Beweise, die auf unmittelbarer Evidenz beruhen (Geständnisse und Zeugnisse), zeige es sich, dass die Gewissheit des Richters nicht dadurch entstehe, dass er die Aussagen aufgrund ihrer sinnlichen Evidenz unreflektiert übernimmt. Wie beim Indizienbeweis sei es eine »Kette von Vermuthungen, die wir aus den bisherigen Erfahrungen über die Gesetze der menschlichen Natur und über das Benehmen der Menschen ableiten, und durch die wir das Eingestandene mit den übrigen Nachrichten vergleichen«, um zu dem »Glauben« zu gelangen, dass das Eingestandene wahr ist. 37 Beim richterlichen Augenschein sei es genauso, da hier von den Überresten am Tatort auf ein vergangenes Geschehen zurückgeschlossen werden müsse, auch wenn Mittermaier daran festhält, dass ein Grund des Vertrauens darin zu sehen sei, dass der Richter »in seinen Sinnen eine Bürgschaft der Wahrheit« erhält. Und auch beim Sachverständigenbeweis, dem von Mittermaier eine äußerst wichtige Rolle beigemessen wird, kann sich der Richter allein auf sein »Vertrauen auf die Geschicklichkeit der Sachverständigen stützen, dass diese ihre Beobachtungen vollständig, treu und nach richtigen Grundsätzen unter die wissenschaftlichen Gesetze subsumieren.« 38 Damit wurde das Geständnis- und Zeugenparadigma des gemeinrechtlichen Strafverfahrens – beruhend auf der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung und der Integrität der Person, der im Endeffekt vom Urteilenden Glauben geschenkt werden musste – tatsächlich durch ein Indizienparadigma ersetzt. Dieses beruhte auf der subjektiven wie auch rationalen Bewertung von Indizien und begründete ein Verfahren, bei dem nun der richterliche Augenschein Geständnisse und Zeugnisse sowie Sachverständigengutachten zu bewerten hatte. Mit dem Vertrauen in die Ratio des Urteilenden wurde gleichzeitig das Vertrauen in die Wahrnehmung des Zeugen delegitimiert – letztere standen unter Generalverdacht und konnten nur durch eine komplexe Abwägung der Gründe in der freien Beweiswürdigung plausibilisiert werden. In diesem Prozess der neuen Wertschätzung der Indizien verlor das Geständnis seine Stellung als regina probationis, womit auch gleichzeitig den Zeugnissen nicht mehr aufgrund des »Ansehens« oder der Augenzeugenschaft besonderer Wert beigemessen wurde: Auch sie mussten nunmehr vor dem Richterstuhl 35 Ebd., S. 402. 36 Ebd., S. 403, auch S. 140. Gleiche Argumentation auch bei Abegg, Lehrbuch des gemeinen Criminalprocesses, S. 225. 37 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im Strafprozesse, S. 232f. 38 Ebd., S. 133.

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einer Überprüfung im der Allgemeinheit zugänglich gemachten Gerichtssaal unterzogen werden. Der Indizienbeweis ermöglichte nun die kritische Betrachtung einer falschen Selbstbezichtigung oder eines Geständnisses, mit dem möglicherweise jemand anderes gedeckt werden sollte oder das abgelegt worden war, um weitere Verbrechen zu vertuschen. Mit der bei Mittermaier vollzogenen Anerkennung des Indizienbeweises wurden so die unvollständigen Beweise abgeschafft und mit ihnen die absolutio ab instantia, der Reinigungseid, die Theorie der außerordentlichen Strafen und die Sicherungshaft. Denn, so Mittermaier, die Idee des unvollständigen Beweises sei tautologisch: entweder man habe einen Beweis, oder man habe eben keinen: In Frankreich und England falle es Niemandem ein, zwischen einem »völlig Schuldlosen und einem zweifelhaft Unschuldigen« zu unterscheiden. 39 In einem ausschließlich dem Indizienbeweis gewidmeten Werk von Anton Bauer definierte dieser 1843: Die »Anzeige ist eine Thatsache, von welcher auf die Wahrheit einer anderen Thatsache geschlossen werden kann.« 40 Indizien waren für ihn weder auslösende Momente für Vermutung, Verdacht oder Argwohn und auch keine »historischen Gewissheiten« mehr, sondern »sichere Gründe« bzw. »Beweisgründe«, die im harmonischen Miteinander die Überzeugungskraft stärkten, wobei die Argumentation auf rationalen und nachvollziehbaren Gründen beruhen müsse. Insofern seien »mehrere Wahrscheinlichkeitsgründe auf dem Wege der logischen Combination und Induction, vermöge der auf Logik und Erfahrung gegründeten Regel, dass man in menschlichen Dingen das für gewiss annehmen müsse, dessen Gegentheil anzunehmen, kein vernünftiger Grund vorhanden ist, als ein volle rechtliche Gewissheit gebender Beweis anzusehen sind.« 41 So war in der Indizienlehre, ablesbar an den Werken von Globig, Stübel, Jarcke und Mittermaier, aus einer historischen Wahrscheinlichkeitsannahme eine historische Gewissheitsannahme geworden, bevor bei Bauer der juristische Indizienbeweis rein positivistisch als die »Nothwendigkeit der Annahme der Wahrheit einer Thatsache« bezeichnet wurde. 42 In den 1840er Jahren hatte die Lehre vom Indizienbeweis ihre endgültige Gestalt gewonnen und wurde als vollständiger und zuverlässiger Beweis anerkannt. Die Gründe für den »Siegeszug des vollständigen Indizienbeweises« sind nach Pöltl erstens in der »Entwicklung in der rechtswissenschaftlichen Lehre zu sehen«, nachdem die Gegenstimmen in der Literatur verstummten. Zweitens habe im Grunde genommen die Rechtsprechungspraxis neues Recht geschaffen. Denn indem in der Gerichtspraxis seit geraumer Zeit auf Indizien Urteile gesprochen worden waren – zunächst in der Form reduzierter Strafen und daraufhin nach den Vorgaben der positiven und negativen Beweistheorien in den einzelnen Gesetzgebungen der Länder –, hatte sich der Indizien39 Ebd., S. 468. 40 Anton Bauer, Die Theorie des Anzeigenbeweises nebst vorausgeschickter Darstellung der Theorie des Criminalbeweises überhaupt. Abhandlungen aus dem Strafrechte und dem Strafprocesse, 3 Bde., Göttingen 1843, hier Bd. 3, S. 117. 41 Vgl. ebd., S. 125-136, Zitat S. 130f. 42 Ebd., S. 132.

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beweis während einer fünf Jahrzehnte währenden Diskussion »als zuverlässig erwiesen«. Spätestens mit der Einführung der freien Beweiswürdigung in verschiedenen deutschen Gesetzen – zunächst 1838 in Sachsen und 1846 in Preußen, bis es mit der Strafprozessordung von 1877 für das Deutsche Reich zu einer endgültigen Vereinheitlichung kam – sowie mit der Einführung von Schwurgerichten im Zuge der Revolution 1848/49 gab es an der Zuverlässigkeit des Indizienbeweises »keinen Zweifel mehr«. 43 So stellte der Strafrechtswissenschaftler Erwin Rupp 1884 nochmals klar, dass es für den urteilenden Richter keinen Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines Zeugen, einer Urkunde oder eines Indizes gebe. 44 Daneben trug jedoch auch das wissenschaftliche Umfeld, insbesondere die Gerichtsmedizin und der psychiatrische Diskurs zur Anerkennung des Indizienbeweises bei. 45 Hier war es vor allem die »Giftkunde« bzw. die forensische Toxikologie, die seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit neuen Nachweisverfahren aufwartete und damit die Basis der zu interpretierenden Faktoren erweiterte. So war es aufgrund der Aussagen von Sachverständigen in einem äußerst umstrittenen und europaweit Aufsehen erregenden Prozess in Frankreich gegen Marie Capelle-Lafarge zu einer Verurteilung gekommen. Auch der zunehmende Einfluss von psychologischen Sachverständigen – der zur Erfindung der Zurechnungsfähigkeit führte – gab den Indizienbeweisen neuen Aufschwung, indem nun wissenschaftliche Argumentationsweisen im Gerichtssaal in die Überzeugungsbildung integriert wurden. 46 In engem Zusammenhang damit stand auch die gleichzeitig geführte Diskussion über die Abschaffung von Körper- und Todesstrafen. Gerade durch die stärkere Einbindung von Gerichtsmedizinern und Psychologen wurde nun ein System »mildernder Umstände« entwickelt. So überschnitten sich im Forderungskatalog der Nationalversammlung die Abschaffung der Todesstrafe mit der Einführung von Schwurgerichten, »freier Beweiswürdigung« und Anerkennung einer Verurteilung aufgrund von Indizien. Den erweiterten Schlussmöglichkeiten, die mit einer entproblematisierten Indizientheorie einhergingen, folgten auf der Seite der Strafandrohung vermeintlich mildere Konsequenzen. Das war freilich bisweilen oft ein vorgeschobener Grund, um Gesetz und Ordnung durch Strafe durchzusetzen: Wurde nach der Abschaffung der Folter in der Frage einer Verurteilung aufgrund von Indizien oft genug instrumentell verfahren, um eine geständnisunwillige Person dennoch bestrafen zu können, so hatte sich dieses Argumentationsmuster auch noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten. So betonte etwa Mittermaier, dass 43 Pöltl, Lehre vom Indizienbeweis, S. 267. 44 Erwin Rupp, Der Beweis im Strafverfahren. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Darstellung des deutschen Prozessrechts, Freiburg u. Tübingen 1884. 45 Pöltl, Lehre vom Indizienbeweis, S. 268f. 46 Zur Bedeutung der Sachverständigen: Michel Foucault, Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz, Frankfurt/M. 1975. Zum gerichtsmedizinischen Hintergrund: S. Placzek, Geschichte der gerichtlichen Medizin, in: Handbuch der Geschichte der Medizin, 3 Bde., hg. v. Max Neuburger u. Julius Pagel, Jena 1903-1905; hier Bd. 3, S. 729-782. Zum Prozess Lafarge vgl. Jodokus D. H. Temme, Der Proceß Lafarge beleuchtet nach Preußischem Strafrechte, Berlin 1841.

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noch die gesetzliche Beweistheorie den Richter zum Freispruch nötige und damit nicht die bürgerliche Sicherheit gewährleisten könne. 47 Insofern war mit der Einführung des vollgültigen Indizienbeweises und der freien Beweiswürdigung keinesfalls eine Liberalisierung des Strafrechts verbunden. Während Mittermaier für beide Strafverfahrensregeln plädierte, hielt er noch 1845 Geschworenengerichte und rechtsgelehrte Richter für zwei durchaus gleichberechtigte Varianten, um die Wahrheit herauszufinden, und wollte nicht öffentlich für die Einführung von Geschworenengerichten eintreten. Das öffentliche Geschworenengericht blieb für ihn ein »bedenkliches Institut« wegen seiner Anfälligkeit für Missbrauch, wegen der »Gefahr grundloser Lossprechung, wegen der Gefahr für die bürgerliche Ordnung«. 48 Die mit der freien richterlichen Beweiswürdigung verbundene Subjektivität des Beweisverfahrens und ihre Anbindung an rationale Beweisformen ist in der rechtshistorischen Forschung auch heute noch umstritten, wenn es darum geht, die Bedeutung zu ermessen, die der Einführung des Prinzips der freien Beweiswürdigung zweifellos zugesprochen werden muss. Zwei Einschätzungen lassen sich dabei erkennen: Der Schwurgerichtsgedanke und mit ihm die freie Beweiswürdigung konnten in Deutschland erst Fuß fassen, nachdem in der Praxis positive wie auch negative Beweistheorien getestet worden waren und man zu der Überzeugung gelangte, dass eine einzelfallbezogene Beweiswürdigung einer Orientierung an generalisierten Durchschnittserfahrungen widersprach, wie sie die gesetzlichen Beweisregelungen vorsahen. Die anhaltende Diskussion führte zu einer »wissenschaftlichen Entirrationalisierung« der Schwurgerichtsidee, während man gleichzeitig erkannte, dass die Überzeugungsbildung aufgrund von internalisierten Gesetzesregeln erfolgte. Die freie Beweiswürdigung lief demzufolge zu keinem Zeitpunkt auf eine Beliebigkeit bei der Rechtsfindung hinaus, zumal es zu einer schrittweisen Entsubjektivierung der freien Beweiswürdigung durch die revisionsrichterliche Kontrolle kam. 49 Zu konstatieren ist deshalb eine »zunehmende Rationalisierung und 47 Carl Anton Mittermaier, Ueber den Zustand der Strafprozessordnung in Deutschland, in: Archiv des Criminalrechts, Neue Folge (1854), S. 120-151, S. 127. Vgl. Pöltl, Lehre vom Indizienbeweis, S. 281. Dort auch weitere Belege für die Meinung, dass gesetzliche Beweistheorien zu Straflosigkeit führen würden. 48 Verhandlungen der Germanisten in Lübeck, S. 153. Dass Mittermaier einen harten law and order-Kurs propagierte, wird auch an einer weiteren Stelle deutlich, in der er vorbringt, warum er nur zwei Jahre später seine Meinung revidiert habe. Statistiken aus England hätten gezeigt, dass 72 von 100 Angeklagten von der Jury verurteilt worden seien, wohingegen in Ländern mit einer Regelung der absolutia ab instantia »oft genug wahrhaft Schuldige« freigesprochen werden müssten. Insofern sei er zu der Überzeugung gekommen, dass es Unrecht sei, wenn man meine, dass die Geschworenen zu oft Freisprüche durchsetzen würden. Ein weiteres wichtiges Argument war – wichtiger als alle Bezugnahmen auf zweifelhafte Statistiken -, dass bei einer entsprechenden Milde der Strafen weniger Lossprechungen erfolgen würden als bei sehr harten Strafen. Ebd., S. 155f. 49 Vgl. Jerouschek, Wie frei ist die »freie Beweiswürdigung«?, S. 497.

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Versachlichung« des Leitgedankens der »subjektiven Überzeugung«. Die richterliche Überzeugung enthält zwar notwendigerweise subjektive Elemente, dürfe jedoch nicht als ein »intuitives Wahrheitsgefühl« oder als ein »unreflektierter Totaleindruck« verstanden werden, so Küper. Freie Überzeugung bedeute vielmehr, dass trotz der Befreiung von gesetzlichen Beweisregeln Überzeugung aus rationalen, logisch-empirisch nachvollziehbaren Gründen entstehe und ein Geschäft der Reflexion sei. 50 Zu einer anderen Einschätzung kommt Rudolf Stichweh, der in der Einführung der freien Beweiswürdigung eine »Subjektivierung der Entscheidungsfindung« und eine »Mentalisierung des Beweises« 51 sieht. Diese hätten zu einer Individualisierung der Fallbehandlung und zu einer Ausdifferenzierung des Verfahrens als rechtlichem Erkenntnisprozess geführt. Beides sei unter der Prämisse der gemeinen Beweistheorie nicht möglich gewesen, da hier vorab Klassifikationen von Zeugen vorgenommen wurden. Nach Stichweh setzte die freie Beweiswürdigung im Gerichtsverfahren eine Hermeneutik an die Stelle einer Analytik. Wie die Theorie des Zeugenbeweises zeige, handelt es sich dabei nicht mehr um eine Texthermeneutik, eine Technik der Sinnexplikation der in schriftlicher Form vorgebrachten Aussagen, sondern um eine Hermeneutik der Interaktion und Auslegung von öffentlich und in dialogischer Form vorgebrachten Aussagen vor Gericht. Stichweh zufolge war dies eine »juristenfremde Technik«, da in der näher zurückliegenden Vergangenheit die Rechtsprechung auf die Interpretation von Texten gerichtet war. Dies bedeutete gleichzeitig eine Umstellung von einer formalen auf eine informelle Rationalität, die nach Hilary Putnam als ein Grund des Erfolges der modernen Wissenschaften anzusehen ist. 52 Beide Interpretationsansätze lassen sich jedoch durchaus in Einklang bringen. In beiden Varianten wird die Subjektivierung der Urteilsbildung anerkannt, nur wird sie im ersten Fall im Hinblick auf die Rationalität der Schlussverfahren und Überprüfungsinstanzen, im zweiten Fall durch eine dialogische Hermeneutik abgesichert. Die Absicherung des Erkenntnisprozesses durch eine untersuchungsrichterliche Analytik, durch eine dialogische Hermeneutik im Gerichtssaal bei gleichzeitigem Wissen darum, dass beide Verfahren auf rationalen – oder besser: der Alltagserfahrung entsprechenden – Beweisgründen beruhen, all dies sind Optionen, die auch für die durch die Gerichtsmetaphorik so stark geprägte Geschichtstheorie Droysens eine Rolle spielen werden. Doch spiegelten sich diese rechtshistorischen Bezüge nicht nur in Droysens Historik, sondern waren durchaus auch in den Geisteswissenschaften verbreitet. Dies zeigte sich etwa auf den Germanistentagen 1846 und 1847, bei denen der Schwurgerichtsgedanke wenn auch letztlich verspätet in den revolutionären Forderungskatalog eingeschrieben wurde.

50 Vgl. Küper, Historische Bemerkungen, S. 45. 51 Stichweh, Zur Subjektivierung der Entscheidungsfindung, S. 283. 52 Ebd., S. 291f. Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M. 1982, S. 377f.

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2.2 D IE G ERMANISTENTAGUNGEN 1846/1847 Zu einem entscheidenden Durchbruch für die revolutionäre Forderung nach Geschworenengerichten kam es 1846 und 1847 auf den Germanistentagen in Frankfurt und Lübeck, die in der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurden. 53 Der Leitgedanke dieses »interdisziplinären« Treffens von Literaturhistorikern und Philologen, Historikern und Juristen war unverkennbar ein nationaler: Man hatte sich die Förderung deutscher Geschichte, deutscher Sprache und deutschen Rechts auf die Fahnen geschrieben, wie Jacob Grimm als Vorsitzender beider Versammlungen in seinem Beitrag über die wechselseitigen Beziehungen der drei vertretenen Wissenschaften betonte. 54 Unter den Teilnehmern fand sich das Who is Who der »germanistischen« Wissenschaft, so etwa Ernst Moritz Arndt und die Historiker Leopold von Ranke, Heinrich Sybel, Friedrich von Raumer, die allerdings – durchaus bezeichnend – nur an der ersten Tagung teilnahmen. An beiden Versammlungen nahmen hingegen Georg Beseler, Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Gottfried Gervinus, Wilhelm Grimm, Karl Lachmann, Andreas Ludwig Jacob Michelsen, Karl Joseph Anton Mittermaier, Georg Heinrich Pertz, Theodor Mommsen, Wilhelm Wachsmuth, Johann Ludwig Uhland, Georg Waitz und Wilhelm Eduard Wilda teil. Um sich über die nationalen Ursprünge des Schwurgerichts auszutauschen, wurde das Thema der Jury direkt zur ersten Frankfurter Tagung auf die Tagesordnung gesetzt. Es galt denjenigen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die das Schwurgericht aus nationalen Gründen und mitunter antifranzösischen Ressentiments bekämpften. So versuchte Friedrich Christoph Dahlmann vor der Vollversammlung nachzuweisen, dass das Schwurgericht zunächst in den Volksgerichten Norwegens aufgetaucht und deshalb nordischen Ursprungs sei, während Michelsen sogar meinte, den germanischen Ursprung der Schwurgerichte belegen zu können. 55 Solche Argumentationen waren selbstverständlich nichts anderes als wissenschaftliche Spekulationen auf dünner Quellenbasis, anregend konstruierte Indizienbeweise, die den Nachweis historischer Ursprünge erbringen sollten. Wichtiger als die Frage, ob das Geschworenengericht deutschen, nordischen oder sonstigen Ursprungs war, sollte jedoch die Verständigung darüber sein, ob man sich für den gewünschten deutschen Nationalstaat ein solches Ver-

53 Vgl. dazu Erich Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung. Neudruck d. Ausg. Breslau 1926. Mit einem Vorwort des Verfassers zum Neudruck und einer Einleitung zum Schwurgerichtsproblem heute, Aalen 1970. Unter sozialgeschichtlichem Blickwinkel: Dirk Blasius, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 22), Göttingen 1976, S. 115ff. 54 Vgl. Jacob Grimm, Über den Werth der ungenauen Wissenschaften, in: Ludwig Erich Schmitt (Hg.), Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm. Werke. Forschungsausgabe. Abteilung I, Bd. 7: Jacob Grimm, Kleinere Schriften. Rezensionen und vermischte Aufsätze, 4. Teil, Hildesheim 1991, S. 563-566. 55 Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt a. M., Frankfurt/M. 1847, S. 90-100 u. S. 170-175.

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fahren vorstellen konnte. Dazu half es, sich zunächst einmal der erhabenen, uralten germanischen Tradition zu vergewissern und im Schwurgerichtsgedanken eine ›basisdemokratische‹ Tradition aufzudecken. Die Vielzahl der rekonstruierten historischen Ursprünge, die in den unterschiedlichen Stellungnahmen zum Ausdruck kamen, brachte die eigene Forschungspraxis jedoch keineswegs ins Wanken. Die Wissenschaftler brachten aus eigener Praxis die Erfahrung mit, dass man nach bestem Wissen und Gewissen ernsthaft sein Thema verfolgt hatte, alles zur Verfügung stehende Material untersucht hatte, um dann in einer persönlichen und gleichzeitig an dem sensus communis der Wissenschaftler und einer weiteren Öffentlichkeit orientierten Entscheidung den Weg der Entschlussfassung zu beschreiten. Erfahrungsgemäß konnte schon die erste Rezension in einer Fachzeitschrift neben höflich anerkennenden Worten ätzende Kritik einbringen. Die Verlockung war also groß, wenigstens in Strafsachen die Urteilsbildung nach gemeinsamer Überzeugungsbildung auf mehrere Schultern zu verteilen. Ein wichtiges Moment für die kommende Akzeptanz der Schwurgerichte bildete sich also schon allein dadurch aus, dass die interdisziplinären Germanistentagungen selbst dem Repräsentationsmodell einer Schwurgerichtssitzung folgten. Konfrontiert mit den Experten der anderen Disziplinen, wurde der Spezialist zum Laien. Die Situation des eingeschworenen Beisammenseins ermöglichte es, in die Debatte und Beratschlagung einzugreifen, und dies musste nicht vor dem Plenum erfolgen, sondern konnte auch im informellen Gespräch im Hinterzimmer oder beim Abendessen stattfinden. Auch die Praxis des Abstimmens nach gemeinsamer Überzeugungsbildung übte man schon einmal ein, wenn es galt, Anträge zu verabschieden. Pointiert brachte die Übereinstimmung von wissenschaftlicher Praxis und Schwurgerichtssitzung Jacob Grimm in seinem Plenumsbeitrag über die »genauen und ungenauen Wissenschaften« auf den Punkt. Vom grundsätzlichen Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft überzeugt, und orientiert an einer – wie er sagte – französischen Unterscheidung von exakten und inexakten Wissenschaften, beanspruchte Grimm für die drei anwesenden Disziplinen ein weiches Erkenntnismodell: »zu den genauen [Wissenschaften / A. S.] werden bekanntlich die gerechnet, welche alle sätze haarscharf beweisen: mathematik, chemie, physik, alle deren versuche ohne solche schärfe gar nicht fruchten. zu den ungenauen wissenschaften hingegen gehören gerade die, denen wir [die Teilnehmer des Germanistentages / A. S.] uns hingegeben haben und die sich in ihrer praxis so versteigen dürfen, dasz ihre fehler und schwächen möglicherweise lange zeit gelitten werden bis sie in stetem fortschritt aus fehlern und mängeln immer reiner hervorgehen: geschichte, sprachforschung, selbst poesie ist eine allerdings ungenaue wissenschaft. ebenso wenig anspruch auf volle genauigkeit hat das der geschichte anheim gefallene recht und ein urteil der jury ist kein rechenexempel, sondern nur schlichter menschenverstand, dem auch irrthum mit unterläuft.«56

Solchermaßen gestärkt durch die sehr realistische Anerkennung der Fehlbarkeit im Indizienverfahren und in der Beschlussfassung in freier Beweiswürdigung – in Gerichts- wie auch in Wissenschaftsdingen – wurde auf dem 56 Grimm, Über den Werth der ungenauen Wissenschaften, S. 564.

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Frankfurter Germanistentag einem Antrag Mittermaiers stattgegeben, eine Kommission für die Untersuchung der Schwurgerichtsfrage einzusetzen. Nachdem man die traditionalen und nationalen Komponenten dieser Frage informell geklärt hatte, sollte es auf der Folgetagung nun stärker um die juristischen Feinheiten und um die politische Bedeutung der Schwurgerichte gehen. Auf der Lübecker Germanistenversammlung 1847 stand dann das Schwurgerichtsverfahren im Mittelpunkt der allgemeinen Diskussionen, wobei beachtenswert war, dass man gleich zu Beginn die einzelnen disziplinären Sektionen zusammenlegte, um vor der Vollversammlung zu diskutieren. Mittermaier berichtete zunächst über die Erfahrungen, die man mit dem Schwurgericht im Ausland gemacht hatte. 57 Der Erfahrung nach spreche alles für die Jury, und mit einem Seitenhieb auf die jüngst in Preußen eingeführte Politik des öffentlichen und mündlichen Verfahrens ohne Geschworene führte er aus, dass diese beiden Prinzipien notwendigerweise die Einführung der Jury nach sich zögen. Mittermaier verwies darauf, dass in allen Ländern, in denen die freie Beweiswürdigung mit rechtsgelehrten Richtern eingeführt worden war, die öffentliche Meinung Schwurgerichte als Garantie für gerechte Urteile verlangt habe, weshalb auch er im Gegensatz zu seiner früheren Einschätzung 58 nun dafür plädiere. Mittermaiers Sinneswandel wurde von einer achtköpfigen Kommission gestützt, deren Mitglieder für die Einführung von Geschworenengerichten stimmten und auf diese Weise mithalfen, die Anhängerschaft des Schwurgerichtsgedankens zu vergrößern. Dass die Forderung nach Schwurgerichten eng mit der Beweistheorie zusammenhing, war allen Germanisten klar. Die Frage, inwieweit nach der Abschaffung der Folter und mit dem Ausbau extraordinärer Strafen Indizien für ein Urteil ausreichten, ob eine Indizientheorietheorie nötig sei, die sich »auf allgemein nothwendige logische Gesetze und Rechtsregeln, die für alle […] überzeugend sein müssen« 59 zu berufen habe, oder ob man nicht vielmehr die Entscheidungsfindung der freien Beweiswürdigung überantworten müsse, all dies wurde während der Tagung noch einmal neu aufgerollt. So diskutierte man, ob aus einer gesetzlichen Indizientheorie eine Erleichterung oder Erschwerung einer Verurteilung resultiere. Entweder konnte man der Auffassung sein, dass die gesetzliche Beweistheorie kaum zur Verhinderung einer Verurteilung beigetragen habe 60, oder anders herum, dass die Beweistheorie wegfallen müsse, und zwar »im Interesse der strafenden Gerechtigkeit, damit den Schuldigen ihr strafender Arm erreicht, damit ein Vertrauen verdienendes Urtheil, aus freier Ueberzeugung geschöpft, gefällt wer-

57 Verhandlungen der Germanisten in Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, Lübeck 1848, S. 68. 58 Ebd., S. 91 u. S. 160-165. 59 Ebd., S. 139. 60 Ebd., S. 139f: »Es ist leider ein sehr gewöhnlicher Irrthum zu meinen, daß die Indicientheorie dazu da sei, um die Verurtheilung der Verbrecher zu erleichtern; nach meiner Ansicht ist sie aber vielmehr da, um die Verurtheilung zu erschweren; auch kenne ich keine gesetzliche Indicientheorie, durch die der Richter zur Verurtheilung gezwungen wäre.«

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de. Es muß der Richter den Angeklagten sehen, um den ganzen traurigen Act gewissermaßen vor sich wiederholen zu lassen.« 61 Für Andreas Ludwig Jacob Michelsen war die Jury »das Resultat der historischen Forschung«. Bezogen auf die Einführung des mündlichen Verfahrens in Preußen war er der Meinung, dass die »Aufhebung der Beweistheorie« mit der »Unmittelbarkeit des Verfahrens« einhergehen müsse: »Diese beiden Momente drängen dahin, daß man ein Organ finde, um den Indicienbeweis zu liefern, das ist es eigentlich, was durch die Jury gelöst worden ist und wird. Im Altertum war es das Beweismittel, was in der Mitte stand zwischen Gottesurtheil und dem Reinigungseide. Dieses begriffsmäßig ausgedrückt ist der Indicienbeweis. Die Schwierigkeit der Beweisführung ist es, was dem Institute der Jury hindrängt.« 62 Im Gegensatz zum Indizienbeweis und dem Prinzip der Öffentlichkeit, die man beide für die (Geschichts-)Wissenschaften gut beanspruchen konnte, stand zumindest vordergründig das Prinzip der Mündlichkeit des Verfahrens, das mit der Forderung des Geschworenengerichts verbunden war, gegen eine Inanspruchnahme durch die historisch argumentierenden Wissenschaften. Wenn Mittermaier in seinem Schlussreferat die rhetorische Frage stellte, ob »die todten Acten das wahre menschliche Bild in allen Fällen geben« 63 könnten, und damit gegen das schriftliche Verfahren argumentierte (die richterliche Überzeugungsbildung sollte ja nun von Angesicht zu Angesicht stattfinden), so hätte dies die anwesenden Historiker davon überzeugen können, dass es mit der Analogie von Geschworenengericht und der Arbeit von Historikern nicht so weit her war. Indem sich Grimm auf den Indizienbeweis und auf die freie Überzeugungsbildung bei der Analyse von Quellen und Überresten berief, hätte er also gleichzeitig den Gedanken der Mündlichkeit, der face to face-Kommunikation beiseite schieben müssen. Denn der historische Erkenntnisprozess blieb an Schriftlichkeit und philologische Kritik gebunden und die Frage, ob die Zeugnisse der Vergangenheit nicht vielmehr als »stumme Zeugen« begriffen werden müssten, blieb ungestellt. Eine Wiederbelebung der Toten war jedenalls kaum möglich, was blieb, war allein die Möglichkeit, beim Studium der Akten den Angeklagten zu imaginieren. 64 Das Ende der Germanistentagung in Lübeck stand dann wieder im Zeichen der Nation. Mittermaier erklärte, warum er sich gegen jede gesetzliche Beweisregelung einsetzte und für den »gesunden Menschenverstand«, das heißt für die freie richterliche Überzeugungsbildung und für das Geschworenengericht als dem Schlussstein eines Strafverfahrens, das auf Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Anklageprozess setzte: »Sie, meine Herren Germanisten, sind ja alle da, in dem sie die nationale Idee wecken und wieder beleben wol61 62 63 64

Ebd., S. 147. Ebd., S. 143. Ebd., S. 162. Freilich widersprach die Mündlichkeit des Verfahrens nicht gänzlich den quellenkritischen Praktiken der historischen Wissenschaften, denn auch »da, wo die Richter auf dem Grund mündlicher Verhandlung urteilen«, sei »ihre Überzeugung größtenteils durch Elemente bestimmt […], die in der Individualität des Angeklagten, der aussagenden Zeugen und in dem Benehmen dieser Personen liegen.« Vgl. Mittermaier in: Ebd., S. 85.

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len. Gut; bis zum 16. Jahrhunderte war die nationale Idee der Rechtsprechung in Deutschland zwar nicht das Geschworenengericht, sondern die des Schöffengerichts; aber das Wesen derselben war das nothwendige volksthümliche Element in der Rechtsprechung.« 65 Allein der Hegelschüler Eduard Gans ging ganz im Gegensatz zu der sonstigen Diskussion über die Einführung des Indizienbeweises und der Geschworenengerichte davon aus, dass zur Verurteilung eines Angeklagten das Bekenntnis des Angeschuldigten vorliegen müsse, und jene nicht durch einen Zeugen- oder Indizienbeweis erreicht werden könne. 66 Das Bekenntnis brauche aber nicht vom Angeschuldigten selbst abgelegt werden, sondern könne durch die Geschworenen als »Repräsentanten, die in sein Gewissen blicken«, geleistet werden. Damit wurde aus Hegels Überlegung, nach der durch das Zutrauen der Bürger das Geschworenengericht als Rechtsinstitution legitimiert wird, eine Theorie des Blicks in das Gewissen und damit eine Auffassung von Geschworenen als freien »Repräsentanten des Gewissens«. 67 Auch wenn solche avancierten Theorien des Gewissens von Pragmatikern wie Mittermaier abgelehnt wurden – im diskursiven Raum der Germanistentagung war die Idee, dass es sich bei den Geschworenen um nationale Gewissensrepräsentanten handelte, durchaus von großer Anziehungskraft. Der Berliner Professor und Obertribunalrat August Wilhelm Heffter, der seiner eigenen Einschätzung zufolge nicht zu den Anhängern des Schwurgerichts zählte, sorgte mit einem positiven Bekenntnis nun für umso mehr Aufsehen. Heffter stellte zunächst rhetorisch in Frage, ob das Schwurgericht als »rein politisches Institut« überhaupt auf einer Versammlung von Germanisten beraten werden könne. In seiner Argumentation sah er das Geschworenengericht dann als ein Institut der Gerechtigkeit, bei dem es gelte, im Schuldspruch neben den Formeln des Gesetzes auch die menschliche Stimme zu hören. Dies gelinge, wie Heffter es pathetisch und im nationalideologischen Duktus ausdrückte, über das Geschworenengericht als Repräsentant der patria, als Stimme des Landes. Die Idee des Geschworenengerichts sei durch den »vaterländischen Beruf« der Geschworenen gerechtfertigt, es gelte, »ein rein menschliches Urteil über die Schuld eines Angeklagten auf nationa-

65 Ebd., S. 165. 66 Eduard Gans, Die Richter als Geschworene, in: Ders., Beiträge zur Revision der preußischen Gesetzgebung, Bd. 1, Berlin 1831, S. 71 u. 77. Vgl. Peter Landau, Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland, in: Antonio Padoa-Schioppa (Hg.), The Trial Jury in England, France Germany 17001900 (=Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History; Bd. 4), Berlin 1987, S. 241-304; hier S. 251-254. Landau verweist auf die Rechtsphilosophie Hegels, der von der Notwendigkeit der Geschworenengerichte als genuine Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft ausging. Hegel hatte sich sowohl in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrechts und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821) als auch in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) mit den Geschworenengerichten auseinandergesetzt. 67 Landau, Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland, S. 252.

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lem Rechtsboden zu ermöglichen.« 68 Hier wurde eine weitere Analogie von Germanisten und Geschworenen sichtbar, indem sich beide als Verkörperung des nationalen Gewissens begriffen. 2.3 »S TRAFRECHTLICHE E RFAHRUNGEN «: D ROYSEN IM V ERFASSUNGSAUSSCHUSS 1848 Johann Gustav Droysen hielt erstmals 1857 an der Universität Jena seine Vorlesung mit dem Titel Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Seit 1859 an der Berliner Universität, bot er das Kolleg regelmäßig bis 1883 unter leicht variierenden Ankündigungen an, in denen erstmals 1862/63 im Titel der Begriff »Historik« auftaucht. Der Grundriß der Historik, den Droysen zunächst an seine Studenten verteilt hatte, erschien in überarbeiteten Versionen seit 1868 in drei Auflagen und wurde durch die drei von ihm in der Historischen Zeitschrift veröffentlichten Aufsätze über die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, über Natur und Geschichte und Kunst und Methode ergänzt. 69 Aus den von seinem Enkel Rudolf Hübner herausgegebenen Briefen Droysens lässt sich eine beschränkte Resonanz unter den Fachkollegen herauslesen. Droysen, der den Grundriß der Historik gegenüber seinem Freund, dem Maler Eduard Bendemann, als »etwas steifleinen und in knappen Paragraphen zusammengedrängt« charakterisierte 70, verschickte ihn mit kurzen Bemerkungen versehen an Freunde und Fachkollegen und hoffte augenscheinlich, eine inhaltliche Diskussion anzuregen oder wenigstens kritische Kommentare zu erhalten. Antworten trafen jedoch nur spärlich ein – wenn, dann waren es Worte förmlicher Anerkennung, oder aber man verschob eine Diskussion auf das nächste Treffen. Im Mai 1881 konnte sich Droysen darüber freuen, dass sein Buchhändler nur noch zwanzig Exemplare der letzten Auflage besaß und eine weitere, überarbeitete Auflage bald erscheinen sollte. Kurz vor seinem Tod 1884 blieb ihm nur die resignative Hoffnung, vielleicht »bemerke man ja wenigsten nach meinem Tod, dass etwas in meinem Grundriß stehe.« 71 Der altmodisch gekleidete »kleine Droysen mit blitzenden Augen und energischen Zügen« 72 blieb seinen Schülern in Erinnerung. Christoph David 68 Verhandlungen der Germanisten in Lübeck, S. 112 u. S. 117: Vgl. dort Georg Beselers Beitrag, der sich für eine »volksthümliche Gestaltung des Gerichtswesens« einsetzte. 69 Johann Gustav Droysen, Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: HZ 9 (1863), S. 1-22. 70 Johann Gustav Droysen, Briefwechsel, 2 Bde., hg. v. Rudolf Hübner, Stuttgart 1929, hier Bd. 2: Brief an Eduard Bendemann, Berlin, 9. Juli 1883, S. 963. 71 Ebd., S. 943. 72 Friedrich Meinecke, Droysens Historik, in: Ders., Zur Geschichte der Geschichtsschreibung (=Werke; Bd. 7), S. 168-172; hier S. 169. Vgl. auch Friedrich Meinecke, Johann Gustav Droysen. Sein Briefwechsel und seine Geschichtsschreibung, in: Ders., Zur Geschichte der Geschichtsschreibung (=Werke; Bd. 7), S. 125-168; hier S. 166, wo sich Meinecke von Droysens »blitzenden Feueraugen« fasziniert zeigt. Meinecke hatte die letzte HistorikVorlesung Droysens 1882/83 gehört.

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Pflaum stellte 1907 J. G. Droysens Historik in ihrer Bedeutung für die moderne Geschichtswissenschaft heraus und fügte seiner Abhandlung eine Nachschrift der mündlichen Vorlesung von 1858 an. 1937 brachte Droysens Enkel Rudolf Hübner unter der Mithilfe Friedrich Meineckes erstmals die Historik-Vorlesung aus dem Jahr 1881/82 heraus. 73 Schließlich rekonstruierte Peter Leyh 1977 eine erste Fassung der Historik aus dem Jahr 1857. 74 Gut zehn Jahre bevor er das erste Mal seine Vorlesung Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte halten wird, protokolliert Droysen Geschichte. Droysen ist Abgeordneter der Kieler provisorischen Regierung beim Deutschen Bundestag, Mitglied des verfassungsvorbereitenden »Siebzehnerausschusses«, Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und gewählter Schriftführer des Verfassungsausschusses unter dem Vorsitz von Friedrich Daniel Bassermann. 75 In der Nationalversammlung sah sich Droysen nicht nur seinen prominent vertretenen Historikerkollegen gegenüber, sondern auch zahlreichen Juristen – neben den 94 Professoren und der 115 Personen umfassenden Gruppe der höheren Verwaltungsbeamten stellten 110 Richter und Staatsanwälte und 106 Advokaten die größte Berufsgruppe dar. 76 Droysen greift als reger »Akteur hinter den Kulissen« 77 selten direkt in die Diskussionen ein, und in seinen Aufzeichnungen finden sich wenige Verweise auf persönliche Stellungnahmen zu den einzelnen Artikeln und Paragraphen des auszuarbeitenden Grundrechtskatalogs. Aber er schreibt sich ein: Sein Protokoll ist »meisterhaft«, es hat »nur einen geringen kanzleimäßigen Anstrich«, es zeichnet »die Verhandlungen auf das unterhaltendste und geistreichste«, er selbst ist, so Robert von Mohl in seinen geschwätzigen Lebenserinnerungen, »ein stummer Redner«. 78 Droysen macht »Politik mit Proto73 Christoph David Pflaum, J. G. Droysens Historik in ihrer Bedeutung für die moderne Geschichtswissenschaft. Geschichtliche Untersuchungen; Bd. 5, H. 2, Gotha 1907. Johann Gustav Droysen. Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, München 1937. [Im Folgenden: H HÜB] 74 Peter Leyh stellt fest, dass die Vorgängerausgabe aus mehreren Jahrgängen kompiliert war. [H XV] Beide Versionen unterscheiden sich durch eine leicht modifizierte Konzeption der Vorlesung und durch eine Anpassung an den aktuellen Forschungsstand. Zudem wirkt die spätere Fassung in ihrem sprachlichen Gestus etwas abgerundeter und ist mancherorts detaillierter, wobei angemerkt werden muss, dass Hübner Kürzungen und stilistische Glättungen vornahm. Im Folgenden wird weitgehend die Ausgabe von Leyh genutzt und bei wichtigen Passagen ergänzend auf die Ausgabe von Hübner zurückgegriffen. 75 Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, hier insb. S. 90-152. 76 Heinrich Best/Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 (=Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 8), Düsseldorf 1998. 77 Nippel, Johann Gustav Droysen, S. 112ff. 78 Robert von Mohl, Lebenserinnerungen 1799-1875, Bd. 2, Stuttgart u. Leipzig 1902, S. 60.

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kollen« 79, oder um ein von ihm später häufig gebrauchtes Wort zu benutzen, er macht aus Geschäften Geschichte, wenn auch Geschichte in einer ersten Rohversion – die von ihm aufgezeichneten Diskussionen und Anträge werden für die Veröffentlichung von ihm stark redigiert. Die »Grundrechte des Deutschen Volkes« wurden zuerst am 28. Dezember 1848 im Reichsgesetzblatt verkündet, um dann im vierten Abschnitt mit der Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 verabschiedet zu werden. Die Paulskirchenverfassung – deren direkte Wirkung aufgrund des Scheiterns der Revolution eingeschränkt blieb, jedoch im Hinblick auf die weitere Verfassungsentwicklung Deutschlands Maßstäbe setzte – ordnete im letzten Artikel IX des Grundrechtskatalogs die Gerichtsverfassung und Prozessordnung. Neben der Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit, der Cabinetts- und Ministerialjustiz und der Einschränkung der Militärgerichtsbarkeit proklamierte man als eine der Hauptforderungen der während der Revolution vorgebrachten Petitionen die Einführung des öffentlichen und mündlichen Anklageprozesses, die Einrichtung von Schwurgerichten bei schweren Straftaten und die Schaffung von Staatsanwaltschaften. Der Paragraph 45 setzte Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens fest, während sich der Paragraph 46 dem Anklageprozess widmete und bestimmte, dass Schwurgerichte bei schweren Strafsachen und bei allen politischen Vergehen eingesetzt werden sollten. 80 Diese Bestimmungen waren unter den Mitgliedern des Verfassungsausschusses im Wesentlichen unumstritten, war doch die Notwendigkeit einer Reform der Gerichtsverfassung allgemein anerkannt, durch eine langjährige Diskussion vorbereitet und in einzelnen Ländern schon teilweise umgesetzt worden. In der Rechtsgeschichte ist diese Entwicklung überwiegend im Licht eines rechtsstaatlichen und humanitär-liberalen Fortschrittsprozesses gedeutet worden. Für die Entstehung der preußischen Staatsanwaltschaft 1846 ist die Grundlage jedoch keineswegs allein ein liberales Reformbestreben, sondern der Wille zur Beschleunigung des mühsamen schriftlichen Gerichtsverfahrens mit der gleichzeitigen Intention, ein Korrekturinstrument zu schaffen, mit dem der Staat ein Rechtsmittel gegen Gerichtsurteile in die Hand bekommen wollte. 81 Droysen hielt dazu in seinen Aufzeichnungen zur Arbeit des Verfassungsausschusses fest, dass »zur Erklärung dieses Artikels […] wenige Bemerkungen genügen [werden]; die Notwendigkeit einer Reform unseres Ge-

79 Vgl. Nippel, Johann Gustav Droysen, S. 145ff. 80 Aus den Grundrechten des deutschen Volks, RGBl. v. 28. Dezember 1848. Abgedruckt in: Adolf Laufs, Recht und Gericht im Werk der Paulskirche (=Juristische Studiengesellschaft; H. 139), Karlsruhe 1978, S. 48f. 81 So die kritische Interpretation von: Peter Collin, Die Geburt der Staatsanwaltschaft in Preußen, in: forum historiae iuris, 12. März 2001, url: http://s6.rewi.hu-berlin.de/online/fhi/articles/0103collin.htm; 17.06.2009. Nach vorbereitenden Diskussionen wurde die Staatsanwaltschaft in Preußen extra für den Prozess gegen polnische Aufständige ins Leben gerufen, und zwar bezeichnenderweise ohne die zentrale liberale Forderung der Öffentlichkeit des Verfahrens.

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richtswesens in der hier eingehaltenen Richtung ist allgemein anerkannt.« 82 Entgegen einem Antrag von Georg Beseler – mit dem Droysen Zeit seines Lebens einen kontinuierlichen Briefwechsel pflegte – wurde festgelegt, dass alle politischen Vergehen vor Schwurgerichten verhandelt werden sollten, denn die von Beseler getroffene Unterscheidung von leichten und schweren politischen Vergehen schien den Mitgliedern nicht nur zu unbestimmt, sondern auch inakzeptabel, da jegliche politische Vergehen »durch die gesellschaftlichen Beziehungen geschärft und so bedeutend« seien, dass man öffentliche Schwurgerichte brauche. 83 Das Grundrecht der Pressefreiheit schloss keinesfalls »Preßvergehen« aus, diese sollten jedoch nach der Verabschiedung eines Reichspressegesetzes generell vor Schwurgerichten verhandelt werden. In einem anderen Punkt konnte sich der konservative Beseler durchsetzen, als es darum ging, die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen »im Interesse der Sittlichkeit« gegebenenfalls einzuschränken – was neben dem Ausschluss von Kindern und Jugendlichen besonders auf »verletzbare Frauen« gemünzt war. Gestritten wurde auch um die Trennung von Verwaltung und Justiz, doch einigte man sich letztlich im Sinne einer konsequenten Gewaltenteilung darauf, dass der Polizei insgesamt keine Gerichtsbarkeit zustand, auch nicht bei sogenannten »Polizeivergehen«. Angeregter als über das Gerichtsverfahren war die Diskussion des Artikels III über die Unverletzlichkeit und Freiheit der Person, mit dem die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe (ausgenommen das Kriegs- und Seerecht) und der peinlichen Strafen (Pranger, Brandmarkung, Züchtigung) einherging, ebenso die Unverletzlichkeit der Wohnung, der Schutz vor Beschlagnahmung von Schriften und Briefen sowie die Wahrung des Briefgeheimnisses. Hierbei kümmerte man sich auch um die gesetzlich geregelten Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte, was einerseits zurückzuführen war auf die Erfahrung von polizeilicher Willkür, Verhaftungen und Beschlagnahmen nach den Karlsbader Beschlüssen und bei den sogenannten Demagogenverfolgungen. Andererseits wurde in der mit kriminalistischem Detailinteresse geführten Diskussion ein bürgerliches Bedürfnis nach öffentlicher Sicherheit sichtbar, das auf den polizeilichen Schutz vor Verbrechen setzte. 84 Unkontrovers schien, dass eine Verhaftung nur aufgrund eines richterlichen Haftbefehls vorgenommen werden konnte, doch stellte sich die Frage – im Rahmen einer Diskussion der Grundrechte durchaus erstaunlich –, ob man eine Verhaftung bei der Entdeckung eines Verbrechens »auf frischer Tat« vornehmen könne und ob man dabei gegebenenfalls das Recht habe, eine »Haussuchung« vorzunehmen. Droysen gab hier protokollarisch höchst detailreich eine Bemerkung Carl Anton Mittermaiers wieder, der nun Mitglied des linken Zentrums in der 82 Johann Gustav Droysen, Die Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses der Deutschen Nationalversammlung. Erster Theil, Leipzig 1849, S. 83; auch S. 46f. Daraufhin schlug der Abgeordnete Scheller vor, dass die Geschworenen gewählt werden sollten, während Beseler dem widersprach. 83 Johann Gustav Droysen, Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung aus dem Nachlaß von Johann Gustav Droysen, hg. v. Rudolf Hübner (=Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts; Bd. 14), Stuttgart 1924, S. 222. 84 Vgl. Droysen, Aktenstücke und Aufzeichnungen, S. 192-195.

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Paulskirche war: »Er sei von Praktikern darauf aufmerksam gemacht, daß hier etwas vergessen sei. Wenn ein Verbrecher sich in ein Haus flüchtet, so würde ihn das Hausrecht schützen, wenn wir hier nicht eine Modifikation eintreten lassen, wie denn in England dergleichen ausdrücklich ausgesprochen ist. Er schlage vor: ›Unverletzlichkeit der Wohnung ist kein Hindernis zur Verhaftung eines gerichtlich Verfolgten.‹« 85 Einigen Diskussionsteilnehmern erschien schon die Wortwahl merkwürdig, denn es hieße doch wohl nicht »auf frischer Tat verfolgen«, sondern »ergreifen«. Auf Vorschlag Dahlmanns wurde dann die einschränkende Bemerkung »außer im Falle der frischen Tat« in den Artikel III, Paragraph 8 aufgenommen, der die Bestimmungen zum Haftbefehl enthielt. Wenig später, als es um die Unverletzlichkeit der Wohnung ging, ergriff wieder Mittermaier das Wort: »Die Haussuchung kann nur auf dem Grund eines richterlichen, mit Gründen versehenen Befehles erfolgen, ausgenommen in den Fällen, in welchen ein auf frischer Tat ergriffener Verbrecher von den hierzu berechtigten Beamten verfolgt wird, oder wo die Gesetze die Haussuchung auch ohne richterlichen Befehl gestatten.« 86 Kriminalistisches Wissen war unter den Mitgliedern des Verfassungsausschusses weit verbreitet. So wollte Georg Beseler den Schutz politisch Verfolgter, doch lag ihm daran, »dem Verbrecher kein Privilegium« einzuräumen. Der Jurist und Rechtshistoriker Heinrich Ahrens aus Salzgitter wusste, wie die Polizei in Belgien vorgeht, und der Breslauer Nationalökonom Johann Ludwig Tellkampf berichtete aus England, dass dort die Polizei in übelberüchtigten Häusern (ein Ausdruck, den Droysen vorsichtshalber in Anführungszeichen setzte) jederzeit Zutritt habe. Schließlich beauftragte man Mittermaier als anerkannten Spezialisten, mit der Vorkommission einen genauen Gesetzestext auszuarbeiten. Die Protokolle dieser Diskussionen zeigen, dass Droysen in das Reformwerk zur Gerichtsverfassung direkten Einblick hatte. Der Entwurf einer kriminalistischen historischen Methodik und mit ihr die Metapher des Untersuchungsrichters, wie Droysen sie in seiner Historik entfaltete, war also nicht nur eine Reformulierung der antiken und frühneuzeitlichen Rhetoriktradition, sondern konnte auf ein während der Nationalversammlung erworbenes kriminalistisches Wissen aufbauen. Mit der Einführung des Schwurgerichts und des Anklageprozesses durch das Frankfurter Nationalparlament hingen jedoch wie gesehen noch zwei weitere Aspekte zusammen, nämlich die »freie richterliche Beweisführung« und die Anerkennung des »circumstantiellen Beweises« bzw. des Indizienbeweises als vollgültigem Beweis vor Gericht. In beiden Prinzipien ist die rechtshistorische Grundlage jenes Indizienparadigmas erkennbar, das sich Carlo Ginzburg zufolge gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildet habe. Dieses Indizienparadigma sollte nun nicht nur für die Konstituierung der Humanwissenschaften bedeutungsvoll werden, sondern auch für die Historik Droysens und die Gedankenwelt eines empirisch geprägten, politisch staatstragenden Historismus. Darüber hinaus entstanden durch das neue Beweisrecht auch neue populäre kriminalistische und detektorische Erzählformen, die von der Geschichtswissenschaft adaptiert werden konnten. 85 Ebd., S. 192. 86 Ebd., S. 194.

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3 Droysens kriminalistische Methodik Johann Gustav Droysens Historik ist wohl »der bedeutendste Text zur Theorie der Geschichtswissenschaft« 1 des 19. Jahrhunderts, der eine »Neubestimmung des Verhältnisses von Methodologie, Erkenntnistheorie und Wissenschaftspraxis« 2 vornimmt. Droysen entwickelt hier das Konzept einer hermeneutischen Geschichtswissenschaft, in der das »forschende Verstehen« die zentrale erkenntnistheoretische Operation darstellt. Die wissenschaftstheoretische Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen findet hier erstmals eine tiefere Ausarbeitung. Nach Droysens eigenem Anspruch sollte die Historik »das Organon für unsere Wissenschaft« bzw. die »Wissenschaftslehre der Geschichte« sein: »Sie muß uns in den Stand setzen, das, was wir historisch denkend und forschend zu tun haben und was fort und fort instinktmäßig getan wird, im Bewußtsein der Mittel und Zwecke zu tun: Sie muß die wissenschaftliche Rechtfertigung unseres Studiums enthalten.« [H 44] Diese wissenschaftliche Rechtfertigung der Historie soll nach Droysen zu dem Bewusstsein führen, »daß unsere Wissenschaft eine Weltanschauung zur Grundlage und zum Ziel hat, welche für einen weiten Bereich – den der sittlichen Welt – die wissenschaftlich normative ist und sein muß.« [H 64] In diesem Sinne umfasst die Historik als Wissenschaft der sittlichen Welt das ganze Feld des historischen Wissens – auch das des nicht-professionell ausgearbeiteten historischen Wissens, welches es durch die Fachhistoriker zu beeinflussen gilt. Denn Droysens Ziel ist es, dass das, was »in sorgsamer Forschung als wahr erkannt, auch dafür anerkannt und Gemeinüberzeugung werde.« 3 Droysens Anspruch auf eine systematische Grundlegung der Wissenschaftlichkeit der Historie wird innerhalb der Historiographiegeschichte fortgeschrieben. So kommt Jörn Rüsen zu der Einschätzung, dass die Historik die »Wissenschaftsspezifik des historischen Denkens explizieren und begründen« will und damit »den Verwissenschaftlichungsprozeß des historischen Denkens« befördert. 4 Neben solchen wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Lesarten kann die Historik vor dem Hintergrund des Historismus als »grundsätzliche Historisierung unseres Wissens und Denkens« analysiert werden. 5 Eine solche Historisierung des Historismus wird spätestens mit den Werken von Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke deutlich. Der Historismus wird zum Forschungsobjekt, und zwar in allen seinen

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Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 243. Irene Kohlstrunk, Logik und Historik in Droysens Geschichtstheorie. Eine Analyse von Genese und Konstruktionsprinzipien seiner Historik, Wiesbaden 1980, S. 30. H 221. Damit schließt Droysen an die topische Orientierungsfunktion des sensus communis an. Vgl. dazu Hebekus, S. 31-35. Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 253. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (=Gesammelte Schriften; Bd. 3), Tübingen 1922, S. 9.

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Facetten – von der Erforschung der Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts bis zu seinen wissenschaftstheoretischen, institutionen- und disziplinengeschichtlichen Voraussetzungen. 6 Hier knüpfen auch kulturalistische Lesarten an, wie die etwa von Uwe Hebekus, der die Historik »als eine Art summa der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts« begreift. 7 Seine Studie betont, wie sehr die historistische Historie auf Öffentlichkeit und kulturelle Kommunikation bezogen bleibt. Ohne eine fachspezifische Terminologie zu verwenden, bleibt die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dem interessierten Laien verbunden und greift durchgehend in den öffentlichen Diskurs ein. 8 Einer solchen kulturalistischen Lesart der Historik gehört auch ein von Hayden White verfasster Aufsatz über Droysen an, der jedoch einen dezidiert ideologiekritischen Blick entfaltet und die Historik pointiert als Ausdruck einer »bürgerlichen Ideologie in ihrer national-industriellen Phase« deutet. 9 Droysen legt nach White jene Wege offen, »auf denen Ideologie durch die Produktion einer bestimmten Form des historischen Diskurses einen erwünschten, sozial domestizierenden Effekt erzielen kann.« So ist die Historiographie für White insgesamt jene Darstellungspraxis, die sich am besten zur Herausbildung des »gesetzestreuen Bürgers« eignet, und zwar nicht deshalb, »weil es ihr um Patriotismus, Nationalismus oder explizites Moralisieren geht, sondern weil ihre narrativen Darstellungsformen Kontinuitäts-, Ganzheits-, Geschlossenheits- und Individualitätsvorstellungen produzieren.« 10 White legt – ganz im Einklang mit seinen eigenen geschichtstheoretischen Überlegungen – den Schwerpunkt auf Droysens »Präsentismus«, der impliziert, dass sich der Interpretationsrahmen aus der sozialen Praxis einer Gesellschaft stiftet, die ihre Geschichte schreibt. Bei Droysen findet man dies in seiner »Systematik«, die im Rahmen »sittlicher Mächte« jene Normen, Ideen, Institutionen und Überzeugungen freilegt, deren Spuren im Hinblick auf die Gegenwart untersucht werden sollen und als Tradition gedeutet bzw. im Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten »sublimiert« werden. Droysen ist für White derjenige, der aufgedeckt hat, dass Geschichte ein Diskurs ist und »weniger ein objektiver Prozeß oder eine empirische Struktur von Beziehungen«, ein Diskurs nämlich, dem es gelinge, »seine Leser in den Kreis der 6

Einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte des Begriffs Historismus bietet: Michael Schlott, Mythen, Mutationen und Lexeme – ›Historismus‹ als Kategorie der Geschichts- und Literaturwissenschaft, in: Scientia Poetica 3 (1999), S. 158-204. 7 Uwe Hebekus, Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane (=Hermaea 99), Tübingen 2003, S. 91. 8 Wolfgang Hardtwig, Erinnerung, Wissenschaft, Mythos. Nationale Geschichtsbilder und politische Symbole in der Reichsgründungsära und im Kaiserreich, in: Ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 224-263. 9 Hayden White, Droysens Historik. Geschichtsschreibung als bürgerliche Wissenschaft, in: Ders., Die Bedeutung der Form, S. 108-131. 10 Ebd., S. 112. »Ideologie« ist also für White keine verzerrte Wiedergabe der Realität, sondern immer an eine bestimmte Darstellungspraxis gebunden.

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Moralbegriffe, die ihren praktischen sozialen Horizont bestimmen, zu integrieren; sie anzuleiten, diesen Kreis als ihr eigenes Gewissen und als Garant der Integrität ihres Selbst zu identifizieren; und schließlich sie zu zwingen, diesen Kreis von Moralbegriffen als die Wirklichkeit zu bestätigen, gegen die sie nur mit dem Risiko des Verlustes ihrer ›Menschlichkeit‹ verstoßen konnten.« 11 Um nun der Frage nachzugehen, wie sich die Veränderungen im strafrechtlichen Beweisrecht und einer sich im 19. Jahrhundert neu konstituierenden Kriminalistik auf Droysens Historik auswirkten, scheint weniger die »Systematik« als vielmehr sein Methodikkapitel relevant zu sein. Die »Methodik« gliedert sich in die – für spätere Einführungen in die Geschichtswissenschaft traditionsbildenden – Abschnitte Heuristik, Kritik, Interpretation und »Apodeixis« (bzw. »Topik« in späteren Fassungen), die in einer komplexen Beziehung zueinander stehen: »Das Objekt für unser Tun ist ein Gegebenes; heuristisch bestimmen wir es, durch Kritik machen wir es fertig zum Verständnis, durch die Interpretation bemächtigen wir uns seines Inhalts, um es apodeiktisch in seine wahre Stelle einzuordnen.« [H 65] 3.1 H EURISTISCHE B EFRAGUNGSTECHNIK Der entscheidende Ausgangspunkt jeder historischen Forschung ist die die Suche einleitende, interessengeleitete Frage und weniger der kritische Zweifel an der Überlieferung. [H 107] Auf die Forschungsfrage folgt »das Besinnen der Frage auf sich selbst«: »Wie diese Frage beantworten? Der erste Schritt ist natürlich, dass wir den Speer gleichsam umkehren. Wie kam ich zu dieser Frage? Woraus entstand mir ein Bild von dem Vergangenen, diese Vorstellung von den Personen?« [H 66] Der Forschende begibt sich nach einem ersten Studium der Literatur und des vorhandenen Quellenmaterials mit einer Forschungsfrage zum Archivar »mit der Sorge, das Material zu ihrer Beantwortung zu gewinnen« – es geht um das »Finden des Materials«. [H 100] Schnell bemerkt der Forscher, dass das, was direkt als historisches Material oder gar Quelle vorliegt, »unverhältnismäßig wenig ist«. Jetzt beginnt, so Droysen, die eigentliche »heuristische Kunst«, die lehrt, »im Dunkeln allmählich sehen« zu lernen, denn: »es ist immer mehr Material vorhanden, als es auf den ersten Blick scheint«: »Diese Kunst der Heuristik hat nicht etwa bloß auf entlegenste und verschollene Dinge ihre Anwendung. Sie ist vielleicht in noch höherem Maße für die nahen und nächsten Verhältnisse anwendbar; denn ihr Wesen ist, die wesentlichen Gesichtspunkte zu fassen und unter ihnen das betreffende unter der Masse des vorhandenen Materials zu sammeln und zu erörtern. Die richtige Fragestellung erst macht es möglich, daß die Dinge sprechen. Ja die täglich geschehenden Dinge stehen durchaus unter demselben Gesetz. In jedem Kriminalfall wiederholt sich die heuristische Kunst und sie hat da recht eigentlich die Hauptrolle. Die Publizistik, d. h. die Geschichtsbetrachtung der Gegenwart laboriert vor allem an dem Fehler, daß sie dieser, der eigentlich staatsmännischen Weise des Kombinierens nicht zu bedienen versteht, die zur Beantwor-

11 Ebd., S. 131.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker tung der jedesmaligen Frage wesentlichen Materialien nicht kennt oder kennen will, sich lieber mit den Doktrinen und Abstraktionen begnügt, statt die realen Momente zu fassen oder zu suchen.« [H 104]

Die Kunst der heuristischen Ausgangsfrage des erkenntnissuchenden Forschers orientiert sich am kriminalistischen Vorgehen. Das »Geheimnis der historischen Studien« [H 105] und die Frage, wie der Forscher überhaupt zu einer Frage kommt, versucht Droysen psychologisch auszudeuten, um sie letztlich intuitionistisch aufzulösen. Forschen setzt zunächst die Reflexion voraus, dass »der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist«. [H 106] Eine vernünftige historische Frage könne also nur auf der Basis von kulturellem und wissenschaftlichem Erfahrungswissen entwickelt werden, bei der man sich darüber bewusst sein müsste, dass diese gleichzeitig die Erkenntnisbedingungen der Frage bestimmt. Bei der Analyse der Struktur der heuristischen Frage zeigen sich der »staunenswürdige Scharfsinn« und »die Kunst, durch Kombination sich Material zu schaffen, wo scheinbar keines oder ungenügendes vorhanden war«. [H 102] Zwar könne man »keine Materialien schaffen, die nicht vorhanden sind«, doch mit der richtigen Frage zeige sich, dass viel mehr vorhanden ist, als zunächst vermutet wurde. So komme es auf die »Genialität des Forschers« an, »daß er […] zu finden weiß, wo andere Menschen nichts sahen, bis ihnen gezeigt wurde, was alles da sei.« 12 Die historische Frage ist eine »Intuition«, die sich nicht aus »Grübeln und Nachdenken« ergibt, sondern »aus der Totalität unseres Ichs hervorspringt, scheinbar unvermittelt, plötzlich, wie von selbst, in der Tat aber aus der ganzen auf diesen Punkt hin gereiften Fülle unseres geistigen Daseins.« [H 107] Unter psychologischen Gesichtspunkten erscheint die historische Frage als ein »zündender Funke«, als ein »Akt der Empfängnis«, bei dem sofort alle »Kräfte und Säfte« in uns arbeiten, »das Empfangene zu formen«: »Wie in einem Gedankenblitz tritt uns ein Etwas vor die Seele, das wir nicht hatten und nicht wussten, und doch bricht es aus unserem innersten Wesen hervor, wir empfinden es sofort als unser eigenstes: Es ist unsere Auffassung dieser Gestaltungen, unser Bild von diesem Helden, unser Verständnis dieser Tatsachen.« [H 109]

Man könnte diese intuitionistische Erklärung der Entstehung einer Forschungsfrage sicherlich vor dem Hintergrund eines klassischen Geniegedankens und der divinatorischen Gabe des Forschers interpretieren. Jedoch erscheint in Droysens Ausführungen zur Heuristik vielmehr jener Prozess offengelegt zu sein, der sich mit Charles Sanders Peirce im Rahmen einer Entdeckungslogik als abduktives Schlussfolgern bezeichnen lässt, der auch der psychologischen Dimension der Entstehung wissenschaftlicher Hypothesen nachgeht. 13

12 H 105. Das »Historikergenie« grenzt sich vom Bild des »strebenden Forschers« ab, der sich begnügt »zu sammeln, zu registrieren, im einzelnen zu kritisieren«, und von jenen, die meinen »Historiker zu sein, wenn sie eine Menge Geschichten nacherzählen oder zu handlicheren verarbeiten.« H 109. 13 Vgl. dazu Kapitel III, 2.7.

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Im Zusammenhang mit der Heuristik, die eine Typologie des historisch Gegebenen und Überlieferten bietet und nicht nur zu der traditionellen Unterscheidung von Überresten, Denkmälern und Quellen führt, sondern Überlegungen zu historischen Sammlungen, der Museumskultur und dem Archivwesen enthält, entwickelt Droysen seine Zeitkonzeption, die in ihrem »Präsentismus« (White) wichtig für die Darstellung des Forschungsprozesses wird. Die historische Ausgangsfrage ist in doppelter Weise gegenwartsbezogen. 14 Zunächst ist das Material aller empirischen Forschung »ein gegenwärtiges«: »Denn nur das von dem Vergangenen noch gegenwärtige ist nicht vergangen«, gleich ob es in Erzählungen, Schriften und Denkmälern als »ein Stückchen unvergangene Vergangenheit« erhalten geblieben ist. Geschichte bleibt so immer eine »Projektion aus der Gegenwart in die Vergangenheit«, eine Rekonstruktion, wie Droysen im Anschluss an Schleiermacher und Hegel formuliert. 15 Aus diesem Gegenwartsbezug historischen Erkennens folgt, dass das »ganze weite Nacheinander, das wir uns so ideell konstruieren« eine »unermessliche Reihe von gewesenen Gegenwarten« darstellt. Jede dieser vergangenen Gegenwarten hat wiederum ihre jeweiligen Auffassungen von Vergangenheit und Gegenwart: »Das Handeln und Sein in jeder Gegenwart bestimmt sich aus den gegenwärtigen Anlässen, Motiven, Zwecken und Charakteren; es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.« Keinem verständigen Mann käme es jedoch in den Sinn, dass »er Geschichte machen will«, schreibt Droysen neun Jahre nach der Revolution. 16 Der Historiker betrachtet in seiner Gegenwart eine vergangene Gegenwart, die er als Geschichte auffasst. Historisch ist, was historisch aufgefasst wird, und keinesfalls die Vergangenheit selbst. Um aus »Geschäften Geschichte« zu machen – eine der beliebten Redensarten Droysens –, müssen die vergangenen Gegenwarten transponiert und so für die »Erinnerung, für das historische Bewusstsein, für das Verständnis« aufbereitet werden. Der »Reichtum« einer Gesellschaft misst sich für Droysen daran, wie diese sich erinnert und das Gewesene gegenwärtig hält. Gesellschaften, die sich ihrem Gewordensein durch und durch bewusst sind und ihre eigenen Archive anlegen, erzeugen für den Historiker ein heu14 Vgl. zum Folgenden: H 67-71. 15 Zur Rekonstruktion bzw. zum »nachconstruieren« im Verstehensprozess bei Schleiermacher siehe: Viktor Lau, Erzählen und Verstehen. Historische Perspektiven der Hermeneutik (=Epistemata, R. Philosophie; Bd. 271), Würzburg 1999, S. 296. Zur Geschichtsschreibung als einer »Reproduktion« einer »vorgestellten« Vergangenheit bei Hegel vgl. Hans-Jürgen Pandel, Mimesis und Apodeixis (=Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 1), Hagen 1990, S. 118. 16 1848 hingegen war Droysen von der aktiven Gestaltung der Geschichte noch überzeugt: »Wir sind berufen, Geschichte zu machen, sind verantwortlich dafür, daß wir sie, nicht […] sie uns mache.« Johann Gustav Droysen, Politische Schriften, hg. v. Felix Gilbert, München 1933, S. 144. Danach schlägt der Versuch der Umgestaltung in eine Krankheitsgeschichte bzw. Pathologie der Gegenwart um, die jedoch die Hoffnung auf Therapie nicht aufgibt. Vgl. dazu das Kapitel »Pathologie und Therapie der Geschichte« in: Jörn Rüsen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens, Paderborn 1969, S. 89-116.

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ristisches Problem, denn mit steigender historischer Bildung schwillt das historische Material an, welches historisch befragt werden kann. Der Buchdruck und die zunehmende Produktion von Texten aller Art bewirkt eine Situation, in der sich die Gegenwart zunehmend selbst historisiert: »In jedem Augenblick prägt sich uns die Gegenwart in verhältnismäßig gründliche und umfassende historische Darstellung um, und kein irgend bedeutendes Geschäft des öffentlichen Lebens geschieht mehr ohne das lebendige Bewusstsein des historischen Zusammenhangs, in den es eintritt und den es weiterführen soll. In jedem Augenblick und sofort vollzieht sich jetzt das Umsetzen des Geschäfts in Geschichte, und die Verwertung der Geschichte für die Geschäfte.« [H 69]

3.2 V OM »G ESTÄNDNIS «

ZUM

»T ATORT «

DER

V ERGANGENHEIT

Innerhalb der Heuristik nimmt Droysen Differenzierungen von Quellengattungen vor anhand der Parameter Überrest, Denkmal, Quelle und Tradition, Zeuge, Kompilator und Interpret sowie anhand der Unterscheidung von subjektiven gegenüber pragmatischen Quellen, direkten bzw. »ersten« Quellen gegenüber abgeleiteten Quellen, die in der Tradition der seit dem Humanismus kontinuierlich ausgebauten philologischen Kritik stehen. Die übersichtliche, systematische Klassifikation der Quellengattungen ist im Bereich der Geschichtswissenschaft eine wesentliche Erneuerung gegenüber Lehrbüchern, die noch zu Beginn des Jahrhunderts geschrieben wurden. 17 Bei der Unterscheidung von »Auffassung« und »Aufgefasstem«, zwischen dem »Subjektiven« und dem »Sachlichen« von Quellen analysiert Droysen die verschiedenen Spielarten der Eitelkeiten und Effekte, mit denen die Quellen den Blick auf das Sachliche verstellen (bzw. würzen). So sei in der Publizistik mit »größerer Freiheit einseitiger Beurteilung« zu rechnen, da der Journalist »der plädierende Advokat« sei und »nicht, wie der Historiker sein soll, der urteilende Geschworene«. [H 90] Droysens Unterscheidung von »subjektiven« Quellen und »sachlichen« bzw. »pragmatischen« Quellen wirkt dabei einigermaßen artifiziell. Denn er verweist gleichzeitig darauf, dass auch das pragmatisch Tradierte keineswegs eine objektive Darstellung liefert, sondern nur die Absicht gehabt habe, »sachgemäß […] nach der Richtung des äußeren Verlaufs oder nach der des inneren Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck« die Dinge zu schildern. [H 93f] Ebenso problematisch bleibt seine Unterscheidung von ersten und abgeleiteten Quellen. Als weiteres kritisches Verfahren nennt Droysen die Quellenkritik – wobei Quellen hier als »Darstellungen, deren ausdrückliche Bestimmung war, Geschehenes aufzufassen in der Absicht, es der Erinnerung zu überliefern« definiert werden. [H 145] Sie geben nicht nur einen Bericht von Geschehnissen, sondern sie sind »gleichsam ein Medium«, durch welches man auf die »Atmosphäre« der Zeit schließen kann. Drei Faktoren – das Tatsächliche, der Gedankenkreis des Zeitalters und der des Autors – müssen herausgelesen

17 Vgl. Friedrich Rühs, Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums, Berlin 1811. Wilhelm Wachsmuth, Entwurf einer Theorie der Geschichte, Halle 1820.

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werden. [H 146] Es geht nicht darum, »ob x aus y abgeschrieben hat, ob y den Vorzug der Autopsie besitzt«, sondern es geht um die Richtigkeit des in der Quelle Berichteten. Dazu fragt der Historiker, ob der Verfasser aus der historischen Gegenwart stammt, über die er berichtet, in welchen persönlichen Beziehungen der Autor zu seinem Gegenstand steht, ob er Gelegenheit hatte, das Rechte zu erkunden, und ob seine Auffassung durch Persönliches getrübt war. Weiterhin fragt der Historiker nach dem Gedankenkreis von Zeit und Autor, um den »Hauch der Gegenwart« zu spüren, so dass man eine »bestimmte Ansicht« gewinnt, nicht »die eigentlichen Tatsachen«. [ H 153; 11] Droysen zufolge können auch wesentlich später geschriebene Werke als »erste Quelle« begriffen werden, wenn in ihnen neues Material verarbeitet wurde. Mit dieser Definition kann Droysen auch Rankes Reformationsgeschichte als »erste Quelle« bezeichnen, und für die weitere »historische Kritik wird diesen Spätlingen gegenüber die wesentliche Aufgabe darin bestehen, daß sie die neu kombinierten alten Nachrichten aus ihrer neuen Umgebung und Kombination herauslöse und soweit möglich in ihre alte Atmosphäre zurückbringe.«18

Entgegen der »eunuchischen Objektivität« Rankes und dem »platten Skeptizismus« Gotthold Ephraim Lessings, der dem Geschichtsschreiber angeraten hatte, sich auf die Zeitgeschichte zu konzentrieren, da er ihr Augenzeuge sei, lag Droysen daran, der Geschichtswissenschaft den »Sinn für die Wirklichkeit« zu erhalten, und zwar den Sinn für die gegenwärtige wie auch vergangene Wirklichkeit. 19 Droysen, der die Praxis der kritischen Schule im Gegensatz zu ihrer Theoriebildung ausdrücklich lobt, kritisiert vor allem die mechanische und schablonenmäßige »Hauptrolle der Autopsie, aus der die ersten Quellen hervorgehen« und die Beschränkung der Untersuchung auf die »Nähe oder Ferne einer Quelle von der autopischen Nachricht«. [H 146] Wichtiger als die räumliche und zeitliche Nähe zum Geschehen sei, »ob der Schreiber in Verhältnissen lebte, die es ihm möglich machten, sich hinreichend zu orientieren.« [H 150] Anzuerkennen sei vor allem das »erste Verständnis« bzw. eine »erste Zusammenfassung« des Geschehens als Geschichte, der Entwurf eines »Gegenbildes des Geschehenen nach seiner Bedeutung,

18 Dazu darf man die von einem Historiker genutzten Archive nochmals aufsuchen, oder aber man könne die »Darstellung sich so zerlegen, dass man seine einzelnen archivarischen Angaben ablöst von der Form und dem Zusammenhang, in den er ihn gestellt hat; man würde das Mosaikbild, das er komponiert hat, zerlegen, um sich die einzelnen Stiftchen zu einer neuen Komposition reinlich und handlich zurechtzulegen.« H 155. 19 H 99f: »Man sieht, die abgeleiteten Quellen sind Auffassungen von Auffassungen. Allerdings schon die ersten Quellen sind nicht die objektiven Tatsachen, sondern Auffassungen von ihnen, aber solche die das Vorurteil haben, unmittelbar den Objekten nahe, sie im wesentlichen richtig aufgefaßt zu haben«. Der Rekurs auf Lessing: H 94.

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seinem Zusammenhang und seiner Wahrheit«, aus dem man auf das historische Bewusstsein eines Zeitalters schließen könne. 20 Droysens polemische Haltung gegenüber dem Primat der historischen Augenzeugen bzw. der autopischen Nachricht und seine Kritik der philologischen Suche nach den »ersten Quellen« lassen sich nicht allein aus seiner Forderung einer konzeptionell bzw. ideengeleiteten, klar perspektivisch orientierten Syntheseleistung der Historiographie ableiten. Diese lassen sich auch kaum allein aus dem Gedanken ableiten, demzufolge es für die Gegenwart weniger wichtig sei, den Ursprüngen nachzugehen, als vielmehr einen historischen Geschehensprozess zu verstehen, indem das Werden zeitgenössischer Ideen betrachtet werden kann. Vielmehr erscheint als wichtigster Faktor bei der Abkehr vom Primat der Augenzeugenschaft die Veränderung des Beweisrechts durch die zeitgenössischen Strafverfahrensreformen. 3.3 D IE K RITIK

DES

T ATBESTANDES

Mit progressivem Impetus betonte Droysen, dass sich die historische Forschung »von den konventionellen und vererbten Auffassungen« freimachen und »das Ererbte von neuem erwerben« sollte. Droysens Auffassung implizierte, dass jede Gegenwart sich ihre eigene Geschichte erarbeiten müsse, »weshalb das Material neu durchgearbeitet werden muss.« [H 111] Dazu bedarf es – wie erwähnt – nicht notgedrungen des Ganges in die Archive, um bisher unbekanntes Quellenmaterial aufzustöbern, sie kann auch einen Remix aus historiographischen Werken produzieren. Historische Kritik ist für Droysen »die Sichtung und Untersuchung eines Gegebenen«, die »Prüfung« des durch die Heuristik gewonnenen Materials, wobei eine »Fülle von besonderen und allgemeinen Kenntnissen nötig [ist], in deren Kombination eben die Prüfung sich vollzieht«. Die historische Kritik bleibt immer auf das durch die Heuristik gewonnene Material bezogen. Damit soll sie sich vom Konjekturenmachen der Philologie, vom »Besserwissen« der Kunstkritiker und von der spekulativen Untersuchung Kantischer Prägung unterscheiden. [H 111f] An der »kritischen Schule« um Pertz und Ranke kritisierte Droysen, dass sie in der Quellenkritik, welche »die Berichte authentisch zu machen habe«, allein die ganze Methode der Geschichtswissenschaft sehen würde, wobei er einschränkend betonte, dass die theoretischen Ansichten der kritischen Schule nur selten ausgearbeitet worden seien. Nach einer solchen Auffassung müssten nur die »fertigen Quaderstücke, nämlich die eigentlichen Tatsachen, […] zusammengebaut werden, dann sei das schöne historische Werk fertig.« [H 114] Droysens bekannte Kritik eines objektivistischen Tatsachenbegriffs mündet in den von ihm favorisierten Begriff des Tatbestandes, der die Komplexität eines Ereignisses betont, wobei eine Tatsache im eigentlichen Wortsinn als Handlung und Willensakt begriffen wird. So sei

20 Vgl. H 148f. Der Wert der Darstellung Herodots liege eben nicht in der Gewähr der Autopsie, sondern in der Transformation der kollektiven Erinnerung in Geschichte.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter »der ganze Begriff der eigentlichen, der objektiven Tatsache […] ein völlig unklarer und willkürlicher; was als solche bezeichnet wird, ist in der Regel ein vielfach zusammengesetzter Akt, der der Natur der Sache nach ebensoviel Auffassungen gestattet, als er Seiten hat.« [H 114]

Vielmehr seien unter dem Begriff der Tatsache jene »Willensakte« zu verstehen, die sich »je in ihrer Gegenwart einen Ausdruck, eine Bestätigung geben«. [H 114] Komplexe historische Ereignisse bestehen in der Konkurrenz unzähliger Willensakte; Tatsachen sind Abstraktionen, die eine Fülle von Detailereignissen und Willensakten umfassen. Die Willensakte bilden den eigentlichen »geschichtlichen Bereich« und führen direkt zum Begriff der »sittlichen Welt«. Willensakte können sich auf ein bewusstes Wollen Einzelner oder von Gemeinschaften beziehen, aber auch als unbewusste Momente eines historischen Verlaufs rekonstruiert werden. Die Ermittlung von Willensakten ist dabei weniger interessant als die Erforschung dessen, was sich durch sie vollzieht. [H 115] Die historische Kritik kann sich jedoch »nicht mit den eigentlichen Tatsachen bzw. Willensakten« beschäftigen, da diese vergangen sind. Sie beschäftigt sich nur mit den historischen Materialien, also den »Überresten von den durch Willensakte vollzogenen Gestaltungen, Auffassungen von dem Vollziehen dieser Gestaltungen durch Willensakte«. Da das Verstehen der Interpretation vorbehalten ist, hat die Kritik nachzuweisen, dass das Material zu den zu verstehenden Willensakten in Beziehung steht. [H 116] Vier kritische Verfahren nennt Droysen: Erstens die Frage der Echtheit, zweitens das diakritische Verfahren, welches nach den Veränderungen und Bearbeitungen der Überlieferung fragt, drittens das explizit nach dem griechischen Gerichtsausdruck benannte »anakritische« Verfahren, welches als »Untersuchung der Richtigkeit« analysiert, ob eine Quelle »das ist, wofür es gehalten wird oder gehalten sein will« (oder uns nicht vielmehr etwas vormachen, vorspiegeln will), und schließlich viertens die Quellenkritik, die sich auf die Auffassungen des Autors konzentriert, ob dieser »das Richtige« sagen konnte oder wollte, und die sich wiederum auf die Trennung tradierter oder neugewonnener Ansichten konzentriert. [H 116-155] Droysens systematische Gliederung der vier verschiedenen Kritikverfahren bietet eine begriffliche Trennschärfe, die man bei seinen Vorgängern – etwa den Werken von Wilhelm Wachsmuth oder Friedrich Rühs – noch vergeblich sucht, wenn auch deutliche Anregungen sich in den Vorlesungen seines Doktorvaters August Boeckh erkennen lassen. 21 Gleichzeitig ist Droysens Darlegung der Kritik aber auch ein Kompendium der zeitgenössischen Forschung, deren »Erfolge« mit zahlreichen Beispielen wiedergegeben werden. Im Verfahren der Echtheitsprüfung, die sich vor allem auf die äußere Kritik der Quellen konzentriert, geht es um Urkunden-, Münz- und Inschriftenfälschungen, bei denen die »mannigfachsten Arten und Motive« der »Betrügereien« zu erkennen sind. [H 117 u. 126] Es geht hier sowohl um die Diplomatik und Handschriftenkunde, um Paläographie und Sphragistik, doch verweist Droysen mehr auf Handbücher, als dass er sich in die Beweisschritte 21 August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Carl Ludwig Bratuscheck, Leipzig 1877.

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der Aufdeckung von Fälschungen verstricken möchte. Erwähnung findet, dass die Urkundenfälschung im Mittelalter einen »förmlichen Geschäftszweig bildete«. Die Prüfung des Echten sei »höchst kompliziert und keineswegs immer bis zu einem völlig sicheren Ergebnis zu führen«, denn »zum vollen Beweis der Unechtheit« gehört, dass »der wirkliche Ursprung des Gefälschten, die Zeit, der Zweck der Fälschung nachgewiesen wird.« [H 118] Die Faszination an der Echtheitsprüfung ist deutlich zu spüren, wenn Droysen im Rahmen eines Beispiels davon spricht, »dem Ursprung des Falschen auf die Spur zu kommen«. [H 122] Aber auch gefälschte Dokumente können »von höchstem Wert und Interesse für die Forschung« sein, zumal dann, wenn sie in den »guten Glauben der Völker eindrangen«. 22 Das diakritische Verfahren verwendet die Methode der vergleichenden Analogie, womit nicht der Grundgedanke aufgegeben werde, dass sich die Geschichte mit »Anomalien« [H 21 u. 132] beschäftigt. Resultat der Kritik von Späterem aus dem Früheren sei eine Entwicklungsgeschichte der Umformungen und Verwandlungen, wobei sich nicht das Spätere aus dem Früheren erklärt, sondern beides sich gegenseitig stützt. [H 132 u. 138] Das anakritische Verfahren sucht nach sachlichen Unrichtigkeiten in Auffassungen und Berichten der Vergangenheit, es fragt danach, ob das Berichtete mit den menschlichen Erfahrungen in Einklang zu bringen ist, ob es unter den gemeldeten Umständen und Bedingungen möglich war und ob es Motive gibt, die Argwohn gegen die Richtigkeit begründen könnten. Droysens Hauptbeispiel für die erste Variante ist der Teufels- und Hexenglaube seit dem 15. Jahrhundert. Ganz im Horizont seiner Zeit zieht Droysen den medizinischen und psychiatrischen Diskurs heran, um die Unrichtigkeit des Hexenglaubens aufzuzeigen, der dennoch als »lehrreiche Signatur jener Zeit« zu sehen ist, denn er biete »eine Erklärung für viele medizinische, namentlich gynäkologische Erscheinungen in derselben«. 23 Der ärztliche Blick auf den Hexenglauben – der ermittelnde Historiker muss sich also den Ratschlag eines »Sachverständigen« einholen – wird von Droysen nicht als Interpretation erkannt, sondern als Anakrisis verstanden: »Die Berichterstatter wollten vielleicht nichts falsches berichten, aber sie sind unfähig, richtig zu sehen; sie lügen nicht, sie glauben, was sie sagen, ihnen ist es wahr, aber sachlich unrichtig.« 24 Droysens aufgeklärte Sichtweise (»Man fasst es nicht, wie ein Me22 Das Beispiel ist hier der Ossian von MacPherson und der umstrittene Nachweis seiner Fälschung. 23 H 139 u. H 158. Er verweist auf Juste Louis Calmail, De la folie considérée sour le point de vue pathologique, philosopohique, historique et judiciaire depuis la renaissance des sciences en Europe jusqu’au dix-neuvième siècle, description des grandes épidémies de délire, Paris 1845. Übersetzt unter dem Titel: Der Wahnsinn in den letzten vier Jahrhunderten, Halle 1848. Calmail habe es verstanden, dass diese Phänomene als »Formen der Geistesstörung« zu betrachten seien. 24 H 139: »Noch heute birgt jedes Irrenhaus Beispiele derselben Erscheinungen […] Wenn ein Arzt die Geschichte der Daimonomanie verfolgt, so wird er sich nicht überzeugen, dass darum in der Zeit der Reformation wirklich Dämonen erschienen wären, weil die berühmtesten Männer mit voller Überzeugung daran glauben. Er wird sagen, ihre Auffassung, ihr Bericht ist unrichtig, denn er hat aus seiner ärztlichen Erfahrung und psychiatrischen

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lanchthon vollkommen fest an die Astrologie glaubte, oder ein Scipio, ein Themistokles die Zeichen beim Opfer für wesentlich hielt.«) schließt eine Kritik der Aufklärung ein, für die die rationale Erklärung gleichzeitig eine historische gewesen sei. Damit habe man unhistorisch gedacht, indem man sich an eine »prosaische Auffassung« gewöhnt und diese auf Zeiten übertragen habe, in denen sie nicht vorhanden war. [H 140] Luthers Wurf mit dem Tintenfass nach dem Teufel sei deshalb »nichts anderes als subjektives Sehen und Hören«, und man müsse das »Psychologische und Pathologische« erkennen, das sich darin äußere. Weitere Beispiele für den Nachweis von Unrichtigkeiten seien »Verherrlichungen« von Siegen oder Herrschern, wobei freilich nicht historiographische Werke, sondern Kunstwerke von Droysen angeführt werden. Hinzu komme beim anakritischen Verfahren, dass auch offizielle Aktenstücke keine »Präsumtion der Richtigkeit für sich haben«, denn »der Zweck ist in den seltensten Fällen, die Tatsachen zu konstatieren, vielmehr gilt es bestimmte Eindrücke zu machen, Tendenzen zu dienen, Personen zu schonen oder zu reprimandieren usw.« [H 141] Zur Kritik der Richtigkeit gehört fernerhin eine kritische Betrachtung von Statistiken. Sie seien bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts höchst unzuverlässig gewesen, wohingegen nun der »Regierungsapparat außerordentlich raffinierter geworden« sei bei der Erhebung von Datenmaterial. Obwohl Droysen für statistische Erhebungen durchaus offen ist, da diese »ungefähr richtige Bilder« entwerfen können, hält er ihren demonstrativen Gehalt doch für dürftig: »Nichts beweist weniger als Zahlen«, Statistiken würden umso unzuverlässiger, desto detaillierter sie seien. Sie geben nur relativ richtige Vorstellungen, so Droysen, und er verweist darauf, dass man »in jeder Kammerverhandlung« sehen könne, dass »die verschiedenen Parteien aus denselben Zahlen gerade entgegengesetzte Konklusionen« machen. Ein »Übermaß an Unsinn« sei es, wenn wie bei Adolphe Quetelet oder Karl Anton Mittermaier aus solchen Zahlen »Gesetze, gar Gesetze der Geschichte« gemacht würden: »[…] in der Verbrechensstatistik rubriziert man Diebstahl, Ehebruch, Totschlag usw.; aber was ist alles in den Diebstahl zu ziehen, soll man den Jungen, der einen Baum bestiehlt, neben dem einer Diebesbande mittätigen Verbrecher gleich zählen? Die Zahlen geben ein völlig falsches Bild, wenn man nicht ihrem Inhalt tiefer nachgeht.« [H 143f]

Den vier kritischen Verfahrensweisen schließt sich als zusammenfassender Aspekt die »Kritik des Tatbestandes« an, die das kritisch parzellierte Wissen noch vor der Interpretation zusammenführt. Die verschiedenen kritischen Verfahren ergeben im speziellen Fall »eine Menge von einzelnen Resultaten, die ohne allen Zusammenhang und ohne gegenseitige Vermittlung und Zusammenhang sind«, einen »wüsten Haufen richtiger Materialien«. Damit hat man einen Tatbestand historischen Materials vor sich, der sehr weit davon entfernt sei, mit dem »realen Tatbestand jener Vergangenheit identisch zu sein«, denn von diesem sind nur noch »Trümmer, Fragmente« vorhanden. Die ungeordnete, trümmerhafte Masse müsse nun nach ihren noch erkennbaren Brüchen und Fugen so zusammengesetzt werden, dass sie dem »einst reaWissenschaft die Einsicht, dass dies Krankheitsformen sind, welche unter gewissen Verhältnissen eintreten.«

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len Tatbestand« entsprechend vorliege. Bei der Kritik des Tatbestandes werde so vorgegangen, dass man zunächst das Nacheinander bzw. die Chronologie der Einzelheiten nachzuweisen versucht, um dann »die Beziehung dem Ort nach« zu analysieren, womit auch thematische Aspekte gemeint sind. Der Zusammenhang wird so »kritisch […] fixiert«, wobei nicht »die sog. eigentliche Tatsache« gewonnen werde, sondern ein »möglichst vielseitige[r] Tatbestand, auf den wir uns verlassen können«. [H 157] Droysens emphatisch gebrauchter Begriff des Tatbestandes bedient sich einer archäologisch-kriminalistischen Metaphorik: »Der Zweck des kritischen Verfahrens ist die Herstellung nicht der eigentlichen Willensakte – denn diese als solche sind vergangen –, wohl aber die Verifizierung des in den Materialien noch vorliegenden und erreichbaren Abdruckes und Ausdruckes derselben, im glücklichsten Fall eine solche Feststellung, dass man die mannigfachen Parteien, Tendenzen, Gedanken, eben die konkurrierenden Faktoren […] in reinlichen Materialien vor sich hat. In diesem ungeordneten Tatbestand von Materialien muß der Tatbestand der einstigen Wirklichkeit, soweit es geht, wiedergefunden werden; ohne weiteres ist das nicht möglich, denn das Material liegt vor uns wie eine wüste Masse von durcheinandergeworfenen fragmentierten Bautrümmern, es kommt darauf an, nicht das Gebäude, aber den Plan und die Struktur des Gebäudes wiederzufinden; zu dem Zweck ist es notwendig, das gereinigte Material nach seinen erkennbaren Zusammenhängen, Fugen und Brüchen zusammenzulegen, so dass der Plan des Ganzen, aber auch seine Lücken erkennbar werden. Eben das ist der kritische Tatbestand. Mit der Feststellung des kritischen Tatbestandes schließt die Kritik, um so das fertige Material der Interpretation zu überweisen.« [H 117; H.i.O.]

Diese Rede vom »Tatbestand«, den der Historiker zu ermitteln habe, ist in Verbindung mit dem juristischen Strafrechtsdiskurs zu sehen. Dort löst um 1800 der Begriff des Tatbestandes den Terminus des corpus deliciti ab. 25 Nach dem von Hugo Franz von Jagemann und Wilhelm Brauer herausgegebenen Criminal-Lexikon ist es für den Criminalrichter die erste Pflicht, die hinterlassenen Spuren zu »beaugenscheinigen«, da durch die sinnliche Evidenz ein überzeugungsbildender Grad an Gewissheit entstehe. Auch nach der Ablösung des corpus delicti-Begriffes gilt der durch Augenschein wahrgenommene Tatort als ein »Vorsprung in der Beweislichkeit eines Verbre25 Vgl. Stübel, Ueber den Tatbestand der Verbrechen, S. 229. Stübel definiert den Begriff Tatbestand »als Inbegriff aller derjenigen Thatsachen, auf welche die in einem Criminalgesetze bestimmte Strafe erfolgen soll, in wie fern diese Thatsachen in der Zurechnungsfähigkeit nicht enthalten sind.« Mit dieser Definition wollte Stübel im Anschluss an andere Rechtsgelehrte wie Ernst Ferdinand Klein, Gallus Aloys Kleinschrodt und Karl August Tittman die Zurechnungsfähigkeit vom Tatbestand abgegrenzt wissen. Ziel war eine Trennung von objektivem und subjektivem Tatbestand. Nehme man den subjektiven Tatbestand - Gier, Neid, Rachsucht, psychische Disposition, »persönliche Eigenschaften« etc. - in die Strafgesetzgebung auf, so sei es, sollte einer dieser Tatbestände nicht vorliegen, nicht mehr möglich, dass objektiv begangene Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Die Tatbestandsermittlung ist der erste Schritt jeder Untersuchung, »allein die Ausmittlung des Urhebers einer That und der Zurechnungsfähigkeit ist nicht minder wichtig.«

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chens«. 26 Der corpus delicti wird dabei von den sogenannten »Überführungsstücken« terminologisch getrennt: Es ist der »körperliche Überrest« eines Verbrechens (die Leiche, die Körperverletzung, die gefälschte Urkunde, das abgebrannte Haus), während die dazu genutzten Mittel des Verbrechens (das Gift, die Waffe, die Tinte oder die Spiritusflasche) die »Ueberführungsstücke« sind, weil sie »nur eine Beziehung auf das Verbrechen zulassen, nicht aber den materiellen Erfolg desselben in Evidenz setzen.« 27 Der Tatbestand unterscheidet zwei Merkmale, erstens den »subjektiven Thatbestand«, der eine »widerrechtliche Willensrichtung« bezeichnet, und zweitens einen »objektiven Thatbestand«, der sich aus einer »äussern Handlung« und einem »nachtheiligen Erfolge« dieser Handlung, also einer Rechtsverletzung zusammensetzt. 28 Ob aber diese Unterscheidung für die Kriminaluntersuchung hilfreich sein konnte, war umstritten. Jagemann hielt sie 1838 für eine »unselige scholastische Eintheilung«, die sich »ihrer großen Bequemlichkeit und des gelehrten Scheins halber in die Praxis ziemlich allgemein eingeschlichen« habe. Vielmehr gebe es nur den Tatbestand der »verbrecherischen That«, so dass zunächst einmal festgestellt werden müsse, ob eine Übertretung des Gesetzes geschehen sei, woraus sich dann von selbst ergebe, dass ein »Subjekt hinzugedacht« werden muss. 29 Getrennt davon zu betrachten seien nämlich die Möglichkeiten der Selbstentleibung oder des Brandes aus Fahrlässigkeit – hier sei die Suche nach einem subjektiven Tatbestand, die von einem ausführenden Subjekt ausgehe, irreleitend. Einen Täter habe man nur dann zu suchen, wenn dessen Existenz wahrscheinlich sei. Zunächst gelte es, das »Fundament der ganzen Untersuchung«, den Tatbestand, »juristisch zu constatieren«. Denn was helfe »alles Aufspüren und Verfolgen von Verdächtigen, alles Verhören und Instatieren, wenn die vollkommene Gewissheit darüber mangelt, daß und wie überhaupt ein Verbrechen begangen wurde?« 30 Die Theorie des Tatbestandes ersetzte seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Theorie des corpus delicti. Das corpus delicti wurde nun als Begriff für die am Tatort zurückgebliebenen sogenannten »stummen Zeugen« verwendet. Der Tatbestand beschrieb hingegen die Zusammenfassung aller Umstände, die ein Geschehen als Delikt qualifizierten. Er umfasste das Tatsubjekt, den verbrecherischen Willen, die äußere Tätigkeit und das Tatobjekt sowie die generelle Strafbarkeit, worunter auch die Frage der Zurechnung fiel. So wurde mit den zurückgebliebenen, sichtbaren Spuren einer Tat ein zugrunde liegender Wille des Täters verbunden. Ausgehend vom freien Willen des Menschen, der es ihm erlaubt, »den Anreizungen des Bösen zu widerstehen, und zwischen Recht und Unrecht selbstständig [zu] wählen«, dürfe dem Täter 26 Stw. Corpus delicti, in: Ludwig Hugo Franz von Jagemann, Criminal-Lexikon. Nach dem neuesten Stande der Gesetzgebung in Deutschland bearbeitet von Ludwig von Jagemann und fortgesetzt von Wilhelm Brauer, Erlangen 1854. Neuausgabe Leipzig 1975, S. 173f. 27 Ebd., S. 174. 28 Stw. Thatbestand, in: Ebd., S. 605-608; hier S. 606. 29 Ludwig Hugo Franz von Jagemann, Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde. Erster Band, die Theorie der Untersuchungskunde enthaltend, Frankfurt 1838. Neuauflage Leipzig 1976, S. 24. 30 Ebd., S. 23.

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Schuld zugesprochen werden. 31 Die Voraussetzung des freien Willens erlaubte es dementsprechend, eine Aussage über die Zurechnungsfähigkeit und Absicht, den Vorsatz bzw. die Fahrlässigkeit einer Tat zu treffen. Damit wurde der Schluss von Indizien auf eine zugrunde liegende Handlung zunächst komplexer, jedoch prinzipiell auch vereinfacht, indem die Theorie des Tatbestandes drei Merkmale in einen Begriff zusammenzufassen versuchte: den Überrest (die Spur), die Handlung und den Willen. Damit einher ging eine Entwicklung, nach der das Geständnis nicht mehr als regina probationum aufgefasst wurde, so wie es im Inquisitionsverfahren der Fall war. Das Geständnis verliert nun »einen Theil seiner Wichtigkeit« 32, wobei es im Rahmen der Unterscheidung von außergerichtlichem und gerichtlichem Geständnis der Clou war, dass im Rahmen der freien Beweiswürdigung auch »auf das aussergerichtliche Geständniss hin eine Verurtheilung erfolgen« 33 kann: »Unsere Untersuchungsrichter sind, Gottlob, nicht mehr genöthigt, Geständnisse zu erstürmen, weil seit der Einführung der Mündlichkeit, Abschaffung der Beweistheorie und Annahme des Schwurgerichts die Erlangung eines Geständnisses nicht mehr das Hauptziel des Untersuchungsrichters zu sein braucht.« 34

Mit der Änderung der Beweistheorie veränderte sich also der Status des Geständnisses. Es wurde zunehmend selbst als zu überprüfendes und damit als durchaus unsicheres Indiz gewertet. Während im Inquisitionsprozess das Residuum der Wahrheit die Aussage gegen sich selbst, das im Zweifelsfall erfolterte Geständnis ist, wird im reformierten Strafprozess auch dann ein Urteil gesprochen, wenn der Täter nicht auf diese Weise mit den Ermittlungsbehörden ›kooperiert‹. So hält Jagemann zwar am Geständnis als wichtigstem Beweismittel fest, doch sieht er, »daß ein Geständnis nur zur möglichsten Vollständigkeit wünschenswerth, nicht aber absolut erforderlich sein kann.« 35 Im Strafverfahren verloren die Angeklagten zunehmend an Gewicht bei der Ermittlung des Sachverhaltes und bei der Feststellung der Schuldfrage. Solange der Schuldspruch nur aufgrund eines Geständnisses gefällt werden konnte, war die Schuldeinsicht des Angeklagten die Voraussetzung der Verurteilung. 36 Auch Mittermaier zeigte, dass es nicht das »blosse hingeworfene Geständnis eines Angeschuldigten ist, welches unsere Überzeugung von der Wahrheit der eingestandenen Thatsachen bestimmt«, sondern dass es »vielmehr eine Kette von Vermuthungen« ist, die nach den »Erfahrungen über die Gesetze 31 Stw. Zurechnung, in: Jagemann, Criminal-Lexikon S. 707-711; hier S. 708. Dazu auch Ylva Greve, Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der Criminalpsychologie im 19. Jahrhundert, Köln 2004, S. 209-231. 32 Stw. Geständnis, in: Jagemann, Criminal-Lexikon, S. 392ff; hier S. 392. 33 Stw. Geständnis, in: Ebd., S. 393. 34 Stw. Wahrheitserforschungsmittel, in: Ebd., S. 683f; hier S. 684. 35 Jagemann, Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde, S. 303. 36 Vgl. Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis (=Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 176), Göttingen 2002, S. 348.

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der menschlichen Natur und über das Benehmen der Menschen, durch die wir das Eingestandene mit den übrigen Nachrichten vergleichen«, uns zu dem »Glauben« kommen lassen, dass »das Eingestandene wahr ist, weil wir vermuthen, dass der Gestehende die Wahrheit habe sagen wollen«. 37 Damit war das Geständnis nicht mehr der König unter den Beweisen. Vielmehr begannen mit der Ausweitung der empirischen Basis die Sachbeweise die klassischen Beweise, durch Geständnis und Zeugenaussagen, zu unterstützen oder gar abzulösen. Die Aufnahme neuer Sachbeweise – etwa durch Sachverständige – in die Strafrechtstheorie erfolgte durch die in der Praxis gewonnenen Erkenntnisse. So ›verwissenschaftlichte‹ sich mit dem neuen Beweisrecht das Wahrheitsverständnis, indem nun Medizin und andere Wissenschaften scheinbar »objektive« Beweise lieferten. 38 Solange das Geständnis strikte Voraussetzung einer Verurteilung war, kam dem bis dahin festgestellten Tatbestand im Grunde wenig Bedeutung zu, sofern er nicht vom Delinquenten bestätigt wurde. Freilich hing die zunehmende Aufmerksamkeit für den Tatbestand offenbar auch damit zusammen, dass das in die Krise geratene Inquisitionsverfahren schon mit anderen Beweiselementen durchsetzt war, um den Beschuldigten angesichts von ermittelten Indizien zum Geständnis zu nötigen. Insgesamt gewannen die Indizien durch das neue Beweisrecht einen neuen Status. Erstmals gab es einen indirekten Schuldbeweis, der nicht auf das Geständnis des Angeklagten oder zwei glaubwürdige Zeugen angewiesen war, und der – noch wichtiger – nicht mehr auf die Evidenz des authentischen (Selbst-)Zeugnisses ausgerichtet war. Dies galt auch für die Tatortbesichtigung von Untersuchungsrichtern, bei der von den zurückgebliebenen Spuren auf ein Geschehen in der Vergangenheit geschlossen werden musste: »[…] auch bei dem Augenschein, durch welchen sich der Richter vom Thatbestande überzeugt, seine Sinne nicht die verbrecherische Handlung selbst, sondern nur die Wirkung des Verbrechens darstellen, und dass auf die Art der Verübung der Verbrechen […] doch nur geschlossen werden kann. « 39

Während einerseits der Wahrheitsgehalt von Geständnissen und Zeugenaussagen immer stärker bezweifelt wurde – also das, was andere gesehen oder getan haben wollen –, kam im mündlichen und öffentlichen Gerichtsverfahren die sinnliche Evidenz wieder zu ihrem Recht, und zwar bei den Urteilenden. So boten die direkte Wahrnehmung und Beobachtung (»der blosse Anblick«) des Angeklagten und des Zeugen »einen Schlüssel zur Beurtheilung des Werths des Zeugen«. Stottern, Verwirrung, Verlegenheit, ein Schwanken

37 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im Strafprozesse, S. 232f. 38 Vgl. Rebekka Habermas, Von Anselm Feuerbach zu Jack the Ripper. Recht und Kriminalität im 19. Jahrhundert. Ein Literaturbericht, in: Rechtsgeschichte 3 (2003), S. 128-163; hier S. 142. 39 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im Strafprozesse, S. 125-131; hier S. 18f.

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und Ausbeugen gestellter Fragen wurden im mündlichen und öffentlichen Verfahren zu Indizien der Bewertung der Glaubwürdigkeit. 40 Die freie Beweiswürdigung verzichtet dabei auf eine Klassifikation der Zeugen, weil sie hierin eine Vorwegnahme des Urteils sieht. Das System der freien Beweiswürdigung etablierte eine Glaubwürdigkeitsprüfung, die dem Prinzip nach von allen sozialen Attributen des Zeugen absehen wollte und sich auf die Wahrnehmung der Glaubwürdigkeit der in der Verhandlung sichtbaren Personalität konzentrierte. 41 Die Augenscheinnahme des Untersuchungsrichters am Tatort und die Überprüfung der vorhandenen Beweismittel in der Gerichtsverhandlung wurden zum Vorbild für Historiker, die nun in den Archiven den Tatort der Vergangenheit erblickten und nach der Tatbestandsfeststellung zur freien Beweiswürdigung schritten. Danach war es weniger die Suche nach Primärquellen – Autoritäten, die in der Lage waren, autopisch als Zeuge oder Geständnis einer vergangenen Gegenwart aufzutreten, die nun die Geschichtsforschung bestimmten. Der Zweifel an den Aussagen der Autoritäten, den Geständnissen und Zeugnissen, führte so zur Suche nach neuem Material in den Archiven. Gesucht wurde nun nach belastendem und entlastendem Material. Aus den »Tatsachen« der Zeugenaussagen wurden komplexe »Tatbestände«, die es anhand von historisch erkannten Ideen – Kriterien, Begriffe und Theoreme –, also nach Maßgabe des Gesetzes zu beurteilen galt. In den Archiven traf der Historiker nun nicht mehr auf überlieferte »Geständnisse«, sondern auf Aussagereihen, aus denen durch indizienorientiertes Spurenlesen und Kombinieren eine Narration gebildet werden musste. Dass Droysen den Wert der Autopsie und die Suche nach den ersten Quellen als Garanten historisch wahrer Aussagen kritisierte, und dass er die rekonstruktive Praxis in eine Tatbestandsaufnahme überführte, kann deshalb nicht allein im Kontext einer innerdisziplinären Reflexion verstanden werden, sondern findet seine Erklärung in den Veränderungen innerhalb der Strafrechtswissenschaften und der Kriminalistik.

40 Ebd., S. 294. Gleichzeitig wurden in den Vorläufern neuer wissenschaftlicher Disziplinen wie der forensischen Psychologie und der »Aussagenpsychologie«, die am Ende des 19. Jahrhunderts entstehen, Wahrscheinlichkeitsberechnungen zur Beurteilung der Wahrheit eines Zeugen angestellt. Vgl. Pierre Simon de Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit [1814], in: Ostwalds Klassiker der Exakten Wissenschaften, hg. v. R. von Mises, Leipzig 1932. Dabei kommt es unter der Hinzuziehung von Gerichtsärzten und Psychiatern zu immer feineren psychologischen Beurteilungen eines Zeugen und Angeklagten, bei denen man mit Verstellungen, Simulationen, Suggestionen, Ermüdungen des Gedächtnisses, Selbsttäuschungen, Hypnose etc. rechnen müsse. Vgl. dazu auch Jagemann, Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde, S. 314-366, insb. 324f. 41 Vgl. Stichweh, Zur Subjektivierung der Entscheidungsfindung, S. 289.

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3.4 F ORSCHEND - VERSTEHENDE I NTERPRETATION Für Droysen war der Inbegriff der historischen Methode das Verstehen, die Interpretation, das Bestreben, »forschend zu verstehen«. [H 22] Während die historische Kritik nur ein unartikuliertes Gestammel hervorrufe – die Kritik ist nämlich dazu da, den Materialien »den Mund zu öffnen« –, bringt die Interpretation sie dazu zu »sprechen«. [H 158] Während die Kritik also in die Grundtechniken des Verhörs einführt, vermag die Theorie der Interpretation dem prinzipiell als unglaubwürdig angesehenen Zeugen, dessen Aussagen kein Vertrauen mehr geschenkt wird, eine Geschichte anzudichten, deren Details der Verhörte selbst geliefert hat. Forschendes Verstehen als die Grundoperation des Historikers ist mitnichten das Gespräch unter gleichberechtigten Partnern, wie es etwa die Hermeneutik Gadamers entwerfen wird. Verstehen ist nicht das Verständnis eines anderen, dem man zuhört und in den man sich einfühlt, um auf eine gemeinsame Basis zu kommen. Forschendes Verstehen ist nichts anderes als die verschleierte Beschreibung einer Situation, in der ein selbstgewisser Untersuchungsrichter seine Macht auf die erzwungene Mithilfe des Delinquenten stützt. Ausgehend von der Gegenwartsorientierung und den empirisch ermittelten Daten kann der Historiker »nur aus gegenwärtigem Material rückwärts kombinieren zu den relativen Anfängen«. 42 Die Zirkelhaftigkeit des hermeneutischen Verstehens wird als Gewinn für das Selbst gedeutet, aber auch als Selbstkontrolle (»nicht die Sache, aber unser Verständnis der Sache finden wir und kontrollieren wir«). Eine »stereoskopische« Betrachtung, die ihr Interesse an der Vergangenheit aus dem Verstehenwollen der Gegenwart ableitet, setzt erstens ein »eindringendes« Verständnis des Seienden und Gegenwärtigen und zweitens das prinzipielle Gewordensein voraus. [H 162] Die Interpretation geht in vier Schritten vor: Zunächst widmet sich die pragmatische Interpretation dem »sachlichen Verlauf« des Tatbestandes. Im zweiten Schritt der »Interpretation der Bedingungen« werden die Umstände und Zusammenhänge einer Handlung analysiert: »Die Spuren dieser Einwirkungen müssen erfaßt werden, sie müssen in ihrer Stärke und in ihrem Umfang wiedererkannt werden.« [H 165] Die »psychologische Interpretation« müsse dann Meinungen, Anschauungen, Tendenzen und Zwecke der »Führenden« bzw. »Leitenden« verstehen, sich »gleichsam in ihre Seele hineinzusetzen suchen«. Damit wird der Tatbestand hinsichtlich seines »Werden[s] durch den Willen und die Leidenschaften der Führenden und Handelnden« analysiert. Im vierten Schritt der »Interpretation der Ideen« – bzw. der »ethischen

42 H 161. Zum Empirismus Droysens vgl. H 162: »Sie ist darin empirisch, daß Seiendes und Gegebenes das Material ihrer Forschung ist; sie ist darin exakt, daß sie aus diesem Material in richtigen Syllogismen ihre Ergebnisse gewinnt, nicht aus hypothetisierten Anfängen ableitet, daß sie das, was sie empirisch vor sich hat, nicht aus den ersten Keimen oder Ursprüngen, die sie nicht empirisch vor sich hat, zu erklären unternimmt.« Siehe dazu: Giuseppe Cacciatore, Der Begriff der »Empirie« von Droysen zu Dilthey, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 8 (1993), S. 265-288.

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Interpretation« 43 – werden die »Gemeinsamkeiten«, die »allgemeine[n] Interessen, bestimmende[n] Gedanken« bzw. die »großen sittlichen Mächte, welche das Menschenleben beherrschen«, analysiert, um das historische Verständnis zu vollenden. Den philologischen Disziplinen, die sich in der Bescheidenheit üben würden, nur kritisch feststellen zu wollen, setzt Droysen den Gedanken entgegen, dass es bei der Rekonstruktion der Vergangenheit auf die »lebendige Wirklichkeit« 44, nicht auf die »Bausteine«, sondern auf den »Plan und das Bild des Gebäudes« ankomme. Dafür will er Normen finden, »die an der Stelle der Willkür und Phantasie ein sachgemäßes und in festen Schranken sich bewegendes Verfahren möglich machen und gesicherte Resultate geben«, welche die »wissenschaftliche Gewissheit« garantieren. Die Spuren der in den Materialien zu erkennenden Zusammenhänge müssen auf die »in ihnen angedeuteten Motive« zurückgeführt werden, so dass »aus dem Abstrakten ins Konkrete zurückübersetzt« wird. Ob die zu suchenden Kausalzusammenhänge oder pragmatischen Motive in den Quellen stehen oder nicht, sie »ergeben sich aus der Natur der Sache«. [H 167] Pragmatisch heißt hier, die Dinge nicht komplizierter zu machen, als sie sind, und sich dabei auf den gesunden Menschenverstand zu verlassen. Droysen nennt drei Herleitungsvarianten der pragmatischen Interpretation. Da ist zunächst das »demonstrative Verfahren«, das überall dort möglich ist, wo der Tatbestand in einer gewissen Vollständigkeit vorhanden ist: »Das einfache Aufweisen des Zusammenhanges ist der Beweis für denselben, denn es kam ja nur darauf an, zu sehen und zu sagen, was gleichsam latent in den Dingen selbst ist. Hier gilt es wesentlich nur, einen scharfen Blick und ein für die Wirklichkeiten geübtes Auge zu haben.« [H 170]

Das zweite Verfahren ist der hypothetische Schluss bzw. der Schluss über Analogiebildung, der einen »indirekten Weg« beschreitet und der ebenso sicher sei wie das auf demonstrativem Wege Gewonnene. Es handelt sich hierbei im Grunde um Indizienbeweise, auch wenn Droysen diesen Begriff nicht verwendet. Bei lückenhaftem Tatbestand muss der Historiker eine Hypothese bilden, wobei er auf einen analogen Tatbestand aus der Fülle seiner Erfahrung zurückgreift: Man »zeichnet sich eine hypothetische Peripherie« und versucht, »ob die Fragmente des Tatbestandes da sich einfügen, […] und was nicht passt, zeigt uns, wie wir unsere Hypothese zu modifizieren haben.« [H 171] Als Drittes nennt Droysen das – von ihm merkwürdig unbestimmt gelassene – komparative Verfahren, das vor allem dann zum Einsatz kommen soll, wenn der Erfahrungsschatz des Historikers keine Analogien aufzubieten hat.

43 White, Droysens Historik, S. 120. 44 Der Topos des Nachempfindens und Hineinversetzens findet sich oft, so z. B. H 169: Eine »Fülle von Gesichtspunkten« sei zu beachten. »Man muß sie [die historischen Dinge / A. S.] in jedem einzelnen Motiv zu empfinden, d. h. als eine lebendig in sich motivierte und zusammenhängende Gestaltung auffassen lernen«. Der »platt und leblos vorliegende Tatbestand« müsse »durch die Interpretation rund und voll und leibhaftig werden.«

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Dabei können sich zwei bisher relativ unbekannte Erscheinungsreihen, die Ähnlichkeiten aufweisen, gegenseitig ergänzen. Trotz der begrifflichen Unterscheidung von komparativem, analogiebildendem und hypothetischem Verfahren wirkt deren Trennung artifiziell. Letztendlich wird von Droysen der hypothetische bzw. analoge Schluss privilegiert. Gerade dann, wenn »ein X ohne allen Anhalt« zu erklären sei, komme man in ein »peinliches Gedränge«, in eine Situation, in der jedoch die pragmatische Interpretation »ihre ganze Spannkraft« entwickeln könne. Eine Reihe der »glänzendsten Entdeckungen« sei auf dem Weg der Hypothese gemacht worden, deren Wesen darin bestehe, dass »man einen Zusammenhang voraussetzt, der an sich möglich ist, und nun versucht, ob er sich in diesem Material bestätigt.« [H 173] Die Besorgnis, dass so die Deutung eines vorliegenden Tatbestandes in Willkür und Phantasie abdriften könne, will Droysen mit seiner Analyse der Schlussverfahren ausgeräumt wissen: »[…] die Art unserer Interpretation des Tatbestandes ist von der Art, dass wir sie in jedem einzelnen Fall beweisen können, Beweise, denen man sich nicht entziehen kann, wenn man nicht die Analogie der menschlichen Vorgänge überhaupt, d. h. die Möglichkeit des Verstehens in Abrede stellen will.« [H 174]

Dieses analoge Schlussverfahren beruht auf dem Erfahrungswissen bzw. der »Sachkunde« des Historikers, »der ganz Militär, ganz Jurist, ein andermal wieder Theolog oder Bankier sein [muss], um richtig zu forschen.« Das durch Studium erworbene historische Erfahrungswissen wird gleichberechtigt durch das in der Gegenwart erworbene Erfahrungswissen ergänzt, denn nur der »Erfahrene denkt realistisch genug, um ein mehr oder minder dürftiges und flaches Relief voll und rund und gleichsam leibhaftig zu schauen«. [H 174f] Indem das Verstehen auf der Analogie menschlicher Vorgänge beruht und somit von der zeitlosen Rationalität menschlichen Handelns ausgeht, ist es für Droysen nur folgerichtig, einen historischen Tatbestand mit den in der Gegenwart gemachten Erfahrungen zu konfrontieren. Unter dieser Voraussetzung sind dem Verstehen von Handlungsmustern, die der eigenen Gegenwart fremd sind, enge Grenzen gesetzt. Die Interpretation der Bedingungen widmet sich dem zeit- und raumgebundenen Handlungsspielraum der Beteiligten, sie fragt nach den ermöglichenden Verhältnissen, die dem »flachen Tatbestand […] Tiefe und Fülle geben«. Während die pragmatische Interpretation den kausalen Verlauf rekonstruiert, werden in der Interpretation der Bedingungen die einwirkenden Gleichzeitigkeiten berücksichtigt, um die Umstände zu rekonstruieren; es ergibt sich eine »Fülle von Kombinationen und Folgerungen«, aus denen ein stetes »Herüber und Hinüber von Ursache, die Wirkung wird, und von Wirkung, die Ursache wird«, resultiert. 45 45 H 183; 186 u. 180: Die Interpretation der Bedingungen schließt eine Kritik von Landes- und Spezialgeschichten ein, die nicht über den Tellerrand schauen: Das »tollste Vorurteil, daß die Historie nicht mehr finden könne, als ihr ausdrücklich überliefert ist«, komme durch die Beschränktheit des Blickfeldes zustande. Die Kombinationsmöglichkeiten der Geschichtsschrei-

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Die psychologische Interpretation macht Droysen zum dritten Hauptpunkt des interpretativen Vorgehens. Sie wird anhand einer Diskussion der Dramen Shakespeares entwickelt, der bei der Interpretation des Inneren »das Höchste geleistet« habe. [H 188] Schleiermacher hatte den Begriff der psychologischen Interpretation erstmals in die Theorie der Hermeneutik eingeführt. 46 Droysen orientiert sich hier jedoch weniger an Schleiermacher als am zeitgenössischen Strafrechtsdiskurs. Die psychologische Interpretation ist nichts weiter als die Frage nach der »Zurechnungsfähigkeit«. Denn die Rekonstruktion des pragmatischen Verlaufs und seiner Bedingungen hat Willensakte von Personen erkennen lassen, deren »Menschenseele« nun erkannt werden soll. In Tat und Tun habe man sich zu vertiefen, man müsse ihr Inneres sehen und verstehen, man habe von der »Peripherie ins Zentrum« zu dringen, um den Plan und Gedanken, der den Willen leitete, zu erkennen. [H 187f] Die psychologische Interpretation sei auf die Sphäre der realistischen Welt zu begrenzen 47 und habe sich auf die Interpretation eines einen Willensakt veranlassenden Willens zu beschränken. Hierbei komme es auf die Stärke und Schwäche, die Festigkeit und Stumpfheit des Willens an; plötzliche Energien könnten im Gegensatz zur ruhigen Energie der Überzeugung erkannt werden. [H 191] Schließlich könne man die intellektuellen Mittel eines Handelnden durch die psychologische Interpretation erfassen. Insgesamt erkennt die psychologische Interpretation den »Gedankenkreis der Handelnden, die positiven Momente, die ihr Handeln bestimmen«. [H 200] Es ist weniger die persönliche Motivation des Handelnden, als vielmehr die Frage, ob sich aus dem Handeln »allgemeine Interessen und Prinzipien« herauslesen lassen. Nachdem in einer ersten interpretativen Phase also der »objektive Tatbestand« rekonstruiert worden ist, fragt die psychologische Interpretation in Anlehnung an die in der zeitgenössischen Kriminalistik vorgenommene Unterscheidung nach dem »subjektiven Tatbestand«. [H HÜB 280] Die psychologische Erklärung historischer Prozesse wird von Droysen nichtsdestotrotz stark eingeschränkt. Da ist erstens Droysens protestantische Grundüberzeugung, dass in das »Allerheiligste der Person […] außer Gottes Auge nur das der gegenseitigen Liebe, nicht das der Wissenschaft, nicht das des Richters, mag es der juristische oder der historische sein«, einzudringen

bung beruhen also nicht nur auf dem hypothetischen Schließen, sondern auch auf einer Entgrenzung der Interpretation. 46 Zu Schleiermachers Konzeption der »technischen und psychologischen Interpretation« siehe: Hendrik Birus, Schleiermachers Begriff der technischen Interpretation, in: Kurt-Victor Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacherkongreß Berlin 1984 (=Schleiermacher-Archiv; Bd. 1), Berlin 1985, S. 591599. Roland Daube-Schackat, Schleiermachers Divinationstheorem und Peirce’s Theorie der Abduktion, in: Ebd., S. 263-278. 47 Nach der »Systematik« bzw. Ideenlehre Droysens umfasst die »realistische Sphäre« den Bereich des politisch-gesellschaftlichen Zusammenlebens: Gesellschaft, Arbeit, Wirtschaft, Person und Eigentum, Recht und Gesetz, die gesamte Machtsphäre wie Staatskunst, Krieg, Völkerrecht und Staatenbünde und -syteme, um nur die wichtigsten Aspekte zu nennen.

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vermag. 48 Die Individualität als unaufschließbares Geheimnis zu sehen, steht ganz in der romantischen Tradition und ist auch bei Humboldt und Schleiermacher der mysteriöse Nullpunkt der Interpretation. Hinzu kommt für den Empiriker Droysen die schwierige Quellenlage. Denn der Handelnde trete selten »mit der ganzen Fülle seines geistigen Inhalts in das Äußere«; zu erkennen sei die Absicht, nicht der Grund seiner Absicht, seine Willensstärke, nicht aber die »geheimen Triebfedern seines energischen Handelns«. [H 189] Zweitens hat Droysen einen starken Vorbehalt gegen jede psychologische Erklärung, die aus dem Charakter und den Motiven der Menschen den Lauf der Dinge deduzieren will, die aus dem »guten oder bösen Willen der Handelnden allein den Gang der geschichtlichen Dinge« erklären will. [H 188 u. 193] Diese Zurückweisung deterministischer Charakterzuschreibungen führte jedoch im Umkehrschluss zu einer Verfeinerung der psychologischen Interpretation. Denn zu berücksichtigen seien die Veränderungen des Charakters während eines Menschenlebens und die verschiedenen Perspektiven, aus denen man über den Charakter eines Menschen informiert sei. Man könne, so Droysen, nur ein »höchst unsicheres Urteil über Charaktere gewinnen«, charakterisierende Prädikate seien meist »flachste Urteile«, weshalb es nicht die Aufgabe der Geschichte sei, moralisch Gericht zu halten. [H 190f] Dies war eine durchaus konsequente Übersetzung des zeitgenössischen Strafrechtsdiskurses in die Theorie der Geschichte, denn auch das Gericht hatte nicht mehr die Moralität des Angeklagten – etwa aufgrund seines Ansehens – zu beurteilen. Diese war nunmehr allenfalls eine unter vielen Entscheidungsgrundlagen. Während Richter und Geschworene im Gerichtssaal darüber befanden, ob der Angeklagte zur Zeit der Tathandlung zurechnungsfähig gewesen war, und danach die Strafe bemaßen, beurteilte der Historiker als urteilender Geschworener das historische Subjekt danach, ob sein Handlungswille im Hinblick auf eine historische Idee zurechnungsfähig war. Und während im Strafrecht seit Feuerbach der Grundsatz nulla poena sine lege galt, wonach also eine Tat nur dann vor Gericht verhandelt werden konnte, wenn sie unter ein bestehendes Gesetz fiel, so war Droysen darauf angewiesen, eine Systematik »sittlicher Ideen« zu entwerfen, nach der ein historisches Subjekt beurteilt werden konnte. Die »sittlichen Ideen« als interpretationsleitende theoretische Konstrukte sind aus diesem Blickwinkel nichts anderes als Strafgesetze oder – um es moderater zu formulieren – Beurteilungsgrundsätze. Diese sittlichen Mächte umfassen die »natürliche Sphäre« mit den Ideen der Familie, des Stammes, der Gesellschaft und der Nation, die »realistische Sphäre« mit den Ideen der Wohlfahrt, des Rechts, der Macht und des Staates, und die »ideale Sphäre«, in denen die Ideen des Schönen, Wahren und Heiligen anzutreffen sind: Sprache, Kunst, Wissenschaft und Religion. Diese die Geschichte bestimmenden Ideen werden dabei keinesfalls konstruiert oder aber quasi naturrechtlich »gesetzt«, sondern sie sind aus der Geschichtlichkeit der jeweiligen Gegenwart zu begründen. Indem in der »Bewegung der Ideen« immer deren eigene Historizität mitgedacht ist, sind sie in ihrer Ausgestaltung flexibel zu denken. Erst durch die Interpretation der Ideen, die hinter einem historischen Individuum oder einem historischen Ereignis den zugrunde liegenden Ge48 H 192: »Denn nur das Gewissen ist jedem absolut gewiß, es ist für ihn seine Wahrheit, der Mittelpunkt seiner Welt.«

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danken erkennt, wird deren geschichtliche Bedeutung deutlich. Im hermeneutischen Zirkel wird so abschließend der gesamte Tatbestand im Hinblick auf die Ideen interpretiert und die Ideen aus dem Tatbestand erkannt: »Dieser Gedanke, den die Interpretation aufgewiesen, ist die Wahrheit des Tatbestandes; und dieser Tatbestand ist die Wirklichkeit, die Erscheinungsform dieses Gedankens. In diesem Gedanken verstehen wir den Tatbestand und aus diesem Tatbestand verstehen wir den Gedanken.« [H 215]

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4 Droysens Typologie historiographischer Darstellungen Droysen grenzte sich mit seiner Typologie der historischen Darstellung von der »Historik« von Georg Gottfried Gervinus aus dem Jahr 1837 ab, der darin den Versuch unternommen hatte, die Historiographiegeschichte nach den poetologischen Gesichtspunkten der Epik, Lyrik und Dramatik zu strukturieren. 1 Eine solche Vorgehensweise hielt Droysen für verhängnisvoll, da damit die Geschichtsschreibung nicht als Wissenschaft aufgefasst werde, sondern »als Teil der schönen Literatur«, die ihren »Kunstcharakter« betone. Gegen die Poetik der Geschichtswissenschaften setzte Droysen die »Apodeixis« bzw. in der späteren Fassung die »Topik« der Darstellungsformen. Jede Wissenschaft sei ihrer Natur nach »esoterisch« und müsse es bleiben – mit dieser flotten Definition von Wissenschaft setzte Droysen Maßstäbe für den Aufstieg historiographischer Fachsprachen, die das historische Wissen als Expertenwissen auf einen Kreis von Eingeweihten einschränken sollte. Forderungen nach Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Darstellung identifizierte er mit Strategien des Romans. Gleichzeitig konnte dies einen Angriff gegen den aufkommenden Realismus und Naturalismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts implizieren, wenn Droysen »die immer wiederholten Phrasen von Objektivität der Darstellung und daß man die Tatsachen selbst sprechen lassen« müsse, als fiktionale Strategie kritisierte. [H HÜB 273] Droysen unterscheidet in seiner Typologie historiographischer Darstellung zwischen der »untersuchenden«, der »erzählenden«, der »didaktischen« und der »diskussiven« Form. Diesen einzelnen Darstellungsformen kommen jeweils unterschiedliche Funktionen im Geschichtsdiskurs zu, wobei sie eine je unterschiedliche Wirkung auf den Leser erzielen, so dass sie insgesamt als »eine Produktionstheorie mit rezeptionstheoretischen Prämissen« eingeschätzt worden sind. 2 Sie divergieren jedoch in dem wichtigen Punkt, dass allein die untersuchende wie auch die erzählende Darstellung von Droysen im Hinblick auf narratologische (bzw. rhetorische) Aspekte analysiert werden, während die didaktische und die diskussive Darstellungsform insbesondere auf Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auf sinnstiftende und handlungsleitende Funktionen der Geschichtsschreibung eingehen. Didaktische und diskussive Darstellungsform versetzen den Leser in die Position eines bewussten Vertreters der »sittlichen Mächte«, womit sie eine pädagogische Bildungsfunktion übernehmen, indem sie den Zusammenhang der Einzelgeschichten herzustellen und in eine allgemeine Geschichte einzuordnen suchen. 3 Um im Folgenden die narratologischen

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Georg Gottfried Gervinus, Grundzüge der Historik, Leipzig 1837. Werner Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz. Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen (=Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft; Bd. 19), Stuttgart 1980, S. 106. White, Droysens Historik, S. 114. Die didaktische Darstellung kann sich Droysen zufolge am sokratischen Dialog orientieren, die diskussive Form weist eine Nähe zur untersuchenden Darstellung auf. Darüber hinaus gibt es keine Äußerungen Droysens über die narrative Struktur dieser beiden Formen. Nach Jörn Rüsen kann sich der Historiker zwischen diesen vier Darstellungsformen entscheiden, und zwar

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Konsequenzen von Droysens Darstellungstheorie in den Blick zu bekommen, erscheint es gerechtfertigt, sich auf die »erzählende« und die »untersuchende« Darstellungsform zu konzentrieren. Ihre Analytik weist dabei auffällige Strukturähnlichkeiten zur narratologischen Unterscheidung von Thriller und Detektiverzählung auf, so dass man Droysen nicht nur als einen der wenigen Geschichtstheoretiker ansehen muss, der sich intensiv mit der Bedeutung der Erzählung für die Historie auseinandergesetzt hat. Er muss vor allem auch als Theoretiker der Kriminalliteratur avant la lettre gelten, einem populären Genre, das sich zeitgleich zu den Historik-Vorlesungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausbildet. 4.1 E INBLICK

IN DIE

F ORSCHUNG

Die wichtigsten neueren Studien zur Historiographiegeschichte des 19. Jahrhunderts, die sich dem Problem der historischen Erzählung widmen, konzentrieren sich auf die »Formationsphase« des Historismus von 1750 bis 1850. 4 In diesen Studien erscheint einerseits die Geschichtsschreibung von Schiller und Ranke als paradigmatischer Kulminationspunkt einer »Ästhetisierung« der historischen Darstellung. Andererseits wird Droysens Historik als ein Wendepunkt verstanden, mit dem ein Verwissenschaftlichungsprozess und eine Entrhetorisierung der Geschichtswissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzten. 5

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in Bezug auf die Frage, welche Seite des historischen Bewusstseins von ihm angesprochen werden soll. Demnach entscheide er sich für die untersuchende Darstellung, wenn es ihm um die methodische Rationalität im historischen Denken seines Publikums geht; er wählt die erzählende Darstellung, wenn ihm an der ästhetischen Rezeptivität gelegen ist; er wählt die didaktische Darstellung, wenn es ihm eher um theoretische Reflexivität bestellt ist, und er nutzt die diskursive Darstellung, wenn es ihm um die politischpraktische Aktivierung seines Publikums geht. Vgl. Rüsen, Bemerkungen, S. 200. Fulda, Wissenschaft aus Kunst 1760-1860. Süssmann, Geschichtsschreibung oder Roman?, der nicht näher auf Droysen eingeht. Auch Lau, Erzählen und Verstehen, insb. S. 509-514. Lau verfolgt in seiner Studie die Herausbildung und Modulation des Gedankens der Perspektivität historischer Erkenntnis innerhalb der hermeneutischen Tradition von Chladenius über Schleiermacher, Boeckh und Droysen bis zu Simmel. Laus These, dass sich Verstehen und Erzählen in ihrem perspektivischen Charakter gegenseitig bedingen, bleibt jedoch vage, da er weder die theoretischen Ausführungen zur Funktion der Erzählung in der Geschichtswissenschaft noch die Praxis des historiographischen Erzählens ausführlicher behandelt. Droysens Historik sieht er als Wegbereiter einer konstruktivistischen Hermeneutik. Indem er sich jedoch auf eine Analyse des Verhältnisses von Kritik und Interpretation beschränkt und Droysens Darstellungstheorie nicht thematisiert, kann Lau zur Interdependenz von Verstehen und Erzählen bei Droysen kaum etwas beitragen. Als Ausgangsbasis dieser neuen Forschungen dienten maßgeblich Horst Walter Blankes Arbeiten und Quellenedition zur Theorie der Geschichts-

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So vertritt Daniel Fulda die These, dass die »goethezeitliche Ästhetik« mit der Aufhebung der rationalistisch gezogenen Grenze zwischen Poesie und Geisteswissenschaften der Auslöser für die narrativ verfasste Geschichtskonzeption des Historismus gewesen sei. Diese »Ästhetisierung« der Geschichtsschreibung gehe auf zwei parallele Entwicklungen zurück: auf die Ausbildung der Vorstellung des »Kollektivsingulars« 6 Geschichte einerseits und eine neue Romanpoetik andererseits, deren narrative Syntheseleistung auch eine neue Erzählbarkeit von Geschichte ermöglichte. Damit löste die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ein Problem der Aufklärungshistorie, die ihren Gegenstand – die Universalgeschichte – als wissenschaftliches System verstand, sich dabei jedoch oftmals nicht in der Lage sah, zu einer synthetischen Darstellungsform vorzudringen. 7 Fulda nimmt deshalb für den frühen Historismus an, dass sich die Geschichtsschreibung als Wissenschaft erst im Rahmen ihrer Reflexion über Poetik und Ästhetik herausgebildet und dabei auf eine Adaption von poetologischen Verfabelungstechniken gesetzt habe. In der Geschichtsschreibung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erkennt Fulda dann eine Entpoetisierungstendenz, wobei er sich vor allem auf Droysens Invektiven gegen die Konzeption einer Historiographiegeschichte als Poetik von Gervinus und gegen Rankes anschauliche Darstellungskonzeption beruft. Diese »wissenschaftstheoretische Lösung vom Ästhetischen« werde durch Max Weber dann verstärkt. 8

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schreibung der Spätaufklärung, in denen dieser die theoretischen Voraussetzungen des Historismus in der Aufklärungshistorie aufzeigt. Blanke wandte sich gegen Friedrich Meineckes lange wirksame Interpretation, nach welcher der Historismus eine dezidiert gegen die Aufklärungshistorie gerichtete Konzeption gewesen sei, die die »generalisierende Betrachtung geschichtlich menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung« ersetzt habe. Sie sei im Zuge einer »großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode« entstanden und habe dabei »neue Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben« entwickelt. Gleichzeitig versucht Blanke in einem aufwändigen Argumentationsgang, die »Historischen Sozialwissenschaften« in die Tradition der Aufklärungshistorik zu stellen. Vgl. u. a. Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik (=Fundamenta Historica; Bd. 3), Stuttgart 1991. Ders. (Hg.), Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln 1998. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus [1936] (=Werke; Bd. 3), München 1959, S. 2. Zur Kritik des Ansatzes von Horst Walter Blanke vgl.: Otto Gerhard Oexle, Einmal Göttingen – Bielefeld einfach: Auch eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 54-66. Ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 116), Göttingen 1996. Vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 320-326. Vgl. zusammenfassend Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 447-454. Auch: Süssmann, Geschichtsschreibung oder Roman?, S. 33-74. Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 417 u. S. 447-460.

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Fulda konstatiert, dass Droysen die »historische Erkenntnis und Darstellung als perspektivische Rekonstruktion von Geschichte aus überlieferten Materialien« entwirft und dabei das »rhetorische Textorganisationswissen« zu einer kohärenten Methode reintegriert. Problematisch bleibt, dass Fulda im großen Stil Droysens gesamte Geschichtstheorie im Hinblick auf die goethe- bzw. nachgoethezeitliche Ästhetik betrachtet, wodurch kaum Platz für eine konkrete Beschäftigung mit Droysens Typologie der Darstellungsformen bleibt. 9 Werner Schiffer hat ausgehend von Droysen eine Theorie »explanatorischen Erzählens« vorgelegt und dabei die Konstituierung von Handlungszusammenhängen innerhalb einer Erzählung mit ihren kommunikativen Implikationen zusammengeführt. Aus dieser Perspektive erklärt sich, dass Schiffer Droysens Ausführungen zur didaktischen Darstellung im Vergleich zu den drei anderen Darstellungsformen in übergeordneter Stellung sieht.10 Dabei erkennt Schiffer, dass Droysen allein bei der untersuchenden und der erzählenden Darstellungsform nähere narrative »Formmerkmale«, das heißt Ausführungen zur narrativen Makrostruktur dieser historiographischen Erzählformen angegeben hat. 11 Schiffer weist zudem auf die äußerst »rigide Organisation des Materials« in der untersuchenden Darstellung hin, in der »jedes Textelement direkt funktional zur Erreichung des […] Überzeugungsziels eingesetzt« werde. Er benennt damit klar den rhetorisch-forensischen Hintergrund der untersuchenden Darstellung, ohne ihn als solchen ausdrücklich zu thematisieren. 12 Schiffers Behauptung, dass die untersuchende Darstellung nicht immer eine narrative Grundstruktur aufweisen muss, beruht auf seinem äußerst verklausuliert vorgebrachten Argument, dass untersuchende Passagen innerhalb eines historiographischen Werkes einen »beschreibenden oder auch diskussiven Charakter« annehmen können, weshalb sie zwar »in einem umfassenderen narrativen Zusammenhang« stehen, jedoch »keine Selbstständigkeit« und keinen »narrativen Charakter« aufweisen müssen. 13 Bedenkt man, dass Droysen selbst darauf aufmerksam gemacht hat, dass jeder historiographische Text untersuchende, erzählende, diskussive und didaktische Passagen enthält, erscheint es von vornherein klar, dass auf der Mikrostruktur des historiographischen Textes Passagen zu finden sind, die die Handlung nicht ›voranbringen‹ 9

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Im Anschluss an Werner Schiffer behauptet Fulda, dass alle vier historiographischen Darstellungsformen eine narrative Grundstruktur haben, wobei er auf »mögliche Ausnahmen« bei der untersuchenden Darstellung hinweist, ohne dies jedoch weiter zu explizieren. Ebd., S. 416 u. 426ff. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung, S. 141. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung, S. 96-100. Demgegenüber heißt es bei Hayden White, dass Droysen die diskussive Form in der Rangordnung am höchsten eingeschätzt habe, da in ihr jene Beziehungen konfiguriert werden, die aus der Wechselwirkung der sozialen Praxis der Gesellschaft des Verfassers und Lesers im Hinblick auf die erforschte und erzählte Vergangenheit entstehen. Vgl. White, Droysens Historik, S. 117-120. Ebd., S. 99 u. 102. Ebd., S. 105f. Ebd., S. 107.

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und damit per se nicht im Rahmen eines intentionalen oder teleologischen Modells der historischen Erklärung analysiert werden können. Folgerichtig wäre es dann jedoch, allen diesen Einschüben innerhalb einer historischen Erzählung die »narrative Grundstruktur« abzusprechen, also auch den didaktischen oder diskussiven Passagen. Diesen Schritt kann Schiffer jedoch nicht gehen, weil es eine seiner zentralen Thesen ist, dass diskussive Elemente eine notwendige Bedingung jedes geschichtswissenschaftlichen Textes sind, da erst sie die wissenschaftliche Erklärung transparent machen. 14 Eine weitere zentrale These Schiffers ist, dass im diskussiven Modus narrative Verknüpfungen keine temporale Kontinuität erzeugen, »sondern resultative Zusammenhänge«. 15 Im Hinblick auf Droysens Kritik genetischer Darstellungsweisen, die als Mimesis des Werdens eine zeitliche Kontinuität herstellen, ist dies ebenso beachtenswert wie im Hinblick auf die Kritik der Erzählung durch führende Vertreter der Historischen Sozialwissenschaften. Denn Schiffers These läuft darauf hinaus, dass wissenschaftlich-historiographische Texte des 20. Jahrhunderts argumentativ-diskursiv und nicht genetisch-erklärend verfahren. Schiffers Begriff des »explanatorischen Erzählens« will also die narrative Erklärungsebene auf den didaktischen Verwendungszweck und die (selbst-)reflexive diskussive Ebene reduzieren. In den Begriffen Mimesis und Apodeixis – aufgeworfen in Droysens Historik – sieht Hans-Jürgen Pandel zwei divergierende Historiographiekonzeptionen des 19. Jahrhunderts, die seiner Ansicht nach von den Opponenten Humboldt, Ranke, Gervinus und Roscher einerseits sowie Droysen und – so jedenfalls hat es den Anschein – Max Weber andererseits repräsentiert werden. 16 Mimetische Konzeptionen in der Historiographie des 19. Jahrhunderts lassen sich nach Pandel in drei Hauptströmungen aufteilen: Die »einfache Mimesis« neigt zu einem naiven Realismus, sie orientiert sich an naturalisierender Nachahmung, sie behauptet eine Symmetrie von Geschichte (»Urbild«) und Darstellung (»Abbild«), und sie strebt nach Tatsächlichkeit und Authentizität. Die »künstlerisch-literarische Mimesis« ist eine erweiterte Form der einfachen Mimesis, die sich jedoch der Asymmetrie zwischen Geschichte und Darstellung bewusst ist. Doch auch hier bleibt die anerkannte künstlerische Formgebung zumeist theoretisch unausgearbeitet oder beschränkt auf die Analyse einer »Erzählidee«, auf Anordnungsfragen und formale Anweisungen zur Anschaulichkeit der Schilderung historischer Ereignisse. Die »denkende Mimesis« ist sich hingegen der »Transformation« des geschichtlichen Geschehens durch die Darstellung bewusst: Sie setzt die Asymmetrie von vergangener Wirklichkeit und Darstellung voraus und kann »kritisch Erzählen« und sich an »konkurrierenden Erzählungen abarbeiten«. Sie »stößt an die Grenzen des mimetischen Paradigmas, wenn sie sich reflexiv auf sich selbst bezieht« und sich der zeitlichen Differenz und der Per-

14 Ebd., S. 140. 15 Ebd., S. 139. Damit widerspricht er explizit Theoretikern wie Danto und Baumgartner und vorausgreifend auch Ricœur, die auf den fundamentalen Zusammenhang von Zeit und Erzählung hingewiesen haben. 16 Vgl. Pandel, Mimesis und Apodeixis.

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spektivierung bewusst wird. Die »denkende Mimesis« erkennt damit »neue Sinnzusammenhänge« und fördert das historische Urteil. 17 Pandel verweist darauf, dass Droysen sich mit dem Apodeixis-Begriff auf die aristotelische Lehre vom Beweis bezieht und konsequent von der »Analysis der Interpretation« spreche. Die vier Interpretationstypen seien so auf die »archai als Fragen des Warum«, also den aristotelischen Ursachenbegriff zurückzuführen. Interpretation und ihre Darlegung seien bei Droysen ein »rationales Verfahren«, seine Typologie der Darstellungsformen entwerfe ein Modell, welches anhand von »Typen des Begründens« und durch eine »Verständlichmachung des Verstandenen« an logischen bzw. argumentativ und diskussiv vorgebrachten Gründen orientiert sei. 18 Seine zunächst »Apodeixis« genannte Typologie der historiographischen Darstellungsformen bezeichnet Droysen später als »Topik«. Trotzdem taucht der Begriff Apodeixis auch noch in der späten Fassung von Droysens Historik auf – allerdings führt er ihn hier weniger auf Aristoteles als vielmehr auf Herodots Histories Apodeixis zurück und übersetzt ihn als »Darlegung der Forschung«. Resümierend nennt er die Forschung eine »Probe auf die Rechnung«: »Denn die Forschung ist nicht auf ein zufälliges Finden gestellt, sondern sie sucht etwas. Sie muß wissen, was sie suchen will; erst dann findet sie etwas. Man muß die Dinge richtig fragen, dann geben sie Antwort. Die Apodeixis zeigt nur auf, was man zu suchen verstanden hat.«19

Droysens späte Verwendung des Begriffs Apodeixis hat zu der Annahme geführt, dass er dem Schreiben der Geschichte nicht mehr die Funktion eines Beweises oder aber rhetorischer Überzeugungsstrategien zugestehen mochte. Denn gleichzeitig rückt in der späteren Fassung von Droysens Historik seine Typologie der Darstellungsformen an den Schluss der Vorlesung, und zwar hinter die »Systematik«, die den theoretischen bzw. ideengeleiteten Bezugsrahmen des interpretativen Verfahrens der Geschichtswissenschaften darlegt. Diese Neuordnung der Historik deutet einen Prozess an, in dem die historio17 Ebd., S. 50-61. 18 Ebd., S. 71-73. Die von Pandel vorgenommene Differenzierung von Mimesis und Apodeixis bleibt äußerst problematisch. Denn Droysen, der im Grunde genommen als einziger ernsthafter Theoretiker apodeiktischer Darstellungsweisen bezeichnet werden kann, integriert in seine Typologie der Darstellungsweisen im Zuge der untersuchenden und der erzählenden Darstellung auch den Mimesisbegriff. Mimesis bei Droysen verweist jedoch nicht auf einen historischen Referenten und damit auf einen historischen »Realismus«, sondern bezieht sich auf das System der »sittlichen Mächte«, wie Hayden White überzeugend angemerkt hat: White, Droysens Historik, S. 117-120. 19 H HÜB 35f. Herodot wird von Droysen andernorts insofern kritisiert, als er sich zu sehr an den topoi ausgerichtet und lediglich »hübsche Geschichten« geschrieben habe. Thukydides hingegen gilt für Droysen als derjenige, der »die Überlieferung kritisch verglichen« und »Urkunden, Protokolle, amtliche Briefe« benutzt habe. H HÜB 93.

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graphische Darstellung an methodologischer Bedeutung innerhalb des Selbstverständnisses der Geschichtswissenschaften verlieren wird. 20 Dafür spricht langfristig gesehen, dass etwa in Ernst Bernheims Lehrbuch der historischen Methode von 1889 die historiographische Darstellung nur noch äußerst knapp am Schluss behandelt wird. Dies geschieht außerdem mit der deutlichen Tendenz, die Grenze zwischen fiktiven und wissenschaftlichen Geschichtsdarstellungen weiter auszubauen, indem die Darstellung des Historikers dahingehend eingeschränkt wird, als er seine Forschungsergebnisse adäquat mitzuteilen habe. 21 Zwei Punkte sprechen allerdings gegen diese Interpretation, die den Paradigmen der Entrhetorisierung und der Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft in der neueren Historiographiegeschichtsschreibung Vorschub leistet: Erstens gewinnt der Aufbau von Droysens Historik durch die Neuordnung an Klarheit, indem die »Systematik« – die sich dem konzeptionellen Überbau einer zu interpretierenden Geschichte widmet – nun direkt an das Kapitel über die »Interpretation der Ideen« anschließen kann. Zweitens nimmt Droysen keineswegs Formulierungen zurück, die darauf hinweisen, dass erst die Darstellung des kritisch Festgestellten und nach systematischen Gesichtspunkten Interpretierten den methodischen Abschluss der historischen Erkenntnisleistung bildet. 22 Pandel geht davon aus, dass die Historik insgesamt, vor allem aber die Konzeption der apodeiktischen Darstellungsweisen, eng an Droysens Interpretation der aristotelischen Philosophie und des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses gebunden ist. Droysen habe mit Aristoteles die gesamte Rhetorik- und Poetiktradition der Geschichtsschreibung als eine »epistemologische Fehlentwicklung« innerhalb der Geschichtstheorie entlarvt. 23 Einen Verwissenschaftlichungsprozess vor Augen, der letztlich die eigene Praxis 20 Jörn Rüsen, Historische Methode, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.), Historische Methode (=Beiträge zur Historik; Bd. 5), München 1988, S. 62-80; hier S. 65. Ders., Bemerkungen zu Droysens Typologie der Geschichtsschreibung, in: Koselleck/Lutz/Rüsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, S. 192-200; hier S. 192. 21 Bernheim verwendet die Begriffe »Vertretung«, »Verdichtung« und »Konzentration« zur Beschreibung des historiographischen Textes. Er weiß jedoch auch, dass die historische Darstellung bei der Disposition, also dem Auftreten der einzelnen Figuren und Themen »speciell dramatisch« und »plastisch« ist: Vgl. Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie [1889], 4. Aufl., Leipzig 1903, S. 721-741; hier S. 727. 22 Vgl. dagegen Pandel, Mimesis und Apodeixis, S. 66. 23 Ebd., S. 62-66; hier S. 65; auch S. 87: Pandel ist der Auffassung, dass sowohl Droysens Apodeixis- als auch seine Topik-Konzeption weder das Modell der didaktischen Lehre noch der rhetorischen Überredung aufgreifen, sondern das der diskussiven unterredenden Verständigung. Damit impliziere das historische Erzählen bei Droysen nicht die »Elementarisierung und Popularisierung«, nicht die »Persuation und Wirksamkeit«, vielmehr gehe es um den »Zuwachs an kommunikativer Erfahrung«. Droysens Kritik der Rhetorik, das sei hier angemerkt, richtet sich jedoch in erster Linie gegen eine »anschauliche« Darstellung der romanhaften Geschichtsdarstellung: Vgl. etwa H 146.

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legitimieren soll, behauptet Pandel, dass die Rhetorik jeden Einfluss auf die moderne Geschichtskonzeption des späten 19. Jahrhunderts verloren habe. 24 Pandel stützt sich in seiner Argumentation auf eine Aristoteles-Interpretation, die im 19. und noch im 20. Jahrhundert lange Zeit sehr wirkungsmächtig gewesen ist. Die zu jener Zeit weitverbreitete Ansicht, dass die Rhetorik als Seelenverführung oder Verdunklung der Wahrheit mit der Wissenschaft als Erkenntnis des Notwendigen – bei Aristoteles und über ihn hinaus – nichts zu tun habe, gilt inzwischen als umstritten. Zwar heißt es bei Aristoteles, dass sich die Redekunst mit Angelegenheiten beschäftige, die anders sein können als sie sind, und die nicht notwendigerweise so sind wie sie sind, während die Wissenschaft über Dinge handele, die nicht anders sein können, also notwendigerweise so sein müssen, wie sie sind. 25 Die daraus ableitbare unhintergehbare Differenz zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und rhetorischer Überzeugung löst sich allerdings auf, wenn man bedenkt, dass auch die aristotelische Rhetorik am Wahren und Gerechten und damit an wissenschaftlichen Werten im aristotelischen Sinne orientiert bleibt. So sieht Aristoteles weniger die Erzeugung bestimmter Gefühle als das zentrale rhetorische Überzeugungsmittel an, sondern vielmehr Beweis- und Argumentationsmittel, die dazu dienen, »Fakten zu beweisen und Behauptungen zu begründen, und zwar möglichst sachgerecht und überzeugend.« 26 Die zentralen rhetorischen Beweisformen sind dabei die enthymemata, also »Demonstrationen«, deren vier Arten auf unterschiedlichen Prämissen gründen: auf dem Wahrscheinlichen (eikos), auf dem Beispiel (paradeigma), auf dem Symptom als notwendigem Beweis (tekmƝrion) und auf dem Indiz oder Anzeichen (sƝmei-

24 So verbiete es sich nach Pandel, »Droysens Topik im Sinne der frühen Neuzeit als Teil der Rhetorik zu nehmen. Die Narratio der Gerichtsrede bedeutet nicht viel angesichts der Tatsache, daß Erzählen nicht nur narrare, sondern auch ennarrare heißt: erzählen und aufzählen. Geschichte aus der Rhetorik entwickeln zu wollen, bedeutet eine durch nichts zu rechtfertigende Fixierung auf den Kanon der septem artes. […] Auf diese Weise werden auch die spezifischen Entstehungsbedingungen der modernen Geschichtswissenschaft unkenntlich. Wenn die Geschichtswissenschaft sich in der Neuzeit konstituiert, dann gibt es auch keine rhetorische Tradition, in die die Geschichte einzuordnen wäre. Geschichte hat mit der Rhetorik so viel zu tun, wie die Tierfabel mit der Zoologie. Wie die Zoologie nicht durch ›Entfabulisierung‹ aus der Fabel entstanden ist, so entspringt die Geschichtswissenschaft auch nicht durch Entrhetorisierung der Rhetorik.« Vgl. Pandel, Mimesis und Apodeixis, S. 86f. Auf der Basis eines solchen Urteils ist es nicht verwunderlich, dass Pandel Droysens Konzeption der »untersuchenden Darstellung« stiefmütterlich behandelt und sie allein als ein »Kind der Kritik« ansieht. Demgegenüber kann eine eingehendere Interpretation, die hier vorgenommen werden soll, zeigen, dass Droysen sowohl in seiner Methodik als auch in seiner Typologie der historiographischen Darstellungsformen die rhetorische Tradition der forensischen Gerichtsrede im Rahmen der Reformierung der Strafrechtsreform und der Entstehung der Kriminalliteratur entscheidend erneuert und damit fortsetzt. 25 Vgl. Aristoteles, Rhetorik I 1357a 2-9 u. 13-15. 26 Christof Rapp, Einleitung, in: Aristoteles, Rhetorik, S. 169-384; hier S. 146.

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on), aus dem auf etwas zurückgeschlossen werden kann. So fußt auch die Rhetorik auf einer »argumentationstheoretischen Fundierung«. 27 Zu einer gänzlich anderen Einschätzung als Schiffer, Pandel und letztlich auch Fulda, die jeweils das Paradigma der Verwissenschaftlichung der Historiographie im Blick haben, kommen Carlo Ginzburg und Dietrich Harth. So verweist Ginzburg darauf, dass die Reduktion der Geschichte auf die Rhetorik nicht durch die Behauptung zurückgewiesen werden könne, dass ihre Beziehungen marginal gewesen seien. Vielmehr zeigt Ginzburg ganz im Sinne neuerer Aristoteles-Interpretationen, dass innerhalb der aristotelischen Rhetorik die Beweismittel den grundlegenden Kern bilden, während eine Reduktion der aristotelischen Rhetorik auf unlautere und unwissenschaftliche Überzeugungsstrategien dieser nicht gerecht wird.28 Dietrich Harth hat die Fortführung der rhetorischen Tradition in Droysens Historik frühzeitig erkannt. Entgegen der weitverbreiteten Auffassung, dass sich die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts von der Rhetorik abgewandt habe, stellt Harth fest, dass gerade der Methodikteil der Historik mit geringfügiger Variation der klassischen Abfolge der ars rhetorica mit der bekannten Einteilung der Redelehre in inventio, dispositio und elocutio folgt. So lässt sich die Heuristik auf die durch die inventio betriebene Stoffauswahl beziehen, während die Ausführungen zu Kritik und Interpretation als eine modernisierte dispositio aufgefasst werden können, da es hier jeweils um die Beweismittel und deren Applikation auf den Fall, also um Gesichtspunkte der Analysis geht. Schließlich spiegelt sich in Droysens Ausführungen zu den historiographischen Darstellungsformen die traditionelle Lehre der elocutio, die sich der überzeugenden Verbalisierung widmet. Die von Droysen angeführten vier Formen der historiographischen Darstellung entsprechen dabei ungefähr der rhetorischen Unterscheidung der vier genera dicendi. Der genus iudicale findet sich in der untersuchenden Darstellung, der genus deliberativum in der erörternden, diskussiven Darstellung im Hinblick auf politische Entscheidungsprozesse, der genus docile in der didaktischen Darstellung im Hinblick auf die Geltung historischen Wissens für Bildungsprozesse und der

27 Ebd., S. 147-150; hier S. 150. Damit liegen den Beweisen, die sowohl in der Rhetorik als auch in der Analytica Posterioria ausgeführt werden, dieselben Differenzierungen zugrunde. Eine Trennung zwischen rhetorischen und analytischen bzw. wissenschaftlichen Beweisformen, wie sie Pandel im Anschluss an diese beiden aristotelischen Schriften sieht, lässt sich insofern kaum aufrechterhalten. 28 Carlo Ginzburg, Noch einmal: Aristoteles und die Geschichte, in: Ders., Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, Berlin 2001, S. 49-62; hier S. 53 u. 59. Ginzburg verweist darauf, dass vor Aristoteles schon Thukydides genau dieselben Begriffe der enthymemata verwendet habe, um die kognitive Beziehung zur Vergangenheit zu beschreiben. Thukydides habe die Begriffe sĐmeion und tekmĐrion allerdings weniger scharf getrennt als Aristoteles. Die griechischen Geschichtsschreiber hätten jedoch noch kein ausgeprägtes Interesse an der Rhetorik gezeigt. Dies ändere sich erst mit Cicero und Quintilian. Vgl. Kessler, Das rhetorische Modell der Historiographie, S. 44f; auch Kapitel II 1.1.

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genus demonstrativum in der »erzählenden« Darstellung. 29 Diesen Verbindungslinien zur rhetorischen Tradition gilt es zu folgen, denn bei Droysen kommt es zu einer Reaktualisierung der Rhetorik vor dem Hintergrund neuer kriminalistischer, detektorischer Erzählweisen. 4.2 D IE

ERZÄHLENDE

D ARSTELLUNG

Auch wenn Droysen mit dem Oppositionspaar »Erklären und Verstehen« die von Dilthey vollzogene Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften vorbereitet haben mag, ordnet er den Begriff der Erklärung keinesfalls allein den Naturwissenschaften zu. Vielmehr ist beachtenswert, dass er den Begriff der Erklärung stark an die Form der historischen Erzählung anbindet. Droysens Historik nimmt insofern eine Vorreiterrolle für die Tradition sprachphilosophischer und narratologischer Geschichtstheorien ein. Mit der Erzählung verbindet Droysen vor allem die »Erklärung des Späteren aus dem Früheren, des Gewordenseins als ein notwendiges Resultat der historischen Bedingungen«. [H 163] So habe »die Gewohnheit der erzählenden Darstellung, der genetischen Entwicklung […] die Meinung hervorgebracht, daß man das Gewordene geschichtlich erklären könne und müsse, dass man die Notwendigkeit des Gewordenen, daß es da und gerade so werden musste, geschichtlich darlegen könne«. [H 161; H.i.O.]

Ein wesentlicher Kritikpunkt Droysens an der erzählenden bzw. genetischen Darstellung war, dass das Vorangegangene das Nachkommende durch die Erzählung bestimmt und suggeriert, dass es nicht anders hätte werden können – »eine Betrachtungsweise, die, in das Praktische und Politische übersetzt, einfach die Macht des Gewesenen über das Gegenwärtige, die falsche historische Doktrin, die Restauration und Reaktion proklamiert«. 30 Die erzählende Darstellung widersprach damit in gewisser Weise der gegenwartsbezogenen und politisch selbstbewussten Geschichtskonzeption Droysens. Indem Droysen in seiner Historik einen Schwerpunkt auf den rekonstruktiven Aspekt der historischen Praxis legen sollte, galt es für ihn, eine Erzählform zu entwickeln, die diesen Forschungscharakter abbilden konnte und gleichzeitig von dem in der Gegenwart beobachtbaren Zustand der Gesellschaft ausging. Die Rekonstruktion hatte dabei keinesfalls die Ursprünge oder absoluten Anfänge einer gewordenen Gegenwart zu entdecken: »Allerdings ist und wird immer die Art der Erzählung sein, daß sie die historischen Dinge als einen Verlauf darstellt, daß sie genetisch vor das Ohr des Hörenden treten, sie so gleichsam vor ihm entstehen läßt. Aber ebenso klar ist es, daß wir das so Nach-

29 Dietrich Harth, Historik und Poetik. Plädoyer für ein gespanntes Verhältnis, in: Eggert/Scherpe (Hg.), Geschichte als Literatur, S. 12-23; hier S. 18f. 30 H 162. Diese Identifizierung der genetischen Darstellung mit der Erklärung findet sich z. B. bei Chladenius im Paragraphen »Geschichte erklären«: AG 271. Zur aristotelischen Grundforderung, die Chronologie der Ereignisse zu wahren: Chladenius im Paragraphen »Die Geschichte muß vom Anfange übersehen werden«, ebd. S. 133.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter einander, zu dem wir uns forschend das Gewordene rekonstruieren, nur nachzuahmen versuchen, und es ist bloße Abstraktion – oder vielmehr ein Trugschluß –, wenn wir angeben, daß wir forschend zu einem Anfang des Gewordenen gekommen sind, von dem aus wir dann genetisch dessen Werden und Wachsen darstellen.« [H 159]

Die erzählende Form ist für Droysen die populärste unter den Darstellungsformen – sie ist die »Antistrophe der untersuchenden« Darstellung. Als »Mimesis des Werdens« stellt sie »den Gedanken nicht als Ergebnis einer Untersuchung, sondern als das Resultat eines genetischen Verlaufs dar«. [H 219f] Erzählende Geschichte ist letztlich die konsequente Rückübersetzung der in der Forschungspraxis rekonstruierten Vergangenheit in eine für das historische Denken typische lineare Zeitkonzeption: »[…] das Künstlerische besteht darin, daß wir erzählend die Resultate unserer Forschung in einer Form geben, die gleichsam mimetisch das Nacheinander des Werdens vorführt, daß wir also das ex post Rekonstruierte […] gewissermaßen umkehren und von seinem Anfang her sich entwickelnd zeigen.« [H 231]

Der mimetische Charakter der erzählenden Darstellung darf keinesfalls als Abbild, weder als »unmittelbare Wiederholung des äußern Verlaufs« noch als »der reale Verlauf« vorgestellt werden, sondern als »eine künstlerische Form, die das äußerliche Nacheinander der Dinge allerdings technisch auch verwendet, aber vertieft um ihre Bedeutsamkeit eines Zusammenhanges, den die Erkenntnis als die Wahrheit der Dinge aufweist«. [H 232] Die historische Erzählung ist an Sachlichkeit orientiert bzw. soll einen »sachlichen Eindruck« erwecken. Dabei ist eine transzendental reflektierte Unparteilichkeit bzw. Objektivität gefordert, während jede Tendenz zur Anschaulichkeit und zur moralischen Ausgestaltung historischer Charaktere mit »einem Dutzend Prädikaten« kritisch beargwöhnt wird. Plastische Charaktere dürfen nur ausgestaltet werden, so weit es die Materialien gestatten, alles Weitere wird an die tätige Phantasie des Lesers abgegeben. 31 Droysen nennt vier Formen der erzählenden Darstellung, die alle auf einer ausreichenden Quellen- und Forschungslage basieren, wobei die Informationsfülle nur durch klare Auswahlkriterien im Zuge eines geschichtlichen Gedankens bewältigt werden kann, dessen »relative Wahrheit« verfolgt werden muss. [H 234] Zunächst ist es die pragmatische Erzählung, die den »Pragmatismus der Bewegung« auffasst, die darstellt, dass »es so kommen sollte und kommen musste, wie es beabsichtigt und berechnet war«, die zu einer »Erklärung des Gewordenen durch die Kontinuität und den sachgemäßen Verlauf seines Werdens« kommt. 32 Sie kann gerade bei sachorientierten 31 H 239; vgl. auch H 231: Droysens kritische Distanz zur erzählenden Darstellung findet ihren Grund auch in deren persuasiven Macht, die in den Möglichkeiten der Anschaulichkeit einer »dramatischen Spannung der Erzählung« liege. 32 H HÜB 288ff. In der Fassung von 1857 fehlt diese pragmatische Form der Erzählung. Das in dieser Form angestrebte sachbezogene Erzählen hatte Droysen jedoch 1857 in den einleitenden Worten zur erzählenden Darstellung entwickelt. Vgl. H 233-242. Die vier Weisen der erzählenden Darstellung korrespondieren mit den vier unterschiedlichen Interpretationsweisen:

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Themen eingesetzt werden, wie etwa bei einer Geschichte der Physik, des Kreditsystems oder der Kriege, also dort, »wo zweckrationales Handeln einen sachlogischen Verlauf bewirkt«. 33 Als Zweites nennt Droysen die Form der Biographie, die vom »Genius des Gegebenen« und der natürlichen »Begabung« einer historischen Existenz, von der lebensgeschichtlichen Identität eines historischen Subjekts ausgeht, um »die wollende Kraft und Leidenschaft, durch welche die Bewegung sich vollzieht«, zu erfassen. 34 Drittens führt er die Monographie an, die auf die geschichtlichen »Verpuppungen und Metamorphosen« einer historisch-organischen Gestaltung aufmerksam macht und im Rahmen einer »Entwicklungsgeschichte« auf die Bedingungen, Mittel und Gegebenheiten innerhalb einer Veränderung eingeht. [H HÜB 293f] Für Droysen erreicht die erzählende Darstellung ihre »volle Höhe« in der vierten Darstellungsform, im »Drama« eines »katastrophischen Verlaufs«. Ihr liegen gesellschaftliche und soziale Konflikte zugrunde, während die historischen Akteure interessenorientiert handeln. Diese Darstellungsform biete sich bei Revolutionen, Kriegen und großen diplomatischen Verhandlungen an. Prinzipiell lassen sich jedoch alle Verläufe von Belang dramatisieren, und zwar »auch eine Handelskrisis, jede parlamentarische Debatte […] jeder Prozeß, jede Liebesgeschichte.« [H 246] Katastrophische Geschichten sind Beziehungsgeschichten zwischen komplexen Charakteren: »Jede Liebesgeschichte hat ihren katastrophischen Charakter, auch darin, daß die beiden, zwischen denen sie verläuft, sehr bald lernen, wie sie vereinigt jeder etwas völlig anderes werden, als sie vorher waren: ein neuer Gedanke ist über sie gekommen, in dem jeder von seiner Eigenart und seinem Egoismus viel aufgibt, um sich reicher und besser wiederzufinden.« [H HÜB 295]

Das katastrophische Drama erfasst die »Konkurrenz von Gedanken, Leidenschaften, Zwecken, Interessen«. Der dramatische Charakter dieser Darstellungsform resultiert aus dem »Kampf relativ berechtigter Existenzen, relativ wahrer Gedanken gegeneinander, ein[em] Kampf, über dessen Verlauf der höhere Gedanke schwebt, als dessen Seiten und Modalitäten sich die kämpfenden Prinzipien erweisen, in dem sie schließlich aufgehen.« Dabei zeigen sich derartige historische Kämpfe meist in der Form der Tragödie, womit der narratologische Blick auf die Erzählung durch einen poetologischen Aspekt erweitert wird: »Hier gilt es die Momente, aus denen sich ein Kampf entwickeln konnte und mußte, aufzuweisen, die relative Berechtigung derselben so gut wie ihr Unrecht, ihre Einseitigkeit zu veranschaulichen, den Kampf zu verfolgen, bis endlich die verwandelte Welt da ist, in der das so erarbeitete Höhere zu seiner Existenz kommt. Hier gilt es zu zeiChristian-Georg Schuppe, Der andere Droysen. Neue Aspekte seiner Theorie der Geschichtswissenschaft (=Studien zur modernen Geschichte; Bd. 51), Stuttgart 1998, S. 83ff. 33 Pandel, Mimesis und Apodeixis, S. 124. Laut Pandel nutzt etwa Max Weber den pragmatischen Erzähltyp. 34 H HÜB 293 u. 290. Die biographische Form ist nicht auf Personen eingeschränkt, sondern kommt auch für organisierte Kollektive (Städte, Organisationen, Völker) in Frage.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter gen, wie aus Titanenkämpfen eine neue Welt und die neuen Götter werden; genau wie in der Tragödie […] sich allmählich in sich steigernd und erhitzend, bewegt sich diese Gedankenwelt, bis sie endlich in den Charakteren Gestalt gewinnt, deren Lebensinhalt deren persönliches Pathos wird. Damit bricht der offene Kampf los.« [H 246f]

Die Vorbilder einer solchen tragödischen Historiographie sind die griechischen Geschichtsschreiber. Bei der katastrophischen Darstellung, die den Kampf der Ideen und Gedanken innerhalb der ethischen Welt in beinahe Wagnerianischer Qualität zu erfassen hat, haben für Droysen die deutschen Historiker einen Vorsprung gegenüber Franzosen und Engländern. Diese wiederum hätten bei der untersuchenden Darstellungsform größere Fähigkeiten bewiesen. 4.3 D IE

UNTERSUCHENDE

D ARSTELLUNG

Für Droysen war es ein »bloßer Schlendrian«, dass mit der historischen Darstellung lediglich die erzählende Darstellung verbunden wurde. Stattdessen forderte er, dass der historiographische Text den »besten Teil aller wissenschaftlichen Erkenntnis«, nämlich »die Arbeit des Erkennens« repräsentieren sollte. Geschichtswissenschaft wurde von ihm als Arbeit aufgefasst, und ihre praktischen und theoretischen Implikationen sollten im Text nachvollziehbar sein. 35 Während in der untersuchenden Darstellung ein »Bild unserer Arbeit« entsteht, evoziert die erzählende Darstellung ein »Bild von den Dingen selbst«. [H 220] Untersuchungen definierte er als »Bereicherung der Gegenwart und Aufschließung und Aufklärung von Vergangenheiten«. [H HÜB 274] Droysens Konzeption eines konstruktiv-rekonstruktiv verfahrenden forschenden Verstehens verlangte nach einem eigenen Ausdruck – der untersuchenden Darstellungsform, die er im Zuge der Entwicklungen im Verfahrenswesen und in Analogie zu den zeitgenössischen Untersuchungsrichtergeschichten mit ihrer spezifischen sachbezogenen Erzählweise entwarf. 36 Als Vorbild für die wissenschaftliche Darstellung nahm er nicht die schöne, sondern die anästhetische Literatur. In den Briefen an seinen Sohn Gustav, der ebenfalls Historiker war, sprach sich der Senior wiederholt für die untersuchende Darstellungsform aus, während er sich über die anderen weitgehend ausschwieg. Die Untersuchung sei »doch eigentlich das wahre gelehrte Vergnügen«. 37 Droysen spricht von der »Mimesis der Untersuchung« und weist ihr ganz klar eine »künstlerische Art« zu; sie verfüge über eine Schönheit der Form. [H 220] In erster Linie handelt es sich bei untersuchenden Darstellungen um konzentrierte Forschungsberichte über geschichtswissenschaftlich unerschlossene Bereiche, bei denen die »Unzulänglichkeit oder Dunkelheit des

35 Vgl. H HÜB 273f: Droysen stellt klar, dass in der erzählenden Darstellung demgegenüber »die Arbeit möglichst zurücktritt und die Dinge sozusagen zu ihrem Recht kommen.« 36 Vgl. Kapitel II, insb. 5.4. 37 Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Brief an Gustav Droysen, Berlin, 24. September 1883, S. 969.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

historischen Materials es nötig mache, durch Kombination diesen Mangel zu ersetzen«, wobei die »Evidenz des Materials herzustellen« sei. 38 Droysen vergleicht sie mit archäologischen Grabungstechniken und betont ihr »Engumschränktes, Mikrologisches«. [H HÜB 274] Die untersuchende Darstellung führt zu »kleinen Ergebnissen« mit »bleibendem wissenschaftlichen Gewinn« und steht damit im Gegensatz zu dem großen Schaulaufen der Historie in der Erzählung. Wie zuvor bei Heuristik und Kritik greift Droysen auf die historische Detektion und die Verhandlung bei Gericht zurück. Anwendbar ist die untersuchende Darstellung: »[…] überall, wo man auf irgendein unbekanntes X aus mehreren Gegebenheiten auf kombinatorischem Wege zu finden hat, wie denn täglich die Kriminalprozesse davon den Beweis geben; und es gibt manchen Staatsmann und manchen Staatsakt, dem man besser als durch die erzählende Darstellung in der Analogie einer Kriminaluntersuchung nachkommen würde.« [H 224]

Entgegen der Annahme, dass die untersuchende Darstellung bequemer zu handhaben sei als die erzählende, verweist Droysen darauf, dass sie vielmehr »eine größere Sammlung und Schärfe der Gedanken« einfordere und »ihr Vorzug nicht die Formlosigkeit« sei; denn sie wolle »nicht anschaulich sein, sondern überzeugen«, nicht »die Phantasie beschäftigen, sondern den Verstand befriedigen«. 39 Es gelte »die gemachte Untersuchung so darzustellen, daß sich als Resultat eben dies Spezielle, die Antwort auf diese Frage, die Ursache von den Wirkungen, der Zweck von dieser Handlung« ergebe. [H HÜB 274] Die Untersuchung sei ein künstlerisches und mimetisches Verfahren, da man die Untersuchung jeweils schon abgeschlossen hat und nun den Forschungsprozess darstellerisch nachbilden muss: Die Darstellung solle den Anschein einer sich gerade vollziehenden Untersuchung erwecken. So beruht die Kunst der untersuchenden Darstellung auf einem Täuschungsakt gegenüber dem Leser, weil man alle Sackgassen des Forschungsprozesses unerwähnt lässt: »[…] alle Abirrungen, Täuschungen und Erfolglosigkeiten […] läßt man hinweg; man nimmt nur das auf, was sich zum Ziele führend erwiesen hat; da man das Ergebnis hat, bevor man die Darstellung unternimmt, so hat man es in der Hand, die Reihenfolge der Kombinationen und Schlüsse so zu ordnen, wie sie am sichersten das Ergebnis vorbereiten.« [H 225]

Die untersuchende Darstellung zielt insofern auf eine Fiktion der Eindeutigkeit, indem sie nicht nur versucht, das Relevante vom Redundanten abzusondern, sondern auch mögliche Mehrdeutigkeiten auszuschalten. Ebenso wie in den zeitgenössischen literarischen Untersuchungsrichtergeschichten gibt es auch in den historiographischen Untersuchungsgeschichten noch keine Ästhetik des Scheins, der falsch gestreuten Fährten, wie dies dann im klassischen Detektivroman des golden age of crime der Fall sein wird. 38 H 222f. Damit grenzt Droysen die erzählende Darstellungsform auf gut erschlossene Forschungsgebiete ein. 39 H 224. Dass die Phantasie dennoch eine große Rolle bei der untersuchenden Darstellung spielt, steht im Widerspruch zu dieser Behauptung.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter

Innerhalb der untersuchenden Darstellungen unterscheidet Droysen zwei Grundformen. Dies ist erstens mit der »Mimesis des Suchens« das Beweisverfahren vor Gericht und zweitens mit der »Mimesis des Findens« die Untersuchungsrichtergeschichte: »Für die Darstellung der Untersuchung kann man nun entweder so verfahren, daß man zu suchen scheint, oder so, dass man zu finden scheint, d. h. entweder so, daß man von der Frage, die man lösen, von dem Dilemma, das man entscheiden will, ausgeht oder so, daß man von den Gegebenheiten ausgeht, in deren Erörterung sich die Resultate wie von selbst ergeben. Man sieht, diese Weise wird die mehr interpretative, jene die mehr kritische sein.« 40

Die Trennung einer Mimesis des Suchens von derjenigen des Findens wirkt einigermaßen artifiziell, da sich beides notwendigerweise zu ergänzen scheint. Auch wenn es Anklänge in Droysens Analyse gibt, beide mimetische Verfahren zusammenzudenken, hält er daran fest, dass dies zwei zu unterscheidende »Schemata« seien, »in denen sich unsere Wissenschaft in ihren untersuchenden Darstellungen bewegt«. [H HÜB 280] Diese Trennung gewinnt ihre Plausibilität dadurch, dass die Mimesis des Findens einen stärker interpretativen Charakter, die Mimesis des Suchens einen stärker kritischen Charakter haben soll. Das »Beweisverfahren« erzeugt einen Eindruck »logisch stringenter Schlussfolgerungen«, indem wie in einem Prozess plädiert werde: »Mit der Frage beginnend, zerlegt man zuerst deren Elemente, führt die Zeugen, die Beweise, die Indizien an der betreffenden Stelle ein, schreitet so von Stufe zu Stufe fort, bis man endlich zu ihrer Konklusion schreiten kann.« [H 226] Die Mimesis des Suchens neigt also zu einer Befragungstechnik, die sich darüber bewusst sein muss, welche Fragen zugelassen sind, um die Überzeugungsbildung nicht zu unterlaufen. In der späteren Fassung der Historik wird dieses Beweisverfahren mit der Gerichtspraxis verglichen und eindeutiger an zeitgenössische Strafrechtsbegriffe gekoppelt: »Von ganz anderer Art wird die Darstellung desselben Vorganges von Seiten des anklagenden Staatsanwalts und des verteidigenden Advokaten sein. Da handelt es sich nicht darum, aus den gesamten Tatsachen das Geschehen in der Vorstellung zu rekonstruieren, sondern um die Frage, ob der dieses Mordes Beschuldigte der Schuldige sei, d. h.: ist der subjektive Tatbestand, wie ihn die Anklage gibt, aus dem objektiven Tatbestand zu beweisen? Mit dieser Frage beginnend zerlegt man zuerst die Elemen40 H 226. In der Fassung von 1881 wird betont, dass die untersuchende Darstellung »nicht etwa die Untersuchung selbst« ist, sondern sie verfahre so, »als sei das in der wirklichen Untersuchung Gefundene noch erst zu suchen oder zu finden.« Nicht etwa ein Referat oder Protokoll der geführten Untersuchung dürfe man vorlegen, sondern man müsse »nur mimetisch die Form der Untersuchung« anwenden, um ein gefundenes Ergebnis zu begründen. Alle methodischen Mittel der historischen Disziplin – Interpretation, Kritik, Hypothese, Analogie – könnten hierbei angewendet werden. Vgl. H HÜB 278 u. 281f.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker te, führt die Indizien, die Zeugenaussagen an den betreffenden Stellen an, schreitet Schritt vor Schritt vorwärts, bis man endlich mit der Konklusion schließen kann: also ist der Angeklagte der Täter. Hier wird nicht gefunden, sondern gesucht; hier geht man nicht von der Leiche und den Blutspuren, von den Tatsachen zu der Peripherie ihrer Vermittlungen und Anlässe, sondern man sucht aus der Peripherie von Indizien und Zeugnissen, aus den Tatsächlichkeiten auf den Mittelpunkt, auf den Urheber des Mordes und dessen Imputation zu kommen.« [H HÜB 280]

Damit fanden wichtige zeitgenössische Strafrechtsbegriffe Eingang in die Theorie der untersuchenden Darstellung. So musste der subjektive Tatbestand aus dem objektiven Tatbestand geschlossen werden. Und aus der Ansammlung aller Beweise musste der Täter im Rahmen von plausiblen Indizienketten überführt werden, wobei seine Zurechnungsfähigkeit nachzuweisen war. Droysen hatte gegen diese Form des kritischen Beweisverfahrens jedoch Bedenken. In einer Besprechung eines Buches von Hermann Hüffer 41 griff er dessen objektivierende Methode des Zeugenverhörs an. Der Autor habe die entsprechende Literatur gelesen und sich in deutsche, österreichische und französische Archive begeben. Er mache – so Droysen weiter – »ein Zeugenverhör über die preußische und österreichische Politik jener Jahre, um ein Ergebnis hinzustellen, das den Schein völliger Objektivität annimmt, der durch die höchst ruhige Sprache und das immer billige und vorsichtige Urteilen über die Ansichten anderer noch erhöht wird. Eine Geschichte dieser Zeit will der Verfasser nicht geschrieben haben, und indem er geflissentlich von jeder tieferen militärischen oder politischen Auffassung dieser Verhältnisse absieht und sich einfach, man könne sagen: juristisch auf das Kreuzverhör seiner Zeugen beschränkt, kann er auf den Leser, der natürlich so Schritt für Schritt sicher sich geführt fühlt, den Eindruck hervorbringen, den er sich erwünscht […] Er verbirgt seine Tendenz auf das vollständigste.«42

Bei aller Vorliebe für die untersuchende Darstellungsform sah Droysen in der juristischen bzw. historisch-kritischen Argumentationsweise die Gefahr einer vorschnellen Objektivierung, die die Standortgebundenheit jeder historischen Darstellung zu verbergen drohte. Auf der anderen Seite bleibt sie die große Herausforderung, da sich hier das Historiker-Ich im forschenden Verstehen beweisen kann, auch wenn dies bisweilen über die Maße des Erträglichen hinausreiche: »Ich sehe in der Art und dem Gang, den die Geschichtsstudien bei uns nehmen, die Gefahr, daß wir vor lauter Methode und Altklugheit und sich selbst bespiegelndem und produzierendem Forschungsvirtuosentum die Sache und das Werden und die Schaffung und Schöpfung der sittlichen Welt vergessen und verlieren […] Ich bin immer noch Philolog genug aus meinen jungen Jahren her, um mich mit dem Kleinen 41 Hermann Hüffer, Diplomatische Verhandlungen aus der Zeit der französischen Revolution, Bd. 1: Oesterreich und Preußen gegenüber der französischen Revolution bis zum Frieden von Campo Formio. Vornehmlich nach ungedruckten Urkunden der Archive in Berlin, Wien und Paris, Bonn 1868. 42 Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Brief an Justus Olshausen, Berlin, 7. April 1868, S. 892.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter und Kleinsten gern einzulassen und kritisch herumzuschnüffeln; aber man soll nur nicht meinen, daß das Mittel der Zweck und das Instrument […] die Sache ist. […] In vielen Examen […] sehe ich […] wie unsere Jugend bei aller Schulung dürre wird und bei aller Methode gedankenleer, und, wer es hoch bringt, zum Spezialisten reift, zu einem Fabrikarbeiter für die Monumenta oder Urkundenbücher usw.«43

Droysen beschreibt sich hier als kritischen Schnüffler, ein Ausdruck, der später als pejorative Metapher für den Detektiv Prominenz erlangen sollte. Dass dieser stöbernde Instinkt bei Droysen nicht immer positiv besetzt war, lässt sich an dessen Polemik gegen Schlosser ablesen, der von ihm als »unverbesserlicher Besserwisser«, »Moralist« und »Quellenriecher« abqualifiziert wurde. 44 Aufgrund ihres weniger kritischen als interpretativen Vorgehens erhielt deshalb die zweite formale Möglichkeit der untersuchenden Darstellung – die »Mimesis des Findens« – den Vorzug: »Die andere Form geht von der Tatsache aus, wie es der Untersuchungsrichter tut, wenn etwa ein geschehener Mord vorliegt: das ist die Tatsache, von dieser Tatsache findet sich folgender Tatbestand: das Messer, die Kleidungsstücke, Fußspuren dahinführend usw. So den Tatbestand legt die Untersuchung dar, interpretiert ihn; weiterschreitend findet sich ein zweites, ein drittes, was man zur Sache heranziehen kann; allmählich wächst ein Gebäude von Zusammenhängen heraus, das, wenn es fertig ist, ein Ergebnis zeigt, wie der Anfang der Untersuchung nicht ahnen ließ. Wohl aber darin hat diese Weise der Untersuchung einen Vorzug, daß sie von kleinen Anfängen her immer neue Kreise entwickelt und in gleichem Maß das Interesse steigert. Man stellt hier also dar, als fände sich wie von selbst jedes neue Moment, jeder weitere Schritt; das Ziel und Resultat scheint sich untersuchend zu ergeben, und darin hat diese Form etwas Spannendes und die Phantasie Beschäftigendes. Indem man scheinbar die Geschichte des Findens darstellt, malt die Phantasie sich die gefundene Geschichte aus.«45

Im Gegensatz zur linearen Beweisführung der Indizienkette geht der Untersuchungsrichter bei seinen Ermittlungen kreisend vor und erschließt ein »System von Zusammenhängen«:

43 Ebd., Brief an Hermann Baumgarten, Berlin, 11. März 1881, S. 942. Droysen polemisiert hier vor allem gegen: Heinrich von Sybel, Über die Gesetze des historischen Wissens (1864), in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Berlin 1874. 44 Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Brief an Gustav Droysen, Berlin, 28. August 1882, S. 955. 45 H 226f. Vgl. dazu H HÜB 281: Droysen betont auch hier, dass die Form des Beweisverfahrens einen vermeintlich logischeren, stringenteren und zwingenderen Eindruck erwecke: »Aber nur scheinbar schreitet die andere Form [die Untersuchungsrichtergeschichte / A. S.], die von gleichsam zufälligen Indizien ausgeht, um einen Tatbestand zu rekonstruieren, loser und freier vorwärts: auch diese Darstellung muß ihr Ziel sicher im Auge haben, um nicht rechts und links abzuschweifen.«

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker »Der Untersuchungsrichter, wenn es sich um einen Mord handelt, findet diese Gegebenheiten vor sich: den so getroffenen Leichnam, die Blutspur, nach dem Dorf zuführend, auf dem Weg die weggeworfene blutige Axt mit den und den Zeichen nah dem Stiel usw. Diese Gegebenheiten, diesen Tatbestand erfaßt der Untersuchende, interpretiert ihn: also von dieser Seite überfiel und traf der Mörder den Erschlagenen, nach dem Dorf zu floh er. Weiterforschend findet er in dem Dorfe, in dem Hause neue Indizien: es fehlt da eine Axt, der Mann ist die Nacht fortgewesen, aufgeregt zurückgekommen usw. Allmählich ergibt sich dem Untersuchenden ein System von Zusammenhängen, das auf die Frage, mit der die Untersuchung begann, eine bestimmte und vollständige Antwort gibt. Aus dem sog. objektiven Tatbestand, d. h. den noch vorhandenen Überresten des Vorganges, und von der ersten Anzeige, d. h. der Auffassung aus erster, zweiter, dritter Hand ausgehend gewann und konstruierte die Untersuchung den sog. subjektiven Tatbestand, d. h. was der Mörder getan und gewollt hatte. Wenn der Untersuchungsrichter eine abschließende Darstellung für das Gericht macht, so wird er seinen Vortrag von der ersten Anzeige und dem ersten Befund ausgehend so fortschreiten lassen, daß sich dem Hörenden oder Lesenden endlich das Resultat als ein völlig sicheres ergibt. Also hier ging man von der Tatsache, von der Anzeige aus, daß da eine Leiche gefunden worden sei, welche auf einen Mord schließen lasse; man sucht nun des weiteren, wie die Tat geschehen, wer sie getan.« [H HÜB 279f]

Der Clou an dieser Variante der untersuchenden Mimesis ist die Vorstellung, dass bei der Lösung des Rätsels gleichzeitig ein Gesamtbild der Zeit in der Imagination des Lesers entsteht: »Indem sie den Leser gleichsam mitsuchen und mitfinden läßt, überzeugt sie ihn.« [H HÜB 278] Analog zu den Untersuchungsrichtergeschichten seiner Zeit wird dem Leser bei der Mimesis des Findens ein Mitfragen ermöglicht. Für die beiden unterschiedlichen Darstellungsformen gibt Droysen das Beispiel der Frage nach der Schuld oder Unschuld Wallensteins. Die Mimesis des Suchens müsse mit der Frage einsetzen, ob Wallenstein schuldig war, im anderen Fall wäre jedoch mit der Tatsache der Ermordung zu beginnen, um von dort aus die Erörterung der Umstände anzusetzen und zu dem Ergebnis zu gelangen: »der Mord war ungerechtfertigt.« [H 226] Während in der Mimesis des Suchens von einer Schuldfrage und damit von der Vorstellung eines kausallogischen Bedingungsverhältnisses ausgegangen wird, welches man in der Form einer stringenten Beweiskette darbietet, liegt der Mimesis des Findens die Vorstellung eines Puzzles zugrunde, das durch Anordnung und Zusammensetzen seiner Teile ein kohärentes Bild des vergangenen Geschehens ergeben soll. Die kriminalistisch-rekonstruktive Praxis impliziert, dass es nur eine Lösungsmöglichkeit gibt – die Grundvoraussetzung jeder Mordermittlung. Beide Verfahren vermögen deshalb nicht diejenigen Passagen der Historik wiederzugeben, in denen Droysen nahelegt, dass die historische Forschung niemals zu einem letztlich gültigen Abschluss gelangen kann. Die untersuchungsrichterliche Metaphorik versagt dann, wenn vor dem Hintergrund neuer Fragestellungen dasselbe Material ganz andere Schlussfolgerungen zulässt, ebenso wie die Erörterung einer historischen Frage immer auf einem beschränkten und ausgewählten Datenmaterial erfolgt. Der strafrechtliche Hintergrund, der von einem eindeutigen Zusammenhang von Tatbestand und Täterschaft ausgeht, verhindert so eine Konzeption der Mimesis des Suchens 142

Der Historiker als Untersuchungsrichter

und Findens, welche nicht nach Lösung und Eindeutigkeit strebt. Mit diesem Problem ist Droysen allerdings nicht allein, denn auch die Ansätze von Robin G. Collingwood oder Carlo Ginzburg, die den Untersuchungsrichter durch den Detektiv ersetzen, werden diesen Reduktionismus der kriminalistischen Metaphorik nicht auflösen können. Jedoch wird Ginzburg das Bild des Puzzles um das Bild des »Teppichs« ergänzen – als Vorstellung der Verknüpfung einzelner Fäden, die eine Struktur sichtbar machen. So wird von Ginzburg die detektivische Rekonstruktion nicht darauf eingeschränkt, einen kohärenten Handlungsverlauf liefern zu müssen; vielmehr will er mit ihr versuchen, ein strukturiertes Feld sichtbar zu machen. Auf diese Weise versucht Ginzburg den Aporien zwischen Mikro- und Makrogeschichte zu entgehen, auch wenn er an der Eindeutigkeit der kriminalistischen Metaphorik festhält. 46 Die Mimesis des Findens ist gleichzeitig auch die narrative Grundform für die diskussive Darstellung. Diese thematisiert das »Neue, erst Werdende«, während die untersuchende Darstellungsform primär auf das Vergangene ausgerichtet ist. In der diskussiven Darstellung habe man die leitende Tatsache oder Frage als »das Unbekannte oder Ungewisse« zu behandeln, die dann aus »Bekanntem oder Gewissem« zu erläutern ist, während die untersuchende Darstellung im Zuge neuer Fragen immer wieder auf Unbekanntes stoße. Nach dieser Pseudoverrätselung der diskussiven Ausgangsfrage kann man dann zur Erörterung aus unbezweifelbaren Tatbeständen voranschreiten, um ein Urteil und einen »erforderlichen Entschluß« zu formulieren. [H 271] Auch wenn Droysens Ausführungen zur untersuchenden Darstellung vor dem Hintergrund der Reform des Gerichtsverfahrens gesehen werden müssen, so blickt diese Darstellungsoption selbstverständlich auf eine längere Tradition zurück. Zu dieser zählte Droysen etwa die römischen quaestiones, theologisch-dogmatische und juristische Untersuchungen des Mittelalters und schließlich die Genese der historischen Untersuchungen vom Humanismus über die Reformation bis zu den historischen und philologischen Untersuchungen von Richard Bentley, Friedrich August Wolf, Gotthold Ephraim Lessing, Reinhold Niebuhr und Ottfried Müller. 47 Aber auch aktuelle Beispiele nannte Droysen: Etwa die eintausend Seiten beanspruchende Geschichte der deutschen Sprache von Jacob Grimm, der dabei nicht auf den »törichten« Gedanken gekommen sei, zu erzählen, sondern eben die untersuchende Form gewählt habe. Mit deren Hilfe konnte Grimm den »Gedankeninhalt seines Ergebnisses, die geschichtliche Kontinuität dieser sprachlichen Entwicklung« vor den Augen des verständigen Lesers evozieren. 48 Ein weiteres Beispiel für eine Untersuchungsrichtergeschichte sah Droysen in August Boeckhs 400 Seiten umfassenden Studien zum attischen Geld- und Münzfuß, in denen dieser den orientalischen Stammbaum des hellenischen Maß- und Münzwesens belegte und den Zu46 Ginzburg, Spurensicherung, S. 95-107. Vgl. Kapitel I, 4. 47 Vgl. H 222 u. H HÜB 276f. 48 H HÜB 278. Jacob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, Leipzig 1848. Jacob Grimm, Über den Werth der ungenauen Wissenschaften, in: Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm. Werke. Forschungsausgabe, hg. v. Ludwig Erich Schmitt. Abteilung I, Bd. 7: Kleinere Schriften. Rezensionen und vermischte Aufsätze, 4. Teil, Hildesheim 1991, S. 563-566.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

sammenhang von abendländischer und morgenländischer Kultur aufzeigte. 49 Das Anklageverfahren repräsentierte hingegen eine Untersuchung diplomatischer Natur von Wilhelm Wattenbach, der auf 42 Seiten die Unechtheit des privilegium maius – eines der sogenannten österreichischen Privilegien – und damit den »subjektiven Tatbestand der Fälschung« nachwies. 50 Damit stand ein Forschungsaufsatz zwei Werken von Gewicht gegenüber, doch sowohl das Beweisverfahren als auch die Untersuchungsrichtergeschichte konnte trotz ihrer Tendenz zur Kürze auch als längere monographische Darstellung konzipiert werden. Die untersuchende Darstellung strebt dennoch die Form des Essays an, in dem man, um die »logische Strenge der Untersuchung zu mildern, den Reiz der Schilderungen und der geistreichen Apercus, der Anspielungen hinzufügt«. 51 Gegen Ende seines Lebens soll Droysen trotz seines verachtenden Spottes gegen »das einreißende Kleinmeistertum und Forschungsvirtuosentum in der Zunft« 52 etwas resignierend fest haben, dass man »allgemeine Geschichte eigentlich überhaupt nicht schreiben könne, sondern »mit kleinen exakten Einzeluntersuchungen an die Dinge herankommen« müsse. 53 Droysens Sympathie für die untersuchende Darstellungsform hat sich in seinem eigenen Werk kaum niedergeschlagen. Während in Droysens Geschichte Alexander des Großen noch eine goethezeitliche Ästhetik nachgewiesen werden kann 54, hat Droysens Sohn Gustav die Vorlesungen über die Freiheitskriege als »diskussive« Darstellung bezeichnet, »welche die Fülle des Erforschten auf einen bestimmten Punkt der Gegenwart hinlenkt«. Bestimmender Interpretationsaspekt sei das Vaterland gewesen, zu dessen »Lehre, Buße und Besserung« es geschrieben sei, da Staat und Volk sich seit Beginn der vierziger Jahre auf »gefahrenvolleren Bahnen« bewegt hätten. 55 Für seine

49 August Boeckh, Metrologische Untersuchungen über Gewichte, Münzfüße und Maße des Alterthums in ihrem Zusammenhange, Berlin 1838. Vgl. auch August Boeckh, Der Staatshaushalt der Athener, 2. Aufl., Berlin 1851. 50 Vgl. H HÜB 280f. Dazu: Wilhelm Wattenbach, Die österreichischen Freiheitsbriefe. Prüfung ihrer Echtheit und Forschungen über ihre Entstehung, AÖG 8 (1852), S. 77-119. 51 H HÜB 282. Die Franzosen und Engländer hätten sich längst für diese Form entschieden, und auch in Deutschland gewinne sie mehr und mehr Raum, und dies, so Droysen weiter, »mit Recht, wenn der wissenschaftliche Arbeiter mehr das gebildete Publikum als die Sache im Auge hat.« Dennoch musste er feststellen, dass sie bisher noch nicht »den Reiz der Popularität« genieße. Vgl. dazu Droysens kritische Anmerkungen zur Form des Essays in Journalen und Konversationslexika: H 229. 52 So die treffende Bemerkung Meineckes in: Meinecke, Johann Gustav Droysen, S. 133. 53 Meinecke, Johann Gustav Droysen, S. 156. Meinecke bezieht sich hier auf eine nicht nachweisbare Bemerkung Otto Hintzes, der an Droysens »Historischer Gesellschaft« teilnahm. 54 Vgl. Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 447-454. 55 Gustav Droysen, Johann Gustav Droysen. Erster Teil: Bis zum Beginn der Frankfurter Tätigkeit, Leipzig 1910, S. 315. Vgl. auch, ebenfalls den diskus-

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mehrbändige Geschichte der preußischen Politik wählte Droysen eine pragmatische Erzählweise, die in geopolitischen Fragen ihre katastrophischen und bei der Bewertung der Politik des preußischen Staates unter Friedrich I. ihre diskussiven Momente hatte. 56 Die Materialbasis der Geschichte der preußischen Politik zeugt durchgehend von intensiver Forschung, doch resultiert daraus keine Untersuchungsgeschichte, da sie nach dem Rekonstruktionsvorgang ganz auf eine Mimesis des Werdens setzt und nicht von einer gegebenen Sachlage suchend oder findend zurückschließt. Insgesamt war sich Droysen über seine durchaus beschränkten darstellenden Fähigkeiten im Klaren, auch wenn er damit ein eigenes Wissenschaftsethos verband: »Mir wirft man die Herbigkeit meiner Darstellung vor, meine preußische Geschichte, sagt man, lese sich schwer. Ich habe auch nicht ein populäres Geschichtsbuch mehr auf den Markt bringen wollen, sondern bin zufrieden, wenn ernste Leser Nahrung für ihre Gedanken finden. Es ist große Gefahr, daß wir uns durch bequeme, einschmeichelnde Lektüre in der Historie mehr ruinieren, als die erweiterte Sachkenntnis Gewinn bringt. Die üble Manier Macauleys, anschaulich, gleichsam sinnlich faßbar zu sein wie ein Roman, richtet uns großen Schaden an, weder Hume noch Thucydides haben in diesem leichten Ton der Unterhaltungslektüre geschrieben, und auf den Beifall der Damen können wir verzichten, wenn wir Männern gefallen.« 57

Wissenschaftlichkeit und Publikumsorientierung schlossen sich somit anscheinend aus. Die Vorbehalte gegenüber einer anschaulichen Darstellung, wie etwa der Vorwurf gegenüber Macauley, Unterhaltungslektüre für ein weibliches Publikum geschrieben zu haben, richteten sich jedoch nur gegen einen bestimmten Typ von erzählender Darstellung. Doch auch die wissenschaftliche und im Umkehrschluss maskulin konnotierte untersuchende Darstellungsform bezog sich unter der Hand auf populäre Erzählweisen und die von Droysen vordergründig abgelehnte »Unterhaltungslektüre«: Denn das siven Charakter der Vorlesung betonend: Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung, S. 145-187. 56 »Große Aufgaben, schwere Prüfungen der Willenskraft und Einsicht erwarteten ihn«, schreibt Droysen einleitend über Friedrich III./I. und schließt die recht allgemeine, um nicht zu sagen unspezifische Frage an, ob der Kurfürst und König »dazu angetan [war], sie zu bestehen?« Droysen beantwortet sie im Anschluss an die Einschätzung Friedrich II. negativ: »So seltsam zerlegt sich die preußische Macht und ihre Aktion: im Westen Krieg ohne Politik, im Osten Politik ohne Armee. Wie tapfer die preußischen Truppen in Brabant, an der Donau, in Italien kämpfen mochten, den Gewinn ihrer Leistungen hatten andere Mächte; und zwischen Schweden, Polen, dem Zaren ohne Nachdruck der Waffen, den Waffenerfolgen anderer diplomatisch nachhinkend, sank die preußische Politik zur Intrige herab.« Solche Wertungen und Einschätzungen haben sowohl diskussiven (d. h. vor der Gesamtschau preußischer bzw. europäischer Politik) als auch untersuchend-beweisenden Charakter. Vgl. Johann Gustav Droysen, Friedrich I. König von Preußen. Mit einem Vorwort von Eberhard Straub, Berlin u. New York 2001, S. 14 u. 175. 57 Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Brief an Wilhelm Arendt, Jena, 8. Mai 1857, S. 451.

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neue Genre von Untersuchungsrichtergeschichten wie auch die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden vielfältigen Kriminalerzählungen, wie etwa jene des Neuen Pitaval, waren nicht nur der zeitgenössische Horizont, sondern wohl auch Reflexions- und Projektionsebene für Droysens Entwurf einer Narrativik der untersuchenden und diskussiven Darstellungsform. 4.4 D ROYSEN

ALS

T HEORETIKER

DES

K RIMINALROMANS

In Droysens Unterscheidung von untersuchender und erzählender Darstellung schwingt noch die bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts übliche Trennung zwischen Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber mit. 58 Christian Jacob Kraus hatte noch 1789 in seinen knappen Encyklopädischen Ansichten von der historischen Gelehrsamkeit einen Regelkatalog der historischen Darstellungskunst entworfen, der eine ähnliche Unterscheidung andeutete. So sprach dieser einerseits von »Geschichtsdarstellungen, wo man aus einer Menge Vorarbeiten die Materialien zieht, und zusammenordnet, wie in Kompendien und vollständigen Werken über Geschichte von Ländern, Städten, Stiftern etc.« und andererseits von der »Geschichtsforschung, wo alles auf Rechtsdeduktionen und Abhandlungen ex documentis et scriptoribus medii aevi, – voll Citaten, ohne Geist« ankomme. 59 Auch bei Ranke findet sich noch diese Trennung von Forschung und Darstellung. Denn selbst wenn er behauptet, dass die Geschichte »Wissenschaft und Kunst zugleich« 60 sei, verhandelt er beide Bereiche getrennt: So

58 Vgl. z. B. Arnold Hermann Ludwig Heeren, Andenken an Deutsche Historiker aus den letzten fünfzig Jahren, in: Ders., Historische Werke. Sechster Theil: Biographische und Litterarische Denkschriften, Göttingen 1823, S. 433-499; hier S. 441: Heeren beklagt, dass die deutsche Literatur »reich an Geschichtsforschern, aber arm an Geschichtsschreibern ist.« Siehe dazu auch: Jürgen Fohrmann, Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Kaiserreich, in: Ders./Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 576-604; hier S. 583f. Fohrmann weist auf den Unterschied zwischen der ideengeleiteten Historiographie von Georg Gottfried Gervinus und dem mikrologischen historiographischen Konzept von Jacob Grimm hin. Letzterer sei davon ausgegangen, dass im Zuge der Forschungsarbeit allmählich ein Mosaik entsteht, dessen Zusammenhang sich von selbst ergebe. 59 Christian Jacob Kraus, Encyklopädische Ansichten von der historischen Gelehrsamkeit [1789], in: Blanke/Fleischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 2, S. 379-396; hier S. 396. 60 Dass Kritik und Darstellung bei Ranke weiterhin auseinanderfallen, zeigt sich in: Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 [zuerst 1824] (=Leopold von Ranke. Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe; Bd. 33/34), 2. Auflage, Leipzig 1874. Ein abgesonderter Teil behandelt hier die »Kritik der Geschichtsschreiber«. Diesem Modell der Trennung von Darstellung und Kritik folgt auch: Gustav Adolf Harald Stenzel, Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern, Bd. 2, Leipzig 1828. Bei Heinrich von Sybel führt diese Trennung dazu, dass er zunächst 180 Seiten mit reiner Quellenkritik füllt, um dann schließ-

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ist Geschichte Wissenschaft, »weil sie erkundet, was je geschehen ist« bzw. »sammelt, findet, durchdringt«, und sie ist Kunst, weil sie »das Geschehene gestaltet und gegenwärtig vor Augen führt«, oder aber »das Gefundene, Erkannte wiedergestaltet, darstellt«. 61 Die Erforschung und das Schreiben der Geschichte rücken nun bei Droysen zusammen – erstmals wird der rekonstruierende historiographische Forschungstext theoretisch beschrieben und auf eine Stufe neben die diachrone und synchrone, dabei weitgehend lineare Geschichtserzählung gestellt. Mit seinen Ausführungen zur erzählenden und untersuchenden Darstellung hat Droysen über eine Analyse der Struktur historiographischer Darstellungsmöglichkeiten hinaus äußerst präzise zwei Grundformen des Kriminalromans beschrieben – den an der Linearität der chronologischen Zeit orientierten Thriller und den rekonstruktiv verfahrenden Detektivroman. Eine solch klare narratologische Analyse dieser beiden Typen des Kriminalromans ist erst im 20. Jahrhundert von Viktor Schklovskij, Ernst Bloch, Richard Alewyn und Tzvetan Todorov unternommen worden. Eine erste literaturtheoretisch stringente Analyse des erzählerischen Modells der analytischen Detektiverzählung unternahm der Mitbegründer der Formalistischen Schule Viktor Schklovskij 1929. 62 Er bemerkte, dass dem Detektivroman eine »Umstellung der Chronologie« zugrunde lag. Mit dieser »zeitlichen Umstellung, d. h. daß ein Ereignis ausgelassen wird und erst dann beschrieben wird, wenn schon die Folgen davon zu Tage getreten sind«, gelinge es, Geheimnisse zu schaffen. 63 Für Richard Alewyn ist die rekonstruktive Version einer Geschichte »eine künstlichere Art zu erzählen«. 64 Die detektivische Erzählung beginne dort, wo die Mordgeschichte aufhört, und sie höre dort auf, wo die chronologische Erzählung einer traditionellen linearen Erzählung beginnt, mit der Person des Täters und seinem Motiv. Insofern ist die lineare Erzählform progressiv, die Detektivgeschichte andererseits »invertiert oder rückläufig, weil sie gegen den Strich verläuft«. Während in der traditionell erzählenden Darstellung die Sätze die Form von Aussagesätzen haben, ist in der Detektivgeschichte genauso wie in der untersuchenden Darstellung Droysens die fragende Ermitt-

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lich zur Darstellung zu kommen: Heinrich von Sybel, Geschichte des ersten Kreuzzuges, Düsseldorf 1841. Vgl. dazu Pandel, Mimesis und Apodeixis, S. 84, Fußn. 11, der hier auf die Kritik aus den Reihen der Historiker aufmerksam macht, solcherart die »empirische Triftigkeit« der Darstellung belegen zu wollen. Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlaß, hg. v. Walther Peter Fuchs u. Theodor Schieder, hier Bd. 1: Tagebücher, München 1964, S. 103. Leopold von Ranke, Die Idee der Universalhistorie (1831), in: Ders., Aus Werk und Nachlaß, hg. v. Volker Dotterweich und Walther Peter Fuchs, hier Bd. 4: Vorlesungseinleitungen, München 1974, S. 72-89, hier S. 72. Viktor Schklovskij, Der Kriminalroman bei Conan Doyle, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, 2 Bde., München 1971; hier Bd. 1, S. 76-94. Ebd., S. 76. Richard Alewyn, Ursprung des Detektivromans, in: Ders., Probleme und Gestalten. Essays, Frankfurt/M. 1982, S. 341-361; hier S. 348.

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lung dominant: »Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens.« 65 Der strukturalistische Literaturtheoretiker Tzvetan Todorov brachte dann den Mord zu Beginn des Detektiv- bzw. Rätselromans und das darauf folgende rückwärtsgerichtete Schließen mit zwei prinzipiellen Möglichkeiten des Erzählens in Verbindung. 66 Während der klassische Roman (und auch der Thriller) dadurch charakterisiert sei, dass Entwicklungen, das heißt Ursachen und ihre Folgen, en passant dargestellt werden und die Erzählung mit der Handlung zusammenfalle, erzähle der Rätselroman rekonstruierend ein der Handlung vorgängiges Verbrechen, indem »der Autor die Resultate vor den Ursachen und das Ende vor dem Anfang geben« kann. Todorov unterscheidet deshalb zwischen dem am Anfang der klassischen Detektivgeschichte stehenden Mord und der dann folgenden Ermittlungsgeschichte. Die erste Geschichte des Mordes wird nicht erzählt und ist deshalb »absent aber wirklich«. Hingegen ist die Ermittlungsgeschichte »präsent aber bedeutungslos«, da sie »nur den Zweck hat, zwischen dem Leser und der Verbrechensgeschichte zu vermitteln«. 67 Bezogen auf das Schreiben von Geschichte kann dies so verstanden werden, dass die »Mordgeschichte am Anfang« jene Geschichte ist, die der Historiker erzählen will. Sie ist bedeutend, weil sie erzählen muss, wie es zu dem Mord gekommen ist. Andererseits ist die zweite Geschichte – die Vermittlungsgeschichte – im Fall der historiographischen Forschung keinesfalls »bedeutungslos«. Denn erst sie macht die Forschungsleistung sichtbar, und zwar mit dem Resultat, dass hier vorrangig die intellektuellen Anstrengungen bei der Rekonstruktion der Vergangenheit dargestellt werden als die ›eigentliche‹ Geschichte. So kommt es innerhalb Droysens Typologie der historiographischen Darstellungsformen erstmals zu einer theoretischen Ausführung dessen, was mit Paul Ricœur und Axel Rüth als die »narrative Verdopplung« des historiographischen Diskurses bezeichnet werden kann, und die Letzteren dazu bewegt hat, die Erzählsituation moderner historiographischer Werke vor dem Hintergrund detektivischer Narrative zu lesen. 68 Am Beispiel dieser Unterscheidung identifiziert Todorov weiterhin zwei Grundarten des Leseinteresses, die von der narrativen Struktur des Textes abhängen. So bewegt sich im Detektivroman die Neugier rückwärts, von der Wirkung zur Ursache. Der Thriller schafft dagegen eine Spannung, die vom Interesse an der Erwartung der folgenden Ereignisse geleitet wird und dabei von den Ursachen zu den Wirkungen voranschreitet. Todorovs Unterscheidung umfasst darüber hinaus zwei Hauptstrategien für die Schaffung und Aufrechterhaltung des Leseinteresses, die allgemein in Erzähltexten wirksam sind: Der Leser liest entweder weiter, weil er wissen will, was passiert ist, oder weil er wissen will, was passieren wird.

65 Ebd., S. 363f. 66 Tzvetan Todorov, Typologie des Kriminalromans, in: Ders., Poetik der Prosa (=Ars Poetica; Bd. 16), Frankfurt/M. 1972, S. 54-64. 67 Ebd., S. 57f. 68 Vgl. dazu Kapitel I, 4.

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Ernst Bloch benannte mit der psychologischen Dimension des Kriminalromans eine Facette, die auch für die Geschichtstheorie bedeutsam ist. Die Kriminalliteratur ist für ihn eng mit der Spannung des Ratens, des Entlarvens und Aufdeckens verbunden. Für den Detektivroman, an dessen Anfang eine mörderische Untat stehe, sei im Gegensatz zum Kriminalroman insbesondere die Rekonstruktion des »Unerzählten« und des »Vor-Geschichtenhaften« charakteristisch: »Vor ihrem ersten Wort, vor dem ersten Kapitel geschah etwas, niemand weiß es, scheinbar auch der Erzähler nicht.« In allen anderen Erzählformen, so Bloch, entwickeln sich »die Taten und Untaten vor einem durchaus anwesenden Leser, hier dagegen [im Detektivroman / A. S.] ist er bei einer Untat […] nicht dabei gewesen, sie liegt im Rücken der Geschichte, muß ans Licht gebracht werden, und dies Herausbringende ist selbst das Thema. Das dunkel Geschehene wird auch in keiner Vorhandlung dargestellt, eben weil es überhaupt noch nicht darstellbar ist, außer durch Ausgrabung, durch Indizien, welche sich rekonstruieren lassen.«69

In diesen narratologischen Reflexionen für die Detektiverzählung wird etwas benannt, was als eine Umkehrung der aristotelischen Wirklichkeitsdarstellung angesehen werden kann, die die europäische Literatur ebenso wie die Geschichtsdarstellung lange Zeit reguliert hat. Das Wirkliche darzustellen war dabei immer an die Chronologie der Ereignisse gekoppelt, doch der Detektivroman und mit ihm die untersuchende Darstellungsform der Historiker des 19. Jahrhunderts kehrten nun dieses Konzept radikal um. Nachdem man die lineare Geschichtserzählung als Suggestion einer letztlich nicht darzustellenden vergangenen Wirklichkeit überführt hatte und der illusionistische Charakter von Darstellungen erkannt wurde, in denen sich Geschichtsschreiber auszulöschen und hinter den Ereignissen zu verstecken suchten, formuliert die untersuchende ebenso wie die detektivische Darstellung ein Wirklichkeitskonzept, das den Erzähler und mit ihm seine eigene Wirklichkeit der Dokumente und Spuren, aber auch des politisch-moralischen Interesses in die Erzählung hineinholt. Daraus resultiert, dass in der untersuchenden Darstellungsform die Geschichte einer Genese nur noch reflektiert und rekonstruierend bzw. als Ergebnis am Ende eines Forschungsprojekts präsentiert werden kann. Auf diese Weise wurde zugleich der genetischen Erklärung linearer Erzählungen mit der rekonstruktiven und diskussiven Untersuchung ein Modus des Verstehens entgegengesetzt. Insofern sind die historiographisch-untersuchende und die detektivischpopuläre Erzählweise beide als »analytische Erzählungen« zu verstehen – im Gegensatz zu synthetisierenden Erzählweisen, die eine Geschichte sukzessiv chronologisch aufbauen. 70 Alewyns Einwand, dass es sich bei der detektivisch-untersuchenden Erzählung um eine »künstliche Art des Erzählens« handele, kann jedoch entgegengehalten werden, dass gerade die analytische Erzählung in eine »Erfahrungsgeschichte« mündet, die alltäglichen Situationen gerecht zu werden versucht, bei denen man mit Dingen konfrontiert ist, deren Sachverhalt es noch aufzuklären gilt. Mit Droysen muss dagegen gera69 Ernst Bloch, Philosophische Ansichten des Detektivromans, in: Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 2, S. 322-343; hier S. 327. 70 Dietrich Weber, Theorie der analytischen Erzählung, München 1975.

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de die lineare Erzählung als viel ›künstlicher‹ gelten, da sie durch die häufig gewählte auktoriale Erzählsituation und die panoramatische Übersicht die ordnende Hand des Autors verschweigt. 71 Die beiden zentralen Formen des Kriminalromans, die Detektivgeschichte und der Thriller, deren zentrale Merkmale eine rückwärtsgerichtete, forschende Erzählzeit bzw. eine linear voranschreitende Erzählzeit sind, gleichen damit zwei auf das Wesentliche reduzierten Formen der Geschichtsschreibung.

71 Vgl. Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7., neubearb. u. erw. Aufl., Opladen 1990, S. 118133; hier S. 128f.

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5 Geschichtsdarstellung und zeitgenössische Kriminalliteratur Die Entstehung der modernen Kriminalliteratur in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist mit der Genese der modernen Polizei und der Entwicklung neuer kriminalistischer Techniken eng verknüpft. Als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Voraussetzungen gelten die Entstehung kapitalistischer Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die Ausbildung von Informationsgesellschaften und die zunehmende Säkularisierung. Terminologisch hilfreich ist dabei die Unterscheidung zwischen der älteren Verbrechensliteratur und der Kriminalliteratur im engeren Sinn. Die Verbrechensliteratur geht dem »Ursprung, der Wirkung und dem Sinn des Verbrechens« sowie der Motivation des Verbrechers mit seinen äußeren und inneren Konflikten nach, um die Frage der Strafe zu klären. Davon abzugrenzen ist die Kriminalliteratur, der es im Detektivroman um die Aufklärung eines Verbrechens bzw. im Thriller um die Verfolgung eines meist zu Beginn der Erzählung bekannten Verbrechers geht. 1 Umstritten sind freilich die philosophischen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Detektivromans, die entweder im Rationalismus der Aufklärung, im Positivismus des 19. Jahrhunderts oder in der Mystik der Romantik gesehen werden können. Schließlich sind aus einer rechtshistorischen Perspektive die Abschaffung der Folter und die Einführung des Indizienbeweises im Zuge der Französischen Revolution – und das daraus resultierende Indizienparadigma des 19. Jahrhunderts – die wesentlichen Voraussetzungen für die Entwicklung einer analytischen und indizienorientierten Literaturgattung, in deren Zentrum eine Ermittlerfigur steht. Die klassische Detektivgeschichte entsteht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Werken von Edgar Allan Poe, Charles Dickens, Emil Gaboriau und Arthur Conan Doyle. Dabei werden von Literaturhistorikern The Murders in the Rue Morgue (1841), The Mystery of Marie Roget (1842/43) und The Purloined Letter (1845) von Poe meist als diejenigen Erzählungen betrachtet, in denen wesentliche Topoi der klassischen Detektivliteratur erstmals zusammengeführt werden: ein brillanter, exzentrischer Detektiv und tumbe Polizisten; ein Mordrätsel, das in einem abgeschlossenen Raum stattfindet (closed room mystery); fälschlich Verdächtigte, auf die zunächst alle Indizien hinweisen; eine unerwartete und überraschende Lösung; die Idee, dass nach der Eliminierung aller Unwahrscheinlichkeiten die Wahrheit zu Tage tritt; und die Charakteristik, dass die Lösung umso einfacher ist, je bizarrer der Fall anmutet. Eine erste Übersetzung von Poes The Murders in the Rue Morgue fand sich 1854 in der Berliner Gerichts-Zeitung, eine zweite 1857 in der Illustrierten Welt, jeweils allerdings unter einem vom Original abweichenden Titel. 2 Bei

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Peter Nusser, Der Kriminalroman, 2. überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart 1992, S. 1. Ein geheimnisvoller Doppelmord. Aus den Causes célébrés von Zaniacomi, Rath am Pariser Cassationshofe, in: Berliner Gerichtszeitung 1854, Nr. 2733. Das Geheimniß. Eine Criminalgeschichte, in: Die illustrierte Welt 1857, S. 246-251; 261ff; 267ff. 1875 erscheint die Erzählung dann unter dem heute bekannten Titel.

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beiden Veröffentlichungen wurde die theoretische Einleitung weggelassen, die das Verfahren und die Methode der rationalistischen Aufklärungsarbeit Auguste Dupins expliziert. Doch die rationale Klärung des Falles am Ende der Erzählung, die noch einmal den Verlauf der Nachforschungen rekapituliert, findet sich in beiden Geschichten und ist die Krönung der brillanten Leistung Dupins. Ebenfalls erscheinen in den 1850er Jahren in Familienzeitschriften die ersten Übersetzungen von Polizeigeschichten aus der Feder von William Russel und Charles Dickens. 3 Schaut man auf deutschsprachige Kriminalerzählungen, so sind von der älteren gattungsgeschichtlichen Forschung Novellen wie Das Fräulein von Scudery (1819) von E. T. A. Hoffmann, Die Judenbuche (1842) von Annette von Droste-Hülshoff, Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1855) oder aber Wilhelm Raabes Stopfkuchen (1890) zu den Vorläufern des modernen Kriminalromans gezählt worden. 4 Auch Heinrich von Kleists Novellen Michael Kohlhaas und Die Marquise von O. (beide 1810) wurden als »analytische Kriminalnovellen« gelesen. 5 Auch wenn sich in diesen Novellen Ansätze eines detektorischen Erzählens erkennen lassen, fehlt ihnen doch eine zentrale Ermittlerfigur, ebenso wie sie den klassischen Aufbau der Detektivgeschichte vermissen lassen, die mit dem Mordrätsel beginnt und sich dann ganz auf den Aufklärungsprozess konzentriert. Diese Genremerkmale werden in der deutschsprachigen Literatur erst in jenen »Untersuchungsrichtergeschichten«, etwa von J. D. H. Temme, zu finden sein, die seit der Mitte des Jahrhunderts vermehrt publiziert werden. Die sozial- wie kulturgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der Kriminalliteratur ebenso wie die klassischen deutschsprachigen Kriminalnovellen interessieren hier jedoch weniger als die Interdependenzen von Historik, Historiographie, Kriminalistik und kriminalistischem Erzählen im 19. Jahrhundert, die jenen literarischen Horizont bildeten, vor dem Droysen seine Theorie der untersuchenden Darstellungsform entwickeln konnte. Diese Interdependenzen sind beispielhaft in den Anweisungen zur juristischen Geschichtserzählung am Ende des 18. Jahrhunderts zu erkennen, die in der Tradition der forensischen Rede stehend auch ein wichtiger Ausgangspunkt für die Ausbildung der Kriminalerzählung des 19. Jahrhunderts waren. Friedrich Schiller versuchte sich an einer Synthese von Kriminalgeschichte und allge3

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Siehe dazu die vorzügliche Bibliographie bei Hans-Otto Hügel, Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978, S. 305ff. Vgl. dazu und zur Kritik dieser Traditionsbildung: Nusser, Der Kriminalroman, S. 81-86. Vgl. Hans Kiefner, Species facti. Geschichtserzählung bei Kleist und in Relationen bei preußischen Kollegialbehörden um 1800, in: Kleist-Jahrbuch (1988/89), S. 13-39. Kiefner erkennt in den syntaktisch verschachtelten und gedrängt-komplexen Anfangssentenzen Kleists die Herkunft aus den species facti der gerichtlichen Relationen, die Kleist während seiner Ausbildung in der preußischen Verwaltung kennen gelernt hatte. Zu Kleists Michael Kohlhaas als einer Geschichtsdichtung, die historische Erkenntnis im Modus des Als-Ob anschaulich werden lässt und damit den Weg für die Geschichtsschreibung Rankes ebnet, siehe: Süssmann, Geschichtsschreibung oder Roman?, S. 171-197.

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meiner Geschichte, die im Neuen Pitaval von Willibald Alexis und Julius Eduard Hitzig aufgegriffen wurde. Während Sammlungen von Kriminalfällen wie diejenigen von François Gayot de Pitaval oder Anselm Feuerbach noch das juristische Fachpublikum im Blick hatten, zielte der Neue Pitaval ausdrücklich auf das lesende Publikum. So etablierte sich im 19. Jahrhundert eine Zweiteilung von fachlich orientierten Falldarstellungen, die der Aus- und Weiterbildung von Juristen dienen sollten, und den für ein Laienpublikum geschriebenen Kriminalgeschichten. 6 Populär wurde das Kriminalgenre jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Untersuchungsrichtergeschichten und den Polizeigeschichten, in denen die kriminalistische Nachforschung eng an eine literarisch stilisierte Ermittlerfigur gebunden war. 5.1 D IE

JURISTISCHE

»G ESCHICHTSERZÄHLUNG «

Im schriftlichen und geheimen Inquisitionsverfahren, zu dem die Aktenverschickung an die juristischen Fakultäten gehörte, war es seit Anfang des 18. Jahrhunderts üblich, zunächst eine »Geschichtserzählung« des Sachverhalts zu liefern, um dann in einem davon abgetrennten Teil die juristischen Detailfragen sowie argumentierend die Frage nach der Täterschaft zu erörtern.7 Diese Geschichtserzählung war als eine Lehnübersetzung der species facti oder narratio facti im Zuge des Fachsprachenwechsels ein juristischer Fachbegriff geworden, der auch in publizierte Prozess- und Urteilsberichte ein-

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Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Jörg Schönert und die von ihm herausgegebenen Tagungsbände: Jörg Schönert, Zur Ausdifferenzierung des Genres ›Kriminalgeschichten‹, in: Ders. (Hg.), Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850-1880. Interdisziplinäres Kolloquium der Forschergruppe Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 1770-1900, München 15./16. Januar 1981 (=Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 8), Tübingen 1983, S. 96-125. Ders., Kriminalgeschichten (1815-1830) im Spektrum von der »aktenmäßigen Darstellung« bis zur »historisch-romantischen Manier«, in: Rainer Schöwerling (Hg.), Die Fürstliche Bibliothek Corvey. Ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. Beiträge des 1. Internationalen Corvey-Symposions 25. – 27. Oktober 1990 in Paderborn, München 1992, S. 147-162. Joachim Linder, Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und der Verbrechensdeutung bei W. Häring und W. L. Demme, in: Jörg Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10. 12. April 1985 (=Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 27), Tübingen 1991, S. 313-348; hier S. 317. Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler, Zur Poetik des Sachverhalts im juristischen Schrifttum, in: Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität, S. 117-157; hier 126f. Zur Aktenverschickung: Gerhard Buchda, Aktenversendung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 84-87.

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ging. Die Verbindung von juristischer Geschichtserzählung und literarischer Kriminalerzählung ist zum einen im Zugriff auf juristische Materialsammlungen zu sehen, zum anderen aber in der (abgrenzenden) Orientierung an der juristischen Geschichtserzählung. 8 Für die Geschichtsschreibung hielt Droysen fest, dass die juristische Relation manches mit der historischen Methode und der Darstellung gemein habe, auch wenn sie »ihre Vorstellungen unter anderen als historischen Gesichtspunkten« subsumiere. [H 222] Die Schreibregeln, nach denen diese Fallberichte verfasst wurden, sind ein früher Versuch, »Wirklichkeit ohne theologische oder philosophische Überhöhung zu erzählen«, und ihre Erzähltechnik, die in den geläufigen Anweisungen als durchformulierte Poetologie erscheint, ist »eine frühe Keimform ›realistischer‹ Poetik«. 9 Der Aufbau der Fallgeschichten vollzog sich in drei Schritten – in der Sachverhaltsschilderung, den »rechtlichen Bedenken« und dem begründeten Urteil, wobei bei klaren Fällen der zweite Schritt weggelassen werden konnte. Die richterliche Ermittlung des Sachverhalts war rechtsdogmatisch belanglos; interessanter für die Arbeit der Juristen waren Fälle, in denen sich auf der Basis unstrittiger Tatsachen strittige Rechtsprobleme ergaben. Strittige, das heißt interpretationsfähige Sachverhalte verdarben hingegen die klare juristische Argumentation. Die Trennung von Sachverhaltsdarstellung und Rechtserörterung spiegelt dabei die Trennung von Untersuchungs- und Urteilsinstanz im Inquisitionsverfahren wider, die als ein Schutz des Beklagten verstanden wurde. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz wurden die Anweisungen zur Abfassung gerichtlicher Relationen genauer, auch wenn sie kaum Originalität beanspruchen konnten. Knapp und präzise strebten sie »im redlichen Bemühen um Faktizität die juristische Operationalisierung der Wirklichkeit« an und machten so aus einem Tathergang eine nüchterne Erzählung. 10 Eine genauere Beschreibung, was der Jurist unter einer Geschichtserzählung verstand, findet sich in Justus Claproths Schrift Grundsätze von Verfertigung der Relationen aus Gerichts-Acten, zum Gebrauch der Vorlesungen, die mit ihrer Preisgabe der rhetorischen Tradition des Barock die Hinwendung zum pragmatischen Erzählzweck vollzieht. Nachdem Claproth festgestellt hatte, dass in einer Relation »alles, was nur nach einer herbeygezogenen und prangenden Gelehrsamkeit schmeckt«, zu vermeiden sei und der Referent durch Gründlichkeit zu überzeugen habe, führte er aus, dass die Geschichtserzählung nichts anderes sei »als die historische Erzählung derjenigen Thatumstände, welche bey der angestellten Klage zum Grunde liegen. Hiermit muß ohne allen andern Eingang angefangen werden«. 11 Faktisches Erzählen ohne vorherige theoretische oder meinungsbildende Bemerkungen ist also das Ziel der »historischen« Darstellung des Juristen, welche »deutlich, ordentlich, kurz und doch vollständig« zu sein habe.12 Verwor8 9 10 11

Meyer-Krentler, Zur Poetik des Sachverhalts, S. 119. Ebd., S. 121. Ebd., S. 131. Justus Claproth, Grundsätze von Verfertigung der Relationen aus GerichtsActen, mit nöthigen Mustern. Zum Gebrauch der Vorlesungen. Nebst einer Vorrede von dem Verhältnis der Theorie und der Ausübung der Rechtsgelehrsamkeit, 4. Aufl., Göttingen 1789, S. 9. 12 Ebd., S. 12.

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rene Personenkonstellationen müssen entwirrt und Vorgänge anhand der klassischen Trias von Ort, Zeit und Handlung strukturiert werden, wobei das Eruieren des chronologischen Sachverhalts aus den Akten als beschwerlich beschrieben wird. Klar zu erkennen ist hier wie auch bei Carl Friedrich Walch die Orientierung am Geschichtsschreiber, da »der Referent eigentlich bey der Geschichtserzählung einen Historicus vorstellet«, insofern er »die chronologische Ordnung auf das genaueste« beobachten muss. 13 Andernorts betonte der Jenenser Advokat und spätere Professor Friedrich Ernst Carl Mereau die »Absicht der Geschichtserzählung […], welche doch nur darin besteht, die richtige Einsicht von der wahren Beschaffenheit einer Sache zu befördern«. Dabei sei »jede Anticipation irgend einer später vorgefallenen Thatsache, wenn früher vorgefallene ihr vorhergehen«, zu vermeiden. Dass dies auf eine »Trockenheit« des Vortrags hinauslaufen werde, war Mereau allerdings bewusst. 14 Es mussten also die wesentlichen Punkte des Falles in die Darstellung aufgenommen werden, so dass als wichtigste Strukturvorgabe ein Erzählen im Hinblick auf die Entscheidung der Rechtsfrage zu gelten hat, obwohl paradoxerweise der Rechtsgrund noch nicht angeführt werden durfte. Die Fiktion des »puren Sachverhalts« ergab sich dabei aus einem auktorialen Erzählen ohne jedweden Eingriff eines Narrators, aus den prinzipiellen Unterscheidungen von Haupt- und Nebenumständen sowie feststehenden und strittigen Sachverhalten, wobei jeweils Letztere möglichst keinen Eingang in die Geschichtserzählung finden sollten. Das hieß zwar nicht, dass die Nebenumstände einer Tat nicht in der Prozessgeschichte auftauchen durften, doch nur in Ausnahmefällen sollten die strittigen Aussagen der Parteien wiedergegeben werden. Die deutliche Trennung von Tat (Geschichtserzählung) und Beurteilung (Prozesserzählung) lässt sich erzähltheoretisch so bestimmen, dass Erstere die Exposition darstellt, in der die Fakten im Hinblick auf das zunächst verschwiegene Handlungs- und Erzählziel vorgelegt werden, um dann in eine zweite, offene Entscheidungsphase zu münden. 15 Die Fiktion einer neutralen Tathergangsbeschreibung muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass der Inquisitionsprozess in der Regel auf das Geständnis ausgerichtet war, auch wenn sich dieses Paradigma wie beschrieben im Zuge der Abschaffung der Folter und des Anstiegs extraordinärer Strafen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schon langsam auflöste. Mit der Fixierung auf das Geständnis kommt der Sachverhaltsdarstellung noch relativ wenig Bedeutung zu. Die objektivierende Geschichtserzählung des Juristen 13 Carl Friedrich Walch, Einleitung in die Wissenschaften aus Acten einen Vortrag zu thun und darüber zu erkennen, Jena 1773, S. 58. 14 Friedrich Ernst Carl Mereau, Versuch einer Anleitung zu practischen Arbeiten überhaupt. Nebst einem Anhange auserlesener und ungedruckter Actenstücke, Jena 1792, S. 85. Mereaus Text enthielt auch Vorschriften zur Tempuswahl bei »Geschichtserzählungen«. Der Präsens war dem »Factum« bzw. der »Geschichtserzählung« vorbehalten, die »in ganz trockenen, einzelnen, unter sich abgerissenen Sätzen abgefaßt ist«, während die ausführliche, Zusammenhänge schildernde Geschichtserzählung auf das Präteritum zurückgreifen durfte. Ebd., S. 93f. 15 Vgl. Meyer-Krentler, Zur Poetik des Sachverhalts, S. 133.

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zeigt zunächst nur, dass hier ein rechtsprechungswürdiger Fall vorliegt. Darin lassen sich Zusammenhänge mit der pragmatischen Romantheorie Wielands und Blanckenburgs finden, die auch die historiographische Erzählung der Spätaufklärung prägte. 16 Pragmatisches Erzählen war auf den Kausalnexus und die Finalität des Erzählens ausgerichtet. Was aus Sicht der Kriminalliteratur fehlte, waren die psychologische Entwicklung, der ›Human Factor‹, sowie die Aufhebung der Trennung von Erzählung und Reflexion. Aus dem Blickwinkel der historiographischen Darstellungsformen fehlte hingegen jener »Aufbruch des Subjekts aus der objektivistischen Geschichts- und Erzähltheorie der Aufklärung« 17, der trotz aller Objektivitätspostulate für die Historiographie des Historismus so bedeutend wurde. Und auch in der Geschichtsschreibung war die Trennung von Erzählung und Reflexion im Widerspruch von Forschung und Darstellung wiederzuerkennen, der erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der untersuchenden Darstellungsform aufgelöst werden konnte. 18 Anregungen hierzu lieferte insbesondere Schiller, der in seiner Auseinandersetzung mit der juristischen Geschichtserzählung zu dem Schluss kam, dass vor allem deren starre Chronologie aufzubrechen sei, um eine ästhetische Wirkung zu erzielen. 19 Mit dem Anstieg der für ein breiteres Publikum gedachten Veröffentlichungen von juristischen Fallsammlungen lösten sich die Beschränkungen der juristischen Geschichtserzählung zunehmend auf: Der Autor als »letztinstanzlich urteilender Richter« garantierte im Nachhinein die Stringenz von Tathergang, rechtlicher Würdigung und Urteil und erzeugte eine »erzählerische Innensicht«. 20 Die Auflösung jener rigiden Trennung von Geschichtsund Prozesserzählung war jedoch nur ein allmählicher Prozess, und so fand sich die Einteilung in Erzählung und Erörterung noch in den vermeintlich an ein Fachpublikum gerichteten Merkwürdigen Criminalrechtsfällen für Richter, Gerichtsärzte, Vertheidiger und Psychologen von Wilhelm Ferdinand Bischoff aus dem Jahr 1833 wieder. 5.2 S CHILLERS ›KRIMINALANTHROPOLOGISCHE‹ G ESCHICHTSKONZEPTION Schillers Geschichtsschreibung hat in der historiographiegeschichtlichen Forschung eine Renaissance erlebt. Vor allem seine im engeren Sinne historiographischen Werke – Der Abfall der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (1788) und die Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs (1790) –, aber auch seine Geschichtsdramen, flankiert von seinen pointierten Stellungnahmen zum Verhältnis von Geschichte und Philosophie, avancieren

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Vgl. dazu Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 49-144. Ebd., S. 129. Vgl. Kapitel II, 4.3 und 4.4. Siehe dazu das folgende Kapitel II, 5.2. Meyer-Krentler, Zur Poetik des Sachverhalts, S. 136. Auch: Ders., »Die verkaufte Braut«. Juristische und literarische Wirklichkeitssicht im 18. und 19. Jahrhundert, in: Lessing Yearbook 16 (1984), S. 95-123.

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in neueren Studien zum Wendepunkt von der spätaufklärerischen zur frühen historistischen Geschichtsschreibung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 21 Schiller war in seiner Geschichtsschreibung und in seinen Geschichtsdramen weniger an kontinuierlichen historischen Entwicklungen interessiert, sondern an Aufstands-, Widerstands- und Verschwörungsgeschichten. So war sein erster Publikationsplan als »Historiker« ein Sammelwerk zur »Geschichte merkwürdiger Rebellionen und Verschwörungen aus mittleren und neueren Zeiten«. 22 In solchen historischen Ausnahmesituationen kommt es im Machtspiel zu entscheidenden Wendungen, und es drängt die historischen Akteure zur motivierten Handlung. Schillers Vorbild für seine dramatische Analytik der Macht war Shakespeare, mit dem er das Interesse für die Verstrickung von Geschichte und Verbrechen mit den wiederkehrenden Plots von Verstellung und Intrige, der Verführung durch Macht und Leidenschaften, teilte. Die psychologische Betrachtung seelischer wie auch historischer Ausnahmezustände versprach Spannung, gerade da Schiller nicht nur Verständnis für die Rebellen, sondern immer auch für die staatliche Gewalt, für Tyrannen und absolutistische Fürsten weckte, solange es sich nicht um die kirchliche Despotie und ihre Stellvertreter handelte. Sieht man einmal von seinem Schauspiel Wilhelm Tell (1804) ab und mehr noch von seiner Jenenser Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? von 1789, in der er zuversichtlich auf den Fortschritt innerhalb der menschlichen Kultur setzt, so durchzieht sein Geschichtsverständnis ein Pessimismus, der eng an die Inszenierung der Geschichte als Trauerspiel und Tragödie gebunden ist. 23 Schillers tragödische ›Kriminalgeschichten‹, deren Grundstruktur das Scheitern einer Idee ist, bleiben ambivalent. Einerseits laufen sie auf eine »Anerkennung der Ordnungsmacht, der Autorität, Tradition« und auf das philosophische und universalhistorische Bedürfnis hinaus, »Sinn und Endzweck zu konstruieren« 24, andererseits ist seine Tragödienform durchaus als ›progressiv‹ einzuschätzen, da sie ohne die Kategorie der Zukunft nicht zu denken ist und zeigt, wie um Neues gestrebt und gekämpft wird. 25

21 Vgl. Otto Dann (Hg.), Schiller als Historiker, Stuttgart 1995. Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 228-263. Süssmann, Geschichtsschreibung oder Roman?, S. 75-112. Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft (=Beiträge zur Geschichtskultur 24), Köln 2002. 22 Ernst Schulin, Schillers Interesse an Aufstandsgeschichte, in: Dann (Hg.), Schiller als Historiker, S. 137-155, hier S. 139. 23 Zu Schillers verschiedenen Varianten von Verschwörung und Rebellion und ihrer Tragödienform siehe: Walter Müller-Seidel, Verschwörungen und Rebellionen, in: Achim Aurnhammer/Klaus Manger/Friedrich Strack (Hg.), Schiller und die höfische Welt, Tübingen 1990, S. 422-446. Dass die Tragödie auch in Der Abfall der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung das formgebende Prinzip ist, meint: Süssmann, Geschichtsschreibung oder Roman?, S. 91f. 24 Schulin, Schillers Interesse an Aufstandsgeschichte, S. 147. 25 Müller-Seidel, Verschwörungen und Rebellionen, S. 445f.

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Neben diesem synthesebildenden Metanarrativ der Tragödie zeigt Schillers Geschichtskonzeption eine kritische Bezugnahme auf die juristische Relationskunst und einen ›kriminalanthropologischen‹ Zugriff auf Geschichte – Aspekte, die in der Schillerforschung zwar auch beschrieben worden sind, die im Rahmen einer Analyse des Interdiskurses von Historiographie und Kriminalliteratur, Historik und Kriminalistik jedoch in den Vordergrund gestellt werden müssen. 26 Dies lässt sich insbesondere an den einleitenden Passagen seiner zunächst anonym veröffentlichten Erzählung Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte (1786) ablesen, die er 1791 unter seinem Namen und in überarbeiteter Form mit dem Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre in der Thalia veröffentlichte, sowie anhand seines Vorwortes, das er zu einer deutschsprachigen Pitavalausgabe (1792) beisteuerte. 27 Beide Texte entstanden zu jener Zeit, als Schiller als Geschichtsprofessor tätig war und seine historiographischen Arbeiten veröffentlichte. In beiden Fällen setzt er sich mit der Wirkung juristischer Relationen auseinander, die er konsequent als »Geschichtserzählungen« bezeichnet. François Gayot de Pitaval (1673-1743) hatte in seiner Zeit als Advokat und Anwalt in Lyon und Paris, wo er seit etwa 1713 am obersten Gerichtshof tätig war, zahlreiche zeitgenössische und historische Gerichtsfälle gesammelt und sie als »merkwürdige Rechtsfälle« seit 1734 in zwanzig Bänden veröffentlicht. 28 Pitavals aufklärerisches Bestreben war es, die »mystères de la jurisprudence« in allgemeinverständlicher Sprache dem Publikum nahezubringen, wobei er verschiedene Rechtsbereiche ansprach. Sein Interessenschwerpunkt lag eindeutig in der Darstellung der nicht-öffentlichen Rechtsfindungspraxis und weniger in der des Verbrechens oder der Ausführung des Urteils, auf die sich Darstellungen der frühneuzeitlichen Rechtspraxis konzentriert hatten. Pitaval verabschiedete sich von der Inszenierung des öffentlichen

26 So macht Viktor Lau darauf aufmerksam, dass das Genre der Kriminalliteratur dem Geist juristisch-historischer Dokumentationen verpflichtet ist, weshalb sich »markante Überschneidungen zwischen Historiographie und literarischer Fiktion« ergeben. Vgl. Viktor Lau, »Hier muß die ganze Gegend aufgeboten werden, als wenn ein Wolf sich hätte blicken lassen«. Zur Interaktion von Jurisprudenz und Literatur in der Spätaufklärung am Beispiel von Friedrich Schillers Erzählung »Der Verbrecher aus verlorener Ehre«, in: Scientia Poetica 4 (2000), S. 83-114; hier S. 89, Fußn. 19. 27 Zu den rechtsphilosophischen und strafrechtstheoretischen Hintergründen von Schillers Erzählung mit einem aktuellen Überblick über die rezeptionsästhetische, gattungs- und sozialgeschichtliche Forschung: Lau, »Hier muß die ganze Gegend … «, S. 84ff. Zur Rechtsthematik der Dramen Schillers vgl.: Klaus Lüderssen, »Daß der Nutzen des Staates Euch als Gerechtigkeit erscheine«. Schiller und das Recht, Frankfurt/M. 2005. Beide gehen jedoch nicht auf das Verhältnis von Jurisprudenz, Literatur und Geschichtsschreibung ein. 28 François Gayot de Pitaval, Causes célèbres et interessantes avec les jugemens qui les ont decidées, Paris: Nully 1734, S. IV. Eine erste, neunbändige Übersetzung in deutscher Sprache erschien zwischen 1747 und 1768 in Leipzig.

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»Theaters des Schreckens« 29 und widmete sich in dem nun entstehenden Kompendium kriminaljuristischer Merkwürdigkeiten ganz der Prozessschilderung. Während der Autor die Rolle des Berichterstatters übernahm, versetzte er das Publikum in den Stand von Prozessbeobachtern, welche in die Problematik juristischer Beurteilungskriterien eingeweiht wurden. Daran knüpfte Schiller an. Im Vorwort zu den Merkwürdigen Rechtsfällen als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit sah er in der »künstlerischen Verwicklung« Ähnlichkeiten zum »Roman«, wobei jene doch gleichzeitig den »Vorzug der historischen Wahrheit« besitzen würden. Schiller verstand seine Sammlung von Rechtsfällen als einen »Beitrag zur Geschichte der Menschheit«, womit er die Darstellung von Gerichtsfällen aus dem engeren Feld der Jurisprudenz in den Bereich der allgemeinen Geschichte überführte. In der Wahrheitserkundung des Kriminalprozesses könne man das »geheime Spiel der Leidenschaften« erkennen, »die verborgenen Gänge der Intrigue, über die Machination des geistlichen sowohl des weltlichen Betrugs« und schließlich die »Triebfedern, welche sich im gewöhnlichen Leben dem Auge des Beobachters verstecken«. 30 Das Modell des Kriminalprozesses stand damit Pate für den Erkenntnisanspruch der Historiographie: »Dazu kommt, daß der umständlichere Rechtsgang die geheimen Bewegursachen menschlicher Handlungen weit mehr ins klare zu bringen fähig ist, als es sonst geschieht, und wenn die vollständigste Geschichtserzählung uns über die letzten Gründe einer Begebenheit, über die wahren Motive der handelnden Spieler oft genug unbefriedigt läßt, so enthüllt uns oft ein Kriminalprozeß das Innerste der Gedanken und bringt das versteckteste Gewebe der Bosheit an den Tag.« 31

Schillers Kritik der Geschichtserzählung zielt hier noch auf die »juristische Geschichtserzählung«. Denn diese vermochte in ihrer neutralen Beschreibung von Ursachen und Wirkungen nicht den Motivationen der Handelnden nachzuspüren. Doch schon in der Einleitung zu der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre hatte Schiller einige Jahre zuvor die Fusion von juristischer und historiographischer Geschichtserzählung weiter vorangetrieben. Schiller behauptete hier im Anschluss an seine Forschungen zur Erfahrensseelenkunde, dass »in der ganzen Geschichte des Menschen […] kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist« sei »als die Annalen seiner Verirrungen«. 32 Und so setzte er sich mit den rezeptionsästhetischen Wirkungen der Geschichtserzählung auf den Leser und mit den narrativen Ausgestaltungsmöglichkeiten auseinander, die nicht nur dem Kriminalerzähler als 29 Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 4., durchges. Aufl., München 1995. 30 Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Friedrich Schiller. Ersther Theil. Jena 1792, in: Schillers Werke, NA 19, T. 1: Historische Schriften III, hg. v. Waltraud Hagen u. Thomas Prüfer, Weimar 2003, S. 201ff; hier S. 202. 31 Schiller, Merkwürdige Rechtsfälle, S. 202f. 32 Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: NA 16: Erzählungen, S. 7-29; hier S. 7.

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Anthropologen und Psychologen, sondern auch dem Historiker zur Verfügung stehen sollten. Dem Studium und der »gewöhnlichen Behandlung« der Geschichte warf er vor, »fruchtlos« zu bleiben, weil sie außerstande sei, die Erkenntnisse der Erfahrensseelenkunde zu integrieren. 33 Schiller sah »zwischen der heftigen Gemütsbewegung des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird« einen »widrigen Kontrast«. Die Darstellung eines Verbrechens dürfe nicht auf ein »Kopfschütteln der Befremdung« hinauslaufen, sondern sollte dem Leser einen »heilsamen Schrecken« einjagen, indem er erkenne, dass auch der Verbrecher »Mensch war wie wir«. Diese »Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser« habe der Autor durch seine Darstellungstechniken auszugleichen, wobei prinzipiell zwei Möglichkeiten bestehen würden: »Entweder muß der Leser warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.« 34 In einem »wohlkalkulierten Etikettenschwindel« 35 sprach sich Schiller für die zweite Variante aus: »Ich weiß, daß von den besten Geschichtsschreibern neuerer Zeit und des Altertums manche sich an die erste Methode gehalten und das Herz ihres Lesers durch hinreißenden Vortrag bestochen haben. Aber diese Manier ist eine Usurpation des Schriftstellers und beleidigt die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen; sie ist zugleich eine Verletzung der Grenzengerechtigkeit, denn diese Methode gehört ausschließend und eigentümlich dem Redner und Dichter. Dem Geschichtsschreiber bleibt nur das letztere übrig.«36

Schillers Erzählung tendiert keinesfalls zur kalten Objektivität des Geschichtsschreibers und dessen sachlicher Analyse. 37 Schiller wendet sich vielmehr gegen die mit der juristischen Geschichtserzählung verbundene Vorstellung von Faktizität. Im Gegensatz zu deren standortneutraler Erzählweise geht er dezidiert polyperspektivisch vor. 38 Seine Erzählung zeichnet sich so durch Zeit- und Perspektivwechsel, durch ein Gefüge von Sachverhaltsschilderung, Berichtspassagen und szenischen Dramatisierungen und vor allem durch indirekte und direkte Wiedergabe des Geständnisses des Verbrechers aus verlorener Ehre Christian Wolf aus. Gerade durch Letzteres evoziert Schiller das Bild eines Geständniswilligen, der nicht zur Wahrsprechung durch die Tortur gezwungen werden muss. Diese fiktionale Selbstinterpretation des Subjekts führt so zu »faktischer Parteilichkeit« der Erzählung 39, indem sie gleichzeitig die Vorstellung eines sich preisgebenden und damit durchsichtigen Subjekts befördert. Im Hinblick auf die Theorie der untersuchenden Darstellung bei Droysen ist es bemerkenswert, dass Schiller entgegen der Pitavaltradition das Ende 33 Ebd., S. 7f. 34 Ebd., S. 8. 35 Horst Brandstätter, Eine wahre Geschichte und ihre Folgen, in: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte von Friedrich Schiller, hg. v. Horst Brandstätter, Berlin 1984, S. 105-123; hier 122. 36 Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 8. 37 Vgl. Benno von Wiese, Friedrich Schiller, 4. Aufl., Stuttgart 1978, S. 307. 38 Vgl. Lau, »Hier muß die ganze Gegend …«, S. 89. 39 Ebd., S. 96.

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der Geschichte an den Anfang zieht. Die konventionelle Pitavalerzählung gab gleich zu Beginn den faktischen Verlauf des Verbrechens preis und konnte Spannung nur durch die Geständniserwirkung und das endgültige Gerichtsurteil erzeugen. 40 Schiller unterlässt eine Beschreibung des Mordens, denn »das bloß Abscheuliche hat nichts Unterrichtendes für den Leser«. 41 Er sieht sich auch nicht veranlasst, den Prozessverlauf zu referieren, Verhör und Bekenntnis zu Protokoll zu geben, die Einzelheiten der Tortur wiederzugeben, die Urteilsakte zu zitieren, und schließlich verzichtet er auch auf den Pomp der Hinrichtung. Vielmehr erfährt der Leser von der Hinrichtung in einem knappen Halbsatz in der Einleitung der Erzählung. Indem Schiller nun die Hinrichtung gleich zu Beginn bekannt gibt, bricht er nicht nur mit der Chronologie, sondern macht das Publikum zum »Anwalt des Verbrechers in einer fiktiven Revisionsverhandlung« 42, die sich mit der Frage zu beschäftigen hat, ob der Held tatsächlich für den »Körper des Staates« 43 verloren war. Nachdem er so auf die Widersprüchlichkeit von Rechtsprechungspraxis und Gerechtigkeitsempfinden hingewiesen hatte, ließ Schiller die Lebens- und Verbrechensgeschichte Christian Wolfs mit ausführlichen Geständnispassagen folgen. Hier bekommt der Verbrecher zwar einerseits autobiographisches Recht zugesprochen (er übernimmt die Erzählstimme und darf aus seiner Position berichten), seine Rede wird jedoch durch biographische Passagen ergänzt, die aus der Perspektive eines erzählenden Dritten berichtet werden. 44 Während sich hier 40 So auch Schiller in seiner Vorrede zum Pitaval: »Ihre Verfasser haben, wo es angieng, dafür gesorgt, die Zweifelhaftigkeit der Entscheidung, welche oft den Richter in Verlegenheit sezte, auch dem Leser mitzutheilen, indem sie für beide entgegengesetzte Partheien gleiche Sorgfalt und gleiche große Kunst aufbieten, die letzte Entwicklung zu verstecken, und dadurch die Erwartung aufs höchste zu treiben.« Schiller, Merkwürdige Rechtsfälle, S. 203. 41 Schiller, Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 28. 42 Klaus Oettinger, Schillers Erzählung »Der Verbrecher aus Infamie«. Ein Beitrag zur Rechtsaufklärung der Zeit, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 266-276; hier S. 276. 43 Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 9. 44 Schiller zeigt einen gesellschaftlichen Außenseiter, der als Wilddieb »honett zu stehlen« beginnt. Durch eine Konfiskationsstrafe finanziell in den Ruin getrieben, wird Wolf beim zweiten Mal zu einjähriger Festungshaft verurteilt, beim dritten Gesetzesbruch zu Brandmarkung und dreijähriger Festungshaft. Im Einklang mit der zeitgenössischen Kritik der Strafpraxis sieht Schiller im System infamierender Strafen die Gefahr, dass dadurch Verbrechen erst produziert anstatt verhindert werden. Seiner Ehre beraubt und in der Festungshaft an die Gesellschaft von Kapitalverbrechern gewöhnt, bilden sich Hass und Rachedurst aus, die zur Besessenheit werden; der folgende Mord an einem Jäger wird als zwanghafte Tat dargestellt, als Akt in einem Augenblick mentaler Lähmung (»ich begriff gar nicht, wie ich zu dieser Mordtat gekommen war«); der nächste Schritt in eine Räuberbande wird begleitet mit der Aussage »jetzt war ohnehin keine Wahl mehr«. Schiller zeigt, wie sich dann das Gewissen des Verbrechers wieder regt und der Wille zur Umkehr stärker wird. Doch die Bemühungen zur Versöhnung mit der bürgerlichen Gesellschaft – Wolf bietet seine Fähigkeiten der Armee an – scheitern. Einer Verhaftung versucht er zu entgehen, lässt sich jedoch wider-

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also das Subjekt im Wesentlichen selbst erklärt – oder ihm Raum gegeben wird, sich selbst darstellen zu dürfen –, ist das Prinzip der historiographischen Forschung als Mimesis des Suchens und Findens vor allem eine Fremdzuschreibung. 45 Es ist deshalb für eine forschende Wissenschaft nur konsequent, auf die Wiedergabe von Reden historischer Personen zu verzichten, eine Entwicklung, die sich von Johann Christoph Gatterer bis zu Droysen nachvollziehen lässt. 46 Dieser Verzicht erfolgt nicht nur aufgrund des historisch-kritischen Anspruchs, nicht authentifizierte Reden von der Darstellung auszunehmen, weshalb sie vom Historiker im Spiel der konstruktiven Einbildungskraft auch nicht rekonstruierend ›erfunden‹ werden dürfen, sondern weil damit dem historischen Subjekt eine Macht verliehen wird, die dem Modell der Geständniserwirkung und dem Beweisverfahren des Untersuchungsrichters zuwiderläuft. Schiller spielt mit jener Grenze, die er zwischen der rhetorischen Beredsamkeit und dem zu sachlicher Analyse und Neutralität verpflichteten Geschichtsschreiber zog. Sich dieses Zusammenhangs in der antiken Rhetorik bewusst seiend, wollte er die Ausbildung der neutralen Geschichtserzählung in den Relationen des 18. Jahrhunderts durch die Fähigkeit des Redners ergänzt wissen, das Publikum durch die Vorlage verschiedener Beurteilungsfaktoren zu einem Urteil herauszufordern. Dies musste jedoch hinter vorgehaltener Hand geschehen. Eindeutig Partei zu ergreifen, konnte nicht Sinn und Zweck einer Erzählung sein, die dem Leser vorführen sollte, dass der Weg ins Verbrechen schneller beschritten war, als es dem bürgerlichen Subjekt lieb sein konnte, und dass die verbrecherische Tat keineswegs auf angeborene Charaktereigenschaften zurückzuführen war, sondern im Hinblick auf charakterliche Dispositionen unter den Bedingungen individueller und psychologischer wie auch gesellschaftlicher Faktoren verstanden werden musste. Dieser Anspruch des Verstehens des Verbrechers mündete im Anschluss an den zeitgenössischen Strafrechtsdiskurs in die Forderung, dass diese Faktoren bei der Festlegung des Strafmaßes berücksichtigt werden sollten. Die Differenzierung zwischen verbrecherischer Handlung und Handlungsmotivation, die durch eine »Leichenöffnung seines Lasters« bzw. durch eine Analyse der »Quellen seiner Gedanken« eruiert werden sollte, insgesamt also durch standslos abführen, als sie nicht mehr zu vermeiden ist. In der Hoffnung auf ein mildes Urteil legt Wolf ein Geständnis ab. Die Richter hingegen sind gewohnt, in das »Buch der Gesetze« zu schauen und nicht in die »Gemüthsverfassung des Beklagten«, und fällen ihr Todesurteil ohne Berücksichtigung der Moralität des Angeklagten, d. h. der Bemessung seiner Schuldfähigkeit. 45 Schiller hatte eindeutige Vorbehalte gegen die Ausforschung des Inneren im Inquisitionsverfahren, wie sich am Don Karlos zeigen lässt. Vgl. MüllerSeidel, Verschwörungen und Rebellionen, S. 427. 46 Johann Christoph Gatterer sah noch in der Wiedergabe persönlicher Reden historischer Charaktere die Möglichkeit, historische Evidenz zu erzeugen. Vgl. Johann Christoph Gatterer, Von der Evidenz der Geschichtskunde [1767], in: Blanke/Fleischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 2, S. 466-478; hier S. 468. Auch Niebuhr wollte auf dieses Stilmittel noch nicht verzichten, wie Droysen anmerkt und sich über dessen Verschwinden aus der Historiographie zufrieden zeigt: H 241.

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eine Feststellung der »Moralität« des Angeklagten nachzuvollziehen war, beförderte die Trennung von objektivem und subjektivem Tatbestand, von strafbarer Tat und individueller Schuldzurechnung. Schiller, durch sein Medizinstudium und eine psychosomatische Studie mit dem anthropologischen Wissen seiner Zeit vertraut, stellte in seinem Vorwort der »Mechanik der gewöhnlichen Willensfreiheit« die Erkenntnisse der zeitgenössischen Erfahrensseelenkunde gegenüber und beschrieb damit das Spannungsverhältnis zwischen Aufklärung und Anthropologie im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Verständnis Schillers war nach der Erfahrensseelenkunde davon auszugehen, dass es eine unveränderliche Struktur der menschlichen Seele gibt, die jedoch von äußeren und veränderlichen Bedingungen abhing. 47 Verbunden war damit der Gedanke eines Modells taxonomischer Abstufungen von Trieben und Neigungen, Affekten und Leidenschaften im Sinne Linnés. 48 Gleichzeitig bedeutete dies bei Schiller eine Einschränkung des mit dem Begriff der Willensfreiheit verbundenen Gedankens vom intentionalen Handeln, sichtbar vor allem daran, dass der Held Wolf ungewollt – unter dem Druck psychologisch zu deutender Entscheidungssituationen, bei denen immer auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen sind – in eine Spirale des Verbrechens getrieben wird. Diese Einsichten des erfahrungsseelenkundigen »Menschenforschers« konnten nun auch auf mögliche Motivationsmuster historischer Persönlichkeiten übertragen werden. Als methodisches Verfahren der Geschichtsschreibung nennt Schiller in seiner Antrittsvorlesung nur den Analogieschluss von der Gegenwart auf die Vergangenheit, der durch überhistorische Naturgesetze und das unveränderliche Wesen des Menschen ermöglicht werde. 49 Die Lücken der historischen Überlieferung müssten mittels der »neuesten Erscheinungen, die im Kreis unserer Beobachtungen liegen […] rückwärts« erschlossen werden. 50 Damit griff Schiller in seiner Antrittsvorlesung ein Thema auf, das auf die empirische Psychologie bzw. die Erfahrungsseelenkunde verwies. Im Sinne Schillers muss der Historiker Menschenkenner und Psychologe sein, um als philosophischer Kopf den Gesamtzusammenhang der Geschichte erkennen zu können. Auch in der Konzeption seiner historiographischen Darstellung folgt Schiller Ideen, die er im Rahmen seiner kriminalanthropologischen Überlegungen formuliert hatte. In seiner Exposition zu Der Verbrecher aus verlorener Ehre heißt es, dass der Leser mit dem Held bekannt werden müsse, bevor man ihn handeln sehe. 51 Derselbe programmatische Gedanke findet sich auch 47 Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 9. 48 Ebd., S. 7. Dazu auch Foucault, Überwachen und Strafen, S. 127. 49 NA 17, 373. Vgl. dazu Ernst Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Friedrich Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, in: Dann (Hg.), Schiller als Historiker, S. 157-178; hier S. 159. 50 Schiller, Was heißt es und zu welchem Zweck studiert man Universalgeschichte?, in: NA 17, S. 373. 51 Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, NA 16, 8f: »Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns un-

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in Der Abfall der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung und strukturiert dort wesentlich pointierter die Erzählung. 52 Denn um die Politik Phillips II. zu verstehen, bedurfte es vor deren Darstellung eines »flüchtigen Blicks« in Philipps »Seele«, und auch die anderen großen Akteure im niederländisch-spanischen Konflikt wurden mit solchen Charakterstudien eingeführt. 53 Anthropologie und Erfahrungsseelenkunde traten also in den Dienst der Geschichtsschreibung, und die Geschichte lieferte Anschauungsbeispiele, mit denen die anthropologischen Forschungen ausgebaut werden konnten. Insofern wird hier die seelische Disposition für politisches Handeln verantwortlich gemacht, auch wenn Schiller gerade »keine hervorragenden, kolossalischen Menschen« zeigen wollte. 54 Der Erklärungswert der historischen Charakteristiken ist jedoch geringer als die Konzeption es vorsieht. Schiller stellt seine Portraitskizzen der einzelnen Protagonisten zunächst isoliert der Erzählung voran. Doch den Verlauf der geschichtlichen Ereignisse können jene nicht bestimmen, vielmehr erweisen sie sich im Gesamtzusammenhang als Objekte eines Geschichtsprozesses, auf den sie allenfalls reagieren können. 55 Mit der Steigerung der Komplexität der Geschichte sinkt gleichzeitig der Erklärungswert der Charakteristiken: Statt Kontingenz zu beseitigen, lösen sich die Charaktere im Strudel der Ereignisse auf. 56 Deshalb war es nur folgerichtig, dass Schiller in der Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs darauf verzichtet, seine Helden Gustav Adolf, Wallenstein oder Ferdinand II. zunächst in großen Charakterportraits vorzustellen. Nunmehr treten keine Tugendhelden mehr auf, deren statisches Charakterbild unter dem Druck der historischen Ereignisse notgedrungen ins Wanken gerät, sondern historische Personen. Diese werden in der ganzen Widersprüchlichkeit ihres geschichtlichen Handelns gezeigt – der Druck der Ereignisse lässt sie ihre Tugenden bewahren, verlieren und neu hinzugewinnen. 57 Die Abkehr von starren Charakterstudien hin zu einer empathischen Einschätzung im Rahmen sich entwickelnder historischer Bedingungen ist genau jene Forderung, die auch Droysen an die psychologische Interpretation stellte.

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endlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.« Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts, S. 157-178. Friedrich Schiller, Der Abfall der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, NA 17, S. 54: »Ehe wir ihn handeln sehen, müssen wir einen flüchtigen Blick in seine Seele thun, und hier einen Schlüssel zu seinem politischen Leben aufsuchen.« Zur charakterlichen Disposition Phillips II. siehe S. 54ff. Zur Charakterisierung Wilhelms von Oranien vgl. S. 68-72. Schiller, Der Abfall der vereinigten Niederlande, S. 10f. Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts, S. 173: »Der politische Wille der geschichtlichen Subjekte, den die Charakteristiken begründen, vermag sich im Text kaum positiv zu entfalten, so dass auch die Ordnung der Erzählung nicht von den Charakteren her entworfen werden kann.« Ebd., S. 174. Ebd., S. 178. Siehe auch Max Kommerell, Schiller als Psychologe, in: Ders., Dame Dichterin und andere Essays, hg. u. mit einem Nachwort von Arthur Henkel, München 1967, S. 65-115; hier S. 72.

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Schiller sieht im Kriminalprozess ein Modell, in dem die Motivation der Handelnden ans Licht geholt werden kann. Seine Affinität hat dagegen kaum etwas mit der rekonstruktiven Praxis des Untersuchungsrichters mit ihrem Hang zur empiristischen Erfassung eines Tatsachenverlaufs zu tun. Sowohl in seiner Geschichtsschreibung als auch in Der Verbrecher aus verlorener Ehre gibt es keine Rhetorik des Erforschens des Tatbestands. Genau dies stieß bei Historikern des 19. Jahrhunderts auf Kritik, die bei Schiller eine historischkritische Quellenprüfung vermissten. 58 Schiller, so lässt sich abschließend konstatieren, erfasste den Tatbestand – ein Begriff, der erst nach 1800 juristische Prominenz erlangen sollte – nicht in kriminalistischer Manier. Für ihn war der Tatbestand eine ausgesprochen unstrittige Angelegenheit, war er doch von zahlreichen vertrauenswürdigen Zeitgenossen und Historikern kommentiert und beschrieben worden. Das Problem der Auswahl des Stoffes löste er dabei ebenso elegant wie dasjenige einer plausiblen Verfabelung, indem er tragödische und kriminalanthropologische Interpretationsmuster kombinierte. 5.3 K RIMINAL -G ESCHICHTEN

IM

N EUEN P ITAVAL

Seit 1842 wurde auf Initiative von Heinrich Brockhaus der Neue Pitaval herausgegeben, eine Sammlung von historischen und zeitgenössischen Kriminalfällen, die bis 1890 auf 60 Bände anwuchs und über 500 einzelne Verbrechensgeschichten enthielt.59 Die Herausgeber waren Julius Eduard Hitzig (1780-1849) sowie Georg Wilhelm Heinrich Häring (1798-1871), dem Publikum besser bekannt als der »deutsche Scott und Romancier Preußens«, Willibald Alexis. Hitzig hingegen konnte eine ansehnliche Karriere im preußischen Justizdienst vorweisen und war Kriminalrat und Direktor des Inquisitionsrats in Berlin. Daneben machte er sich als Herausgeber juristischer Fachzeitschriften einen Namen, wie etwa der Zeitschrift für die preußische Criminalrechtspflege, die in 24 Bänden von 1825 bis 1833 erschien, und der Annalen für deutsche und ausländische Criminalrechtspflege, die in 17 Bänden zwischen 1828 und 1837 herauskam. Neben seiner juristischen Tätigkeit war Hitzig eine prominente Figur des literarischen Lebens in Berlin. 1810 hatte er für kurze Zeit an Kleists Berliner Abendblättern mitgearbeitet, 1824 war er Initiator der Neuen Mittwochsgesellschaft, während er sich ansonsten als Verleger, vor allem aber als Herausgeber und Biograph E. T. A. Hoffmanns und Friedrich de la Motte Foqués hervortat. 60

58 Vgl. Otto Dann, Schiller, der Historiker und die Quellen, in: Ders. (Hg.), Schiller als Historiker, S. 109-126; hier S. 125: Dann spricht demgegenüber von Schillers »kritisch-verantwortlichem wie auch souveränem Umgang mit den Quellen«. 59 Julius Eduard Hitzig/Wilhelm Georg Heinrich Häring Alexis (Hg.), Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, Leipzig: Brockhaus 1842ff. [Im Folgenden: NP/Ausgabe/Seitenzahl] 60 Franz Kugler, Julius Eduard Hitzig, Nekrolog, in: Beilage zum Preußischen Staats-Anzeiger. Nichtamtlicher Teil, Nr. 340, 11. Dezember 1849, S. 2233f. Neuer Nekrolog der Deutschen, 27. Jg. 1849, Teil 2, Weimar 1851, S. 945-

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Willibald Alexis, neben Ludwig Tieck der herausragende Autor historischer Romane im Vor- und Nachmärz, hatte sich zunächst der englischen und französischen Geschichte in den Romanen Walladmor (1823/24), Schloß Avalon (1827) und Der Freyherr. Bilder aus der Vendée (1830) zugewandt. Seine Bekanntheit förderte er dann durch die acht »vaterländischen« Romane, in denen er die Geschichte Brandenburg-Preußens thematisierte: Der falsche Woldemar (1842) und Der Roland von Berlin (1840) spielen im Mittelalter, Die Hosen des Herrn von Bredow und Der Werwolf (1847) in der Epoche um 1500, Dorothee und Cabanis (1832) repräsentieren das 17. und 18. Jahrhundert, und in Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (1852) und Isegrimm (1854) wendet sich Alexis schließlich der Zeit von den Napoleonischen Kriegen bis zur eigenen Gegenwart zu.61 Während Alexis seine brandenburgischpreußische Geschichte in 15 Jahren vollendete, blieb Droysen dieses Ziel verwehrt, der mit seiner breit angelegten Geschichte der preußischen Politik in gewisser Weise das historiographische Gegenstück zur fiktionalen Darstellung von Alexis nachreichte, dabei jedoch nicht über die Darstellung der Politik Friedrichs II. hinauskam, dem er allein vier Bände zu widmen müssen glaubte. 62 Alexis war nicht nur der führende Vertreter des historischen Romans in Deutschland, sondern auch der führende Theoretiker dieses Genres. Seine in Vorworten und Zwischenbemerkungen verstreuten Anmerkungen zeigen, 949. Nikolaus Dorsch, Julius Eduard Hitzig. Literarisches Patriarchat und bürgerliche Karriere. Eine dokumentarische Biographie zwischen Literatur, Buchhandel und Gericht der Jahre 1780-1815, Frankfurt/M. 1994. 61 Die frühe Alexis-Rezeption schied sich lange Zeit an dessen preußischer Gesinnung. Gustav Freytag und Theodor Fontane sahen in Alexis einen Verherrlicher Preußens, seiner Dynastie und Politik. Ebenso galt er als Propagandist der zu verwirklichenden Reichseinheit – ein Rezeptionsstrang, der in eine deutschnationale Inanspruchnahme von Alexis als Heimatdichter mündete. Dagegen bescheinigten Franz Mehring und Georg Lukács Alexis eine preußenkritische Gesinnung, die sie anhand des Cabanis-Romans und der Romane aus der Restaurationszeit zu belegen suchten. Mit der auf Preußen fixierten Rezeption gerieten Alexis’ frühe Romane über die französische und englische Geschichte, seine Reiseschilderungen, seine Tätigkeit als liberaler politischer Journalist während der Revolution von 1848, seine Unterstützung anderer Autoren, aber auch seine Arbeit am Neuen Pitaval zunächst aus dem Blick. Vgl. Wolfgang Beutin, Königtum und Adel in den historischen Romanen von Willibald Alexis, Berlin 1966. Jost Hermand, »Empor, empor! Zur Sonne, mein Adler!« Zur fritzischen Gesinnung im CabanisRoman von Willibald Alexis, in: Wolfgang Beutin/Peter Stein (Hg.), Willibald Alexis (1798-1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz (=Vormärz-Studien; Bd. 4), Bielefeld 2000, S. 159-176. 62 Johann Gustav Droysen, Geschichte der preußischen Politik, 14 Bde., Leipzig 1855-1886. Die jüngere preußische Geschichte fand sich in seinen Vorlesungen über die Freiheitskriege (1846) und in seiner dreibändigen Biographie Das Leben des Feldmarschalls York von Wartemberg (1852/53) wieder. Droysens Interpretationslinie, Preußens Berufung zur deutschen Führungsmacht nachzuweisen, hatte zwar mit der Reichsgründung ihre praktische Bestätigung gefunden, wirkte jedoch nun äußerst antiquiert.

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dass er die historische Kunst als übergeordnete Kategorie betrachtete, in der die Geschichtswissenschaften und der Geschichtsroman ihre je eigenen Felder besetzten. Dort jedoch, wo Historiker zur Vergewisserung der Wissenschaftlichkeit immer wieder betonen, man dürfe nicht in den historischen Roman abgleiten, nutzt Alexis gerade diese ungewisse Grenze, um sowohl den Wahrheitsanspruch des Romans als auch den der Historiographie für sich zu postulieren. 63 So lobt er einerseits die Geschichtsschreibung und stellt sie in Opposition zum Geschichtsdichter, bezeichnet sich aber selbst noch im gleichen Roman als Historiker. 64 Oder aber er betont, dass der Dichter »die Dinge doch nicht anders erzählen [darf], als die Wahrheit ist«. 65 Obwohl Wolfgang Beutin den Neuen Pitaval als eine »Art Geschichtsschreibung« bezeichnet hat, ist das Verhältnis von Geschichtsschreibung und kriminalliterarischen Pitavalerzählungen bei Alexis weitgehend unerforscht geblieben. 66 Mit Blick auf die Interferenzen zwischen Kriminalliteratur und Geschichtsschreibung im Neuen Pitaval stellt sich deshalb die Frage, wie 63 Wolfgang Beutin, Die brandenburg-preußischen (»vaterländischen«) Romane, in: Beutin/Stein (Hg.), Willibald Alexis, S. 177-194; hier S. 180f. 64 Willibald Alexis, Isegrimm. Vaterländischer Roman, 4 Bde., 2. Aufl., Berlin: Jancke 1871; hier Bd. 1; S. 1 u. Bd. 3, S. 359. 65 Willibald Alexis, Der falsche Woldemar. Vaterländischer Roman, 3 Bde., Berlin: Buchhandlung des Berliner Lesekabinets 1842, S. 619. 66 Wolfgang Beutin/Peter Stein, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Willibald Alexis, S. 714; hier S. 12. Im Zuge der frühen literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kriminalliteratur hat man im Neuen Pitaval eine Übergangsform vom Tatsachenbericht zur Kriminalerzählung bzw. eine Mischform aus Kriminalund Detektivgeschichten erkennen wollen. Dabei wurden innerhalb der Pitavaltradition und der deutschen Novellistik immer wieder Elemente des Detektivromans gesucht und gefunden: das rekonstruktiv-detektorische Verfahren, der Aufbau eines konsequenten Spannungsbogens vom Anfang bis zum Ende, die Suche nach dem Täter, Techniken des Verschlüsselns, des Verrätselns und des dénouements mit Resümee und Urteil am Schluss. Vgl. etwa: Edgar Marsch, Die Kriminalerzählung. Theorie, Geschichte, Analyse, 2. erw. Aufl., München 1983, S. 89-114. Rainer Schönhaar, Novelle und Kriminalschema. Ein Strukturmodell deutscher Erzählkunst um 1800, S. 60-66. Problematisch an diesem Ansatz ist, dass zu stark von einem geschlossenen Modell des Detektivromans ausgegangen wurde, das sich erst im golden age of crime ausbilden sollte. Im Zuge einer stärker sozial- und mentalitätsgeschichtlich orientierten Forschung ist die Pitavaltradition nun dahingehend untersucht worden, welche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Kriminalität über dieses so erfolgreiche Medium verbreitet wurden. Folgerichtig beschäftigt sich diese Forschungsrichtung vor allem mit den Fällen, die die »normale« Gewaltkriminalität behandeln und weniger mit jenen, die eine historisch-politische Dimension haben: Dazu neben weiteren Beiträgen desselben Sammelbandes vor allem: Linder, Deutsche Pitavalgeschichten, in: Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität, S. 313-348. Auch: Hans-Jürgen Lüsebrink, Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Literarische Formen, soziale Funktionen und Wissenskonstituenten von Kriminalitätsdarstellung im Zeitalter der Aufklärung (=Ancien Régime, Aufklärung und Revolution; Bd. 8), München 1983.

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sich hier historiographische, juristische und kriminalliterarische Diskurselemente überschneiden und inwieweit Alexis im Rahmen seiner Darstellung historischer Rechtsfälle zu einer Poetologie historisch-kriminalistischer Darstellungen vordrang. In den Vorworten des Neuen Pitaval, die in nahezu jeder zweiten Ausgabe an die Leser direkt adressiert waren und die sowohl moralische Exkurse als auch darstellungstheoretische Erörterungen enthielten, gibt es einige Hinweise im Hinblick auf eine solche Poetologie. Der Anteil des 1849 gestorbenen Julius Eduard Hitzig am Neuen Pitaval war demnach letztlich gering. 67 Sein Name bürgte aber dafür, dass dem Werk juristische und kriminalistische Fachkompetenz zugesprochen werden konnte. So hielten es die Herausgeber für »bedenklich«, dass Rezensenten des ersten Bandes in Häring nur den »beliebten Novellisten« sehen wollten. Bei den präsentierten Kriminalfällen sollte es jedoch um den »wirklichen thatsächlichen Verlauf« gehen und nicht um eine Gestaltung nach »poetischen Motiven«. 68 Deshalb betonte Hitzig, Häring sei »so gut Jurist wie ich«, da er als Referendar und »Referent« beim CriminalSenat des Kammergerichts »mit Auszeichnung« gearbeitet habe. Wenn Häring nicht »aus freiem Entschlusse« eine schriftstellerische Laufbahn eingeschlagen hätte, wäre ihm »als Rath« ein »Platz in einem unserer Obergerichte« gewiss gewesen. 69 Den Lesern wurde also zu Beginn der Reihe nahegelegt, in Häring alias Alexis einen »praktischen Juristen« zu sehen, der »die Gabe der schriftstellerischen Darstellung« habe und die Interessen eines »höchst buntgemischten Publicums« erfüllen könne. Von Beginn an zielten Häring und Hitzig auf eine »größere Leserclasse« und weniger auf das Fachpublikum von Juristen und Psychologen, welches noch in Feuerbachs Actenmäßiger Darstellung merkwürdiger Verbrechen mitangesprochen worden war. 70 Sie grenzten sich vom Anspruch von »Richtern und wissenschaftlichen Juristen« ab, »die strengste Kritik der Beweisführung, die erschöpfende Beurtheilung des Thatbestandes eines Verbrechens« zur Hauptsache zu machen und betonten stattdessen, dass sie sich nicht ausschließlich auf kriminalistisch interessante Fälle konzentrieren wollten, in denen »wissenschaftlicher Zweifel« in Bezug auf Strafrecht und Kriminalistik diskutiert werden müsse. 71 Vielmehr beanspruchten sie, »die historische Auffassung, die lebendige Darstellung der

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Dies stellte der Nachruf von Alexis klar: NP 15 (1850), NF 3, S. V u. XXX. NP 2 (1842), S. VII. Ebd., S. VIII. Zur Ausdifferenzierung von Fachdiskurs und publikumsorientierter Darstellung vgl.: Joachim Rückert, Zur Rolle der Fallgeschichte in Juristenausbildung und juristischer Praxis zwischen 1790 und 1880, in: Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität, S. 285-311. Diese Ausdifferenzierung war jedoch für das Laienpublikum weniger deutlich zu erkennen, da mit der Betonung der juristischen Fachkompetenz der Herausgeber und der wahrheitsgetreuen Orientierung an den Akten Modi des Wissenschaftlichen aufgeboten wurden, mit denen die Grenze zur ›schönen Literatur‹ nicht überschritten wurde. Vgl. Linder, Deutsche Pitavalgeschichten, S. 317. 71 NP 1 (1842), S. VIII; NP 5/6 (1844), S. VI.

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Handlung, der That und ihrer Motive« dem Leser nahezubringen. 72 Indem sie Rechtsfragen ausblendeten, verzichteten sie auch weitgehend auf eine politische Positionierung, im Gegensatz etwa zu Feuerbach, dessen Sammlung vorrangig als Plädoyer gegen die Todesstrafe begriffen werden muss. Der Neue Pitaval hatte durch die Einbettung von Verbrechen und Verbrecher in historische und psychologische Deutungsmuster vor allem die Moralität der Leserschaft im Blick. Alexis war ein Glücksfall, denn er sollte dafür einstehen, dass die »Actenmäßigkeit [nicht] auf Unkosten der angenehmen Erzählung« preisgegeben würde. Aus der Aufgabenverteilung machte man keinen Hehl: Hitzigs Rolle bestand allein darin, als ›Fachlektor‹ dafür zu sorgen, dass mit den von Alexis verfassten Erzählungen keine »Criminal-Novellen, sondern wirklich Criminalfälle« dargeboten würden. 73 Damit wurde ein möglicher fiktionaler Kontrakt von vornherein außer Kraft gesetzt. Diese Betonung juristischer Fachkompetenzen nahm jedoch zunehmend ab. Alexis drückte der Reihe seinen Stempel auf, indem er seine Kompetenzen als Geschichtskenner ausspielte und der Neue Pitaval so insgesamt eine stärker historische Ausrichtung bekam. Auf dem Gebiet der historischen Kontextualisierung konnte Alexis als zeitgenössischer Autor von historischen Romanen die Rolle des Fachmanns übernehmen, der mit seinem Wissen für die Wahrhaftigkeit der Erzählung bürgen sollte. »Wir sind Historiker«, hieß es schon 1844. Die Sammlung sollte ein möglichst »vollständiges und geläutertes Material aller merkwürdigen und charakteristischen Verbrechen« bieten, welches »künftigen Criminalisten, Psychologen und Geschichtsschreibern von Werth sei, und ihnen die Mühe, auf die Quellen zurückzugehen« erspare. 74 Bei einigen politischen Kriminalfällen sei nämlich »das Gewebe zwischen Ursach und Wirkung« so klar, »daß spätere Entdeckungen kaum mehr als Nebenpartien aufhellen« würden. 75 Der Kritik von Juristen, die die Sammlung nur auf Fälle von kriminalistischem und strafrechtlichem Interesse beschränkt wissen wollten, widersprach Alexis wiederholt. Die von ihm herausgegebene Sammlung war nicht nur an den »Auswüchsen und Anomalien der Lebenskraft« interessiert, sondern es sollten auch die »allereinfachsten Hergänge, die zweifellosesten Begebenheiten und Verbrechen« Aufnahme finden, wenn »psychologische wie historische« Faktoren eine Rolle spielten. Beide Herausgeber betonten, dass »unsere Aufgabe eine historische« ist. 76 Dabei war der Neue Pitaval der »Gegenwart gewidmet« und sollte »nur bringen, was dieser verständlich ist, Empfindungen, die wir mitfühlen, Situationen, für die wir uns interessieren mögen«. Von Beginn an schlossen sie die »Curiositäten und Atrocitäten der ältern Rechtspflege« aus, um die Leser nicht mit Exkursen zur Rechtsgeschichte belehren zu müssen. Zudem wollten 72 NP 1 (1842), S. VIII. Oder aber NP 3 (1843), S. XI: »Wir haben […] unsere Aufgabe gelöst, wenn wir nach besten Kräften […] die That in ihrer Lebendigkeit und ihren psychologischen Motiven rein und anschaulich für sich selbst sprechen ließen. Unser Verdienst genügt uns, das Historische und allgemein Menschliche jedem verständlich dargestellt und die Unparteilichkeit, welche eines Richters erste Pflicht ist, geübt zu haben.« 73 Ebd., S. IX. 74 NP 5/6 (1844), S. VII. 75 NP 3 (1843), S. VII. 76 NP 7 (1845), S. VIII u. XII.

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sie diejenigen »Criminalfälle, welche allein der Politik angehören und in der allgemeinen Geschichte ihren Platz finden, einstweilen von unserer Sammlung ausschließen.« Denn wenn sie die »Prozesse wie die der Maria Stuart, des Connetable von Bourbon, der Jeanne d’Arc, wie Pitaval getan, in Criminalfälle verwandelten«, dann würden »die Hochverraths-, Königsmords-, und Verschwörungsgeschichten der letztern Zeit […] unser Werk, wählten wir auch nur das Allerinteressanteste unter dem Interessanten, kein Ende finden und in ein anderes Gebiet übergehen.« 77 Dies bedeutete aber gerade nicht, dass sie alles ausschlossen, »was in die Politik überspielt«, und so war gerade der erste geschilderte Fall – die Ermordung August von Kotzebues durch den Corpsstudenten Karl Ludwig Sand – ein Mord, der politisch motiviert war und das politische Klima der Restaurationszeit entscheidend geprägt hatte. Dennoch sollte auch hier das »psychologische und allgemein menschliche Interesse, wo es sich in diesen historisch-politischen Processen aufthut, […] als Richtschnur dienen.« Demgegenüber hätte eine Beschränkung auf »die intensiv interessantesten Criminalfälle aus dem Privatleben« ihrem Anliegen widersprochen, auch diejenigen Fälle aufzunehmen, die es zu »historischer Berühmtheit« gebracht hatten, die »ohne besondere charakteristische Seiten an sich, doch in ihrer Zeit entweder durch die handelnden Personen oder zufällige Umstände großes Aufsehen erregten und ein nicht abzuweisendes Gemeingut des Publikums geworden« seien. 78 Die Aufnahme eines Kriminal- und Rechtsfalles in die Sammlung erfolgte also nach dem Gesichtspunkt seiner von den Bearbeitern proklamierten (zeit-)historischen Bedeutung. Und auch wenn ihre Argumentationen vermeintlich die Autonomie der wissenschaftlichen bzw. allgemeinen politischen Geschichte respektierten, so spielten sie doch mit der Überschneidung von historisch-politischem, kriminalistisch-juristischem und psychologischem Interesse, mit der Vorstellung der Verquickung von Politik und Kriminalfall und mit dem Gedanken, dass sich Geschichte letztlich als Kriminalgeschichte vollzieht. Laut Häring wollten sie ihre Sammlung weder nach geographischen oder chronologischen 79 Gesichtspunkten gliedern, noch eine Einteilung nach »wissenschaftlichen Grundsätzen« vornehmen. Welche wissenschaftlichen Grundsätze sie dabei im Blick hatten – ob diejenigen der Rechts- oder der Geschichtswissenschaft, der zeitgenössischen Kriminalistik oder Psychologie –, ließen sie offen, da es in einer populären Darstellung vor allem darum ging, sich vom Bezugssystem Wissenschaft abzugrenzen. So bot der erste Band des Neuen Pitaval neben der Darstellung des Mordes an Kotzebue eine bunte »Mannigfaltigkeit der Kriminalfälle aus verschiedenen Zeiten und Län77 NP 1 (1842), S. XVIII. 78 Ebd., S. XVIIIf. u. S. XIX: So sei das kriminalistische Interesse an dem Prozess gegen Jean Calas zwar gering, jedoch dürfe er nicht übergangen werden, da er ein »Actenstück der Zeit« sei, »dem ein nicht wegzulöschendes Siegel der historischen Anerkennung aufgedrückt ist.« 79 Dennoch nahmen sie eine zeitliche Einschränkung vor: Über das Ende des 16. Jahrhunderts wollten sie nicht hinausgehen, weil die »frühere Criminalistik […] einer andern gesellschaftlichen Zeit, mit andern Gefühlen und Sitten« angehöre. Ebd., S. XVIII.

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dern«, ein Konzept, das durchgehend eingehalten wurde. Dabei regten die Herausgeber dazu an, die aufgenommenen Kriminalfälle miteinander zu vergleichen: So erhielt etwa die Ermordung Fualdes, in dem sich »die Parteienwuth im südlichen Frankreich abspiegelt«, mit dem Prozeß wider die Juden in Damascus ein »Seitenstück zum Beleg«, »wohin der Wahn die Gemüter führen kann«. Eine spanische und eine französische Gattenmörderin sollten jeweils vom »Sittenzustand ihrer Nationen« berichten, und die Gegenüberstellung der Geschichte eines Straßenräubers und einer »reisenden Mördergesellschaft« (die aus Feuerbachs Sammlung stammte) informierte über die im In- und Ausland lauernden Gefahren, sobald man die bürgerliche Wohnung verließ. Außerdem brachte der Band das Verwechslungsdrama um Martin Guerre. 80 Der Schlüssel zu dieser Mischung aus historisch mehr oder weniger bedeutsamen Rechtsfällen war die moralische Bildung der Leserschaft: Geschichte wurde zum moralischen Bewährungsfeld. Das Projekt des Neuen Pitaval, Verbrechen in ihrem historischen Umfeld zu interpretieren, führte dazu, historische Episoden und Epochen im Modus der Kriminalgeschichte wahrzunehmen. Dazu gehörten insbesondere jene Berichte, die sich mit religiösem, nationalistischem oder revolutionärem »Wahn« auseinandersetzten – ein wiederkehrender Begriff, der Alexis’ historischanalytische Beurteilungen als eine Pathologie der Geschichte kennzeichnete. Dass sich dieses Deutungsmuster auf ganze Geschichtsepochen übertragen ließ, beweist das Vorwort aus dem Jahr 1847, in dem Alexis ankündigt, als warnende Beispiele einige Prozesse aus der Zeit der Französischen Revolution in die Sammlung aufzunehmen. Die Französische Revolution war für Alexis ein »ungeheurer Proceß, mehr mit siegenden und unterliegenden Ideen, mit schuldig und unschuldig vergossenem Blute, als mit Rechtsformen durchwebt und verkittet, ein Proceß, der in seiner Totalität aufgefasst werden muß, nicht in seinen einzelnen Acten, und demgemäß weit über die Grenzmarken unserer berühmten Rechtsfälle hinausragt.« Im Vormärz, den Alexis als Zeit eines »großen Gährungsprocesses in unserm deutschen Vaterlande« erkannte, sei es für »die Wissenschaft an der Zeit, die Momente zu betrachten, wo die Streitfragen zwischen dem Privat- und dem öffentlichen Rechte in andern Völkern zu einer blutigen Lösung gelangten, um zu lernen, wie wir sie friedlich und im Wege des Rechtes herbeiführen.« Obwohl ein den deutschen revolutionären Bestrebungen entgegengesetzter Reformwille der Parteien zu erkennen sei, lehre die »große Weltgeschichte«, dass im Zuge von Revolutionen der Rechtsboden wiederholt verlassen worden sei. Dies sei jedoch durchaus verständlich, da es ein »furchtbarer Hohn« sei, wenn »die

80 Der Kriminalfall um Martin Guerre, erstmals 1548 vom Vorsitzenden Richter Jean de Coras beschrieben, avancierte durch seine wiederholte Darstellung – u. a. durch Michel de Montaigne – zum cause célèbre. Eine der prominentesten Vertreterinnen der Mikrogeschichte, Natalie Zemon Davis, hat mit Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre eine eindrucksvolle Studie über die Wertvorstellungen und Identitätsmuster der bäuerlichen Bevölkerung im Languedoc des 16. Jahrhunderts vorgelegt. Vgl. Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre.

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Macht nach Rechtsformeln« suche, um die »Acte ihrer grausamsten Willkür einigermaßen zu verhüllen«. 81 Die Auswahl einiger Fälle aus den »endlosen Blutgerichten« während der »Zeit des Terrorismus« ergab ein »Blutgemälde«, das mit Rechtsfällen aus der Zeit der Restauration kontrastiert wurde, in denen die Justiz ebenso wie zu Zeiten der Revolution oftmals als »Dienerin fanatischer Gewalthaber« erschien. Geschichte im Modus des literarisch stilisierten Kriminalfalls zu präsentieren, bedeutete hier keinesfalls eine einseitige Vereinfachung historischer Prozesse, sondern ein moralisches Spiel mit deren Ambivalenzen. Anders als etwa französische Pitavalsammlungen des 19. Jahrhunderts schreckte Alexis jedoch vor einer Aufnahme der Kriminalprozesse des Wohlfahrtsausschusses zurück. So fanden sich zunächst nur die Geschichten des Herzogs von Enghien und Georges Cadoudals in der Sammlung wieder, die als Royalisten und Verschwörer von Napoleon hingerichtet wurden. Die historische Ausrichtung der Pitavalsammlung implizierte auch eine erinnerungspolitische Funktion: Mit der Einschreibung historisch relevanter Kriminalfälle in das kulturelle Gedächtnis konstituierte sich gleichzeitig ein moralisches, nationales Gewissen. Darüber hinaus wollten die Herausgeber nicht nur Historiker sein, sondern auch Archivare, die durch das Aufzeichnen einer kriminellen Geschichte das Gedächtnis vor seiner Auflösung bewahrten, denn »[…] schon gehen die zahllosen Zeugnisse, in den Bibliotheken und Archiven vermodernd und vermaculirt, verloren.« 82 Der »Pitaval« war für die beiden Herausgeber ein eigener Gattungsbegriff. In darstellender wie konzeptioneller Hinsicht galt es jedoch neue Wege zu beschreiten, und so übernahmen sie die Kritik an der unübersichtlichen Darstellungsweise, die schon der Überarbeiter des Originals, François Richer, geübt hatte: »Am allerwenigsten konnte die Weise des Schriftstellers, dessen Name auf dem Titel dieses Werkes erscheint, uns als Maßgabe der Behandlungsart dienen. Schon sein Nachfolger, der Parlamentsadvokat Richer, der seine Sammlung umarbeitete und ergänzte, sagt, daß zwar Jedermann Gayot de Pitaval’s Rechtsfälle gelesen, aber sich auch Jedermann über seine Methode beschwert hätte, daß die Thatsachen ohne Ordnung untereinander geworfen wären, von einem Wust Betrachtungen, die nicht zur Sache gehörten, verschlungen, und man sich oft in die Nothwendigkeit versetzt sähe, den wahren Verlauf der Sachen zu errathen, sowie, daß die rechtlichen Gründe mit einer unleidlichen Schwatzhaftigkeit vorgetragen würden. Er gab diesen Rechtsfällen eine neue Gestalt, er versuchte, wie er sagt, die Thatsachen aus dem Wust herauszuziehen, der sie überschüttete, und bemühte sich, sie so zu ordnen, daß der Leser Ausgang und Urtheil nicht sogleich voraussehen könne und bis zur Entwicklung des Stücks in Spannung bleibe. […] Die Kunst des arranger les faits, um sie interessant zu machen […], hat indessen doch nicht das zuwege gebracht, was Richer bezweckte.

81 NP 11 (1847), S. VIII. 82 NP 7 (1845), S. XIV.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter Auch in seiner Bearbeitung ist des Wustes viel, daß nur ein Jurist, und auch dieser nur mit Anstrengung, sich durcharbeitet.« [H.i.O]83

Ein überzeugendes Tatsachenarrangement war den Herausgebern zufolge also auch Richer nicht gelungen, die »Competenzstreitigkeiten der Gerichtsbehörden« sowie die »Abhandlungen über zweifelhafte Auslegungen römischer Gesetzstellen« seien oft verwirrend. Schließlich seien den Lesern die ausgeführten Plädoyers fremd und beeinträchtigten das Interesse an der Sache. 84 Zudem hegten Hitzig und Alexis Vorbehalte gegen die von Richer beabsichtigte »Kunst des arranger les faits«, weil sich dieser damit allzu offen der Mittel literarischen Ausgestaltens bediente. Auf diese Weise wollten sich die Herausgeber des Neuen Pitaval gegen die in der Mitte des 19. Jahrhunderts erstarkende Konkurrenz fiktiver, das heißt literarisch durchgestalteter Kriminalerzählungen mit dem Anspruch des Authentischen abgrenzen, auch wenn die Kriminalnovellen noch oft an realen Fällen orientiert waren. 85 Die Herausgeber pointierten den Unterschied fiktiver Kriminalnovellen und authentischer Pitavalgeschichten äußerst bewusst. Alexis lehnte es ab, sich allein auf Fälle zu beschränken, in denen sich die »wunderbaren Verwicklungen« zeigten, »welche die Beurtheilung zweifelhaft machen, und wo die Lösung den ganzen Scharfsinn des Richters auffordert«, zumal diese Lösung oft nur durch Zufall gefunden werde, wenn sie nicht sogar ganz ausbleibe. Kriminalnovellen zeichneten sich nach Alexis dadurch aus, dass »die auf einen Punkt gerichtete Spannung plötzlich durch eine unerwartete Wendung getäuscht wird«. 86 Kriminalfälle dieser Art seien »zugleich Räthsel und Novellen«, die durch »Steigerung und Spannung Verstand und Phantasie anreizen und befriedigen« und die Möglichkeit bieten würden, das für die »Entdeckung angewandte Verfahren« auf den Prüfstein zu legen. 87 Der Leser des Pitaval sollte dagegen weder »spannende Katastrophen« noch »tragische und novellistische Spannung« erwarten, was den Authentizitätsanspruch erhöhte, jedoch über die eigene literarische Stilisierung hinwegtäuschte. 88 1847 sah sich Alexis mit einer anonym erschienenen Kritik in den Monatsblättern der Augsburger Allgemeinen konfrontiert, die seinen uneinheitlichen Stil in Frage stellte. Alexis versuchte vorab, dem Kritiker den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er sich als ein einfacher »Referent« historischer Rechtsfälle beschrieb. Die »juristische Darstellung« – worunter Alexis auch seine Erzählungen subsumiert wissen wollte – »muß oft auch durch lange Steppen wandern, um der Wahrheit getreu zu bleiben, sie muß den Wust durchackern und darf die Bagatelle nicht als Spreu zur Seite werfen.« Darüber hinaus müsse die Darstellung »aus dem Gegenstande selbst ein besonders ästhetisches Gesetz sich herausziehen«, wobei aufgrund »der Mannich83 NP 1 (1842), S. VIII. Vgl. dazu: François Richer, Causes célèbres, avec les jugemens qui les ont décidées. Redigiés de nouveau par M. R., ancien Avocat au Parlament, Amsterdam 1772, S. III. 84 NP1 (1842), S. XV. 85 Vgl. Linder, Deutsche Pitavalgeschichten, S. 315. 86 NP 3 (1843), S. X. 87 NP 7 (1845), S. X. 88 NP 5/6 (1844), S. VI.

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faltigkeit der Fälle eine allgemeine Norm unzulässig« sei.89 Das Individuelle des Falles zeigte, im Einklang mit dem Historismus, eine »Wesenheit« und einen »charakteristischen Ausdruck des Gedankens«, weshalb die jeweilige »Eigenthümlichkeit« zu bewahren sei. Die ausufernde Schilderung, die mit der Einordnung des historisch-juristischen Einzelfalles in die allgemeine Geschichte verbunden war, hatte schon zuvor Alexis zu der Bemerkung veranlasst, dass sich »für die Darstellung von Criminalfällen […] keine allgemeine Regel geben« ließe.90 In einer Auseinandersetzung mit dem Herausgeber amerikanischer Gerichtsprozesse, Peleg W. Chandler, dem er simplifizierende Moralisierung vorwarf, führte Alexis aus: »Wir wollen nicht docieren und die wirklichen Fälle als Exempel für unsere Theorie behandeln, es ist vielmehr unser Bestreben, jeden Fall in seiner eigenen Weise und Berechtigung möglichst plastisch, zu klarer Anschauung einem Jedem vorzuführen. Dann mag ein Jeder die Lehre, die Theorie sich selbst daraus entwickeln, welche ihm gefällig ist, ohne daß wir es verschwören, nicht dann und wann doch selbst ins doctrinäre Element zu verfallen.«91

Insgesamt wollte sich Alexis an einige schriftstellerische »Gesetze« halten: An »den Wohllaut, den Gebrauch und die Deutlichkeit«, wobei er unter »Gebrauch« einen volkstümlichen Stil verstand, der auch provinzielle Ausdrücke nicht scheue. Der verwirrende »Periodenbau des ältern Actenstils« sei zu vermeiden, denn er habe das Eigentümliche »platt« und nicht »plastisch« gemacht. Die juristische Darstellung habe »etwas eigenes, welches sich mehr fühlen als beschreiben« lasse und mit dem »so genannten glatten Stil« nicht vereinbar sei. Um »Weitläufigkeiten zu vermeiden und doch deutlich zu bleiben«, nutzte Alexis die Möglichkeit, »aus der directen in die indirecte Rede« zu springen, besonders bei »verwickelten, sich gegenüberstehenden Ansichten«. Bald wollte er seinen Gegenstand »wie ein Geometer nach seinen Rissen und Linien« aufnehmen, dann sah er sich wieder als »Landschaftsmaler eine perspektivische Anschauung« einnehmen; an anderer Stelle verspürte er den Drang, »plötzlich sich in die Lüfte [zu] schwingen, um in schräger Richtung eine Vogelperspektive zu skizzieren«, was insgesamt zu einer »scenischen Darstellung« führen sollte. 89 NP 11 (1847), S. XIVf. 90 NP 7 (1845), S. VII. Diese Abwesenheit von Darstellungsregeln sah Häring nicht nur für den publikumsorientierten Schriftsteller, sondern auch für »den Juristen, der vor einem Collegium, oder einem Geschworenengericht referieren soll«. 91 NP 11 (1847), S. XXVff. Peleg W. Chandler, American Criminal Trials, Boston u. London 1841. Die Sammlung des amerikanischen Autors Chandler vereinheitlichte Alexis zufolge die Tatbestände in melodramatischer Weise, denn er sah sie als »sanfte Novellen, eine Art moralischer Erzählungen immer mit der Tendenz, zu beweisen, wie das Verkehrte und Böse bestraft wird, und, wenn man ausharrt, das Gute Belohnung finde«. So scheitere Chandler aufgrund seines »harmonischen Tones« am Fragmentarischen, an den Brüchen und Rissen der Fälle, welche oft dann sichtbar würden, wenn das vorhandene Quellenmaterial dünn werde.

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Auf die Kritik antwortete Alexis mit der Theoretisierung des eigenen Werks, dem nun eine bewusst gewählte Mischtechnik zugrunde zu liegen schien. Seinem Anspruch nach wollte er für jeden Fall die charakteristische Sprache finden, die aus dem Gegenstand selbst, »aus der Art des Verbrechens, der Persönlichkeit der dabei Betheiligten, der Zeit und dem Clima, in welchem die That sich ereignet, endlich aus dem Eindruck erwuchs, den sie auf ihn hervorgebracht.« Und dann gestand Alexis ein, wie sehr die Individualität seiner Sprache von der seiner Quellen abhängig sei, denn »in der Regel brauchte er nicht lange suchen, sie ergab sich von selbst«. Oder anders ausgedrückt: »Jene Aufgabe setzte voraus, daß wir uns der Quelle nahe hielten, Anschauungsweisen von dort gehen unwillkürlich über, selbst von der Sprache haucht etwas herüber.« 92 Neben einer authentischen, volkstümlichen Sprache und einer direkten und indirekten Wiedergabe der Überlieferung adaptierte Alexis verschiedene historiographische Verfahren wie etwa Quellenangaben – wenn auch nur vereinzelt –, um nicht nur die angestrebte Authentizität zu erreichen, sondern auch Wissenschaftlichkeit zu signalisieren. Der Terminus der »aktenmäßigen Darstellung« war dabei eine Authentifizierungsstrategie, die freilich darüber hinwegtäuschte, dass die Geschichten weniger aus Akten stammten als aus schon vorhandenen, literarischen und dokumentarischen Bearbeitungen desselben Falles. Dies wird unter anderem an der Schilderung des Falles Carl Ludwig Sand deutlich, in dem nicht nur das Verbrechen noch einmal neu erzählt wurde, sondern gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit bisherigen Interpretationsversuchen stattfand. Keinesfalls implizierte der Terminus »aktenmäßige Darstellung« die Erforschung bisher unbekannter Ereignisse oder eine Analyse von bisher nicht in Betracht gezogenen Akten, die ein neues Licht auf den Fall hätten werfen können. Erzählt wurden cause célèbres, und diese brachten es mit sich, dass sie auch schon erzählt worden waren, bevor Alexis und Hitzig sie ihrer Sammlung hinzufügten. Aktenmäßige Darstellung bedeutete bei Alexis hingegen eine stete Anbindung der Erzählung an authentifiziertes und glaubwürdiges Aussagenmaterial, auch wenn es aus literarischen oder dokumentarischen Bearbeitungen übernommen worden war. 93 Im Gegensatz zur angeblichen Tatsachenfixierung von Hitzig, der einen Fall nur bei vorliegenden Akten beurteilen wollte 94, pointierte Alexis den Interpretati92 Siehe NP 11 (1847), S. XIX-XXVI. 93 Inwieweit Alexis dabei aus erzählerischen Motiven vereinzelte Begebenheiten oder Fakten hinzudichtete, kann angesichts der Fülle der Sammlung, deren Fallbeschreibungen jeweils mit den zugrunde liegenden Quellen verglichen werden müssten, kaum nachgewiesen werden. Wichtiger war die Unterwerfungsgeste, mit der sich Alexis unter die Herrschaft der Faktizität des Dargestellten begab, wenn es etwa hieß, dass allein schon der »wissenschaftliche Ernst« die Teilnahme des Publikums garantiere, und er sich für die Aufnahme eines Falles entschuldigte, der nicht aus Akten gezogen, sondern einer beglaubigten Volkssage entnommen worden war. Solche Fälle wolle man in Zukunft »romantischen Erzählern« überlassen, denn man sah, »daß die allgemeine Bildung in unserem Vaterlande solche Fortschritte gemacht hat, um im Ernst des Wissenschaftlichen selbst Nahrung für die Phantasie zu finden.« NP 2 (1842), S. XII. 94 So Alexis in seinem Nachruf auf Hitzig: NP 15 (1850), NF 3, S. VI.

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onsspielraum, den ihm das Historische wie auch das Psychologische bot. Eine »nur actenmäßige Darstellung des Thatsächlichen« würde zu einer »unverständlichen Skizze« führen, vielmehr sollte die »einzelne Handlung, Verbrechen und Strafen, als Glied eines organischen Ganzen, einer gewaltigen Bewegung, einer furchtbaren Strömung im großen Lebensprozesse der Völker gedacht« werden. Angestrebtes Ziel war nunmehr, den Einzelfall in ein Geschichtsgemälde einzubetten, welches »Abrundung« und »Abgeschlossenheit« garantierte und somit das individuelle Fallbeispiel in Beziehung zum Allgemeinen setzte. 95 Dass die »aktenmäßige Darstellung« nichts anderes als eine literarische Strategie war, konnte einem frühen zeitgenössischen Rezensenten wie Adolf Stern nicht entgehen. So werde das Authentizitätspostulat selbst bei »psychologischen Unwahrscheinlichkeiten« und »vergriffener Charakteristik« bemüht, wobei hier eine »Beruhigung in der Gewissheit« für den Leser vorliege, dass er nicht durch »›abenteuerliche Erfindungen müßiger Köpfe‹ genarrt, sondern durch Vorkommnisse, die von Polizei und Justiz konstatiert sind, in die gewünschte Spannung versetzt wird«. 96 Die Resonanz auf den ersten Band ließ deutlich werden, dass Fälle der Gegenwart wie derjenige von Karl Ludwig Sand auf Widerspruch und »Parteiinteressen« stießen, obwohl als Erzählprinzip die »Unparteilichkeit der Thatsachen« im Vordergrund stand. Für eine solch unparteiische Darstellung nutzte Alexis die Diskussion verschiedener Primär- und Sekundärquellen und übernahm damit diskussive Momente der Geschichtswissenschaften. 97 Die Darstellung des von Alexis als »barbarisch« charakterisierten Prozesses gegen die Juden 1840 in Damaskus, bei dem nach Ritualmordvorwürfen mehrere Juden ermordet worden waren, hatte ihn in eine Bedrängnis gebracht, aus der sich die beiden Herausgeber später herausmanövrieren mussten. Im Vorwort nahmen sie Bezug auf eine an sie gerichtete Denkschrift von Lipmann Hirsch Loewenstein, der dem Publikum als Verfasser der Damascia vorgestellt wurde. 98 Der an sie gerichtete Vorwurf betraf die Tatsache, dass 95 NP 13 (1848), S. VIIff. 96 Adolf Stern, Criminalromane und Criminalnovellen, in: Max Bucher (Hg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Stuttgart 1981, Bd. 2, S. 301-304; hier S. 303. 97 Vgl. NP 2 (1842), S. XVII-XXI, dort die nachträgliche Diskussion des Mordfalls Fualdes, der beim Publikum angeblich für Kritik gesorgt hatte. 98 Lipmann Hirsch Loewenstein, Damascia. Die Judenverfolgung zu Damaskus und ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung, Rödelheim 1840. Die Juden der Stadt Damaskus wurden 1840 des Ritualmordes an einem verschwundenen katholischen Mönch und seinem jungen muslimischen Diener bezichtigt. Die nicht zuletzt auf Betreiben des örtlichen französischen Konsuls erwirkten Folterungen erbrachten falsche Geständnisse, mehrere Juden wurden getötet. Innerhalb weniger Monate geriet der Fall in Europa und Amerika zu einem Medienereignis. Die Affäre wurde schließlich durch die Intervention einzelner europäischer Mächte beigelegt und die Anklage fallengelassen. Siehe dazu den Artikel »Damascus Affair«, in: Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, Bd. 5, Sp. 1249–1252. Jonathan Frankel, The Damascus Affair: ›Ritual Murder‹, Politics, and the Jews in 1840, New York 1997.

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Alexis zwar die Absurdität der Anschuldigungen angeprangert habe, die Ritualmordvorwürfe letztlich jedoch nicht als antisemitische Legende enttarnt habe. Löwenstein stellte den Herausgebern zwei Stellungnahmen der protestantischen bzw. katholischen Theologieprofessoren Johann Friedrich von Meyer und Joseph Franz Molitor zur Verfügung, die er später selbst in einer kleinen Schrift veröffentlichen sollte.99 Diese »Autoritäten«, unterstützt durch eine angehängte notarielle Beglaubigung der Autorschaft, verwiesen auf die Unhaltbarkeit der Ritualmordvorwürfe, indem sie einerseits theologisch und kirchengeschichtlich argumentierten und zudem auf weitere Literatur aufmerksam machten, die den Blutgebrauch der Juden als das auswiesen, was er war, eine wiederkehrende Legende. 100 An der Argumentation, die dieser wohlmeinenden historischen bzw. religionsgeschichtlichen Aufklärungsarbeit zugrunde lag, lässt sich zeigen, an welche Grenzen eine historisch-juristische Beweisführung stoßen konnte. Alexis und Hitzig forderten nämlich einen vollkommenen »negativen Beweis«: »Wiewohl es uns nicht in den Sinn gekommen ist, die Möglichkeit, daß unter der jüdischen Nation Einzelne, verfinstert von abergläubischer Wuth, nach Christenblut lüstern sein könnten, zu vertheidigen, so konnten wir als Juristen ebensowenig einräumen, daß die Sachverwalter der Juden den negativen Beweis geführt haben, daß nirgend und zu keiner Zeit etwas von der Art vorgekommen, noch daß keines ihrer Religionsbücher eine Billigung oder Anreizung zu solchem Frevel enthalte. Auch Herr L. H. Löwenstein muß einräumen, daß dieser Beweis streng genommen nicht zu führen sei […].« 101

Dem (vermeintlichen) Dilemma, dass innerhalb historisch-juristischer Argumentationen nicht der vollkommene Beweis erbracht werden konnte, entkam man nur, indem man dagegen die »moralische Ueberzeugung« als Wahrheitskriterium ins Feld führte: 99

Lipmann Hirsch Loewenstein, Stimmen berühmter Christen über den damaszener Blutprocess. Als Anlage zu der Schrift Damascia. Frankfurt/M., Rödelheim 1843. Johann Friedrich von Meyer hatte 1815 den Beitrag »Geschichte des Volkes Israel« für Schlossers Weltgeschichte verfasst: Friedrich Christoph Schlosser, Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung, Bd. 1, Frankfurt/M. 1815, 25-44. 100 Dies blieb der einzige Fall, für den außerhalb der Erzählungen ›wissenschaftliche‹ Darlegungen dem Pitaval beigefügt wurden. Innerhalb der Erzählungen kam es wiederholt zur Auseinandersetzung mit der Fachliteratur und verschiedenen »Zeugenaussagen«. 101 NP 2 (1842), S. XXIII. Dass die solchermaßen geführte Argumentation eine Nähe zu antisemitischen Verschwörungstheorien aufwies, war den Herausgebern anscheinend nicht bewusst. In der Stellungnahme Molitors liest sich das gleiche Argument ganz anders: Zunächst weist er nach, dass aus den jüdischen Religionsschriften in keiner Weise Blutrituale herzuleiten seien. Der Forderung nach einem prinzipiellen Ausschlussargument – einem Nachweis, dass niemals ein Jude Menschenblut verköstigt habe – hält er entgegen, dass sie mittelalterlichen Ursprungs und den Christen von Heiden Ähnliches unterstellt worden sei. NP 2, S. XXXI.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker »Indem wir beide hochwichtige Aussagen hier zur Publizität bringen, müssen wir eingestehen, daß dennoch vor einem höheren Richterstuhle als dem, wo gelehrte oder geschworene Richter einen formellen Beweis fordern, nämlich dem der moralischen Ueberzeugung, der Zweifel weichen muß.«102

Einen solch formellen bzw. negativen Beweis gegen die moralische Überzeugung auszuspielen, war unglücklich, denn schließlich muss vor Gericht nicht die Unschuld, sondern die Schuld bewiesen werden. Erklären lässt sich dieser Hiatus allerdings im Kontext der zeitgenössischen Theorie der juristischen Wahrheitsfindung. Die Anerkennung des Indizienbeweises als vollgültigem Beweis und das freie richterliche Ermessen bedeuteten, der »moralischen Überzeugung« und damit verstärkt Plausibilitätskriterien zu folgen. Prinzipiell war man an der Person des Täters orientiert, seiner Biographie, seiner psychischen und physischen Disposition, und an seinem sozialen Umfeld. In der Pitavaltradition spiegelt sich so jene Interessenverschiebung von der Tat zum Täter wider, die bei der Entwicklung der wissenschaftlichen Kriminalpsychologie eine wesentliche Rolle gespielt hat. 103 Häufig wurden in panoramatischen Überblicken geographische Details und volkskundliche Stereotype über Ort und Zeit des Verbrechens in die Erzählung eingestreut. 104 Dieses Material sollte dann insgesamt zur Erklärung der Tat beitragen, wobei diese noch einmal für den Leser nachzuvollziehen war. Präsentiert wurde das Verbrechen »als ob es sich eben erst wieder ereignete«. Weniger der Schluss mit Urteilsspruch und Bestrafung bestimmte den Erzählaufbau, wie bei Richer, sondern die »Art und Weise, wie es dazu kam«. 105 Diese realistisch konzipierte Historisierung auch von zeitgenössischen Gewaltverbrechen führte dazu, »die Kriminalität aus dem Zentrum bürgerlichen Alltags herauszudrücken«, und zwar in die Vergangenheit. 106 Im Ver102 NP 2 (1842), S. XXIV. 103 Vgl. Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 103. Greve, Verbrechen und Krankheit. 104 Vgl. die Beschreibung des Pitavals aus dem Jahr 1858, in der Alexis befand, dass die historische Ausrichtung des Werkes einer stärker aktuellen Tendenz weichen sollte: Die Herausgeber seien als »wissbegierige Reisende in die verschiedenartigsten Länder und Städte, in Ort, Zeit, Sitte, Gesetz, Gewöhnung und Bildung eingetreten […], um das Thun und Treiben der Verbrecherstätten, bis womöglich in ihre Wiegen zu beobachten […]. Unsere Aufgabe war von Anbeginn, indem wir die merkwürdigen Verbrechen aufsuchten, zugleich die Zeit und die Oertlichkeit zu erforschen und zu schildern, wo sie gelebt, wo also der Boden, die Atmosphäre, die physischen und psychischen Strömungen solche Thaten und Täter erzeugten, bedingten oder möglich machten. Unser Werk, welches die Schattenseiten der Menschennatur zum Vorwurf hat, sollte also die Bausteine liefern, gewissermaßen als Probe zur Geschichte des Humanismus von der Kehrseite.« NP 25, NF 13 (1858), S. IVf. 105 Marsch, Kriminalerzählung, S. 94. 106 Linder, Deutsche Pitavalgeschichten, S. 325. Linder verweist darauf, dass für die »Erste Folge« des Pitaval, welche die Bände von 1842 bis 1847 umfasste, in nur elf Fällen das Strafurteil zehn oder weniger Jahre vor der Dar-

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gleich zu Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre, wo sich auch die Gesellschaft auf der Anklagebank wiederfand, spielte für Alexis die individuelle Verantwortung für die Tat eine größere Rolle, selbst dann, wenn er das Verbrechen als Ausdruck seiner Zeit gedeutet wissen wollte. Im Hintergrund stand dabei Hitzigs Kritik an der Zurechnungslehre. Diese habe mit der Berücksichtigung psychologischer, medizinischer und sozialer Umstände bei der Berechnung des Strafmaßes das Verhältnis von Wille und Tat dermaßen verrückt, dass die Zuweisung von Schuld und Sühne ins Schwanken geraten sei. 107 Insofern war es konsequent, wenn Alexis innerhalb der Verbrechensdarstellung solche Momente herausarbeitete, in denen ein freier Wille des Täters und damit der juristische Tatbestand des vorsätzlichen Mordes zu erkennen waren. Und dennoch boten die psychologischen Deutungsvarianten, die mit der Zurechnungslehre verbunden waren, für Alexis einen Raum literarischer Ausgestaltungsmöglichkeiten gerade in solchen Fällen, in denen der Tatbestand schnell geklärt, die Frage nach Verantwortung und Schuld aber noch beleuchtet werden konnte. 108 Schuld, Verantwortung und Sühne waren für Alexis zentrale Bewertungsmaßstäbe für die einzelnen Fälle, wobei er mehr an Religion und Morallehre, das heißt an einer selbstverantwortlichen Sittlichkeit bzw. einer verinnerlichten Rechtspraxis orientiert war als an der zeitgenössischen Rechtsdiskussion. 109 Bei der Betrachtung historischer Verbrechen kam jedoch ein weiterer Gedanke hinzu, nämlich dass die »Gerechtigkeit der Geschichte« schnell auf den Plan tritt oder es aber zu einer »Freisprechung vor dem großen Gerichte der Nationen« kommen konnte. 110 In der Mitte der 1850er Jahre trat dann ein kriminalanthropologisches und atavistisches Interpretationsmuster hinzu, wenn Alexis den Wunsch seines Publikums notierte, die »Grundzüge des Verbrecherthums« kennenlernen zu wollen, womit er die »wilden Triebe der Leidenschaften«, die »Selbstsucht«, den »Wahn« und »Fanatismus« des verbrecherischen Menschen meinte, der bis zum »menschlichen Ungeheur«, »Cannibalen, Raubthier« und »bestialischen Menschenfresser« absinken könne. 111 Die Konzentration auf den Täter und seine Biographie begründete sich jedoch nicht nur mit der zeitgenössischen Zurechnungslehre und einem Moraldiskurs, sondern ergab sich auch aufgrund der Quellenauswahl. Indem Alexis sich auf die Aussagen der (oft bearbeiteten) Untersuchungsakten

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stellung lag, während in 34 Fällen diese Distanz zehn bis vierzig Jahre betrug, und in 59 Fällen der zeitliche Abstand noch größer war. NP 15, NF 3 (1850), S. XIV. Vgl. Alexis’ Ausführungen zum Mord an O’Connor durch die Eheleute Manning in London: NP 15, NF 3 (1850), S. S. XXXIIIf. Eine breiter angelegte Studie über bürgerliche bzw. protestantische Moralvorstellungen im Neuen Pitaval und damit über die Konzeption von Verantwortung und Schuld, Reue, Einsicht und Versöhnung fehlt bislang. So Linder, Deutsche Pitavalgeschichten, S. 335. Siehe auch Jörg Schönert, Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur 1770-1890, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, S. 321-339; hier S. 330-333. NP 15, NF 3 (1850), S. XXXIV. NP 23, NF 11 (1855), S. VI. NP 25, NF 13 (1858), S. IVf.

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stützte, übernahm er den Blick des Untersuchungsrichters, weshalb nicht zuletzt den Opfern wenig Raum eingeräumt wurde. Dies wurde von ihm klar erkannt, doch wagte er anders als Schiller keinen Bruch mit dieser vorgegebenen Perspektive. 112 Zwar nutzte auch Alexis wie Schiller in Der Verbrecher aus verlorener Ehre die Ich-Form, jedoch mit wesentlichen Unterschieden. Bei Schiller war dieses Stilmittel mit einem klaren Perspektivwechsel verbunden, der nichts mit dem durchregelten Gerichtsverfahren gemein hatte, indem der Täter über sich selbst Auskunft gab. Alexis ließ zwar den Täter den Tathergang schildern, beanspruchte hingegen die biographische Deutung der Tat für sich. Damit entmündigte er im Vergleich zu Schiller nicht nur den Täter, sondern auch das Publikum, welches nicht zu einer eigenen Beurteilung herausgefordert wurde. 113 Verbrechen und Verbrecher sollten »im Verhältnis zu der Geschichte und Sitte ihrer Zeit, zu den Kreisen der Gesellschaft, des Glaubens, des Wahns, aus denen die That hervorging, wie sie von ihnen beurtheilt ward«, dargestellt werden. 114 Ausdrücklich verabschiedete sich Alexis von der »Form des Gerichtsverfahrens« und richtete das Augenmerk auf »die historische und psychologische Bedeutung des Falles«. In der Betonung, dass jeder Fall seine »eigene Form« und »Auffassungsart« bedinge, lässt sich der historistische Gedanke der Individualität jedes historischen Geschehens wiedererkennen. Diese Individualität verbrecherischer Fallgeschichten blieb jedoch auf das Allgemeine der Geschichte der Nationen, Völker und Zeiten bezogen: »Wir meinen, daß man die Historie einer Nation nicht dadurch allein vollständig macht, wenn man die ehemalige trockene chronologische Erzählung der Haupt- und Staatsactionen durch eine Sittengeschichte ergänzt, ja, daß auch die geistigen Bewegungen im Volke, seine Verfassungskämpfe, seine Entdeckungen und Erfindungen, seine hervorragenden Dichter, Künstler und Gelehrte, seine Handelsoperationen und seine Industrie, das Gemälde einer Zeitepoche noch nicht vollenden, wenn nicht auch die bedeutenden Verbrechen und ihre Verfolgung darin Aufnahme finden; denn erst aus diesem düstern Schlagschatten der Civilisation gewinnen wir die richtige Würdigung, die Probe für die Darstellung der Lichtmomente.«115

Man kann hier noch die Schillersche Motivation erkennen, das Studium des Verbrechens als einen Beitrag zur Menschheitsgeschichte zu verstehen, die nun als Kultur- und Sittengeschichte geschrieben werden sollte. Als Vorbild für eine solche Einbeziehung des Verbrechens nannte Alexis jedoch nicht Schiller, sondern die Geschichtsschreibung Humes, die nur deshalb möglich

112 Darauf verweist eine von Linder zitierte Textstelle, in der Alexis darauf aufmerksam machte, dass »die Worte und Ausdrücke« des Verbrechers »nur durch die Vermittlung des Inquirenten in dessen Schriftsprache übersetzt« worden seien, wodurch dennoch die »Denkungsweise« und die »Sprache des Verbrechers« durchscheine. Vgl. Linder, Deutsche Pitavalgeschichten, S. 327f. 113 Vgl. Linder, Deutsche Pitavalgeschichten, S. 332. 114 NP 7 (1845), S. IXf. 115 Ebd.

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gewesen sei, weil »dort der Criminalprozeß von früh an zum öffentlichen Leben gehörte«. 116 Dieser Zusammenhang von Kriminalitätsdarstellung und Gerichtspraxis wurde deutlicher im Rahmen einer Diskussion über die Einführung der Geschworenengerichte bzw. die Beibehaltung des Inquisitionsverfahrens, die mehr mit historischen als mit juristischen oder politischen Argumenten hantierte. Die beiden Herausgeber waren in den Verdacht geraten, Anhänger des Inquisitionsverfahrens zu sein und sahen sich deshalb zu einer Stellungnahme zu dieser »Zeitfrage« genötigt. Alexis gab sich als konservativer Befürworter der Geschworenengerichte zu erkennen, der im Inquisitionsverfahren keineswegs eine Unrechtsprechung sah. So forderte er, dem Inquisitionsprozess ein »historisches Ehrendenkmal« zu errichten, »denn wie er in Deutschland gehandhabt wurde, war er eine gute wissenschaftliche Erziehungsschule, zum sorgfältigen Inquirieren, zur strengsten, gewissenhaftesten Vorsicht«. 117 Bald darauf modifizierte Alexis seine Position, indem er im Inquisitionsgericht immer noch eine »kunstvolle Art, die Wahrheit zu entdecken, aber auch eine gefährliche Machtvollkommenheit« erkannte und deshalb den Vorteil der Geschworenengerichte in der Einschränkung richterlicher Willkür sah. 118 Diese Reflexionen lassen erkennen, dass Alexis eine inquisitorisch vorgehende »Untersuchungsgeschichte« – dieser Begriff fiel im Neuen Pitaval wohl erstmals 1848 im Zusammenhang mit einem Fall für den »Geschichtsfreund« 119 – nicht ernsthaft als Darstellungsoption erwog: Als wissenschaftsnahes Verfahren hätte dies dem Unterhaltungsanspruch widersprochen. Darüber hinaus verband Alexis mit den beiden Gerichtsverfahren unterschiedliche darstellerische Möglichkeiten, denn das Geschworenengericht beförderte seiner Ansicht nach eine dramatische Darstellungstechnik. Mit der älteren juristischen Geschichtserzählung verband er nun »Rechenexempel der Inquisitionskunst« 120 und »die Aburtheilung mit den systematisch aufgereihten Zweifels- und Entscheidungsgründen«. Davon unterschied er ein Repräsentationsverfahren, das aus der »dramatischen Natur« der »Feuerschmiede der Geschworenengerichte« hervorgegangen war. In der Mündlichkeit des Verfahrens, »wo die Zeugen einer Controle der Öffentlichkeit unterliegen«, wurden andere Indizien zum fehlenden Glied in der Beweiskette, »der Zug um die Muskeln, das Lächeln, der erschrockene Blick«. Dagegen tendierte 116 Ebd. 117 NP 7 (1845), S. XXVII. Die Diskussion über die Einführung der Geschworenengerichte durchzog den Neuen Pitaval von Beginn an. 1843 sah sich Alexis gezwungen, seinen Bericht über den französischen Geschworenenprozess gegen Fualde zu rechtfertigen, bei dem es seiner Ansicht nach zu Justizmorden gekommen war. Er bestritt jedoch, damit eine kritische Stellungnahme zum Institut der Geschworenengerichte überhaupt abgegeben zu haben. 118 NP 11 (1847), S. XVIf: Weiterhin hielt er sie nicht für die »besten Gerichte allüberall«, beschrieb sie aber als »dem erwachten Rechtsgefühl der germanischen Völker« adäquat. 119 NP 13 (1848), S. IX. Alexis behauptete hier, dass die »aktenmäßigen Mittheilungen« nicht mehr Licht in die dunkle Sache brachten, als bisher schon bekannt war. 120 NP 7 (1845), S. XXVI.

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das schriftliche Inquisitionsverfahren zur »epischen Erzählung, die sich novellistisch bis zur Katastrophe (der That oder der Entdeckung) steigerte«, um dann abzufallen. 121 Durch den Geschworenenprozess wurde nun die »Tatsache jetzt einfacher, die Katastrophe rascher und schärfer«, weil »das Licht der Öffentlichkeit in die verborgensten Winkel dringt«. 122 Hier zeigte sich, was schon Mittermaier bei der Unterscheidung von Akkusations- und Inquisitionsprozess bemerkt hatte. Nach diesem ging es im Anklageprozess um den »Kampf zweier scharf einander gegenüberstehender Partheien«, die den urteilenden Richter je von der Wahrheit zu überzeugen suchen. Dies hieß, den »Versuch des Beweises der Unmöglichkeit des Gegentheils, die lebendige dramatische Darstellung der Verhältnisse, um die Wahrscheinlichkeit gewisser Behauptungen zu zeigen«. 123 Mittermaiers Bemerkung zielte dabei auf die rhetorischen Fähigkeiten des Anklägers, der »weniger den kalt prüfenden Verstand der Richter zu überzeugen« habe als vielmehr deren »Gemüth«. Der Ankläger suche also die »Einbildungskraft und durch die Führung des künstlichen Beweises die Stimmen der Richter zu gewinnen«, so dass »Gewissheit und Wahrscheinlichkeit weniger streng geschieden werden« können. Im Inquisitionsprozess sei es dagegen nicht auf ein »das Gemüth aufregendes Gemälde« angekommen, sondern auf den nach Regeln verfahrenden »prüfende[n] Verstand […], um die Gewissheit der Anklage zu entscheiden.« 124 Auch wenn Alexis teils divergierende Formulierungen gebrauchte, wird deutlich, dass die Änderungen im Gerichtsverfahren zu einer Reflexion poetologischer Verfahren herausforderten. Zudem lässt sich konstatieren, dass das Inquisitionsverfahren für ihn mit einer wissenschaftlichen Darstellungsweise verbunden war. Dem widersetzte sich jedoch in gewisser Weise jene epische Erzählung, die Alexis in der »Geschichtserzählung« im Inquisitionsprozess erblickte. Für den Schriftsteller Alexis bedeutete weniger das Indizienverfahren eine Herausforderung, auf das er im Übrigen mit keiner Silbe einging, als vielmehr das öffentliche Verfahren. Hier ließen sich physiologische Indizien direkt beobachten, die auf Erregung und emotionale Kälte, auf Wahrheit und Lüge hindeuten konnten. Zudem war damit eine Wahrheitskonzeption verbunden, die nicht allein auf Erforschung ausgerichtet war, sondern mit dem »Licht der Öffentlichkeit« den kommunikativen Aspekt betonte und den Delinquenten als öffentlich zu überprüfendes Subjekt begriff. Bemerkenswert ist, dass mit der Einführung der Geschworenengerichte eine Neukonzeption des Werkes verknüpft war. In den fünfziger Jahren nahm der Anteil an Mitarbeitern bzw. Zuträgern bemerkenswerter Rechtsfälle stetig zu, was eine eindeutige Orientierung auf aktuelle Fälle, aber auch eine Diversifikation des Stils bedeutete. Während man bei den alten Rechtsfällen »Quellen« und »Bücher« vorliegen hatte und man deshalb »mit epischer Ruhe darüber walten konnte«, war Alexis nun auf Juristen und Schriftsteller angewiesen, die die Prozesse verfolgten und niederschrieben und ihren eigenen Stil einbrachten. Aus der Rolle des Historikers sei er in die des Chronisten 121 122 123 124

NP (1850), S. VII. NP 25, NF 13 (1858), S. VIII. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im Strafprozesse, S. 407. Ebd., S. 408.

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und Berichterstatters gedrängt worden, der den täglichen Verlauf der Verhandlungen begleiten müsse. Zwar bezog er sich weiterhin auf den »Urkundenbeweis der Gerichtsakten«, doch würden gleichzeitig Zeitungsreportagen immer wichtiger für ihn, die nun ebenso als »Tradition« aufgefasst werden müssten. 125 Jeder Tag und jede Stunde konnte bei einem öffentlichen Prozess neue »Enthüllungen und Muthmaßungen« bringen, und wenn man diese streichen und nur den Kern des wirklich Ermittelten wiedergeben wollte, würde aus einem cause célèbres schnell eine bloße Aktennotiz. In der neuen Zeit des Geschworenengerichts seien »criminalistische Romane, wie der alte Pitaval deren erzählt, heute kaum mehr möglich und denkbar«. 126 5.4 D ETEKTIVISCHES E RZÄHLEN IN U NTERSUCHUNGSRICHTERGESCHICHTEN Während die Interdependenzen von Geschichte, Verbrechen und kriminalistischer Aufklärung bei Schiller und Alexis erkennbar waren, weisen Droysens Ausführungen zur untersuchenden Darstellung eine besondere Nähe zu jenen populären Kriminalnovellen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, in denen erstmals Untersuchungsrichter die tragende Rolle spielten und durch die ein neues »detektivisches Erzählen« in die deutschsprachige Literatur Einzug hielt. In den 1860er und 1870er Jahren hatten sich »Criminalroman« und »Criminalnovelle« so weit ausgebildet, dass sie als spezifische Gattungen reflektiert werden konnten. 127 Die Trennung von eher dramatisch orientierten, linearen kriminalliterarischen Erzählweisen und retrospektiv-untersuchenden, an einer kritischen Methode orientierten Darstellungen – wie sie Droysen entwickelt hatte – tauchte nun auch in einem der frühesten Artikel zum neuen Phänomen der Kriminalliteratur von Adolf Rutenberg auf: »Es ist hiernach klar, daß eine Literatur […] welche sich […] vorwiegend mit der Darstellung des Verbrechens, seiner Entstehung, seines Verlaufs, seiner Entdeckung beschäftigt, entweder rein kritisch verfahren – Criminalliteratur im engern juristischen Sinne – oder, wenn sie sich auf das belletristische Gebiet begibt, die dramatische Methode wählen muß, weil nur diese die nöthige Gelegenheit gewährt, die menschliche Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu überraschen […].« 128

125 NP 25, NF 13 (1858), S. IXf. Hinzu kam, dass mit dem 28. Band Anton Vollert die Reihe übernahm und Alexis langsam seinen Abschied als Herausgeber vorbereitete. 126 Ebd., S. VIII. 127 Siehe dazu Adolf Rutenberg, Der Criminalroman und das Zeitalter des Modernen (zuerst in: Die Gegenwart 5, 1874), in: Bucher (Hg.), Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 304-311. Stern, Criminalromane und Criminalnovellen. 128 Rutenberg, Der Criminalroman, S. 306. Beispiele für die von Rutenberg angesprochene dramatische Form waren die sogenannten »Indagationsgeschichten« nach französischem und englischem Vorbild, die Vorläufer des Thrillers und Spionageromans waren und sich auf Verfolgung, Verhaftung und Überführung eines Verbrechers konzentrierten und an der Chronologie

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Rutenberg zeichnete in der Folge anhand der neuen Kriminalliteratur eine Verfallsgeschichte der Romankultur. Das »criminelle Element« sei zu »größerer Herrschaft und Anerkennung« im Roman gelangt; die »verworfenste Verbrecherseele« finde ihre Aufnahme. Der Roman »öffnete die literarischen Pforten selbst der Beschreibung – um nicht zu sagen künstlerischen Widergabe – der crassen Gemeinheit, der widernatürlichen Unzucht, der Entfaltung und Verwirklichung der Leidenschaften, die nicht nur gegen die gesetzliche, sondern, was schlimmer ist, auch gegen die moralische Ordnung der Dinge verstoßen.« 129 Neben der moralischen Verdammung sprach Rutenberg dem Kriminalroman damit auch gleich seine künstlerische Güte ab. Ebenso wie Alexis zog Rutenberg eine Linie zwischen Verbrechensdarstellung und Geschichtsdarstellung, wenn er von den »großen historischen Verbrechen« sprach, »deren tragische Schicksalsgewaltigkeit ihre Urheber an die Spitze der großen dramatischen Heldenreihe stellt, welche in Kunst und Literatur den ersten Platz einnimmt«. 130 Dabei dachte Rutenberg, wie Droysen, an die Werke Shakespeares, darüber hinaus aber ganz allgemein an historische Verbrechen der Art, wie Alexis sie gesammelt hatte, wenn er etwa auf die Französische Revolution, die Herrschaft Robespierres oder den »contra jus legem« ausgeführten Tyrannenmord anspielte. Geschichte und Verbrechen gehörten zusammen – dies war dem historisch gebildeten Bürgertum um 1870 im Zeichen von Historismus und Kriminalliteratur inzwischen deutlich geworden. Zu den frühen Werken, in denen ein Richter bzw. Untersuchungsrichter die bestimmende Person eines Aufklärungsprozesses ist, zählt die 1828 veröffentlichte Novelle Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten von Adolph Müllner. Dieser war selbst Advokat und veröffentlichte zunächst juristische Publikationen, bevor er zum populären Schreiber von Schicksalsund Enthüllungsdramen wurde. Die Befragung des Hauptzeugen und Bruders des Ermordeten zum Tathergang durch den Richter erfolgt bei Müllner nach einem als bekannt vorausgesetzten Prinzip, nämlich nach dem, »wie wir Untersuchungs-Männer [es] gewohnt sind«. 131 In Laurids Kruses Der krystallene Dolch von 1823 ist die zentrale Figur hingegen ein Pfarrer, der die Ermittlungen des Untersuchungsrichters kritisch begleitet. 132 Schon früh in der Geschichte des Kriminalromans gibt es hier das spannungsreiche Expertenteam aus dem Untersuchungsrichter bzw. Detektiv, der in seinen Verhören und Beobachtungen dem Geständnis und der

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der Ereignisse weitgehend festhielten. Der verdeckte Ermittler, Agent oder Spion, der in diesen Varianten der populären Kriminalliteratur einem meist schon bekannten Verbrecher nachspürt, kann in Bereiche vordringen, die ihm bisher unzugänglich waren. Damit werden die Chancen der Wahrheitsermittlung erhöht, indem dem Verhör das Aushorchen und der peinlichen Frage die verdeckte Frage entgegengestellt wird. Vgl. Hügel, Untersuchungsrichter, S. 144. Rutenberg, Der Criminalroman, S. 306. Ebd., S. 305. Adolph Müllner, Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten, Leipzig 1828, S. 12f. Laurids Kruse, Der krystallene Dolch, Hamburg 1823.

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Erkenntnis der Wahrheit auf der Spur ist, und dem zur Verschwiegenheit verpflichteten Geistlichen, dem gebeichtet werden soll. Zentral für den Aufbau von Kruses detektivischer Geschichte ist, dass gleich zu Beginn über einen Mord berichtet wird, der erst im Gang der Erzählung aufgeklärt wird. So beginnt die Erzählung mit einem ausführlichen Zeitungsbericht über eine »schreckliche und unerklärbare Unthat«. Der Artikel enthält die genaue Beschreibung des Tatortes sowie weiterführende Indizien. Im zweiten Abschnitt der Erzählung begleitet der Pfarrer, der den Angeklagten gut kennt, kritisch die Ermittlungsarbeit der Behörden. Beobachtungen und neu hinzukommende Indizien bringen über Vermutungen die Interpretation voran. Klares perspektivisches Erzählen, Verhör und Reflexion, Aktion und reflektierende Wiederholung erzeugen eine Arbeitsatmosphäre, die dem Leser die Aufklärungsarbeit verdeutlicht. 133 Zwei weitere Autoren zeitgenössischer Kriminalnovellen bewiesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Nähe zu historiographischen Narrativen, indem sie populäre Geschichtsbücher verfassten. So schrieb Eugen Hermann von Dedenroth in den 1870er und 1880er Jahren zahlreiche Novellen, die im Untertitel als »Criminal-Roman« oder »Criminal-Geschichte« angekündigt wurden, während er auch zeithistorische Erzählungen publizierte. 134 Gleiches galt für den Berliner Adolph Streckfuß. Streckfuß, der sich während der Revolution 1848 in Berlin dem »Verein für Volksrechte« angeschlossen hatte und dessen Vorsitzender geworden war 135, verteidigte nach ihrem Scheitern seine demokratischen Grundüberzeugungen in dem politischen 133 Vgl. Hügel, Untersuchungsrichter, S. 115. 134 Eugen Hermann [d. i. Eugen Hermann von Dedenroth], Des Kaisers Polizei. Historischer Roman, 2 Bde., Leipzig 1858. Ders., Louis Napoleon oder Schicksalskampf und Kaiserkrone, Berlin 1868-1869. Ders., Der Winterfeldzug in Schleswig-Holstein, Berlin 1864. Ders., Der Händler von Nachod. Eine moderne Criminalgeschichte, Berlin 1870. Eugen Hermann von Dedenroth, Die Baronin. Criminal-Geschichte, 2 Bde., Berlin 1873. Ernst Pitawall [d. i. Eugen Hermann von Dedenroth], Der Jäger von Königgrätz. Historische Erzählung aus dem Kriege im Jahre 1866, Berlin o. J. Ders., Übersicht des Krieges 1870/71, Berlin o. J. Ders., Der Bescholtene. Kriminal-Roman, in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1880, Bd. 6-9. Ders., Verleumdung. Criminal-Geschichte (=Roman-Feuilleton der Karlsruher Nachrichten), Karlsruhe 1888. In den 1850er Jahren hatte Dedenroth unter dem Pseudonym Hermann Eugen den historischen Roman Des Kaisers Polizei veröffentlicht. Für Der Jäger von Königgrätz. Historische Erzählung aus dem Kriege im Jahre 1866 hatte er das Pseudonym Ernst Pitawall benutzt. 135 Vgl. zur Biographie: Karl Streckfuß, Adolph Friedrich Karl Streckfuß (17791844) und die Seinen. Beitrag zur Familiengeschichte. Als Handschrift vervielfältigt, Berlin 1933. Horst Denkler, »Erzdemokrat« und »Volksschriftsteller«: Adolf Streckfuß (1823-1895), in: Ders. (Hg.), 1848. Adolf Streckfuß. Die März-Revolution in Berlin. Ein Augenzeuge erzählt, Köln 1983, S. 11-33. Rüdiger Hachtmann, Adolph Streckfuß – ein Linksliberaler im Visier preußischer Terrorismusfahnder, in: Walter Schmidt/Susanne Schätz (Hg.), Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848, Berlin 2009.

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Roman Die Demokraten. 136 Die preußische Zensur untersagte ihm die Veröffentlichung und Streckfuß wurde 1851 wegen Hochverrats angeklagt, erlangte jedoch einen Freispruch. Dennoch durften seine Werke weder in Leihbüchereien noch im Kolportagebuchhandel angeboten werden. Der Versuch, im Selbstverlag das Buch Die große Französische Revolution herauszubringen, scheiterte abermals an der Zensur, die die Vernichtung des Werkes anordnete. Streckfuß wurde »Tabakhändler en gros et en detail« – eine Maßnahme zur Existenzsicherung, die durch die im Zuge der Revolution gewährte Raucherlaubnis in der Öffentlichkeit und den damit sprunghaft angestiegenen Tabakkonsum möglich geworden war. 1855 gründete Streckfuß eine Tabakfabrik, doch verkaufte er diese recht bald und wandte sich wieder seiner publizistischen Tätigkeit zu, diesmal jedoch unverfänglicheren Themen: Er verfasste ein Buch über die Hohenzollern und sein bekanntestes Werk, die Geschichte Berlins Vom Fischerdorf zur Weltstadt. 137 Als Redakteur der Handwerker-Zeitung ›Vereint-Vorwärts‹. Ein Montagsblatt für den deutschen Handwerker könnte er den erfolgreichen Autor von Untersuchungsrichtergeschichten Jodocus Donatus Hubertus Temme kennengelernt haben, der dort als Mitarbeiter engagiert war und ihm vielleicht die Anregung gab, sich im Bereich der Kriminalerzählung zu probieren.138 Im Montagsblatt erschien 1859 seine Erzählung Ein Justizmord, während ihm erst mit Der Sternkrug (1870) der Durchbruch im Bereich der Kriminalerzählung gelang. 139 Das Verhältnis von Streckfuß zur Polizei mochte sich allmählich zum Positiven gewandelt haben, doch es blieb ein grundsätzlich kritisches: So wird in Der Sternkrug die verdeckte Ermittlungsarbeit des Polizeirats Werder – ein Vorläufer Old Shatterhands im Polizeidienst, der seine Fähigkeiten als exzellenter Spurenleser bei einem Indianer im amerikanischen Westen erworben hat – von dem »gnädigen Fräulein« und »einfältigen Landmädchen« Ida als »heuchlerisch« empfunden. Denn ein »Polizeimann« dürfe sich niemals als solcher zu erkennen geben, da man ansonsten nicht zum Ermittlungsziel gelange. (Selbstverständlich beginnen Werder und Ida während der letzten Zeilen des Buches eine Liaison.) Auch am Schluss bleibt die Wertung der Polizeiarbeit ambivalent: Werder klärt den Mord zwar auf, quittiert jedoch den Dienst, weil ihn Skrupel plagen: »›Nie wieder‹, sagte er fest entschieden, ›werde ich als Polizist wirken. Ich habe eine furchtbare Lehre erhalten. Wie fest überzeugt war ich von der Schuld des unschuldigen Herrn von Heiwald! Mit rastlosem Eifer sammelte ich die zu seinem Verderben führenden Beweisstücke und hätte nicht ein Zufall mir den Arbeiter Schurre in den 136 Adolph Streckfuß, Die Demokraten. Politischer Roman aus dem Sommer 1848, Berlin 1850. 137 Adolph Streckfuß, Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Berlin seit 500 Jahren. Geschichte und Sage, Berlin 1863-1865. 138 Temme und Streckfuß engagierten sich zu dieser Zeit beide für die DFP. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der deutschen »Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, S. 338. 139 Adolph Streckfuß, Der Sternkrug. Criminal-Novelle (1870), Berlin 1970. Die Erzählung Der Justizmord ist nicht überliefert und findet sich nur in der Darstellung von Karl Streckfuß.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter Weg geführt, wäre ich nicht durch einen so geistreichen und thätigen Beamten wie Ewald unterstützt worden, dann stände vielleicht heute Herr von Heiwald vor den Geschworenen und ein Schuldig gegen ihn, ein Todesurtheil, würde bei dem früher allgemein herrschenden Volksglauben wahrscheinlich sein. Nie wieder will ich solche Verantwortung auf mich nehmen.‹«140

Streckfuß verweist hier auf die Gefahren einer rein indizienorientierten Kombinatorik, die nur durch Zufall und kriminalistische Teamarbeit gezügelt werden konnte. Freilich war es kein Wunder, dass bei einer solch kritischen Haltung gegenüber den polizeilichen Ermittlungskünsten die Kriminalgeschichten von Streckfuß in Vergessenheit gerieten. Die Nähe von Kriminalerzählung und Geschichtserzählung lässt sich jedoch nicht nur bei Autoren ausmachen, die in beiden Genres Erfolg suchten. So standen etwa in den Familienzeitschriften und Romanfeuilletons sowohl kriminalistische als auch historische Erzählungen hoch im Kurs. 141 Das steigende Interesse an Polizeinachrichten seit Kleists Berliner Abendblättern und der damit einhergehende Ausbau des redaktionellen Teils der Zeitungen waren für die Entstehung der Detektivliteratur wesentliche Voraussetzungen. In populären Zeitschriften wurde die Frage »Wer war der Mörder?« – so auch der Titel einer der Untersuchungsrichtergeschichten von Temme 142 – immer wieder neu gestellt, wobei die Beweisaufnahme, die Bedeutung der Indizien, die Verhaftungen und die in den Vernehmungen getroffenen Aussagen kritisch rekapituliert und logisch aufgearbeitet wurden; die wichtigsten Aspekte wurden noch einmal in Schlusserklärungen zusammengefasst.143 In der ersten 140 Ebd., S. 89ff; 99f u. S. 159. Vgl. auch Neuhaus, Das Verhör, S. 389f. Wenig kritisch sieht der Roman die zeitgenössische Kriminalanthropologie: »Werder […] schaute […] mit prüfendem Blick auf das Gesicht des jungen Mannes, der ihn bisher wenig interesirt [sic!] hatte. Ja, dies war ein Verbrechergesicht! Diesem Menschen konnte man wohl einen Mord zutrauen. Wie frech schauten die großen, tückischen Augen aus den scharfen, gemeinen Zügen heraus, auf denen wilde Leidenschaft ihre tiefen Spuren eingegraben hatte. Die Röthe der Wangen rührte nicht nur von Luft und Sonne her, sie war eine Folge häufigen Genusses starker Getränke. Werder, der scharfe Menschenkenner, der mit Recht stolz sein konnte auf seinen schnellen und richtigen Blick, der Jahre lang die Verbrecherwelt eifrig beobachtet hatte, konnte keinen Zweifel mehr hegen.« Streckfuß, Der Sternkrug, S. 119. 141 Nach einer von Hans-Otto Hügel vorgenommenen Auswertung der Jahrgänge 1859/60-1869/70 der bis 1882 erscheinenden Buchreihe EisenbahnUnterhaltungen, die Kriminalerzählungen aus der Gerichts-Zeitung aufnahm, kamen Kriminalerzählungen auf einen Anteil von knapp 50 Prozent, Sensations- und Abenteuererzählungen auf einen Anteil von ungefähr 25 Prozent. Die drittgrößte Gruppe waren historische Erzählungen, die ungefähr 15 Prozent ausmachten. In den 1880er Jahren nahm dann der Anteil an Kriminalerzählungen in den Romanfeuilletons der Gerichts-Zeitung und der Tribüne ab, die anscheinend ihren Neuigkeitswert verloren hatten. Vgl. Hügel, Untersuchungsrichter, S..161-165. 142 J. D. H. Temme, Wer war der Mörder?, in: Ders., Criminal-Novellen, 3 Bde., Berlin 1873. 143 Hügel, Untersuchungsrichter, S. 164f mit anschaulichen Beispielen.

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Ausgabe der Berliner Gerichts-Zeitung, die seit den fünfziger Jahren erschien, hieß es programmatisch, man wolle das »immer studirter auftretende Verbrechen« verfolgen und dabei die »Mittel von Recht und Richter, von Gesetzgebung und Verwaltung« beschreiben, um die »traurigen Wirkungen und Einflüsse« des Verbrechens zu »neutralisieren« und um »das Wohlgelingen der Sicherheitspolizei, auch der des Auslandes […] zu befördern«. 144 Deshalb wolle man auch aktuelle Verbrechen beschreiben, für die noch Zeugen gesucht würden. 145 Spannung erzeugte die Schilderung authentischer Fälle gerade dann, wenn am »Thatbestand trotz der erschöpfendst geführten Untersuchung ein mysteriöses Dunkel haften bleibt«. 146 Darüber hinaus sprach man sich – ganz im Sinne der historiographischen Darstellungsmodi – gegen die emotionelle Teilnahme aus, die als »Unart der kriminalistischen Publicistik« gewertet wurde. 147 Unter den Autoren dieser in den Feuilletons publizierten Kriminalgeschichten – von Dedenroth und König über Ludwig Habicht, Friedrich Friedrich bis zu dem unter dem Pseudonym Ernst von Waldow schreibenden Lodoiska von Blum – fand sich mit Jodocus Donatus Hubertus Temme wohl der wichtigste Vertreter der populären deutschen Kriminalnovelle. Bekannt wurde Temme vor allem durch seine Untersuchungsrichtergeschichten, die er seit der Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte. 148 Temmes publizistischer und editorischer Fleiß war immens. Unter dem Pseudonym Heinrich Stahl schrieb er für mehrere Zeitschriften, er gab Sammlungen von Volkssagen verschiedenster preußischer Landstriche heraus, und er verfasste eine Reihe von Novellen mit zum Teil historischem Charakter. Gegen Ende der dreißiger Jahre griff er verstärkt in juristische Debatten ein, wobei er als Mitherausgeber mehrerer juristischer Zeitschriften für Strafrechtsreformen eintrat. Zudem war Temme vorübergehend Herausgeber der 17bändigen Criminalbibliothek. Merkwürdige Kriminalprozesse aller Nationen. 149 Von den 34 Erzählungen, die von Temme zwischen 1855 und 1868 in der Gartenlaube veröffentlicht wurden, werden allein zehn aus der Perspektive eines Untersuchungsrichters erzählt. 150 Das Erzähler-Ich dieses ersten »Serienhelden«, dem die Leserinnen und Leser der Gartenlaube regelmäßig begegnen sollten 151, bleibt angesichts des »lakonischen Protokollstils« Temmes, 144 145 146 147 148

Berliner Gerichts-Zeitung 1 (1853), Nr. 1, S. 1. Hügel, Untersuchungsrichter, S. 166. Berliner Gerichts-Zeitung 10 (1862), Nr. 115, S. 1. Berliner Gerichts-Zeitung 1 (1853), Nr. 2, S. 12. Zur Biographie siehe: Jodocus D. H. Temme, Erinnerungen, hg. v. Stephan Born, Leipzig 1883. 149 Criminalbibliothek. Merkwürdige Kriminalprozesse aller Nationen, hg. v. Jodocus D. H. Temme, Hamburg 1869/1870 Berlin 1872/74. 150 Dies sind u. a.: J. D. H. Temme, Ein Gottesgericht, in: Gartenlaube 6 (1858), Nrn. 19-22. Ders., Rosa Heisterberg, in: Gartenlaube 6 (1858), Nr. 5-9. Ders., Der erste Fall im neuen Amte, in: Gartenlaube 6 (1858), Nr. 27-31. 151 Hügel, Untersuchungsrichter, S. 159. Vgl. auch Neuhaus, Verhör, S. 387. Siehe auch: Jodocus D. H. Temme, Ein tragisches Ende. Kriminalnovellen. Mit einem Nachwort von Reinhart Hillich, Berlin 1985.

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der sich an den Dokumentarismus der Pitavaltradition anlehnt, weitgehend konturlos. 152 Es erfährt jedoch durch die Identität des Autors eine gewisse Authentifizierung: 1798 geboren, schlägt Temme zunächst eine Karriere als Jurist ein, die ihn als Inquisitionsrichter zwischen 1834 und 1836 nach Litauen führen sollte, später als Kriminaldirektor nach Stendal, Greifswald und Tilsit. Wegen seiner liberalen Ansichten wurde er wiederholt versetzt, weshalb er auch die Position eines Staatsanwaltes in Berlin 1848 zugunsten des Direktorenpostens beim Oberlandesgericht Münster aufgeben musste. Im selben Jahr wurde er Abgeordneter zunächst der Berliner und dann der Frankfurter Nationalversammlung, wo er sich der gemäßigten Linken anschloss. 1849 nahm Temme am Stuttgarter Rumpfparlament teil und beteiligte sich an den »Stuttgarter Beschlüssen«, weshalb er mehrfach verhaftet und des Hochverrats angeklagt wurde. Obwohl er von einem Schwurgericht in Münster freigesprochen wurde, enthob man ihn seiner Ämter und entließ ihn ohne Pensionsansprüche. Im Züricher Exil, in dem er mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1881 lebte, bekleidete er schließlich eine unbesoldete Professur, doch widmete er sich nun verstärkt seinem belletristischen Werk. Dass Temme Droysen in der Frankfurter Nationalversammlung aufgefallen war, beweist dessen kurze Erwähnung in einem seiner Briefe. 153 Die Vermutung liegt recht nahe, dass Droysen an die Untersuchungsrichtergeschichten Temmes dachte, als er seine Ideen zur untersuchenden Darstellungsweise des Historikers formulierte. Aber selbst wenn dem nicht so war, gibt es doch offensichtliche Parallelen zwischen der historiographischen Forschungserzählung als »Mimesis des Suchens und Findens« und den fiktionalen Richtergeschichten. Die Entstehung detektivischen Erzählens hängt ebenso wie die Historik Droysens eng mit dem Umbruch der zeitgenössischen Prozessordnung zusammen, mit dem Wandel vom Inquisitionsprozess zum Anklageprozess, der Anerkennung des vollgültigen Indizienbeweises und der freien Beweiswürdigung des Richters. Inspirieren ließen sich die Autoren des 19. Jahrhunderts aber auch von den immer ausgefeilter werdenden Verhörtechniken, die seit der Abschaffung der Folter eingeführt wurden. So ist in den Untersuchungsrichtergeschichten Temmes das Verhör der bestimmende Modus des Wahrheitsforschungsprozesses. 154 Temmes Untersuchungsrichtergeschichten gründen auf seinen Erfahrungen als Richter, die er noch in der Zeit des schriftlichen und geheimen Inquisitionsverfahrens gemacht hatte. Das Verhör des Inquisitionsverfahrens zielte auf das Geständnis ab, wobei die verborgene Wahrheit im »Heiligthum des Bewußtseyns« zu lokalisieren war, welches sich freilich der Anschauung entzog. 155 Demgemäß spielte der Indizienbeweis in seinen Novellen noch eine untergeordnete Rolle. Indizien wurden sowohl im abgemilderten Inquisitionsverfahren als auch in den Untersuchungsrichtergeschichten meist dazu genutzt, um im mit ihnen eingeleiteten

152 Vgl. Neuhaus, Verhör, S. 387ff. 153 Droysen, Briefwechsel, Bd. 1, Brief an Georg Beseler, Berlin, 3. November 1848, S. 475. 154 Niehaus, Das Verhör, S. 388. 155 Wilhelm Snell, Betrachtungen über die Anwendung der Psychologie im Verhöre mit dem peinlichen Angeschuldigten, Gießen 1819, S. 6.

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Verhör ein Geständnis zu erhalten, das die Wahrheit des durch den Ermittler rekonstruierten Tathergangs zu bestätigen hatte. Temmes Orientierung am Inquisitionsverfahren findet ihre Entsprechung im Bauplan der Erzählung: Die artifizielle Auflösung des Falles am Schluss der Erzählung ergibt sich quasi aus dem Nichts der verwirrenden Argumente. Denn die Aussagen des Verdächtigen müssen im Verhör einer kontinuierlichen Überprüfung unterzogen werden. So ist einerseits die Anzahl der Verdächtigen stark beschränkt, andererseits kann der Täter prinzipiell bekannt sein, kommt es doch nur darauf an, ihn im Verhör zum Geständnis zu bringen. Erst in der Kriminalliteratur des späten 19. Jahrhunderts wird der vollgültige Indizien- und Sachbeweis für die Interpretation des Tatbestandes genutzt 156 – so beispielsweise in Paul Lindaus Der Mörder des Kaufmanns Max Kreiß. Das Muster eines Indizienbeweises, einer kurzen, an der Pitavaltradition orientierten Erzählung. 157 Hier sind nicht nur die neuen Möglichkeiten der Überführung thematisiert, nach denen man auch ohne Geständnis zu einem Urteilsspruch kommen konnte, sondern gleichzeitig die Gefahren, die in der Kombination von Indizien und einer darauf basierenden Verurteilung lagen. Temmes Kriminalerzählungen, ebenso wie die seit den 1870er Jahren entstehenden Polizeigeschichten, müssen nach Hans-Otto Hügel als erste Versuche detektivischen Erzählens im 19. Jahrhundert begriffen werden. Nach Hügel ist nämlich »nicht das ›Wie‹ der Arbeitsmethode […] konstituierend für den Gattungsbegriff, sondern ob die Verbrechensaufklärung in der Erzählung subjektiv und objektiv als Arbeit erscheint«.158 In der detektivischen Erzählung erlangt der Ermittler durch seine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit seine soziale Identität. Nicht der Ermittler als Persönlichkeit, sondern der Prozess der Detektion steht im Zentrum der Erzählung. Richter, Untersuchungsrichter und später Polizisten sind Spezialisten und gleichzeitig Staatsangestellte mit einem hohen sozialen Prestige, die vorwiegend geistige Arbeit verrichten. Mit der Auffassung der »Detektion als Arbeit«, und nicht etwa der Detektion als Rätsel- oder Denksportaufgabe, ist das stilistische Grundprinzip des »sachbezogenen Erzählens« verbunden, aus dem sich der spezifische Realismus dieser Kriminalliteratur ergibt. Dieses Erzählprinzip, das an den historischen Roman, den ethnographischen Roman und den Sensationsroman anschließt, widersetzt sich noch einem personalorientierten Erzählen. 159 156 Dass der Kriminalroman auf das Geständnis angewiesen bleibt, hat R. G. Collingwood bemerkt. Vgl. dazu Kapitel III, 2.6. 157 Paul Lindau, Der Mörder des Kaufmanns Max Kreiß, Das Muster eines Indizienbeweises, in: Ders., Interessante Fälle. Criminalprocesse aus neuester Zeit, Breslau 1888, S. 255-370. 158 Vgl. dazu Hügel, Untersuchungsrichter, S. 13ff. 159 Diese Wendung zu sachbezogenem Erzählen fiel schon Adolf Rutenberg auf, der zwischen Kriminal- und Detektivgeschichte unterschied, »das eigentliche gros der heutigen criminalitischen Literatur«. Ersteres ist auf Personen bezogen, während der Schwerpunkt der Erzählung bei Gaboriau auf dem »technischen oder polizeilichen Element« beruhe. Rutenberg, Der Criminalroman, S. 306ff.

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Hügels Insistieren auf dem Begriff »Detektion als Arbeit« orientiert sich an zeitgenössischen Einschätzungen, welche die Kriminalromane von J. D. H. Temme, Carl Adolph Streckfuß und Ewald August König innerhalb der Gattung der »sozialen Romane« und damit in der Nähe des bürgerlichen Realismus verorteten. 160 Der Versuch, diesen Begriff allgemein für die Detektivliteratur – auch die des 20. Jahrhunderts – gattungsgeschichtlich zu implementieren, war durchaus gewagt und konnte sich nicht durchsetzen. Denn schließlich handelt es sich bei einer Vielzahl der späteren Detektive um gesellschaftlich wohlsituierte Müßiggänger oder um Privatermittler, die der sozialen Welt fremd geworden sind und sich den kapitalistischen Produktionszwängen konsequent verweigern. Dabei erlauben es ihre vermeintliche soziale Freiheit und finanzielle Unabhängigkeit gerade, mit der ihnen eigenen Attitüde der Objektivität den professionellen Ermittlern von Polizei und Staatsanwaltschaft auf die Sprünge zu helfen. 161 Während es vor dem Hintergrund des sozialen Romans plausibel ist, die Detektion im 19. Jahrhundert als Arbeit aufzufassen, kann sie im 20. Jahrhundert allenfalls als eine Nebenbeschäftigung angesehen werden. Hügels weit gefasster Begriff des »sachbezogenen Erzählens« gewinnt zudem an Genauigkeit, wenn man ihn in erster Linie als ein ermittlungsbezogenes Erzählen begreift, in dem die Arbeit eines Ermittlers in ihren Details – von der Besichtigung des Tatorts, der Feststellung diverser Indizien bis zu den Verhören von Zeugen und Verdächtigen – dargestellt wird. Wichtiges Strukturprinzip der Detektionsgeschichte ist nicht die Kriminalität als solche oder die Persönlichkeit des Verbrechers, sondern die Tätigkeit der Verfolgungsorgane. Beide Charakteristika treffen auch auf die Konzeption der untersuchenden Darstellung bei Droysen zu, deren Erzählprinzip ebenso sachorientiert wie ermittlungsbezogen ist. Im Fortgang der untersuchenden Darstellung wird dabei die forschende Tätigkeit des Historikers dem Leser und Fachkollegen als gesellschaftlich anzuerkennende Arbeit vorgeführt.

160 Hügel, Untersuchungsrichter, S. 78. 161 Vgl. Ottmar Rammstedt, Zur List der kapitalistischen Vernunft, in: Bruno Franceschini/Carsten Würmann (Hg.), Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre (=Juni. Magazin für Literatur und Politik; Bd. 37/38), Berlin 2003, S. 257-268; hier S. 260f.

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6 Geständnis, Indizien, Forschungsfabeln Droysens Analogie von Untersuchungsrichter und Historiker, seine Ausführungen zum »forschenden Verstehen« sowie seine Typologie der Darstellungsformen stehen in der Tradition der antiken Rhetorik und der juristischen Forensik. Die Einschreibung juristischer und kriminalistischer Diskurse in die Historiographie zeigt sich insbesondere in Droysens Kritik der historischkritischen Schule. Ein naiver Realismus, der über die Quellenkritik zu objektiven Tatsachen vordringen will, wird nun durch einen empirischen Realismus ersetzt, der sich seiner subjektiven wie auch konstruktiven, das heißt ideengeleiteten Dimension bewusst ist. Droysen kritisiert dabei in erster Linie die Fixierung der Historiker auf autopische Nachrichten, auf »Autoritäten« und »erste Quellen«, die für ihn nur vermeintlich die reine Wahrheit aussprechen. Diese Kritik einer umfassenden Geständnissuche ist weniger wissenschaftsimmanent, als vielmehr vor dem rechtshistorischen Hintergrund der Einführung des vollgültigen Indizienbeweises und der freien Beweiswürdigung zu verstehen. Denn mit dem veränderten Beweisrecht verliert das Geständnis einen Teil seiner Wichtigkeit und ist nicht mehr die regina probationum, ebenso wie die Zeugen nicht mehr Kraft ihres Ansehens für die Wahrheit einer Aussage einstehen können. Das Geständnis und mit ihm die Zeugenaussagen werden nun als zu überprüfende, unsichere Indizien gewertet. Ersteres erzeugt erst im Rahmen der erhobenen Aussagen und der Sichtung des Spurenmaterials Evidenz. Gleiches gilt nun für den Historiker, der nicht mehr auf »Autoritäten« und »erste Aussager« angewiesen ist, so wie dies noch bei Chladenius der Fall war. Die quellenkritische Rekonstruktion zielt nicht mehr auf das »Geständnis« von Zeugen, sondern sie versucht anhand einer umfangreichen Quellenprüfung zu einer plausiblen Rekonstruktion vorzudringen. Dabei ersetzt Droysen den Begriff der historischen »Tatsache« durch den Begriff des historischen »Tatbestandes«, mit dem zunächst alle schriftlichen und nicht-schriftlichen Überreste bezeichnet werden. Der Begriff des Tatbestandes bildet sich um 1800 heraus und löst in der Kriminalistik den älteren Begriff des corpus delicti ab, der nun allein noch auf die am Tatort zurückgebliebenen »stummen Zeugen« angewendet wird. Während der Untersuchungsrichter am Tatort die verschiedenen »Überführungsstücke« zu sichern hat, kommt es auch bei Droysen auf die sinnliche Evidenz der in der Gegenwart sichtbaren Spuren der Vergangenheit an, die den Schluss auf ein Verbrechen zulassen, »nicht aber den materiellen Erfolg desselben in Evidenz setzen«, wie es ein zeitgenössisches Kriminallexikon formuliert. Droysen greift so in freier Übertragung die Unterscheidung von objektivem und subjektivem Tatbestand auf: In der Strafrechtstheorie bezeichnet der objektive Tatbestand eine rechtsverletzende Handlung, der subjektive Tatbestand eine »widerrechtliche Willensrichtung«. Damit ist der Begriff des Tatbestandes eine Zusammenfassung aller Umstände, die von Spuren auf eine Handlung und einen Willen schließen lassen. Die Interpretation des Tatbestandes folgt dann im Wesentlichen der »freien Beweiswürdigung« und der Logik des Indizienbeweises – beide sind Resultate der zeitgenössischen Strafrechtsreformen und nun auch die Legitimationsbasis freier historischer Kombinationen.

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Der Historiker als Untersuchungsrichter kann also erst nach der Reformierung des Strafverfahrens erfunden werden: Nun vermag der Historiker wesentlich selbstbewusster aufzutreten, denn der juristisch anerkannte Indizienbeweis legitimiert die eigene interpretative Tätigkeit, und die Subjektivierung des Beweisverfahrens im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Richters stärkt seinen Anspruch auf Deutungsmacht. Gleichzeitig wird jedoch durch die akribische Regelung des Verfahrens – vor Gericht wie auch durch die Systematisierung der historischen Methode und die institutionelle Praxis der Geschichtswissenschaften – die Deutungshoheit des erkennenden Richters wie des forschenden Historikers praxeologisch begrenzt. Die von Droysen unter der Hand vorgenommene Einführung der freien Beweiswürdigung in die methodische Reflexion der Geschichtswissenschaften bedeutet jedoch nicht allein eine Modifizierung dessen, was als historischer Tatbestand angenommen werden kann, nicht allein eine Modifizierung des Wahrheitsanspruches und des Tatsachenbezuges. »Forschend zu verstehen« heißt bei Droysen indizienbezogen zu interpretieren, und die Interpretation wiederum ist von einem wertsetzenden Interpretationsrahmen abhängig. Die Gerichtspraxis reguliert nun in modifizierter Form die historiographische Wahrheit: Während im Gerichtssaal des 19. Jahrhunderts zunehmend Mediziner als Experten darüber befinden, ob der Angeklagte zur Zeit der Tathandlung zurechnungsfähig gewesen ist, um danach die Strafe zu bemessen, beurteilt der Historiker als Untersuchungsrichter das historische Subjekt danach, ob sein Handlungswille im Hinblick auf eine historische Idee zurechnungsfähig ist. Während im Strafrecht seit Feuerbach der Grundsatz nulla poena sine lege gilt, wonach eine Tat nur dann vor Gericht verhandelt werden kann, wenn sie unter ein bestehendes Gesetz fällt, so ist Droysen darauf angewiesen, eine Systematik »sittlicher Ideen« zu entwerfen, nach der ein historisches Subjekt beurteilt werden kann. Die »sittlichen Ideen« als interpretationsleitende, theoretische Konstrukte sind aus diesem Blickwinkel gesetzesartige Beurteilungsgrundsätze historischer Interpretationen. Im Anschluss an Foucaults Unterscheidung von enquête und examen lässt sich zeigen, dass sich auch die Geschichtswissenschaften dem Indizienparadigma der Humanwissenschaften anpassten. Den Geschichtswissenschaften ging es nicht allein um das in einer enquête hergestellte Tatsachenwissen, sondern um ein auf das politische und soziale Verhalten zielendes Kontrollwissen. Der kontrollierende und disziplinierende Blick des Bentham’schen Panoptikums schrieb sich so in die Geschichtsschreibung ein. Die ältere inquisitorische Untersuchung war ein Verfahren, mit dem man in der gerichtlichen Praxis aufgrund von Zeugnissen in Erfahrung zu bringen suchte, was geschehen war. In der examinierenden Prüfung geht es hingegen nicht mehr um die reine Rekonstruktion eines Ereignisses, sondern um die Frage, ob sich jemand – sei es die Familie, die historische Persönlichkeit oder aber die Nation – regelgerecht und konform im Hinblick auf eine historische Idee verhalten hat. In der Tradition der Rhetorik stehend ist für Droysen Kritik und Interpretation nicht von einer überzeugenden Darstellung zu trennen. Droysen favorisiert dabei weniger die suggestiv-lineare Erzählung, welche die Vergangenheit genetisch erklärt, sondern die retrospektive untersuchende Erzählung, die die 193

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forschende Arbeit des Historikers veranschaulichen soll und dabei die Vergangenheit vor allem verstehen und weniger erklären will. Die untersuchende Darstellungsform lehnt sich in ihrer Konzeption sowie ihrer beschreibenden Ausschmückung deutlich an die Kriminalliteratur ihrer Zeit an, insbesondere an die Untersuchungsrichtergeschichten des 19. Jahrhunderts. Detektion wird hier wie dort als Arbeit begriffen: Die historische Forschung muss als gelehrtes Studium narrativ vorgeführt werden. Überzeugend ist diese Anlehnung an die zeitgenössische Kriminalliteratur insbesondere deswegen, weil es in dieser noch nicht zu einer durchkomponierten Verrätselung des Tatbestandes gekommen ist, wie dies dann im klassischen Detektivroman des golden age of crime der Fall sein wird. Mit seiner grundlegenden Unterscheidung von erzählender und untersuchender Darstellung kann Droysen auch als Theoretiker des Kriminalromans avant la lettre bezeichnet werden, eines Genres, das am Ende des 19. Jahrhunderts deutlich macht, wie nicht nur die Geschichte, sondern auch die Erforschung der Geschichte erzählt werden kann. Noch bevor spätere Analytiker des Detektivromans diesen vor dem Hintergrund des Geschichtenerzählens ausdeuten werden, lehnen sich die gegenwartsbezogenen, untersuchungsrichterlichen Rekonstruktionen des Historismus an kriminalistische Narrative an.

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Geschichtstheorie im golden age of crime »It is meant that whereas, earlier, scientific history was a thing of rare occurrence, hardly to be found except in the work of outstanding men, and even in them marking moments of inspiration rather than the even tenor of study, it is now a thing within the compass of everyone; a thing which we demand of everybody who writes history at all, and which is widely enough understood, even among the unlearned, to produce a livelihood for writers of detective stories whose plot is based upon its methods.« 1

Während die Jahre zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg als Zeit der »Hochmoderne« gelten und in den Künsten als ein Kulminationspunkt der klassischen Avantgarden erscheinen mögen, ist die Zwischenkriegszeit aus Sicht der Kriminalliteratur das golden age of crime. Insbesondere britische Bestsellerautoren wie Agatha Christie und Dorothy L. Sayers, aber auch Josephine Tey, Margery Allingham, Ngaio Marsh, R. Austin Freeman, Michael Innes und Philip MacDonald sowie amerikanische Autoren wie John Dickson Carr, S. S. Van Dine oder Ellery Queen prägten den klassischen Rätselroman. 2 Ihre Gemeinsamkeit beziehen die Romane des golden age in ihrer Beschränkung auf das reine whodunit und eine Reihe wiederkehrender Klischees: Angesiedelt in der britischen gentry class kommt es zu einer artifiziellen Fallkonstruktion im closed room mystery, wobei gesellschaftliche Zusammenhänge des Verbrechens konsequent ausgeblendet werden und der Mord so zum reinen Rätselspiel wird. Zwischen spielerischer Ironie und verbissenem Ernst changierend schlossen sich die Autoren des golden age in verschiedenen Clubs wie dem Londoner Detection Club zusammen und erarbeiteten ihren eigenen Regelkanon, festgelegt etwa in dem »Dekalog« bzw. den Ten Commandments von Ronald A. Knox. Doch schon in den dreißiger Jahren verstärkte sich die Kritik am klassischen Detektivroman. Die bekannteste dürfte wohl The Simple Art of Murder von Raymond Chandler sein, während S. Philip Van Doren Sterns Artikel The Case of the Corpse in the Blind Alley (1941), der als Grabrede auf den klassischen Rätselkrimi und als

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Robin G. Collingwood, The Idea of History. Revised Edition with Lectures 1926-1928. Ed. with an Introduction by Jan van der Dussen, Oxford 1993, S. 320. [Im Folgenden: IH] Vgl. etwa Julian Symons, Bloody Murder: From the Detective Story to the Crime Novel. A History, London 1972. Ian Ousby, The Crime and Mystery Book. A Reader’s Companion, London 1997.

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Plädoyer für eine realistischere Kriminalliteratur gilt, weniger geläufig ist. 3 Der Detektivliteratur des golden age wurde nun ein verklärendes, elitäres Gesellschaftsbild und eskapistische Tendenzen bescheinigt, und ihren Helden, den Detektiven, nahezu jegliche psychologische Tiefe abgesprochen. Nichtsdestotrotz war der klassische Rätselkrimi eine Herausforderung für zahlreiche Intellektuelle, und auch die Theoriebildung der Geschichtswissenschaften blieb davon nicht unberührt. So zeigt sich bei Marc Bloch, dass die Analogie von Historiker und Untersuchungsrichter zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Metapher des Historikers als Detektiv abgelöst wird. Während Bloch zunächst noch im Vorgehen des Untersuchungsrichters Praxis und Ethos der historischen Forschung verkörpert sah, zeigt sich in seinem unausgeführten Projekt, abseits seiner historiographischen Studien und geschichtstheoretischen Reflexion einen Kriminalroman zu schreiben, die Suche nach einer neuen, populären und symbolträchtigen Referenz: Historiker verstanden sich zunehmend als Detektive. Dieses Selbstbild wird dann von dem britischen Geschichtsphilosophen, Archäologen und Historiker Robin George Collingwood eingelöst. Collingwood ging über die Analogieführung hinaus und verfasste die kurze Detektivgeschichte Who killed John Doe? zur Illustration seines Verständnisses von geschichtswissenschaftlichem Vorgehen. Er orientierte sich dabei stark an den Ermittlungsgeschichten und Ermittlungsfiguren von Agatha Christie, die im Übrigen auch Marc Bloch mit großem Vergnügen gelesen hatte. Der Blick auf die Geschichtstheorie im golden age of crime endet in zwei Übergängen: Anhand der Rezeption Collingwoods bei Siegfried Kracauer und Hans-Georg Gadamer soll auf eine Veränderung innerhalb der hermeneutischen Theoriebildung aufmerksam gemacht werden, bei der sich von der detektivischen und kriminalistischen Befragung abgewendet und ein Gespräch mit der Vergangenheit gesucht wird. Damit deutet sich eine Wende im Verständnis historischer Zeugenschaft an, deren ohnehin stets problematische Glaubwürdigkeit nun nicht mehr im Zentrum steht. In Josephine Teys The Daughter of Time (1951) wird schließlich in prägnanter Weise die detektivische Geschichtstheorie des golden age of crime in die Populärkultur überführt. Die Geschichte der Historiographie über Richard III. zeigt sich hier in einem pathologischen Zustand, der dringend der Aufarbeitung durch einen professionellen, das heißt fiktionalen Kriminalisten bedarf.

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S. Philip Van Doren Stern, The Case of the Corpse in the Blind Alley, in: Virginia Quarterly Review 17 (1941), S. 227-236, abgedruckt in: Howard Haycraft, Murder for Pleasure. The Life and Times of the Detective Story, überarb. Aufl., New York 1976, S. 527-536.

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1 Vom Untersuchungsrichter zum Detektiv: Marc Bloch Ebenso wie Johann Gustav Droysen erkannte Marc Bloch in der historischen Praxis die Vorgehensweise eines Untersuchungsrichters, ein Vergleich, der in seinen geschichtsmethodologischen Schriften wiederholt auftaucht. 1 Obwohl diese Analogie immer wieder bei Bloch zu finden ist, war sie keineswegs die bestimmende Metapher, denn Bloch sieht den Historiker in seinem wissenschaftlichen »Atelier« – das bisweilen einem naturwissenschaftlichen Labor gleicht – mal als Chemiker und Biologe, mal als Geologe, Physiker und Mathematiker. 2 Mit der Vielfalt der Metaphern gewinnt der Beruf des Historikers seine universalistische Eigentümlichkeit, und schon Droysen hatte auf die verschiedenen Fähigkeiten hingewiesen, die sich der Historiker anzueignen habe, wenn er spezielle Themengebiete erforscht. In der Welt detektivischer Fiktionen hatte Sherlock Holmes diese Fähigkeit quasi adaptiert und gewissermaßen zur Vollkommenheit geführt, wenn er immer wieder mit neuen Detail- und Spezialkenntnissen aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen aufwartete. Bloch entfaltet unabhängig von Droysen die Metapher vom Historiker als Untersuchungsrichter, und auch Collingwoods Schriften konnten ihm noch nicht bekannt sein. 3 Der zivil tragende juge d’instruction wird in Frankreich mit dem Code d’instruction crimelle 1808 eingeführt und leitet die Ermittlungen im Strafverfahren. Für Bloch steht im Hinblick auf die Tätigkeit des Untersuchungsrichters die Praxis des Historikers im Vordergrund, die als eine Spurenwissenschaft bzw. Spurenbeobachtung verstanden wird. Materielle wie auch narrative Überreste versteht er als »›Spur‹, d. h. das sinnlich wahrnehmbare Zeichen, das ein selbst nicht mehr fassbares Phänomen hinterlassen hat«. 4 Mit dem Modell des Untersuchungsrichters und des Detektivs geht eine Wertschätzung von materiellen Spuren einher, die freilich bei dem Historiker und Archäologen Collingwood besonders groß ist. Dabei verbindet Bloch in einer seiner frühen theoretischen Äußerungen mit dem Untersuchungsrichter noch eine Gerichtssitzung:

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Dazu das faszinierende »intellektuelle Portrait« Marc Blochs von: Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt/M. 1995, insb. das Kapitel »Vor dem Gericht. Die alte Szene der Wahrheitsfindung«, S. 181-267. Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, hg. v. Peter Schöttler, Stuttgart 2002. Marc Bloch, Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hg. u. mit einem Nachwort von Peter Schöttler, Frankfurt/M. 2000. Die Schriften von R. G. Collingwood wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ermordung Blochs durch die Gestapo veröffentlicht. Bloch kannte Droysen allenfalls durch die ablehnenden Darstellungen bei: Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, S. 450. Charles V. Langlois/Charles Seignobos, Introduction aux études historiques, Paris 1898. Siehe dazu: Peter Schöttler, Nachwort, in: Bloch, Apologie, S. 215-280; hier S. 248. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 64.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker »Wir sind Untersuchungsrichter, die umfangreiche Ermittlungen in Sachen Vergangenheit anstellen. Wie am Gericht sammeln wir Zeugenaussagen, anhand derer wir versuchen, die Wirklichkeit zu rekonstruieren. Aber genügt es, Zeugenaussagen zu sammeln und Stück für Stück zusammenzufügen? Die Aufgaben des Untersuchungsrichters sind nicht dieselben wie die eines Gerichtsschreibers. Weder sind die Zeugen immer aufrichtig noch ist ihr Gedächtnis immer zuverlässig: Man kann ihre Aussagen 5 also nicht ohne Überprüfung verwenden.«

Die Metapher des Untersuchungsrichters wendet sich also gegen das bloße Aufschreiben der Geschichte, wird dann aber mit der Quellenkritik verbunden, die zwischen dem Wahren, dem Falschen und dem Wahrscheinlichen unterscheidet: »Daß man einem Augenzeugen nicht unbedingt aufs Wort glauben darf, wissen auch die einfältigsten Polizisten.« 6 Die kritische Methode ist für Bloch die beste »Waffe gegen Verleumdung, Argwohn und Misstrauen«, in einer Zeit, »die wie keine andere von Lügen und falschen Gerüchten vergiftet ist«, wie er nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges formulieren wird. 7 Prägend für Blochs emphatischen Wahrheitsanspruch sei – so Raulff – eine umfassende Krise des Zeugnisses während des Ersten Weltkrieges gewesen, in dem Gerüchte, Falschmeldungen und Propaganda eine eminent wichtige Rolle in der Informationspolitik gespielt hatten. Andererseits habe diese Krise des Zeugnisses auch auf die sich formierende Zeugenpsychologie um die Jahrhundertwende gewirkt.8 5 6

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Bloch, Aus der Werkstatt des Historikers, S. 18f. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 91. Die Figur des einfältigen Polizisten, die auch bei Collingwood auftaucht, stammt aus der Detektivliteratur: Denn nur so kann der Detektiv beweisen, dass er es besser macht. Ebd., S. 151. Vgl. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 207-217. Raulff ist der Überzeugung, dass sich die kriminalistische Zeugenpsychologie der Jahrhundertwende – Pierre Janet in Frankreich, William Stern in Deutschland oder Hugo Münsterberg in Amerika – auch in der Analyse des Zeugnisses bei Bloch wiederfindet. Die Zeugenpsychologie stieß bei Juristen, Kriminologen und bei »Psychotechnikern« in Industrie, Verwaltung und Armee auf große Resonanz. Sie konnte zeigen, dass der zuverlässige Zeuge nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist, und dass auch ein falsches Zeugnis ein bedeutendes sein kann, weil es Aussagen über die Motivstruktur oder die Mentalität enthält. Freilich geriet sowohl das Zeugnis als auch das Selbstzeugnis als Bekenntnis zur Wahrheit schon wesentlich früher in die Kritik: Diese tauchte bereits in der Kriminalistik des frühen 19. Jahrhunderts auf und spiegelt sich auch in Droysens Historik wider. Dass mit Droysen »ein Umschwung stattfindet von der tröstlichen und epistemologisch beruhigenden Fiktion eines wahrheitsmächtigen Zeugen oder Subjekts der historischen Aussage«, deutet Raulff nur an, betont dann aber, dass die Zweifel an der Zeugenschaft bei Bloch auf seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg zurückzuführen sei, bei der er die »epistemologische Krise« des historischen Zeugnisses direkt wahrgenommen habe. Diese Krise des Zeugnisses ist jedoch auch eine langfristige Auswirkung eines veränderten Zeugenverständnisses, das mit der Abschaffung der Folter und der Einführung des vollgültigen Indizienbeweises einsetzte. Allerdings gewinnt die wissenschaftliche

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Geschichtstheorie im golden age of crime

Bloch wendet sich gegen den Begriff der Quelle und ersetzt ihn durch den Begriff des Zeugnisses, womit ebenso wie bei Droysen der Abschied von der Idee verbunden ist, dass die kritische Methode nach einem Ursprung der Wahrheit sucht oder – im Sinne von Chladenius – nach einem ersten, glaubwürdigen Aussager. Damit schließt Bloch an das französische Standardwerk zur historisch-kritischen Methode von Charles Victor Langlois und Charles Seignobos Introduction aux études historiques (1898) an, die ebenfalls den Begriff des Zeugnisses favorisiert hatten. 9 So habe es die Geschichtsforschung zunehmend gelernt, auf »Zeugen wider Willen« zurückzugreifen, womit Bloch jedoch in erster Linie historische Überreste meint und erst in zweiter Linie ein hintergründiges Lesen von narrativen Spuren. 10 Der Rückgriff auf das Zeugnis beruhte aber auch darauf, dass das Lesen der Spur nicht zu einer quellengemäßen wahren Aussage führen, sondern als eine »authentische Aussage« untersucht werden sollte, die die Bedingungen des Sprechaktes berücksichtigt. Bloch wendet sich damit gegen einen naiven Faktenpositivismus, der von dem Gegebensein der Tatsachen ausgeht und mit dem er eine passive Beobachterposition und eine rezeptive Haltung verband. 11 Für seine Analogie von Historiker und Untersuchungsrichter musste Bloch von seinem Freund Lucien Febvre – beide waren 1929 Gründer der Zeitschrift Annales – heftige Kritik einstecken. Febvre sah einerseits die Gefahr, dass damit die Aufgabe des Historikers zu sehr in die politische Urteilsbildung verlegt werde. Andererseits sah Febvre in der Analogie einen Rückfall in einen Positivismus, den er als »Seignobosismus« bezeichnete. Bloch antwortete Febvre, dass Langlois und Seignobos den Begriff des Untersuchungsrichters nicht gebrauchten, und verteidigte seine Analogie sowohl im Hinblick auf seine Theorie des Zeugnisses als auch im Hinblick auf den Entwurf seiner Theorie der »unwahrscheinlichen Koinzidenzen«, das heißt der Bedeutung der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie in den Geschichtswissenschaften. 12 Nach Langlois und Seignobos müsse es sich bei der Erkenntnis der Geschichte immer um indirekte Erkenntnis im Gegensatz zur direkten Beobachtung in den experimentellen Naturwissenschaften handeln. Mit einer Doppelstrategie argumentiert Bloch dagegen: Er dreht einerseits das Argument um, Untersuchung der Zeugen durch die psychologischen Wissenschaften um 1900 eine neue Dimension. Vgl. dazu: Ulrich Raulff, Münsterbergs Erfindung oder Der elektrifizierte Zeuge, in: Freibeuter 24 (1985), S. 33-42. Zur Bedeutung der Einführung des Indizienbeweises für die Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts vgl. Kapitel II, 2 und 3. 9 Langlois/Seignobos, Introduction. Charles Seignobos, Les méthodes historiques appliquées aux sciences sociales, Paris 1901, S. 38ff. 10 Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 71. 11 Ebd., S. 42. Wie sich Blochs Kritik am Positivismus und Empirismus zu seinem eigenen Ansatz verhält, kann hier nicht geklärt werden und ist auch in der Forschung umstritten. Ob Blochs Ansatz als konstruktivistischer Positivismus gelesen werden kann (Schöttler), wäre zu diskutieren: Vgl. mit weiterführender Literatur: Schöttler, Nachwort, S. 260-265; hier S. 265. Auch: Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 179f. 12 Vgl. hierzu Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 184f.

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indem er zeigt, dass jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, sobald sie mit Vergleichen und Analogien arbeitet oder aber auf die Ergebnisse einer Forschungsgemeinschaft angewiesen ist, nur der Zugriff auf indirekte Beobachtungen bleibt. Und so müssen auch die vermeintlichen »direkten« Wissenschaften auf »indirekte« Erkenntnisse zurückgreifen. Der Historiker, so Bloch, komme immer erst »am Ende eines Experiments ins Labor, aber unter günstigen Voraussetzungen wird der Versuch Spuren hinterlassen haben, die er mit eigenen Augen sehen kann.« 13 Historisch komplexe Ereignisse versteht Bloch insofern nicht nur als ein Tatgeschehen, sondern als eine experimentelle Anordnung, deren Spuren vom Historiker in einem der Archäologie vergleichbaren Verfahren sichtbar und lesbar gemacht werden müssen. Vor dem Hintergrund einer Fragestellung und einer großen Menge an Spuren ist es – so könnte man hier gegen Bloch einwenden – dennoch der Historiker, der seine experimentelle Versuchsanordnung selbst aufstellt. Andererseits wendet sich Bloch mit seinen Ausführungen zum Begriff der »historischen Beobachtung« gegen die vermeintlich indirekte Wahrnehmung des Historikers. 14 Dabei gibt es zwei wesentliche Denkfiguren: Zunächst kann die Geschichte als begehbarer Tatort begriffen werden, wobei das spurensichernde Archiv eine wichtige Vorarbeit leistet. Zweitens kann mit der historischen aber auch eine teilnehmende Beobachtung verbunden sein: So tritt Bloch in den Souvenirs de guerre (1914-1915) oder aber in L’étrange défaite (1940) selbst engagiert in den Zeugenstand der Zeitgeschichte. Bloch hat sich, wenn auch nicht direkt auf die Relativitätstheorie, so doch auf Einsteins Mechanik und Quantenphysik bezogen. Er war davon überzeugt, dass es letztlich keine Gegenwart gebe, man also auch als Zeuge immer nur Zeuge einer ungewissen Vergangenheit sein kann, deren Genauigkeit im Gang der Erinnerung schnell abnimmt. Der Historiker beobachtet also eine sich ständig ausdehnende Vergangenheit. In diesen Ausführungen lässt sich das Theorem Einsteins von der Relativität des Beobachterstandpunktes in Zeit und Raum wiedererkennen, und so wird im Anschluss an die Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts »das Gewisse durch das unendlich Wahrscheinliche ersetzt«. 15 In Blochs Denkbewegung gibt es eine Hinwendung zum Labor- oder Metier-Modell der Geschichtswissenschaften und damit zu naturwissenschaftlichen und ökonomischen Analogien. Von der Metapher des Untersuchungsrichters wird sich Bloch jedoch nie gänzlich verabschieden. 16 Die historiographische Ermittlung wird durch einen Verstehensprozess gelenkt, der neben einem semantischen und komparatistischen Verfahren wesentlich durch eine historische Psychologie bzw. einen mentalitätsgeschicht13 Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 46. 14 Unter dem Begriff der »historischen Beobachtung« wird die einleitende »Heuristik« im Prozess der Forschung beschrieben, während sich Bloch in den weiteren Schritten der Kritik und der Analyse (Interpretation) widmet: Vgl. ebd., S. 57-88. 15 Carlo Ginzburg, Mentalität und Ereignis. Über die Methode bei Marc Bloch, in: Ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1982, S. 97-113; hier S. 100f. 16 Vgl. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 193.

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lichen Ansatz den bedeutungsvollen Zusammenhang der Welt einsichtig machen soll. 17 Um die Zeugen und Gewährsleute »zum Sprechen zu bringen«, bedarf es eines Fragenkatalogs, denn auch die eindeutigsten Dokumente sprechen nur zu dem, der sie zu befragen versteht.18 Bloch verabschiedet sich damit von jenem durch Bacon und Kant und auch von Droysen und Collingwood aufgegriffenen Experiment, bei dem die Natur vor das Tribunal geladen wird und die moderne experimentelle Wissenschaft aus dem Geist der Inquisition geboren wird. Die Fiktion des Zeugenverhörs, die der Metapher des Untersuchungsrichters und des Detektivs eingeschrieben ist, bleibt jedoch letztlich erhalten, auch wenn Bloch einen emphatischen Verstehensbegriff einführt: »Der Leitstern unserer Forschung ist ein einziges Wort: ›verstehen‹«. Verstehen ist für Bloch eine »Leidenschaft« und eine »Hoffnung«, »ein Wort voller Freundschaft«. Auch wenn dieses Verstehen noch den Beiklang des Verhörs hat, ist es nun stärker mit dem »Verstehen« des Anderen und des Fremden und so mit dem Versuch einer »freundschaftlichen und langdauernden Begegnung« verknüpft. 19 Gerade in der von Bloch geforderten vergleichenden Geschichtswissenschaft, die keine nationalpolitisch verengten Urteile sprechen will, erhält ein solches Bemühen um Verstehen eine neue Prägnanz. Das psychologisch sensible Verstehen impliziert bei Bloch ganz im Sinne Rankes eine Abgrenzung von der Metapher des urteilverkündenden Richters, und so wendet er sich gegen die Vorstellung der Geschichte als ein »Totengericht«, gegen »hohle Plädoyers« und »sinnlose Rehabilitierungen«. Bloch fordert den Verzicht auf binäre Urteile wie gut und böse, wahr und falsch in der Geschichtswissenschaft. Wer als Historiker ständig urteile, verlerne das Erklären. Dass ein Mensch tötet – so Bloch in einer seiner positivistischen Wendungen –, kann als eine beweisbare Tatsache ermittelt werden. Einen Mörder zu bestrafen setze aber voraus, jemanden für schuldig zu halten, wobei über die Frage der Schuld nicht in allen Zivilisationen Einigkeit herrsche: »Es ist unmöglich, jemanden zu verurteilen oder freizusprechen, ohne Partei für ein bestimmtes Wertsystem zu ergreifen, dem ja keine positive Wissenschaft zugrunde liegt.« 20 Die Geschichtswissenschaft soll für Bloch wertneutral sein, während im Rahmen politischen Handelns ein bewusst akzeptiertes, wertendes Bezugssystem notwendig ist. Eine solche wertneutrale Wissenschaft kann also allenfalls Hilfestellung für den handelnden Menschen geben. Bloch empfiehlt, nicht zu verurteilen, sondern zu beurteilen, denn trotz aller Zurückhaltung solle man nicht »allzu rücksichtsvoll« in der Wortwahl sein und eine klare und deutliche Sprache bei der Benennung von Missständen verwenden. 21 Die Zurückweisung des vernichtenden Urteils – das im Rahmen der deutschen und französischen Historikerdebatten um die Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg oft genug gesprochen wurde – impliziert ein 17 Ebd., S. 199. 18 Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 73f. 19 Ebd., S. 160. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 199, begrüßt dies emphatisch: »aus dem richtenden Herrn der Vergangenheit soll deren verstehender Freund werden.« Vgl. dazu Kapitel III, 3.2. 20 Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 156f. 21 Vgl. ebd., S. 160.

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Wissenschaftsethos, bei dem der Historiker »ein Moralist, ein Gerechter« bleibt. 22 Der Rückzug auf den reinen Ermittlungsprozess in der Metapher des Untersuchungsrichters bedeutet aber die Preisgabe des Urteilens, was im Rahmen klassischer Vorstellungen als vorzügliche Eigenschaft des Historikers angesehen wird: die vielbeschworene Neutralität des Forschungsprozesses, sinnbildlich aufgefangen im Untersuchungsrichter und Detektiv. Dennoch bleibt die Frage bestehen nach dem, was gut oder schlecht ist, nach Wahrheit und Lüge auch im untersuchungsrichterlichen und detektivischen Kontext, aber sie erhält zunehmend Schattierungen und Abstufungen, in denen sich die Binarität des Urteils aufhebt. Der Historiker, begreift er sich als Detektiv, gibt sich nun allenfalls etwas privatistischer, entzieht sich scheinbar der staatlichen Sphäre und wendet sich der Gesellschaft zu, dem Zivilen und Sozialen. Im juristischen Prozedere existiert die binäre Struktur weiter, und zwar im Schuldspruch, doch die Beurteilung der Strafe wird immer differenzierter. Das Urteil bleibt implizit vorhanden, denn nur vordergründig wird es der Gesellschaft überlassen: Ohne Gesetzgebung, ohne die Frage nach Schuld oder Unschuld, ohne das Gefühl eines Unrechts oder gravierender Ungerechtigkeiten, ohne das Konstrukt einer staatlichen, gesellschaftlichen oder individuellen (Straf-)Tat gibt es keine Notwendigkeit, einen Ermittlungsprozess in Gang zu setzen. Carlo Ginzburg hat in seinem Buch Der Richter und der Historiker deutlich gemacht, dass sich die Analogien und Differenzen von historischer und juristischer Wahrheitsfindung nicht rein epistemologisch abhandeln lassen, sondern innerhalb politischer Auseinandersetzungen verankert sind. Deshalb hat Ulrich Raulff in seiner Beschäftigung mit Blochs Metapher vom Untersuchungsrichter auf den Prozess gegen Alfred Dreyfus hingewiesen und dabei auch auf eine Episode aufmerksam gemacht, in der die kritisch-philologische Methode auf die moderne Kriminalistik trifft. Dabei ging es um das sogenannte bordereau, das Hauptbeweisstück im Prozess gegen Dreyfus. Während der Fälschungsexperte der Banque de France Dreyfus nicht als Urheber der Schrift identifizierte, da sich die beiden Handschriften zu deutlich unterschieden, »bewies« Alphonse Bertillion – der Wegbereiter der modernen Kriminalanthropologie – in einer aufwändigen Argumentation, dass Dreyfus seine eigene Handschrift bis zur Unkenntlichkeit verstellt habe. Daraufhin engagierten sich die Philologen aus dem Lager der Dreyfusards und wiesen die Argumentation Bertillions in die Schranken, der folgerichtig in der Revisionsverhandlung eine herbe Niederlage einstecken musste. Damit war jedoch weniger ein »Sieg der kritischen Methode« über die moderne Kriminalistik 23 errungen als ein Sieg über die moderne Kriminalanthropologie, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Typisierung von Verbrecherbildern vorgenommen hatte und die ideologiegeschichtlich im Kontext des Rassismus und Antisemitismus verankert ist. Diese wertende Kategorienbildung innerhalb der Kriminalanthropologie darf jedoch nicht gegen eine vermeintlich reine, das heißt ohne Vorannahmen arbei22 Jacques Le Goff, Vorwort, in: Ebd., S. IX-XLIII; hier S. XXXV. 23 Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 228.

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tende Kriminalistik der kritisch-philologischen Methode ausgespielt werden, da die philologisch-kriminalistische Kritik der Dreyfusards eines emanzipatorischen Standpunktes bedurfte. Der Untersuchungsrichter ist auch bei Bloch in erster Linie eine literarische Figur. Neben der aufzudeckenden Vergangenheit des Verbrechers steht auch in der französischen Kriminalliteratur und Verbrechensreportage der Ermittlungsprozess im Vordergrund. 24 Bei Émile Gaboriau tritt in einer Reihe von Romanen – unter anderem in L’Affaire Lerouge (1866) – ein ganzes Ensemble von Ermittlern auf, unter ihnen der Untersuchungsrichter Daburon, ein dümmlicher, aber ehrgeiziger Polizist sowie ein Rentner und Amateurdetektiv mit dem Spitznamen Tirauclair, der »Anslichtbringer«. Ebenso taucht hier der Kriminalassistent Lecoq auf, der in weiteren Kriminalromanen Gaboriaus als genialer Detektiv den Ermittlungsgang vorantreiben wird und in einem der ersten frühen Kriminalfilme – in Monsieur Lecoq von Maurice Tournieur (1914) – eine filmische Repräsentation findet. Dabei ist der Polizist Lecoq keineswegs brillant, er irrt häufig und ist an der Vergangenheit seiner Protagonisten mehr interessiert als daran, einzelne Indizien zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen. Lecoq ist ein historistischer Ermittler, wenn er äußert: »Ich lege meine Individualität ab und bemühe mich, in die des Verbrechers zu schlüpfen. Ich höre auf, der Agent der Sûreté zu sein, um dieser Mensch zu sein, wer auch immer er sein wird.« 25 Die Preisgabe des Selbst und das verstehende Einfühlen in die Individualität und Seele des Verbrechers stehen einer psychologischen Hermeneutik sehr nahe. In der Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts wird dieser Rollentausch und Identitätswechsel des Ermittlers in der Figur des Polizeispitzels vorgeführt. Im Spionage- und Agentenroman um 1900 und während des Ersten Weltkriegs – so in den Romanen des Journalisten Gaston Leroux, der dem ermittelnden Reporter in der Figur des Rouletabille ein Denkmal setzt – wird der Ermittler dann gezwungen sein, in den (nationalen) Körper des Anderen, des Feindes zu schlüpfen: Auf diese Weise werden in Rouletabille à la guerre (1914) oder Rouletabille chez Krupp (1917) Reportage, Kriegsberichterstattung, Ermittlungsprozess und Spionageplot verknüpft. Blochs Verstehensbegriff verzichtet auf die divinatorische Gabe, auf den Identitätswechsel, den Rollentausch und die Preisgabe des Selbst. Darüber hinaus wird die Figur des Untersuchungsrichters von Bloch in seiner Apologie nur in geringem Maße literarisch ausgestaltet, wenn er von einem »nicht gerade liebenswürdigen« und »griesgrämigen« Untersuchungsrichter spricht, der weiß, dass seine Zeugen irren oder lügen können, und der sich bemüht, die Zeugen »zum Sprechen zu bringen, um sie zu verstehen«. 26 Ansonsten ist der Untersuchungsrichter eine blasse Gestalt, Blochs zahlreiche Beschrei-

24 Vgl. Dominique Kalifa, L’encre et le sang, Récits de crimes et société à la Belle Epoque, Paris 1995, S. 28. So heißt es in einer zeitgenössischen Bemerkung über die Kriminalreportage, dass die Untersuchung das Objekt der Erzählung bestimmt. 25 Pierre Boileau/Thomas Narcejac, Emile Gaboirau, in: Vogt (Hg.), Der Kriminalroman (1971), Bd. 1, S. 71-76; hier S. 73. 26 Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 102.

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bungen heuristischer Mordfiktionen bleiben im Vergleich zu Droysen oder Collingwood recht knapp. Hinter der Metapher des Untersuchungsrichters versteckte sich aber auch bei Bloch eine mit Collingwood geteilte Leidenschaft für Krimis, insbesondere für Krimis von Agatha Christie. 27 Im Dezember 1940, nach der Niederlage Frankreichs und seiner Flucht in den französischen Süden, vermerkt Bloch in einer Liste noch zu schreibender Bücher einen Mon roman policier, dessen Titel Ein Mord in der Provinz lauten sollte und den er unter dem anagrammatischen Pseudonym Pol Charles Comblod zu veröffentlichen gedachte. In seinen Aufzeichnungen finden sich zwei Seiten, die den Ablauf der ersten Handlungssequenzen sowie den Tatort beschreiben: Im Zentrum steht ein als Autounfall getarnter Mord, an den sich eine Geschichte mit zwielichtigen Provinzadligen und Notabeln, mit einer Liebes- und Erpressungsaffäre und einem weiteren, als Jagdunfall getarnten Mord anschließen sollte. 28 Vergleicht man vorab die detektivischen Fiktionen Collingwoods und Blochs, so sind die Unterschiede mehr als auffällig. Während Collingwood den historischen Tatbestand als closed room mystery anlegen wird – auch in Frankreich hatte diese Variante des Detektivromans nach Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue weiterhin Erfolg, so etwa in La mystère de chambre jaune (1907) von Gaston Leroux –, sollte der roman policier von Bloch in einer dörflichen Region spielen, in der die moderne Technik zum Mordmittel wird. Eine solche Tötungsvariante wird man in den Kriminalromanen von Agatha Christie vergeblich suchen – diese setzte auf traditionellere Mordmethoden. Ein tödlicher Autounfall findet sich dagegen bei Georges Simenon in Les demoiselles de Concarneau, der 1935/36 bei Gallimard erschien. Hier war es allerdings kein fingierter Unfall, sondern eine tödlich ausgehende Fahrerflucht, die Kommissar Maigret aufzudecken hatte. So zeigt sich der ›gewöhnliche‹ Kriminalroman subtiler als der von Bloch projektierte. Der Historiker plant einen Literaturmord, der auf eine eindeutige Motivation zurückzuführen ist. Andererseits holt Bloch den Tatort aus dem geschlossenen Zimmer, verringert damit den Rätselcharakter und erweitert den zu analysierenden Tatbestand. Auch in Frankreich wurde in den 1920er Jahren – so zum Beispiel in Le ›Detective Novel‹ et l’influence de la pensée scientifique (1929) von Régis Messac – mit dem detektivischen gleichsam ein wissenschaftliches, induktives Vorgehen verknüpft. In einem weit ausholenden Überblick über die Entstehung der modernen Kriminalliteratur zitiert Messac Thomas Henry Huxley, der in dem Vorgehen Zadigs in dem gleichnamigen Werk von Voltaire den Ursprung »sämtlicher Wissenschaften, die als historische oder paläologische bezeichnet werden«, erkannte. 29 27 Etienne Bloch, Souvenirs et réflexions d’un fils sur son père, in: Hartmut Atsma (Hg.), Marc Bloch aujurd’hui. Histoire comparée et science sociales (=Recherches d’histoire et de sciences sociales; Bd. 41), Paris 1990, S. 2337; hier S. 27. 28 Vgl. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 190f. 29 Régis Messac, Le »Detective Novel« et l’influence de la pensée scientifique (=Bibliothèque de la Revue de littérature comparée; Bd. 59), Paris 1928, S. 37. Eine anonyme Besprechung findet sich in einer von der Straßburger Universität – an der auch Marc Bloch tätig war – herausgegebenen Zeitschrift:

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Den Forschungsprozess begreift Bloch aber nicht im hypothetischen Spiel von Induktion und Deduktion, und er überführt ihn auch nicht in eine Logik von Frage und Antwort, auch wenn die Fragestellung selbstverständlich ein wichtiges Kriterium der historischen Forschung ist. Die »rationale Kunst« 30 der kritischen Methode und ihre Anwendung auf menschliche Zeugnisse geht bei Bloch in ein komparatistisches Verfahren über, wenn er von der Bedeutung der Analogie oder des Vergleichs innerhalb des historischen Erkenntnisprozesses spricht. Ein wichtiger Aspekt ist im Hinblick auf Blochs Ausführungen zur Quellenkritik und zum wiederholt vorgebrachten Vergleich mit den Naturwissenschaften die Wahrscheinlichkeitstheorie. Mit dieser ist die Idee einer größtmöglichen Annäherung an die historische Wahrheit verbunden. Es ist nicht nur ein argumentativ nachvollziehbares Plausibilisierungsverfahren, sondern orientiert sich stärker an den angewandten Wissenschaften, indem statistische Erkenntnisse für die Historie nutzbar gemacht werden. 31 Das Wahrscheinliche und das statistisch Gewisse muss aber gerade nicht eine Abkehr vom forensischen Modell bedeuten, wie dies Raulff geäußert hat. 32 Wenn Bloch in seiner Apologie mit Nachdruck feststellte, dass der Historiker niemals absolute Wahrheit oder absolute Genauigkeit erreichen könne, sondern sich stets mit Wahrscheinlichkeiten und Annäherungen begnügen müsse, kann man darin die Diskussion über die Einführung des Indizienbeweises im Strafgerichtsverfahren wiedererkennen, die auch in Frankreich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geführt worden war. Da Bloch aber das Problem der subjektiven Überzeugungsbildung, das in der Diskussion um die freie Beweiswürdigung eine zentrale Rolle gespielt hatte, weitgehend unberücksichtigt lässt, führen seine Überlegungen zu einem naturwissenschaftlich orientierten Wahrscheinlichkeitsverständnis, das sich dem Minenfeld von Subjektivismus und Objektivismus entzieht. Bloch steht auf der Schwelle zwischen einem untersuchungsrichterlichen und einem detektivischen Modell der Geschichtsschreibung. Er versteht sich – wie Ulrich Raulff angemerkt hat – nicht als »Privater«, sondern als ein von der Gesellschaft beauftragter Untersuchungsrichter. Die Metapher des Untersuchungsrichters und des Detektivs bei Bloch ist aber auch deshalb für die Heuristik der Geschichte so interessant, weil sie die Rekonstruktion im Temporalen historischer Erkenntnis verankert. Im Zuge einer heuristischen Fiktion versetzen sich Historiker und Detektive auf der historischen Zeitachse an einen Ort, der zeitlich vor dem zu rekonstruierenden Ereignis liegt. Die historische Einbildungskraft – Bloch spricht von »Phantasie« – ermöglicht es nun, Anonym, Bulletin de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg 10 (1931/32), S. 262ff. 30 Vgl. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 124-151; hier S. 124. 31 Ebd., S. 97. 32 Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert, S. 193. Dabei bezieht sich Bloch auf Antoine-Augustin Cournot, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Theorie der mathematischen Wahrscheinlichkeit in eine allgemeine Kritik der Quellen der Erkenntnis überführt hatte, ebenso auf den Wirtschaftshistoriker Henri Sée und auf Maurice Halbwachs, der die Bedeutung der Wahrscheinlichkeitstheorie für die Sozialwissenschaften betont hatte.

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Kalküle vorzunehmen, um das Mögliche, das Unmögliche und das Wahrscheinliche zu erfassen. Diese »Temporalfiktion« erlaubt es, Handlungsmöglichkeiten, Motive und vermeintliche Absichten historischer Akteure durchzuspielen, wiederzugewinnen und begreifen zu können. 33 Über das Schreiben der Geschichte findet sich wenig bei Bloch. Der vierte Schritt von Droysens Historik, die historiographische Darstellungspraxis, bleibt ausgespart. Während in Collingwoods Detektivgeschichte und seiner Frage-und-Antwort-Logik noch die rhetorische und narrative Dimension der Geschichte aufscheint, spielt diese in Blochs theoretischen Schriften kaum eine Rolle. Ausführlich setzt er sich jedoch mit den Fußnoten auseinander, denen er nach dem Gerichtsmodell die Funktion von Bürgen zuweist. Die Eigenheit der Fußnote, den Gang des Lesens zu beeinflussen, reflektiert er wiederholt. Freilich gibt es auch in Blochs Schriften eine Rhetorik von Frage und Antwort, und darüber hinaus nutzt Bloch in seinen historiographischen Werken wie in Les rois thaumaturges die Fußnote nicht nur, um längere Quellenzitate anzubringen, sondern auch, um kleine Ermittlungsschauspiele vorzuführen. Dabei betreibt er nicht nur Spurensicherung, sondern legt auch Spuren für seine Leser, die nun selbst weiterforschen können. Darüber hinaus wird der historiographische Text selbst zur Spur, die interpretiert werden will: Bloch integriert in seine Werke Kartenmaterial und Skizzen, Fotografien und Drucke, die nicht nur die Gesamtinterpretation stützen, sondern auch zum kritischen Sehen und Lesen herausfordern. Mit seiner oft distanzierten, ironischen Darstellungsweise entwickelt Bloch einen Stil, dessen bisweilen sarkastische Kommentare 34 schon in Richtung realistische Kriminalliteratur der hardboiled-school und des noir weisen.

33 Ebd., S. 195. Ob man nur im Rahmen einer solchen Temporalfiktion »ohne teleologische Verzerrung die Möglichkeit des Verhaltens entfalten und die Motive des Handelns erkennen kann«, wie Ulrich Raulff meint, bleibt fraglich. Schließlich entfaltet sich auch diese heuristische Fiktion immer im Rahmen eines Interpretationshorizontes, in dem man retrospektiv dem zu erklärenden Ereignis begegnet. 34 Vgl. Schöttler, Nachwort, S. 248.

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2 Robin George Collingwood: Der Historiker als Detektiv In der angelsächsischen Geschichtsschreibung verbinden sich mit einem detektivischen Zugang zur Vergangenheit in erster Linie die Arbeiten des Archäologen, Historikers und Philosophen Robin George Collingwood. Während Collingwood sich zunächst mit archäologischen und historischen Studien zur Geschichte des römischen Britanniens hervortat, beschäftigte er sich seit der Mitte der 1920er Jahre verstärkt mit theoretischen und philosophischen Problemen der Geschichte. Als Collingwood 1943 mit nur 54 Jahren starb, waren wichtige Schriften zur Theorie und Philosophie der Geschichte unveröffentlicht geblieben. Collingwood hat den Vergleich von Historiker und Detektiv insbesondere in seiner Inauguralvorlesung The Historical Imagination (1935) ausgeführt und im ersten Kapitel seiner von ihm geplanten, aber erst 1999 posthum veröffentlichten Schrift The Principles of History (1938/39). Beide Texte sind weitestgehend auch in der ersten Ausgabe von The Idea of History (1946) enthalten. 1 Die Faszination, die von Collingwoods Reflexionen zur Geschichtsphilosophie und Geschichtsmethodologie ausgeht, beruht vor allem auf seinem über die Grenzen der Historiker-Zunft hinausgehenden Blick, auf seinem ungewöhnlich systematisierenden Zugriff auf die Historiographiegeschichte und schließlich auf seiner schillernden Sprache und den mäandrierenden Argumentationen, die von einer Vorliebe für paradoxe Formulierungen und pointierte Begrifflichkeiten begleitet werden.

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Nicht zuletzt der provisorische Charakter von The Principles of History hat zu einer umfangreichen und äußerst widersprüchlichen Rezeption geführt. Collingwoods Schüler Malcom Knox gab 1946 mit The Idea of History Collingwoods maßgebliche Arbeit zur Historiographiegeschichte und Geschichtstheorie heraus: Robin G. Collingwood, The Idea of History. Ed. by T. Malcom Knox, Oxford 1946. Die diesem Werk angehängten Epilegomena boten u. a. die Vorlesungen der Jahre 1935/36 und Auszüge aus Collingwoods The Principles of History (1938/39), worunter sich auch die für Collingwoods Analogie von Historiker und Detektiv maßgeblichen Passagen befanden. Diese Textgrundlage blieb lange Zeit bestimmend für die Rezeption Collingwoods. Jedoch hat sich mit der Neuausgabe von The Idea of History und der Wiederentdeckung des zu einem Drittel fertiggestellten Manuskripts von The Principle of History im Jahr 1995 herausgestellt, dass Knox das Werk seines Lehrers teilweise stark redigiert, vor allem aber den größten Teil des Letzteren unveröffentlicht gelassen hatte. Vgl. zur Publikationsgeschichte die Einleitungen der Neuausgaben: W. Jan van der Dussen, Editor’s Introduction, in: IH, S. IX-XLVIII; hier S. XXIII-XXXI. Ders./William H. Dray, Editor’s Introduction, in: Robin G. Collingwood, The Principles of History. And other Writings in Philosophy of History. Edited with an Introduction by W. H. Dray and W. Jan van der Dussen, Oxford 1999 [im Folgenden: PH], S. XIII-LXXXVI. Siehe auch: W. Jan van der Dussen, Collingwood’s »Lost« Manuscript of The Principle of History, in: History and Theory 36 (1997), H. 1, S. 32-62. Vgl. auch die von Hans Georg Gadamer angeregte deutsche Übersetzung der ersten Ausgabe von The Idea of History: Robin G. Collingwood, Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1955.

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Collingwood hat keine umfassende Geschichtsmethodologie im Sinne von Droysens Historik entwickelt. Obwohl Collingwood Droysen in vielen Analysen sehr nahesteht, hat er ihn nur kurz und äußerst kritisch erwähnt, so dass man davon ausgehen kann, dass er den Grundriß der Historik zwar kannte, jedoch die erste Ausgabe der Historik aus dem Jahr 1937 wohl kaum rezipiert hat. Collingwood, der wesentliche Schriften von Benedetto Croce ins Englische übersetzt hat, muss darüber hinaus mit seinen Ausführungen zur »historischen Imaginationskraft« als einer der wichtigsten Ideengeber für Hayden Whites These von der »Fiktionalität des Faktischen« gelten. 2.1 G ESCHICHTE , A RCHÄOLOGIE

UND

D ETEKTION

Um 1990 findet der Historiker James Patrick ein anonym verfasstes Typusskript mit dem Titel The Theory of History aus dem Jahr 1914, in dem der unbekannte Autor die geschichtswissenschaftliche Praxis mit dem Vorgehen von Sherlock Holmes vergleicht. Da sich dieses Typusskript im Nachlass des mit Collingwood gut befreundeten Oxforder Philosophen John Alexander Smith befindet, äußert James Patrick die Vermutung, dass es sich um ein Frühwerk von Collingwood handeln könne. 2 In einer minutiösen, selbst detektivisch orientierten »inneren« und »äußeren« Quellenkritik des Typusskripts wie auch der Hypothesen von James Patrick hat dagegen James Connelly dargelegt, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um eine Schrift von Robin G. Collingwood handelt. 3 Wer auch immer dieses Typusskript verfasst hat, es steht fest, dass es 1914 und damit zwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen eines SherlockHolmes-Romans von Arthur Conan Doyle und gut achtzig Jahre nach dem Erscheinen von Edgar Allen Poes The Murder in the Rue Morgue auch unter britischen Historikern nahe lag, die geschichtswissenschaftliche Methode im Spiegel der Populärliteratur und ihrer fiktiven Ermittler zu betrachten. Als Collingwood in den 1930er Jahren selbst die Analogie beider Erkenntnisverfahren aufgriff, war der Boden dafür schon bereitet. Die ehrwürdige historische Methodik im Bereich des Populären zu verankern, blieb jedoch riskant. So entschuldigte sich Collingwood in seiner exemplarischen Detektivgeschichte Who killed John Doe? für seinen Ausflug in ein literarisches Genre, dessen Betrachtung ohne das von ihm herausgearbeitete analoge Verfahren von Detektiv und Historiker wohl »unter der Würde« [PH 24] des Lesers sei. Eine prominente Vorgängerin im Gebrauch jener Analogie hatte Collingwood in der späteren Professorin für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft am Smith College der Columbia University, Marjorie Hope

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James Patrick, Is ›The Theory of History‹ (1914) Collingwood’s First Essay on the Philosophy of History?, in: Reassessing Collingwood, History and Theory, Beiheft 29 (1990), S. 1-13; hier S. 7. Das wichtigste Argument für Patricks Annahme ist das fragwürdige Indiz, dass hier jemand den Historiker mit dem Detektiv verglichen habe – und dies konnte seiner Auffassung nach nur Collingwood sein. James Connelly, Was R. G. Collingwood the Author of ›The Theory of History‹?, in: George H. Nadel (Hg.), Reassessing Collingwood, in: History and Theory 29 (1990), Beiheft 29, S. 14-20.

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Nicolson. In ihrem Essay The Professor and the Detective 4 aus dem Jahr 1929 ging sie der Frage nach, warum der von allen Seiten als »eskapistisch« denunzierte Detektivroman im universitären Betrieb so beliebt war. Ironisch merkte sie dazu an, dass die Detektivliteratur keine Flucht vor dem Leben darstelle, sondern eine Flucht vor einer subjektiv ausgerichteten literarischen Moderne mit ihrem Hang zu überlang ausgebreiteten Schilderungen von Gemütszuständen, vor der wiederholten Litanei, dass Männer und Frauen Opfer der sozialen Umstände seien, und vor der Monotonie des stream of consciousness. Die Detektivliteratur halte der Formlosigkeit der literarischen Moderne eine Reinheit der Form entgegen. Sie berufe sich auf einen funktionierenden Verstand und gestehe den Menschen zu, ihr Leben bewusst zu gestalten und planen. Damit begegne der Detektivroman dem herrschenden Pessimismus mit der Versicherung, dass das Universum durch Ursache und Wirkung regiert werde. So erscheint die Detektivgeschichte als Rettung für Wissenschaftler und insbesondere Historiker, da sie beweise, dass es auch in der Moderne noch möglich ist, Geschichten zu erzählen. 5 Der krimilesende Wissenschaftler revoltiere nicht nur gegen die literarische Moderne, gegen Unschärferelation und Relativitätstheorie, sondern auch gegen den zeitgenössischen realistischen Roman. Denn der Charme der Detektivgeschichte sei, obwohl »novel of action«, gerade seine »utter unreality«. So begegne der Wissenschaftler dem Mord nicht mit Erschrecken über eine grausame Realität, sondern sehe im Mord ein abstraktes Rätsel, ein »Diagramm«, wie Nicolson lakonisch feststellt. Die Aufklärung sei hingegen ein hinreißendes Spiel wissenschaftlicher Fähigkeiten und eine königliche Schlacht zwischen Autor und Leser. So bestätigt die Detektivgeschichte die »cool impersonality« des Wissenschaftlers. 6 In der Detektivgeschichte findet der Wissenschaftler nun jene Ordnung wieder, die sich mit der Moderne aufzulösen scheint – das einfache und alte Modell der Kausalität: »After all, what essential difference is there between the technique of the detective tracking his quarry through Europe and that of the historian tracking his fact, the philosopher his idea, down the ages?« 7 Natürlich gebe es diesen Unterschied nicht, und so lassen sich mit Nicolson zwei wissenschaftliche Methoden beschreiben, die sowohl vom Detektiv als auch vom Wissenschaftler genutzt werden: »And if you come to compare the methods by which the scientist or the philosopher has reached his conclusions, you will find that they are merely those of his favourite detective. Only two methods are open to him, as to them. He may work by the Baconian method of Scotland Yard: he may laboriously and carefully accumulate all possible clues, passing over nothing as too insignificant, filling his little boxes and enve4 5

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Marjorie Nicolson, The Professor and the Detective, Atlantic Monthly (April 1929), abgedruckt in: Haycraft, The Art of the Mystery Story, S. 110-127. Ebd., S. 114ff. Nicolson nennt u. a. Gilbert Keith Chesterton, der nicht nur die philosophisch-theologisch inspirierten Detektivgeschichten um Pater Brown schrieb, sondern auch über viele historische Sujets, von Biographien über Thomas von Aquin und Franz von Assisi bis zu A Short History of England (1917). Ebd., S. 118 f. Ebd., S. 125.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker lopes with all that comes his way, making no hypothesis, anticipating no conclusions, believing the man innocent until he prove him guilty. Here he finds a single thread, there a grain of rice dropped in a drawing-room; here he measures footprint, here he photographs a thumb mark. His loot finally collected, he will select the ›dominant clue‹, and that he will follow with grim persistence until the end. Weary but victorious, he stands at last outside the prison to which he has condemned his idea, and listens to the passing bell. That is one method. But if he is of the opposite nature, he will follow the method of ›intuition‹, upon which the detective bureaus of the country of Descartes have based their work. To him the torn cigarette and the discarded blotter are of little importance; he leaves such things for his indefatigable rivals of Scotland Yard. Tucked away behind the rose bushes in the garden maze, he devotes himself to thought. Having, like his great predecessor, thought away all else in the universe, nothing remains but culprit. By strength of logic alone, he has reconstituted the universe, and in his proper place has set the villain of the piece.«8

Nicolson verbindet traditionell mit Bacon eine empirische Vorgehensweise und mit Descartes eine intuitive und logisch-rationale Erkenntnistheorie. Ebenso wie später Collingwood behauptet sie, dass Wissenschaftler letzten Endes »detectives of thought« seien. Die wissenschaftliche Detektivarbeit nehme ein ganzes Leben in Anspruch; und diejenigen Philosophen, Naturwissenschaftler und Historiker, die in den späten Abendstunden zur neusten und grässlichsten Mordgeschichte greifen würden, versuchten nicht, den Repressionen des Wissenschaftsalltags zu entfliehen, sondern würden auch beim Krimilesen ihre wissenschaftliche Tätigkeit fortsetzen, die Nicolson im Stil des Kriminalromans als »the fun of the chase, the ardor of the pursuit, which makes his life a long and eager and active quest« 9 umschreibt. Während des golden age of crime in den 1920er und 1930er Jahren gehörte es zum guten Ton eines Oxbridge-Dons, einen jener donnish mysteries genannten Krimis zu schreiben, die an einem der Colleges von Oxford oder Cambridge angesiedelt waren. Ein prominentes Beispiel ist der Krimi Gaudy Night (1935) der Oxford-Absolventin Dorothy L. Sayers (1893–1953), die auch Dantes Göttliche Komödie übersetzte und später Theaterstücke schrieb. Auch der Krimiautor Michael Innes (1906-1994) verfasste einen donnish mystery. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der spätere Oxforder Anglist John Innes Mackintosh Stewart, der unter anderem den letzten Band der Oxford History of English Literature verfasste. In seinem Erstlingswerk Death at the President’s Lodging (1936) klärt der später zum Serienheld aufgebaute Inspektor Appleby den Mord an dem Präsidenten eines Colleges auf, wobei das archäologische Institut eine zentrale Rolle spielt. Auch zwei renommierte Archäologen wechselten das Genre: Der Spezialist für byzantinische Archäologie Stanley Casson (1889-1944), Fellow am New College in Oxford und dort Tutor von Max Mallowan, dem zweiten Ehemann von Agatha Christie, schrieb den Roman Murder by Burial (1938). Der Empfehlung Cassons verdankte Mallowan seine Assistentenstelle bei Leonard Woolley, der die Aus-

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Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. In der Beschreibung des wissenschaftlichen Vorgehens als »active quest« zeigt sich eine deutliche Nähe zu Collingwood.

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grabungen in Ur leitete und wo Mallowan schließlich Agatha Christie kennenlernte. 10 Unter dem Pseudonym Dilwyn Rees veröffentlichte der Cambridger Archäologe Glyn E. Daniel, Fellow am St. John’s College, mit The Cambridge Murders (1945) und Welcome Death (1954) zwei Detektivromane, in dem der Archäologe Sir Richard Cherrington die Rolle des Detektivs übernimmt. Archäologie und detektivische Ermittlung verschränken sich hier in einer Weise, dass Hinweise am Tatort wie Ausgrabungsfunde interpretiert werden und es ausschließlich auf die Wahrheitssuche und die Lösung des Mordrätsels ankommt. Die erfolgreichste und bekannteste Verbindung von Archäologie und Detektion ist ohne Zweifel Agatha Christie gelungen. 11 Sie nahm aktiv an den Ausgrabungsprojekten ihres Mannes Max Mallowan in den dreißiger Jahren in Syrien und nach dem Zweiten Weltkrieg im Irak teil. Sie restaurierte und zeichnete die Keramikfundstücke bei den Grabungen im Khabur-Gebiet (1934) und in Chagar Bazar (1935), war für die Entwicklung und Vergrößerung der Grabungsfotografien zuständig und übernahm seit 1936 nach und nach die Fotodokumentation bei den Ausgrabungen. 1937 belegte sie einen Kurs für Werbefotografie der Reinhardt School of Commercial Photography in London. Die dort vermittelten Techniken künstlerischer Wirklichkeitsverfremdung ließen sich jedoch schwer mit dem Anspruch der archäologischen Dokumentarfotografie verbinden, weshalb sie Privatstunden nahm, um die fotografischen Möglichkeiten realitätsnaher Darstellung kennenzulernen – was für die Grabungsdokumentation vor allem bedeutete, einen Gegenstand mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven aufzunehmen. Agatha Christie beschränkte sich bei späteren Ausgrabungen jedoch nicht allein auf die Fotografie von Fundstücken und Ausgrabungsanlagen. Mehr und mehr war sie an den Teilnehmern der Ausgrabungen und deren Arbeit interessiert und nutzte später auch den Film als Dokumentationsmöglichkeit. So wandelte sich der in ihren Romanen eingeübte detektivische Blick allmählich in einen wissenschaftlich-dokumentarischen, der später ethnographische Züge annahm und sich insbesondere an arrangierten Einzel- und Gruppenportraits und ihren Filmaufnahmen von den Grabungsstätten ablesen lässt. Etliche der Figuren ihrer Romane, die teilweise im Vorderen Orient beziehungsweise in Ägypten spielen, tragen die Züge von Personen, die Christie bei den Grabungen kennengelernt hatte. 12 Doch schon bevor sie 1928 erstmals eine Grabungsstätte in Ur besucht, taucht das Motiv der Archäologie in The Murder on the Links (1923) schon auf. Ein angeblicher Archäologe, der ein Hünengrab erforscht, wird hier als Betrüger und Dieb von Antiquitäten entlarvt. Wie so oft kommt sie auch hier nicht ohne das Klischee des 10 Vgl. Volker Neuhaus, Die Archäologie des Mordes, in: Charlotte Trümpler (Hg.), Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie, Essen 1999, S. 425-434; hier S. 430. 11 Vgl. Trümpler (Hg.), Agatha Christie und der Orient. 12 Ihr Interesse an den Bewohnern des Orients findet jedoch kaum Widerhall in ihren Romanen, da die wesentlichen Charaktere und mit ihnen die Hauptverdächtigen aus der englischen Gentry und dem aufstrebenden mittleren und oberen Bürgertum stammen.

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weltfremden und verschrobenen Wissenschaftlers aus, der über vergangene Welten sinniert und der weder die eigene Gegenwart noch die in nächster Nähe geschehenen Morde wahrnimmt. 13 Christies Kriminalromane bleiben dennoch insgesamt zurückhaltend, was die Parallelen von Archäologie und Kriminalistik betrifft, auch wenn Hercule Poirot in Death on the Nile (1937) seine Methode vor dem Hintergrund der Archäologie reflektiert: »Once I went professionally to an archaeological expedition – and I learnt some-

thing there. In the course of an excavation, when something comes up out of the ground, everything is cleared away very carefully all around it. You take away the loose earth, and you scrape here and there with a knife until finally your object is there, all alone, ready to be drawn and photographed with no extraneous matter confusing it. That is what I have been seeking to do – clear away the extraneous matter so that we can see the truth – the naked shining truth.«14

Diese Äußerung Poirots – eines von sich selbst überzeugten Positivisten – hätte Robin George Collingwood als verfehlt empfunden. Denn weder die Arbeit des Archäologen noch die des Historikers, des Kriminalisten oder des Detektivs erschöpft sich in der Freilegung von Spurenmaterial. Diese kann aus Collingwoods Sicht allenfalls als heuristische Vorstufe detektorischer und verknüpfender Praxen gelten. 2.2 »W HO

KILLED J OHN

D OE ?« C OLLINGWOOD

UND

A GATHA C HRISTIE

Nachdem Collingwood in seiner Inauguralvorlesung The Historical Imagination von 1935 den Vergleich zwischen Historiker und Detektiv angedeutet hatte, schrieb er – abseits der heimatlichen Bibliotheken auf einer tagelangen Schiffspassage während einer Reise nach Indochina – den ersten Entwurf von The Principles of History nieder, in dem er die Analogie von Historiker und Detektiv wesentlich ausführlicher behandeln sollte. 15 Abgeschnitten von der Außenwelt entstand die Detektivgeschichte »Who killed John Doe?«, welche die historiographische Erkenntnis als detektivische Praxis charakterisiert und in das Spiel detektivischer Fiktionen überführt. Damit erinnert der Ort, an dem diese Theorie der Geschichte entwickelt wurde, an das Setting aus einem Detektivroman des golden age of crime: Doch während in Death on the Nile

13 Inwieweit sie bei diesen wiederholten Stereotypisierungen von Wissenschaftlern auch an ihren Ehemann, den Archäologen Max Mallowan, gedacht haben mag, sei dahingestellt. In ihrer Autobiographie heißt es: »Es kommt mir wie ein Wunder vor, dass wir beide, jeder in seinem Fach, erfolgreich waren. Ich schreibe populäre Unterhaltungsliteratur; er ist ein seriöser Wissenschaftler«. Siehe Agatha Christie, Meine gute alte Zeit. Eine Autobiographie, Bern 1990, S. 529. 14 Agatha Christie, Death on the Nile, London: Harper Collins 2001, S. 380. Vgl. dazu Barbara Patzek/Regina Hauses/Andreas Dudde, Der Detektiv und der Archäologe, in: Trümpler (Hg.), Agatha Christie und der Orient, S. 391409; hier S. 394. 15 Vgl. Dussen, Collingwood’s »Lost« Manuscript, S. 37.

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Hercule Poirot und alle Verdächtigen bis zur Lösung des Falls auf dem Schiff versammelt bleiben, wird Collingwoods Detektivgeschichte im Hinblick auf ihre Eignung als Beschreibung der historiographischen Praxis in vielen Details ein closed room mystery bleiben. Collingwood führt seine Leser an den Tatort eines Mordes, an dem recht bald ein Dorfpolizist eintrifft: John Doe ist hinterrücks mit einem Dolch erstochen worden und liegt mit seinem Oberkörper auf dem vor ihm stehenden Schreibtisch. Das einzige Indiz der Polizei ist zunächst der frische grüne Farbfleck am Dolchgriff, der auf das frischgestrichene Eisengatter verweist, das den Garten John Does vom Anwesen des Pfarrherrn trennt. Die Hoffnung der Kriminalpolizei, schnell einen Zeugen zu finden, wird nicht erfüllt: Eine »verwirrte alte Jungfer« gibt an, dass John Doe einen heimtückischen Angriff auf ihre Tugend vorgehabt habe und bezichtigt sich des Mordes. Der Dorfwilderer beschuldigt hingegen den Wildhüter des Dorfherrn, den er beim Hineinklettern in Does Studierstube beobachtet haben will. Schließlich beschuldigt sich aufgeregt die Tochter des Pfarrherrn. Daraufhin ermittelt der Dorfpolizist, dass der Verlobte des Mädchens, Richard Roe 16, die Mordnacht im Pfarrhaus verbracht hat und als Medizinstudent die genaue Lage des Herzens kennt. Anhand der nassen Schuhe Roes – es hatte in der Nacht zwischen zwölf und eins ein Gewitter mit heftigem Regen gegeben – lässt sich feststellen, dass dieser nach Mitternacht das Haus verlassen haben muss, doch weigert sich Roe bei der Befragung, den Grund seines nächtlichen Ausflugs anzugeben. Nun informiert Collingwood seine Leser vom Eingreifen Inspektor Jenkins’ von Scotland Yard, der weitere Indizien finden wird. Im Kamin werden neben der Asche von Schreibpapier Knöpfe eines Handschuhmachers entdeckt, dessen Kunde der Pfarrherr war. Grüne Farbflecke finden sich am Ärmelaufschlag einer Jacke, die der Pfarrer einem bedürftigen Gemeindemitglied geschenkt hat. Inspektor Jenkins kombiniert nun, dass John Doe Briefe besessen haben muss, mit denen er den Pfarrherrn erpressen konnte, und er leitet auch ihren Inhalt her: Doe hatte dem Pfarrherrn gedroht, eine Entgleisung der verstorbenen Pfarrfrau publik zu machen, deren Resultat die Tochter des Pfarrherrn war. Am Morgen seines Todes hat John Doe einen erneuten Erpressungsversuch unternommen, doch der Pfarrherr, an das Ende seiner finanziellen Möglichkeiten gelangt, entschließt sich zur Ermordung des Erpressers und Vaters seiner vermeintlich leiblichen Tochter. Ohne allzu viel Spürsinn lässt sich erkennen, dass Collingwood bei dieser Plotkonstruktion von Agatha Christie inspiriert war. So orientiert sich die Figurenkonstellation und der Ort des Verbrechens offensichtlich an The Murder at the Vicarage (1930). 17 Ebenso gibt es einige Parallelen zu The Murder 16 Die Namensbezeichnung »John Doe« ist im Englischen die Standardbezeichnung für ein unbekanntes namenloses Opfer. »Richard Roe« ist der unbekannte Täter, den es zu ermitteln gilt. 17 Während bei Collingwood der Mord im Nachbarhaus des Pfarrers geschieht und dieser der Mörder ist, wird bei Christie der Gemeindevorsteher im Arbeitszimmer des Pfarrers ermordet. Das in Collingwoods Kriminalgeschichte wiederholt und mit ironischem Unterton vorgebrachte Argument, dass der Pfarrer doch aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung und als stellvertre-

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on the Links (1923) und The Murder of Roger Ackroyd (1926), dem wohl bekanntesten Kriminalroman von Christie, da sie hier mit den Genrekonventionen bricht und der Ich-Erzähler am Schluss des Romans des Mordes überführt wird. 18 Collingwood folgt allerdings nicht der zeitgenössischen Detektivliteratur, die konsequent auf einen Privatermittler setzt. Sowohl Sherlock Holmes als auch Miss Marple und Hercule Poirot sind als »Private« auch Kritiker eines offiziellen, von den staatlichen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden geführten Aufklärungsprozesses. Vielmehr wählt Collingwood mit tender Verkünder des fünften Gebotes nicht als Täter in Frage kommen könne, kann als persiflierende Anspielung auf The Murder at the Vicarage verstanden werden. Denn dort deutet viel auf den Pfarrer und gleichzeitigen Ich-Erzähler als Täter hin, doch ist er es letztlich nicht. Und während bei Collingwood die Frau des Pfarrers tatsächlich fremdgegangen ist, wird dies bei Christie nur vermutet. Der Pfarrer ist gleichzeitig der Ich-Erzähler, der als Vertrauensperson von den Gemeindemitgliedern zum Gespräch aufgesucht wird und dem Geheimnisse anvertraut werden, wodurch der Leser Hinweise über mögliche Tatmotive erhält. Agatha Christie verlässt sich hier wie in den meisten ihrer Romane auf das seit Doyle bekannte Prinzip, den Detektiv nicht direkt erzählen zu lassen, sondern den Erzähler als eine vermittelnde Figur zwischen Leser und Meisterdetektiv zu installieren. Der Gemeindepfarrer wird dabei von der ermittelnden Polizei wie selbstverständlich in die Ermittlungsarbeit einbezogen, er begleitet die Polizisten bei ihren Befragungen und ermittelt später auf eigene Faust. Interessant ist diese Erzählposition, weil der Leser von dem Pfarrer weiß, dass er den Tod des Gemeindevorstehers ebenso wünschte wie zahlreiche andere verdächtige Personen. Gleichzeitig bricht er durch die Erzählung prinzipiell das Vertrauen seiner Gemeindemitglieder. Zwar wendet sich der Pfarrer wiederholt gegen den Klatsch und Tratsch seiner Gemeinde und behauptet ganz undetektivisch, dass er lieber an die Unschuld als an die Schuld des Menschen glaube, doch profitiert er von den an ihn herangetragenen Informationen, um seine eigenen Hypothesen zu entwickeln. Neben der Polizei und dem Gemeindepfarrer tritt eine weitere Person auf den Plan, die den Fall am Ende lösen wird: Miss Marple. Es ist vielleicht eine Randbemerkung wert, dass der Pfarrer Miss Marple als eine »old maid« einführt. Vielleicht also ist sie jene alte Jungfer, die in verwandelter Gestalt bei Collingwood zu Beginn ein falsches Geständnis ablegt und deren Zeugnis von der Polizei schnell als abseitig erkannt wird. Ebenso fällt bei Christie der Verdacht vorübergehend auf einen Wilderer. 18 Der Ermordete wird jeweils hinterrücks am Schreibtisch mit einem Dolch ermordet. Bei Agatha Christie ist es der Arzt, der den gekonnten Stich ins Herz ausführt, während es bei Collingwood gerade nicht der Medizinstudent Richard Roe ist. Am Dolch befindet sich bei Christie keine Farbe, sondern die Fingerabdrücke des Ermordeten, was bei der Polizei zu einiger Verunsicherung führt, von Poirot jedoch schnell und schlüssig beantwortet werden kann: Der Arzt hatte die Hand des bereits Ermordeten zum Dolch geführt, um eine falsche Fährte zu legen. In beiden Fällen verschwindet während der Tat ein Erpressungsschreiben. Während bei Christie der Mörder der Erpresser ist, ist es bei Collingwood gerade der Ermordete, der die Erpressung begangen hat.

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Inspektor Jenkins einen Ermittler von Scotland Yard, der an die Institutionen gebunden bleibt und nicht zwischen Individuum und Gesellschaft vermitteln kann. Über Deutungsansprüche und Fragen, was legitimer und illegitimer Traditionsbestand für eine Gesellschaft ist, forscht also bei Collingwood noch ein institutionalisierter Geschichtspolizist, der Recht und Ordnung staatlich gewähren und wiederherstellen soll. Auch wenn Collingwood sicherlich ein Wegbereiter für die Vorstellung vom Historiker als Detektiv war, wird erst Carlo Ginzburg in den 1970er Jahren den Sprung wagen und die geschichtswissenschaftliche Praxis konsequent vor dem Hintergrund eines »Privaten« – Sherlock Holmes – reflektieren. Damit verbunden ist ein neues Verständnis des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft, Geschichtswissenschaft und historiographischer Aufklärung. Collingwood ging es in seiner Detektivgeschichte in erster Linie um eine Illustrierung der fragenden Hypothesenbildung in den Geschichtswissenschaften, weshalb diese keineswegs beansprucht, alle Aspekte der geschichtswissenschaftlichen Praxis abzudecken. 19 Dennoch war es offensichtlich Collingwoods Idee, dass der Verweis auf die detektivische Methode und die Detektiverzählung wichtige Teilaspekte einer Historik veranschaulichen könnte: »An outline of a detective novel is given following the usual present-day conventions of the genre. Similarities and differences are noted between the types of inference used in detection and those used in history.« [PH 37f] Collingwood nutzt also das Detektivschema als heuristisches Moment, um dann mit seiner eigenen story of detection auf assoziative Weise sein Verständnis von »wissenschaftlicher Geschichtsschreibung« deutlich zu machen. Dabei tauchen auch hier vier wesentliche Punkte auf, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Methodologie der Geschichte bestimmen: Heuristik, Kritik, Interpretation und historiographische Darstellung. Heuristik und Kritik werden von Collingwood als Kunst des richtigen Fragens, als ein schlussfolgerndes, logisches Spiel von Frage und Antwort ausgedeutet. In seinen Ausführungen zur »historischen Imaginationskraft« und zum schillernden Begriff des re-enactment als gedanklichem Nachvollzug der Gedanken- bzw. Ideenwelt der Vergangenheit erkennt man Fragen des interpretativen Horizonts wieder, obwohl Collingwood den Begriff der Interpretation selbst selten gebraucht. Letztlich verweisen diese drei Aspekte auf das Problem der historiographischen Darstellung, und zwar in der Überkreuzung von fiktional-detektivischen und historiographischen Darstellungsoptionen. Um den Horizont von Collingwoods Analogie von Historiker und Detektiv in einem ersten Schritt nachzuzeichnen, ist ein Blick auf seine Genealogie der Historiographiegeschichte zu werfen, die er eng an eine Genealogie juristischer Formen der Wahrheitsfindung im Sinne Foucaults anbindet.

19 Vgl. W. Jan van der Dussen, History as a Science. The Philosophy of R. G. Collingwood, Leiden 1980, S. 368f. Während van der Dussen die exemplarische Detektivgeschichte marginalisiert, haben sich andere Historiker in die Details seiner Detektivgeschichte verstrickt, um diverse Unstimmigkeiten im Hinblick auf historiographische Forschungspraktiken nachzuweisen. Hier hingegen soll die Nähe von Topoi des klassischen Rätselkrimis zu bestimmten Denkfiguren Collingwoods aufgezeigt werden.

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2.3 »W ISSENSCHAFTLICHE G ESCHICHTSSCHREIBUNG « Für Collingwood war die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung keineswegs mit der Entstehung und Anwendung der »historisch-kritischen Methode« gleichzusetzen. Sein Blick auf die Historiographiegeschichte ist eher idealtypisch als historisch ausgerichtet, wobei er vier Formen der historiographischen Praxis hinsichtlich ihrer Beweismittel und logischen Schlussverfahren (»different kinds of inference« 20) unterscheidet: Die »Historiographie der Zeitzeugen«, die »kompilatorische« Methode, die »historischkritische« Methode und die »wissenschaftliche« Geschichtsschreibung. Exemplarisch für die »Historiographie der Zeitzeugen« ist für Collingwood die Geschichtsschreibung Herodots. 21 Eine solche Historiographie erstreckt sich auf Ereignisse, die zu Lebzeiten des Autors stattgefunden haben und beruft sich dabei auf Augenzeugenberichte und Gewährsmänner. Die zweite, kompilatorische Methode nennt Collingwood auch scissors and paste-Historiographie, die gewissermaßen der analoge Vorläufer des digitalen copy-paste-Verfahrens ist. Da sich die Geschichtsschreiber der kompilatorischen Methode nicht direkt auf Augenzeugen berufen können, verstehen sie ihre Materialien als »Autoritäten«. Als ein frühes Beispiel nennt Collingwood die Römische Geschichte von Livius, der zum ersten Mal Überlieferungen sammelt und sie zu einer zusammenhängenden Erzählung verarbeitet. Diese kompilatorische Methode bestimmt die Geschichtsschreibung bis zum ersten Höhepunkt der kritisch-philologischen Geschichtsforschung bei Giambattista Vico – doch ist sie auch nach Collingwood nie gänzlich aufgegeben worden. Mit der historisch-kritischen Methode verbindet Collingwood noch keine wissenschaftliche Geschichtsschreibung, vielmehr wandelt sich zunächst allein die Epistemologie. Überlieferungen werden nun nicht mehr als »Autoritäten« (authorities) verstanden, sondern als »Quellen« (sources). Aussagen finden ihre Bestätigung nicht mehr durch glaubwürdige »Gewährsmänner«, sondern die Texte der Vergangenheit werden nun befragt, als ob sich jemand freiwillig zum Kreuzverhör auf die Zeugenbank gesetzt hätte. [PH 14] Indem glaubwürdige Zeugen und Autoritäten epistemologisch durch kritisch zu befragende Quellen ersetzt werden, gelangt der Historiker in die Position eines Richters. Der richterlich geprüfte Wahrheitsgehalt wird zum Kriterium dafür, ob der Historiker eine Aussage aus seinen Quellen aufnimmt oder nicht. Dieses Verfahren sei im 19. Jahrhundert als Apotheose des kritischen Geschichtsbewusstseins gefeiert worden, doch bleibt es für Collingwood allenfalls eine Spezifizierung der Schere-und-Kleister-Methode. Denn wenn sich die kritische Methode allein die Frage stellt, ob die Aussage einer Quelle wahr ist, folgt sie einer binären Logik, nach der positiv oder negativ über den Wahrheitsgehalt von Aussagen entschieden wird: Entweder wird das Material 20 PH 8. In seinem historiographiegeschichtlichen Abriss in The Idea of History unterscheidet Collingwood noch drei Formen der Geschichtsschreibung: die Historiographie des Zeitzeugen, die kompilatorische und schließlich die wissenschaftliche, historisch-kritische Methode. Später differenziert er nochmals zwischen der historisch-kritischen Methode und einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, wie sie im Folgenden erklärt wird. 21 Zum Folgenden PH 3-21.

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in die Darstellung aufgenommen und anderen wahren Tatsachen an die Seite gestellt, oder es wandert in den Papierkorb. Die vierte und letzte Form ist die von Collingwood so genannte »wissenschaftliche« Geschichtsschreibung, die ihre Parallelen im detektivischen Vorgehen des golden age of crime hat. Sie erkennt, dass die historische Kritik nicht auf Tatsachenfragen im Sinne einer binären Logik von wahr/falsch beschränkt bleiben darf, sondern insgesamt nach der Bedeutung des Überlieferten fragen muss. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung besteht nicht aus einer Auswahl und Zusammenstellung der glaubwürdigsten Zeugnisse, sondern ist eine aus eigenem Urteil gewachsene Darstellung. 22 Da es dem »wissenschaftlichen« Historiker weder um die Wiedergabe überlieferter und »vorgefertigter« Behauptungen (»ready-made-statements«) geht, noch um die Frage, ob eine Behauptung richtig oder falsch ist, sondern generell um die Bedeutung von Aussagen, erscheint auch der Begriff der Quelle als irreführend, da er unterstellt, dass aus dieser gebrauchsfertige Tatsachenaussagen heraussprudeln. Die Argumentation des wissenschaftlichen Historikers beruht indes auf der Befragung direkt wahrnehmbarer und beobachtbarer Spuren, von »Dingen, die er selbst beobachtet hat« und aus denen er Schlussfolgerungen zieht: »A statement to which a historian listens, or one which he reads, is to him a readymade statement. But the statement that such a statement is being made is not a ready-made-statement. If he says to himself ›I am now reading or hearing a statement to such and such effect‹, he is himself making a statement; but it is not a second-hand statement, it is autonomous. He makes it on his own authority.« [PH 34]

Der Historiker ist – so Collingwood pointiert – von seinen Quellen »unabhängig« (autonomous): Die eigentümliche Autonomie des historischen Denkens besteht darin, dass der Historiker durch seine Fragestellung einen Bedeutungszusammenhang herstellt, den er selbst zu rechtfertigen hat. So muss der Historiker die Verantwortung für seine Interpretation und seine Forschungsergebnisse übernehmen, die er nicht auf vermeintliche Autoritäten abwälzen darf. 23 Dieser »freien Beweiswürdigung« des Historikers weist Collingwood den epistemologischen Begriff evidence zu, der ein grundlegend neues Verständnis im Umgang mit dem historischen Beweismaterial anzeigt: Es geht dem Historiker nicht mehr um die Berufung auf »Autoritäten« oder die Suche nach Geständnissen aus »Quellen«, sondern um eine umfassende Beweissicherung, aus der vor dem Horizont einer Frage Gewissheit über einen Sach-

22 Vgl. PH 15. Die Erkenntnis, dass nach der Bedeutung und nicht allein nach der Wahrheit historischer Tatbestände zu fragen ist, verbindet Collingwood mit dem Werk von Giambattista Vico und in Deutschland mit Friedrich August Wolf, während jene Frage dann in der philologisch-kritischen Methode seiner Ansicht nach teilweise wieder vergessen wird. 23 Siehe auch IH 244: »The criterion that justifies him in making it can never be the fact that it has been given him by an authority.« In der Rezeption Collingwoods ist dies wiederholt auf Kritik gestoßen, da man damit das »Vetorecht der Quellen« angegriffen sah.

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verhalt erlangt wird und eine evidente Geschichtserzählung resultiert, die gedankliche Autonomie beansprucht. Vor dem Hintergrund seiner archäologischen Arbeiten beinhalten Collingwoods methodologische Bemerkungen eine besondere Wertschätzung materieller Überreste, die ebenso wie schriftliche Überreste zu verstandesgeleiteten Fragen herausfordern. 24 Denn da es dem Historiker nach Collingwood nicht darum geht, was ein Beweisstück »sagt«, sondern darum, was aus ihm »geschlossen« werden kann, sind im Rahmen einer Fragestellung sowohl materielles als auch textuelles, intendiertes als auch nicht-intendiertes Spurenmaterial für ihn prinzipiell gleichwertige Beweisstücke. Deshalb ersetzt Collingwood für die wissenschaftliche Historiographie den epistemologischen Begriff source durch evidence – der gleichzeitig Beweis, Überzeugung und Gewissheit signalisiert. So erfolgt die Aufklärung durch Inspektor Jenkins durch logische Verknüpfung von Indizien und weniger aufgrund von »Zeugenaussagen«. Der Historiker trifft keine Tatsachenaussagen mehr, sondern er gelangt im Zuge einer abwägenden Betrachtung zu der Überzeugung und Gewissheit über den Wert eines Sachverhalts. 25 Archäologie und Detektivroman werden bei Collingwood zum Leitmodell einer indizienbasierten Geschichtswissenschaft. So erscheint es sinnvoll, die von Collingwood betonte Evidenz historiographischer Argumentationen in ihrer Doppelbedeutung von Beweis und Gewissheit im Anschluss an Marc Bloch mit dem Begriff der Spur und dem Spurenlesen zusammenzudenken. Seien es überlieferte Texte oder aber ausgegrabene Tonscherben – Historiker und Archäologen haben es insgesamt mit Spuren zu tun, denen im Zuge eines speziellen Forschungsinteresses der Status von Indizien zugesprochen wird. Fragen erzeugen Indizien und Indizien Fragen, und aus der Verknüpfung von Indizien werden Antworten und Interpretationen entwickelt. Da Spuren im Gegensatz zu »Quellen« keine vorgefertigten Aussagen liefern, kann prinzipiell alles zur Spur werden und aus jeder Spur etwas herausgelesen werden. 26 24 Demgegenüber ist in den Methodologien des 19. Jahrhunderts eine starke Trennung von materiellen und schriftlichen Überresten zu erkennen bei eindeutiger Bevorzugung der schriftlichen Überlieferung: Vgl. etwa: Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, S. 233. 25 Vgl. PH 35. Problematisch an Collingwoods Einwänden gegen die historischkritische Methode und den Quellenbegriff bleibt jedoch, dass er die vielfältige Bedeutung des Zeugen und des Zeugnisablegens vorschnell aus den Augen verliert. Denn für das Zeugnis des Zeugen, die Authentizität seiner Aussage und die Kraft seiner Stimme, die einen besticht und betrifft, hat Collingwoods detektivische Fiktion kein Ohr. Dies begründet sich auch aus dem detektivischen Rätselroman als geschichtstheoretischem Reflexionshorizont: Die ins Verbrechen verwickelten – Täter, Opfer, Zeugen und Gesellschaft – sind gerade im klassischen Rätselroman des golden age of crime austauschbare Figuren, reine Aussage- und Indizienproduzenten, an denen sich die detektivische Frage-und-Antwort-Rationalität abarbeiten darf. Sie sind Figuren eines gedanklichen Kammerspiels, denen jeder Bezug zur Wirklichkeit abhandengekommen ist. 26 Vgl. dazu auch PH 35f. Collingwood geht davon aus, dass durch die Interpretation archäologischer Funde und die Rezeption der Archäologie durch

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Die Epistemologie der Spur ist in der Lage, im vergangenen Geschehen die Dynamik eines Handlungsprozesses zu erkennen, von dem nur noch Markierungen vorhanden sind. Darüber hinaus impliziert das Bild der Spur den Gestalt- und Bedeutungswandel, welchem auch die Interpretation eines vergangenen Handlungsvollzuges in der Rezeption unterliegt. Auch wenn bei Collingwood der Begriff der Spur selten auftaucht, orientiert er sich offensichtlich an deren epistemologischem Gehalt. So sind für Collingwood die Zeugnisse vergangener Zeiten, die der Historiker in den Archiven, an Ausgrabungsstätten oder auf seinem Schreibtisch vor sich hat, Gegenstände »direkter Beobachtung«: »The facts which I am now observing are facts from which I can infer the solution of my problem«. [PH 5] Alles was für den Historiker wahrnehmbar ist, kann prinzipiell als Spur und Beweis im Rahmen einer Interpretation dienen: »In scientific history anything is evidence which is used as evidence, and no one can know what is going to be useful as evidence until he has had occasion to use it.« [PH 36] So seien die wichtigsten Neuerungen in der Historiographie daraus hervorgegangen, dass Fundstücke, die lange Zeit nicht als »Quellen« verstanden wurden, durch die Entwicklung neuer Techniken des Lesens in Beweisstücke überführt worden seien. Die gesamte wahrnehmbare Welt kann prinzipiell Zeugnisse für den Historiker liefern, ob »the written page, this spoken utterance, this building, this finger-print«. 27 Geschichtswissenschaft ist beobachtend, indizienorientiert und schlussfolgernd, ihr in der Vergangenheit liegendes Forschungsfeld ist allein aufgrund von sichtbaren Spuren in der Gegenwart zu rekonstruieren: »History, then, is a science, but a science of a special kind. It is a science whose business is to study events not accessible to our observation, and to study these events die Geschichtswissenschaft die Entdeckung neuer Themenbereiche wie Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte möglich wurde, die die traditionelle Politikgeschichte erweiterte. Des Weiteren seien für einen wissenschaftlichen Historiker weniger die ältesten Quellen am bedeutendsten, als vielmehr die neuesten Veröffentlichungen zu seinem Thema. Aus diesen generierten sich aktuelle Probleme der Forschung. Da Collingwood offenbar grundsätzlich an den Forschungsfortschritt glaubt, gilt ihm der Forschungsstand als Ausgangspunkt für eigenes Fragen. 27 IH 247. Der Historiker wird den Fingerabdruck freilich anders lesen als der Kriminalist und Forensiker, wenn er ihn im Rahmen einer Geschichte der Kriminalistik oder der historischen Kriminalitätsforschung thematisiert. Was jedoch aus der Einführung des Fingerabdruckes geschlossen wird, ist eine Sache des Fragehorizontes: Entweder man folgt der Doktrin, dass es sich hierbei um einen Fortschritt in der modernen Kriminalitätsbekämpfung handelt, oder man betrachtet ihn als Herrschaftstechnik im Hinblick auf ein modernes Verständnis der Person und des Individuums, oder man sieht ihn als Anzeichen für ein modernes Indizien- und Identifizierungsparadigma. Weitere Beispiele für die Erschließung neuer Materialien für die Geschichtswissenschaften wären etwa die Beschäftigung mit Bildern, Fotografien und Filmen: Sobald man einen Zugang findet, sie als »Beweisstücke« im Rahmen einer historischen Argumentation zu lesen, wird man sie in diese aufnehmen können.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker inferentially, arguing to them from something else which is accessible to our observation, and which the historian calls ›evidence‹ for the events in which he is interested.« [PH 6]

Collingwoods Analyse der Geschichts- und Geisteswissenschaften steht im Zeichen jenes Rechtfertigungsdrucks, der durch den Aufstieg der Naturwissenschaften und des Positivismus im 19. Jahrhundert entstanden war. Seine Ausführungen gelten der Überwindung dieses Gegensatzes, ohne dabei jenen Weg zu verfolgen, der in der deutschen Tradition mit der Unterscheidung von Verstehen und Erklären beschritten wurde. Im Gegensatz zu den experimentellen Wissenschaften und neu entstandenen Humanwissenschaften, in denen unter experimentellen Bedingungen Spuren erzeugt oder aber Vorgänge kontinuierlich beobachtet und statistisch festgehalten werden können, muss in den Geschichtswissenschaften von den Spuren auf ein vergangenes, nicht wiederholbares, also individuelles Geschehen geschlossen werden. Ebenso wie Droysen versucht Collingwood im Rückgriff auf Francis Bacon diesen qualitativen Sprung zu einer »wissenschaftlichen« Geschichtsauffassung zu beschreiben. Nach Bacon gewinnt der Wissenschaftler seine Erkenntnisse nicht allein durch systematische Beobachtung und experimentelle Versuchsanordnung, sondern vielmehr durch eine gezielte inquisitorische Befragung: Im Sinne von put nature to the question, der »Folter der Natur«, gelte es »Torturen« anzuwenden, unter denen der Forschungsgegenstand »nicht länger ihre Zunge bändigen kann«. Damit ist von Bacon nicht nur die experimentelle Methode beschrieben worden, sondern auch »the true theory of historical method«. Der Wissenschaftler »must take the initiative, deciding for himself what he wants to know and formulating this in his own mind in the shape of a question«. [PH 24] Collingwood versucht den qualitativen Sprung von der Erforschung wahrer Geschichten zur Geschichtswissenschaft allein aus dem innerwissenschaftlichen Verfahren der kritischen Geschichtsforschung heraus zu begründen. Danach erzeugt die auf einer binären Logik und dem Ausscheidungsprinzip basierende kritisch-historische Methode eine latente Unzufriedenheit. Denn das Selektieren von glaubwürdigen und unglaubwürdigen Zeugnissen und die Beschränkung der Geschichtserzählung auf Erstere verhinderten, sich näher mit den »Falschaussagen« und solchen Zeugnissen zu beschäftigen, von denen der Historiker meint, sie nicht buchstäblich übernehmen zu können, da sie die Dinge verfälschen, verzerren, beschönigen oder seinen Grundüberzeugungen widersprechen. Daraus habe sich die Erkenntnis entwickelt, dass historische Überlieferungen interessengeleitet und standortgebunden sowie im historischen Kontext spezifischen »Denkweisen« (»custom of the time when it was written«) verpflichtet sind, welche die rein kritisch verfahrenden Geschichtsforscher bisher verkannt hätten. [PH 15] Indem jede Aussage in Bezug auf ihren historischen Kontext und Denkstil interpretiert wird, gewinnt die »wissenschaftliche« Geschichte ein neues erkenntnisleitendes Interesse: Es geht nicht mehr um die Frage, »wie es eigentlich gewesen« ist, sondern darum, warum etwas so begriffen und dargestellt wurde, wie es die Überlieferungen berichten. Aus der Geständnisorientierung der historischen Tatsachenforschung wird eine Erforschung der Zeugen und ihrer Aussagen im Hinblick auf eine mögliche Befangenheit.

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Damit erkennt auch Collingwood jenen epistemologischen Schnitt, den Foucault zwischen den Praktiken der Wahrheitsfindung durch die enquête und jenen des examen zog und den Droysens Kritik der historisch-kritischen Schule implizierte. 28 Es kann dem »wissenschaftlichen« Historiker nicht mehr allein um das reine whodunit, nicht mehr um die Frage nach der Täterschaft und die Eruierung von wahren und falschen Zeugnissen gehen, sondern er muss eine umfassende Einschätzung einer vergangenen Handlung, ihrer Motive und Intentionen vornehmen, vor dem Hintergrund einer ausgeweiteten, problembezogenen Fragestellung. Collingwoods weitgehend wissenschaftsimmanente Erklärung dieses »Fortschritts« der historiographischen Praxis lässt sich jedoch angesichts der hier im Anschluss an Foucault vertretenen Auffassung, dass sich die historischen Wahrheitspraktiken in einem beständigen Interdiskurs mit juristischen Praktiken der Wahrheitsfindung befinden, nicht aufrechterhalten. Während hinter Droysens Kritik des Tatsachenbegriffs und seinen Ausführungen zum historischen Tatbestand die Reformierung des Strafverfahrens und die Einführung des vollgültigen Indizienbeweises im frühen 19. Jahrhundert zu erkennen sind, muss die Frage, ob ein solcher rechtshistorischer Horizont auch für Collingwood im Hinblick auf die englische Rechtsgeschichte zu rekonstruieren wäre, jedoch offen bleiben. 29 So ist es hier der zeitgenössische Detektivroman, aus dem der Sprung 28 Vgl. Margot Browning, A Baconian Revolution. Collingwood and RomanoBritish Studies, in: David Boucher/James Connelly/Momood Tariq (Hg.), Philosophy, History and Civilization. Interdisciplinary Perspectives on R. G. Collingwood, Cardiff 1995, S. 330-363; insb. 331f. 29 Aus rechtshistorischer Perspektive ist dieser Bruch zwischen einem geständnisorientierten, geheimen und schriftlichen Inquisitionsprozess und einem indizienorientierten Beweisverfahren im öffentlichen Akkusationsprozess für England weniger deutlich, nicht zuletzt da hier die Institution der Jury schon länger existierte. Dennoch zeigt sich auch in Großbritannien mit dem Bedeutungswandel der Jury im Zuge des Aufstiegs des adversary systems und der Herausbildung des law of evidence im 19. Jahrhundert eine intensive Auseinandersetzung über die Beweismittel. Ebenso wie für die deutsche Diskussion ließe sich zeigen, dass der Indizienbeweis an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, etwa in Jeremy Benthams Treatise on Judicial Evidence (1825), aufgewertet und nun nicht mehr als problematischer, weil unsicherer und indirekter Beweis angesehen wurde. Für den rechtshistorischen Hintergrund siehe: Bruce P. Smith, English Criminal Justice Administration, 1650–1850: A Historiographic Essay, in: Law and History Review 25 (2007), No. 3, o. S., url: http://www.historycooperative.org/journals/lhr/25.3/smith.html; 08.05.2007. John Langbein, The Origins of the Adversary Criminal Trial, Oxford 2003. Malcom M. Feeley/Charles Lester, Legal Complexity and the Transformation of the Criminal Process, in: Gouron (Hg.), Subjektivierung des Beweisverfahrens, S. 337-375. Thomas P. Gallanis, The Rise of Modern Evidence Law, in: Iowa Law Review 84 (1999), S. 499–560. Zum Zusammenhang von Recht und Literatur: Alexander Welsh, Strong Representations. Narrative and Circumstantial Evidence in England, Baltimore 1992. Gegenüber der von Welsh hervorgehobenen Bedeutung des Indizienbeweises für den literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts betont Jan-Melissa Schramm die bleibende Bedeutung direkter Zeugniswieder-

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von der enquête zum examen herausgelesen wird: Es zeigt sich eine veränderte Epistemologie, nach welcher der historische Diskurs nicht durch die Suche nach Geständnissen und wahren Aussagen bestimmt ist, sondern auf Indizienbeweisen beruht und durch eine »freie Beweiswürdigung« strukturiert wird. Im Rahmen einer wissenschaftlichen, fragenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird die Geschichtsschreibung jenseits des monokausal wirkenden whodunit problemorientiert, worauf der von Collingwood zitierte Ausspruch des britischen Historikers Lord Acton hinweist: »Study problems, not periods.« [PH 37] Die problemorientierte wissenschaftliche Historiographie grenzt sich von der kompilatorischen und rein historisch-kritischen Geschichtsschreibung ab, wie Collingwood assoziativ mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen Sherlock Holmes und Hercule Poirot deutlich macht: »It was a correct understanding of the same thruth that led Monsieur Hercule Poirot to pour scorn on the ›human blood-hound‹ who crawls about the floor trying to collect everything, no matter what, which might conceivable turn out to be a clue; and to insist that the secret of detection was the use what, with possible wearisome iteration, he calls ›the little grey cells‹. You can’t collect your evidence before you begin thinking, he meant: because thinking means asking questions (logicans, please note), and nothing is evidence exept the relation to some definite question. The difference between Poirot and Holmes in this respect is deeply signifant of the change that has taken place in the understanding of historical method in the last forty years. Lord Acton was preaching his doctrine in the heyday of Sherlock Holmes, in his inaugural lecture at Cambridge in 1895; but it was caviare to the general. In Monsieur Poirot’s time, to judge by his sales, the general cannot have too much of it. The revolution which dethroned the principles of siccors-and-paste history, and replaced them by those of scientific history, had become common property.« [PH 37]

Collingwood stellt hier eine Popularisierung der wissenschaftlich-historischen Methode fest, die für die weitere Entwicklung des Kriminalgenres und die Herausbildung des historischen Kriminalromans tatsächlich relevant wird. Dass die Prinzipien der wissenschaftlichen Methode »Allgemeingut« wurden und »jeder Einzelne […] im Kreise der Ungebildeten nach der wissenschaftlichen Methode« vorgeht, zeigt sich auch bei Agatha Christie, etwa in The Murder at the Vicarage. Denn neben Inspektor Slack – der den Erfolg über harte Arbeit erreichen will und folgerichtig mit nur durchschnittlicher Intelligenz gesegnet ist – ermittelt eine Reihe weiterer Personen, allen voran der Pfarrer und natürlich Miss Marple, die als »favourite character of fiction, the amateur detective« charakterisiert wird. Auch wenn hier noch gefragt wird, ob ein solcher es »im wirklichen Leben mit dem Fachmann aufnehmen« könne, heißt es doch: »I think each one of us in his secret heart fancies himself as Sherlock Homes«. 30

gaben für die Literatur des 19. Jahrhunderts: Jan-Melissa Schramm, Testimony and Advocacy in Victorian Law. Literature and Theology, Cambridge 2000. 30 Christie, The Murder at the Vicarage, New York: Berkley Books, S. 116 u. 196.

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Doch im Gegensatz zu Sherlock Holmes, der immer wieder »wissenschaftliche Erkenntnisse« bei der Lösung eines spezifischen Falles heranzieht und seine Schlussfolgerungen als Deduktionen charakterisiert, grenzen sich Agatha Christies Ermittler Hercule Poirot und Miss Marple von solchen Beschreibungen der detektivischen Praxis ab. Diese Abgrenzungsbemühungen bekommt auch der von Collingwood erwähnte »Spürhund in Menschengestalt«, Kommissar Giraud von der Sûreté zu spüren, dem man etwa in The Murder on the Links begegnet. Während Giraud am Tatort auf der Erde herumschnüffelt und stolz einen Zigarettenstummel und ein Streichholz südamerikanischer Provenienz präsentiert – zweifellos eine Parodie auf die berühmte Untersuchung von Zigarettenasche durch Sherlock Holmes 31 –, scheint sich Poirot von Anfang an sicher zu sein, dass diese Indizien absichtlich als falsche Fährte hinterlassen wurden. Warum, so fragt sich Poirot, liegt am Tatort ein Bleirohr? Haben es tatsächlich die Bauarbeiter liegen lassen, die die Leiche ausgruben, wie Giraud vorschnell annimmt? Oder hat es doch etwas mit dem Mord zu tun? Poirot, der eine auffällige Abneigung gegen Giraud verspürt, achtet vielleicht gerade deswegen weniger auf die kleinsten Details, sondern auf das vermeintlich Offensichtliche, welches genauso nach erneuter Interpretation verlangt. »›You may know all about cigarettes and match ends, Monsieur Giraud, but I, Hercule Poirot, know the mind of man.‹« 32 Bisweilen erscheinen die methodischen Analysen Poirots weniger konsequent vorgebracht als beim dozierenden Sherlock Holmes, und beim Ordnen der Dinge stößt Poirot regelmäßig an Schranken, die von ihm durch eine intuitive Eingebung und hypothetisches Raten überwunden werden. 33 Poirots Hybris, ständig auf seine »kleinen grauen Zellen« zu verweisen, fand Collingwood zwar übertrieben, dennoch sah er gerade in dieser Bemerkung die Quintessenz des detektivischen Vorgehens als Prozess eines fragenstellenden Denkens. 2.4 F RAGE

UND

A NTWORT

Mit seiner Detektivgeschichte versucht Collingwood den Unterschied zu verdeutlichen zwischen einer historisch-kritischen Methode, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, »wahre Tatsachen« zu ermitteln, und der von ihm so genannten »wissenschaftlichen« Geschichtsschreibung, die den Forschungsprozess als einen Frage-und-Antwort-Prozess und damit als eine gedankliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sieht: »The village constable does not arrest the rector’s daughter and beat her periodically with a rubber truncheon until she tells him that she thinks Richard did the murder.

31 Vgl. Christie, The Murder on the Links, S. 112ff u. 151. Arthur Conan Doyle, The Sign of the Four, in: Ders., The Original Illustrated ›Strand‹. Sherlock Holmes. The Complete Facsimile Edition, Chatham: Wordsworth 1989, S. 65. 32 Christie, The Murder on the Links, S. 117. Damit war gleichzeitig »a psychological clue«, ein psychologisches Einfühlungsvermögen bei Poirot gemeint. 33 Vgl. Nusser, Der Kriminalroman, S. 101: Dies führt zu einer Beeinträchtigung der Chancen des Lesers bei der Lösungssuche, so sehr er auch zu eigenen Schlussfolgerungen ermutigt wird.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker What he tortures is not her body, but her statement that she killed John Doe. He begins by using the methods of critical history. He says to himself: ›The murder was done by somebody with a good deal of strength and some knowledge of anatomy. The girl certainly hasn’t the first, and probably hasn’t the second; at any rate, I know she never attended ambulance classes. Further, if she had done it she wouldn’t be in such a hurry to accuse herself. The story is a lie.‹« [PH 25f]

Zwar mag der Dorfpolizist, der nicht mehr nach inquisitorischen, sondern nach historisch-kritischen Praktiken verfährt, herausfinden, dass die Geschichte der Pfarrerstochter erfunden ist, doch würde er es in der Folge nicht mehr verstehen, die richtigen und weiterführenden Fragen zu stellen, so Collingwood. Für einen wissenschaftlichen Historiker wie Inspektor Jenkins beginnt erst jetzt das eigentliche Interesse, und er testet die Geschichte »for chemical reactions«: »Why is she telling a lie? Because she is shielding someone. Whom is she shielding? Either her father or her young man. Is it her father? No; fancy the rector! Therefore it is her young man. Are her suspicions of him well founded? They might be; he was here at the time; he is strong enough; and he knows enough anatomy. […] Why does the rector’s daughter suspect Richard Roe? […] Richard was in the storm, and that was quit enough to make the girl suspicious. […] If he did, when did he do it? After the thunderstorm broke, or before? Not before, because here are his tracks going both ways in the mud of the rectory garden path […] Well, did he carry mud into John Doe’s study? No: none there. Did he take off his shoes before going in? Think a moment. What position was John Doe in when he was stabbed? […] So the absence of mud in the study lets Richard out.« [PH 26]

Nach einigen Gedankensprüngen kommt Jenkins zu der Vermutung, dass nicht Richard Roe, sondern doch der Pfarrer und Vater der zunächst verdächtigten Tochter den Mord an John Doe begangen haben könnte: »›Now then, Jonathan, don’t go ahead to fast. You’ve got him in there, you’ve got to get him out again. What exactly does he do? […] Back in the house. All soaked: gloves covered with paint, too. Wipe paint off door-knob. Lock up. Put letters (if it was letters), and anyhow gloves, in the hot-water furnace – the ashes may be in the dustbin now. […] Now what did he do with his jacket? First, he’d look for paint on it. If he found paint, he’d have to destroy the thing; and I pity the man who tries to destroy a jacket in a house overrun with women. If he didn’t find any, he would certainly give it away on the quit to a poor man. Well, well: there’s a pretty story for you; but how can we tell wether it’s true or not? There are two questions we’ve got to ask. First: can we find the ashes of the gloves? And the metal buttons, if they are most likely of his gloves? If we can, the story is true. And if we can find a lot of writing-paper ash as well, the blackmail bit is true, too. Second: where is that jacket? Because if we can find the tiniest speck of John Doe’s paint on it, there’s our case.‹« [PH 28]

Collingwoods Wiedergabe des sinnierenden Selbstgesprächs von Inspektor Jenkins will in erster Linie einen Einblick in die Technik des Fragens liefern und verdeutlichen, dass jeder Schritt einer Argumentation auf Fragen, Hypothesen und Antworten beruht: »There is no science without questioning. A 224

Geschichtstheorie im golden age of crime

scientist’s training consists in learning what questions to ask. This is equally true of a detective. The best detective, like the best scientist, is the one who is best able to ask the right questions in the right order. Ability to do this depends on training in method.« [PH 38] Mit einer ähnlich stark ausgeprägten Selbstgewissheit versichert sich auch Christies Hercule Poirot der eigenen deduktiven Unfehlbarkeit: »›It is impossible. I cannot be wrong! The facts, taken methodically, and in their proper order, admit of only one explanation. I must be right! I am right!‹« 34 Für den Historiker fungiert nichts als Beweis, was er nicht durch seine Fragestellung zu einer Antwort herausgefordert hat. Der Prozess des Fragenstellens wird dabei als ein innerer Dialog und weniger als ein Dialog mit anderen Wissenschaftlern verstanden, was sich etwa an der Wiedergabe der Gedanken von Inspektor Jenkins in wörtlicher Rede ablesen lässt. Vorbild dieser Selbstbefragung sind die sokratischen Dialoge, in denen Denken als Frageund-Antwort-Prozess und als »Dialog der Seele mit sich selbst« verstanden wird. 35 Diese Form des Selbstgespräches steht dem klassischen Detektivroman tatsächlich sehr nahe. So driften die Ermittler Agatha Christies immer wieder ins Monologische, während es im Zuge des Frage-und-Antwort-Spiels zu verschiedenen Versuchsanordnungen kommt. Absichtlich gelegte Fährten, der Versuch, Spuren zu verwischen, Fragen, die nicht beantwortet werden können, weil die Vergangenheit es versäumt hat, ihr eigenes Archiv anzulegen – der Kriminalroman bietet ausreichend Anschauungsmaterial, um geschichtsmethodologisch zu denken. Hercule Poirot und Miss Marple sind ausgezeichnete Beobachter, begnadete Zuhörer sowie Kommentatoren und Kritiker jener Ermittlungen, die von der Polizei oder den allerorts ermittelnden Amateurdetektiven durchgeführt werden. Innerhalb des Genres wird dieses dialogische Prinzip im Laufe der Zeit noch stärker hervortreten: Während im klassischen Rätselroman oft noch Vermittlungsfiguren wie Dr. Watson oder Captain Hastings von den Denkleistungen der Meisterdetektive berichten, setzen sich die Detektive des amerikanischen hardboiled-Romans – oft als Ich-Erzähler – mit Zeugen und Verdächtigen direkt und in hart konturierten Figurendialogen auseinander.

34 Christie, Murder on the Links, S. 180. 35 Vgl. PH 29. Dieser »Dialog mit sich selbst« wird in der Geschichtsschreibung immer dann in ein imaginäres Gespräch mit den Lesern überführt, wenn der Historiker sein Ich hinter einem pluralis majestatis versteckt: Benötigt wird als Vermittlungsinstanz ein imaginärer Dr. Watson, der die eigene Argumentation plausibel wirken lässt. Mit dem Fokus auf den inneren Monolog ebenso wie in den Passagen über die Autonomie historischen Denkens vernachlässigt Collingwood ohne Zweifel die intersubjektive Dimension historischer Forschung im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Tradition wie mit den Fachkollegen.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

2.5 D ER R ÄTSELROMAN

ALS

R EFLEXIONSFIGUR

DER

H ISTORIK

Neben der Logik von Frage und Antwort, durchgespielt im inneren Dialog, gibt es weitere Aspekte, die sich in den Romanen von Christie und im detektivisch-historischen Denken Collingwoods überschneiden. Schaut man auf die Argumentationsketten von Inspektor Jenkins, fällt insbesondere dessen Interesse an der Chronologie der Ereignisse ins Auge, das zu einer zeitlichkausalen Rekonstruktion führt. Eines der wichtigsten Elemente des Aufklärungsprozesses im klassischen Detektivroman ist das Ordnen der Fakten anhand einer Chronologie, um den »roten Faden« eines vergangenen Geschehens zu fassen zu bekommen. Ein Handlungsverlauf lässt sich erst dann rekonstruieren, wenn bestimmte Ereignisse genau zu datieren sind. Gerade die Romane von Agatha Christie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das chronologische Moment der Rekonstruktion betonen. Zunächst erscheint die Chronologie der Ereignisse verzerrt und dient der Verrätselung: Immer wieder gibt es ungenaue Zeitangaben, die aus mangelnder Erinnerung und aus Falschaussagen der Verhörten resultieren oder ganz einfach auf Manipulationen an Uhren zurückzuführen sind. Zur Aufgabe detektivischer Aufklärung wird es nun, aus der verrätselten Chronologie Linearität und damit eine in sich konsistente, chronokausale Geschichte herzustellen. Die Chronologie ist das entscheidende Ordnungsprinzip und die Grundlage einer »pragmatischen Interpretation« (Droysen). Für Collingwood und Christie, die von archäologischen Interessen ausgehen, erscheint das chronologische Moment von besonderer Wichtigkeit, denn hier gehört die Datierbarkeit zu den Grundvoraussetzungen, um Aussagen über einen Handlungsverlauf zu treffen. Im Hinblick auf die Historiographiegeschichte erscheint dieses chronokausale Moment – auch wenn ihm in den Methodologien des 19. Jahrhunderts eine eminent wichtige Bedeutung zukam – jedoch überbewertet, denn schließlich umfasst die Interpretation eines Sachverhaltes – um mit Droysen zu sprechen – auch die Interpretation der Bedingungen, die psychologische Interpretation und die Interpretation im Hinblick auf »Ideen«. Die Ausgangsbasis jeder historischen Studie ist die Erkenntnis, dass man sowohl zu viel als auch zu wenig Informationen haben kann. Das liegt an der Eigentümlichkeit wissenschaftlicher Fragestellungen, die dorthin streben, wo Unklarheit herrscht. Ein wissenschaftliches Vorgehen zeichnet sich also dadurch aus, dass man mithilfe der Fragestellung eine Auswahl aus der Menge des Materials erzielt, um im gleichen Zug vorhandene Indizien neu zu bewerten oder aber sich auf eine Entdeckungsreise zu begeben, um bisher nicht beachtete Details zu finden. Im Zuge der Forschung wird man also immer wieder bestrebt sein, die Details neu anzuordnen, Ordnungsraster zu entwerfen und zu systematisieren. Im Zeichenuniversum der klassischen Detektivgeschichte kann prinzipiell jedes Indiz Bedeutung erlangen. Welche Spuren relevant werden, hängt von der Fragestellung und der Erfahrung des Kriminalisten, Historikers oder Wissenschaftlers ab. Das heuristische Modell des Mordfalls erleichtert hier entscheidend den Erkenntnisgang.

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Oft sind Agatha Christies Kriminalromane closed room mysteries, immer jedoch Erzählungen, in denen es zu einer aristotelisch anmutenden Einheit von Ort, Zeit und Figuren-Handlung kommt, die zu einer Beschränkung der Erklärungsmöglichkeiten führt. Für die Historiographie ist eine solche Einheit von Ort, Zeit und Handlung in mehrfacher Weise relevant: So trifft die Heuristik anhand der Fragestellung eine strukturierende Auswahl des Materials, bei der darauf geachtet wird, dass Fragen und Hypothesen im Forschungsprozess sinnvoll beantwortet werden können. Auf der Ebene der historiographischen Erzählung ist diese Einheit dann wiederzufinden, da vorab bestimmte räumliche, zeitliche und personale Einheiten geschaffen werden: die Fokussierung auf National- oder Regionalgeschichten, die spezifisch historiographische Epochenbildung, die im Zuge der Reflexion über Brüche und Kontinuitäten einen plausiblen Zeitzusammenhang herstellt, oder aber die Konzentration auf bestimmte historische Akteure. Ebenso wie Droysen begreift Collingwood die Gegenwart als den Tatort der Vergangenheit, dem Handlungen vorausliegen, die der Historiker durch eingehende Befragung rekonstruieren kann. Da historische Akteure politische und gesellschaftliche Ziele verfolgen, die sie in ihren Äußerungen, Projekten und Handlungen zu beschreiben, vorzuschlagen und umzusetzen versuchen, drücken sich Gedanken und Ideen in den Handlungen selbst dann aus, wenn der Historiker über sie nicht informiert ist. Jede Handlung hat dabei gewissermaßen eine Außen- und eine Innenseite. Die Außenseite ist dasjenige, was zur Zeit des Geschehens für Außenstehende sichtbar war, während die Innenseite dasjenige beschreibt, was an dieser Handlung nicht wahrnehmbar gewesen ist: Gedanken, Motive, Gründe, die einem Mord zugrunde lagen. 36 Eine historische Herangehensweise besteht darin, sich von der Außen- zur Innenseite vorzuarbeiten, indem in einem rekonstruktiven Verfahren von der Spur bzw. Wirkung auf die Ursachen im Sinne von intendierten Motiven geschlossen wird. Je mehr Erkenntnisse über die Außenseite einer Handlung vorliegen, desto bestimmter sind die Folgerungen über die zugrunde liegende intentionale Bedingtheit von Handlungen und Ideen. So gründet sich die Theorie historischen Verstehens bei Collingwood auf ein intentionales Handlungsund Erklärungsmodell, nach dem Handlungen historischer Akteure rational nachvollzogen und damit erklärt werden können. 37 Vor dem Hintergrund hermeneutisch orientierter Theorien historischer Erkenntnis fragt es sich, ob Collingwoods Theorem des Nachvollzugs der Gedanken der Vergangenheit in einem durch Frage und Antwort geleiteten Denken auf ein intuitives Einfühlen in vergangene Akteure und Handlungen hinausläuft, wie man es mit Ranke oder aber auch Dilthey verbindet. Doch Collingwood wendet sich gegen eine solche psychologische Ausdeutung zugunsten eines rationalen Verstehensprozesses, der von der prinzipiellen Verstehbarkeit fremder Kulturen aufgrund von anthropologisch konstanten Ra-

36 Vgl IH 213f; dazu auch William H. Dray, History as re-enactment. R. G. Collingwood’s Idea of History, Oxford 1995, S. 35-44. 37 Vgl. Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (=Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 13), Köln 1997, S. 97ff.

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tionalitätskriterien ausgeht. 38 So muss dem Denken und Handeln anderer selbst dann eine Logizität unterstellt werden, wenn man wie im Fall des Hexen- bzw. Wunderglaubens zu der Überzeugung gelangt, dass ein solches Weltverständnis grundsätzlich falsch ist. Um also andere zu verstehen, deren Denken für uns zu nicht vertrauten Resultaten führt, ist es notwendig, Vorannahmen und Überzeugungen im Rahmen des Verstehensprozesses vorübergehend zu suspendieren. Die heuristische Fiktion des Mordfalls bleibt freilich eindimensional, wenn sie sich auf die Rekonstruktion eines eindeutigen Handlungsvollzugs ausrichtet, dessen sichtbare Auswirkung auf Intentionen und Motive, auf Gedanken und Ideen befragt werden kann. Collingwoods Detektivanalogie erweckt den Eindruck von Selbstevidenz, da das Puzzle, welches der Historiker-Inspektor zusammensetzt, sich quasi wie von selbst zu einem stimmigen Bild fügt. 39 Die relativ einfache Lösungsform für ein Verbrechen geht davon aus, dass es nur eine richtige Lösung gibt, die den Tatsachen entspricht – und zwar selbst dann, wenn sich wie in Murder on the Orient Express (1934) herausstellt, dass alle Verdächtigen am Mord beteiligt waren. So rationalisiert das detektivische Modell von Frage und Antwort den Diskurs der Geschichte. Selbst das Irrationale, das kaum Nachvollziehbare, Handlungen, bei denen es schwerfällt, von einem Sinn zu sprechen, oder bei denen man zu der Auffassung kommen mag, dass man bei ihrer Thematisierung an die Grenzen des Verstehens gelangt, werden durch das detektivische Modell des golden age of crime grundsätzlich rationalisiert. Intentionale Erklärungsmodelle, die an Collingwood anschließen, formulieren freilich moderater, wenn der von Collingwood bemühte Begriff einer durch Schlussfolgerung gewonnenen Gewissheit durch eine Reflexion über gute Gründe abgelöst wird, man also Plausibilitätskriterien für die aufgestellten Hypothesen sucht. 40 Collingwoods zentrale Frage, wie historische Erkenntnis möglich ist und was sie als Wissenschaftspraxis ausmacht, kann nur über eine Analyse der historischen Forschungspraxis beantwortet werden. In diesem Punkt stimmt er mit Droysen ebenso überein wie in dem starken Gegenwartsbezug der historischen Forschung und des historischen Denkens. Denn auch Collingwood geht davon aus, dass die historische Forschung standortgebunden ist und niemals als abgeschlossen betrachtet werden kann, da jede neue Gegenwart des Forschens immer wieder neue Fragen aufwirft: »Every present has a past of its own«, und dabei kann »the entire perceptible here-and-now« als Beweismittel herangezogen werden. Geschichte ist eine »Idee, der keine Tatsache der Erfahrung genau entspricht«, und es ist »the idea of the historical imagination 38 Vgl. PH 63; auch: Guiseppina d’Oro, Robin George Collingwood, in: Stanford Encyclopaedia of Philosophy, url: http://plato.stanford.edu/entries/collingwood; 08.05.2007. Dazu weiterhin: Robin G. Collingwood, Denken. Eine Autobiographie. Eingeleitet v. Hans-Georg Gadamer, Stuttgart 1955, S. 91ff. 39 Anthony F. Russel, Logic, Philosophy, and History. A Study in Philosophy of History Based on the Work of R. G. Collingwood, Lanham 1984, S. 150-153. Auch: David Bates, Rediscovering Collingwood’s Spiritual History (in and out context), in: History and Theory 35 (1996) 1, S. 29-56. 40 Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, S. 101ff.

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as a self-dependent, self-determining, and self-justifying form of thought«. [IH 247; 249] 2.6 H ISTORISCHE E INBILDUNGSKRAFT

UND RE - ENACTMENT

Zur Rekonstruktion vergangener Ereignisse benötigt der Historiker nach Collingwood sein Vorstellungsvermögen bzw. eine konstruktive »apriorische Einbildungskraft« im Sinne von Immanuel Kant. 41 Diese ermöglicht es auch bei lückenhafter Überlieferung, eine glaubhafte historische Erzählung zu verfertigen. Ziel der historischen Einbildungskraft sei dabei jedoch nicht eine anschauliche und ornamentale Darstellung, wie Collingwood gegenüber Macauley festhält. 42 Die produktive Vorstellungskraft entwirft ein Bild durch die Verknüpfung gegebener »fester Punkte«: »The historian’s picture of his subject, whether that subject be a sequence of events or a past state of things, thus appears as a web of imaginative construction stretched between certain fixed points provided by the statements of his authorities; and if these points are frequent enough and the threads spun from each to the next are constructed with due care, always by the apriori imagination and never by merely arbitrary fancy, the whole picture is constantly verified by appeal to this data, and runs little risk of losing touch with the reality which it represents.« [IH 242]

41 IH 240f. Collingwood meint damit zunächst ganz einfache Feststellungen: So lässt sich aus zwei Quellenberichten, nach denen Cäser an einem Tag in Rom und an einem späteren Tag in Gallien war, schließen, dass er eine Reise unternommen hat. – Kant versteht in der Kritik der reinen Vernunft die apriorische Einbildungskraft als »das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen«. Kant weist der Einbildungskraft eine theoretische Schlüsselfunktion zu. Sie soll zwischen den beiden Grundvermögen menschlicher Erkenntnis vermitteln, nämlich zwischen Sinnlichkeit (Anschauung) und Verstand. Die Vermittlung leistet sie dadurch, dass sie eine Synthese des Mannigfaltigen hervorbringt, das in der Anschauung gegeben ist. Im abstrakten Sinne muss diese produktive Einbildungskraft als Bedingung der Möglichkeit für Erfahrungserkenntnis überhaupt verstanden werden (transzendentale Einbildungskraft). Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der 1. und 2. Orig.-Ausg., hg. v. Raymond Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1990; hier Ausgabe B, S. 103 und 180f. 42 Vgl. IH 241: »the historical imagination […] is properly not ornamental but structural. Without it the historian would have no narrative to adorn.« Collingwood geht von einer bruchstückhaften Überlieferung aus, doch muss die geschichtengenerierende historische Einbildungskraft selbstverständlich auch dort zum Einsatz kommen, wo es ein ›Zuviel‹ an Material gibt und man sich auf einen Aspekt einer verzweigteren Geschichte beschränken muss. Die Auswahl des Materials ist insofern nicht in erster Linie eine Frage der historischen Kritik, sondern eine konzeptionelle Frage, ob sie in die Darstellung ›passt‹.

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Dieses Bild der Vergangenheit beruht nicht auf einer direkten Wahrnehmung, aber dennoch geht es aus der Wahrnehmung und Infragestellung der Spuren hervor. Zudem sind die festen Punkte, die die historische Einbildungskraft zur Rekonstruktion der Vergangenheit nutzt, schon durch die historische Kritik befragt worden, weshalb die Vorstellungskraft ihr Netz zwischen Punkten ausbreitet, die selbst schon Teil des kritisch-historischen Denkens sind: »There is nothing other than historical thought itself, by appeal to which its conclusions may be verified.« [IH 243] 43 Die Rekonstruktion der Geschichte lässt sich also nicht durch die zu erforschende Vergangenheit autorisieren: »Freed from its dependence on fixed points supplied from without, the historian’s picture of the past is thus in every detail an imaginary picture, and its necessity is at every point the necessity of the a priori imagination. Whatever goes into it, goes into it because his imagination passively accepts it, but because it actively demands it.« [IH 245]

Collingwood kokettiert hier in Anlehnung an Benedetto Croce mit einer relativistischen Geschichtsauffassung, die er jedoch letztlich entschieden ablehnt. Die Aufgabe des Historikers sei nicht, »etwas zu erfinden«, sondern etwas »zu entdecken«. [PH 5] So versucht er, über den mehrschichtigen Begriff des »Beweisstücks« (evidence) dem Historiker eine erfahrungsgesättigte, empirische Basis seiner Forschungen zu erhalten. Für Collingwood ist zwar eine Textspur »merely a pattern of black marks on white paper: not any historical fact at all, but something existing here and now«. Doch steht das Quellenmaterial im aktuellen Forschungsbezug des Historikers, der ein Problem zu lösen hat: »Wenn ein Geschichtsforscher bestimmte historische Fakten als seine Gegebenheit bezeichnet, dann meint er lediglich, daß es für eine bestimmte Arbeit sachdienlich ist, sie darauf aufzubauen.« [PH 244] Historische Interpretationen sind von der Plausibilität ihrer Herleitung abhängig. Auch wenn Collingwood es vermeidet, von den Methoden der historisch-kritischen Forschung – wie äußere und innere Quellenkritik – zu sprechen, so sind sie doch in die Rekonstruktion eines vergangenen Geschehens eingebunden. Sie werden allerdings nicht dazu genutzt, um eine Quellenaussage als wahr oder falsch zu kategorisieren und diese dann als ready-madestatement in die historische Erzählung aufzunehmen. Vielmehr dient ein methodisch geschultes Vorgehen dazu, die erkenntniserweiternden und problemorientierten Fragen zu stellen, aus denen sich dann wahre und eingehend geprüfte Zusammenhänge erschließen lassen. Eine Entscheidung darüber, welche von zwei sich widersprechenden Quellenaussagen als beweisführend anzusehen ist, kann nach Collingwood 43 Collingwood geht in seiner Argumentation sogar noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass für eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung weder »Quellen im Sinne von Autoritäten« noch feste Gegebenheiten (»fixed data«) existieren: »I am now driven to confess that there are for historical thought no fixed points thus given: in other words, that in history, just as there are properly speaking no authorities, so there are properly speaking no data.« [IH 243]

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allein aus dem Kontext getroffen werden. Erst wenn eine Quellenaussage in den durch die historische Einbildungskraft geschaffenen Kontext eingebunden werden kann, ergibt sich eine schlüssige, evidente Argumentation. Die Idee der historischen Einbildungskraft bezeichnet also eine imaginative und quellenbezogene Syntheseleistung, die logisch strukturiert ist. 44 Das Vorstellungsbild des Historikers beruht dabei auf seinem Erfahrungswissen, welches er durch seine Forschungen gewonnen hat. Die Praxis der Geschichtswissenschaft basiert für Collingwood auf hypothetischen Schlussfolgerungen und Interpretationen (Indizienbeweisen), die auf der Grundlage von Spuren und im gedanklichen Prozess von Frage und Antwort Gewissheit und Evidenz erzeugen. Collingwoods Ausführungen zum historischen Verstehen sind eng mit dem Begriff des re-enactment verbunden. Collingwood spricht von »History as Re-enactment of Past Experience«, vom »re-enactment of past thought in the historians own mind« oder auch von »re-thinking of past experience«. [IH 215] Was Collingwood darunter verstanden hat, wie er verstanden sein wollte und wie es zu verstehen sein könnte, ist in einer Weise vieldeutig und in der Forschung umstritten, dass hier nicht der Versuch unternommen werden kann, die Debatten nachzuzeichnen. 45 Mit Collingwoods Hauptthese vom Nachvollzug der Gedanken der Vergangenheit (re-enactment) darf man jedoch weder eine Geschichtsschreibung verbinden, die sich auf herausragende historische Persönlichkeiten oder klassische historische Akteure wie Nationen bzw. Nationalstaaten konzentriert, noch eine reine Ideengeschichte. 46 Vielmehr können unter historischen Akteuren ebenso Individuen, Kulturen, Gruppen oder aber auch wirkungsmächtige politische, soziale und kulturelle Strukturen begriffen werden. Im Vergleich zu Droysens Ausführungen zur »Interpretation der Ideen« und seiner »Systematik« bleibt bei Collingwood offen, was er als die grundlegenden zu erforschenden Gedanken der Geschichte ansieht. Schaut man auf das detektivische Vorgehen bei Poirot und Miss Marple, finden sich kaum Äußerungen darüber, dass sie sich in irgendeiner Art in die Vergangenheit ›hineinversetzen‹ oder sich diese empathisch aneignen. Stattdessen gilt, »to get a clear history of what happened that evening – always bearing in mind that the person who speaks may be lying«, wie es bei Poirot heißt. 47 Gegenüber Captain Hastings, der Girauds »neue Methoden« 44 Collingwood lehnt damit ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsmodell zugunsten eines kohärenztheoretischen ab, was in seiner argumentativen Frage-und-Antwort-Logik zum Ausdruck kommt. Vgl. Anthony F. Russell, Logic, Philosophy, and History: A Study in the Philosophy of History Based on the Work of R. G. Collingwood; with a Foreword by Brooke Williams. (=Sources in Semiotics Series, Vol. 1), Lanham 1984. S. 149-153. 45 Grundlegend dazu und mit weiterführenden Literaturhinweisen: Dray, History as Re-Enactment, insb. S. 32-66. 46 Collingwood tritt einer biographischen Geschichtsdarstellung entschieden entgegen, deren »gossip-« und »snobbery-value« er angreift. Vgl. PH 6977. 47 Christie, The Murder of Roger Ackroyd, S. 196.

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und die Suche nach den kleinsten Details bewundert, merkt Poirot an, dass es weniger auf Nachforschungen, sondern auf Anschauungen und Vorstellungen (»ideas«) ankomme: »›Mon ami, a clue of two feet long is every bit as valuable as one measuring two millimetres! But it is the romantic idea that all important clues must be infinitesimal. As to the piece of lead-piping having nothing to do with the crime, you say that because Giraud told you so. No‹ - as I was about to interpose a question – ›we will say no more. Leave Giraud to his search and me to my ideas. The case seems straightforward enough – and yet – and yet, mon ami, I am not satisfied! And do you know why? Because of the wrist-watch that is two hours fast. And then there are several curious little points that do not seem to fit in. For instance, if the object of the murderers was revenge, why did they not stab Renauld in his sleep and have done with it?‹« 48

In diesen Hinweisen, wenn etwa Inspektor Jenkins die Fußstellung bei der Ausführung des Mordes rekonstruiert und nachahmt, kann man erkennen, was aus der Sicht der kriminalistischen Fiktion mit »historischer Imagination« und re-enactment gemeint sein kann.. Das Vorstellungsvermögen des Historikers ermöglicht es anscheinend, einen vergangenen Handlungsvollzug nicht nur gedanklich, sondern quasi körperlich nachzuvollziehen, wenn man Collingwoods Analogie von Historiker und Detektiv ernst nimmt. Eine durchaus ähnliche Vorgehensweise bei der Rekonstruktion einer Tathandlung wendet Hercule Poirot in The Murder of Roger Ackroyd an. Poirot versucht hier, das Verbrechen nochmals im Moment der Tat nachzuvollziehen, indem er die Mordverdächtigen eine bestimmte Handlung nachstellen bzw. nachspielen lässt, und äußert dabei erregt: »We must have everything in order. Just as it occurred. It is a little method of mine.« 49 Dieses Nachstellen einer Situation kann man nun in Bezug setzen zu Collingwoods Begriff des re-enactment, auch wenn er selbst im Rahmen seiner Ausführungen zu diesem Begriff nicht auf die Detektivmetapher zurückgegriffen hat. Poirot gibt zunächst Regieanweisungen und setzt ein Schauspiel in Gang. Diese im doppelten Wortsinn zu sehende Vorstellung ist keineswegs ein mimetisches Abbild der vergangenen Situation, denn die Geschichte lässt sich keinesfalls als Schauspiel begreifen. Die Ereignisse – so Collingwood – ziehen nicht am Historiker vorüber, sondern er hat sie denkend wiederzuerschaffen und nachzuvollziehen. 50 So wird die gespielte Wiederholung von Poirot dazu genutzt, die Stimmigkeit der einzelnen Aktionen zu überprüfen, 48 Christie, The Murder on the Links, S. 82. 49 Christie, The Murder of Roger Ackroyd, S. 229; wobei darauf hingewiesen wird, dass es sich bei dieser Methode um das Verfahren der »Rekonstruktion des Verbrechens« handele. In The Murder at the Vicarage wird das nochmalige Verhör am Ort des Verbrechens auch als die »french idea« bzw. als »reconstruction of the crime« bezeichnet. Vgl. Christie, The Murder at the Vicarage, S. 79. 50 IH 97: »Kant […] was wrong, because history is not a spectacle. The events of history of do not ›pass in review‹ before the historian. They have finished happening before he begins thinking about them. He has to re-create them inside his own mind, re-enacting for himself so much of the experience of the men we took part in them as he wishes to understand.«

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indem er bei der Betrachtung des Nachspielens dieses Wahrnehmungsbild mit allen weiteren Informationen, die er besitzt, abgleicht. Erst durch diese Vorstellung kann Poirots geistiges Auge sehen lernen und imaginieren, wie der tatsächliche Tatablauf war. Dabei handelt es sich um ein quasiexperimentelles Vorgehen, welches der Wahrheitsfindung dient. Für eine detektivisch verstandene Geschichtserkenntnis heißt dies, dass man die aufgefundenen Spuren spielerisch-imaginativ in Beziehung setzen muss. Sie müssen miteinander agieren, damit der Historiker sich ein Bild darüber macht, was geschehen sein kann. Die Stimmen und Spuren der Vergangenheit spielen sich dabei einerseits selbst, aber erst durch die Regieanweisungen und die Vorstellungskraft des Historikers – dessen Aufgabe es ist, den Spuren und Zeugnissen Rollenanweisungen zu geben – können sie eine Antwort auf die Frage liefern, die der Historiker sich gestellt hat. Der Begriff re-enactment beinhaltet also eine spielerische, ästhetische Komponente, durch welche die Vorstellungskraft in Gang gesetzt wird. Der von der deutschen Übersetzung vorgeschlagene Begriff »Nachvollzug der Vergangenheit« gibt hingegen nur die konstruktiv-reflektierende Einbildungskraft wieder. Das englische re-enactment kann demgegenüber im weiteren Sinne ein Ins-Spiel-Setzen und Ins-Spiel-Bringen der Vergangenheit in die Gegenwart bedeuten. 2.7 I NDIZIENBEWEIS , E INGESTÄNDNIS S CHLUSSFOLGERN

UND ABDUKTIVES

Bevor es in den Romanen Agatha Christies im Finale zu einer Auflösung des verzwickten Mordrätsels kommt, gibt es immer eine gewisse Verunsicherung gegenüber allen bislang entwickelten hypothetischen Rekonstruktionen: »Your solution is a very plausible one, Miss Marple«, heißt es etwa in The Murder at the Vicarage. »But you will allow me to point out that there is not a shadow of proof.« 51 51 Christie, The Murder at the Vicarage, S. 221. Agatha Christie hat in The Murder of Roger Ackroyd ein Erzählprinzip des Detektivromans unterlaufen, indem sie denjenigen des Mordes überführt, der am unverdächtigsten ist: der Ich-Erzähler Doktor Shepard. Ebenso profitiert Collingwoods Kurzkrimi davon, demjenigen den Mord nachzuweisen, der aus tradierten Vorurteilen der unverdächtigste ist: der Pfarrer. Mit dem Prinzip, das zu Erkennende zunächst als das am wenigsten zu Beachtende herauszustellen, kann gezeigt werden, dass die Methode von Poirot bzw. die wissenschaftliche Frage-undAntwort-Methode des Historikers bei Collingwood selbst in die hintersten Ecken des Unbekannten einzudringen vermag und immer zum richtigen Ergebnis führt. Im Kriminalroman werden diese Stereotype selbstreferentiell thematisiert und persifliert. So sagt etwa Miss Marple: »›I know that in books it is always the most unlikely person. But I never find that rule applies in real life. There it is so often the obvious that is true.‹« Christie, The Murder at the Vicarage, S. 214. In The Murder at the Vicarage spielen deshalb auch die Täter mit der Unschuldsvermutung, indem sie sich selbst anzeigen und davon ausgehen, dass die Polizei bei einem freiwilligen Schuldeingeständnis gerade nicht an ihre Schuld glauben wird.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

So sind die Indizienschlüsse in ihrer logischen Herleitung zwar in sich überzeugend, doch bleiben sie zu unsicher, um eine Verhaftung bzw. eine gerichtliche Verurteilung zu rechtfertigen. Deshalb wird von den Protagonisten ein »experimentelles Verfahren«, eine List angewandt, um die Tatverdächtigen zu »direkten Beweisen« zu nötigen. 52 Da durch das Eingeständnis die Hypothesen des Detektivs vollkommene Plausibilität erlangen, wird der Leser vor der Nachfrage geschützt, ob die entworfene Theorie tatsächlich alle Details berücksichtigt hat: Er wird aufgrund der überfallartigen Konklusionen und des darauf folgenden »Eingeständnisses« zu der Überzeugung gebracht, dass es so gewesen ist, wie es der Detektiv vorausgesagt hat. Im Detektivroman gilt es also, Prozesse in Gang zu setzen, die dann beobachtet werden können. Um eine solch entlarvende Reaktion zu erzeugen, bedarf es keiner subtilen Befragungstechnik. Vielmehr muss eine Behauptung, eine Hypothese in den Raum gestellt werden, die auf eine Verunsicherung der Verdächtigen hinausläuft und deren Sinn für die Beteiligten nicht immer sofort eindeutig ist: »›One must say something‹«, sagt etwa Poirot. »›That particular question did as well as any other.‹« 53 Das heißt im Sinne Collingwoods nichts anderes, als dass jede Frage sinnvoll ist, die zu einer »Reaktion« der Quellen, zu einer Hypothese und eben damit zu einer – vorläufigen – Antwort führt. Collingwood hat in The Historical Imagination genau erkannt, dass es nach den Regeln des Detektivromans – und man muss hinzufügen, dass es sich hier nicht nur um die Gesetze der klassischen Detektivgeschichte des golden age of crime handelt – an dessen Ende immer zu einem Eingeständnis des Täters kommt: »The hero of a detective novel is thinking exactly like an historian when, from indications of the most varied kinds, he constructs an imaginary picture of how a crime was committed, and by whom. At first, this is a mere theory, awaiting verification, which must come to it from without. Happily for the detective, the conventions of that literary form dictate that when his construction is complete it shall be neatly pegged down 52 In The Murder at the Vicarage behauptet man gegenüber dem Täter, dass es eine Zeugenaussage gibt, die ihn überführe. Tatsächlich gibt es diese Zeugenaussage nicht, doch kann durch diese Irreführung der Täter zur Flucht getrieben werden. Vor seiner Flucht kommt es zu einem Gespräch mit einer Komplizin, das von der Polizei mitgehört werden kann. Die Lösung in The Murder on the Links basiert auf demselben Prinzip: Nachdem die logische Herleitung vollbracht ist, es jedoch noch keinen direkten Beweis gibt, hilft es nur, die Täterin in eine Falle zu locken: Sie wird durch die »experimentelle Methode« in eine psychologische Zwangslage gebracht, die sie zu einem weiteren Mord nötigt und bei dessen versuchter Ausführung sie beobachtet werden kann. Durch ihre dabei erlittene tödliche Verletzung erledigt sich das Problem einer abschließenden Wahrheitssicherung von selbst. Auch in The Murder of Roger Ackroyd wird der Täter in die Enge getrieben: Mit seinem Selbstmord bestätigt der Arzt und gleichzeitige Ich-Erzähler Dr. Shepard die auf zahlreiche Indizien gestützte Theorie Poirots, fügt vor seinem Abgang aber noch ein Geständnis in seinen Bericht ein. 53 Christie, The Murder of Roger Ackroyd, S. 231.

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Geschichtstheorie im golden age of crime by a confession from the criminal, given in such circumstances that its genuineness is beyond question. The historian is less fortunate.« [IH 243]

Collingwood macht darauf aufmerksam, dass es im Kriminalroman über die freie, indizienorientierte Beweiswürdigung hinaus letztlich immer zu einem unumstößlichen, »direkten Beweis« im Sinne eines Eingeständnisses des Täters kommt. 54 In seiner Auseinandersetzung mit der Peirce’schen Abduktionstheorie schildert Umberto Eco diese Beobachtung ähnlich: »In den klassischen Kriminalromanen, von Conan Doyle bis Rex Stout, sind diese Prüfungen nicht notwendig. Der Detektiv erfindet die Lösung in seinem Geist und ›sagt‹ sie, als ob sie die Wahrheit wäre – und sogleich wird die Hypothese von Watson, vom anwesenden Mörder oder von jemandem anderen verifiziert. Sie sagen: ›Genauso war’s!‹ und der Detektiv ist sich sicher, dass er richtig geraten hat. In den Kriminalromanen garantiert der Autor (der an Gottes Stelle agiert) die Entsprechung zwischen der vom Detektiv imaginierten möglichen Welt und der wirklichen. Außerhalb der Kriminalromane sind Abduktionen riskanter und stets vom Scheitern bedroht.« 55

Sowohl Collingwood als auch Eco betonen damit das Risiko, mit dem Wissenschaftler im Gegensatz zu den Ermittlern des Romans umzugehen haben, wenn sie Hypothesen bilden. Während es im Kriminalroman zu einem Eingeständnis kommt, welches sich wie gezeigt auf verschiedene Weisen äußern kann – notgedrungenes Geständnis, Flucht, Selbstmord oder tödliches Unglück als eine Machination der Gerechtigkeit –, zeigen beide, dass diese Eindeutigkeit, die Verifizierung abduktiver Hypothesen durch Tests, im Fall historischer Wissenschaften nicht zu erreichen ist. Der (Ein-)Geständniszwang im Kriminalroman ist seit der Abschaffung der Folter, der Einführung der freien Beweisführung und dem vollgültigen Indizienbeweis in gewisser Weise anachronistisch. So verweist der dem Geständnis verpflichtete Kriminalroman auf ein älteres Modell der Wahrheitsfindung, das jedoch auch nach der Einführung des vollgültigen Indizienbeweises virulent ist. Denn das Geständnis ist und bleibt das wichtigste Zeugnis der juristischen Wahrheitsfindung und wird mit Strafmilderung belohnt. Aber auch wenn im Detektivroman das Eingeständnis erfolgt, so doch nur, da der Delinquent durch Verhör, Befragung und Beweislage in die Enge getrieben und einem »Test«, einer »Prüfung«, einem examen ausgesetzt wurde. Trotz des 54 Dass er darin ein »Gesetz des Kriminalromans« erkennt, ist dem Kodifizierungsdrang des Genres in den 1920er und 1930er Jahren geschuldet. Die von Autoren wie S. S. Van Dine, Ronald A. Knox, Dorothy Sayers oder vom Londoner Detection Club aufgestellten Regeln für den Detektivroman, beinhalten die von Collingwood ausgearbeitete Regel freilich nicht. Siehe dazu: Howard Haycraft (Hg.), The Art of the Mystery Story, S. 189-202. 55 Umberto Eco, Die Abduktion in Uqbar. Nachwort, in: Jorge L. Borges/ A.Bioy Casares, Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi und andere Erzählungen, München 1983, S. 267-286; hier S. 283. Vgl. auch Umberto Eco, Hörner, Hufe, Sohlen. Einige Hypothesen zu drei Abduktionstypen, in: Umberto Eco/Thomas Albert Sebeok (Hg.), The Sign of Three. Dupin, Holmes, Peirce, Bloomington 1983, S. 288-320, hier S. 319.

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Einspruchs Collingwoods und Ecos, dass die Interpretation ihren eigenen Gedankengang entfaltet und deshalb nicht auf eine direkte Verifizierung von »außen« hoffen darf, unterminiert die Metapher vom Historiker als Detektiv diese Einschränkung: Denn sie entwickelt eine eigene Rhetorik der Wahrheit, welche die Unsicherheit, mit der jede Interpretation behaftet ist, konsequent verschleiert. Genau dies geschieht in Collingwoods Detektivgeschichte, denn auch sie impliziert jenes gesetzmäßige, kriminalliterarische Erfordernis eines Eingeständnisses. So entzieht sich der Pfarrherr durch Selbstmord dem Rechtssystem, während Collingwood am Ende seiner Geschichte aus einer teilnehmenden Beobachterperspektive die Ermordung von John Doe durch den Pfarrer beschreibt. 56 Die Tatsache des Selbstmordes des Geistlichen wie auch der Perspektivwechsel sind nichts weiter als ein Taschenspielertrick detektivischer Fiktion, schließlich kann Collingwood damit zeigen, dass die Konklusion von Inspektor Jenkins dem »tatsächlichen« Tatverlauf entspricht: Der Pfarrer ist der Mörder. In diesem wichtigen Punkt weicht Collingwoods Detektivgeschichte also nicht von seinem Referenzmodell ab, obwohl er klar erkannt hat, dass die wissenschaftliche Geschichtsschreibung auf solche Eingeständnisse nicht setzen kann. So macht seine exemplarische Detektivgeschichte Anleihen bei der persuativen Rhetorik des golden age of crime. Collingwood unternimmt den Versuch, den Forschungsprozess als einen dynamischen Prozess zu begreifen, der sich weniger mit den Resultaten der Forschung, sondern mit der Struktur und Logik des Fragens beschäftigt. Collingwoods Blick auf die Hypothesenbildung und verlagert das Problem der Historik von der Wahrheitsprüfung zu einer Logik der Rechtfertigung und zu einer Entdeckungslogik neuer Interpretationen in der Geschichtswissenschaft, deren Ziel es ist, die Gedanken und Handlungsvollzüge der Vergangenheit zu erkennen und neu zu entdecken. Schlüsse werden im Kriminalroman wie auch in der Geschichtswissenschaft durch Analogie und Vergleich mit einem ähnlichen Fall 57 oder durch 56 PH 23: »Meanwhile the rector’s plan had succeeded perfectly. John Doe was asleep, his head fallen forward on a pile of old letters. Only after the dagger had reached his heart did the rector look at them, and see his wife’s handwriting.« 57 Poirots Aufklärung beruht in The Murder on the Links im Wesentlichen darauf, dass er sich an einen sehr ähnlichen, ungelösten Fall erinnert, der Jahre zuvor geschehen war. Es stellt sich heraus, dass die damals Beteiligten auch diesmal verwickelt sind. Doch obwohl es sich um dieselben Personen handelt (unter veränderten Namen), ergibt sich bei der Rekonstruktion kein identischer Fall, so wie es Captain Hastings zunächst vermutet. Mehrere Parteien sind inzwischen in den Besitz des Wissens über diesen ungelösten Fall gelangt. So wird der Vergleichsfall zur wichtigsten Interpretationshilfe, wobei es Poirot von Anfang an klar ist, dass es hier um Verschiebungen innerhalb einer mehr oder weniger identischen Situation geht. Der Analogieschluss zu einem vergleichbaren Fall ist auch das Erfolgsgeheimnis von Miss Marple: So kann sie mit der Kenntnis von einem abhandengekommenen Sack Kohlen herausfinden, wie Miss Wetherbys Glas Garnelen verschwunden ist. Den Fall des ermordeten Gemeindevorstehers vergleicht sie mit einigen

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Geschichtstheorie im golden age of crime

Indizienbeweise gezogen. So erscheint die Frage, ob die fiktionalen Ermittler deduktiv, induktiv, intuitiv vorgehen oder einfach nur raten, letztlich verfehlt: Das retrospektive historisch-detektivische Schließen, welches hier vorgeführt wird, kann im Anschluss an Charles Sanders Peirce als »Abduktion« bzw. »Retroduktion« verstanden werden. 58 Der Begriff der Abduktion bietet sich zur Explikation von Collingwoods Ausführungen zur schlussfolgernden Entdeckungslogik der Historie an, da diese nach Peirce das einzige erkenntniserweiternde Schlussverfahren ist, das sich von den anderen beiden geläufigen Schlussverfahren der Deduktion und Induktion kategorial unterscheidet. Peirce erklärt dabei das retrospektive Schließen von der Wirkung auf die Ursache auch an historischen Beispielen59 und versteht das abduktive Schlussverfahren selbst als ein detektivisches, kreatives Schlussverfahren. 60 Die Abduktion bzw. Retroduktion ist nach Peirce der erste Schritt jeder Erkenntnis. Ausgangspunkt ist die Konfrontation mit überraschenden und der Erfahrung zuwiderlaufenden Tatsachen. Um diese überraschenden Tatsachen zu erklären, wird eine Hypothese generiert bzw. eine Theorie aufgestellt. Um mit Collingwood zu sprechen: Die konstruktive historische Imaginationskraft entwirft ein Bild, durch das ein Handlungsvollzug plausibel nachvollzogen werden kann. Die Abduktion ist jedoch nach Peirce zunächst ein extrem unsicherer Schluss von der Wirkung auf die Ursache, und ihr Ziel ist es, Hypothesen zu bilden, die nicht per se wahr sein müssen und auch nur mehr oder minder wahrscheinlich sind. Deshalb bleibt nach Peirce die abduktive Schlussfolgerung auf Deduktionen und Induktionen als Überprüfungsinstanzen angewiesen. Nach der Hypothesenbildung und in einem letzten Schritt, dem induktiven Schritt, wird mittels experimenteller Verfahren versucht, die abduktiv gewonnene Hypothese durch empirische Verifizierung zu sichern. Fällen, deren Parallelen dem Pfarrer nicht besonders einleuchten, da sie seiner Ansicht nach auf einer intuitiven Erkenntnis beruhen: »›You’re laughing, my dear‹, said Miss Marple, ›but after all, that is a very sound way of arriving at the truth. It’s really what people call intuition and make such a fuss about. Intuition is like reading a word without have to spell it out.‹« Christie, The Murder in the Vicarage, S. 74. 58 Vgl. W. Jan van der Dussen, The Historian and his Evidence, in: Ders./Lionel Rubinoff (Hg.), Objectivity, Method and Point of View. Essays in the Philosophy of History, Leiden 1991, S. 154-169. Dussen, Collingwood’s »Lost« Manuscript, S. 48. Leon J. Goldstein, Collingwood’s Theory of Historical Knowing, in: History and Theory 9 (1970), S. 3-36. 59 Charles Sanders Peirce, The Logic of Drawing History from Ancient Documents, especially from testimonies, in: Ders., Collected Papers. [Im Folgenden: CP/Band/Paragraph] 60 Charles Sanders Peirce, Guessing, in: The Hound and Horn 2 (1929), S. 267282. Zum abduktiven Schlussverfahren in der Kriminalliteratur von Poe über Doyle bis hin zu Dashiell Hammett siehe: Eco/Sebeok (Hg.), The Sign of Three. Jo Reichertz, »… als hätte jemand den Deckel vom Leben abgehoben.« Gemeinsames zwischen Sam Spade und Ch. S. Peirce, in: Kodikas/Ars Semeiotica 11 (1988), H. 3/4, S. 347-361.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Um dies mit der syllogistischen Falllogik auszudrücken: Während man bei der Deduktion von der Regel über den Fall auf das Resultat schließt, schließt man bei der Induktion vom Fall über das Resultat auf die Regel. Die Abduktion hingegen imaginiert eine vorläufige Regel, um angesichts eines vorliegenden Resultats auf den Fall zu schließen. Sie schließt eine Wette darauf ab, ob die privilegierte Hypothese den Tatbestand erklären kann, und sie versucht dies, indem sie die Hypothese einer Überprüfung unterzieht. Neue Forschungserkenntnisse können nach Peirce allein durch abduktive Schlussverfahren, nicht jedoch durch Deduktion und Induktion erlangt werden: »Abduction seeks a theory. Induction seeks for facts. In abduction the consideration of the fact suggests a hypothesis. In induction the study of the hypothesis suggests the experiments which bring to light the very facts to which the hypothesis has pointed.« [CP 7.218] Trotz allem bleibt die Abduktion ein äußerst risikoreiches Schlussverfahren: »abduction is, after all, nothing but guessing«. [CP 7.219] Damit unterscheidet sich auch der Wahrheitswert der unterschiedlichen Schlussverfahren. Während die Deduktion notwendig wahre Schlüsse liefert und die Induktion wahrscheinliche, besteht der Wahrheitswert der Abduktion allein in der Möglichkeit, eher wahr als falsch zu sein. Die Erklärung eines fremden Phänomens wird nun jedoch nicht als völlig neu entdeckt, sondern sie beruht darauf, das Vor- und Erfahrungswissen derart neu zusammenzustellen, wie dies noch nicht der Fall war. Den Erkenntnisprozess begreift Peirce insofern als triadisches Prinzip. Die Abduktion liefert zu Beginn einer Untersuchung eine Hypothese, die aus der Menge möglicher Erklärungen am plausibelsten erscheint. Die Deduktion folgert im zweiten Zug aus dieser Hypothese, was der Fall sein müsste, und die Induktion prüft letztlich, ob dies auch der Fall ist. So testet die Induktion eine aus abduktiven Hypothesen abgeleitete Theorie. Dieses triadische Konzept kann als eine hermeneutische, spiralförmige Denkbewegung verstanden werden und zeigt, wie neues Wissen generiert wird. Es ist geeignet, Collingwoods Frage-und-Antwort-Logik und die von ihm mit Vehemenz betonte schlussfolgernde Tätigkeit des wissenschaftlichen Historikers in Einklang zu bringen. Collingwoods anscheinend paradoxe Analyse, dass das Erkennen der Vergangenheit einerseits indizienbasiert sei und ohne direkte Bestätigung bleibe, andererseits quellenbasiert zu nahezu logischer Gewissheit führe, trifft sich mit Formulierungen von Peirce, die den Charakter abduktiven Schließens verdeutlichen sollen: »It must be remembered that abduction, although it is very little hampered by logical rules, nevertheless is logical inference, asserting its conclusion only problematically or conjecturally, it is true, but nevertheless having a perfectly definite logical form.« [CP 5.188]

Diese abduktive Logik der Ahndungen, Überraschungen und Entdeckungen – das was andernorts in der hermeneutischen Tradition als Divinations- oder Kombinationsgabe beschrieben wird – versucht das Phänomen der Kreativität und die Fähigkeit zur Hypothese und zur Interpretation in die Systematik der Schlussfolgerungsarten einzufügen. Die Abduktion ist »the only logical operation which introduces a new idea«. [CP 5.171] 238

Geschichtstheorie im golden age of crime

Was das Theorem der Abduktion zu vermitteln vermag, ist eine »Befreiung und Bezähmung der Kreativität« 61 von interpretativen Verfahren. Befreiend sind abduktive Interpretationen, weil man sich grundsätzlich die Welt erraten muss: »although the possible explanations of our facts may be strictly innumerable, yet our mind will be able, in some finite numbers of guesses, to guess the sole true explanation of them.« [CP 7.219] Mit abduktiven Schlüssen sucht man nach der plausibelsten Hypothese, die eine Menge vorliegender Daten erklärt. Diese Hypothese muss nur vorläufig akzeptiert werden, denn sobald eine neue Theorie abduktiv erschlossen werden kann, die geeigneter ist, komplexe Tatsachenbestände zu erklären, kann sie verworfen werden. Gezähmt wird diese Imaginationskraft dadurch, dass die Interpretationen durch nachfolgende deduktive und induktive Prüfungsverfahren intersubjektiv verifizierbar werden. 62 Damit ist aber noch nicht erklärt, wie man im Erkenntnisprozess das Vorwissen in einer neuen und kreativen Art neu anordnet und dadurch zu einem neuen Verständnis des Unerwarteten, Fremden und Besonderen kommt. Peirce deutet dies anthropologisch, wenn er von »Einsicht« und »Instinkt« spricht, andernorts psychologisch, wenn er von existentiellen Bedrängnissen spricht, die zu abduktiven Schlussfolgerungen, zu abduktiven »Blitzen« veranlassen. 63 Die Divinations-, Kombinations- und Interpretationsgabe ist so »ein Erraten und Vermuten vor dem Hintergrund geschichtlich erworbener Kompetenz«. 64 Carlo Ginzburg hat sich im Rahmen seiner These vom wissenschaftsübergreifenden Indizienparadigma auch auf das abduktive Schlussverfahren berufen, von dem er sich erhoffte, dass es die »sterile Trennung von rational oder irrational« überwinden könne. 65 Anders als in den Sozialwissenschaften hat der Begriff der Abduktion als Beschreibung des historischen Verstehensprozesses in den Geschichtswissenschaften kaum Resonanz entfaltet. Dies liegt unter anderem daran, dass mit dem Begriff »ein heimlicher, aber beharrlicher

61 Susanne Rohr, The Abduction from Seraglio …. Darstellung von Verstehensund Interpretationsprozessen auf Grundlage der Abduktionslogik Charles S. Peirces, in: Kodikas/Ars Semeiotica 12 (1989), H. 3/4, S. 245-259; hier S. 256. 62 Ebd. 63 CP 5.173 u. CP 5.181. Vgl. auch unten, Kapitel II, 3.4, die erwähnte Bemerkung Droysens über das »peinliche Gedränge«, wenn man »ohne allen Anhalt« auf etwas schließen müsse; ebenso seine Bemerkung, dass »auf dem Weg der Hypothese die glänzendsten Entdeckungen« gemacht worden seien. 64 Daube-Schackat, Schleiermachers Divinationstheorem und Peirce’s Theorie der Abduktion, S. 274. Dagegen steht freilich Collingwoods Bemerkung, dass die historische Interpretation gerade kein »Raten« bzw. »Vermuten« (»guesswork«) sei. In seiner detektivischen Fabel ist jedoch beides anzutreffen, allein die Erklärung eines historischen Phänomens, die »eine Antwort auf die Frage geben muss, nach der seine Beweisstücke verlangen«, geht auf diese Vorstufen der Erkenntnis dann nicht mehr ein. Vgl. Collingwood, Denken, S. 128. 65 Ginzburg, Spurensicherung, S. 125.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Positivismus verbunden ist« 66, der sich deshalb schwer in ein nicht-nomologisches Wissenschaftsverständnis der Historie einfügen lässt. Gerade im Rahmen hermeneutischer, aber auch sozialhistorischer Geschichtstheorien ist meist die Bedeutung der Vorurteilsstrukturen, die in jedes historische Urteil eingehen, stets hervorgehoben worden. Diese schützen vor den Reduktionismen, die mit einer Fokussierung auf ein historisches Schlussfolgern bzw. auf eine rational argumentierende Geschichtsschreibung verbunden sind. 67 Dennoch könnte es auch für die Geschichtswissenschaft interessant sein, mit der Peirce’schen Theorie der Abduktion den Prozess historischer Interpretationen näher zu beleuchten. Denn mit ihr könnte man aus einer pragmatischanalytischen Perspektive zeigen, dass die Relativität historischer Interpretationen auf theoretische Metakonzeptionen angewiesen bleibt. 68 2.8 D IE R HETORIK

DES

D ETEKTIVROMANS

Collingwood erkennt zwar im universe of clues des Detektivromans eine heuristische Fiktion, in der die Grundlagen jedes Interpretations- und Verstehensprozesses enthalten sind, ist sich aber gleichzeitig der Unterschiede zwischen detektivischer Ermittlung und historiographischer Praxis bewusst. Ohne Zweifel ist das detektivische Finale dabei das Vorbild für Collingwoods Frage-und-Antwort-Logik. Auch wenn der Leser von Detektivromanen die Auflösung des Falles meist akzeptieren wird, führt doch die Künstlichkeit des Finales, in der es zu einer überraschenden Neuanordnung der aus Spuren gewonnenen Fakten kommt, dazu, dass der Leser die Stringenz und Plausibilität der Herleitung in Frage zu stellen vermag. Dabei entkommt er nicht jenen Reduktionismen, die mit der Vorstellung verbunden sind, dass sich die historiographische Rekonstruktion wie ein kriminalistischer Fall mit eindeutiger Täterschaft verhält. Vor dem Hintergrund des klassischen Detektivromans tendieren Collingwoods Ausführungen dazu, den Forschungsprozess als lösbare Rätselgeschichte zu verstehen. Ebenso gerät vor dem Hintergrund der Detektivliteratur jene wertbezogene Vorurteilsstruktur aus dem Blick, die mit jeder Schlussfolgerung verbunden ist. Hier scheint die oft kritisierte Ausblendung des gesellschaftlichen Horizontes, aber auch die nicht vorhandene Selbstreflexion der Ermittler im Detektivroman des golden age of crime ihre Spuren in den geschichtsmethodologischen Ausführungen Collingwoods hinterlassen zu haben. Dass der rationalisierende Charakter des Detektivromans nicht ohne Konsequenzen bleibt, erfasste schon die exzentrische Beobachterin Miss Marple mit ihrer »starken Phantasie«, die »von jedem das Schlechteste« vermutet. Beiläufig äußert sie über

66 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1973, S. 173. 67 Untersuchenswert wäre die Bedeutung der Vorurteilsstrukturen bei abduktiven Schlussfolgerungen: So wäre beispielsweise danach zu fragen, warum Peirce in seinem Bericht, wie er den Dieb einer gestohlenen Uhr überführt, den Täter allein im Kreis der »schwarzen« Besatzungsmitglieder des Schiffes vermutet. 68 Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtsschreibung, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10-28.

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Geschichtstheorie im golden age of crime

den jungen Neffen des Pfarrers in The Murder at the Vicarage, der wie alle Protagonisten vorübergehend in die Rolle des Detektivs wie des Verdächtigen schlüpft: »You don’t take tragedies seriously at that age. It’s all Sherlock Holmes and Arsène Lupin to you.« 69 Die klassische Detektivgeschichte macht den Mord zum Fall und hat kein Gespür für Leid, Schicksal und Tragödien. Die spurensuchende, argumentierende Detektion ist auf diese Weise ebenso ein Mittel, existentiellen Fragen auszuweichen, wie auch ein Mittel, diese distanziert zu verarbeiten. Für die Geschichtsschreibung ist von Theodor Lessing Ähnliches festgehalten worden, wenn er von der »Vergemütlichung« der Vergangenheit durch den Duktus und die Zwänge der Wissenschaft sprach. 70 Collingwood bezeichnete die geschichtswissenschaftliche Arbeit dementsprechend als »cold-blooded business« [IH 404], als unterkühlt-rationale detektivische Analyse. So bleibt zu fragen, wie sich die kriminalistische Sichtweise in Collingwoods Interpretation historischer Tatbestände einschreibt und welche Konsequenzen dies für historiographische Darstellungen haben kann. Unter den Kritikern von Collingwoods Analogie vom Historiker als Detektiv fallen jene auf, die seine Detektivgeschichte als »verfehlt« vereinfachende Beschreibung der historiographischen Praxis diskreditieren oder aber betonen, dass damit die Geschichtsschreibung an einen Ort gelange, der »dangerously close to fantasy or fiction« sei. 71 Ausgangspunkt dieser Kritik sind meist Collingwoods Ausführungen zur historischen Einbildungskraft. Doch Collingwood weist mehrfach darauf hin, dass die historische Einbildungskraft nicht mit »willkürlicher Phantasie« oder dichterischen Erfindungen des historischen Romanciers verwechselt werden dürfe. Trotzdem zieht er Parallelen zwischen dem Romanund dem Geschichtsschreiber: »The resemblance between the historian and the novelist […] her reaches its culmination. Each of them makes it his business to construct a picture which is partly a narrative of events, partly a description of situations, exhibition of motives, analysis of characters. Each aims at making his picture a coherent whole, where every character and every situation is so bound up with the rest that this character in this situation cannot but act this way, and we cannot imagine him as acting otherwise. The novel and the history must both of them make sense; nothing is admissible in either except what is necessary, and the judge of this necessity is in both cases the imagination. Both the novel and the history are self-explanatory, self-justifying, the product of an

69 Christie, The Murder at the Vicarage, S. 99. 70 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen [1919], München 1983, S. 156. Selbstverständlich fragt es sich, ob nicht jede andere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem menschlichen Leben und Sterben den hier geforderten existentialistischen Zugang zum Tod vermeidet. Die Geschichtsschreibung nimmt insofern nur eine Sonderstellung ein, als sie als erzählende Wissenschaft von lebensnahen Geschichten handelt. 71 Gordon S. Couse, Neglected Implications of R. G. Collingwood’s Attack on »Scissors and Paste History«, in: Historical Papers 7 (1972), H. 1, S. 23-38; hier S. 35. C. A. J. Coady, Collingwood and Historical Testimony, in: Philosophy 59 (1975), S. 409-424, hier S. 420.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker autonomous or self-authorizing activity; and in both cases this activity is the a priori imagination.« [IH 245f]

Der Unterschied zwischen Literatur und Geschichtsschreibung besteht für Collingwood allerdings darin, dass Historiker für ihre Vorstellungsbilder einen Wirklichkeitsbezug und einen Wahrheitsanspruch einfordern. Dies erreichen sie, indem drei »methodische Regeln« befolgt werden müssen, von denen Romanautoren prinzipiell befreit seien: Die Vorstellungsbilder sind erstens immer an einen historisch bestimmten Ort und eine historisch bestimmte Zeit gebunden. Zweitens gehen Historiker davon aus, dass die Geschichte ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt, in dem alle Tatsachen in einer ortsgebundenen und zeitlichen Relation zueinander stehen. Dagegen evozieren Romane jeweils eigene Welten, die nicht miteinander korrespondieren müssen. 72 Die dritte und wichtigste Regel besteht in der Relation des Vorstellungsbildes zum historischen Zeugnis (evidence). Eine historische Feststellung oder Hypothese im Rahmen eines konstruierten Vergangenheitsbildes muss mit dem Quellenmaterial in Einklang gebracht werden können. Eine »Wahrheit«, die sich nicht auf diese Weise erhärten ließe, sei für den Historiker ohne Interesse. [vgl. IH 246] Die Geschichtsschreibung zeichnet also eine ständige Verweisstruktur zwischen historischer Argumentation und den ihr zugrunde liegenden Dokumenten auf. Dies bedeutet aber nicht, dass sich jede historische Feststellung direkt aus den Dokumenten ergibt. Vielmehr sind sie anhand von Spuren entwickelte Interpretationen, die durch die historische Einbildungskraft als ein sinnvoller Zusammenhang konstruiert werden. Historische Interpretationen sind also von der Plausibilität ihrer Herleitung abhängig. Auch wenn Collingwood es vermeidet, von den traditionellen Methoden der historisch-kritischen Forschung wie äußere und innere Quellenkritik als Frage nach der Echtheit und Richtigkeit der Dokumente zu sprechen, sind sie doch in die Rekonstruktion eines vergangenen Geschehens eingebunden. Sie werden jedoch nicht allein dazu genutzt, um Aussagen als wahr oder falsch zu kategorisieren oder etwa »historische Tatsachen« zu ermitteln. Vielmehr dient ein methodisch geschultes Vorgehen dazu, die richtigen Fragen zu stellen, aus denen sich dann überzeugende, weil eingehend geprüfte Zusammenhänge erschließen lassen. Eine Entscheidung darüber, welche von zwei sich widersprechenden Aussagen als beweisführend anzusehen ist, kann nach Collingwood allein im Kontext der Frage getroffen werden. Erst wenn eine Aussage, verstanden als 72 Collingwoods Argumentation geht davon aus, dass verschiedene historische Darstellungen einer Epoche immer einen gemeinsamen Nenner (gleiche Charaktere; gleiche Daten historischer Ereignisse) haben, auch wenn sie unterschiedliche Interpretationen liefern. Diese Beschränkung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner unterschiedlicher historischer Interpretationen verhindert ohne Zweifel eine eingehendere Beschäftigung mit der Frage, ob nicht auch historische Erzählungen ihre eigenen narrativen und analytischen Welten entfalten. Zudem ist fraglich, ob literarisch erzeugte Welten wirklich keinen gemeinsamen Bezugspunkt haben: Literaturhistoriker und Literaturtheoretiker versuchen ja gerade, Gemeinsamkeiten literarischer Gattungen und Epochen herauszuarbeiten.

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Geschichtstheorie im golden age of crime

Antwort auf eine Frage, in den durch die historische Einbildungskraft erschaffenen Kontext schlüssig eingebunden werden kann, ergibt sich eine evidente Argumentation. Der Begriff der historischen Einbildungskraft bezeichnet also eine imaginative und gleichzeitig spurenbezogene Syntheseleistung, die logisch strukturiert ist. 73 Das detektivische, retrospektive Modell schließt von den Auswirkungen einer Handlung auf einen motivierten Tathergang. Damit verfährt die Argumentation retrospektiv-teleologisch, insofern Motivationen und Begründungen erst durch ihr Resultat erschlossen werden können. Die von Collingwood hervorgehobene, nahezu »mathematische« Evidenz der historischen Rekonstruktion wirkt vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Detektivliteratur verständlich, doch bietet sie gleichzeitig Anlass zu gravierenden Missverständnissen – da der Detektivroman das Problem der Relationalität historischer Interpretationen offensichtlich ausklammert. Eines der wiederkehrenden Elemente des Kriminalromans des golden age of crime ist, dass sich das gesamte involvierte Personal am Schluss versammelt. Alle Beteiligten haben ein Geheimnis – denn nicht die ganze Wahrheit erzählen zu wollen oder zu können, gehört zum Repertoire des Detektivromans. Das individuelle Anliegen des Einzelnen, sich nicht einem Verdacht auszusetzen, führt geradewegs zur Verdächtigung durch die ermittelnde Gesellschaft, vom Detektiv über die Nebenfiguren bis zum Leser. Durch die »experimentelle Methode« wird die Aufklärung des Falles dann als die einzig mögliche Interpretation der faktischen Indizien vorgestellt. Die fehlende Konsequenz bei der schlussfolgernden Aufklärung, ein gegenüber Agatha Christie wiederholt vorgebrachter Kritikpunkt, lässt sich damit motivieren, dass die Struktur der Erzählung dreigeteilt ist. Denn nach dem auslösenden Mord – »dem Problem« – werden die Chronologie des Tatherganges und alle möglichen Beweggründe in verwirrenden narrativen Sequenzen zusammengestellt, schließlich folgt am Schluss die aufklärende Interpretation der im Forschungsprozess beobachteten Indizien, wodurch eine bisweilen willkürlich wirkende Neuordnung des Puzzles vorgenommen wird. Gerade für die Romane von Agatha Christie gilt, dass sie keineswegs einer kontinuierlich voranschreitenden Argumentation entsprechen. Dadurch entsteht vor dem Schlusskapitel der Eindruck, dass nicht nur jeder der Täter sein kann, sondern dass auch prinzipiell jedem der Mord angehängt werden könnte. Zwar stützt sich die Interpretation auf die Indizien, aber es bleibt doch immer der Verdacht, dass eine ganz andere Aufklärung ebenso logisch hätte vorgeführt werden können. Von detektivischen Geschichtserzählungen bzw. von »untersuchenden Darstellungen« im Sinne Droysens kann man immer dann sprechen, wenn der Prozess des argumentativen Hypothesenbildens, die Logik von Frage und Antwort bzw. die Spekulation und Mutmaßung anhand guter Gründe in den Text eingebracht werden. Collingwoods eigene Geschichtsschreibung entfal73 Collingwood lehnt damit ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsmodell ab und favorisiert ein kohärenztheoretisches, welches in seiner argumentativen Frage-und-Antwort-Logik zum Ausdruck kommt. Vgl. Russell, Logic, Philosophy, and History, S. 149-153.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

tet immer wieder eine solche detektivische Narration, die bei den Fachrezensenten jedoch auf Widerspruch stieß, wie eine Kritik an Collingwoods Roman Britain and English Settlements (1939) zeigt: »Mr. Collingwood has adopted a personal and subjective attitude to history […] it admits no compromise. He interpolates motives, builds characters, constructs episodes with a liberality or even licence that is great fun, but is liable to shock the pedant. Fact and speculation stand shoulder to shoulder.« 74

Collingwoods Geschichtsschreibung ist gerade dann von einem imaginativen Vorgehen geprägt, wenn es um die Motive historischer Ereignisse und deren Begründung geht. Die Grenze zwischen imaginativer Freiheit und stichhaltiger argumentativer Interpretation ist nicht immer klar zu ziehen, seine Interpretationen sind bisweilen weit entfernt vom vorhandenen Material, seine Generalisierungen erscheinen bisweilen unkritisch und sind in ihrer Konsequenz oftmals nur deshalb aufrechtzuerhalten, weil er alternative Hypothesen nicht angemessen würdigt. 75 Collingwood übersetzt also die Logik von Frage und Antwort in narrative Frage-und-Antwort-Sequenzen, in eine Rhetorik des Suchens und Findens, bei welcher der so in Gang gesetzte Nachvollzug der Vergangenheit sowohl spürbare Interpretationsfreiheiten als auch rhetorische Überzeugungskraft entfaltet. In seinen Studien zum Hadrianswall argumentiert Collingwood immer auf einer empirischen Basis. Dabei ist bemerkenswert, dass Collingwood den Grenzwall nicht primär als militärische Verteidigungsanlage sieht, sondern als einen Bau »in the nature of a police work […] to keep out raiders and reivers«. 76 Neben der argumentativen Begründung – der Wall wurde nachweislich nur selten zur militärischen Verteidigung und deshalb wohl eher für »wirtschaftspolitische« Zwecke genutzt – kann man hier sehen, wie ein Historiker, der sich in seiner Theoriebildung von den Vorstellungswelten von Scotland Yard und Detektivromanen inspirieren lässt, polizeiliches Wissen in seine Interpretation integriert. Als sich für Collingwood eine seiner im For74 R. E. M. Wheeler, Review of R. G. Collingwood and J. Myres, Roman Britain and the English Settlements, in: Journal of Roman Studies 29 (1939), S. 8793; hier 87f. Der Kritik folgend: Ian Holder, Of Mice and Men. Collingwood and the Development of Archaeological Thought, in: Boucher/Connelly/ Momood (Hg.), Philosophy, History and Civilisation, S. 364-383; S. 375. 75 Vgl. Holder, Of Mice and Men, S. 380. 76 Siehe Robin G. Collingwood, Hadrian’s Wall: 1921-30, in: Journal of Roman Studies 21 (1931), S. 36-64; hier S. 62. Collingwood sah in seiner Beschäftigung mit dem Hadrianswall einen Modellfall von »experimental work« und »evidence and interpretation«. Dass der römische Wall in die Zeit Hadrians zu datieren ist, war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts umstritten und konnte in Ergänzung zur bruchstückhaften historischen Überlieferung nur durch archäologische und numismatische Funde überzeugend nachgewiesen werden. Zur Diskussion von Collingwoods historischen Arbeiten siehe auch: Gordon S. Couse, Collingwood’s Detective Image of the Historian and the Study of Hadrian’s Wall, in: History and Theory 29 (1990), No. 4, Beiheft 29: Reassessing Collingwood, S. 57-77. Browning, A Baconian Revolution, S. 330-363.

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schungsprozess entworfenen Teilhypothesen anhand von archäologischen Funden bestätigte, schrieb er an einen Kollegen: »I feel like some personage at a desk in Scotland Yard, hearing that a murderer, wanted for close to 30 years, has been caught at last.« 77 Vergangenes Geschehen wird dabei im gedanklichen Nachvollzug in eine Erzählung transformiert, deren Akteure als »dramatis personae« begriffen werden. Collingwood beschreibt so den fiktiven Fall einer Siedlung namens »Highbury«, bei dem nach archäologischen Grabungen die Funde zunächst in einer chronologischen Reihenfolge systematisiert werden, um dann über die zeitliche Analyse materieller Spurenveränderungen auf Pläne, Ziele, Absichten, Handlungen, Gewohnheiten und Sitten von handelnden Akteuren zu schließen: »As a chronologer, the archaeologist differs in no point of method from the geologist. But he is also an historian; that is, the events to which he argues are events in the thought of his dramatis personae, and the evidence from which he argues to these events are not mere ›finds‹, classified and recorded, but finds which show him, if he can ›read‹ them, how the people whose activities bequeathed them to him were thinking.« [PH 77]

Das Spurenlesen führt also zu einem imaginativen emplotment und einer Dramatisierung, die sich auch in der Geschichtserzählung abbildet. Im Gang einer detektivischen, logisch nach Frage und Antwort organisierten Narration nutzt Collingwood den Einsatz von hypothetischen Fragen, das Abwägen der bisherigen Forschung in der Form von ausgewählten, systematisch angeordneten Teilergebnissen, um von dort aus erneut Fragen aufzuwerfen. Dass er dabei bisweilen mit starken Kontrastierungen arbeitete, zeigt das Ende eines Forschungsüberblicks: In der Geschichte gebe es »not chaos, but order and intelligibility. […] It is only by determined attempt to make sense of a collection of historical data which at first seem nonsense, that we can discover whether we are right, as historians, to assume that the real is rational and the rational real, or whether the story of human affairs is ›a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.‹« 78 Die Rationalität der Geschichte und des historischen Denkens beweist sich hier, indem sie gegen die Worte von Macbeth ausgespielt wird. Der Historiker transformiert die zu Beweisen geronnenen Spuren in Geschichten einer Sprache, mit der er selbst vertraut ist. 79 Diese rationalisierende historische Semantik entspringt bei Collingwood nicht zuletzt der Detektivgeschichte des golden age of crime.

77 Letter to Simpson, 10 July 1934; zitiert nach: van der Dussen, History as a Science, S. 443. 78 Collingwood, Hadrian’s Wall, S. 63. 79 Vgl. PH 66: »Every item in the evidence leading to this detailed conclusion is not simply a perceptible object seen, classified, recorded, photographed, plotted and drawn by the archaeologist and his staff; it is doubtless all this, but it is also (and this is what makes it evidence) an object ›read‹ by him as a piece of language, that is, something expressing the thought of the men in whom he is interested in.«

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3 Einwände und Übergänge Collingwoods geschichtsmethodologische Überlegungen haben eine vielstimmige Rezeption und Kritik erfahren. Seine Ausführungen zum historiographischen Forschungsprozess und zur »Logik von Frage und Antwort« haben die geschichtstheoretische Reflexion insbesondere im Zuge des Problems intentionaler Erklärungen herausgefordert, die selbst eine auffällige Nähe zu kriminalistischen Erkenntnismodellen beibehalten. Zu den frühen und interessantesten Kritikern des detektivischen Geschichtsverständnisses Collingwoods gehört hingegen Siegfried Kracauer, der mit seinem zwischen 1922 und 1925 entstandenen, aber erst 1971 veröffentlichten Essay Der DetektivRoman (1925) als früher Kritiker des Detektivromans gelten muss. In seinem unvollendet gebliebenen Spätwerk Geschichte. Vor den letzten Dingen äußert Kracauer mit Bezug auf Collingwood sein Unbehagen an der rationalisierenden Erkenntnistheorie des Detektivromans und ihrer Übertragung auf die Geschichtstheorie. 1 Diese Kritik der detektivischen Ratio resultiert nicht zuletzt aus der einseitigen Befragung in einem imaginierten Verhör und dem Stellenwert, der damit der Gegenwart über die Vergangenheit zugewiesen wird. In der hermeneutischen Tradition versucht dann Hans Georg Gadamer diese kriminalistische Befragung im Gespräch zwischen dem Interpreten und der Tradition aufzulösen. Ein solches quasi therapeutisches Gespräch von Gegenwart und Vergangenheit findet sich aber auch in einem klassischen Detektivroman des golden age of crime, der für das Subgenre des historischen Kriminalromans stilbildend wirkte: Josephine Teys The Daughter of Time aus dem Jahr 1951, ein histor’y mystr’y, der eine Kritik der akademischen Geschichtsschreibung in Form einer fiktionalen detektivischen Untersuchung bietet. 3.1 S IEGFRIED K RACAUERS U NBEHAGEN

AN DER RATIO DES

D ETEKTIVS

Siegfried Kracauers Verdikt gegenüber allzu »scharfgeschliffenen Abstraktionen« 2 der philosophischen Geschichtstheorie traf auch Collingwood, mit dem Kracauer eine geschichtstheoretische Position verband, die im Anschluss an Benedetto Croce das Gegenwartsinteresse und das moralische Engagement in den Vordergrund stellt. Für Kracauer ist Collingwood nicht mehr als ein Schüler Croces, den er auf pointierte Äußerungen wie »Ge1

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Siegfried Kracauer, Der Detektiv-Roman, Frankfurt/M. 1979. Siegfried Kracauer, Geschichte. Vor den letzten Dingen (=Schriften; Bd. 4), Frankfurt/M. 1971. Um die Veränderungen innerhalb der Geschichte der Historiographie aufzuzeigen, nutzt Kracauer hier, wie Collingwood, eine Metapher: die Fotografie. Kracauer greift in seiner Auseinandersetzung mit den Geschichtswissenschaften auf theoretische Äußerungen von Historikern wie Ranke, Droysen, Bloch, Lovejoy, Hexter und Namier zurück, weil er annahm, das diese näher an der historiographischen Forschungspraxis seien als Collingwood. Kracauer berücksichtigte dabei nicht, dass auch Collingwoods Ausführungen durch dessen archäologische und historische Forschungen erfahrungsgesättigt waren. Kracauer, Geschichte. Vor den letzten Dingen, S. 79.

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schichte ist Zeitgeschichte« und »nur das Interesse am Leben der Gegenwart [kann] dazu bewegen […], vergangene Fakten aufzuspüren«, reduziert. 3 Ohne den Begriff des re-enactment einer genauen Würdigung zu unterziehen, behauptet Kracauer, dass der Historiker nach Collingwood nicht mehr in der Lage sei, sich in die Vergangenheit hineinzuversetzen und zu hören, was ihm seine Quellen sagen wollen, da alles, was von der Vergangenheit zu ihm dringe »im Lärm derzeitigen Geschreis untergehe«. 4 Dagegen will Kracauer die »Reise« des Historikers in die Vergangenheit ernst nehmen, seine Fähigkeit, der Vergangenheit ansichtig zu werden und sich zwischen den Zeitebenen frei zu bewegen. Die Reise in die Vergangenheit sei keine »Hin- und Rückfahrt«, deren Ausgangs- und Endpunkt die Gegenwart ist, so Kracauer.5 Kracauers vehementer Einspruch gegen eine zu starke Gegenwartsorientierung des Historikers und sein Plädoyer für ein Sich-Einlassen auf die überlieferte Vergangenheit beruhen nicht zuletzt auf dem Argument, dass die Geschichtsschreibung ein wichtiges Korrektiv verlieren würde, wenn sie das Engagement des Historikers in den Mittelpunkt stellt. Kracauer hält Collingwoods »Modell Poirot« die Erkenntnispraxis eines anderen Krimidetektivs entgegen, ohne sich jedoch wirklich auf ein detektivisches Verständnis der Geschichtswissenschaften einzulassen. Kracauers Kandidat also ist Oberinspektor Arnold Pike aus Murder Gone Mad von Philip MacDonald, der es ablehnt, sich allein auf seine grauen Zellen zu verlassen: »Ich versuche nur, Tatsachen zusammenzutragen, gleich ob es scheint, sie hätten etwas mit dem Fall zu tun, oder nicht. Habe ich dann lange und zäh genug gegraben, bringe ich vielleicht plötzlich etwas ans Licht, was bei mir einzuhaken scheint und ein gutes Sprungbrett zum Weiterdenken wird.« 6 Statt Poirots rationalem Kalkül – über den Stellenwert von Einbildungskraft und Intuition lässt sich hier nichts sagen – favorisiert Kracauer die empirische und induktiv vorgehende Detailsuche Arnold Pikes. Kracauer kommt so zu dem Schluss, dass es »mehr als eine Sorte Detektive« gebe und dass Collingwood gut daran getan hätte, mehr Kriminalromane zu lesen. 7 Dabei unterstellt er Collingwood ebenso wie Christies literarischen Helden Hercule Poirot und Miss Marple einen »gebieterischen Gleichmut« und eine »Verach-

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Benedetto Croce, History. Its Theory and Praxis, New York 1960, S. 12 u. 19. Zitiert nach Kracauer, Vor den letzten Dingen, S. 67. Kracauer bezieht sich in seiner Beurteilung Collingwoods vor allem auf: Leo Strauss, On Collingwood’s Philosophy of History, in: The Review of Metaphysics 5 (1952), No. 4, S. 559-586; hier S. 583. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik von E. H. Carr, der mit der Position Collingwoods einen »totalen Skeptizismus« verband, der zu der relativistischen und pragmatistischen Überzeugung führe, dass »Geschichte ist, was der Historiker macht«. Vgl. Edward Hallet Carr, Was ist Geschichte? [zuerst: 1961], 6. Aufl., Stuttgart 1981, S. 26. Kracauer, Geschichte. Vor den letzten Dingen, S. 87. Ebd., S. 80f. Auch hier stimmt Kracauer mit Carr überein, für den »ein fortwährender Prozeß der Wechselwirkung zwischen dem Historiker und seinen Fakten ein unendlicher Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit« ist. Siehe: Carr, Was ist Geschichte?, S. 30. Kracauer, Geschichte. Vor den letzten Dingen, S. 73. Ebd., S. 73f.

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tung« gegenüber den Tatsachen. 8 Diese ungerechtfertigte Kritik, die verkennt, dass es Collingwood um den Prozess der historischen Forschung ging, die ihrerseits immer spuren- und sachverhaltsbezogen argumentiert, kann gleichwohl als ein später Affekt aufgrund von Kracauers eigener KrimiLektüre gedeutet werden. Denn für Kracauer hält der Detektivroman »einer entwirklichten Gesellschaft und ihre[n] substanzlosen Marionetten« den Spiegel vor, indem er die Idee einer von der autonomen ratio beherrschten Gesellschaft konsequent zu Ende denkt und eine »Stilisierung der eindimensionalen Unwirklichkeit« betreibt. 9 Das Personal des Detektivromans setze sich aus »Konfigurationen unverbundener Seelenpartikel zusammen, die dem der ratio frei konstruierten Handlungsverlauf erst nachträglich angepasst werden.« 10 Das Seelische sei eine »Notstütze isolierter Aktionen«, die innerhalb einer »assoziative[n] Psychologie« als »errechenbare Komplexe« erscheinen. Das existenzhaltige Individuelle werde im Kriminalroman ausgeschaltet, das Individuum auf einen Typus reduziert. Neben die »Pseudo-Existenz« der Individuen im Detektivroman gesellte sich jedoch noch ein »Pseudo-Logos«. Im Detektiv des klassischen Zeitalters sah Kracauer den »entspannten Darsteller der ratio«, die – als absolut gesetztes Prinzip – einen »Spannungsschwund zwischen der Welt und ihren Bedingungen« hervorrufe. Der Detektiv verkörpere eine gottgleiche, magisch wirkende autonome Rationalität; er sei derjenige, der »das Gestaltete enträtselt, ohne es gefasst zu haben«, und der durch die »intellektuelle Ableitung« aller Wesenszüge zum »Lenker« der Geschichte werde. 11 Anstatt aus dem »Gang der Geschicke« Handlungen zu bezeugen, zu wandeln und zu wägen, kenne der Detektivroman nur »Pseudo-Menschen« als »Fertigfabrikate«, deren Bewegungsgesetze dem Detektiv als Konstrukteur der Welt bekannt seien. Dem »welterzeugenden Prinzip« der Rationalität bescheinigte Kracauer, dass es »den intellektuellen Prozeß bei dem Nichts anheben lasse«: Das zu lösende Problem nehme seinen Ausgang von einem »versächlichten Befund«, der schon von vornherein so beschaffen sei, dass der intellektuellen Bewältigung nichts im Wege stehe. Ob Mord, Einbruch oder Verschwinden, der Detektivroman reduziere die zu interpretierende Welt auf eine »punktuelle Begebenheit, die aus den der ratio unfasslichen gesamtmenschlichen Zusammenhängen gerissen« sei. 12 Im Detektivroman gehe es letztlich nicht um die Aufklärung eines Verbrechens, vielmehr geschehe das Verbrechen, um der Entfremdung von der Welt durch »den Zusammenhang des Mannigfaltigen« entgegenzuwirken. So sei der Schluss einer jeden Detektiverzählung, aus der die ratio als Siegerin hervorgehe, »sentimental«: »Lösungen, die keine sind, werden zum Schluss eingeführt, um den Himmel, den es nicht gibt, auf die Erde zu zwingen.« 13 Kracauer gestand in seiner dialektischen und phänomenologischen Lektüre des Detektivromans der Gattung und ihrem Protagonisten immerhin die 8 9 10 11 12 13

Ebd., S. 78. Kracauer, Der Detektiv-Roman, S. 22f. Ebd., S. 30. Ebd., S. 51ff. Ebd., S. 101f. Ebd., S. 122f.

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Kraft der Enthüllung dessen zu, was die »verblendete ratio nicht sehen kann: wie wenig ihre angemaßte Göttlichkeit in der Wirklichkeit verschlägt«. Die Lektüre eines Kriminalromans vermag also einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen, der sichtbar macht, wie der Logos die Gesellschaft durchrationalisiert und zur Entfremdung des Individuums führt. Deshalb konnte Kracauer in Geschichte. Vor den letzten Dingen den Detektivroman nur sehr widerwillig als Projektionsfläche der Historiographie annehmen. Die Analogie vom Historiker als Detektiv überzeugte ihn nicht, da für ihn der Detektiv in seiner wirklichkeitsverzerrenden Rationalität und in seiner transzendentalen Abgehobenheit von einem falschen Pathos der Aufklärung umgeben war. Dem schlussfolgernden Rationalismus stellte er einen auf die Dinge angewiesenen, dennoch subjektiven Zugang zur Historie entgegen, der stärker der existenzialen Seite der Metaphorik der Spur verpflichtet war. 3.2 D ETEKTIVISCHE B EFRAGUNG

UND HERMENEUTISCHES

G ESPRÄCH

Während sich mit Siegfried Kracauer vor allem Vorbehalte gegenüber den rationalisierenden Tendenzen des detektivischen Modells und seiner Übertragung auf die geschichtswissenschaftliche Praxis formulieren lassen, löst sich in der hermeneutischen Tradition in Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode die Konzeption der detektivischen Befragung und des Verhörs in der heuristischen Fiktion des Gespräches auf. 14 Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Collingwood verwarf Gadamer die hypertrophe Betonung logischer Schlussfolgerungen im Spiel von Frage und Antwort. Er kehrte deren Beziehung um, indem er den historischen Text die Frage an den Rezipienten der Gegenwart stellen lässt: Am Anfang steht nun die Frage, die vom überlieferten Text ausgeht, das Betroffensein von dem Wort der Überlieferung. Das Überlieferte – Text, Werk und Spur – spricht uns an, »stellt selbst eine Frage und damit unser Meinen ins Offene«. Um die gestellten Fragen zu rekonstruieren, müssen die Gefragten selbst Fragen stellen. Erst jetzt versucht der Interpret, Antworten auf die im Text gestellten Fragen zu finden: »Zum wirklichen Verstehen gehört, die Begriffe einer historischen Vergangenheit so wiederzugewinnen, daß sie zugleich unser eignes Begreifen mit enthalten.« Verstehen bedeute, die Frage zu verstehen, auf die der Text eine Antwort gibt. Darüber geht Gadamer noch hinaus, wenn er feststellt, dass die Rekonstruktion der Frage eines historischen Textes in unser eigenes Fragen eingeht. 15 Gadamer geht von der »grundsätzlichen Unabschließbarkeit des Sinnhorizontes« aus. Aus der Wirkungsgeschichte eines Textes (bzw. eines historischen Ereignisses) ergibt sich, dass sich das Überlieferte in immer neuen Bedeutungsaspekten darstellt. Jede erneute Aktualisierung von historischem Wissen bedeute insofern auch, dass ein vergangenes Geschehen in ein »ech-

14 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. Gadamer hat sich sowohl für die Übersetzung von Collingwoods philosophischer Autobiographie – für die er den Titel »Denken« vorschlug und die von ihm mit einem Vorwort eingeleitet wurde – als auch für die Übersetzung von The Idea of History eingesetzt. 15 Ebd., S. 356.

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tes Geschehen« einbezogen werde, was er als »das wirkungsgeschichtliche Moment innerhalb der hermeneutischen Erfahrung« bezeichnet: »Es liegt in der geschichtlichen Endlichkeit unseres Daseins, daß wir uns dessen bewußt sind, daß andere anders verstehen werden. Gleichwohl ist es für unsere hermeneutische Erfahrung ebenso unzweifelhaft, dass es dasselbe Werk bleibt, dessen Sinnfülle sich im Wandel des Verstehens beweist, wie es dieselbe Geschichte ist, deren Bedeutung sich fortgesetzt weiterbestimmt.« 16 Einen Standpunkt und eine »Identität des Problems« 17 außerhalb der Geschichte gebe es nicht, da damit die unhintergehbare Historizität der Fragestellungen nicht berücksichtigt werde. Zwar sei ohne die Wiedererkenntnis eines einst Bekannten kein Verstehen möglich, doch trete man dabei nicht aus der Geschichtsgebundenheit des eigenen Erkennens heraus. Die bei Collingwood entwickelte Logik von Frage und Antwort deutet Gadamer nun als dialektisches Gespräch zwischen Freunden: »Zwar redet ein Text nicht so zu uns wie ein Du. Wir, die Verstehenden, müssen ihn von uns aus erst zum Reden bringen. Aber es hatte sich gezeigt, daß ein solches verstehendes Zum-Reden-Bringen kein beliebiger Einsatz aus eigenem Ursprung ist, sondern selber wieder als Frage auf die im Text gegenwärtige Antwort bezogen ist. Die Gegenwärtigung einer Antwort setzt selber schon voraus, daß der Fragende von der Überlieferung erreicht und aufgerufen ist. Das ist die Wahrheit des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins. Es ist das geschichtlich erfahrene Bewusstsein, das, indem es dem Phantom einer völligen Aufklärung entsagt, eben damit für die Erfahrung der Geschichte offen ist. Seine Vollzugsweise beschrieben wir als die Verschmelzung der Horizonte des Verstehens, die zwischen Text und Interpreten vermittelt.« 18

Das Verstehen ist als kommunikativer Prozess nicht die Rekonstruktion einer ursprünglichen Bedeutung, sondern eine Verschmelzung der Sinnhorizonte. Aus dem Verstehensprozess resultiert damit sowohl ein Neuverständnis eines Textes als auch ein neues Selbstverständnis, indem der Interpret seine eigene Vorurteilsstruktur ins Spiel bringt und diese selbstreflexiv im Abgleich mit der Tradition in Frage stellen kann. Statt im Zuge von Frage und Antwort von Logik oder Evidenz zu sprechen, betont Gadamer zudem, dass es aus einer hermeneutischen Perspektive darum gehe, »daß die Wahrheitsmöglichkeit in der Schwebe bleibt«. Dieses »In-die-Schwebe-bringen ist das eigene und ursprüngliche Wesen des Fragens« und »das Fragen ein Erproben von Möglichkeiten«. 19 Verstehen ist also »mehr als ein Nachvollzug einer fremden Meinung«, wie Gadamer in Bezug auf Collingwoods re-enactment-Begriff ausführt, der jedoch – wie oben beschrieben – stärker die eigene Erfahrung des Interpreten beim Verstehen eines historischen Problems ins Spiel bringt, als Gadamer dies wohl bei Collingwood erkannt hat. 20 Gadamers Ablehnung des re-enactment-Begriffs be16 17 18 19 20

Ebd., S. 379. Ebd., S. 381. Ebd., S. 359. Ebd., S. 357. Gadamer betrachtet Collingwoods re-enactment-Begriff äußerst kritisch und gibt zu, dass er bei der Interpretation des Begriffes an die Grenzen seines Verständnisses stoße. Denn der re-enactment-Begriff vermeide zwar die

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gründet sich auch daraus, dass er sich gegen das in der hermeneutischen Theorietradition verbreitete Konzept der Divinationsgabe, des Hineinversetzens in das Objekt der Erkenntnis bzw. der Antizipation von Sinn wendet. Die Überbrückung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis beruht bei Gadamer so letztlich auf der »Wirkungsgeschichte«. Dieses Aufgenommensein in der Geschichte lässt sich seiner Ansicht nach nicht aufheben. Hier zeigt sich eine ambivalente Haltung Gadamers, da im Rahmen des »wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins« das Gesprächsmodell aufgeweicht wird und die Autorität der Tradition rehabilitiert wird. 21 So kann das Modell des Gesprächs als eine anti-kriminalistische Variante des hermeneutischen Verstehens begriffen werden. Aus der Befragung der Zeugen, die immer auch Verdächtige sind, ergibt sich nun eine Situation, in der die Überlieferung die Fragen mitstellt und des verständniswilligen Historikers nicht mehr bedurft wird. Gadamers Hermeneutik nimmt Abschied von einer Konzeption, die auf die Folter der Quellen, auf die heuristische Fiktion des Verhörs oder aber auf die detektivisch fragende Analytik Collingwoods setzt. Verortet man Gadamers Vorstellung vom hermeneutischen Gespräch zeitgeschichtlich vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus und der Folterzellen der Gestapo, wird dies durchaus verständlich. Doch erscheint das Werk 1960 in einer Bundesrepublik, in der mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 nur widerwillig die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen begonnen wird: Während die wenigen aufklärungswilligen Juristen auf die Befragung von Zeugen und das Verhören von Beschuldigten angewiesen blieben – wenn nicht gar die Zeugen verhört und die Beschuldigten befragt wurden – und Eichmanns Vernehmung in Jerusalem Hannah Arendt 1963 in Eichmann in Jerusalem dazu veranlasste, von der »Banalität des Bösen« zu sprechen, beschränkt sich die Hermeneutik Gadamers auf die Interpretation von Texten und sinniert über das Gespräch unter Partnern. Gadamers Fokus auf eine Texthermeneutik, aber auch seine Abneigung gegenüber gerichtsförmigen Befragungssituationen, hat wohl dazu geführt, dass sein Werk innerhalb der Geschichtswissenschaften selten rezipiert worden ist. So bleiben die zentralen Metaphern für die Selbstreflexion historiographischer Wahrheitssuche das aufzuklärende Verbrechen, die Kriminalistik und die justizielle Praxis. Aus der Vielzahl von Beispielen, denen man in diesem Zusammenhang im historiographischen Diskurs begegnet, seien hier abschließend zwei hervorgehoben, wobei die Frage ausgeblendet werden muss, ob nicht etwa dekonstruktivistische, narratologische oder aber diskursanalytische Ansätze in den Geschichtswissenschaften das detektivische Modell der Historiographie nachhaltig in eine Krise gebracht haben.

Partikularität der Psychologie, binde jedoch die Interpretation an Absichten. Die Dimension der hermeneutischen Vermittlung, die bei jedem Verstehen durchschritten werde, entgehe ihm jedoch. Vgl. ebd., S. 485ff. 21 Hertha Nagl-Docekal, Die Objektivität der Geschichtswissenschaft. Systematische Studien zum wissenschaftlichen Status der Historie, Wien u. München 1982; hier S. 162-197.

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So verzichtet etwa Chris Lorenz in seiner aus sozialhistorischer Perspektive geschriebenen Überblicksdarstellung moderner geschichtswissenschaftlicher Theorien nicht auf den Zugriff auf das kriminalistische Modell: Max Webers Analytik sozialwissenschaftlicher Kausalzusammenhänge wird am Beispiel eines Banküberfalls erläutert, bei dem die Gangster leer ausgehen; die positivistische Auffassung der historischen Erklärung wird anhand eines Flugzeugabsturzes verdeutlicht; und William Drays Erklärungsmodell rationaler Handlungen wird mit Hilfe eines tödlichen Pistolenschusses veranschaulicht, wobei die Frage offen bleibt, ob es sich um einen Mord oder um Totschlag handelt. 22 Gerade innerhalb der traditionellen Ereignisgeschichte bleibt die Nähe von Historik und Kriminalistik, aber auch von Historiographie und Kriminalliteratur signifikant. So schreibt der Althistoriker Alexander Demandt in einer Reflexion über Das Attentat in der Geschichte, das auf der »Grenze zwischen Politik und Kriminalität« liege, dass hier »sensationelle Geschichte«, »historia in nuce«, »Geschichte auf des Messers Schneide serviert« werde. 23 Das Attentat erfülle mit der Einheit von Ort, Zeit und Handlung die aristotelischen Forderungen an den Stoff eines guten Dramas und biete eine »klassische Klarheit«: »Es gibt zwei Hauptrollen, eine aktive und eine passive, und mehrere Nebenrollen. Der Ablauf der Handlung ist klar gegliedert. Sie kulminiert in einem Höhepunkt, einem Stich, einem Schuß, einer Explosion. Alles führt darauf hin, alles geht davon aus. Das kaum weniger aufregende Nachspiel beginnt sofort: die Verfolgung, die Verhaftung, das Verfahren vor Gericht. Die kriminalistische Ermittlung leitet die historische Forschung ein, diese setzt jene fort. Wo sonst gehen Leben und Wissenschaft, Praxis und Theorie so nahtlos ineinander über?«24

3.3 K RITIK DER G ESCHICHTSSCHREIBUNG IN J OSEPHINE T EYS T HE D AUGHTER OF T IME Unter den klassischen britischen Detektivromanen ist Josephine Teys Roman The Daughter of Time (1951) vielleicht die konsequenteste Übersetzung des zeitgenössischen detektivischen Geschichtsverständnisses in das Schema des golden age of crime. Inspektor Alan Grant von Scotland Yard ermittelt in einem Fall, in dem es um nichts weniger als die Wahrheit geht, die – in Anspielung an ein doppelsinniges, Francis Bacon zugeschriebenes Wort – eine »Tochter der Zeit« sei. 25 Der Fall handelt von dem vermeintlichen Oberschurken der englischen Geschichte, Richard von Gloucester, dem späteren Richard III. und Letzten der Plantagenet. Der ungeklärte Fall, den Grant wieder aufnimmt, datiert aus den Jahren 1483 bis 1485 und fällt in die Endphase der »Rosenkriege«, in denen die Familien der Herzöge von York und Lan22 Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, S. 134. 23 Alexander Demandt (Hg.), Das Attentat in der Geschichte, München 1996, S. 450 u. 462. 24 Ebd., S. 460. 25 Josephine Tey [d. i. Elizabeth MacKintosh], The Daughter of Time, Reading: Arrow 2002. [zuerst 1951; im Folgenden DT]

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caster um die englische Königskrone kämpfen. Im April 1483 stirbt Edward IV., und seine Söhne Edward V. (1470-1483?) und Richard von York (14731483?) geraten unter die Vormundschaft von Richard von Gloucester, der sie in den Tower bringen und alsbald zu illegitimen Nachfolgern auf dem Königsthron erklären lässt, um seine eigene Krönung zu arrangieren. Wenig später verschwinden die beiden Prinzen aus dem Blick der Öffentlichkeit und Gerüchte machen die Runde, sie seien ermordet worden. Grant, der im darauf folgenden Roman von Rheumatismus und klaustrophobischen Ängsten geplagt sein wird, ist bei diesem Fall ans Bett gefesselt, da er sich auf der Verbrecherjagd ein Bein gebrochen hat. So hat er Zeit, sich in einen Stapel Unterhaltungsliteratur zu vertiefen: Ein amerikanischer Gangsterroman kann ihn nur wenig beeindrucken – »very remarkably bunk« –, und in einem weiteren Detektivroman entdeckt er sofort kriminalistische Verfahrensfehler. Die Langeweile im Krankenhaus führt zu ungeahnten Einsichten in die Mechanismen des Literaturbetriebs: Die Neuerscheinungen des Unterhaltungsgeschäfts, sinniert der Inspektor von Scotland Yard, werden weniger nach ihrem Inhalt als vielmehr danach beurteilt, ob es sich um ein neues Buch von einem Erfolgsautor handelt. Alan Grant – Kriminalist und Literaturkritiker im Krankenhausbett – fragt sich, ob zeitgenössische Autoren gezwungen seien, nur noch formula stories anzubieten, die mit patterns aufwarten, die ihr Publikum erwarte. Es ist zum Topos geworden, die Authentizität eines Kriminalromans dadurch zu behaupten, eine Figur als Kritikerin des Genres auftreten zu lassen. Damit wird die Erzählung dem Genre unterstellt und gleichzeitig das Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit in Gang gesetzt. Diese ironische Reflexion des Genres steigert hier zudem die Erwartung, ob und wie die story es schaffen wird, das Kriminalschema zu modifizieren. Rhetorisch geschickt wird von Tey gleich zu Beginn darauf hingewiesen, dass der Leser sein Augenmerk einerseits auf die vom Roman vorgebrachte historische These, andererseits aber auch auf die Konstruktionsprinzipien der formula story lenken kann. Im Folgenden steht nicht die erste, faktenorientierte Lesart im Vordergrund, sondern die Konstruktionsweise des historischen Mordrätsels. Josephine Teys The Daugther of Time ist als ein Roman bezeichnet worden, der ein neues Subgenre begründet habe: den hyst’ry myst’ry. 26 Ein solcher historischer Rätselroman sollte demzufolge ein der Geschichte entnommenes Problem bzw. eine wissenschaftliche Fragestellung innerhalb eines fiktionalen Detektivplots lösen und sich dabei an wissenschaftliche Kriterien halten, das heißt an Wahrheitstreue und die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur. Im hyst’ry myst’ry dürfe der Detektiv keine Lösung erfinden, sondern er habe eine Lösung zu entdecken, die auch im Rahmen der Wissenschaften diskutiert werden könne. Es kommt hier also zur Identifizierung der detektivischen Fiktion mit der expositorischen Form einer Erörterung, wodurch die feinen Unterschiede zwischen detektivischer Narration in der Fiktion einerseits und der Historiographie andererseits konsequent außer Acht gelassen werden. 26 David Allen, Richard III: Trial by Jury. A New Novel Brings the Controversy Back to Life and Launches a New Subgenre, in: Armchair Detective 20 (1987), H. 4, S. 403-411.

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Die Konstruktionsweise des Romans lässt sich am besten nachvollziehen, wenn man sich den Umgang der detektivischen Narration mit der historiographischen Forschung vergegenwärtigt. Deshalb erscheint es notwendig, einen kurzen Überblick über die historiographische Forschung und populäre Darstellung Richards III. zu geben. Die »traditionalistische« Sicht auf die Regentschaft Richards III. bildet sich heraus, nachdem Heinrich VII. nach der Schlacht von Bosworth die Tudors an die Macht gebracht hat. In der Folgezeit entwickelt sich das Bild eines grausamen Richards III., der nicht davor zurückschreckt, seine ihm anvertrauten Neffen umzubringen, um die Krone zu erlangen. So führt schon Thomas More Richard III. 1513 in The History of King Richard III. als blutrünstigen und seelisch wie körperlich monströsen Tyrannen in die Historiographie ein. Seine Beschreibung ist drastisch: Mit den Füßen zuerst und mit ausgebildeten Zähnen auf die Welt gekommen, ist der körperlich deformierte Richard III. das inkarnierte Böse und in seiner teuflischen Heuchelei ein Ungeheuer. More bezichtigt Richard III. der eigenhändigen Ermordung König Heinrichs und neben weiteren Morden der maßgeblichen Mitwirkung bei dem Mord an den Prinzen. Mores lebendige und rhythmisierte Darstellung integriert nach antikem Vorbild Reden und Dialoge der historischen Personen und ist ihrerseits ein Meisterwerk humanistischer Geschichtsschreibung bzw. das »erste Stück moderner englischer Prosa«. 27 Der italienische Humanist Polydore Vergil sorgt dann im Auftrag von Heinrich VII. für die Propagierung jener Tudor-Ideologie, nach der Heinrich als Retter der englischen Nation auf den Plan der Geschichte tritt, für Frieden und Wohlstand sorgt und die beiden »Rosen« vereinigt. Weitere Historiker des 16. Jahrhunderts sollten diesem Bild im Wesentlichen folgen. 28 Seinen Status als eine der großen Schurkenfiguren der Weltgeschichte verdankt Richard III. dann jedoch William Shakespeare, der in seinem Königsdrama The Tragedy of Richard the Third (1593/95) den Titelhelden zum Prototyp des politischen Verbrechers macht, monströs und abstoßend, aber auch – da das Böse hier vor allem ein geistiges Phänomen ist und auf der Pervertierung von Tugenden der Beherrschung, Beredsamkeit und Menschenkenntnis beruht – von machiavellistischdämonischer Anziehungskraft. Der »revisionistische« Blick auf die Person Richards III., den Inspektor Grant im Roman entwerfen wird, hat Vorläufer in der Geschichtsschreibung: 1646 taucht eine erste, von Sir George Buck verfasste Verteidigungsschrift Richards III. auf. 1768 ist es der Landschaftsarchitekt, Schriftsteller und Begründer der gothic novel Horace Walpole, der in seinen Historic Doubts Richard III. von allen Vorwürfen und Anschuldigungen freispricht. Als einer der führenden Vertreter des Pyrrhonismus nimmt Walpole eine rhetorisch äußerst versierte Kritik an der Tudor-Geschichtsschreibung vor, wobei der Ausgangspunkt der Argumentation ist, dass es keine Quellenzeugnisse gibt, 27 Paul Murray Kendall, Richard III, London 1955, S. 457f. Kendall stellt zur Ehrenrettung von More die These auf, dass die Dämonisierung Richards III. vorrangig der humanistischen Kritik an der ungerechten Herrschaft Heinrichs VII. diente. 28 Zum Bild Richards III. in der Historiographie siehe: Alec R. Myers, Richard III and the Historical Tradition, in: History 53 (1968), S. 181-202. Kendall, Richard III, insb. S. 454-468.

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die eindeutig darauf schließen lassen, dass Richard III. seine Neffen ermorden ließ. Erst die Jahrzehnte später einsetzende Tudor-Geschichtsschreibung habe Richard III. für den Mord an den Söhnen Edwards IV. verantwortlich gemacht. Im Zeichen des Positivismus verschärft sich im 19. Jahrhundert die Debatte zwischen Revisionisten und Traditionalisten. Etablierte Historiker wie John Lingard und James Gairdner widmen sich dem Quellenproblem und gelangen zu der Auffassung, dass mit Heinrich VII. eine gewaltsame Epoche der englischen Geschichte abgeschlossen worden sei. Sir Clements Markham – seines Zeichens Geograph und Präsident der Royal Geographic Society, der sich für britische Polarexpeditionen einsetzte und nebenher als Autor historischer Sachbücher hervortat – stärkt Ende des 19. Jahrhunderts dann wieder den revisionistischen Blick auf Richard III. in einem Werk, das sich fast ausschließlich dem angeblichen Auftragsmord an den beiden Prinzen widmet. Schließlich bemüht sich seit den 1920er Jahren die von einem Liverpooler Chirurgen gegründete Richard III. Society um ein positives Bild Richard III. Doch 1936 werden neue »Beweise« ausgegraben: Bei einer forensischen Untersuchung von Knochenmaterial, das man den beiden Prinzen zuschreibt, kommen die ermittelnden Forensiker zu dem Ergebnis, dass die Knochenund Zahnüberreste auf genau jenes Alter schließen lassen, das die jungen Prinzen im Jahre 1483 erreicht hatten. Unverzüglich werden Gegengutachten verfasst, die eine derart genaue Datierung der Knochenüberreste in Frage stellen, zumal es keine Sicherheit darüber gibt, ob es sich tatsächlich um die Gebeine der Prinzen handelt. Kurz nachdem Herbert Butterfield mit seinem Buch The Whig Interpretation of History eine bedeutende Kritik der britischen Geschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts geliefert hat, ist es in den 1940er Jahren E. M. W. Tillyard, der in seinen Studien über Shakespeare vom »Tudor-Mythos« spricht. 29 Dem Tudor-Mythos zufolge demonstrieren die Kämpfe zwischen beiden »Rosen« einen jener Kreisläufe von Schuld und Sühne, Sündenfall und Erlösung, die dem humanistischen Verständnis der Menschheitsgeschichte entsprechen. Die Heimsuchung durch das Böse gipfelt in der Herrschaft Richards III. und sie endet nach Gottes Heilsplan mit der Restauration der Ordnung durch das Haus Tudor, das die feindlichen Rosen vereint und die Nation befriedet. Das Königshaus habe dabei durch legitimierende Auftragswerke sowie durch die Vernichtung und Fälschung von Dokumenten an der Verbreitung dieses Geschichtsbildes nach Kräften mitgewirkt. 30 Kurze Zeit nachdem The Daughter of Time herauskam, veröffentlichte der amerikanische Historiker Paul Murray Kendall nach mehrjähriger Forschungsarbeit eine Biographie über Richard III. Der Frage, ob man Richard den Mord an den Prinzen nachweisen könne, widmete er einen Exkurs, der auch Josephine Teys Roman erwähnt. Aufgrund der lückenhaften Quellenla29 Eustace Mandeville Wetenhall Tillyard, Shakespeare’s History Plays, London 1956 (zuerst 1944), hier S. 29-58. Ders., The English Renaissance. Fact Or Fiction?, New York 1968 (zuerst 1952). Zur Diskussion vgl.: F. Smith Fussner, Tudor History and the Historians, New York 1970, S. 228ff. Siehe dazu: Ulrich Suerbaum, Das Elisabethanische Zeitalter, Stuttgart 1989, S. 41ff. 30 Vgl. Kendall, Richard III, S. 459.

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ge bleibe die Möglichkeit bestehen, dass sowohl Richard III. als auch sein Gefolgsmann – Henry Stafford, Duke of Buckingham – die Auftraggeber eines Mordes gewesen sein könnten. Wegen der schlechten Beweislage sei jedoch letztlich kein Urteil zu fällen.31 Zudem sprach Kendall, der in seiner Argumentation auf die forensische Analyse des Gerichtsmediziners von 1933 setzte, Heinrich VII. vom Mordverdacht frei. Damit regte Kendall noch einmal eine »great debate« über die Bewertung Richards III. an. 32 Diese »große Debatte« erfuhr eine medienwirksame Fortsetzung. Im britischen Fernsehen fand 1984 ein sogenannter »mock trial« statt, der ein Urteil darüber fällen sollte, ob Richard III. die beiden Prinzen im Tower umbringen ließ oder nicht. 33 Aufgrund der dünnen Quellenlage führte diese »Gerichtsverhandlung« zum Freispruch Richards. Doch selbstverständlich konnte dies alles nicht dazu führen, den Fall zu den Akten zu legen. So kam Alison Weir in ihrem populärwissenschaftlichen Buch The Princes of the Tower zu dem

31 Vgl. ebd., S. 453: »Die verfügbaren Quellen lassen keine endgültige Lösung zu. […] Das Problem weist mehr Schattierungen auf, als sie die SchwarzWeiß-Darstellungen gegeben haben, die bisher im Schwange waren. Das Rätsel entzieht sich uns wie Hamlet: wir können den Kern des Geheimnisses nicht herausschälen, zum mindesten aber können wir Besseres tun als Rosencrantz und Güldenstern, die meinten, es gäbe überhaupt kein Geheimnis.« Der Historiker löst hier also nicht mehr das Geheimnis, sondern erzählt von historisch bedeutsamen Rätseln. Gleiches dann auch bei: Michael Hicks, Richard III. The Man Behind the Myth, London 1991. Michael Hicks führt vor, wie aus einem konstruktivistisch-relativistischen Blickwinkel eine historiographische Verrätselung mit samt ihrer »Auflösung« aussehen kann. Dies zeigen seine Kapitelüberschriften: Introduction – The Nature of Politics – The Making of the Man – The Making of the King – The Making of the Tyrant – The Making of the Monster – The Man behind the Myth. Ein Unterkapitel baut Hicks nach dem Modell des Gerichtsverfahrens auf: »The Crime of Usurpation« ist unterteilt in: »The Case for the Prosecution« – »The Star Witness« – »The Case for the Defense« – »The Contemporary Verdict Cross Examination« – »The Verdict of History«. 32 Kendall, Richard III, S. 455-474, insbesondere S. 464: Hier zeigt sich, dass Kendall gegenüber den forensischen Gutachtern den größten Respekt hatte. Ders. (Hg.), Richard III: The Great Debate: Sir Thomas More’s History of King Richard III and Horace Walpole’s Historic Doubts on the Life and Reign of King Richard III, New York 1965. 33 Richard Drewett/Mark Redhead, The Trial of Richard III, Gloucester 1985. In den Jahren 1996 und 1997 organisierten amerikanische Jurafakultäten nochmals solche »mock trials«, die zu demselben Ergebnis führen sollten. Allein einer der von den amerikanischen Juristen ausgewählten »Richter« gab zu bedenken, dass die Gerüchte und die anschließende Geschichtsschreibung – insbesondere die Schrift von Thomas More – vermutlich nicht ohne Grund entstanden seien und dass man sich deshalb auf das Wissen der Zeitgenossen verlassen müsse, auch wenn sie erst Jahre später ihre Berichte verfasst hätten.

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Schluss, dass wohl doch Richard für den Tod verantwortlich zu machen sei. 34 So bleibt Richard III. ein sorgfältig erhaltenes »royal enigma«. 35 Im Ergebnis sind heute wohl die meisten Historiker davon überzeugt, dass die Frage, was mit den Prinzen im Tower geschehen ist, nicht gelöst werden kann, und dass es auch mit der Stigmatisierung Richards III. als reinem Bösewicht nicht getan ist. Die historiographische Forschung wendet sich zunehmend von einer personenorientierten Darstellung der Zeit Richards III. ab und widmet sich kultur- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen zur englischen Geschichte des 15. Jahrhundert. 36 Gänzlich auf das Projekt einer auf Indizien und Mutmaßungen beruhenden personalisierten Geschichtsschreibung zu verzichten hieße jedoch auch, einen Teil der nationalen Tradition aufzugeben. Auch Teys Roman geriet zwischen die Fronten von Traditionalisten und Revisionisten. Auf inhaltlicher Ebene handelt ihr Roman von der Rehabilitierung Richards III., wobei sie vorrangig der Argumentation von Markham folgt. Dieser Detektivroman ist insofern ungewöhnlich, als es hauptsächlich um die Entlastung einer Person und nicht um die Überführung eines Täters geht. Dabei macht Tey aus dem bad guy der Traditionalisten einen good guy der Revisionisten, aus einem vermeintlichen Kindermörder einen Mann mit ausgesprochenem Familiensinn. Da sie das Lösungsparadigma des klassischen Detektivromans nicht aufgeben will, versieht sie Heinrich VII. mit dem Stigma eines skrupellosen Herrschers. So wurde ihr etwa vorgeworfen, dem Publikum wichtige Fakten vorenthalten zu haben 37 sowie die Entlastung Richards III. nicht auf der Basis der textimmanenten Fakten, sondern mit rhetorischen Strategien zu betreiben. Das Buch sei deshalb ein Lehrstück politischer Propagandistik. 38 Diese Kritiken spielten die historischen bzw. im Text dargebotenen Fakten gegen eine detektivisch-historische Untersuchung aus. Die rein inhaltliche und auf rhetorische Fragen konzentrierte Kritik soll hier nicht weiter verfolgt werden. Wichtiger ist der formale Aufbau des Romans, der den Prozess der historischen Forschung sichtbar macht und in eine Kritik der Geschichtsschreibung mündet. Wie gelingt es nun Tey, die Akte 34 Alison Weir, The Princes of the Tower, London 1995. 35 Sean Cunningham, Richard III. A Royal Enigma, Richmond 2003. 36 Rosemary Horrox, Richard III. A Study of Service (=Cambridge studies in medieval life and thought; Ser. 4, 11), Cambridge 1989. 37 Guy M. Townsend, Richard III and Josephine Tey. Partners in Crime, in: Armchair Detective 10 (1977), No. 3, S. 211-224. Nachdem Townsend einen Artikel über Teys Roman verfasst hatte, schrieb er wenig später selbst einen Detektivroman, einen der schon erwähnten donnish mysteries, der den von Shakespeare adaptierten Titel To prove a Villain trug. Townsend parallelisiert hier die Erforschung des Falles Richards III. mit mehreren Mordfällen an einem britischen College, wobei die Opfer die Namen historischer Personen aus dem Umfeld Richards III. tragen. Guy M. Townsend, To Prove a Villain, Menlo Park: Preseverance Press 1985. Dazu auch: M. J. Smith, Controversy: Townsend, Tey and Richard III: A Rebuttal, in: Armchair Detective 10 (1977), H. 4, S. 317ff; hier S. 319. 38 Ralph Stewart, Richard III, Josephine Tey, and Some Uses of Rhetoric, in: Clues. A Journal of Detection 12 (1991), No. 1, S. 91-99; hier S. 98.

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Richard als spannenden Detektivroman zu präsentieren? Ausgangspunkt der historischen Ermittlung ist ein Portrait Richards III., in dem der physiognomisch geübte Inspektor Grant keinen Oberschurken der englischen Geschichte erkennen will. Zweitens stößt er auf die Schilderungen in einem Schulbuchs, das der Tudor-Legende maßgeblich folgt. Von hier aus vertieft Grant sich in weitere historiographische Werke der Tudorgeschichtsschreibung, in eine langatmige Verfassungsgeschichte Großbritanniens, aber auch, um den Forschungsprozess aufzulockern, in populärhistorische Werke. Der Roman benennt sein Thema als »the rewriting of history«. [DT 164] Grant verweist auf die Widersprüche in der traditionalistischen Interpretation, wobei die Kritik auf drei Elementen basiert. Er bemängelt, dass es sich bei den sogenannten Quellen nicht um Augenzeugenberichte handelt, sondern um äußerst zweifelhafte Indizienbeweise und Behauptungen, die die Chronisten und Geschichtsschreiber durch Hörensagen erfahren hätten. So bezeichnet er die Berichte, auf die sich Thomas More bezieht, als »backstairs gossip and servant’s spying«. Zum Zweiten folgt Grants Kritik der Geschichtsschreibung dem Vorbild Collingwoods – und zwar im Hinblick auf den Gegensatz von sissors and paste-Historie und einer wissenschaftlichen, detektivischen Geschichte. 39 Er weist nach, dass die Geschichtsschreibung über Richard III. im Wesentlichen den Geschichtsschreibern des 16. Jahrhunderts folgte und dabei immer wieder abgeschrieben worden sei. Drittens macht Grant das Argument stark, dass die Auftragsgeschichtsschreiber der Tudorzeit mit Richard III. einen regelrechten Geschichtsschurken aufbauen wollten, während sie die politisch motivierten Morde von Heinrich VII. oder Heinrich VIII. wohlwollend verschwiegen. Damit popularisiert der Roman die Thesen von Tillyard, der 1944 erstmals vom Tudor-Mythos gesprochen hatte. Jedoch entzieht er sich einer tieferen Erklärung jener Geschichtsschreibung, der er ganz im Sinne des Positivismus die Verfälschung historischer Fakten vorwirft. Die Popularisierung der Kritik des Tudor Myth darf auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tey ihn durch den modernitätskritischen Gegenmythos des Merry England ersetzt: 40 »For thirty years, over this green uncrowded land, the war of the Roses had been fought. But it had been more of a blood feud than a war. A Montague and Capulet affair; of no great concern to the average Englishman. No one pushed in at your door to demand whether you were York or Lancaster and to hale you off to a concentration camp if your answer proved to be the wrong one for the occasion.« [DT 39]

Hier wird die grundsätzlich eskapistische Tendenz des Detektivromans und einer historischen Forschung, die sich in der Faktizität verliert, mehr als deutlich. Das unterhaltsame Mordrätsel wird einer mörderischen Moderne und der Welt der Konzentrationslager vorgezogen. Die heilende Kraft der Ge39 So schon: Carl E. Rollyson, The Detective as Historian. Josephine Tey’s The Daughter of Time, in: Iowa State Journal of Research 53 (1978), Nr. 1, S. 2130; hier S. 22. 40 Zum Merry England-Mythos siehe: Günther Blaicher, Merry England. Zur Bedeutung und Wandel eines britischen Autostereotyps, Tübingen 2000. Patrick Wright, On Living in an Old Country. The National Past in Contemporary Britain, London 1985, S. 81-87.

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schichte entfaltet sich in den grünen Ländereien des Merry England – hier in einem Detektivroman, der in die sterile Welt der Krankenhäuser und der historischen Forschung entführt und den Verlust einer heilen, »grünen« und ländlichen Geschichte betrauert, während die Moderne als Welt der Konzentrationslager erscheint. So lässt der Roman einen im Übrigen unterhaltsamen Hagel an kritischen Vorwürfen auf die historische Forschung niedergehen, wobei Tey bisweilen über das Ziel hinausschießt, wenn etwa gerade der Ausspruch Henry Fords »History Is The Bunk«, »Geschichte ist Quatsch«, zitiert wird. [DT 159] Die Faszination für das »mathematische«, historisch-kritische Verfahren löst sich gegen Ende des Romans auf, wenn der Geschichtsschreibung vorgeworfen wird, mit Zinnsoldaten zu spielen, anstatt sich psychologisch auf die historischen Akteure einzulassen. Dies bleibt jedoch ein fadenscheiniger Vorwurf, denn gerade die klassische detektivische Rätselfiktion geht zwar von psychologisch-kriminalistischen Erfahrungsgrundsätzen aus, doch vermag sie es nicht, ein eigenes psychologisches Profil oder aber eine Analytik der Macht zu entwerfen. 41 In der detektivischen Fiktion wird die dialogische Frage-und-AntwortLogik Collingwoods in ein dreigliedriges Schema überführt. Grant wird sich nicht nur mit der Darstellung des Falles in der Literatur und den Quellen beschäftigen, sondern er pflegt auch den intensiven Gedankenaustausch mit Brent Carradine – einem amerikanischen Geschichtsstudenten, der die Rolle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters übernimmt, indem er den Inspektor nicht nur mit der nötigen Literatur versorgt und für diesen Exzerpte der Forschungsliteratur anfertigt, sondern auch geflissentlich die haarscharfen Kombinationen seines Chefs bewundert. Diese klassische Watson-Figur ermöglicht es dem Detektiv-Historiker, seine Kombinationen dialogisch und nicht als reines Gedankenspiel zu präsentieren. Der Roman erscheint so insgesamt als ein ironischer Kommentar auf universitäre Gepflogenheiten, indem er aus der Krankenstation ein historisches Institut macht, das historische Interesse als Ausgeburt der Langeweile denunziert und die metahistorische Funktion der Geschichtsschreibung ausschließlich als einen Heilungsprozess versteht. So verwundert es kaum, dass der Literatur- und Kulturhistoriker Jacques Barzun an The Daughter of Time die mangelnde action kritisierte – auch wenn er den Roman in seine Liste der besten 100 Kriminalromane aufnahm. Seine Kritik ist verständlich. Zwar verglich auch Barzun in The Modern Researcher – einer Einführung in die geisteswissenschaftliche und journalistische Forschungs- und Schreibweise – den historiographischen Forschungs-

41 Dies ist allgemeiner Konsens in der Literatur über den Detektivroman. Vgl. z. B. George Herman Coxe, Starting That Mystery Book, in: A. S. Burbank (Hg.), Writing Detective and Mystery Fiction, Boston 1967, S. 126f: »Why can’t you have a perfect puzzle and still have people acting it out? […] The trouble is that if you are intend on presenting murder problem […] you have to manipulate your characters in order to give the puzzle some credibility, and the more you manipulate these people to make them fit your murder pattern, the less real become the people.«

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prozess mit einem detektivischen Vorgehen. 42 Aber in einem Kriminalroman wollte er nicht mit dem langweiligen Gelehrtenalltag konfrontiert werden. Denn der ans Bett gefesselte Inspektor Grant, der sich von seiner ›studentischen Hilfskraft‹ Carradine mit den nötigen Quellen für seine Recherchen aus den Bibliotheken versorgen lässt, verkörpert den klassischen Lehrstuhlinhaber in eigentümlicher Realistik. Die Verrätselung des Romans basiert schließlich darauf, zunächst so zu tun, als ob Inspektor Grant als Erster auf die Fragwürdigkeiten der traditionalistischen Interpretationslinie stößt und Entlastungsargumente für Richard III. vorbringen kann. Die Nichtberücksichtigung der historiographischen Forschung führt so aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu einer Scheinermittlung von Scotland Yard. Die von Grant entwickelte Frage basiert nicht auf den Ergebnissen der Forschung, sondern auf einem Verdacht, der seine Begründung aus dem Bereich der kriminalistischen Menschenkenntnis erfährt. Tey inszeniert jedoch den Prozess der historischen Forschung als detektivische Fabel, und dabei erreicht der Roman nach wie vor Klassizität durch die selbstreflexive und ironische Wendung, die die Erzählung nimmt. So findet Carradine erst am Ende des Romans die drei Werke von Buck, Walpole und Markham, die dieselben Zweifel vorgebracht haben wie sein ProfessorInspektor. Carradine sieht mit dieser Entdeckung sein eigenes Buchprojekt gefährdet, welches sich der Revision des Geschichtsbildes Richards III. widmen soll. Doch Inspektor Grant sieht einen Ausweg und schlägt Carradine vor, ein zusammenfassendes Werk über die Historiographiegeschichte über Richard III. zu verfassen: [Carradine:] »›But it won’t bet he same, don’t you see. It won’t be a great discovery!‹ He said it in capitals. A Great Discovery. Grant smiled at him. ›Oh, come! You can’t expect to pick Great discoveries off bushes. If you can’t be a pioneer what’s wrong with leading a crusade?‹ ›A crusade?‹ ›Certainly.‹ ›Against what?‹ ›Tonypandy.‹ The boy’s ace lost its blankness. It looked suddenly amused, like someone who has just seen a joke. ›It’s the damnedest silliest name, isn’t it!‹, he remarked. ›If people have been pointed out for three hundred and fifty years that Richard didn’t murder his nephews and a schoolbook can’t still say, in words of one syllable and without qualification, that he did, then it seems to me that Tonypandy has a long lead on you. It’s time you got busy.‹« [DT 211f]

Der Reiz von Teys detektivischer Erzählung liegt mitunter darin, dass sie in dieser und anderen Wendungen Topoi der detektivischen und der historischen Prosa entlarvt. Der Text dekonstruiert in der Form der Detektivge42 Jaques Barzun/Henry F. Graff, The Modern Researcher, New York 1957. Auch: James West Davidson/Mark Hamilton Lytle, After the Fact. The Art of Historical Detection, 2. Aufl., New York 1986.

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schichte das kriminalistisch-historiographische Entdeckungsparadigma. Erkenntnis strebt nach Entdeckung, doch mit der Verbreiterung des Wissens müssen die Hypothesen und die Präsentation der Ergebnisse modifiziert werden. Der Roman zeigt, wie man durch Hypothesen das Forschungsinteresse lenkt und sich ein Forschungsfeld erarbeitet. Das Paradigma des Entdeckens löst sich jedoch auf, wenn der Forscher auf jemanden trifft, der auf die gestellte Frage schon eine Antwort hat. Tey zeigt ein re-enactment of thought im Sinne eines Nachvollzugs der Argumentationen der Historiographiegeschichte – nicht etwa eines Nachvollzugs der Erfahrungen der Vergangenheit. Und durch die Wahl der narrativen Form der Detektivgeschichte überführt sie die historische Forschung als detektivische Narration. Die Tatsache, dass Inspektor Grant auf dem Gebiet der Historie ein unbeschriebenes Blatt ist und dass der Roman nicht den Forschungsstand als Ausgangspunkt der Narration wählt, ändert grundsätzlich nichts an den Verrätselungsstrategien der historiographischen Forschung. Dazu kann man nochmals die kurz nach Tey erschienene Biographie von Paul Kendall heranziehen. Kendall – mit einem Werk über die Kunst der Biographik mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet – versucht, die Forderung Teys nach psychologischer Einfühlung in die Person Richards III. zu erfüllen. Er beklagt zunächst, dass die Geschichtsschreibung das Leben Richards III. zum »Fall« gemacht und ihn als »schwarze oder weiße Schachfigur behandelt« habe, weshalb er sich einer einseitigen moralischen Bewertung und der »Leidenschaftlichkeit solcher Beweisführungen« enthalten wolle. Kendall begegnet dem Problem, indem er dem möglichen Mord an den beiden Prinzen – aus Sicht des Biographen nur ein Detail im Leben Richards III. – wie auch der Historiographiegeschichte über Richard III. zwei Exkurse widmet. Damit gelingt es ihm, die für die biographische Erzählung erforderliche Ausgewogenheit zu gewährleisten. Doch das Interesse an Richard III. geht auch hier wie selbstverständlich von einer faszinierenden, rätselhaften Persönlichkeit aus. So ist die Verrätselung der Person die Voraussetzung für eine spannungsvolle Biographie. Dass dabei das detektivische Paradigma eine wichtige Funktion übernimmt, wird einleitend deutlich, wenn Kendall ausführt, auf die Überlieferung der Tudors weitgehend verzichten zu wollen, »soweit sie nicht zuverlässige Beweismittel bietet«, denn: »Ich habe mich bemüht, im Text wie in den Anmerkungen deutlich darauf hinzuweisen, was Tatsache oder eigene Vermutung ist, und bei Vermutungen von einiger Wichtigkeit die Gründe oder den Beleg angegeben, auf denen sie beruhen. Wie die Dinge liegen, habe ich versucht, Richards Bild aus den Tatsachen zu formen oder wenigstens so nahe an die Tatsachen heranzukommen, wie ich es vermochte. Trotzdem bleibt eine Biographie eine Sache der Auslegung, aus einer bloßen Aufzählung von Tatsachen entsteht noch kein Lebensbild, offenbart sich keine Persönlichkeit.« 43

Ebenso wie die detektivische Fiktion basiert auch die biographische Erzählung auf Mutmaßungen, die der Historiker jedoch so weit wie möglich als solche kennzeichnen sollte. 43 Kendall, Richard III, S. 5f.

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Nachdem Tey das Entdeckungsparadigma der historischen Forschung wie auch der Detektion ironisierend freigelegt hat, will sie nicht darauf verzichten, eine Lösung anzubieten. Damit fügt sie sich den Zwängen der von ihr zu Beginn des Romans angesprochenen und kritisierten Regeln der formula story. Ihr Geschichtsdetektiv zeigt, dass Heinrich VII. als Nachfolger auf dem englischen Thron gute Gründe gehabt habe, die beiden jungen Thronfolger zu beseitigen, und zu guter Letzt findet Grant in der historischen Literatur noch den Hinweis, dass es zu den Grundsätzen der Politik der Tudors gehört habe, sich aller Thronrivalen zu entledigen, die beim Regierungsantritt Heinrichs VII. noch am Leben gewesen seien. Ohne hier noch einmal die quellenkritischen Fragen zu stellen (selbstverständlich gibt es auch hier keine direkten Beweise), zeigt sich Grant vor allem über den moralischen Zustand der Historiographie entrüstet, die »wholesale murder« und »family elimination« [DT 221] einfach hinnehme. So endet der Roman mit dem Stoßseufzer: »Grant gave up. History was something that he would never understand. The values of historians differed so radically from the values with which he was acquainted that he could never hope to meet them on any common ground. He would go back to the Yard, where murderers are murderers and what went for Cox went equally for Box.« [DT 221]

Mit der Verzweiflung an der akademischen Geschichtsschreibung wird ein Topos des historischen Kriminalromans eingeführt, der den vermeintlich interesselosen kritischen Kriminalisten gegen den interpretierenden und interessegeleiteten Historiker ausspielt. Doch gleichzeitig wird damit ein Grundproblem des Detektivs als Historiker und einer detektivisch-historischen Fiktion deutlich: In der detektivischen Fiktion findet der geführte Indizienbeweis meist seine Bestätigung, wenn der Beschuldigte mit der Hypothese des Detektivs konfrontiert wird, schließlich Zeugnis ablegt und seine Schuld eingesteht. Wie Collingwood richtig bemerkte, ist eine solchermaßen restlose Aufklärung in der Geschichtsschreibung grundsätzlich nicht möglich. Diese setzt den Indizienbeweis nicht nur zur Verifizierung eines Tatbestandes ein, sondern macht ihn immer auch zum Instrument von Interpretationen, die über den reinen Tatbestand hinausgehen. So bleibt auch der Titel der Erzählung doppeldeutig, der eine Formulierung aus dem Novum Organum von Francis Bacon – an dessen wissenschaftstheoretische Überlegungen wie gezeigt auch die theoretischen Reflexionen von Droysen wie von Collingwood anschließen – aufgreift. 44 Der 44 Die deutsche Übersetzung wählt den irreführenden Titel Alibi für einen König. Grant kann keineswegs ein solches für Richard liefern, allenfalls wird im Roman die These aufgestellt, dass Heinrich VII. triftigere Gründe als jener hatte, den Mord zu begehen. Zur Interpretation des Wortes »Truth is a Daughter of Time« bei Bacon vgl.: Claus Zittel, »Truth is the daughter of time«. Zum Verhältnis von Theorie der Wissenskultur, Wissensideal und Wissensordnungen bei Bacon, in: Wolfgang Detel/ders. (Hg.): Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe/Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit. Concepts, Methods, Historical Conditions and Social Impact (=Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel; Bd. 2), Berlin 2002, S. 213-235.

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Roman evoziert sowohl die relativistische als auch die evolutionistische Lesart dieses geflügelten Wortes von der Wahrheit als Tochter der Zeit: Einerseits gibt er der detektivischen Gewissheit Nahrung, nach der die Wahrheit durch kontinuierliche Forschung erlangt werden könne. Andererseits ist auch die relativistische Deutung möglich, wonach Wahrheit zeit- und kontextabhängig ist. Durch die partielle Destruktion des Entdeckungsparadigmas und die Überführung der Geschichtsschreibung als detektivische Fiktion verweist Tey darauf, wie eng historische Wahrheit an ihre narrative Repräsentation, an ihre Form und nicht nur an ihren Inhalt gebunden ist. Die metahistorische Versöhnung von Geschichtsschreibung und Kriminalliteratur wird als Heilungsprozess gedeutet, und so löst hier nicht ohne Grund ein Detektivhistoriker seinen Fall im Krankenhausbett.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman »›We’ll change history.‹«1

Mit Collingwood verschob sich die Analogie vom Historiker als Inquisitionsund Untersuchungsrichter hin zu einer Projektion, die in der literarischen Figur des Detektivs das Vorbild für die Forschungspraxis der Historiographie sieht. Collingwoods Bemerkung, dass im 20. Jahrhundert die »wissenschaftliche Methode« langsam aber sicher »den Ungebildeten« zugänglich gemacht werde und nun auch »die Kriminalschriftsteller die Handlungen ihrer Detektivgeschichten auf dieser wissenschaftlichen Methode« aufbauen, war in Bezug auf das Schreiben der Geschichte eine hellsichtige Prognose. Während sich die Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie wiederholt auf den Detektiv beruft, um ihren Wahrheitsstatus durch die im Detektivroman ständig neu erzählte Fiktion gelingender Rekonstruktion zu behaupten, wird der Kriminalroman seit dem Ende der 1970er Jahre zu einer Gattung, die sich der historischen Aufklärung widmet und zu einer populären alternativen Geschichtsdarstellung, zu einer Variante historischen Erzählens wird. Der historische Kriminalroman ist ein relativ neues, internationales Genrephänomen mit einer Vielfalt von Schauplätzen, Epochen und Ermittlertypen. Trotz vieler Vorläufer – zu denken ist an die Pitavalerzählungen ebenso wie an den hystr’y mystr’y von Josephine Tey – entsteht dieses populäre Genre erst am Ende der 1970er Jahre mit den Antike- und Mittelalterkrimis von Ellis Peters [d. i. Edith Pargeter], Margeret Doody oder Dieter Stöver, während Umberto Ecos Il nome della rosa (1980) den historischen Kriminalroman literaturfähig macht. 2 Neben diesen Detektivromanen, in denen ein Aufklärungsplot in eine blutrot und schwarz-weiß konturierte Vergangenheit verlegt wird, gibt es jedoch auch eine andere Traditionslinie des historischen Kriminalromans: Der Polit- und Agentenkrimi, der die unmittelbare Zeitgeschichte zum Thema macht. Zu dieser Spielart gehören jene Kriminalromane, die man als »NSKrimis« bezeichnen kann. Politische Systeme, in denen die Herrschaftspraxis unmittelbar mit Verbrechen verbunden ist, fordern zu einer Darstellung im Modus der Kriminalliteratur geradezu heraus. Der Übergang von einer zeitgenössischen Wahrnehmung des Faschismus als verbrecherische Politik bis hin zur retrospektiven Darstellung des Nationalsozialismus als Verbrechensgeschichte oder ihrer Aufklärung in Form einer retrospektiven Ermittlungsgeschichte ist augenscheinlich fließend.

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Robert Harris, Fatherland, London: Hutchinson 1992, S. 331. Zu den Vorläufern des Antike-Krimis siehe: Mike Ashley (Hg.), The Mammoth Book of Roman Whodunnits, London 2003, S. XIII-XIV.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Als populärhistorische Aufklärungs- und Verbrechensfiktionen gehören die im Folgenden in den Blick genommenen NS-Krimis zur »zweiten Geschichte des Nationalsozialismus«. 3 Die Kriminalromane sind ein Beitrag der Populärkultur zur Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik, denen es gelingen kann, öffentliche und geschichtswissenschaftliche Interpretationen zu popularisieren oder aber durch den detektivischen Blick eine neuartige, teils befremdende Perspektive auf die NS-Vergangenheit zu werfen. Im Vordergrund der Analyse stehen deutschsprachige Kriminalromane aus der DDR und der Bundesrepublik über den Nationalsozialismus. Hinzugezogen werden ausgewählte französisch- und englischsprachige Kriminalromane, um eine vergleichende Perspektive auf ein internationales Genre zu ermöglichen. Dabei werden jeweils unterschiedliche Plotmuster der kriminalistischen Fiktionen nachgezeichnet und vor dem Hintergrund historiographischer und öffentlicher Debatten über den Nationalsozialismus Kontinuitäten und Brüche herausgearbeitet. Der Reiz der Geschichtskrimis liegt in der Variation eines Schemas, in den wiederkehrenden Täterbildern und der sich rituell wiederholenden Aufklärungsfiktion, die einen poetologischen Eigensinn entfaltet. Der Krimi zeigt sich als ein wirkungsvolles narratives Schema, der in seiner Thematisierung der Zeitgeschichte das kollektive Gedächtnis und die Erinnerungskultur mitprägt und vorhandene Geschichtsbilder aufgreifen, stützen und verstärken kann. Doch welche Konsequenzen sind mit der Darstellung des Nationalsozialismus im Kriminalroman verbunden? Was bedeutet es, die Geschichte des Nationalsozialismus in das Kriminalgenre zu überführen und welche Deutungs- und Sinnmuster ergeben sich durch die Repräsentation des Nationalsozialismus als Kriminalroman? Zeigen diese Aufklärungsfiktionen das Bild einer »Erfolgsgeschichte« der Vergangenheitsbewältigung, oder beklagen sie eine »zweite Schuld« und Versäumnisse bei der Vergangenheitsbewältigung? Der historische Kriminalroman ist ein hybrides Genre, in dem sich Gattungsmerkmale des Kriminalromans und des historischen Romans überschneiden. 4 3

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Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, Frankfurt/M. 2004. In der literaturwissenschaftlichen Forschung findet der historische Kriminalroman – ebenso wie der an der Zeitgeschichte interessierte Politkrimi – kaum spezielle Beachtung, während in den vereinzelten Studien zum historischen Kriminalroman auffallend oft Historiker beteiligt sind. Vgl. die Beiträge in: Korte/Paletschek (Hg.), Geschichte im Krimi; Dagmar Dappert, Der historische Kriminalroman als hybrides Genre, in: Kai Brodersen (Hg.), Crimina. Die Antike im modernen Kriminalroman, Frankfurt/M. 2004, S. 127142. Jörg Fündling, Perlen vor die Säue oder Einäugige unter Blinden? Was (Alt-)Historiker an historischen Krimis reizt, in: Brodersen (Hg.), Crimina, S. 49-108; hier S. 55. Hans-Peter Schwarz, Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers, München 2006. Für den Historiker Schwarz ist der moderne Polit-Thriller »überspitzt« formuliert »Zeitgeschichte pur«: Vgl. ebd., S. 284. Browne/Kreiser (Hg.), The Detective as Historian. Die Einleitung schreibt hier der amerikanische Historiker Robin W. Winks, der auch einen Einführungsband in Theorie und Darstellung der Geschichte unter dem bezeichnenden Titel »The Historian as Detective« ver-

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

Im historischen Kriminalroman lässt sich meist ein dreiteiliges Handlungsmuster erkennen, mit dem eine historisch unspezifische, individuelle Ebene des Verbrechens mit einer historisch spezifischen, gesellschaftlichen Ebene des Verbrechens verknüpft wird: So wird zunächst der Ermittler mit einem individuellen Delikt konfrontiert, bei dessen Erforschung sich dann gesellschaftliche Hintergründe auftun. Im dritten Schritt der Erzählung werden beide Stränge zusammengeführt. 5 Das tragende Kompositionsprinzip des historischen Kriminalromans ist die Figur des Detektivs als Geschichts(v)ermittler, der in einem erweiterten Sinne als »mittelmäßiger« oder auch »mittlerer Held« im Sinne von Georg Lukacs zu charakterisieren ist. 6 Der »mittelmäßige« Held ist zunächst eine »unbedeutende« erfundene Hauptfigur, die mit historischen Figuren zusammentrifft, die im Fall der Kriminalliteratur insbesondere durch ihr verbrecherisches Handeln historisch bedeutsam geworden sind. Als mittelmäßiger Held vermittelt der Geschichtsermittler zwischen Gegenwart und Vergangenheit und fungiert als zentrale Ordnungsinstanz der Erzählung sowie der aufzuarbeitenden Geschichte. Bei den Geschichtsermittlern kann es sich um Anarchisten, Privatermittler, Volkspolizisten der DDR oder aber SS-Männer handeln. Sie werden als Sympathieträger oder aber als zwielichtige Figuren vorgeführt, die jeweils ein spezifischer Tugendkatalog charakterisiert und die als identifikatorische Größen die Nähe und Distanz zur Vergangenheit ausloten. Aus ihrem subjektiven Blickwinkel wird die Auseinandersetzung der Gesellschaft mit ihrer Geschichte, das heißt das kommunikative, kulturelle und geschichtspolitische Gedächtnis einer Erinnerungsgemeinschaft kommentiert und erfahrbar. Durch die genrebedingte Ausgestaltung der Ermittlerfigur können jedoch traditionale Effekte der Figur des mittelmäßigen Helden aufgelöst werden, denn gerade für die Ermittler des klassischen Polit- und Actionkrimis, des hardboiled-Romans und des roman noir ist Mittelmäßigkeit eine äußerst untaugliche Charaktereigenschaft. Mit der narratologischen Unterscheidung von Verbrechensgeschichte und Ermittlungsgeschichte kann vielleicht das wichtigste Merkmal genannt werden, von dem aus eine Typologie des historischen Kriminalromans auszugehen hat. Ausgehend von dem dominanten Zeitbezug, also der Gegenwarts- und Vergangenheitsorientierung der dargebotenen Aufklärungsgeschichte, bietet es sich an, vom »historischen Kriminalroman« bzw. vom »historischen Thriller« einerseits und vom »retrospektiven historischen Ermittlungsroman« andererseits zu sprechen. Der »historische Kriminalroman« verlegt die Aufklärungsgeschichte als auch die Verbrechensgeschichte konsequent in die Ver-

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fasst hat: Robin William Winks (Hg.), The Historian as Detective. Essays on Evidence, New York 1969. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: Markus Schröder, Marlow in Toga? Krimis über das alte Rom. Der historische Kriminalroman als neues Genre der Trivialliteratur am Beispiel der SPQRRomane von John Maddox Roberts, Paderborn 2001. Jennifer S. Palmer, Mysteries of the Ages. Four Millennia of Murder and Mayhem in Historical Mysteries, in: The Armchair Detective 30 (1997), S. 156-164. Vgl. Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien des Kriminalromans, hier S. 150ff. Vgl. Georg Lukács, Der historische Roman, Neuwied 1965, S. 38ff.

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gangenheit. Er bietet eine ereignis- und aktionsreiche Krimihandlung, deren plastische Verlebendigung ein imaginatives Hineinversetzen in die Vergangenheit ermöglicht. Der Held begegnet historisch verbürgten Personen, bei deren Charakterisierung und Stilisierung die Krimiautoren insbesondere genrebedingte Konventionen erfüllen müssen. Das imaginative Hineinversetzen in die Vergangenheit wird jedoch nicht nur durch das Heraufbeschwören einer vergangenen Zeit ermöglicht, sondern auch dadurch, dass Interpretationshorizonte der Gegenwart der dargestellten Vergangenheit eingeschrieben werden. Hingegen ist der dominante Zeitbezug der Aufklärungsgeschichte des »retrospektiven historischen Detektivromans« die Gegenwart oder neueste Zeitgeschichte, wobei die Ermittlungsarbeit die Ambivalenzen von Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung freilegt und in eine Vergangenheit zurückführt, die für das Verbrechen konstitutiv ist. Mit der mehrfach codierten Zeitstruktur der erzählten Geschichte haben insbesondere retrospektive historische Ermittlungsromane eine Affinität zu einer modernen Spielart des historischen Romans, dem »metahistorischen Roman«. 7 Denn ähnlich wie Detektivromane gestaltet der metahistorische Roman mindestens zwei Zeit- und Erzählebenen aus. Dabei wird auf der Gegenwartsebene ein Handlungsverlauf in szenischer und berichtender Erzählform wiedergegeben, während sich in Rückgriffen und Inversionen die zeitlich vorausliegenden Ereigniszusammenhänge ergeben. Ein Charakteristikum des metahistorischen Romans besteht darin, dass »in ihnen die Darstellung eines geschichtlichen Geschehens zugunsten von Bewusstseins- und Erinnerungsprozessen zurücktritt« und dass sie den »Vorgang des Entdeckens, Erkennens, der Aneignung, Bewältigung, Revision, Vermittlung von history« in das Zentrum der Erzählung stellen. 8 Der metahistorische Roman problematisiert die geschichtliche Überlieferung und historiographische Rekonstruktion, die im dokumentarischen oder realistischen historischen Roman weitgehend unbefragt bleiben. Dabei gewinnt der Rekonstruktionsprozess im Vergleich zu den rekonstruierten Ereignissen, die in narrativ-fiktionalisierten Sequenzen vorgeführt werden, ein höheres Maß literarischer Realität. Da Geschichte hier als Gegenstand von Reflexionen, Erinnerungen und Rekonstruktionsbemühungen der Figuren präsentiert wird, in denen Fragen der Historiographiegeschichte, der Historik als auch der Interpretation verhandelt werden können, kommt es oft zu einer Dominanz diskursiv-erörternder Darstellungsweisen. Dennoch muss es nicht dazu kommen, dass die Problematisierung des Geschichtsbewusstseins über die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Geschichte dominiert. Im retrospektiven historischen Ermittlungsroman werden sowohl Inhalte als auch die Verfahren der Historiographie thematisiert, wobei die Figur des Detektivs, der zunehmend in die Rolle des Historikers schlüpft, sich für die Plausibilität der rekonstruierten Geschichte verbürgt. Schließlich wird der dargestellte Raum im retrospektiven historischen Ermitt7

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Elisabeth Wesseling, Writing History as a Prophet. Postmodernist Innovations of the Historical Novel (=Utrecht Publications in General and Comparative Literature; Bd. 26), Amsterdam 1991, S. 90 u. 94ff. Nünning, Von historischer Fiktion, Bd.1, S. 277. Ina Schabert, Der historische Roman in England und Amerika (=Erträge der Forschung; Bd. 156), Darmstadt 1981, S. 36.

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lungsroman dazu genutzt, die Präsenz der Geschichte in der Gegenwart sinnlich zu vergegenwärtigen. Gerade der retrospektive historische Ermittlungsroman hat eine Affinität, neue Themen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu präsentieren. Insofern kann diese Form auch als »revisionistischer« 9 Kriminalroman bezeichnet werden, da hier tradierte Geschichtsbilder in Frage gestellt und tabuisierte Geschichtsthemen einer kanonischen Geschichtsschreibung sowie der kulturellen Erinnerung problematisiert werden können, nicht um zuletzt eine Demystifizierung der Vergangenheit zu betreiben. Diese kritische Grundtendenz ist dabei oft Zeichen eines veränderten Geschichtsverständnisses – und so lässt sich zeigen, dass seit Beginn der 1980er Jahre die kritisch-erörternde Form des retrospektiven historischen Ermittlungsromans vermehrt genutzt wird. Hier zeigt sich zudem die »Bedeutung der Form«, die mit der Rhetorik des Entdeckens ein Schema bereitstellt, neue Sichtweisen auf die Vergangenheit einzuklagen. 10 Mit der Unterscheidung von historischen Kriminalromanen und retrospektiven historischen Ermittlungsromanen sollen freilich weitere Spielarten des Geschichtskrimis nicht unterschlagen werden. So entwirft der kontrafaktische Geschichtsthriller alternative und hypothetische Geschichtsverläufe. 11 Während ein spezifisches historisches Ereignis nicht stattfindet oder aber anders verläuft als bekannt, basiert der Großteil der aktionsreich und meist linear vorangetriebenen Erzählung auf reich gestreuten Referenzen zu historisch genau zu lokalisierenden Räumen und Ereignissen. Die Plausibilisierung dieses möglichen Geschichtsverlaufes erfolgt dabei oft durch Verweise auf und die Montage von nicht-fiktionalen Textsorten. Der kontrafaktische Geschichtsthriller verhilft Geschichtsutopien zu literarischer Wirklichkeit oder zeigt, dass trotz entscheidender Veränderung in der historischen Figuren- oder Ereigniskonstellation sich die Geschichte nicht grundlegend geändert hätte. Der kontrafaktische Geschichtsthriller pointiert so die relative Kontingenz der Geschichte, während er ebenso die Fixierung des Geschichts- und Erinnerungsdiskurses auf bestimmte historische Ereignisse und Personen kritisch beleuchten kann. In dem er eine hypothetische Geschichte erzählt, kann der

9 Vgl. Nünning, Von historischer Fiktion, Bd. 1, S. 268-276. 10 Darüber hinaus deutet der retrospektive historische Ermittlungsroman bisweilen das Potential einer »historiographischen Metafiktion« an. Die »historiographische Metafiktion« steigert nach Nünning das reflexive Potential der Geschichte darstellenden Literatur. Ihr liegt »ein Dialog mit dem Diskurs der Historiographie und der Historik« zugrunde und sucht »über literarische Darstellungsverfahren implizite Antworten auf geschichtstheoretische Fragen«. So werden beispielsweise »über die Dominanzverhältnisse zwischen den Erzählmodi und die Art der Präsentation der fiktiven Geschichte sowohl das Problem der Narrativität als auch die Frage nach der Bedeutung der Theorie, Erklärung und Erzählung in der Historiographie inszeniert.« Nünning, Von historischer Fiktion, Bd. 1, S. 323f. 11 Vgl. zu kontrafaktischen Geschichtsdarstellungen des Nationalsozialismus: Gavriel D. Rosenfeld, The World Hitler Never Made. Alternative History and the Memory of Nazism, Cambridge 2005.

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kontrafaktische Kriminalroman das Gewordensein der Gegenwart als auch spezifische Fragen der Erinnerungskulturen kritisch hinterfragen. Demgegenüber steht der dokumentarische historische Kriminalroman als einer weiteren spezifischen Form des historischen Kriminalromans in der Tradition der Pitavalgeschichten. Er schildert ein quellenmäßig belegbares geschichtliches Ereignis, dessen dominanter Zeitbezug historisch und nicht zeitgenössisch ist. Er betont die Authentizität der Darstellung mit intertextuellen Verweisen auf nicht-fiktionale Textsorten und kann seine Fiktionalität durch den Verzicht auf metafiktionale Elemente und andere Fiktionsindikatoren verschleiern. Der dokumentarische historische Roman tendiert so zu kohärenten und teleologischen Schilderungen von Handlungen, deren subjektive und psychische Dimensionen beleuchtet werden können. Andererseits kann er aber auch auf den Konstruktionscharakter des Dokumentarischen aufmerksam machen, so dass die dokumentarische Fiktion auch metahistoriographische Momente zu integrieren vermag. Die literarischen Strategien des Authentifizierens und Dokumentierens in fiktionalen historischen Narrationen stehen hier nicht im Vordergrund des Interesses und bleiben deshalb nur angedeutet. Der historische Roman ist prinzipiell auf räumliche und zeitliche Deiktika sowie auf Verweise auf belegbare historische Personen angewiesen. Neben den Paratexten, die das Spiel von Wirklichkeit und Fiktionalität des Erzählten in Gang setzen, kann das Authentifizierungsverfahren von der Einbettung nicht-fiktionaler Textsorten 12 bis zu einem Akt des Fingierens wissenschaftlicher Praktiken reichen. Eine besondere Dichte solcher Realitätsreferenzen und eine Häufung von expliziten Referenzen auf nicht-fiktionale Textsorten weisen insbesondere jene Kriminalromane auf, die mit Bernd Lenz als Factifiction charakterisiert werden können. 13 Aus den Authentifizierungsverfahren von Factifiction resultiert eine Narration, die weniger als Erfahrungsraum, sondern als faktischer Ereigniszusammenhang gedeutet wird. Diese Einholung der außertextuellen Wirklichkeit durch Zitieren, Belegen und Bezeugen führt im Rahmen populärer Darstellungen unter der Hand zu einer Betonung der Differenz von Fiktion und (vergangener) Wirklichkeit. Des Weiteren lässt sich in Factifiction wiederholt beobachten, dass derartige Verweise auf die Faktizität der Darstellung rhetorisch durch eine starke Verrätselung bzw. durch die Behauptung eines »weißen Flecks« oder einer »Black Box« des Wissens begleitet werden. Nach Karlheinz Stierle lassen sich fiktionale Welten insbesondere dort entfalten, wo »unser Wissen von der Welt lückenhaft und unsicher ist« 14, und viele der historischen Kriminalromane inszenieren diese Lücken, um darüber die Anschlussfähigkeit ihrer Darstellung an das historisch Bekannte herzustellen. Diese Verrätselung, die Betonung des Geheimnisvollen und der Lücken des Wissens sind innerhalb 12 Lämmert, Geschichten von der Geschichte, S. 250. 13 Bernd Lenz, Factifiction. Agentenspiele wie in der Realität. Wirklichkeitsanspruch und Wirklichkeitsgehalt des Agentenromans (=Anglistische Forschungen, H. 188), Heidelberg 1987; insb. S. 28-56. 14 Karlheinz Stierle, Die Fiktion als Vorstellung, als Werk und als Schema, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven (=Poetik und Hermeneutik; Bd. 10), München 1983, S. 173-182; hier S. 176.

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der Kriminalliteratur erkennbare rhetorische Strategien und Mystifizierungseffekte, um die Faktizität der Geschichte glaubhaft zu machen. Daraus entwickelt sich eine eigene Rhetorik und Dogmatik des »Informatorisch-Faktischen«. 15 Den Nationalsozialismus in der Form eines kriminalliterarischen Erzählmusters darzubieten ist kein Privileg des populären Kriminalromans, sondern Teil der populären Geschichtskultur. ZDF-Fernsehtrailer versprechen »Geschichte wie ein Krimi«, während die Redakteure als »Geschichtsdetektive« bezeichnet werden: »Geschichte ist wie ein guter Krimi«, denn erst auf den »zweiten Blick« erkennt man die »Geschichten hinter der Geschichte«, da manche Spuren »verborgen« oder »verwischt« wurden. Im Dienst historischer Aufklärung »wühlen« die Geschichtsdetektive »in Archiven nach geheimen Dokumenten, sprechen mit Augenzeugen und Experten, entlocken manchem Beteiligten nach jahrzehntelangem Stillschweigen doch noch die Wahrheit«: Es gilt auf »Überraschendes, Unerwartetes, Unglaubliches« zu stoßen und »Licht ins Dunkel« zu bringen: denn der »schöne Schein« der Mythen und Legenden »ist selten die ganze Wahrheit«.16 Geht es hier um eine spannende und geheimniswitternde Stilisierung der Vergangenheit, verspricht die Kriminalliteratur andernorts Analysepotential: So griff Sebastian Haffner – wie eingangs schon erwähnt – in seiner auf ein breiteres Publikum ausgerichteten Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems auf einen Klassiker der Horror- und Kriminalliteratur zurück. In Germany: Jekyll & Hyde, dem 1940 im Londoner Exil erschienenen Auftakt von Haffners publizistischer Karriere, berief er sich auf den gleichnamigen Roman von Robert Louis Stevenson aus dem Jahr 1886, um das Muster einer gespaltenen Persönlichkeitsstruktur auf die Person Hitlers und das politische Klima Deutschlands zu übertragen. Der Schlüssel zu Hitlers Persönlichkeit und seinem Verhalten sei noch nicht gefunden, so Haffner: »Wo er zu finden ist, das vermutet niemand – obwohl das Versteck jeder Leser von Kriminalromanen kennt.« 17 Haffner entzifferte vor dem Hintergrund von Stevenson die Doppelnatur Hitlers als »Geächtetem« und »Getriebenen«, eine Analyse, die er auf Deutschlands »Ächtung« durch den Versailler Vertrag und den weiterhin vorhandenen deutschen Großmachtanspruch übertrug. Hitler war für Haffner ein neuer Mr. Hyde, ein »berufsmäßige[r] Spitzel und Verräter«, der »noch eine Stufe tiefer als der Berufsverbrecher« stand. Auf den ersten Seiten seines Berichtes zeichnete Haffner ein kumulatives Verbrecherprofil von Hitler, welches bis heute noch bei Hitlerbiographen, psycho-

15 Vgl. dazu Adornos Diktum, dass es die Aufgabe der Literatur sei, sich dem Informatorisch-Faktischen zu entziehen, um damit die Scheinhaftigkeit des Tatsächlichen zu durchbrechen, welches Weltbildern ihre trügerische Bestimmtheit gäbe. Theodor W. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: Ders., Noten zur Literatur, Bd. 1, Frankfurt 1958, S. 4147; hier S. 46. 16 Guido Knopp, History. Die Geschichten hinter der Geschichte. Das Buch zur ZDF-Serie, München 2005, S. 3. 17 Haffner, Germany: Jekyl & Hyde, S. 12.

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historischen »Profilern« und in hitlerzentrierten Interpretationen des Nationalsozialismus wiederzuerkennen ist. 18 Von einem solchen »Hitlerismus« hat sich die Geschichtsschreibung zunehmend entfernt. So unternimmt die »neuere Täterforschung« abseits der Diabolisierung hoher politischer Entscheidungsträger und verbrecherischer Organisationen wie der SS und der Gestapo den Versuch, unterschiedliche Tätergruppen und Täterprofile zu erfassen. Damit tendiert diese Forschungsrichtung bisweilen zu einer umfassenden historischen Kriminologie, die sich auch auf die Kriminalitätsvorstellungen eines Krimiautoren berufen kann: Wie einleitend schon erwähnt, führt Harald Welzer etwa einen Kommentar des Kommissars Kurt Wallander mit einer Äußerung Raul Hilbergs zusammen, um »sämtliche theoretischen Ausgangsbedingungen für eine sozialpsychologische Täterforschung« zu erlangen. 19 Welzers Liaison mit dem »wissenschaftlichen« Detektivschema bietet dann auch Erklärungen an, um »das scheinbar unerklärliche Gewalthandeln im Rahmen genozidaler Prozesse« aufzulösen: Es gilt zu erkennen, »welche Funktionen die Angebote zur Gewaltausübung für die beteiligten Akteure bereitstellen«, da »Gewalt und Sinn, Exzess und Ordnung, Mord und Moral« sich nie gegenseitig ausschließen. 20 Damit geht es ihm um ein verstärkt situatives Verstehen des Gewalthandelns, während etwa eine Erklärung der ideologischen Motivation der Täter ausbleibt. Darüber hinaus geht es um die Interdependenzen zwischen einer kriminalliterarischen Geschichtsdarstellung und den Interpretationswelten der historiographischen Forschung. Während in den kriminalistischen Fiktionen zunächst staatliche Ermittlungsorgane, Polizisten, professionelle Privatermittler oder aber Unbeteiligte, die durch einen Zufall in die Ermittlung hineingezogen werden, die Rolle von Historikern übernehmen, werden zunehmend ausgebildete Historiker zu den handelnden Akteuren des Kriminalromans. Dies mündet in die Frage, ob bestimmte Genrespielarten allgemein mit verschiedenen theoretischen und narrativen Ansätzen in der Geschichtswissenschaft und der NS-Historiographie im Besonderen korrespondieren. Im Gegensatz zu den Klassikern des Genres haben die NS-Krimis selten zur Theoriereflexion innerhalb der Historiographie angeregt, auch wenn sich zeigt, dass auch 18 Vgl. ebd., S. 16-27: Hitler hat »die Manieren der Unterwelt und des Berufsverbrechers«, der »offen zu den Methoden der Unterwelt greift«, er ist »ein schlecht getarnter Bandit«, der »den Mut und die Feigheit für einen Selbstmord aus Verzweiflung« habe, ein »potentielle[r] Selbstmörder par excellence«, der »sture Eigenliebe, Erbitterung und eine korrupte Phantasie« besitzt, ein »Hypochonder«, ein »keuchender Karottenfresser«, der »Furcht vor Alkohol, Tabak und Frauen« hat bzw. »von keiner Frau geliebt« wird, der »einen starren Blick« und »eine abstoßende Mundpartie« hat, kurzum: eine »Anomalie in Deutschland«, denn »fast immer sind es die bösen, verdorbenen, hässlichen, unmöglichen Charaktere, die moralischen Krüppel, die Missratenen, die das Leben abstößt.« Über Haffners populäre Geschichtsschreibung siehe: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 11-32, insb. S. 17-19. 19 Harald Welzer, Wer waren die Täter?, S. 237. Vgl. hier die Einleitung, S. 12. 20 Ebd., S. 249.

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Historiker, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt haben, ihre eigenen Recherchen als eine detektivische Tätigkeit begriffen haben. Im Habitus fiktionaler Detektive erkennen sie ihre eigene Praxis wieder, sie sehen strukturelle Analogien von kriminalliterarischen und historiographischen Untersuchungen, und sie nutzen den Aufklärungsgestus der Kriminalliteratur, um ihren Arbeiten sowohl einen wissenschaftlichen Anstrich als auch eine gewisse wissenschaftliche Spannung zu verleihen. Die Interferenzen zwischen Kriminalliteratur und Historiographie sind insbesondere in der Figurentetrade – Täter, Opfer, Ermittler und die Gesellschaft, in der die Ermittlungstätigkeit stattfindet – zu sehen, deren analoges Verhältnis zum historiographischen Anliegen und zur historiographischen Erzählsituation offensichtlich ist. Gerade hinsichtlich der Täterbilder, welche fiktional-kriminalistische als auch historiographische Narrative konstruieren, zeigen sich weitreichende Überschneidungen. Vor dem Hintergrund der vergleichenden Analyse kriminalistischer Narrative wird zudem die Problematik deutlich, dass aufgrund der Perspektivwahl – Ermittler und Täter stehen klassischer Weise im Vordergrund des Genres – das Kriminalschema der Opferperspektive nur selten gerecht wird. Schließlich geht es um die populärkulturelle Faszination und Mystifizierung, die der Faschismus ungebrochen auslöst, um die Verbindung von Kitsch und Tod, um die Repräsentation des Grauens und um die Ästhetisierung der Gewalt im Genre des Geschichtskrimis. Da die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust aber auch innerhalb der Geschichtswissenschaft eine zunehmend wichtige Rolle spielt, wird abschließend anhand von Christopher R. Brownings Studie Ganz normale Männer über das Reservepolizeibataillon 101 und Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker die Repräsentation des Grauens in diesen beiden neueren Werken der Historiographie analysiert und der Frage nachgegangen, ob und wie sich hier Erzählstrategien aus der Kriminalliteratur in die NS-Historiographie einschreiben.

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1 Der Nationalsozialismus im französischen und britischen Kriminalroman Mit dem folgenden Blick auf ausgewählte französische und britische Kriminalromane zeigt sich die kriminalliterarische Repräsentation des Nationalsozialismus als ein internationales Phänomen. Dabei wird deutlich, dass der historische Kriminalroman ebenso wie der retrospektive historische Ermittlungsroman aus dem der Zeitkritik verpflichteten Polit- und Agententhriller als auch dem Roman Noir hervorgehen, die als littérature engageé schon frühzeitig auf die Gefahr des europäischen Faschismus aufmerksam machten. In Frankreich, wo durch die Darstellung von Widerstand und Kollaboration während der deutschen Besatzungszeit und ihre historisch-kriminalistische Aufarbeitung bei Leo Malet, Pierre Boileau & Thomas Narcejac sowie bei Didier Daenienckx eine spezifisch nationale Perspektive dominiert, lässt sich die Ausbildung des retrospektiven Ermittlungsromans verfolgen, der eine Revision tradierter Geschichtsbilder befördert. Andererseits zeigt sich gerade im englischsprachigen Bestseller der zeitgeschichtsinteressierte Kriminalroman als ein transnationales Erzählmuster, welches die Spezifik nationaler Erinnerungsdiskurse zwar noch integrieren kann, aber auch im Zuge internationaler Marktanforderungen zunehmend zu überwinden versteht. Im Polit-Thriller, der die internationale Big History thematisiert, erscheint das 20. Jahrhundert – um den Historiker Hans-Peter Schwarz zu zitieren – als das »Zeitalter der kämpfenden Staaten« (im Anschluss an den Geschichtsmorphologen Oswald Spengler), als das »Zeitalter der Angst« (im Sinne des Lyrikers und Kritikers Wystan Hugh Auden), oder aber als »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm). Die Zeitgeschichte sei das »tiefere Bewegungsgesetz des Genres«, so Schwarz, und es gäbe kaum ein anderes literarisches Genre, in dem die »Zeitstimmung« des 20. Jahrhunderts besser zum Ausdruck käme. Der Polit- und Zeitgeschichtsthriller, der die Triumphe, Tragödien und schmutzigen Geschäfte der Politik und ihre Auswirkung auf die Gesellschaft zeigt, ist jedoch mehr als »ein Indikator vorherrschender Ängste und Abneigungen«: Er ist vielmehr eine jener populären Erzählformen, die die Ängste des 20. Jahrhunderts imaginativ zu verdichten verstehen. 1 Dies gelingt nicht zuletzt durch eine Plotkonstruktion, die mehr oder weniger unbeleumdete Individuen durch einen unglücklich erscheinenden Zufall mit den Sphären der »großen« Politik, der zwischenstaatlichen

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Schwarz, Phantastische Wirklichkeit, S. 8ff, sowie S. 294: Thrillerautoren »leben von der Kunst, den niemals ganz ruhenden Ängsten ihrer Leser Ausdruck zu verleihen und diese noch durch Horror-Szenarien zu verstärken, das allerdings mit der Botschaft verbunden, alles werde letztlich doch noch glimpflich enden dank der Entschlußkraft und Tapferkeit des jeweiligen Thriller-Helden.« Offensichtlich gibt es hier eine Nähe zwischen dem Interesse des Historikers für den Polit-Thriller und seiner eigenen, durchaus als traditionell zu bezeichnenden Geschichtsschreibung, die sich – etwa in seinen Biographien über Konrad Adenauer oder Axel Springer – für die Geschichte von großen Mächten interessiert zeigt, an deren Spitze Machtspieler stehen, die sich bedrohlichen Gegnern zu stellen haben.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

Auseinandersetzungen und den konfligierenden Gedächtnissen der Erinnerung konfrontieren. 1.1 O KKUPATION

K OLLABORATION K RIMINALROMAN

UND

IM FRANZÖSISCHEN

Im September 1945 brachte der Surrealist und Übersetzer Marcel Duhamel im renommierten Verlag Gallimard aktuelle britische sowie amerikanische Kriminalromane heraus, die während des Krieges aufgrund der Zensur nicht veröffentlicht werden durften. Diese neue Reihe im schwarzen Einband mit weißer Schrift – zunächst erschienen Romane von James Hadley Chase und Peter Cheyney – nannte er Série Noir. Damit spielte er nicht nur auf den Begriff Roman Noir für den Schauerroman des 19. Jahrhunderts an, sondern auch auf das Black Mask Magazine, in dem auch die ersten Erzählungen von Dashiell Hammett erschienen und die schon in den 1930er Jahren ins Französische übersetzt worden waren. 2 Bis 1948 blieb es bei wenigen Veröffentlichungen, doch dann erschienen kontinuierlich Romane von Dashiell Hammett, Raymond Chandler, James M. Cain, Horace McCoy, Don Tracy oder William Riley Burnett. In der Série Noir waren zu Beginn nur wenige französische Autoren vertreten, die wie John bzw. Jean Amila [d. i. Jean Meckert] oder Terry Stewart [d. i. Serge Arcouët] unter amerikanisierten Pseudonymen veröffentlichten. In einem Vorwort aus dem Jahr 1948 warnte Duhamel die Leser vor der neuen Gewalt und Brutalität des Genres und betonte die gesellschaftlichen Ängste, die in der Série Noir zum Ausdruck kommen sollten. 3 Seine Charakterisierung der Série Noir griff zentrale Merkmale auf, die Raymond Chandler in seinem Essay The Simple Art of Murder (1944) für den Realismus der amerikanischen hardboiled-Schule reklamiert hatte, insbesondere die Auflösung des detektivischen Rätsels und seiner logischen Entzifferung sowie die Aufweichung der Grenze zwischen Gut und Böse. Chandler verortete den hartgesottenen realistischen Kriminalroman in der modernen Urbanität amerikanischer Großstädte, doch betonte er auch, dass der neue amerikanische Realismus von einer Welt schreibe, in der »Verbrecher Nationen regieren können«. 4 Anders als Chandler und Hammett – die den private eye zum mit heroischer Maskulinität ausgestatteten tough guy machten 5 – sah Duhamel den Detektiv nicht als eine Notwendigkeit für die Série Noir an. 2

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Der Begriff des Roman Noir implizierte darüber hinaus eine Anspielung auf die sogenannten »Schwarzbücher«. Diese Enthüllungsliteratur, mit dem nach katholischer, nichtbiblischer Mythologie ein Sündenregister gemeint ist, verzeichnet sämtliche menschliche Untaten und Sünden. Das »Schwarzbuch« ist damit das Gegenstück des in der Offenbarung des Johannes erwähnten Goldenen Buch des Lebens, welches nach dem irdischen Tod verlesen wird und bei der Aufnahme in das himmlische Paradies Bedeutung erlangt. Vgl. Claire Gorrara, The Roman Noir in Post-War French culture. Dark Fictions (=Oxford Studies in Modern European Culture), Oxford 2003, S. 13. Raymond Chandler, The Simple Art of Murder; in: Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 1, S. 164-185; hier S. 183. Vgl. Gabriele Dietze, Hardboiled Woman. Geschlechterkrieg im amerikanischen Kriminalroman, Hamburg 1997.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Während Gewalttätigkeit und Brutalität Kennzeichen des neuen Realismus waren, ging Duhamel mit der Betonung des Phänomens der Angst über Chandler hinaus. Damit deutete sich bei ihm eine Entwicklungslinie an, die zu den Psychothrillern von Patricia Highsmith oder aber des Autorenduos Pierre Boileau und Thomas Narcejac führte. Während die deutsche Okkupation schnell als années noires 6 wahrgenommen wurde, kamen mit der Libération nicht nur neue britische und amerikanische Krimis in die Buchhandlungen, sondern auch Verfilmungen von hardboiledRomanen in die französischen Kinos, welche die Kritiker als film noir etikettierten. Zwar tauchte der Begriff des Film Noir schon vor dem Krieg in pejorativer Absicht in politisch rechts orientierten Filmkritiken auf und bezeichnete Filme, die vornehmlich im Milieu der Halb- und Unterwelt spielten und die Grenzen der Moral der nationalen Kultur in subversiver Weise überschritten. Nach dem Krieg verschwand dieser pejorative Unterton, und der Begriff wurde auf eine Reihe neuer US-amerikanischer Kriminalfilme projiziert, die eine veränderte Qualität des Kriminalfilms deutlich werden ließen. 7 Der Filmkritiker Nino Frank sah in den Filmen eine neue Dynamik gewaltsamer Verbrechen, während es bei der investigativen Erzählung nicht mehr auf die Ermittlung von Ursachen und Wirkungen ankomme. Vielmehr zeichne der Film Noir psychologische Verhaltensstudien mehrdeutiger Figu6 7

So etwa der Bildband von: Jean Guéhenno, Journal des années noires, Paris 1947. Erst über die Rezeption der hardboiled-school in Europa fand der Begriff »black novel« oder »black cinema« zurück in die Vereinigten Staaten und setzte sich als Film Noir seit den 1970er Jahren in der Filmwissenschaft und in neueren amerikanischen literaturwissenschaftlichen Studien durch. Ebenso wie der Begriff des Film Noir, der zunächst eine engere Anzahl von Filmen der Jahre von 1940 bis 1958 umfasste und nun verstärkt als eine bestimmte ästhetische und narrative Komposition verstanden wurde, auf die sich zahlreiche neuere Filme beziehen, wird auch der Roman Noir nun nicht mehr allein auf die sozial-, kultur- und wirtschafts- und konsumgeschichtlichen Kontexte der amerikanischen Zwischenkriegszeit zurückgeführt. William Marling, The American Roman Noir. Hammett, Cain, and Chandler, Athen 1995, S. IX. Mittlerweile wird unter dem Roman Noir in der Literaturwissenschaft ein breites Feld kriminalliterarischer Werke zusammengefasst. So hat insbesondere Lee Horsley Stilmerkmale und Narrationsschemata für den Roman Noir herausgearbeitet, mit denen sich auch die Romane von Eric Ambler und Graham Greene in den Korpus des Noir integrieren lassen. Mit dieser Eingliederung der britischen und französischen Literatur kann der Noir nun im Kontext der traumatischen Erfahrung des Ersten und Zweiten Weltkrieges gesehen werden: Lee Horsley, The Noir Thriller, Basingstoke 2001, S. 16. Dabei tendieren neuere Studien jedoch vorschnell dazu, den Stil des Noir als eine adäquate Repräsentationsform für Faschismus, Krieg und Besatzungszeit anzusehen. Diese Überschneidung ist zu konstatieren, wenn sowohl von einem »noir-universe« als auch von einer »dark time« gesprochen wird. Gorrara, The Roman Noir, S. 22. Martin Compart, Im Zwielicht von Vichy, in: J. Robert Janes, Salamander, Köln: DumontNoir 1999, S. 390399.

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ren, die in unübersichtliche kriminelle Abenteuer verstrickt seien. 8 Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und der Besatzungszeit, aber auch des französischen Existenzialismus konnten diese Filme als »accents of rebellion against the fatality of evil« verstanden werden. 9 Der Film Noir implizierte neue Stilisierungsverfahren des Undurchschaubaren und Bedrohlichen mit expressionistischen Lichteffekten, starken Kontrasten zwischen Hell und Dunkel, sowie Schlagschatten. Die Foto- und Filmkamera, dessen Auge sowohl objektiviert als auch subjektiviert, in dem sie zeigt, was ist, dabei gleichzeitig einen beschränkten Ausschnitt privilegiert, avancierte auch in der Kriminalliteratur zu einem stilistischen Prinzip. Der Noir privilegierte eine subjektivierende Erzählperspektive in der ersten oder dritten Person, die den Leser mit dem Protagonisten auf das Engste zusammenführte. Die Analyse der Gesellschaft wird so weniger über eine synthetische Beschreibung des Handlungsumfeldes betrieben, sondern durch ein Mosaik, dessen Bruchstücke dem Protagonisten vor die Linse fielen. Diese Subjektivierung des Blicks, die mit einer distanzschaffenden Ironie und einem latenten Skeptizismus und Pessimismus verbunden war, deutete eine Entfremdung und Differenzerfahrung gegenüber der Gesellschaft an, die in den kritisch-distanzierten Gestus des private eye mündete. Der behaviouristische Stil des Noir verzichtete weitgehend auf schmückendes Beiwerk und auf versteckte Anspielungen. Dabei erweiterte sich die investigative Ermittlungslogik, da das starre Setting des Detektivromans und die Beschränkung auf das whodunit aufgelöst wurde und sich nun Indizien verstärkt aus der personalen Interaktion und aus psychologischen Verhaltensstudien der Gestik und Mimik der Verdächtigen ergaben. Durch den Verzicht analytischer Erklärungen, scharf konturierte Figurendialoge und auch nichtlineare Plots beschleunigte sich der Erkenntnisprozess, während gleichzeitig durch die Ausweitung des Romanpersonals eine soziale Enquête befördert wurde. Der Noir zeigt ambivalente Charaktere – »transgressors and victims, strangers and outcasts, tough women and socialbe psychopaths« 10 – bei denen die Zuschreibung eindeutiger Charaktereigenschaften sowie individueller Schuld unmöglich erscheint. Ein Unterschied des französischen, aber auch britischen Noir zur amerikanischen hardboiled-novel kann in dem Grad der Kontrolle gesehen werden, die die Protagonisten über ihr eigenes Leben in ihrem bedrohlichen sozialen Umfeld noch haben. 11 Das entfremdete, durch die Geschichte und die Gesellschaft angegriffene Individuum wurde zum Spielball der Ereignisse, denen es sich selbst mit altruistischen Handlungen nicht entziehen konnte.

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Nino Frank, Un nouveau genre ›policier‹: l’aventure criminelle, in: L’Ecran français, Paris 1946. 9 James Naremore, More than Night: Film Noir and its Contexts, Berkeley 1998, S. 17. 10 Horsley, The Noir Thriller, S. 18. 11 Vgl. Markus Koch, Der Roman Noir und die populäre Unterwelt moderner Literatur: Dashiell Hammett, William Faulkner und Graham Greene (=Europ. Hochschulschriften, R. XIV: Angelsächsische Sprache und Literatur; Bd. 407), Frankfurt/M. 2004, S. 15.

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Schließlich thematisiert der Roman Noir die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft und damit die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung, die aber nicht in moralischen Exkursen erörtert wird. Damit kommt es zu einer sozialen, kulturellen und politischen Enquête, zu einer Kritik der Gesellschaft und zu einer reflexiven Ausdeutung des Konflikts zwischen den Freiheiten des Individuums und seiner Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Ordnung, die als strukturelle Gewalt oder anonymisierte Macht ausgedeutet wird. So kann der Protagonist im Roman Noir einem aggressiven kapitalistischen System oder aber einer bedrohlichen politischen Ideologie ausgesetzt sein, welches ihn in Zwangslagen führt, aus denen heraus er zur Handlung getrieben wird. 12 Die Besatzung Frankreichs als roman noir bei Léo Malet Leo Malet gilt – obwohl er nie bei Gallimard in der Série Noir verlegt wurde – als einer der Begründer des französischen Roman Noir. Malet, der zur Groupe Surréaliste gehörte, veröffentlichte 1943 während der Besatzungszeit in Frankreich seinen Kriminalroman 120, rue de la Gare, in dem der spätere Serienheld Nestor Burma das erste Mal auftrat. 13 Ein Jahr zuvor hatten die deutschen Besatzungsbehörden den Vertrieb amerikanischer und britischer Kriminalromane verboten und damit eine Lücke für kleinere französische Verlage geschaffen, die Malet nutzen konnte, um seine Existenz zu sichern. Mit Nestor Burma schuf er einen Serienhelden, der deutlich an amerikanische Traditionen anschloss, insbesondere an die hardboiled Romane Dashiell Hammetts. Malet war 1940 von der französischen Polizei wegen eines »surrealistisch-trotzkistischen« Komplotts verhaftet und kurze Zeit darauf von den deutschen Besatzungsbehörden in das Kriegsgefangenenlager und die KZ-Auffangstelle Sandborstel bei Bremen verschleppt worden, bis er im April 1941 ins besetzte Frankreich zurückkehren konnte. Die Eröffnung des Romans ist angesichts der Zensur durch die deutschen Besatzungsbehörden bemerkenswert. Das erste Kapitel mit der Überschrift »Deutschland« führt den Leser in das Stalag XB Sandborstel, in dem Nestor Burma interniert ist und dort die Registrierung französischer Häftlinge durchzuführen hat. Gleich zu Beginn wird deutlich, dass Burma einen besonderen schwarzen Humor, einen anarchischen und zynischen Blick auf die Realität der deutschen Okkupation Europas hat. So zeigt Burma »eine Schwäche für Stacheldraht« und einen Sinn für die Ästhetik der »heiligen« Wachtürme. Auf die Frage eines imaginären Lesers, warum er noch nicht geflohen sei, antwortet er, dass er schon lange keinen »Urlaub« mehr genommen habe.

12 Vgl. Horsley, The Noir Thriller, S. 69. 13 Léo Malet, 120, rue de la Gare [1943], Paris : Gallimard 1995. 1946 kam die erste Verfilmung des Romans zustande, zwei weitere folgten. Jacques Tardi, brachte 120, rue de la Gare 1988 als Comic heraus. Der Titel und die Lösung des Falls beziehen sich auf das von der Zensur verbotene Werk Les 120 Journées de Sadome des Marquis de Sade. Malet hatte zuvor unter dem Pseudonym Frank Harding den Kriminalroman Johnny Metal (1941) geschrieben. Weit bekannter ist dann der fünfzehnbändige Romanzyklus Les Nouveaux Secrètes de Paris, von denen jeder Nestor-Burma-Roman in einem anderen Pariser Arrondissement spielt.

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Burma raucht »polnisches Zeug«, welches bestens geeignet ist, »die Gegend einzuräuchern und einen bitteren Gestank zu verbreiten«. Ein sarkastischer, schwarzer Humor wird angesichts der Lager zu einer Überlebensstrategie, der auch auf Kosten derer geht, die im rassistischen Lagersystem weiter »unten« stehen als der Franzose Burma. Im Lager wird Burma mit einem verwundeten Gefangenen konfrontiert, der sein Gedächtnis verloren hat – oder dies zumindest vorgibt – und der von den Mitgefangenen »La Globule«, das Blutkörperchen, genannt wird. Das Lager kennt keine Individuen, und so ist Burma gezwungen, dem Gefangenen einen »Personenstand« zu geben: »Er war in Zukunft für alle die 60202.« 14 Der geheimnisvolle Gefangene wird kurz darauf sterben, nachdem er Bruma einen mysteriösen Auftrag gegeben hat. Diese Aufforderung des unter Gedächtnisverlust leidenden Mitgefangenen löst in Burma eine Veränderung aus. Er erinnert sich daran, dass er nicht eine bloße Nummer und x-beliebiger Kriegsgefangener, sondern der »Direktor der Detektivagentur Fiat Lux, Dynamite Burma« ist. Die geheimnisvolle Aufforderung des gedächtnislosen Mitgefangenen löst bei Burma eine Rückgewinnung männlicher Identität aus, die durch die unehrenhafte, schamvolle und traumatisierende Niederlage gegen die Deutschen und die Gefangenschaft zunächst abhanden gekommen war. So deutet sich schon zu Beginn des Romans an, dass es im Roman nicht nur um die Aufklärung eines Geheimnisses und einer Verbrechensgeschichte geht, sondern auch um die »ongoing disruption of French national identity«. 15 120, rue de la Gare kann so als eine verklausulierte Aushandlung nationaler und männlicher Identität gelesen werden, die durch die Okkupation in eine Krise geraten ist: Während Burma unter einem Pseudonym aus der Kriegsgefangenschaft nach Lyon, dem Hauptort der Résistance, ins nichtbesetzte Südfrankreich weiterreisen wird, deutet auch die Gesichtsoperation eines der Protagonisten des Romans darauf hin, dass die Besatzungszeit überlebensnotwendige Anpassungsmechanismen und damit eine multiple Identität hervorbringt. Nach Frankreich zurückgekehrt, muss Burma registrieren, dass ein enger Mitarbeiter von ihm erschossen wurde – eine Szene, die stark an den Beginn von Hammetts The Maltese Falcon (1929) erinnert. Physisch verletzlich und auf Hilfe angewiesen, von den Behörden überwacht und irregeleitet, setzt er sich mit einer distanzierten Anpassungsfähigkeit durch, gewinnt zunehmend Selbstsicherheit und wird durch seine phantasievollen intellektuellen Winkelzüge den Fall lösen: »Sie ahnten nicht, welche Überraschung ein ehemaliger, schwacher Kriegsgefangener für sie bereithielt.« 16 Im Kontext der Besatzungszeit konnte diese Rückgewinnung männlicher Souveränität als ein hoffnungsvolles Ausrufezeichen für die Rückkehr zu nationaler Souveränität ver-

14 Malet, 120, rue de la Gare, S. 13. 15 Gorrara, The Roman Noir, S. 31. Siehe auch: Deborah E. Hamilton, The Roman Noir and the Reconstruction of National Identity in Postwar France, in: Anne Mullen/Emer O’Beirne (Hg.), Crime Scenes. Detective Narratives in European Culture since 1945, Amsterdam 2000, S. 228-240. 16 Malet, 120, rue de la Gare, S. 32.

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standen werden – und so tauchen die Aktivitäten der Résistance in der Wiedergabe von Zeitungsnachrichten im Roman auf. 17 Diese Lesart des Romans wird durch einen subversiven literarischen Stil ermöglicht, dem jedes nationale Pathos fremd ist. Der Detektiv ist Beobachter und Reisender innerhalb einer zerrissenen, geographisch und politisch geteilten Gesellschaft, die von Ängsten und Verdächtigungen geprägt ist und die durch die Besatzungsbehörden und die französischen Milizen, durch Beschränkungen des Reisens oder vorübergehende Inhaftierungen unter sozialer Kontrolle gehalten wird. Dabei bilden die Besatzungsbehörden und französischen Milizen den unausgesprochenen Referenzpunkt der Erzählung, da Burma in einem ständigen Konflikt zwischen den Interessen des privé und dem öffentlichen Diskurs über Legalität und Rechtsprechung steht.18 Auch wenn Burma auf eine Kommentierung des politischen Systems und ihre Repräsentanten weitgehend verzichtet, kann er sich mit wilden Hypothesen und markanten Sprüchen etwa dem Zugriff der Gestapo entziehen. Der Blick auf die Besatzungszeit ergibt sich dabei nicht nur durch ein geschicktes Spiel mit der Zensur des Verlagswesens, sondern auch aus der Rezeption der amerikanischen hardboiled-school. Danach haben die staatlichen Organe – die französischen Polizeibehörden erscheinen als korrupt und grundsätzlich der Kollaboration mit den Besatzern verdächtig – einer in die Krise geratenen Gesellschaft nichts mehr entgegenzusetzen. Denn auch die französische Gesellschaft ist durch die Besatzung korrumpiert, die eine neue soziale Ordnung schafft, in der Denunziation und Verrat belohnt wird, und die im Zuge der Kriegswirtschaft neue soziale Ungleichheiten produziert, wie etwa am unterschiedlichen Zigarettenkonsum oder an der Kommentierung der Kleidung abzulesen ist. Der private eye ist Teil einer ihm fremd gewordenen Welt und durch ein tiefes Misstrauen gegenüber politischen, wirtschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Interessenvertretern geprägt. Die teilnehmende Beobachtung des detektivischen Blicks ermöglicht eine implizite Gesellschaftskritik des Alltags der französischen Gesellschaft unter den Bedingungen der Besatzungszeit. So ist der Kriminalfall und seine Lösung auch nur anscheinend unpolitisch, wie sich dies ex negativo erschließt: »Wie gesagt, wir leben in anormalen Zeiten. Die Polizei denkt zuerst immer an ein politisches Verbrechen und fahndet nach Leuten mit struppigem Bart und einem Messer zwischen den Zähnen …« 19 Das politische Verbrechen kann in Malets Roman aus der Besatzungszeit nicht direkt verhandelt und freilich nicht gelöst werden, doch das vermeintlich banale Gangsterstück um einen Juwelendiebstahl, das immer neue verbrecherische Dimensionen entwickelt, ließ sich leicht auf die politische und gesellschaftliche Ordnung übertragen. In Le cinquieme procédé (1947) versucht Malet noch einmal an seinen ersten Roman mit dem Protagonisten Nestor Burma anzuschließen und verortet ihn zeitlich kurz vor der Landung der Alliierten. Deutlich zu erkennen ist hier, dass weniger die Praxis der Zensur als die Wahl des Genres den spezifischen 17 So auch: Gorrara, The Roman Noir, S. 34. 18 Steve Smith, Between Detachment and Desire. Léo Malet’s French Roman Noir, in: Mullen/O’Beirne (Hg.), Crime Scenes, S. 125-136; hier S. 130. 19 Malet, 120, rue de la Gare, S. 183.

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Blickwinkel auf die Besatzungszeit als zentralen Referenzpunkt der Kriminalgeschichte ausmacht. Im Rückblick auf die Kriegszeit wird nun auch der Antisemitismus Thema. Der Mord an den europäischen Juden, aber auch der französische Antisemitismus wird mit Bitterkeit konstatiert. In Le cinquieme procédé wird durch Verleumdung ein Jude in den Selbstmord getrieben, kurz bevor die Deutschen die Demarkationslinie überschreiten und ihre eigene Mordmaschinerie in Gang setzen. Das ist besonders tragisch, da dieser jüdische Franzose es auf »erfinderische« Weise geschafft hatte, »seine Zugehörigkeit zum auserwählten Volk zu verheimlichen«, weshalb sich der Eintrag »Jude« nicht in seinen Papieren befand. 20 Eindeutig werden antisemitische Stereotype aufgezeichnet, aber auch in ihrer grausamen Ambivalenz belassen. Im Roman Noir ist kein Platz für ein Mitleiden mit den Opfern oder direkten moralischen Einspruch: »Auch für einen Toten war er schon verdammt tot. Und man roch es bereits.« 21 Burmas Gefühllosigkeit enttarnt sich jedoch als Selbstschutz, in dessen Sphäre er individualistische und humanistische Ideale bewahren kann. Seine nun kaum mehr zur Schau gestellte Gegnerschaft zu den Besatzern verfällt dabei jedoch keinesfalls in ein heroisches und patriotisches Pathos der Erzählungen der Résistance, die in der Nachkriegszeit den öffentlichen Diskurs bestimmten. Die Handlung treiben trickreiche und dosiert eingesetzte Gewaltsequenzen voran, während Burma mit dem wisecrack wiederholt überlegene Gegner bloßstellt. Seine Ermittlungen entwickeln sich durch widerspruchsreiche Kombination, durch Intuition und Zufall, und ebenso messerscharfe wie haarspalterische Schlüsse überführen die Logik des Detektivromans in eine Groteske. Im Rekurs auf Träume, intertextuelle Wortspiele und freie Assoziation entfaltet sich ein sprunghafter und elliptischer Stil, der nicht konstatiert und resümiert, sondern assoziiert. In grotesken Assoziationsketten zeigt sich Malets eigenwillige Verbindung surrealer Elemente mit dem hardboiledGenre. Die Besatzung überführt die französische Gesellschaft und ihren Ermittler in einen Zustand der Trance, der durch Burmas aseptischen Konsum von Alkohol verstärkt wird. Durch die konsequente Verwirrung des deduktiven Spiels entsteht eine Perspektive auch auf die französische Gesellschaft, in der es keine eindeutigen Wahrheiten mehr gibt. Dies zeigt sich in Le cinquième procédé nach einem Mordanschlag auf Nestor Burma, bei dem ein serbischer Geheimagent in Diensten der Gestapo stirbt. Als die unter der Zensur stehenden Presseorgane von Nestor Burmas vermeintlichem Tod berichten und dies in unterschiedlichen Versionen dem Konto von Ganoven, den Gaullisten, den Geheimdiensten oder der Regierungsmafia zuschreiben, kommentiert Burma: »Es geht doch nichts über verschiedenartige Interpretationen, wenn es darum geht, einem beliebigen Ereignis Glaubwürdigkeit zu verleihen!« 22

20 Malet, Das fünfte Verfahren, S. 78f. 21 Ebd., S. 43. Auch in der Nachkriegswirklichkeit sind antisemitische Stereotype und Kollaboration noch virulent, so in: Léo Malet, Du Rebecca rue des Rosiers, Paris: Edition Fleuve Noir 1958. Die klischeebeladene Übersetzung des Titels lautet: Die Spur führt ins Ghetto, Bühl-Moos: Elster 1986. 22 Malet, Das fünfte Verfahren, S. 43.

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Der Roman Noir zeigt hier seine Stärke, da »Wahrheit« nicht durch strenge Deduktionen und dem kriminalistischen Modell entsprechende chronokausalen Erklärungen zu erreichen ist, sondern durch eine vielgestaltige Beobachtung sozialer Wirklichkeit. Malet brachte die Erfahrung der Okkupationszeit, die er nachträglich als »noir absolut« 23 charakterisierte, in eine eindrucksvolle Symbiose mit der Kriminalliteratur. Und sein eigenwilliger Stil erzeugt eine Intensität der Begegnung mit der Besatzungszeit, die in den 1990er Jahren Autoren wie Philip Kerr oder aber J. Robert Janes adaptieren sollten. Scheinidentitäten bei Boileau & Narcejac

Pierre Boileau und Thomas Narcejac entwickelten in ihrem Buch Le roman policier (1964) eine Poetologie des roman suspense, die über eine kritische Reflexion des Genres eine psychologische Neukonzeption des Spannungsromans gewinnen wollte. Der Kriegsbeginn 1939 bedeutete für sie aus einer sehr europäischen Perspektive einen Bruch in der Geschichte der Kriminalliteratur und das Ende des klassischen Detektivromans bzw. »Problemromans«. Sie konstatierten, dass sich der Zweite Weltkrieg nicht wie vorangegangene Kriege durch militärische Schrecken ausgezeichnet habe, sondern durch die Schrecken für die Zivilbevölkerung. Die Kriegserfahrung habe die Vorstellung vom Frieden vernichtet und nicht Sieger, sondern allenfalls Überlebende hinterlassen. Ein ganzer Kontinent sei in einen Schlachthof verwandelt worden, in dem das Menschliche sinnentleert sei und sich jenseits von Vernunft und Moral befinde. 24 Während zuvor die Furcht eine luxuriöse Empfindung gewesen sei, sei sie durch die Menschenverachtung und Verzweiflung des Zweiten Weltkriegs zu einem alltäglichen Gefühl geworden. Diese Furcht könne nun nicht mehr auf dem Verstandeswege bezwungen werden, weshalb sie den Rationalismus des Detektivromans in seiner ganzen Sterilität empfanden. Das Vertrauen in die Wissenschaft, welches den klassischen Detektivroman bestimmt habe, sei der Angst vor Zerstörung gewichen und habe einen tiefgreifenden Pessimismus ausgelöst. Die »neue Form des Bösen« sei »die monströse Allianz des Menschen und der Dinge im totalen Krieg«, in dem das Subjekt zum Objekt geworden sei. Die »Kreatur Frankensteins« – so die beiden Kriminalschriftsteller – sei in der Gestalt eines Fanatikers wiedergekehrt, während sich die Massen durch die Propaganda Wertbegriffe zu eigen gemacht hätten, die »von dumpfer Leidenschaft« erfüllt gewesen seien. Angst, Gewalttätigkeit und Massaker seien die Schlüsselworte einer Epoche der Folterkammern und politischen Gefängnisse. Als literarischen Ausdruck dieser Epoche sahen Boileau & Narcejac die Romane von Peter Cheyney um den Killer, Spion und »modernen Heros« Lemmy Caution, die während der 1930er und 1940er Jahre entstanden waren. Die Grausamkeiten der politischen Welt sahen sie in dem Roman No Orchids for Miss Blandish (1939) von James Hadley Chase verkörpert, in dem der Verbrecher zum »Monster« werde. 25

23 Léo Alfu, Malet. Parcours d’une œuvre, Amiens 1998, S. 18. 24 Pierre Boileau/Thomas Narcejac, Der Detektivroman, Neuwied 1964. 25 Auch George Orwell hatte den Roman No Orchids for Miss Blandish von James Hadley Chase im Kontext des europäischen Faschismus verankert: »Several people, after reading No Orchids, have remarked to me, ›It’s pure Fas-

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Aus dieser Betrachtung der Zeitgeschichte zogen sie Konsequenzen für die Kriminalliteratur. Der pointierte Rätselroman sei durch den »Thriller«, den »roman suspense« und den »poème de la peur« zu ersetzen. Das abgestumpfte Problem bzw. Rätsel sollte in ein spannungsvolles, den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit genügendes Geheimnis transformiert werden. Rätsel und Erklärung seien zusammen zu führen, um die langen analytischen Passagen des klassischen Detektivromans überflüssig zu machen. Die wichtigste Konsequenz für den Thriller von Boileau & Narcejac war jedoch eine Veränderung der Perspektivität, indem der Fall aus der Sicht des Opfers geschildert werden sollte. Das Geheimnis erschien so als furchteinflößende Drohung und nicht als ein letztlich existenziell gleichgültiges Problem. Anders als im klassischen Detektivroman sollte der Roman auf das Verbrechen hinführen und der verbrecherisch Handelnde zur gleichen Zeit wie sein Opfer präsent sein.26 Boileau & Narcejac wendeten sich gegen die Hypertrophie des Analysis-Elements und verbannten den Detektiv aus dem Kriminalroman. Der Verzicht auf den Detektiv bedeutete eine Steigerung des Effekts der Angst, war doch die Detektivfigur der ruhende Pol der Aufklärung und der Garant für die Wiederherstellung von Sicherheitsgefühlen und Ordnungsvorstellungen. Zwar hatte die psychologische oder soziologische Grundierung der Detektivfigur bei Sayers oder Chandler die Figur des Detektivs humanisiert, seine distanzierte Stellung gegenüber Opfern und Tätern jedoch nur verdeckt. In das Zentrum der Handlung rückten damit jene, oft unschuldig in Intrigen verstrickte Opfer, deren Geheimnisse im Detektivroman oder auch im hardboiled-Roman allenfalls in der Nebenhandlung aufgeklärt wurden. Die Protagonisten werden so einer Machination der Aufdeckung ausgeliefert, welche das Gefühl der Angst durch Gewissenskonflikte verstärkt, da sie sich vor der Enthüllung der eigenen Verbrechen und Unehrlichkeiten fürchten. cism‹. This is a correct description, although the book has not the smallest connexion with politics and very little with social or economic problems. […] It is a daydream appropriate to a totalitarian age. In his imagined world of gangsters Chase is presenting, as it were, a distilled version of the modern political scene, in which such things as mass bombing of civilians, the use of hostages, torture to obtain confessions, secret prisons, execution without trial, floggings with rubber truncheons, drownings in cesspools, systematic falsification of records and statistics, treachery, bribery, and quislingism are normal and morally neutral, even admirable when they are done in a large and bold way. The average man is not directly interested in politics, and when he reads, he wants the current struggles of the world to be translated into a simple story about individuals.« George Orwell, Raffles and Miss Blandish [1944], in: Ders., Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, ed. by Sonia Orwell, London 1961, S. 233-247; hier S. 241. 26 Dass die poetologische Abgrenzung von Boileau & Narcejac zum klassischen Rätselroman in ihren Werken weit geringer ist als die von ihnen entwickelte Theorie behauptet, zeigt Schulz-Buschhaus. Dieser verweist darauf, dass die Autoren permanent gegen die Prinzipien der Wahrscheinlichkeit der Handlung verstoßen, und führt dafür den im Folgenden besprochenen Roman Les Louves an, in dem der Erzähler am Ende der Erzählung, von seiner Frau vergiftet, sterben wird. Vgl. Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien, S. 182195.

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Diese albtraumartige Bedrängung, der sich die Protagonisten ausgesetzt sehen, führen sie zu dem Gedankenspiel eines notwendig zu begehenden Verbrechens, um sich aus der scheinbar ausweglosen Lage zu entziehen. Der gesellschaftskritische Anspruch, den die beiden Autoren verfolgten, war aufgrund der Anlage der Romane jedoch schwer einzulösen. Denn das auf ein Minimum reduzierte Romanpersonal, welches der klassischen Tragödie entsprach, konnte zwar die Verwirrungen bürgerlicher Intimität aufzeigen, jedoch nicht die politische und soziale Komplexität der Gesellschaft einfangen. Auch der Verzicht auf die Figur des Detektivs wirkt sich letztlich negativ auf die gesellschaftliche Enquête aus, da es an einer autorisierten Figur fehlte, die in der Lage war, eine Analyse der Gesellschaft vorzunehmen. Die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges spiegelt sich bei Boileau & Narcejac insbesondere in Les Louves (1955) und in La Lèpre (1976), die in zwei unterschiedlichen Phasen der französischen Erinnerung an die Besatzungszeit geschrieben wurden. 27 Für den Historiker Henry Rousso, dessen Buch Le Syndrome de Vichy über die politische und kulturelle Erinnerung an die Okkupationszeit im Nachkriegs-Frankreich das umstrittene Standardwerk zu diesem Thema ist, zeichnet sich die kulturelle und politische Erinnerung an »Vichy« und die deutsche Besatzungszeit durch vier Phasen aus. 28 Zunächst setzte mit der »épuration sauvage« eine Phase ein, in der die ehemaligen Kollaborateure der Besatzungsmacht zur Rechenschaft gezogen wurden und aus ihren Funktionen innerhalb des politischen Staatsapparates, der Wirtschaft und der Kultur entfernt wurden. Dies gelang nur eingeschränkt, zumal die politisch Verantwortlichen für die juristische Aufarbeitung von der nationalen Rechten des politischen Revanchismus bezichtigt wurden und die Säuberungen in historischer Analogie zum Revolutionsjahr 1793 als terreur bezeichneten. 29 27 Der Roman Les Louves wurde 1962 unter dem Titel »Ich bin ein anderer« übersetzt, La Lèpre unter dem Titel »Ein Heldenleben« 1978. Pierre Boileau/Thomas Narcejac, Ich bin ein anderer. Ein Heldenleben. Rache mit 15. Drei Thriller in einem Band, Hamburg: Rowohlt 1990. 28 Henry Rousso, Le Syndrome de Vichy. De 1944 à nos jours, 2. Aufl., Paris 1990. Sein Werk hat einen konservativen Grundton, der in dem gemeinsam mit dem Journalisten Éric Conan verfassten Werk Vichy, un passé qui ne passe pas (1994) deutlicher zu Tage tritt. Der Titel erinnert bewusst an Ernst Noltes Artikel »Vergangenheit, die nicht vergehen will« (1986) in der FAZ, der Mitauslöser des deutschen »Historikerstreits« war. Zwar stellen Conan und Rousso nicht die Singularität des Holocaust in Frage, wie dies Nolte tat, aber gemeinsam kritisieren sie die Dominanz des Holocaust in der öffentlichen Erinnerung. 29 So wurde von der politischen Rechten die Zahl von 100.000 Franzosen angegeben, die ohne ein rechtstaatliches Verfahren nach der Befreiung hingerichtet worden seien. Neuere Forschungen sprechen von ca. 8.000 bis 9.000 Menschen, die während der »Säuberungen« ums Leben kamen, von 1500 bis 1600 Todesurteilen in der anschließenden juristischen Strafverfolgung. Die ca. 310.000 untersuchten Fälle von Kollaboration führen zu 44.000 Gefängnisstrafen, 50.000 Personen werden mit einer »dégradation national« belegt. Siehe dazu: Henry Rousso, L’Epuration en France: un histoire inachevée, in: Vingtième Siecle (1992), H. 33, S. 78-105; hier S. 81.

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Innerhalb dieser bis in die Mitte der 1950er Jahre reichenden Phase gab es heterogene Gruppengedächtnisse, die die unterschiedlichen Erfahrungen während der Besatzungszeit deutlich machten. Gaullistische und kommunistische Sichtweisen des Widerstandes standen sich gegenüber, doch konnten beide die Erfahrung der schweigenden Mehrheit der Franzosen nicht integrieren. Erst seit der Mitte der 1950er Jahre und insbesondere seit der Rückkehr de Gaulles an die Macht 1958 wurde die Zerrissenheit der französischen Gesellschaft während der deutschen Besatzungszeit durch den »résistancialisme gaullien« verdrängt. Dieser Widerstandsmythos sah über die Figur de Gaulles die französische Nation und damit die Gesamtheit der Franzosen im Widerstand. 30 Zu Beginn der 1970er Jahre brach dieses offizielle Geschichtsbild langsam auf. Es kam zu einer Wiederkehr des Verdrängten in der politischen und kulturellen Erinnerung an Vichy, die sich – so Rousso – seit der Mitte der 1970er Jahre zu einem »Syndrom«, zu einer »Geschichtsbesessenheit« (»obsession«) verdichtet hatte. Nun bestimmten den Erinnerungsdiskurs das Mitwissen und die Mittäterschaft der Franzosen an der Verfolgung und Deportation der Juden in Frankreich. Les Louves beginnt mit der Flucht von zwei französischen Kriegsgefangenen aus einem deutschen Lager. Während der eine auf der Flucht verstirbt, übernimmt der bindungs- und heimatlose Andere dessen Identität, um zu überleben. Er sucht Schutz bei zwei Halbschwestern, von denen die eine Kriegsgefangenenpatin des Verstorbenen war. Deren Halbschwester ist jedoch mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet, die beim Protagonisten die panische Furcht auslösen, sie könne seine falsche Identität aufdecken. Widerstrebend erwidert er die Liebe seiner vermeintlichen Briefpartnerin, eine Heirat bahnt sich an, doch als die Schwester des Verstorbenen zur Hochzeit eingeladen wird, kommt es zu Komplikationen – die Familie des Verstorbenen droht den Wechsel der Identität auffliegen zu lassen. Immer wieder wünscht sich der Erzähler, seine Identität preiszugeben und das Versteckspiel aufzugeben. Das Leben des männlichen Protagonisten wird als eine Aneinanderreihung von Gefangenschaften präsentiert – gefangen erscheint er von seiner Mutter, seiner Exfrau, im Lager der Deutschen als auch von den beiden Halbschwestern. Die Zeit in der deutschen Gefangenschaft, die Auswirkungen des Krieges, die Besatzungszeit mit ihren Massakern und ihrer permanenten Bedrohung werden von den Autoren als Krise männlicher Identitätskonstruktion vorgeführt. Der männliche Protagonist, der sich im Zuge der Kriegswirren von jeglichen familiären Bindungen und damit auch von der Vergangenheit lossagen will, wird letztlich ohne eine eigene Identität, ohne Spuren in der Gesellschaft hinterlassen zu haben, sterben. Trotz der innovativen Erzählstruktur folgen die Autoren hergebrachten narrativen Mustern über Verbrechen: vom schuldlos schuldig Gewordenen über das Motiv der Erberschleichung bis hin zum – äußerst konventionellen – weiblichen Giftmord, der das Leben des Erzählers beenden wird. Angst und Schrecken entwickeln sich hier wie auch in anderen Romanen des Autorenduos weniger aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der französischen Gesellschaft während der Besatzungszeit, sondern aus der Psyche des Protagonisten. Die realen, historischen Ängste werden so weitgehend durch 30 Rousso, Le Syndrome de Vichy, S. 19.

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einen »märchenhaften Schrecken« und »durch die entlastende Fiktion historisch unspezifischer Ängste gemildert und gebannt«, um über die »Unsicherheit der Realität« hinwegzutäuschen. 31 Doch eine solche völlige Degradierung der Geschichte des Krieges zum bedeutungslosen historischen Hintergrund des Romans geht zu weit. Die Autoren zeigen nämlich implizit, wie das Gruppengedächtnis der Kriegsgefangenen zum »mémoire repliée« wird. 32 Die spezifische Erfahrung der aus Deutschland zurückgekehrten Kriegsgefangenen war nicht geeignet, um in die kollektive Erinnerung Frankreichs an den Zweiten Weltkrieg aufgenommen zu werden. Den Kriegsgefangenen haftete der Makel an, Verlierer der Geschichte zu sein, deren Schicksal direkt mit der Niederlage im Juni 1940 in Zusammenhang gebracht wurde. Zudem waren sie die »enfants chéris« des Vichy-Regimes, da das Bemühen der Vichy-Regierung um die Rückkehr der französischen Kriegsgefangenen ein wichtiger Legitimationsgrund für die Kollaboration mit dem NS-Staat war. In dem Mitte der 1970er Jahre geschriebenen Roman La Lèpre lässt sich erkennen, wie im Rahmen eines veränderten gesellschaftlichen Umgangs mit der französischen Vergangenheit auch der psychologische Kriminalroman von Boileau & Narcejac eine Modifikation erfährt. In dem Roman, dessen Plot im Jahr 1957 spielt, wird der Mythos der Résistance auf ganz eigene Weise dekonstruiert. In dem Bekenntnis des Marc Pradier erfährt der Leser, wie dieser als junger Lehrer während des Zweiten Weltkrieges durch Zufall in Kontakt mit der Résistance gerät und später für den vermeintlichen Mord an einem Kollaborateur Anerkennung erhält. Diesen hat er jedoch nicht getötet, sondern ihm vielmehr zur Flucht verholfen. Der unpolitische Pradier steht zwischen den Lagern und wird unfreiwillig zum Widerstandshelden, worauf seine spätere politische Karriere mit hohen Regierungsämtern nach dem Krieg aufbaut. Doch Jahre später taucht der unter falschem Namen abgetauchte Kollaborateur auf, so dass das biographische Konstrukt eines Heldenlebens und damit der private und gesellschaftliche Erfolg auf dem Spiel stehen. So entsteht eine für Boileau & Narcejac typische Situation der Angst und Furcht vor der Aufdeckung einer Scheinidentität. Diese falsche Identität ist jedoch nicht nur auf die eigene Motivation und den gesellschaftlichen Anpassungsdruck zurückzuführen, sondern sie begründet sich wiederum auch in der Auseinandersetzung der Geschlechter. Ebenso wie in Les Louves entstehen die Zwänge des Helden nämlich auch durch sein Begehren nach einer aktiven Widerstandskämpferin, die für den Protagonisten zunächst unerreichbar bleibt. Nach dem Krieg wird diese jedoch den vermeintlichen Résistancekämpfer heiraten, um von dessen gesellschaftlichem und politischem Renommee zu profitieren. So betreibt dieser Kriminalroman eine subtile Kritik 31 Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien, S. 195. Tatsächlich bestimmt die historische und gesellschaftliche Wirklichkeit die Romane von Boileau & Narcejac derart geringfügig, dass die in ihrem Roman D’entre les morts thematisierten Kriegshandlungen in Alfred Hitchcocks Verfilmung des Romans Vertigo problemlos herausgestrichen werden konnten. 32 Robert Frank, La Mémoire empoisonnée, in: Jean-Pierre Azéma/François Bédarida (Hg.), La France des années noires, 2 Bde., Bd. 2: De l’Occupation à la Libèration, Paris 1993, S. 483-514; hier S. 488.

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des gaullistischen Résistancemythos in einer Phase in der Mitte der 1970er Jahre, in der es zu einer Neubewertung von Vichy kam. 33 Das spezifische Erzählmuster von Boileau & Narcejac – die Aufdeckung einer Scheinidentität aus der Perspektive desjenigen zu erzählen, der etwas zu verbergen hat, um zu überleben – bleibt innerhalb der NS-Krimis eine Ausnahme, obwohl es im retrospektiven Ermittlungsroman oft um die Aufdeckung falscher Identitäten geht. Konsequent weitergeführt hieße dies, die Biographie eines »Verstrickten«, eines Kollaborateurs, eines Mittäters oder auch NS-Täters in den Erzählmittelpunkt zu rücken. Ein solches Erzählmuster stände dabei sicherlich vor dem Problem, dass sich der Leser bei der Aufdeckung und Verfolgung des Protagonisten unweigerlich mit diesem identifiziert. Die prinzipielle Möglichkeit einer solchen Erzählperspektive, der es gelingen würde, eine psychologische Innenschau vorzunehmen, hat die Kriminalliteratur selten aufgegriffen. Dennoch gibt es neben den beiden Romanen von Boileau & Narcejac Werke, die in diese Richtung weisen. So handelt Watcher in the Shadow (1960) des Briten Geoffrey Household von einem britischen Geheimagenten, der vorübergehend bei der Konzentrationslager-SS tätig war und nach dem Krieg von einem jüdischen Holocaustüberlebenden verfolgt wird. In The Statement (1995) des Briten Brian Moore erfährt dieses Erzählmuster eine Erneuerung, indem es mit einer Ermittlungsperspektive kombiniert wird. Geschildert wird die Flucht eines in die Jahre gekommenen französischen Kollaborateurs, der während der Besatzungszeit vierzehn Juden erschossen hat. Das jahrzehntelange Versteckspiel gelingt nur durch die Hilfe eines Netzwerkes innerhalb der katholischen Kirche, doch nun haben sowohl französische Ermittlungsbehörden als auch eine Organisation, die sich »Komitee Gerechtigkeit für die jüdischen Opfer von Dombey« nennt, die Verfolgung aufgenommen. Durch die auf den Kollaborateur zentrierte Perspektive kommt es zu einer zwiespältigen Identifikation mit dem Protagonisten, welche die Frage nach dem Sinn staatlicher bzw. privat initiierter Verfolgung implizit stellt, jedoch an deren Notwendigkeit nie Zweifel aufkommen lässt. Meurtres pour Mémoire: Didier Daeninckx Der Sprung von den Romanen des Autorenduos Boileau & Narcejac zu Didier Daeninckx könnte größer nicht sein, denn im Zuge des Mai 1968 hatte sich das Genre in Frankreich grundsätzlich erneuert. In den späten 1960er Jahren setzte sich der Sammelbegriff polar für den roman policier durch, und zunehmend wurde die Kriminalliteratur nicht mehr als reine Unterhaltungsliteratur angesehen, sondern in den literarischen Mainstream aufgenommen. Jean-Patrick Manchette, ein linker Aktivist der Mairevolten, prägte zu Beginn der 1970er Jahre einen neuen Stil innerhalb des Genres, dem er das Etikett neo-polar gab. Der neo-polar zeichnete sich durch eine radikale, linksorientierte politische Kritik aus, die auf die politische Kultur Frankreichs ab-

33 Vgl. Allan Morris, Collaboration and Resistance Reviewed. Writers and the Mode Rétro in Post-Gaullist France, New York 1992, S. 66. Auch: Anja Köhler, Vichy und die französischen Intellektuellen. Die »années noires« im Spiegel autobiographischer Texte, Tübingen 2001.

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zielte und sich in einer Reihe von Romanen mit den Geschichtsmythen der französischen Gesellschaft auseinander setzte. Autoren wie Frederic Fajardie, Thierry Jonquet, Daniel Pennac oder Jean-Bernard Pouy bauten den neopolar zum roman noir engagé aus und nutzten ihn als eine Form kritischer Geschichtsschreibung, in der sie gegen die Einseitigkeiten des französischen Geschichtsbildes Einspruch erhoben und teilweise abseitige, aber für die Geschichtsschreibung durchaus wichtige Episoden wieder Aufmerksamkeit verschafften. 34 Während es den Akteuren des Mai 1968 zunächst nicht gelungen war, ihren Protest in politische Gestaltungsmacht umzuwandeln, trugen sie jedoch langfristig zu einem kulturellen Umbruch bei, der sich in den 1980er und 1990er Jahren auch auf der politischen Ebene durchsetzte. So war die französische Literatur der siebziger Jahre durch einen »Mode Rétro« 35 gekennzeichnet, der zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Vichy und einer Neubewertung von Kollaboration und Résistance führte. Der detektivische Zugang zur Vergangenheit war dabei jedoch nicht auf den engeren Kreis der Autoren des neo-polars eingeschränkt, wie etwa die Romane von Boileau & Narcejac oder Patrick Modiano 36 zeigen. Unter den Kriminalromanen, die sich in Frankreich mit der deutschen Besatzungszeit, der Kollaboration und den Kontinuitäten innerhalb der französischen Nachkriegsära auseinander setzten, sticht der Roman Meurtres pour mémoire (1984) von Didier Daeninckx hervor, zumal er bei seiner Veröffentlichung mediale Aufmerksamkeit erzeugte und kurz darauf mit zwei renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. 37 Daeninckx, dessen Romane als »thriller de la memoire historique« 38 beschrieben worden sind, hat in seinen Romanen aus einer radikal linken Perspektive wiederholt auf den französischen Rechtsextremismus und Rassismus aufmerksam gemacht. In Meurtre pour Memoire zeigt er am Beispiel Maurice Papons – der im Roman André Veillut heißt – nicht nur die Verdrängungsmechanismen innerhalb der französischen Gesellschaft auf, sondern 34 Elfriede Müller/Alexander Ruoff, Histoire Noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman, Bielefeld 2007. Müller und Ruoff legen den Schwerpunkt auf die gemeinsame linke Erfahrung der Autoren und betrachten den neo-polar als eine Form der Geschichtsschreibung. Siehe auch: Jean Pierre Schweighauser, Le Roman noir français, Paris 1984, S. 71-90. Gorrara, The Roman Noir, S. 55-106. Auch die Artikel in einem Sonderband von Les Temps Moderne: Roman noir. Pas d’orchidées pour les TM, in: Les Temps Moderne (1997), Nr. 595. 35 Vgl. Morris, Collaboration and Resistance Reviewed. 36 Patrick Modiano, La Ronde de nuit, Paris 1969. Ders., Rue des boutiques obscures, Paris 1978. Dazu: Claire Gorrara, Tracking Down The Past: The Detective as Historian in Texts by Patrick Modiano and Didier Daeninckx, in: Mullen/O’Beirne (Hg.), Crime Scenes, S. 281-290. 37 Zu weiteren Romanen, die sich mit »Vichy« auseinandersetzen, wie etwa Frederic Fajardie’s Un homme en harmonie (2004), Patrick Rotman’s L’ame au poing (2004) und Dominick Manotti’s Le corps noir (2004) siehe: Müller/Ruoff, Histoire Noir, S. 235-266. 38 Claude Prevost/Jean-Claude Lebrun, Profil Didier Daeninckx, in: Dies., Nouveaux territoires romanesques, Paris 1990, S. 83.

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auch die Kontinuität eines gesellschaftlich verankerten Rassismus, der sich in der französischen Kultur und Politik widerspiegelt. Meurtres pour mémoire beginnt mit einer erregend grauenvollen Beschreibung des 17. Oktober 1961, jenem Tag, an dem die französische Polizei mitten in Paris eine von der FLN organisierte Demonstration gegen den Algerienkrieg und die Ausgangssperre gegen muslimische Franzosen gewaltsam auflöste und bei der nach den zunächst veröffentlichten offiziellen Angaben 3 Personen starben, tatsächlich aber 200 bis 300 Protestierende getötet wurden. Daeninckx gibt den Opfern dieses Massakers – welches aus dem öffentlichen Gedächtnis Frankreichs kurz darauf verdrängt wurde – mit Roger Thiraux, einem Geschichtslehrer, und den beiden algerischen Migranten Saïd Milache und Kaïra Guelanine, eine Identität. In kurzen Eingangszenen gewährt Daeninckx einen Einblick in das Leben der beiden politisch engagierten Migranten, bevor sie aus dem Blickfeld und dem Gedächtnis der französischen Erinnerungsgemeinschaft verschwinden: Saïd wird ermordet, Kaïra verhaftet. Roger Thiraux wird das brutale Vorgehen der Polizei gegen die friedlichen Demonstranten beobachten. Während in einem Theater die Premiere Adieu Prudence mit Sekt gefeiert wird, unterstützen französische Staatsbürger die Sicherheitspolizei CRS bei ihrem schmutzigen Geschäft. Doch damit nicht genug: Roger Thiraux wird von einem Auftragsmörder im CRS hingerichtet. Bei den folgenden Aufräumarbeiten, bei denen die Leichen »unterschiedslos aufeinandergestapelt« werden, wird entdeckt, dass es sich bei Thiraux um keinen »Drecksaraber« handelt: »Oh merde, c’est pas un bicot!« Der Abschlussbericht der Polizei spricht von drei Toten und über 10.000 Gefangenen, Paris Jour berichtet am nächsten Tag als einzige Zeitung von dem Ereignis unter der Überschrift »Les Algériens Maitres de Paris Pendent Trois Heures.« 39 Mit einem harten Schnitt wechselt Daeninckx den Schauplatz seiner Geschichte: Jahre später bekommt der Sohn von Thiraux, selbst Geschichtsstudent, ein Manuskript seines Vaters über seinen Geburtsort Drancy vor den Toren von Paris in die Hände, der darin vermerkt hatte, dass aus dem Gebiet von Toulouse überdurchschnittlich viele Juden in das dortige Transitlager deportiert wurden. Mit seiner Freundin – ebenfalls Geschichtsstudentin, die an einer mentalitäts- und stadthistorischen Studie über einen Pariser Vorort schreibt – begibt er sich nach Toulouse, um wenig später nach einem Archivbesuch ermordet zu werden. Während der Mord an dem Vater von den Behörden dadurch verschleiert wird, dass er angeblich im Milieu der Algerier tätig war, veranlasst dieser erneute Mord die Ermittlungen von Inspecteur Cadin. Cadin ist als linker Humanist und kommunistischer Sympathisant ein Außenseiter innerhalb des Polizeiapparates, der in mehreren Romanen des Autors die Ermittlungen leitet, bis er sich am Ende des Jahres 1989, kurz nach dem Fall des eisernen Vorhangs, etwas pathetisch das Leben nehmen wird. 40 Cadin kann nun die Verbindung zwischen den beiden Morden herstellen. Da ihm die Akten der Untersuchungskommission, die nach dem Massaker an den algerischen Demonstranten eingesetzt wurde, verschlossen bleiben, helfen ihm die Aufnahmen eines belgischen Fernsehteams, auf denen der gedungene Mörder von Thiraux zu erkennen ist. Doch dieser ist nur ein 39 Didier Daeninckx, Meurtres pour mémoire, Paris: Gallimard 1984, S. 37f. 40 Didier Daeninckx, Le facteur fatal, Paris: Denoël et Gallimard 1990.

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Befehlsempfänger, der ihn jedoch auf den Drahtzieher der beiden Morde bringt: André Veillut, dessen Lebenslauf in eindeutiger Engführung an Maurice Papon erinnert und dem in der Fiktion die beiden Historiker auf die Spur gekommen waren und deshalb von Veillut ermordet wurden. Zum Schluss des Romans werden Veillut sowie seine Helfer sterben. Während in der Literatur derart Gerechtigkeit hergestellt wird, scheitert die französische Gesellschaft bis zu diesem Zeitpunkt daran weitgehend. In Frankreich waren über 75.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer in die Konzentrationslager deportiert worden, von denen nur 2.500 zurückkehrten. Erst seit dem Ende der 1970er Jahre wurde über die Beteiligung von Franzosen an den nationalsozialistischen Verbrechen debattiert und die Beteiligung französischer Polizisten, Beamten und Militäreinheiten an den Deportationen deutlich. Die Ausmaße der Beteiligung am Holocaust wurden erstmals in einer Studie der amerikanischen Historiker Michael Marrus und Robert Paxton von 1981 aufgearbeitet, die klar stellten, dass die französischen Behörden nicht nur aus vorauseilendem Gehorsam, sondern aus einer eigenen rassistischen Motivation heraus die Ansprüche der deutschen Besatzungsmacht antizipierten und eine eigene antisemitische Gesetzgebung verfassten, die den Ausschluss von Juden aus der französischen Gesellschaft ermöglichte. 41 Gleichzeitig wurde gegen Ende der 1970er Jahre verstärkt eine strafrechtliche Verfolgung deutscher NS-Täter und ihrer französischen Kollaborateure gefordert, die es nach dem Krieg geschafft hatten, sich einer strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen. Die von Serge und Beate Klarsfeld gegen Ende der 1970er Jahre gegründete L’Association des fils et des filles de déportés juifs de France 42 war maßgeblich daran beteiligt, dass NS-Verbrecher und Kollaborateure wie Klaus Barbie, Kurt Lischka, Ernst Heinrichsohn und Herbert M. Hagen vor Gericht gestellt wurden; zudem wurden René Bousquet (1991), Jean Leguay (1979) und Paul Touvier (1981) angezeigt. 43 1988 wurde in Frankreich erstmals Anklage gegen Maurice Papon wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben, jedoch kam es erst 1997 zu einer Gerichtsverhandlung. Zwischen 1942 und 1944 war Papon, ein junger aufstrebender Verwaltungsbeamter, für »Judenfragen« in der Präfektur Bordeaux zuständig gewesen und damit mitverantwortlich für die Deportation von 1500 Juden, was im Vergleich zum Rest Frankreichs eine hohe Verfolgungsdichte bedeutete. Kurz vor der Befreiung nahm er Kontakt zur Résistance auf, so dass ihn de Gaulle nach der Befreiung als Präfekt der Gi41 Micheal Marrus/Robert Paxton, Vichy France and the Jews, New York 1981. Einen Überblick zur deutschen Besatzungszeit aus Sicht der historiographischen Forschung bietet: Julian Jackson, Introduction: Historians and the Occupation, in: Ders., France: The Dark Years 1940-1944, Oxford 2001, S. 120. Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944, Darmstadt 2000. 42 Beate Klarsfeld/Serge Klarsfeld (Hg.), Le Mémorial de la déportation des Juifs de France, Paris 1978. Serge Klarsfeld (Hg.), Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich. Deutsche Dokumente 1941- 1944, Paris 1977. Ders., Vichy – Auschwitz. »La solution de la question juive« en France (=La Shoah en France, Band 1), Paris 2001. 43 Vgl. Richard J. Goulson (Hg.), Memory and Justice on Trial: The Papon Affair, London 2000.

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ronde einsetzte. Damit begann eine erfolgreiche administrative Nachkriegskarriere. Er war auf dem Höhepunkt des Algerienkrieges zwischen 1956 bis 1958 Generalinspekteur im Nordosten Algeriens, wobei unter seiner Regie algerische Befreiungskämpfer Repressionen ausgesetzt wurden und er umstrittene Umsiedlungsmaßnahmen ergriff, um den Widerstand der Algerier zu brechen. Von 1958 bis 1967 war er Pariser Polizeipräsident und so mitverantwortlich für die blutige Auflösung der friedlichen Demonstration der algerische Unabhängigkeitsbewegung vom 17. Oktober 1961. Erst zu Beginn der 1990er Jahre wurde dieses Ereignis von einem Historiker aufgearbeitet, der zu dem Schluss kam, dass zwischen 200 bis 300 Demonstranten getötet worden waren. 44 Seit 1978 hatte Papon einen Ministerposten im Kabinett unter Valery Giscard d’Estaing, bis 1981 in der Enthüllungs- und Satirezeitschrift »Le Canard enchaîné« Dokumente auftauchten, die Papons maßgebliche Beteiligung an der Deportation von jüdischen Franzosen aus der Region Bordeaux nachwiesen. Daeninckx stellt seinem Roman den Ausspruch »En oubliant le passé, on se condamne à revivre« von George Santayana voran: »Wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie noch einmal zu erleben.« Damit überträgt Daeninckx die französische Beihilfe zum Völkermord der Deutschen an den europäischen Juden auf den Umgang der Franzosen mit der algerischen Minderheit. So wird im Zuge der Ermittlungen Inspecteur Cadin das Verbrechen an den algerischen Demonstranten überspitzt als »Oradour in der Mitte von Paris« bezeichnen. 45 Deaninckx belässt es also nicht bei einer Anklage eines wichtigen Helfers der deutschen Vernichtungsmaschinerie, sondern er zeigt, wie sich diese Politik des Rassismus nach 1945 fortschreibt. 46 Die Verknüpfung von Historie und Fiktion bei Didier Daeninckx ist sowohl mit den geschichtsphilosophischen Schriften Michel de Certeaus als auch mit Walter Benjamins Geschichtsphilosophie in einen Zusammenhang gestellt worden. 47 Beides ist durchaus überzeugend, denn sowohl für de Certeau als auch Benjamin kann die Geschichte nicht von der Erfahrung der Individuen getrennt werden, die diese Geschichte mitbestimmen und unter der sie leiden, und für beide bleibt die Geschichte immer eine essentielle Bedingung der Gegenwart. Mit de Certeau – aber auch Roland Barthes und Paul Veyne – ist zudem in den 1970er Jahren eine Entwicklung innerhalb der französischen Geschichtstheorie verbunden, die dem Fiktiven innerhalb der Historie eine neue Relevanz einräumte. Mit Benjamin verbindet Daeninckx, dass seine historische Fiktion einen emphatischen Wahrheitsbegriff auszeichnet, der nach dem historisch Verdrängten hinter den Ökonomien des Kapitalismus und der Erinnerungspolitik fahndet. 48 Seine Aufklärungsarbeit 44 Jean-Luc Einaudi, La Bataille de Paris, Paris 1991. 45 Daeninckx, Meurtres pour mémoires, S. 81. 46 Vgl. Kristin Ross, Watching the Detectives, in: Francis Barker (Hg.), Postmodernism and the Re-Reading of Modernity, Manchester 1992, S. 46-65. 47 Josiane Peltier, Didier Daeninckx and Michel de Certeau. A History of Affects, in: Mullen/O’Beirne (Hg.), Crime Scenes, S. 269-281. 48 Vgl. Daeninckx, Meurtres pour mémoire, etwa S. 216: Hier verbirgt sich hinter Werbeplakaten eine noch aus der Besatzungszeit stammende Anweisung des Militärbefehlshabers von Stülpnagel, nach der es unter Androhung der

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ist radikal gegenwartsbezogen und geht über den konkreten Fall hinaus, wenn er marginalisierte und engagierte Subjekte der Geschichte – wie die Migranten – in seine Erzählung integriert. Meurtres pour mémoire kann als ein paradigmatischer retrospektiver historischer Ermittlungsroman angesehen werden. Zunächst entfaltet der Roman ein breites historisches Panorama und verknüpft die Geschichte der historischen Verbrechen mit einem fiktiven Verbrechen. Anders aber als in vielen anderen Romanen dieser Art klärt der Ermittler nicht nur das fiktive Verbrechen auf, wie eng es auch immer an die Realität angebunden sein mag, sondern er weist einer Figur Verbrechen nach, deren reale Identität unschwer zu entziffern ist. André Veillut, der auf für den Detektivroman klassische Weise erst am Ende der Erzählung als Drahtzieher hinter den Morden aufgedeckt wird, erscheint im Roman als Bürokrat der Vernichtung, der nicht davor zurückschreckt, über Leichen zu gehen, um seine Vergangenheit zu vertuschen. Mit Daeninckx erreicht der retrospektive Kriminalroman eine danach selten wieder erreichte Ebene der historischen Konkretion, die direkt in den öffentlichen Geschichtsdiskurs eingreift. Sein politischer Anspruch erzeugt einen Blickwinkel, aus dem heraus die Protagonisten des Romans eine konkrete, bislang unberücksichtigte bzw. negierte Wahrheit in den öffentlichen Geschichtsdiskurs einschreiben und somit die Meistererzählung nationaler Vergangenheit in Frage stellen. 49 1.2 D ER N ATIONALSOZIALISMUS

IM BRITISCHEN

T HRILLER

Während im französischen Kriminalroman vor dem Hintergrund der Erfahrung der Besatzungszeit Fragen von Kollaboration und Widerstand thematisiert wurden, war die historische Ausgangsbasis in Großbritannien durch die Appeasement-Politik, den Verlauf des Zweiten Weltkriegs, die diplomatischen Annäherungsversuche des Deutschen Reiches an Großbritannien, den Angriff auf England und die fehlschlagenden Invasionspläne durch das NSRegime kaum vergleichbar. Anders als den französischen und deutschen Kriminalroman zeichnet es den britischen (und auch den amerikanischen) Thriller aus, dass er seinen Agenten- und Kriminalplot in die internationale big history einzuordnen versteht und damit den Politthriller begründet. Mit den Romanen von William Somerset Maugham, Eric Ambler und Graham Greene entstand zu Beginn der 1930er Jahre neben dem bestehenden heroisch-romantischen Agentenroman der antiheroisch-realistische Agentenroman. 50 Das Genre, welches bis dahin weitgehend konservative, nationalisti-

Todesstrafe verboten ist, jüdische Staatsangehörige und Feinde des Deutschen Reiches zu unterstützen. 49 Daeninckx’ Sicht der französischen Gesellschaft ist umstritten, da sein erinnerungspolitischer Ansatz nie distanziert oder neutral ist, weshalb manche Kritiker seine Romane als historische Pädagogik empfunden haben. Diese historische Pädagogik ist jedoch nie eindimensional, sondern vielstimmig aufgebaut. 50 Vgl. Jens-Peter Becker, Der englische Spionageroman. Historische Entwicklung, Thematik, literarische Form, München 1973.

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sche und chauvinistische Wertvorstellungen transportiert hatte, wurde von liberalen und linksorientierten Autoren erobert, die neben der Absurdität des Spionagewesens auch die Unsinnigkeit des Kriegs betonten. In Großbritannien griffen der Agentenroman und der sich insbesondere durch Eric Ambler ausbildende Politthriller in den 1930er und 1940er Jahren die Gefahren von Totalitarismus und Faschismus auf. Eine zeitgenössische Studie von 1936 zeigte sich über die Popularität und den über alle soziale Klassen reichenden Erfolg des Thrillers in Großbritannien wenig verwundert, da man in einer Zeit lebe, »when the gangster, wether of Al Capone, Hitler, Goering or Mussolini type, has become the hero of millions«. 51 Der britische Literaturwissenschaftler Eric Homberger sah dem widersprechend in der britischen Literatur der 1930er Jahre insgesamt ein »vehicle for lulling the public«, in der es zu einer generellen Fehleinschätzung des Nationalsozialismus gekommen sei: »No serious english novel of the 1930s registered the true nature of Hitlerian aggression. This was a widespread failure, from which popular culture was not exempt.« 52 Damit forderte Homberger von der Literatur ein, was er im britischen Agentenroman – zu nennen wäre hier insbesondere Erskine Childers für das Spionagegenre stilprägender Roman The Riddles of the Sands (1903) – vor dem Ersten Weltkrieg noch gegeben sah, nämlich eine wiederholte Warnung vor Deutschland und Aufrufe zu verstärkten Verteidigungsanstrengungen. Als Beleg konnte der nationalistische Vielschreiber E. Phillips Oppenheim dienen, der vor dem Ersten Weltkrieg noch vor einer Invasion Englands gewarnt hatte und 1938 mit The Spymaster einen Roman vorlegte, der ganz auf der Linie der AppeasementPolitik war: Während des Münchener Abkommens rettet hier ein britischer Admiral den Frieden, weil er einem deutschen Spion Informationen über den hohen Stand der britischen Rüstung zukommen lässt, was das nationalsozialistische Deutschland dazu veranlasst, keinen Krieg zu beginnen. 53 Diese Unterstützung der Appeasement-Politik änderte sich während des Zweiten Weltkrieges, als sich die Spionageliteratur in den Dienst der Kriegspropaganda stellte und alle Register zur Diffamierung des Gegners zog. In Helen MacInnes’ Above Suspicion (1941) und Assignment in Britanny (1942) – Resistance-Thriller, die im besetzten Europa spielen – sind die Deutschen meist ideologische Fanatiker, während die Helden sich zudem mit Kollaborateuren und Spitzeln in den eigenen Reihen auseinander zu setzen haben. Die Withered Man-Serie (1940-1942) des Groschenheftschreibers John Creasey betonte neben dem deutschen Militarismus vor allem das Stereotyp des prussianism, mit dem deutsche Gründlichkeit und Überheblichkeit und weitere Klischees verbunden waren. 54 Kritisch gegenüber den Auswirkungen der 51 Philip Henderson, The Novel Today. Studies in Contemporary Attitudes, London 1936, S. 20. 52 Eric Homberger, English Spy Thrillers in the Age of Appeasement, in: Wesley K. Wark (Hg.), Spy Fiction, Spy Films and real intelligence, London 1991, S. 80-91; hier S. 87. 53 E. Phillips Oppenheim, The Spymaster, London: Hodder & Stoughton 1938. 54 Vgl. dazu Peter Hasenberg, »The Teuton’s inbred mistake«. Das Deutschlandbild im britischen Agentenroman, in: Anglistik und Englischunterricht 29/30 (1986), S. 217-245; hier insb. S. 224-227. Zum prussianism: Lothar Kettenacker, Preußen-Deutschland als Feindbild im Zweiten Weltkrieg, in:

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Spionagehysterie auf die eigene Gesellschaft zeigte sich hingegen Graham Greene’s Ministry of Fear (1944). Doch auch für die Vorkriegszeit und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lässt sich zeigen, dass der Thriller ein wirkungsmächtiges Erzählmuster darstellte, welches abseits nationalistischer und propagandistischer Stereotype auf die Gefahren von Totalitarismus und Faschismus aufmerksam machte. Der nationalistische und chauvinistische Heldentyp, wie man ihn in den Romanen von John Buchan oder Sapper fand, wich in Geoffrey Household’s Rogue Male (1939) – rogue bezeichnet das wilde Tier, welches abseits von der Herde lebt – einem Individualisten, der aus rein persönlichen Motiven handelt und damit noch dem heroisch-romantischen Typus des Agentenromans entsprach: Erzählt wird der Versuch eines Attentats auf einen ungenannten europäischen Diktator durch einen britischen Gentleman, welcher sich zunächst auf einer Großwildjagd in Polen befindet und dann über eine nicht weiter bestimmte Grenze in ein anderes Land einreist. Das Attentat – wie der Ich-Erzähler am Ende des Romans zugesteht, geschieht es aus Rache für seine Geliebte, die von der Geheimpolizei des Diktators umgebracht wurde – scheitert jedoch. In Rogue Male wird eine individualistische, eigenverantwortliche Konzeption des Subjekts gegen die Vermassung und den allumfassenden, mit Terror durchgesetzten Erziehungsanspruch des Totalitarismus gesetzt: »It’s the mass that we are out to discipline and educate. If an individual interferes, certainly we crush him; but for the sake of the mass – of the State, shall I say?«, äußert ein besoldeter Agent des anonymen Diktators. 55 Household blieb von der realistisch-antiheroischen Entwicklung innerhalb des Agentenromans noch weit entfernt. In diese Richtung gingen vielmehr die Romane Eric Amblers, die die Bedrohung durch den europäischen Faschismus deutlich aufzeigten und die einen Charaktertyp in die Kriminalliteratur einführten, der auch für spätere Geschichtskrimis Bedeutung erlangen sollte. Ambler vollzieht ohne Zweifel eine Wende innerhalb des Genres, weil er aus einer moderat marxistisch orientierten Perspektive den europäischen Faschismus beurteilt und somit ein bis dahin konservativ geprägtes und das britische Establishment stützendes Genre grundlegend reformiert. Amblers Romane lassen sich nach politisch-ideologischen Gesichtspunkten in zwei Phasen einteilen: Vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs beinhalten Amblers Romane vor 1939 ein Plädoyer für die Bildung einer antifaschistiBernd-Jürgen Wendt (Hg.), Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, Bochum 1984, S. 141-165; hier S. 151. 55 Geoffrey Household, Rogue Male [1939], London: Penguin 1974, S. 146. Vgl. Jost Hindersmann, Der britische Spionageroman. Vom Imperialismus bis zum Ende des Kalten Krieges, Darmstadt 1995, S. 49. Die erste deutsche Übersetzung stammt aus dem Jahr 1950: Geoffrey Household, Der Gehetzte, Nürnberg: Nest-Verlag 1950. Household war mit einer Jüdin verheiratet und bezeichnete in seiner Autobiographie den Nationalsozialismus als eine persönliche Bedrohung. Household vermeidet aber explizit eine Stellungnahme in seinem Roman, wer der Diktator ist. Nach der Vorlage von Household entstand unter dem Titel Man hunt (1941) der erste antifaschistische Hollywoodfilm von Fritz Lang.

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schen Popular Front unter Einbeziehung der Kommunisten, wobei ihm – der selbst nie Mitglied einer kommunistischen Partei war – jeglicher marxistischleninistischer Dogmatismus fremd bleibt und er vielmehr eine trotzkistisch orientierte Position einnimmt. 56 Seit dem Kriegsbeginn 1939 wandelt sich Amblers Einstellung zum Marxismus und die damit zusammenhängende Kapitalismuskritik, was insgesamt zu einer »patriotischen Wende« führt. Dabei spielten das Scheitern der Spanischen Republik, die kommunistischen Säuberungsaktionen innerhalb der Volksfront im Spanischen Bürgerkrieg als auch die vom deutschen Faschismus ausgehende wachsende Kriegsgefahr sicherlich eine wichtige Rolle. Amblers Romane zeichnen sich formal durch eine Neukonzeption des Protagonisten aus: Sie sind dem Genre unübliche, als Parodien auf andere Thriller-Figuren gezeichnete Antihelden 57, die aus der middle class stammen und der Welt des Verbrechens und der Gewalt zunächst unbeholfen gegenüberstehen. Da sie aber meist Ingenieure, Journalisten oder Autoren von Detektivromanen sind, kennzeichnet sie alle ein spezifisches Interesse an der Wahrheit zunächst undurchschaubarer politischer Vorgänge, in die sie im Handlungsverlauf ungewollt verstrickt werden. Zweitens implementiert ihnen Ambler ein humanistisches Gerechtigkeitsempfinden. Der Protagonist, der sich auf einer Berufsreise meist in Südosteuropa befindet, ist zunächst politisch unbedarft und nur auf den Erhalt seines kleinbürgerlichen Lebens erpicht. Im Handlungsverlauf bemerkt er jedoch, dass ihn seine berufliche Tätigkeit in lebensbedrohliche Spionageaffären verwickelt. Vom Handlungsverlauf mitgerissen, bekommt der Hauptcharakter einen Einblick in das Spiel kapitalistischer Machtintrigen und wird notgedrungen zu einer mutigen, politisch-moralisch engagierten Person, während kein Weg in das vorher gelebte bürgerliche Dasein zurückführt. Auf diesem Weg helfen dem Protagonisten in den Romanen Uncommon Danger (1937) und Cause for Alarm (1938) der Sowjetagent Zaleshoff und seine Schwester Tamara, die als »Medien« zwischen der privaten Welt des Protagonisten und der Welt des Politischen vermitteln, den Protagonisten aufklären und beschützen. 58 56 Peter Lewis, Eric Ambler, New York 1990, S. 11. 57 Die Protagonisten heißen Curruthers, Marlow oder Graham in Anspielung auf Autoren wie Erskine Childers, Raymond Chandler und Graham Green und deren Protagonisten. Ambler kreierte keinen Serienhelden, auch wenn sich die Charaktere sehr ähnlich sind. 58 Hindersmann, Der britische Spionageroman, S. 36, wirft Ambler vor, dass dieser nach den stalinistischen Schauprozessen 1936, und – so müsste man hinzufügen – nach den beginnenden kommunistischen Säuberungsaktionen in Spanien seit Dezember 1936, an einer sowjetfreundlichen Einstellung festgehalten habe. Dies ist zu relativieren, denn einerseits wird der stalinistische Zaleshoff entzaubert, wenn der Protagonist dessen Lügen über Trotzki offenlegt, oder aber, wenn er in einem Gedankenspiel Deutschland mit der Sowjetunion vergleicht: »After all, I had no particular feelings about either of their countries. I knew neither of them. When I thought of Germany I thought of parades, of swastika banners flapping from tall poles, of loudspeakers, of stout field-marshals, and goose stepping men with steel helmets, of conventration camps. When I thought of Russia I thought of dark, stupid Romanovs, of the Winter Palace, of Cossacks, of crowds streaming in

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Für den Erfolg des Faschismus hat Ambler in seinen frühen Romanen ein marxistisch orientiertes Erklärungsmodell: Von einem ökonomischen Primat ausgehend, sieht er im internationalen Big Business – Banken, Ölgesellschaften, Groß- und Rüstungsindustrie – die Profiteure und Urheber faschistischer Staatsstreiche und kriegstreiberischer Politik. Dies lief aber keinesfalls auf eine plakative Übernahme der dogmatischen Komintern-Position hinaus, die den Faschismus ausschließlich als »Instrument des Finanzkapitals« interpretierte. 59 Vielmehr wird in den Romanen Amblers der Faschismus als eine moderne europäische Geistesströmung vorgeführt, deren Grundlagen Ambler ideengeschichtlich interpretierte. Während die Protagonisten als Wissenschaftler oder Autor von Detektivromanen einen ahistorischen, empirischen Rationalismus vertreten, wird der Faschismus ideengeschichtlich zwischen Oswald Spengler, Ortega y Gasset, Friedrich Nietzsche und Charles Darwin verankert. 60 Für Ambler, der immer mit relativ wenigen zeitgenössischen politischen Fakten auskommt, ist der Faschismus in erster Linie die Erfahrung einer lebensbedrohlichen Situation, die anhand des Helden durch den Leser nachvollzogen werden kann und in den zeitgenössischen Kontext verwoben wird: der drohende Krieg, die Situation der Flüchtlinge, die Ausschaltung von Oppositionellen durch die italienische Geheimpolizei Ovra, die Indoktrination der italienischen Jugend mit faschistischen, kriegsverherrlichenden Idealen, oder aber – und das betrifft nur den Nationalsozialismus – die Erwähnung von Konzentrationslagern und der Rassenpolitik der Nazis. Diese Details werden in keiner Weise verallgemeinert, um etwa ein einheitliches Bild der europäischen Faschismen zu entwerfen; selbst dann nicht, wenn Amblers Protagonisten in kurzen historischen Überblicken über faschistische Entwicklungen in fiktiven Staaten Südosteuropas dozieren. Offen zutage treten die Unterschiede des italienischen und deutschen Faschismus in Cause for Alarm (1938), wenn hier auf die Konkurrenz und das Misstrauen innerhalb der »Achse« Berlin-Rom eingegangen wird, die der Protagonist durch gezielte Informierung der Deutschen über den Ausbau von Flughäfen und Waffensystemen an der italienisch-österreichischen Grenze verstärken will. Diese Unterschiede sind für Ambler allerdings nicht ideologisch-weltanschaulicher Natur, sondern beruhen auf außenpolitischen Machtinteressen beider diktatorischer Staaten. Schließlich weist Ambler auf die Möglichkeit eines britischen Faschismus hin, die er – neben seiner fast ausschließlich auf die britische Großindustrie gemünzten Kritik des Kapitalismus – in der Macht der Bürokratie und einer in Ansätzen autoritär geprägten britischen Jugend sieht. Amblers Faschismusanalyse ist vielgestaltig und reduziert sich weder auf ei-

terror, of canopied priests swinging censers, of Lenin and Stalin, of grain rippling in the breeze, of the Lubianka prison.« Eric Ambler, Cause for Alarm, London: Hodder & Stoughton 1973, S. 170. Nur anscheinend werden hier Faschismus und Stalinismus gleichgesetzt, denn der gemeinsame Gegner des britischen Protagonisten und des Sowjetagenten bleibt der Faschismus. 59 So letztlich Hindersmann, Der britische Spionageroman, S. 45. 60 Vgl. dazu Ronald J. Ambrosetti, Eric Ambler, New York 1994, insb. S. 1-72.

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ne dogmatisch-marxistische Interpretation, noch auf seine Führergestalten oder aber auf die angedeuteten geistesgeschichtlichen Erklärungsversuche. Für Amblers Entzifferung und Entmythologisierung des Faschismus spielte die ihm eigene Ironie eine zentrale Rolle. 61 So kommentierte Ambler über fiktive Lebensläufe den Werdegang faschistischer Führer. In The Mask of Dimitrios (1939) gab es Parallelen zwischen biographischen Daten des Kriminellen Dimitrios und wichtigen Ereignissen im Leben Hitlers und Mussolinis, in Uncommon Danger (1937) erscheint hingegen eine Hitlerpersiflage, die den Hitlerkarikaturen und den Spekulationen um Hitlers familiäre Herkunft eine schwarzhumorige Groteske entgegenstellte. Hier wird der Eisenbahner Karl »Achilles« Hoesch, der durch seinen biographischen Lebenslauf unschwer als Hitler zu erkennen ist, von einem Colonel Robinson, der im Auftrag einer britischen Erdölfirma einen faschistischen Staatsstreich in Rumänien unterstützen soll, aus Versehen in die Ferse geschossen, so dass ein Artikel über die »Achillesferse von Linz« in den Tageszeitungen erscheint. 62 Sechs Monate vor dem Einmarsch deutscher Truppen in der Tschechoslowakei erschien Amblers Epitaph for a Spy (1938), der den Agententhriller wieder an die klassische Detektivstory anzubinden versuchte, indem sich der Roman auf eine weitgehende Einheit des Ortes und einen beschränkten Kreis von Verdächtigen konzentrierte. Hier gab Ambler das Wort einem deutschen Marxisten, der von Gleichschaltung und Terror in Deutschland seit 1933 berichtet und das Versagen der Sozialdemokraten gegenüber Hitler kritisiert, da diese davon ausgingen, »that to deal with a mad dog was to stroke it«. 63 Die 1939/40 in dem wöchentlichen Journal The Sketch veröffentlichten Kurzgeschichten 64, aber auch der Roman Journey into Fear (1940) zeigen dann eine patriotische und politische Wende bei Ambler, die typisch für sogenannte »Renegaten« wie George Orwell oder Ernest Hemingway war, die sich angesichts des Stalinismus vom Kommunismus distanzierten. In Journey into Fear kommt es zu einer direkten Konfrontation eines Ingenieurs der britischen Rüstungsindustrie mit dem deutschen Spion Möller und dessen Gestapo-Helfern. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern wird das Schiff von Istanbul nach Genua zu einem schwimmenden Gefängnis, da die Verfolger mit an Bord sind. Vor dem Hintergrund des sich ankündigenden Todes und dem Kampf ums nackte Überleben liest sich der Roman als ein Appell zu Kampfbereitschaft und Durchhaltewillen mit Happy End. Ambler selbst meldete sich freiwillig bei der Artillerie und war wenig später bei einer Einheit tätig, die Propagandafilme drehte.

61 In Cause for Alarm nimmt Ambler etwa den »Modernismus à la Marinetti« aufs Korn, indem er einem wichtigen Charakter den Namen »Bellinetti« zuweist, er beschreibt Mailand mitsamt seiner »einzigen Sehenswürdigkeit« – den Büros der Populo d’Italia – als italienische Version von Birmingham, und er ironisiert den propagandistisch ausgeschlachteten »Marsch auf Rom« Mussolinis, da dieser tatsächlich in einem Salonwagen in die »Ewige Stadt« gefahren sei. 62 Eric Ambler, Uncommon Danger, Glasgow: Collins 1988, S. 130. 63 Zitiert nach Lewis, Eric Ambler, S. 51. Für Lewis ist dies ein Zeichen für Amblers Kritik an der Appeasementpolitik Chamberlains. 64 Vgl. Eric Ambler, The Intrusions of Dr. Czissar, London 1940.

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Ambler sah im Faschismus ein europäisches Phänomen, insbesondere, wenn er auf faschistische Bewegungen in (fiktiven) südosteuropäischen Kleinstaaten oder auf den deutschen und italienischen Einfluss in Europa aufmerksam machte. Seine Romane waren keinesfalls »Propaganda von links« 65, sondern verbanden ein europäisches, humanistisches Erbe mit einer marxistischen Kapitalismuskritik, ohne dabei in Dogmatismus zu verfallen. 66 Der Faschismus im britischen Agentenroman nach 1945

In den fünfziger Jahren nahm James Bond in Ian Flemings Moonraker den Kampf gegen Sir Hugo Drax auf, einen anscheinend respektablen britischen Staatsbürger, der sich als der überlebende Nazi Graf Hugo von der Drache entpuppt und London mit einer Atomrakete vernichten will. Der blonde und blauäugige Nazi wurde als master criminal und Inkarnation des Bösen schnell zum Stereotyp Hollywoods und britischer Kriegsfilme.67 Der Alt- und Neunazi, meist in der Verkörperung eines SS-Mannes, wurde zu einer »Figur des Dritten« 68 im Kalten Krieg, auf den man das individuell Böse projizieren konnte, nicht um zuletzt die bedrohliche Blockkonfrontation zwischen Ost und West zu mildern. Der Nazi als Figur des Dritten wurde zum Blitzableiter der Populärkultur, denn sie zeigte, dass es Weltherrschaftspläne oder Visionen eines »Vierten Reiches« gab, die wesentlich bedrohlicher waren als die atomare Konfrontation im Kalten Krieg. Seit der Mitte der sechziger Jahre wurde der Nationalsozialismus ein verbreitetes Thema für den Thriller. Die retrospektive Agenten-, Spionageund Weltkriegsliteratur über den Nationalsozialismus lässt sich in secret histories, in nightmares und as if narratives einteilen – Erzählmuster, die immer wieder aufgegriffen werden. 69 Unter den secret histories lassen sich Romane zusammenfassen, die angeblich bisher nicht bekannte historische Details enthüllen, die »Lücken« in der Geschichtsschreibung aufdecken und suggerieren, dass es hinter der »offiziellen« Geschichte eine wahre Geschichte gebe. Die nightmares umfassen Romane, die mit dem Gedanken eines Überlebens des Nationalsozialismus und seiner Protagonisten spielen. Bei den as if narratives handelt es sich um kontrafaktische Geschichtsfiktionen, die sich mit der Frage nach einem siegreichen Nazi-Deutschland befassen und die Möglichkeiten einer Invasion Englands thematisieren. Die populärsten und erfolgreichsten Autoren der secret histories sind William Goldman, Frederick Nolan, Jack Higgins, Ken Follet, Len Deighton

65 Hindersmann, Der britische Spionageroman, S. 49. 66 Zum ambivalenten Verhältnis von marxistischen Literaturwissenschaftlern und links orientierten Thrillerautoren wie Greene und Ambler: Chris Hopkins, Leftists and Thrillers: The Politics of a Thirties-Subgenre, in: Anthony Shuttleworth (Hg.), And in Our Time. Vision, Revision, and Britsh Writing of the Thirties, London 2003, S. 147-162. 67 Vgl. Karl-Heinz Wocker, Das Deutschlandbild im britischen Fernsehen, Düsseldorf 1976, S. 3. 68 Vgl. Arne Höcker, Die Figur des Dritten. Einleitung, in: Ders./Jeannie Moser/Philippe Weber (Hg.), Wissen. Erzählen, S. 153-158. 69 John Sutherland, Bestsellers. Popular Fictions of the 1970s, London 1981; insb. S. 167-185 u. 240-244. Hindersmann, Spionageroman, S. 61ff.

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und Colin Forbes. Wiederkehrende Handlungsmuster sind Attentats- oder Entführungsversuche auf Churchill, Roosevelt, Hitler, Stalin, Rommel und Patton oder aber sagenumwobene Ereignisse wie der Flug von Rudolf Heß nach England, die entweder verschwiegen wurden oder angeblich anders ausgingen, als es von der seriösen Geschichtsschreibung dargestellt wurde.70 Schon früh zeigt sich mit dem Raub von Kunst, Gold oder sonstigem Eigentum an den europäischen Juden ein weiteres wiederkehrendes Motiv: Der Krieg wird auf ökonomische Motive reduziert und Nationalsozialisten zu privaten Glücksrittern erklärt, die nicht »absolutely evil or fascistic – but immensely rich« sind. 71 Geschichte wird in diesen Romanen als ein »thing of drastic possibilities, and hairbreadth chances« und als »a matter of risky, personal interventions at the right moment« vorgeführt. 72 Im kritischen Moment müssen Staatsmänner oder andere männliche Protagonisten die richtige Entscheidung treffen, um das Weltgeschick zu lenken. Die Geschichte ist ein intrigantes, doppeltes Spiel, welches mit erstaunlichen Tricks von Männern mit Waffen oder durch das verführerische Spiel des weiblichen Körpers umgeschrieben werden kann. Ernst Mandel hat konstatiert, dass es in der Kriminalliteratur der 1970er und 1980er Jahre eine übergreifende Tendenz gegeben habe, nach der der Held zum Rebellen gegen die staatliche Ordnung werde, dem Verbrecher wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts neue Sympathie entgegengebracht werde und staatliche Verfolgungsapparate zunehmend als kriminelle Vereinigungen geschildert würden. 73 Dies ist auch für den britischen Agentenroman zu konstatieren: In Adam Halls The Damocles Sword (1981) ist der Held ein Spion aus der britischen upper class, der als SS-Hauptmann getarnt in den NS-Staat eindringt, um Wissenschaftler aus dem Dritten Reich herauszuschmuggeln, die in der Lage sind, die Atombombe zu bauen. Im Verlauf seiner Mission tötet er achtundzwanzig Männer, eher von Mordgier getrieben als von seinem Auftrag. Einige Opfer sind sadistische Verbrecher, andere aber Nebenfiguren wie Taxifahrer oder einfache Polizisten. Wo der totalitäre NS-Staat der Gegner ist, darf der Held selbst zum Serienmörder werden. Das Motiv eines anhaltenden nightmares findet sich in Fiktionen um nach dem Krieg entkommene Nationalsozialisten, die sich über die sogenannte Rattenlinie nach Südamerika abgesetzt haben oder aber in Europa unter falschem Namen weiterleben und den Geschichtsverlauf über Untergrundor-

70 Vgl. etwa die Romane Brass Target (1974) von Frederick Nolan; The Eagle Has Landed (1975) und The Eagle Has Flown (1991) von Jack Higgins; The Hess Cross (1977) von J. S. Thayers, John Kerrigans’ The Phoenix Assault (1980); Len Deightons XPD (1981); Colin Forbes’ The Leader and the Damned (1983) oder Philip Kerrs Hitlers Peace (2005). 71 Vgl. Sutherland, Bestsellers, S. 174. Beispiele sind: Frederick Nolan, Brass Target (1974); William Goldman, Marathon Man (1974); Frederick Nolan, The Mittenwald Syndicate (1976); Jack H. Crisp, Dragon Spoor (1978); Madelaine Duke, The Bormann Receipt (1979). Vgl. auch den The Holcroft Covenant (1978) des Amerikaners Robert Ludlum. 72 Sutherland, Bestseller, S. 174. 73 Ernest Mandel, Ein schöner Mord. Sozialgeschichte der Kriminalliteratur, Frankfurt/M. 1987, S. 133 u. 139.

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ganisationen (»ODESSA« oder etwa die »Organisation Werwolf« 74) zu beeinflussen versuchen und nun vom Mossad oder anderen Geheimdienstorganisationen aufgespürt und verfolgt werden. 75 Ende der siebziger Jahre tauchen dann Kinder führender Nationalsozialisten auf, die das nationalsozialistische Projekt ihrer Eltern fortführen und dabei auch nicht vor der Züchtung einer neuen arischen Rasse zurückschrecken. 76 Seit Mitte der 1960er Jahre – also nach der ersten Hochphase des Kalten Krieges, dem Ulmer Einsatzgruppenprozess 1957, dem Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem, dem Frankfurter Auschwitzprozess 1965 und der seit dem Ende der 1950er Jahre beginnenden, und auch auf literarischem Feld geführten Kampagnenpolitik der DDR 77 – thematisierte auch der britische Politthriller die fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik: Von der fadenscheinigen Entnazifizierung, den führenden Rollen ehemaliger NSDAP-Angehöriger und der fehlenden strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechern, bis hin zu dem Stimmenzuwachs der NPD bei bundesdeutschen Wahlen am Ende der sechziger Jahre, ist auch im Thriller zu lesen. In Adam Halls (d. i. Trevor Dudley Smith) The Berlin Memorandum (1965) steht die Bundesrepublik vor einer erneuten »Machtergreifung« und damit in klarer Kontinuität zum Nationalsozialismus. 78

74 Dass es nach dem Krieg wirkungsmächtige Organisation unter diesem Namen gegeben haben soll, ist ein populärer Mythos, der von den World War II-Spionageromanen kräftig befördert wird. Himmler und Goebbels versuchten unter dem Stichwort Werwolf (in Anlehnung an Hermann Löhns Roman Der Wehrwolf (1911), der den Partisanenkampf niedersächsischer Bauern gegen die Soldateska des Dreißigjährigen Krieges beschreibt), eine Guerillakampftaktik zu entwickeln. Die Existenz einer Fluchthilfeorganisation mit dem Namen »OdeSSA« (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen) behauptet: Simon Wiesenthal, The Murderers Among Us, New York 1967. Nach Frederick Forsyth’s The Odessa File (1972) findet sich die Organisation u. a. in: Brian Freemantles The Man Who Wanted Tomorrow (1975); in John Gardners The Werwolf Trace (1977), in Ted Allbeury The Reaper (1980). Eine sehr frühe Erwähnung findet sie in dem DDR-Krimi Das verbotene Zimmer (1966) von Fred Unger. 75 Ihre historischen Referenten sind Adolf Eichmann, Klaus Barbie, Josef Mengele, der KZ-Inspekteur Richard Glücks, Gestapo-Chef Heinrich Müller oder der Stellvertreter des Führers Martin Bormann, um deren Aufenthaltsorte nach 1945 anhaltende Spekulationen geführt werden. 76 So in John Gardner The Werwolf Trace (1977), in Gus Weills The Führer Seed (1978) oder aber in Micheal Spicers Prime Minister Spy (1986). Rassische Zuchtphantasien, die sich auf die Lebensbornvereine beziehen bei: Robert Holles, Spawn (1978) und Peter Lear, Goldengirl (1977). 77 Vgl. Kapitel IV, 2. 78 Dieser Roman fand erst 24 Jahre nach seiner Veröffentlichung einen deutschen Verleger, während andere Romane von Adam Hall sofort übersetzt wurden. Bei der Filmversion des Romans The Quiller Memorandum (GB 1966/Drehbuch: Harold Pinter) fielen in der deutschen Fassung alle Hinweise auf Nationalsozialisten der Synchronisation zum Opfer. Vgl. Richard Falcon, Images of Germany and the Germans in British Film and Televion Fic-

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John le Carré (d. i. David Cornwell) sah in A Small Town in Germany (1968) die Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre in einer vergleichbaren historischen Konstellation wie die Weimarer Republik und interpretierte sie als eine Demokratie ohne Demokraten, die sich zwischen den Polen der Studentenbewegung und den wiedererstarkten rechten Parteien aufzulösen scheint. Die neonazistische Oppositionsbewegung »The Movement« unter ihrem Führer Karfeld, ein in seinem Auftreten an Goebbels erinnernder ehemaliger NSKriegsverbrecher, tritt für einen anti-westlichen Kurs und verbesserte Beziehungen zur Sowjetunion ein. Bonner Politiker versuchen, Beweismaterial gegen die Bewegung zu unterdrücken, da sie mit ihr konspirieren. Auch Beweismittel, die die englische Regierung in der Hand hält, werden zurückgehalten, um den Beitritt Deutschlands in die EWG nicht zu gefährden. So entsteht das für John le Carré typische Bild von Opportunismus und dem Verlust von Moral und Idealen innerhalb der Politik, in der Gut und Böse nicht mehr zu trennen sind. Die politische Gegenwart zeigt sich als Wiederkehr der Vergangenheit, denn die Politik Karfelds erinnert an den RapalloVertrag und den Hitler-Stalin-Pakt, während die britische Regierung der Appeasementpolitik Chamberlains treu bleibt. Seit den siebziger Jahren tauchen in den Romanen positiv gezeichnete Deutsche der Nachkriegsgeneration mit einem gefestigten Demokratie- und Gerechtigkeitsverständnis auf. Auch die rassische Vernichtungspolitik wird erstmals ernsthaft in die Fiktion eingewoben. So spielt in Frederick Forsyth’ The Odessa File (1972) die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden eine zentrale Rolle. Mit seiner Figurenkonstellation erinnert er an Ambler: Der Protagonist Miller ist ein anglophiler deutscher Sensationsjournalist, der politisch und historisch zunächst unbedarft erscheint. Durch Zufall stößt er auf den Selbstmord eines ehemaligen jüdischen KZ-Häftlings und Überlebenden des Holocaust. Das von diesem hinterlassene Tagebuch, welches der Hamburger Polizei unwichtig erscheint, bringt den Journalisten auf die Spur des Kommandanten des Rigaer Ghettos, den »Schlächter von Riga« Eduard Roschmann, der in den Nachkriegsjahren Unterschlupf bei der Odessa gefunden hat. Das Tagebuch, welches die schrecklichen Ereignisse während des Krieges bezeugen kann und von den Reflexionen und Versuchen des Verstehens des Protagonisten unterbrochen wird, ist Teil umfangreicher Authentifizierungsstrategien, mit welchen der Roman seinen Wirklichkeitsbezug herstellt. Das Ludwigsburger Zentralarchiv wird zum detailliert beschriebenen Ort, an dem sich entscheidendes Beweismaterial auffinden lässt, und Simon Wiesenthal – dem vom Autor für die Durchsicht des Manuskripts gedankt wird – bestätigt in der Fiktion die Existenz der Geheimorganisation OdeSSA. Doch nicht allein das Interesse an einer guten Story hält Miller zur Suche nach Roschmann an. Wie sich im Verlauf des Romans herausstellt, hat Roschmann nicht nur im KZ gewütet, sondern Millers Vater – einen Hauptmann der Wehrmacht – bei der Flucht vor den Russen 1944 kaltblütig erschossen. Die Mörder dingfest zu machen, die Vergangenheit aufzuklären, das erklärt sich bei Forsyth durch eine familiengeschichtliche Motivation: die Detektion verbindet sich mit dem familiären Melodrama und dem Motiv der tions, in: Harald Husemann (Hg.), As Others See Us, Anglo-German Perceptions, Frankfurt/M. 1994, S. 7-28; hier S. 22.

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Rache. Dabei wird eine Kollektivschuld-These zugunsten einer Einteilung in Gut (Wehrmacht) und Böse (SS) explizit abgelehnt. Das Interesse der autoritätsgläubigen Bevölkerung, der Wirtschaft, weiten Teilen der Justiz, der Administration und der Presse an einer Aufarbeitung der Vergangenheit erscheint äußerst eingeschränkt. Preußische Traditionen wie Gehorsam und Folgsamkeit, und nicht ideologischer Rassismus und Antisemitismus, ließen die Deutschen Hitler folgen. Die Deutschen, so der Roman, haben ein moralisches Problem: »usual German cowardice when faced with a moral problem, in stark contrast to their courage when faced with a military task or a technical issue like the reconstruction of post-war Germany«. 79 Spätestens seit den achtziger Jahren zeigt sich der britische Agentenroman um einen Abbau von Klischees und Stereotypen bemüht. In Len Deightons Berlin Match (1985) werden die Stereotype regelrecht durchdiskutiert, bleiben aber eben noch tragender Bestandteil der Erzählung. Und nach der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie Holocaust (1978) findet dieser auch einen verstärkten Einzug in die kriminalistischen Agentennarrative. So wird in Ted Allbeurys Children of Tender Years (1985) ein jüdischbritischer Agent von Alpträumen an seine Kindheitserlebnisse im Konzentrationslager geplagt. Dennoch verliebt er sich in die Schwester seines jungen deutschen Kollegen, doch die Aussöhnung zwischen ihm und der Deutschen scheitert an Intrigen des israelischen Geheimdienstes. Der Nationalsozialismus als hardboiled-Fiktion Zu Beginn der 1990er Jahre kommt es zu einer Revitalisierung der Darstellung des Nationalsozialismus als Noir, und dies nicht nur in England. Deutliche Parallelen zu Léo Malet lassen die Trilogie Berlin Noir von Philip Kerr 80, die Romane des Italieners Carlo Lucarelli 81 oder aber die mittlerweile zwölf-

79 Frederick Forsyth, The Odessa File, London: Hutchinson 1972, S. 166. 80 Philip Kerr, Berlin Noir. March Violets. The Pale Criminal. A German Requiem, London: Penguin 1993. [Im Folgenden: BN] Siehe zu den Romanen auch: Achim Saupe, Der Nationalsozialismus als historischer Kriminalroman. Erzählte Geschichte und Konstruktion der Vergangenheit in Philip Kerrs Trilogie Berlin Noir, in: Franceschini/Würmann (Hg.), Verbrechen als Passion, S. 205-222. 81 Carlo Lucarelli, Carta Blanca, Palermo: Sellerio 1990. Ders., L’estate torbida, Palermo: Sellerio 1991. Ders., La Via delle oche Palermo: Sellerio 1996. Diese Romane um den Kommissar De Luca spielen in der Endphase des Faschismus, während in: Carlo Lucarelli, L’isola dell insula caduto. Palermo: Sellerio 1999, die Handlungszeit den Aufstieg des italieneischen Faschismus thematisiert. Bei Carlo Lucarelli handelt es sich um einen derjenigen Autoren, bei denen der Zusammenhang von Krimiautor und Historiker offensichtlich ist: Lucarelli arbeitete an einer Magisterarbeit über die faschistische italieniesche Polizei, um dann zu merken, dass die historiographische Darstellung nicht geeignet sei, um die Handlungsspielräume im Polizeiapperat während der Endphase des Faschismus zu erfassen: »Ich habe mit dem Schreiben angefangen, weil ich kein sonderlich guter Historiker geworden wäre. Es gelang mir nicht, diesen geschichtlichen Zeitraum mit wissenschaftlichen Kriterien zu erfassen. Ich fragte mich dauernd, was passiert

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bändige Romanserie des Kanadiers J. Robert Janes erkennen. 82 Die Autoren setzen auf zwiespältige Ermittler, die nun Teil der NS-Staatsorgane sind oder aber mit dem NS-Staat kooperieren müssen. So gehört bei Lucarelli der Kommissar De Luca der Brigade Ettore Muti an, einer Sondereinheit der politischen Polizei unter Mussolini, die berüchtigt für ihre brutalen Terroraktionen und Folterungen gegen Partisanen und Zivilbevölkerung war. Bei Janes ist es das Ermittlerpaar Hermann Kohler von der Gestapo und Chefinspekteur Jean-Luis St.-Cyr von der Sûreté, die im besetzten Frankreich ermitteln. Obwohl sich das deutsch-französische Ermittlerpaar nicht immer hundertprozentig vertraut, wissen sie, dass sie sich aufeinander verlassen können. St.-Cyr ist ein »französischer Patriot« – was immer das heißen mag – und sein deutscher Gestapo-Kollege Kohler lässt seine Meinung über die Verhältnisse unter Hitler derart oft anklingen, dass er bei der SS prinzipiell unter Verdacht steht. Jedem Roman schickt der Autor die Notiz voran, dass es sich um Fiktionen handelt und die genannten authentischen Personen nach den Bedingungen der Fiktion moduliert wurden. Der Autor wolle »nicht entschuldigen, was damals geschehen sei«, er »verabscheue dies vielmehr«. Doch auch während der Besatzungszeit habe es »gewöhnliche Verbrechen wie Mord und Brandstiftung gegeben«, und der Autor habe sich gefragt, »von wem und wie sie aufgeklärt wurden«. 83 Gleiches war – freilich in einem ganz anderen Kontext – schon bei Léo Malet zu lesen, wenn dieser den Gedanken abwies, dass die Behörden während der Besatzungszeit vornehmlich nach politischen Verbrechern suchten, wo es doch auch die vermeintlich »normalen« Verbrechen gegeben habe. 84 Genauso wie bei Malet geht es auch bei Kerr, Janes und Lucarelli selbstverständlich nicht nur um das ganz normale fiktive Alltagsverbrechen. Vielmehr nutzen sie dieses, um sowohl die Bedingungen der Aufklärung als auch ein insgesamt korruptes und verbrecherisches politisches System zu zeigen. Darüber hinaus führt J. Robert Janes den assoziativen Stil Malets weiter, indem er einen eigenwilligen Umgang mit dem inneren Monolog seiner beiwäre, wenn eine bestimmte Person etwas ganz anderes gesagt hätte, als sie tatsächlich gesagt hat und was diese Person sich dabei gedacht haben könnte. Mich interessierte das, was sich hinter den geschichtlichen Zusammenhängen verbirgt. Aber genau dieser Bereich ist nicht Teil der Arbeit des Historikers, sondern der des Schriftstellers. Sicherlich habe ich bestimmte wissenschaftliche Arbeitsweisen für meinen Roman ausgenutzt. So gehe ich beim Schreiben bis heute vor. Ich recherchiere, lese sehr viel und ich suche auch immer nach Zeitzeugen. Ich arbeite aber nicht wie ein Historiker, sondern wie ein Polizist.« Deutschlandradio, Büchermarkt »Schutzengel«, 14.5.2001; url: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/165059; 01.05.2007. 82 Ins Deutsche wurden zwei Romane von J. Robert Janes in der von Martin Compart herausgegebenen Reihe Dumont Noir übersetzt, zu weiteren Übersetzungen kam es nicht, da die Reihe nach einem Jahr und 23 Bänden aufgegeben wurde. Ins Französische sind die Romane bisher nicht übersetzt worden. 83 Vgl. J. Robert Janes, Stonekiller. A St-Cyr and Hermann Kohler Investigation, London: Soho 1995. 84 Malet, 120, rue de la Gare, S. 85.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

den Protagonisten pflegt, deren Perspektive abrupt gewechselt wird. Kurze Ermittlungszeiträume und sprunghafte Ortswechsel sorgen für ein hohes Tempo der Handlung, während er gleichzeitig auf tiefgründige historische Reflexionen und damit auch auf eine historische Pädagogik verzichtet. 85 Janes reformiert im Gestus des Noirs ein düsteres Bild der Besatzungszeit, doch greift er dabei zielsicher auf Stereotype des populären Diskurses über den Nationalsozialismus zurück, wenn er das Verbrecherische sexualisiert und dem Widerschein der nationalsozialistischen Ästhetik erliegt: »›Nacktkultur‹, breathed Kohler. ›The nudist movement that is now such a part of Nazi ideology.‹ ›The cult of the body, yes,‹ confined the Baroness, ›but always the nakedness is seen as striving towards the perfection of a higher ideal then the self, in this case, the art of the cave and a record that has not only survived countless millennia but traces our ideology and ancestry right back to the beginnings of time.‹ Goebbels would love it. The Führer also, of course, and Herr Himmler, the ex-pimp, ex chicken farmer and now head of the SS, but where the hell was Juliette?« 86

Mit der zwischen 1989 und 1991 erschienenen Trilogie Berlin Noir des britischen Bestsellerautors Philip Kerr beschreitet der NS-Thriller sowohl konzeptionell als auch inhaltlich einen neuen Weg. Kerr präsentiert einen abgebrühten deutschen Privatermittler, durch dessen Perspektive der Leser in das nationalsozialistische Berlin des Olympiajahres 1936, in das Jahr der »Reichskristallnacht« 1938, und dann in die Nachkriegszeit des Jahres 1948 in Berlin und Wien geführt wird. Philip Kerr stellt sich – das zeigt bereits der Titel der Trilogie, Berlin Noir – in die angloamerikanische und französische Tradition des dark suspense, der black novel oder des roman noir. Die Konzeption des Helden und der spezifische Blick auf die deutsche Gesellschaft orientieren sich an literarischen Vorbildern der hardboiled school, an Dashiell Hammett, Raymond Chandler und sicherlich auch Léo Malet. Der dritte Teil der Trilogie lehnt sich an Graham Greenes The Third Man (1950) an, nicht nur wegen des wirkungsvoll in Szene gesetzten Handlungsortes – das von den Alliierten geteilte Wien als Sinnbild für den sich ankündigenden Kalten Krieg. Zudem schreibt sich der dritte Teil in die Tradition der britischen nightmares ein, da hier eine Organisation von abgetauchten Nationalsozialisten den Kampf gegen den Bolschewismus weiterführt. Philip Kerrs Kriminalromane lassen das typische dreiteilige Handlungsmuster des Thrillers erkennen, mit dem zunächst eine historisch unspezifische, individuelle Ebene des Verbrechens mit einer historisch spezifischen, gesellschaftlichen Ebene des Verbrechens verknüpft wird, um dann beide Stränge zusammenzuführen. So wird der Ex-Polizist und seit 1933 als Privatdetektiv arbeitende Bernhard Gunther zunächst von Privatpersonen zur Aufklärung vermeintlich kleinerer Delikte engagiert. Denn im nationalsozialistischen Polizeistaat gibt es viele Gründe, nicht die Polizei zu kontaktieren: »it was odd the way people held things back from the police. Or maybe it wasn’t. It all depended on how well you knew the police.« [BN 182] Schnell 85 Vgl. Compart, Nachwort. Im Zwielicht von Vichy, hier S. 399. 86 Janes, Stonekiller, S. 141f. Zur Verknüpfung von sex & crime, Kitsch und Tod und dem Widerschein des Nationalsozialismus siehe Kapitel IV, 4.1.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

verwickeln sich die Fälle jedoch derart, dass Gunther mit den staatlichen Repressionsorganen konfrontiert wird. So geht es um brisante Dokumente, die über Korruptionsfälle in der Deutschen Arbeitsfront und über die Verbindung eines Industriellen mit dem kriminellen Milieu eines Berliner Ringvereins Auskunft geben können. Oder aber um einen Serienmörder, der es auf blonde und blauäugige BDM-Mädchen abgesehen hat und seine Taten als Ritualmorde inszeniert. Der dritte Handlungsaspekt ist die Zusammenführung der im Verlauf der Ermittlungen verfolgten Spuren. So kann Gunther hinter den Ritualmorden eine esoterisch inspirierte und der SS nahestehende Verschwörergruppe ausfindig machen, die diese – wie Gunther gleich zu Beginn schon vermutet hat – den Berliner Juden in die Schuhe schieben will, um ein Pogrom in der Hauptstadt auszulösen. Gleichzeitig geht es ihnen jedoch auch um den Ausbau ihres Einflusses auf den vom Okkultismus faszinierten Himmler. Die Ermittlungen führen zwar zu einem Ergebnis, doch die politischen Drahtzieher können nicht verantwortlich gemacht werden. Die Geschichte lässt sich im historischen Kriminalroman keinesfalls in andere Bahnen lenken. Kerr konfrontiert seine Version der NS-Geschichte mit einem regelrechten Genreklischee, dem hartgesottenen Ich-Erzähler Bernard Gunther. Der ist wortkarg, ironisch, zynisch, teils chauvinistisch, ein tough guy, durch dessen detektivischen Blick die politischen Veränderungen erfasst werden. Er bleibt als Genre-Import ein außenstehender Beobachter des Verfalls der politischen Kultur Deutschlands und des nationalsozialistischen Alltags, der die verbrecherische, staatsterroristische Wirklichkeit von Folter, Ausschaltung politisch und rassisch Verfolgter, von Rassengesetzen, Pogromen und Konzentrationslagern erfasst. Die Faszination des Romans geht von der teils selbstkritischen, vor allem jedoch subversiven und ironischen Erfassung der gesellschaftlichen Oberfläche aus, wenn er beispielsweise über die Handzeichenrituale der politischen Parteien Weimars sinniert und ambivalent konstatiert, dass er selbst in der Masse den Arm hebt. Der Leser wird zu einem Beobachter des Beobachters, der auch sich selbst im Blick hat. Gunther gerät in den ersten beiden Romanen in ein politisches Intrigenspiel zwischen den nationalsozialistischen master criminals Göring, Heydrich, Himmler, Nebe und Streicher, die alle am Erhalt und Ausbau ihrer Machtpositionen arbeiten. Von Heydrich wird er wieder in den Stand eines Kriminalkommissars berufen, da er sonst seine Lizenz verlieren würde. Genregemäß quittiert er den Tod mit einem flotten Spruch, er kann sich mit körperlicher Gewalt durchsetzen, ebenso wie er durch den perfekt in Szene gebrachten wisecrack – den starken Spruch im Angesicht eines übermächtigen Gegners – die NS-Repräsentanten entzaubert. Heydrich hält er vor, dass die Polizei nicht mehr in der Lage sei, normale Morde aufzuklären, während die einzigen Verbrechen, die die Kriminalpolizei aufklären könne, »things like race-defilement, or telling joke about the Führer« seien. [BN 306] Und Göring – der sich en passant als Dashiell-Hammett-Leser zeigt – hält Gunther auf dessen bedrohliche Frage, warum er aus dem Polizeidienst ausgeschieden sei, entgegen: »›I didn’t much care of the police canteen, sir.‹ He [Göring/ A. S.] laughed loudly. ›But with respect, Herr Prime Minister, I’m sure you are well aware of why I left, since at that time you were yourself in command of the police. I don’t recall making a secret of

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker my opposition to the purging of so-called unreliable police officers. Many of those were my friends. Many of them lost their pensions. A couple even lost their heads.‹« [BN 133]

Die detektivische Fiktion beweist hier ihr befreiendes, gleichzeitig aber auch verklärendes Potential, indem sie die Möglichkeit bietet, alles andere als duckmäuserisch den NS-Mächtigen entgegenzutreten. Gunther verkörpert damit in gewisserweise jene apolitische Resistenz, die deutsche Historiker in den 1980er Jahren als Widerstands- und Protestform entdeckten.87 Gunther, der sein Geld mit der Suche nach »verschwundenen Personen« – allen voran Juden – verdient, besitzt einen typischen hardboiled-Humanismus, einen Wertekanon, der sich jenseits aller Politik auf eine Ethik des Kapitalismus gründet: »›Jews, gypsies, Red Indians, it’s all the same to me. I’ve got no reason to like them, but I don’t have any reason to hate them either. When he walks through that door, a Jew gets the same deal as anyone else. Same as if he were the Kaiser’s cousin. But it doesn’t mean I’m dedicated to their Welfare. Business is business.‹« [BN 28]

Gunther ist der Vertreter eines Kapitalismus, der sich als ein ethisches Prinzip versteht: vor dem Geld sind alle gleich, das heißt gleich-gültig, insofern und insoweit sie Geld besitzen. 88 Doch im Notfall engagiert er sich auch für verfolgte Juden, denn nicht jedes Engagement muss einen materiellen Nutzen bringen: »Survival, especially in these difficult times, has to count as some sort of an achievement. It’s not something that comes easily. Life in Nazi Germany demands that you keep working at it. But, having done that much, you’re left with the problem of giving it purpose. After all, what good is health and security if your life has no meaning? This wasn’t just me feeling sorry for myself. Like a lot of other people I genuinely believe that there is always someone who is worse off. In this case however, I knew it for a fact. The Jews were already persecuted, but if Weisthor had his way their suffering was about to be taken a new extreme. In which case what did they say about them and us together? In what condition was that likely to leave Germany? It’s true, I told myself, 87 Vgl. dazu Kapitel IV, 3.2. 88 Damit werden unter der Hand die alten Klischees auf moralisch scheinbar saubere, weil apolitische Art reproduziert: die Juden stehen aus Prinzip an erster Stelle, da sie »generell Geld haben« (und nicht weil ihr Verschwinden in erster Linie etwas mit den Nazis zu tun hat); die Zigeuner kommen als tatsächlich »verschwundene Personen« noch in Frage, doch gibt es in der Regel niemanden, der für ihre Suche bezahlen würde. So sind auch in diesen Geschichtskrimis Sinti und Roma die »zweite Garnitur« des Holocaust. Die »Rothäute« machen die Realität des Verschwindens letztlich zur Metapher für die Allgemeingültigkeit der Gunther’schen Individualmoral, da sie als »reale Verschwundene« im Geschäftsleben des Privatdetektivs nicht wirklich auftauchen können. Sie stehen demnach symbolisch für das »ethische« Prinzip eines Kapitalismus, der freilich seine nüchterne Realität offenbart, indem der materielle Besitz über das Interesse am einzelnen Individuum entscheidet.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman that it was not my concern, and that the Jews had brought it on themselves: but even if that were the case, what was our pleasure beside their pain? […] Did my freedom feel any better as a result of their persecution? […] Sure, I’m none too scrupulous about the things that might benefit my pocket […] But of one thing I was sure. I was through looking at my fingernails when there were thieves in the store.« [BN 487]

Das Leben im Nationalsozialismus stellt sich als moralisches Dilemma dar. Gunther ist davon überzeugt, dass – wie er selbst – nicht alle Deutschen überzeugte Nationalsozialisten sind, und so schreibt sich die Trilogie in einen Entlastungs- und Normalisierungsdiskurs ein, der keinesfalls ein spezifisch deutscher ist. Einer seiner Aufträge führt ihn sogar bis ins Konzentrationslager Dachau, welches sich damit bei allem Schrecken in einen Erlebnispark verwandelt: »Perhaps it was only now, after Dachau, that I fully realized the true strength of the grip that National Socialism had on Germany.« [BN 241] So erschließt sich die nationalsozialistische Diktatur in allen ihren Konsequenzen erst durch das persönliche Erleben der Konzentrationslager, und diese Erfahrung konnten Deutsche, die weder Verfolgte, (Mit-)Täter oder fiktive Detektive waren, nicht machen. Philip Kerr klammert in seinen Geschichtskrimis dann auch folgerichtig die Zeit von 1939 bis 1947 aus, und damit vor allem den Höhepunkt der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Indem die Trilogie anhand der ausschnitthaft vorgelegten Biographie Gunthers ein abgerundetes Bild des Nationalsozialismus evoziert, ergibt sich daraus für die zwangsläufig eingegangene Gesamtinterpretation des Nationalsozialismus ein Missverhältnis. Im Zweiten Weltkrieg, so erfährt der Leser im Rückblick im dritten Teil der Trilogie, hat Gunther eine erlebnisreiche Biographie: 1938 gezwungen, wieder in den Polizeidienst einzutreten, war er SS-Gruppenführer in Minsk, wo er feststellen muss, dass »mass murder is endemic in any war of conquest« und ihm klar wird, dass »the primary purpose of the Action Groups was not the elimination of terrorists but systematic murder of Jewish civilians.« [BN 592] Da er sich sicher ist, dass auch ihn ein solcher Befehl ereilen wird, lässt er sich zur Wehrmacht an die Front versetzen. Damit entkommt Gunther einer möglichen Mittäterschaft an Erschießungskommandos. Kerrs um 1990 geschriebene Trilogie schreibt also sowohl den Mythos des Befehlsnotstandes als auch den einer soldatisch-ehrenhaften Wehrmacht fort. Sicherlich wurden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit diese beiden Topoi des Entschuldungsdiskurses erst spät kritisiert. Wichtiger erscheint deshalb eine Erklärung, die sich aus den Konstruktionsmustern der Populärkultur begründet. Für eine Gesamtschau der deutschen Geschichte muss nämlich die Integrität der Figur Bernard Gunthers über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg hinaus aufrecht erhalten werden, damit dieser nach dem Krieg weiterhin als kritischer Privatermittler arbeiten kann. Derart aus der historischen Verantwortung entlassen, zieht Gunther ein Resümee zur NSGeschichte, welches die Rezeptionsgeschichte des Nationalsozialismus vorwegnimmt: »[…] it came to me in a sickening realization. Because I was German these Americans were actually chilled by me. It was if, when looked at me, they ran newsreel film of Belsen and Buchenwald inside their heads. And what was in their eyes was a question: how could you have allowed it to happen? How could you have let that sort of thing go

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker on? Perhaps, for several generations at least, when other nations look us in the eye, it will always be with this same unspoken question in their eyes.« [BN 824f]

Hier, wie auch durch den sprechenden Titel des dritten Teils – A German Requiem – offenbart sich die tragische Grundstruktur der Trilogie und damit im übertragenen Sinn der deutschen Geschichte. Bei Kerr kann man einen Grundzug des historischen Kriminalromans erkennen, der Aufklärung und Tragödie verbindet. Der tragische Held strebt zwar nach Aufklärung, doch kann diese allenfalls partiell gelingen, da der Verlauf der Geschichte nicht geändert werden kann. Diese Konzeption findet sich nicht nur hier, sondern ist mit dem hardboiled-Roman bzw. dem Roman Noir eng verknüpft, ebenso wie er weitgehend in historischen Kriminalromanen zu finden ist, die in einer »authentischen« Kulisse spielen. Ein SS-Kriminalkommissar »entdeckt« den Holocaust

Seit Mitte der 1960er Jahre kommt es in Großbritannien zu einem verstärkten Aufkommen von as if narratives, von kontrafaktischen Geschichtsfiktionen. Beispiele aus einem breiten Korpus sind die beiden kontrafaktischen Geschichtsthriller und internationalen Bestseller SS-GB: Nazi Occupied Britain 1941 von Len Deighton (1978) und Fatherland (1992) von Robert Harris. Sie entwickeln – wie viele andere Erzählungen ihrer Art – alternative Geschichtsverläufe, in denen von einem siegreichen Deutschland im Zweiten Weltkrieg erzählt wird. Sie stehen in der Tradition des Invasionsromans und der counterhistory, einem in Großbritannien insbesondere seit den siebziger Jahren äußerst beliebten Format populärer Geschichte, das sich der Frage widmet, was geschehen wäre, wenn das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte, was passiert wäre, wenn Großbritannien erobert worden wäre, oder aber, was geschehen wäre, wenn Hitler früher oder später gestorben wäre oder der Holocaust anders oder gar nicht stattgefunden hätte. 89 Mit den as if narratives ist eine besondere Anstrengung der historische Imaginationskraft verbunden, die anhand der überlieferten und erforschbaren Geschichte fragt, was passiert wäre, wenn ein Detail in einer komplexen historischen Situation anders verlaufen wäre als es nach den Rekonstruktionen des historischen Diskurses geschehen ist. Ihre Begründung erfährt die kontrafaktische Imagination nicht nur in der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten vergangener historischer Akteure, sondern ihr geht es immer auch um eine Auslotung und Kritik der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart. Der kontrafaktische Thriller kombiniert nun eine solche parahistorische Fiktion mit einem Kriminal- und Detektionsplot, wodurch einerseits die Aufklärungsdimension durch die Figur des Detektivs verstärkt, andererseits durch eine durchkonstruierte Thrillerhandlung eine Beschleunigung und Verdichtung der Geschichte vorgenommen wird.

89 Rosenfeld, The World Hitler never made, S. 11-14. Auch die englischsprachige wissenschaftliche Geschichtsschreibung hat eine größere Affinität zu solchen alternativen Geschichtsentwürfen als dies etwa in Deutschland der Fall ist, wie Rosenfeld zeigt.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

Der Erfolg parahistorischer Romane über den Nationalsozialismus seit den 1960er Jahren ist als ein Ausdruck des vollständigen Verlusts des Empires in den 1960er Jahren und damit der Vorstellung, dass der Zweite Weltkrieg nicht gewonnen, sondern ökonomisch und machtpolitisch letztlich verloren wurde, und einer Neuorientierung nationaler Identität nach Großbritanniens EG-Beitritt 1973 interpretiert worden. 90 Wirtschaftspolitischen Befürchtungen, die mit dem EG-Beitritt verbunden waren, treten in Len Deightons SSGB deutlich zu Tage: Auf den Straßen Londons sind kurz nach der deutschen Invasion vermehrt Kraftfahrzeuge der Bayerischen Motorenwerke zu sehen, während Briten in hochtechnologisierten deutschen Fabriken auf der Insel arbeiten. Der Verlust des Empires wird auf höchst pathetische Weise in den Fokus der historischen Fabel gerückt: »[…] it’s not easy to go suddenly from being at the heart of an Empire to being an outpost of an occupied colony.« 91 Der Kriegseintritt der USA rettet Großbritannien schließlich vor einer dauernden Naziherrschaft. Doch ebenso versucht Deighton, ein im Rahmen seiner schriftstellerischen Möglichkeiten nuanciertes Bild zu zeichnen, wie sich die britische Bevölkerung bei einer deutschen Invasion verhalten hätte. So zeigt sich die ausgebombte und ausgehungerte britische Bevölkerung gegenüber den deutschen Besatzern apathisch, während britische Kollaborateure zu den Kriegsgewinnlern gehören. Die deutschen Invasoren werden keineswegs dämonisiert, vielmehr verschwinden die moralischen Differenzen zwischen Deutschen und Briten, auch wenn es noch keinen Good German 92 gibt. Denn ebenso wie es eine Abstufung der Charaktere bei den Deutschen gibt (selbst innerhalb der SS), erscheint eine solche Differenzierung auch bei der Darstellung der Briten, für die die Frage nach Kollaboration oder Widerstand zu einem moralischen Dilemma wird. Dies wird insbesondere an den beiden Protagonisten des Romans deutlich, die zunächst einen klassischen Mordfall nach dem Muster des whodunit aufklären müssen: Der unter der Aufsicht des deutschen SD stehende junge Scotland Yard Detektiv Douglas Archer verschließt zunächst seine Augen vor der Politik der Besatzer gegenüber Juden und Widerstand: »And yet even a born and bred Londoner, such as Douglas Archer, could walk down Curzon Street, and with eyes half-closed, see little or no change from previous year. The Soldatenkino sign outside the Curzon Cinema was small and discreet […] And if your eyes remained half-closed you missed the signs that said ›Jewish Undertaking‹ and effectively kept all but the boldest customers out. And in November of that year,

90 Rosenfeld, The World Hitler never made, S. 50f. Hindersmann, Der britische Spionageroman, S. 61-66. 91 Len Deighton, SS-GB, London 1978, S. 119. 92 Vgl. dazu den romantischen Thriller The Good German (2001) von Joseph Kanon, der in der Nachkriegszeit spielt und titeltragend deutlich macht, dass die Populärkultur meist auf der Suche nach dem guten Deutschen zu sein scheint, während der ideologische Fanatiker und Massenmörder eine Voraussetzung der Fiktion ist, die nicht literarisch dargestellt werden muss: eine Leerstelle.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker 1941, Douglas Archer, in common with most of his compatriots, was keeping his eyes half closed.«93

Im Verlauf der Erzählung wandelt sich das Bild: Archer gewinnt einen kritischen Blick und gibt die Karriere in der Polizei zugunsten der Verantwortung gegenüber Sohn und Vaterland auf. Sein Ermittlungskollege, der ehemalige Teilnehmer des Ersten Weltkriegs Harry Wood, der zu Beginn als Anhänger des britischen Widerstands dargestellt wird, folgt später den Anforderungen der nationalsozialistischen Besatzer und überwacht seinen Kollegen im Auftrag der SS. In Robert Harris Fatherland sind die Klischees des Invasionsromans und die distanzierte britische Haltung zu Europa noch vorhanden, doch nach Sarbans [d. i. John W. Wall] The Sound of His Horn aus dem Jahr 1952 ist dies der erste britische kontrafaktische Roman, der Ort und Handlung konsequent nach Deutschland verlegt. 94 Der Roman avancierte schnell zum Weltbestseller, nachdem er in Deutschland zunächst von mehreren Verlagen wegen »Deutschlandfeindlichkeit« abgelehnt wurde. 95 Harris studierte in Cambridge Geschichte und arbeitete als Reporter für die BBC, als leitender Redakteur für Politik beim Londoner Observer und als Kolumnist der Sunday Times. Sein erstes Buch Selling Hitler 96 über die von Konrad Kujau gefälschten und an die Illustrierte Stern verkauften Hitlertagebücher ist in seinem journalistischem Stil äußerst anregend und polemisch. Trotz der deutschen Verfilmung des Stoffes – die Komödie Schtonk! von Helmut Dietl (1992) erhielt den Bundesfilmpreis – fand Selling Hitler keine Übersetzung. In zynischem Tonfall macht das Buch auf die Hitlerbesessenheit und Hitlerverehrung einer Gruppe von dubiosen Alt- und Neo-Nazis um Konrad Kujau und den Verlegern des Stern, aber auch internationalen »Hitlerforschern« aufmerksam. Die Kritik von Harris traf dabei sowohl den Historiker Hugh Trevor-Roper, der von den »authentischen« Dokumenten elektrisiert die Echtheit der Tagebücher bestätigt hatte, als auch den Holocaustleugner David Irving, der während der Stern-Affäre die Echtheit der Dokumente angezweifelt hatte, selbst aber in seinem Buch Hitlers War (1977) mit dem Verweis auf willkürlich zusammengestellte Aussagen aus der näheren Umgebung Hitlers behauptet hatte, dieser habe nichts vom Holocaust gewusst. 97 Harris vermochte es hingegen, mit Selling Hitler eine gut recherchierte journalistische Arbeit vorzulegen, die einen forensischen Argumentationsgang mit fiktionalisierenden und ironischen Passagen über die Protagonisten des Skandals verknüpfte. 93 Len Deighton, SS-GB, S. 14. 94 Vgl. Rosenfeld, The World Hitler Never Made, S. 87. 95 Harris, Fatherland. [Im Folgenden: F]. Siehe auch: n.n., Holocaust für HorrorFreunde, in: Der Spiegel 39 (1992), S. 272-276. Die erste deutsche Übersetzung erschien 1992 im Züricher Haffmans Verlag. Erst 1994 brachte dann der Münchener Heyne-Verlag die lukrative deutsche Taschenbuchausgabe heraus. 96 Robert Harris, Selling Hitler, New York 1986. 97 Vgl. Richard J. Evans, Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt/M. 2001.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

Harris kontrafaktischer Thriller Fatherland spielt zwischen dem 14. und 19. April 1964 in Berlin, der Hauptstadt des Großdeutschen Reiches, welches 1943 die Sowjetunion besiegen konnte. Durch die Beschränkung auf fünf Tage gewinnt der Roman seine Dynamik: 1946 hatte Hitler als Antwort auf die Vernichtung Nagasakis und Hiroshimas eine atomare V3 über New York explodieren lassen, und konnte so die Vereinigten Staaten zum Frieden zwingen. Während Polen im Generalgouvernement endgültig aufgegangen ist und sich die Ostgrenze des Reiches am Ural befindet, sind zwölf europäische Länder in der Zwangsgemeinschaft der EG unterjocht, unter ihnen England, dessen politische Führung sich abgesetzt hat und nun unter einer nazifreundlichen Regierung ein Satellit ist. In den Tagen vor Hitlers 75. Geburtstag, an dem der Diktator den neugewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten Joseph P. Kennedy 98 erwartet und von dem man sich eine internationale Entspannungspolitik erhofft, führt Harris den Leser in ein nach den Plänen von Albert Speer neugestaltetes Berlin. Der für Deutschland verlustreiche russische Partisanenkampf am Ural, der von den USA unterstützt wird, soll mit dem Besuch Kennedys im September beendet werden. Damit sind die geostrategischen Alpträume, die der Roman weckt und die die Rezeption bestimmt haben, abgesteckt. 99 Das dem Thriller zugrunde liegende Thema ist hingegen die »Entdeckung« des Holocaust durch einen SS-Sturmbannführer der Berliner Kriminalpolizei – Xaver March. Die Vernichtung der Juden ist von den Deutschen kollektiv verdrängt worden und niemand fragte mehr nach deren Verbleib nach ihrer »Umsiedlung« in den Osten. Von der Führungsclique der Nazis ist der Massenmord an den Juden systematisch aus der Geschichte verbannt worden: Harris bemüht das berühmt-berüchtigte Wort aus Heinrich Himmlers Posener Rede verweist, dass der Mord an den Juden »ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte« [F 259], ebenso 98 Joseph P. Kennedy sen. war in den dreißiger Jahren amerikanischer Botschafter in Großbritannien und fiel dort deutschen Botschaftern durch seine Nähe zu antisemitischem Gedankengut und seiner Bewunderung für den NS-Staat auf. 99 Rosenfeld, The World Hitler Never Made, S. 77-86, hebt darauf ab, dass Harris eine kritische Position gegenüber der moralischen Eindeutigkeit der Allierten entfaltet. Er geht – ohne sich mit der Rekonstruktion des Holocaust im Roman von Harris näher zu beschäftigen – davon aus, dass der Angriffspunkt von Harris weniger ein EU- und Deutschland-kritischer Standpunkt, sondern eine Kritik des Verhaltens der politischen Klasse von Briten und Amerikanern gewesen sei, die im Roman als willige Kollaborateure dargestellt werden. Damit habe er wie viele andere kontrafaktische Fiktionen, in denen ein siegreiches Nazideutschland thematisiert werde, den von Churchill mitgeprägten Mythos destruieren wollen, dass es sich beim Engagement gegen das »Dritte Reich« um die »finest hour« der britischen Geschichte gehandelt habe. Gleichzeitig zeigt Rosenfeld Interdependenzen zwischen kontrafaktischen Fiktionen und den in Großbritannien stärker als in Deutschland verbreiteten kontrafaktischen Zugängen zur Geschichte in der Wissenschaft auf. Hindersmann, Der britische Spionageroman, S. 135, betont allein den EG-kritischen Aspekt.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

wie er an Primo Levis Wiedergabe des Ausspruchs eines SS-Offiziers erinnert, dass die Nationalsozialisten auch nach ihrer Niederlage die »Geschichte der Lager« diktieren würden. 100 [F 323] Die Organisatoren der Judenvernichtung – Harris konzentriert sich ausschließlich auf die Teilnehmer der Wannseekonferenz – stehen nun auf der Mordliste des Reichsführers Reinhard Heydrich, um das sichtbare Ende des Kalten Kriegs mit den Vereinigten Staaten nicht zu gefährden. Die letzten drei lebenden Mitwisser der Wannseekonferenz, Josef Bühler, Wilhelm Stuckart und Martin Luther will Heydrich nun umbringen lassen. Die Identifikationsfigur des Romans, Xaver March, ist ein SS-Sturmbannführer in Uniform und Stiefeln, dessen Schritte in der filmischen Umsetzung – gespielt von Rodger Hauer – auf dem Boden Germanias hallen. 101 Harris nutzt das von Eric Ambler bis Frederick Forsyth bekannte Muster der Emanzipation des Helden. So wird Marchs Distanz zum NS-Staat – er ist kein Parteimitglied – schnell deutlich. Zunächst ist sie familiärer Natur: Die NS-Ideologie hat in seine Familie eingegriffen, seine Ex-Frau ist in der NSFrauenschaft und sein Sohn in der Hitlerjugend organisiert. Sie drückt sich jedoch viel mehr noch in der Beobachtung und Bewertung seiner Umgebung aus, wenn er sich über Parteiparolen und ideologiestrotzende Partnerschaftsanzeigen lustig macht, oder er aber regimekritische Graffitis und die aus der Swingjugend hervorgehende Studentenbewegung, die sich gegen den anhaltenden Krieg im Osten wendet, mit Sympathie bemerkt. Im Zuge seiner kriminalistischen Fahndungen wird für March klar, dass die Selbstmorde der hohen Parteifunktionäre Bühler und Stuckart inszeniert wurden. Dies verweist auf einen größeren politischen Zusammenhang, und so sorgen die konkurrierenden Institutionen des nationalsozialistischen Terrorapparates wie in zahlreichen anderen Krimifiktionen für den mystery-Effekt. Odilo Globocznik und Heydrich stehen auf der einen Seite, die auf der Todesliste stehenden Mitwisser der Judenvernichtung zwischen allen Fronten, während Reichskriminaldirektor Arthur Nebe sein eigenes, ungewisses Spiel treibt. Wer über die Schuld des jeweils anderen Bescheid weiß, hat Macht im kontrafaktischen NS-Staat von 1964. Bühler, Stuckart und Luther haben nun 1942 zentrale Dokumente zur »Endlösung der Judenfrage« in einem Schweizer Bankdepot verbracht, um sich im Zweifelsfall als heimliche Widerstandskämpfer ausweisen zu können. March kommt an dieses Beweismaterial, und als er von der Gestapo gesucht wird, überträgt er seiner Geliebten Charlie Maguire, einer deutschstämmigen Amerikanerin mit Kontakten zur amerikanischen Botschaft, die Aufgabe, die Papiere über die Grenze in die Schweiz zu schmuggeln. Schließlich wird sich March selbst umbringen, damit die Geschichte des Holocaust dank eines sich aufopfernden SS-Kriminalisten geschrieben wird.

100 Vgl. Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990, S. 11f. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Passage aus Simon Wiesenthals Memoiren: Ders., Recht, nicht Rache. Erinnerungen, Frankfurt 1988. 101 Fatherland, USA 1994: Regie: Christopher Menaul; Buch: Robert Harris; Drehbuch: Stanley Weiser.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

Wie in The Odessa File von Fredrick Forsyth wird der Anstoß, der Vergangenheit ins Antlitz zu schauen, durch ein »authentisches« Dokument angeregt: Beim Renovieren stößt March hinter der abgezogenen Tapete – eine Gedächtnismetapher, die auch in Robert Siodmaks Verfilmung von Nachts, wenn der Teufel kam zu sehen ist – auf eine Fotografie: »On his second weekend, redecorating the bedroom, he had stripped off the mildewed wallpaper and found tucked behind it a photograph, folded up very small. A sepia portrait […], dated 1929 […]. A family stood before a painted backdrop of trees and fields. A dark-haired woman gazed at a baby in her arms. Her husband stood proudly behind her, his hand resting on her shoulder. Next to him a little boy. He had kept it in the mantelpiece ever since. […] The landlord’s records showed that the apartment had been rented between 1928 and 1942 to one Weiss, Jakob. But there was no police file on any Jakob Weiss. He was not registered as having moved, or fallen sick, or died. They had vanished. Weiss. White. A blank. By now, in his heart, March knew the truth – perhaps had always known it – but he went around one evening with the photograph even so, like a policeman, seeking witnesses, and the other tenants in the house had looked at him as if he were crazy even for asking. Except one. ›They were Jews,› the crone in the attic had said as she closed the door in his face. Of course. The Jews had all been evacuated to the east during the war. Everyone knew that. What had happened to them since was not a question asked in public – or in private either, if they had any sense, not even an SS-Sturmbannführer.« [F 38f; kursiv im Original]

Die Fotografie – eine klassische Gedächtnismetapher – der verschwundenen jüdischen Familie erzeugt eine schmerzhafte Leere, sie »besticht« und zeigt, dass »es so gewesen ist«. 102 Damit wird ein studium (Barthes) der Entstehungsgeschichte der Fotografie ausgelöst und March von der deutschstämmigen Amerikanerin und Journalistin Maguire über die Dimension des Völkermordes aufgeklärt. Denn während in Deutschland die Propagandamaschine in Orwell’schen Dimensionen rollt, ist die freie Welt über das Schicksal der Juden zumindest informiert: »›And the Jews?‹ said March. ›What do the Americans say we did to them?‹ She was shaking her head. ›Why are you doing this?‹ ›Please, the truth.‹ ›The Truth? How do I know what the truth is?‹ […] ›We’re brought up to think of Germans as something from outer space. Truth doesn’t enter to it.‹ ›Very well, then. Give me the propaganda.‹ […] ›All right. They say you scoured Europe for every living Jew – men, women, children, babies. They say you shipped them to ghettos in the East, where thousands died of malnutrition and disease. Then you forced the survivors farther east and nobody knows what happened after that. A handful escaped over the Urals into Russia. I’ve seen them on TV. Funny old men, most of them a bit crazy. They talk about execution pits, medical experiments, camps that people went into but never came out of. They talk about millions of dead. But then the German ambassador comes in his smart suit 102 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1989.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker and tells everyone it’s just Communist propaganda. So nobody knows what’s true and what isn’t”.«[F 206]

Zur Anerkennung des Völkermordes durch einen SS-Sturmbannführer der Reichskriminalpolizei bedarf es nun aber noch des Beweises durch harte Fakten. March wird zu einem Historiker, der Exzerpte verfasst, quellenkritische Fragen stellt, »bibliographische Hilfsmittel« nutzt, Hypothesen aufstellt und verwirft, kausale Schlüsse zieht und die Motive der beteiligten Personen über Charakterstudien eruiert. Um das beziehungslose Nebeneinander von Personen und Ereignissen zu erfassen, müssen die vorläufigen Ermittlungsergebnisse systematisiert werden, um einen sinnvollen Zusammenhang zu stiften: »He had torn a dozen blank pages from his notebook, had ripped them in half and half again. Now he had them spread out and the plastic table in front of him. On each he has written a name, a date, an incident. He reshuffled them endlessly […] he must have looked like a man playing a particularly demented form of solitaire.« [F 288]

Aus diesem Puzzlespiel entstehen imaginierte und hypothesenartige stories, wobei zunächst nicht sicher ist, welche der Versionen die richtige ist: »March sat back and contemplated his half finished puzzle. It was a version of events as valid as any other.« [F 230] So führt ihn sein Weg ins Archiv: »Clio, the Muse of History, guarded the Reichsarchiv: an Amazonian nude designed by Adolf Ziegler, the ›Reich Master of the Public Hair‹. She frowned across the Avenue of Victory towards the Soldiers’ Hall, where a long queue of tourists waited to file past Frederick the great’s bones. Pigeons perched on the slopes of her immense bosom, like mountaineers on the face of a glacier. Behind her, a sign had been carved above the entrance to the archive, gold leaf inlaid on polish granite. A quotation from the Führer: FOR ANY NATION, THE RIGHT HISTORY IS WORTH 100 DIVISIONS.« [F 238; Kapitälchen im Original]

Während der Archivar March damit vertraut macht, dass es das Geschäft des Historikers sei, »to bring out of chaos – more chaos« [F 239] und Geschichte Geduld erfordere [F 247], ordnet der Kriminalist unter immensem Zeitdruck stringent die neu ans Tageslicht gebrachten Fakten. So erfährt im Thriller der Forschungsprozess eine wundersame Beschleunigung: »You need a little luck in this life.« [F 243] Schon das dritte Dokument führt March auf die richtige Spur, indem er auf Beweismaterial der Wannseekonferenz stößt und über deren Bedeutung er sich sofort bewusst ist: »›We’ll change history.‹ […] Was history changed so easily? He wonders. Certainly, it was his experience that secrets were an acid – once spilled – they could eat their way through anything: if a marriage, why not a presidency, why not a state? But talk of history – he shook his head at his own reflection – history was beyond him. Investigators turned suspicion into evidence. He had done that. History he would leave to her.« [F 331]

Hier entwirft der Roman ein Bild, in dem Geschichte keine Interpretation braucht, sondern allein durch ihre Faktizität Aussagekraft hat. So kann Fatherland auch als eine Stellungnahme gegen den Holocaustleugner David 314

Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

Irving gelesen werden, der die systematische Vernichtung der europäischen Juden bestritten hatte. 103 Die Konstruktion des Plots der »Entdeckung« des Holocaust belässt diesen in seiner »reinen« Faktizität. In Harris Buch gibt es durch den beschränkten Blick auf die Wannseekonferenz keine Vorgeschichte des Holocaust, und damit wird jegliche Erklärung und historische Ursachenforschung des Holocaust ausgeklammert. Dass die Wannseekonferenz allein ein organisatorischer Kulminationspunkt gewesen ist, während der Vernichtungsprozess bereits in vollem Gang war, erfahren weder der SS-Kriminalist March noch die Leser, ebenso wie die äußerst verzerrt dargestellten – auch weil selbst vom Tode bedrohten – Organisatoren der Judenvernichtung wie Luther, Bühler und Stuckart. Der Roman ordnet nichtsdestotrotz den Holocaust in einen größeren Interpretationsrahmen ein. So ziehen die Protagonisten einen Vergleich zwischen dem Holocaust, dem amerikanischen Atombombenabwurf und den stalinistischen Verbrechen, die von den faschistischen Medien als »Stalins Holocaust« bezeichnet werden: »›My country dropped an atom bomb on Japanese civilians – killed a quarter of a million people in an instant. And the Americans have been allies of the Russians for the past twenty years. Remember what the Russians did?‹ There was truth in what she said. One by one, as they had advanced eastward, beginning with the bodies of ten thousand Polish officers in the Katyn forest, the Germans had discovered the mass graves of Stalin’s victims. Millions had died in the famines, purges, deportations of the 1930s. Nobody knew the exact figure. The execution pits, the torture chambers, the gulags inside the Arctic Circle – we all were now preserved by the Germans as memorials to the dead, museums of Bolshevik evil. […] Television showed documentaries on Stalin’s holocaust – bleached skulls and walking skeletons, bulldozed corpses and earthcaked rags of women and children bound with wire and shot in the back of the neck. […] ›The world is as it is. Even I can see that.‹« [F 208]

Hier wird ein erweitertes Deutungsangebot mit der Vergleichbarkeit der Verbrechen der Totalitarismen und der atomaren Kriegsführung gemacht, was der vom Roman ansonsten stark evozierten Singularität des Holocaust widerspricht. Harris legt sich nicht fest, denn dies würde dem Anspruch eines Bestsellers kaum gerecht, der vielstimmig sein muss, um international Erfolg zu haben. Doch in der Quintessenz führt das zu einem pessimistischen Blick, der auf das moralische Versagen internationaler Politik insgesamt abhebt: So wird der Holocaust der Tendenz nach universalisiert und damit das deutsche Massenmorden egalisiert. Das wesentliche und wirklich beunruhigende Deutungsangebot für den Leser ist jedoch, dass die Deutschen nichts vom Schicksal der Juden wissen wollten, und dass bei einer anderen weltpolitischen Lage keinesfalls eine moralische Aufrichtigkeit der Weltöffentlichkeit hätte vorhanden gewesen sein 103 Harris reagiert im Nachwort direkt auf David Irving: »Hitler did – notoriously – avoid putting his name to anything like a direct order for the Final Solution but almost certainly issued a verbal instruction in the summer of 1941.« [F 379]

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

müssen, welche die Deutschen auf die Anklagebank gebracht hätte. So wirft der Roman überspitzt die Frage auf, ob dieses Menschheitsverbrechen tatsächlich hätte geheim gehalten werden können. Um dies bejahen zu können, braucht es tatsächlich viel »uchronische« Phantasie, denn vor allem durch die radikale Beschränkung des Figurenarsenals gewinnt dieser Vertuschungsversuch des Holocaust seine Plausibilität. Deshalb kann man die Frage, die der Roman zu stellen vermag, auch allgemeiner stellen: Lässt sich ein begangener Völkermord wirklich völlig verdrängen? Und geschehen nicht vor den Augen der Weltöffentlichkeit Völkermorde und Genozide, die kaum wahrgenommen werden und keine Reaktionen hervorrufen? Indem der Roman in der Lage ist, Fragen aufzuwerfen, und der Leser in der Lage ist, derartige Fragen auf den Roman zu projizieren, erkennt man sein Potential für den internationalen Diskurs über die Bedeutung des Holocaust. In Deutschland trifft er nach dem Fall der Mauer auf eine politische Situation, in der von ehemaligen Pazifisten mit der Berufung auf den Holocaust und die »historische Verantwortung« militärische Auslandseinsätze gerechtfertigt wurden. Fatherland ist – unterstützt durch eine PR-Strategie 104 – zum internationalen Bestseller geworden, weil er als kontrafaktische Erzählung mit dem histori104 So wurde von der Sunday Times, bei der Harris Kolumnist war, eine PRStrategie mitinitiiert. Nach einer Rezension durfte Harris einen zweiseitigen Leitartikel in der Sparte News Review schreiben, welche den Vergleich zwischen dem von ihm beschriebenen Großdeutschen Reich des Jahres 1964 und der Europäischen Union nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Maastricht-Vertrag heraufbeschwor: »I spent four years writing Fatherland, my novel about a fictional German superpower, and as I wrote, it started turning into fact. […] One does not share the views of Nicholas Ridley or Margaret Thatcher to note the similarity between what the Nazis planned for Western Europe and what, in economic terms, has come to pass. […] In the Nazi system, the British, French and Italian economies were to be satellites around the German sun.« Robert Harris, Nightmare Landscape of Nazism Triumphant, in: The Sunday Times vom 10.5.1992. Siehe auch: Ders., Dateline Berlin: How Will the Germans Be Celebrating Victory over Europe?, in: Daily Mail 26.3.1994, S. 26f. In der deutschen Presse behauptete Harris, dass in einem Hamburger Buchladen der Verkauf von Fatherland vorübergehend von der Staatsanwaltschaft gestoppt worden sei, weil auf der angebotenen englischen Ausgabe ein Hakenkreuz abgebildet war, und dass in Deutschland das Buch in großer Zahl von Neo-Nazis gekauft worden sei, weil sie sich eine Nazi-Utopie erhofft hätten. Vgl. Der Spiegel (1/1994), S. 150. Die hier angesprochene Affäre um Nicholas Ridley und die Einschätzung Deutschlands durch eine von Margaret Thatcher einberufene »Expertenkommission« waren der Höhepunkt einer deutschlandskeptischen Stimmung in Großbritannien im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und der argwöhnisch beäugten engen deutsch-französischen Beziehungen. Die Ergebnisse der Expertenkommission, an der die Historiker Hugh TrevorRoper, Norman Stone, Fritz Stern und Gordon A. Craig teilnahmen, gerieten im »Chequers memorandum« an die Öffentlichkeit. Äußerst fragwürdig waren dabei die von Thatcher’s Privatsekretär Charles Powell zusammengefassten Ergebnisse über den deutschen Nationalcharakter: u. a. Selbstbezo-

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schen Material jongliert und dadurch in der Lage ist, vielfältige Interpretationsmöglichkeiten und Leseinteressen aufzugreifen und zu bedienen. Die deutschen Rezensionen schwankten zwischen völliger Ablehnung und positiver Würdigung. Der Spiegel, Die Zeit und die Deutsche Allgemeine Sonntagszeitung sprachen von »Deutschfeindlichkeit«, »historischer Frivolität«, »frivoler Geschmacklosigkeit«, »rückwärtsgewandter Fiktion« und von »Selling Nazism« in Anspielung auf den Titel von Harris’ erstem Buch; sie warfen dem Roman vor, dass er »nicht zu neuen Erkenntnissen über die Nazivergangenheit« verhelfe, oder aber dass er mit seinem Thriller »auch den jungen Generationen in Deutschland das Stigma des Massenmordes aufdrücke«. 105 Positive Kritiken betonten neben handwerklichem Können die Plausibilität der kontrafaktischen Geschichte und hielten es auch für möglich, dass der Holocaust in Deutschland und Amerika im Falle eines deutschen

genheit, ein Verlangen, geliebt zu werden, Überheblichkeit, Aggressivität, Minderwertigkeitskomplex, Rücksichtslosigkeit und andere Stereotype. Als Ergebnis fasste das Memorandum, so wie es in der Independent on Sunday wiedergegeben wurde, zusammen: »We should be nice to the Germans.« Siehe dazu: Lachlan R. Moyle, The Ridley-Chequers affair and German character. A journalistic main event, in: Husemann (Hg.), As Others See Us, S. 106-120; hier S. 10f. Der von Harris erwähnte britische Industrie- und Handelsminister Nicholas Ridley hatte in einem Interview das »Unaussprechbare über die Deutschen« ausgesprochen. Die europäische Währungsunion und der Maastrichter Vertrag »sei ein deutsches Komplott mit dem Ziel, ganz Europa zu übernehmen«, seine These stützte er auf historische Kontinuitäten. M. Thatcher entließ ihren Minister auf Drängen der Partei. Dazu: n.n., Saying the Unsayable about the Germans, in: The Spectator vom 14.07.1990, S. 8ff. Dazu auch Hans Süssmuth/Christoph Peters, Die Vereinigung Deutschlands im Spiegel englischer Tageszeitungen – eine Momentaufnahme, in: Johannes Süssmuth (Hg.), Deutschlandbilder in Dänemark und England, in Frankreich und den Niederlanden: Dokumentation der Tagung Deutschlandbilder in Dänemark und England, in Frankreich und den Niederlanden, 15.-18. Dezember 1993 Leutenheider Forum (=Schriften der Paul-Kleinewefers-Stiftung; Bd. 3), S. 267-280; hier S. 276. Es gab in der Wahrnehmung Deutschlands jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen der Boulevard- und der Qualitätspresse, die auch die plakativen Äußerungen aus Regierungskreisen kritisch beurteilte. Vgl. Süssmuth/Peters, Die Vereinigung Deutschlands, S. 277ff. 105 n.n., Holocaust für Horror-Freunde, in: Der Spiegel 39 (1992), S. 272-276. Rainer Michael Schaper, Die unerwünschte Wiedergeburt, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 9.10.1992, S. 26. Am 20.4.2000, dem 111. Geburtstag des »Führers«, startete Provokationsregisseur Frank Castorf in Hamburg eine Bühnenfassung des Stücks. Die Kritik der Inszenierung war überwiegend vernichtend. Die Zeit betonte immerhin die Berechtigung von Harris Geschichtsfiktion im Hinblick auf die »Vergangenheitsbewältigung« bzw. die im Roman angezweifelte Auseinandersetzung mit dem NS-Staat in der Bundesrepublik: »Harris’ Fiktion [lebt] von der Ahnung, dass die Deutschen nie den Mut, den Witz, die Wut gehabt hätten, Hitler loszuwerden.« Siehe: Peter Kümmel, Albert Speer der Komik, in: Die Zeit vom 27.4.2000.

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Sieges hätte verdrängt werden können. 106 Wie es bei gut durchkonstruierter Factifiction der Fall ist, bescheinigten die Kritiker dem Autor weitreichende Kenntnis der deutschen Vergangenheit, nicht um zuletzt auf vermeintliche Fehler in der historischen Fiktion hinzuweisen: So hätte die »Weiße Rose« niemals Parolen auf Berliner Mauern gesprüht, Berlin-Dahlem sei erst nach der Spaltung Berlins in Ost und West ein Studentenviertel geworden 107, die Amerikaner wären schon 1942 über das Ausmaß der Judenvernichtung informiert gewesen, so dass insgesamt der »Plot nicht schlüssig« sei.108 Diese vielfältige Resonanz, vor allem aber seine Offenheit gegenüber verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zeigt, dass der Roman keinesfalls eindimensionale Lesarten privilegiert und problemlos an unterschiedliche nationale Erinnerungsdiskurse anschließbar ist. Dies erkauft sich der Roman jedoch auch dadurch, dass er Teil eines »Normalisierungsdiskurses« 109 ist, indem er einen deutschen SS-Kriminal106 Josef Joffe, Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, in: Süddeutsche Zeitung vom 2-4.10.1992, S. VIII. Matthias Thibaut, Britische Albträume, in: Handelsblatt vom 2.-3.10.1992, S. 64. Michael Wulinger, Und wenn Hitler seinen Krieg nun doch gewonnen hätte?, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung vom 26.11.1992, S. 7. Eine positive Kritik liefert auch die tageszeitung mit dem Argument, Harris habe »wichtiges einsichtig mitgeteilt: Geschichte wird immer von Siegern geschrieben.« Elke Schubert, Den Spiegel vorgehalten, in: die tageszeitung vom 2.11.1992, S. 14. 107 Jörg von Uthmann, Wenig Freude am Sieg. Robert Harris verlängert die Nazizeit bis in die sechziger Jahre, in: FAZ vom 1.12.1992, S. 34. 108 Karl Wegmann, Der Holocaust als Videothriller. Der Nazikrimi »Vaterland« kam ausgerechnet genau zum 50. Jahrestag der Befreiung der Vernichtungslagers Auschwitz/Birkenau in die deutschen Videotheken, in: die tageszeitung vom 28.1.1995. Wie viel die amerikanische Öffentlichkeit vom Holocaust wusste und wie sie mit diesem Wissen umging, hat Peter Novick nachgezeichnet. Dieser stellt fest, dass es aus politischen Gründen, aber auch vor dem Hintergrund antisemitischer Strömungen in der amerikanischen Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs obsolet war, von dem Massenmord an den Juden zu sprechen. Es durfte kein Krieg »für die Juden« geführt werden. In den Konzentrationslagern waren nach den meisten offiziellen amerikanischen Berichten Widerstandskämpfer und Oppositionelle eingesperrt, die sich gegen ein totalitäres Regime gewandt hatten. In dieser Auffassung spiegelte sich schon zu Kriegszeiten, als man mit der Sowjetunion noch verbündet war, eine Interpretation des Nationalsozialismus als totalitärem Regime, dem als »Todfeind aller freien Menschen« entgegen zu treten sei. Siehe dazu: Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Stuttgart u. München 2001, S. 33-86. Die zentrale Aussage des Romans über das Wissen der Amerikaner vom Holocaust, bevor die beiden Helden der Geschichte die Holocaustdokumente entdecken, lautete: »The thousands of dissidents you people lock up in camps. The millions of Jews who vanished in the war. […] Sorry to mention them, but we have this bourgeois notion that human beings have rights. Where have you been the last twenty years?« [F 117] 109 Zur »Normalisierung« als Ruf nach der Anerkennung des status quo siehe: Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsbeses-

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kommissar die Geschichte des Holocaust entdecken lässt und die Vergleichbarkeit und Universalisierung des Holocaust befördert. Diese Normalisierung erklärt sich keinesfalls allein daraus, dass der Abstand zum Holocaust größer wird, historische Erfahrungen verblassen und das kommunikative Gedächtnis seine Zeitengrenze erreicht. 110 Die Normalisierung, die Ausdifferenzierung von Gut und Böse, die abgestuften Grautöne bei der Darstellung von Protagonisten, das Verschwimmen der Grenze zwischen Opfern und Tätern, all dies liegt auch im kommerziellen Bestreben der Populärkultur, die internationale Absatzmärkte gewinnen will. Die Normalisierung ist Teil eines ästhetischen Prinzips der Populärkultur. Zur Kritik des Historikers Raul Hilberg

Unter den Stellungnahmen zu dem Roman von Robert Harris befindet sich eine Passage in Raul Hilbergs Autobiographie Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers 111, in der er dessen populäre Darstellung des Holocaust vehement kritisiert. »Ich selbst verlor die Ruhe, als ich in einer Buchhandlung einen Roman mit glitzerndem Schutzumschlag fand, den ein großes goldenes Hakenkreuz auf rotem Grund zierte. Ich schlug den Band irgendwo auf und merkte, daß der Autor dieses internationalen Bestsellers ein mehr als ganzseitiges, von mir übersetztes deutsches Dokument aus einer Quellensammlung entnommen hatte, die 1971 erschienen war. Diesen echten Akteninhalt mischte er mit fiktiven Texten aus einem bürokratischen Schriftwechsel, den er erfand, nur um sein Amalgam aus Geschichte und Phantasie zu vervollständigen. Der Leser wurde indes nicht unterrichtet, daß mein Dokument echt war und er die anderen, scheinbar wörtlichen Zitate erfunden hatte.« [UE 121]

Für Raul Hilberg – dem 2007 verstorbenen renommierten Experten für die Geschichte des Holocaust – war der Roman von Robert Harris, um den es sich hier offensichtlich handelt 112, nichts als ein Amalgam aus Geschichte und Phantasie. Der Holocaust, so der Einspruch Hilbergs, sollte keine populäre Banalisierung erfahren und besteht darauf, Fakten und Fiktionen zu trennen und das Dokumentarisch-Authentische nicht im Erfundenen aufzulö-

senheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 59-63. Zum Ruf nach Normalisierung als Variante des Verdrängens: Hans-Joachim Hahn, Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979 (=Probleme der Dichtung; Bd. 33), Heidelberg 2005, S. 35-45. 110 Rosenfeld, The World Hitler Never Made, S. 21f. 111 Raul Hilberg, Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaustforschers, Frankfurt/M. 1994. [Im Folgenden: UE] 112 Das von Hilberg beschriebene Buchcover stimmt mit der amerikanischen Ausgabe überein und der Roman integriert einen Fahrplan von Sonderzügen, den Raul Hilberg 1971 mit anderen Dokumenten veröffentlicht hatte: Vgl. Raul Hilberg, Documents of Destruction. Germany and Jewry 19331945, Chicago 1971.

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sen. 113 Abseits der Frage nach der moralischen Angemessenheit der Darstellung des Holocaust in der Populärkultur und den traditionellen Vorbehalten von Historikern gegenüber dem Einfall des Fiktiven in die Geschichte kann man einen biographischen Aspekt ausmachen, der Hilbergs Vorbehalte gegenüber der Fiktionalisierung der Geschichte verständlich macht: Harris nutzt in seinem Roman Hilbergs frühe Quellensammlung und lässt gleichzeitig einen SS-Kriminalkommissar als »Historiker« den Holocaust »entdecken«. Dies musste für den von den Nationalsozialisten mit seiner Familie 1939 aus Wien über Frankreich nach Havanna emigrierten Juden anstößig gewesen sein, zumal er mit Die Vernichtung der europäischen Juden (1961) die erste quellenfundierte Darstellung des Holocaust vorgelegt hatte. Die zentralen Realitätsverweise des Romans bestehen aus authentischen und fingierten, im Textkorpus nicht voneinander zu unterscheidenden Dokumenten, die Harris auf knapp vierhundert Seiten einstreut. 114 Die Anordnung der Dokumente bildet zunächst den Detektionsplot ab, indem sie mit dem Fortschritt der Untersuchungen des Kriminalisten korrespondieren. Da Harris mit Hilbergs Quellensammlung gearbeitet hat, bekommt auch er zunächst den bürokratischen Aspekt der Vernichtung in den Blick. Täter, die sich durch besondere Grausamkeit hervortun und die direkt in den Vernichtungs- und Tötungsprozess eingewoben sind, tauchen in dem Roman, der vor der historiographischen Wende durch die »neuere Täterforschung« im Anschluss an die Bücher von Christopher R. Browning und Daniel Goldhagen zu Beginn der 1990er Jahre geschrieben worden ist, nicht auf. 115 Doch gleichzeitig impliziert das kriminalistische Erkenntnismodell im Verbund mit den Vorgaben des klassischen historischen Romans, einen strukturellen Zugriff, wie ihn der Ansatz von Hilberg impliziert – ohne dass dieser sich in dem lange Zeit forschungsbestimmenden Schulenstreit zwi113 Die Aneignung des Dokumentarischen in Fatherland wurde auch von anderen Rezensenten kritisiert. So hieß es, dass es die »literarische Phantasie« von Harris »nie und nimmer mit dem Grauen aufnehmen« könne und er deshalb »zum ultimativen Kitzel« greife, indem er »die Realität in seinen Roman« montiere. Siehe: n.n., Holocaust für Horror-Freunde, in: Der Spiegel 39 (1992), S. 276. 114 Vgl. F 250, 251, 304, 305, 310f, 313, 322. Anders als in der englischen Ausgabe, in der im Nachwort nur kurz auf die Authentizität verschiedener Dokumente verwiesen wird, ist die deutsche Fassung mit einem bibliographischen Anmerkungsapparat versehen worden, auch um die Leser an den »fiktionalen Kontrakt« zu erinnern, dass Harris die Quellen »nicht im Sinne einer historischen Dokumentation, sondern nach den Bedürfnissen seiner Geschichte« benutzt habe. [V 375] In der englischen Ausgabe kann zwischen echten und fiktiven Dokumenten schwerer unterschieden werden. 115 Vgl. dazu Kapitel IV, 4. Dass der Holocaust nicht nur als ein anonymer, bürokratischer Akt verstanden werden konnte, sondern dass die Deutschen »nicht nur mitleidlos, sondern mit voller Begeisterung und Schadenfreude« töteten, bemerkte Harris in einer Rezension von Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker. Robert Harris, Eine furchtbare Wahrheit, in: Schoeps/ Augstein (Hg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur GoldhagenDebatte, Hamburg 1996, S. 17-21; hier S. 19ff.

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schen sogenannten Intentionalisten und Funktionalisten eindeutig verorten ließe – intentionalistisch aufzulösen. Das Massenverbrechen muss zumindest im Ansatz individualisiert werden etwa durch den Fokus auf die Teilnehmer der Wannseekonferenz. Darüber hinaus muss – darauf hat Collingwood in seinen Reflexionen über die Unterschiede von Geschichtsschreibung und detektivischen Fiktionen aufmerksam gemacht – nach den Konventionen des klassischen Kriminalromans ein Eingeständnis der Täter erfolgen. Aufgrund dieser Genrekonventionen erfindet Harris Tagebuchnotizen mit akribischen Zeitangaben einer KZ-Inspektion durch Martin Luther, so dass der Massenmord in Auschwitz-Birkenau »aus erster Quelle« und »handschriftlich« dokumentiert wird. [F 317ff] Luther – dem als Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt das Referat III D für »Judenfragen« und »Rassenpolitik« unterstand, der eng mit Adolf Eichmann zusammenarbeitete und die »Endlösung der Judenfrage« forcierte, später jedoch aufgrund eines Versuchs, den Außenminister Joachim von Ribbentrop zu stürzen als »privilegierter Schutzhäftling« im KZ-Sachsenhausen interniert wurde – dokumentiert nun in der Fiktion im stenographischen Berichtsstil das Funktionieren der Lager. Mit Bahngleisen, rauchenden Lokomotiven, Schäferhunden, mit dem Brüllen des Lagerpersonals, den Desinfizierungsräumen und den der Nacktheit ausgesetzten Opfern, den Brillen- und Schuhbergen, dem Zahngold, ruft der fingierte Bericht zahlreiche im kollektiven Gedächtnis verankerte Bilder des Holocaust auf. Schließlich kommt es zum Blick in die Gaskammer – ein Bild, welches ein Jahr später in Schindlers Liste (1993) von Stephen Spielberg erstmals im Film inszeniert wird. Raul Hilbergs verständliche Kritik an diesem populären Geschichtskrimi muss jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch bei ihm ein detektivischer Habitus erkennen lässt, der gegen gesellschaftliche und institutionelle Widerstände zu kämpfen hat. In seiner Autobiographie, insbesondere dem Kapitel »Das Wagnis«, schildert Hilberg das politisch motivierte Desinteresse an einer umfassenden, quellenorientierten Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen in den Nachkriegsjahren in den Vereinigten Staaten. Im Zuge des Kalten Krieges und der vorherrschenden Totalitarismustheorie war die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden kein bestimmendes Thema im öffentlichen Gedächtnis Amerikas. 116 In den 1950er und 1960er Jahren war der Weg, der zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden führte, weitgehend unerschlossen. Hilberg orientierte sich an seinen Lehrern Ernst Fraenkel, der in Der Doppelstaat das NS-Regime als »Normen-« und »Maßnahmenstaat« charakterisiert hatte, und an Franz Neumanns Behemot (1942/1944), mit dem er die Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus in die vier Machtbereiche Staatsapparat, Armee, Industrie und Partei einteilte, die derart eng kooperierten, dass

116 Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart 2001. In Deutschland kam es zu einer ersten Übersetzung seines Hauptwerkes bezeichnender Weise erst 1982 in dem kleinen linken Berliner Verlag Olle & Wolter, nachdem 1963 der Verlag Droemer Knaur die Rechte erworben hatte, jedoch auf die Veröffentlichung verzichtete.

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man »mit vollem Recht von ihrer Verschmelzung zu einer Vernichtungsmaschinerie« sprechen konnte. 117 Ausgangspunkt von Hilbergs Arbeit war die Tätigkeit beim War Documentation Project, bei dem zur »Zielforschung« gegen die Sowjetunion nach Amerika verschiffte deutsche Aktenbestände durchgesehen wurden, wobei jedoch der »Auftrag dunkel blieb«. [UE 67] Sein Forscherleben stellt sich im autobiographischen Rückblick als detektivische und empirisch-kriminalistische Praxis dar: »Was ich wollte, das waren Beweise.« [UE 53] So versetzten ihn »nie gesichtet[e]«, »als vertraulich oder geheim eingestuft[e]«, schließlich »unerschlossene Aktenhügel in Spannung«, was er darin finden würde: »Schließlich jedoch interessierte mich besonders mein Projekt – alles, was mit den Juden und den gezielt gegen sie ergriffenen Maßnahmen zusammenhing. Ich achtete auf die entsprechenden Hinweise und wußte: Je mehr ich suchte, desto mehr würde ich finden. Wenn ich dann mit gewissen Entdeckungen belohnt wurde, geriet ich in einen Zustand, den gerade Quellenforscher am besten kennen – eine Erregung, die mich nach wie vor befällt, wenn ich Mikrofilme durch ein Lesegerät ziehe. Ich weiß noch genau, wie ich mit Expertenteams des United States Holocaust Memorial Council in die Sowjetunion und in die DDR reiste, kurz bevor beide zerfielen. Als wir in den engen Archiven saßen, bemerkte Robert Wolfe, ein Veteran unter den Archivaren, […] all diese Akten zu sichten, die so lange hinter dem Eisernen Vorhang verschlossen waren, sei wie eine Neuschöpfung.« [UE 65]

Die Nähe zwischen detektivischer Fiktion und historiographischer Praxis zeigt sich hier in der Distanz, die der Ermittler gegenüber der Gesellschaft einnimmt, von der er sich im Zuge seiner Nachforschungen unweigerlich abkoppelt: »Nach meiner Entscheidung für die Dissertation war ich viele Jahre lang allein. […] Zumindest nach außen hin führte ich also ein halbwegs normales Leben. Doch ich blieb in einer geschlossenen Welt, in der ich mit meinen Dokumenten und der daraus aufsteigenden Geschichte allein war. Hin und wieder besprach ich Entdeckungen mit einem jungen Fachkollegen für Nazi-Fragen […], aber im großen und ganzen hatte ich mich auf ein einsames Projekt eingelassen.« [UE 61]

Von der Außenwelt abgeschlossen entwickelt sich in den Räumen der Archive ein einsames Leben, welches den unheimlichen Reiz unerschlossener Aktenbestände entdeckt, durch den bürokratische »Maßnahmen« sichtbar werden: 117 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, Frankfurt 1990, S. 60. Hilbergs Interpretation, wie es zum Holocaust gekommen ist, ließ sich nie auf den Streit zwischen »Intentionalisten« und »Funktionalisten« reduzieren. Denn auch wenn im Zentrum seines strukturellen Zugriffs die bürokratischen Täter der Vernichtung stehen, vernachlässigt er in keiner Weise die Bedeutung Hitlers und der nationalsozialistischen Ideologie, die als die beiden Kernelemente intentionalistischer Interpretationsansätze gesehen werden können. Siehe dazu auch: Christopher R. Browning, Der unerbetene Klassiker, in: die tageszeitung, 2.6.2001, S. 13.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman »Was ich darin fand, war überwältigend. Die amerikanische Regierung hatte eroberte deutsche Akten der Nazizeit gesammelt, über den Atlantik befördert und hier in einem Gebäude eingelagert, wo sie insgesamt rund zehn Kilometer Regale füllten. Jedes Blatt steckte noch im originalen deutschen Aktendeckel und dieser wiederum, zusammen mit anderen, in einem genormten Kasten, der hochkant neben anderen Kästen stand. Ich erkannte beim ersten Blick auf diese Unmenge von Dokumenten, daß eine Lebenszeit nicht ausreichen würde, um sie alle zu lesen. [UE 63] Ich begann gerade zu verstehen, was ein Dokument eigentlich ist. Hier konnte ich sehen, daß es vor allem ein unmittelbar als Relikt erkennbares Artefakt ist. Als Originalpapier wurde es irgendwann von einem Bürokraten unterschrieben oder abgezeichnet. Zudem begründeten die Worte auf dem Papier eine Maßnahme: Jemand waltete seines Amtes. War das Papier ein Befehl, so erschöpfte sich darin das gesamte Handeln seines Urhebers.« [UE 68]

Die wunderbare Beschleunigung, die der Ermittlungsvorgang im Roman erfährt, lässt sich hingegen in der historiographischen Praxis nicht finden: »Bei der Sammlung meiner Quellen ging ich immer aufs Ganze, mit der Devise: ›Vollständigkeit plus Masse.‹ Je mehr Behördenmaterial ich sichten konnte, desto besser, dazu mit möglichst viel Akteninhalt. Da die Vernichtung der Juden überaus dezentral ablief, mußten alle Behörden etwas dazu beisteuern, indem sie im entscheidenden Moment eingriffen. […] Doch weder erkannte ich immer gleich die Bedeutung der einzelnen Dokumente, noch deutete ich ihre Schlüsselpassagen immer richtig. Solche Fehler waren mir peinlich. [UE 68] Mein Plan ließ keine Kompromisse zu. Mit meinen handschriftlichen Notizen auf dreifach gelochten Ringbuchblättern in gut sechzig vor mir aufgestapelten Heftern schrieb ich Kapitel um Kapitel mit Bleistift, wiederum auf Ringbuchpapier. Die Dokumente waren in der Reihenfolge angeordnet, in der ich sie benutzen wollte. Allerdings konnte ich das Material aus dem Bundesarchiv nur eingeschränkt heranziehen. Zwar bewahrte mich die Kenntnis der vertraulichen Akten vor manchen Fehlern, oder sie erschloß mir, was häufiger vorkam, Zusammenhänge zwischen den Indizien aus anderen Quellen, die mir ansonsten vielleicht entgangen wären, aber ich durfte diese Akten nicht direkt zitieren.« [UE 73]

So lassen sich in Hilbergs autobiographischen Rückblick stilistische Elemente und Topoi des Kriminalromans wiedererkennen. Durch die wortkargen, aber spannungserzeugenden Sätze und eine narrative Struktur, die berichtet, wie es zu der Fertigstellung eines Meisterwerkes gekommen ist, erscheint das Forscherleben auch vor dem Hintergrund des Detektivs als Kollektivsymbol von Historikern lesbar. Freilich lassen sich auch Unterschiede zu den Stilisierungen des Detektivischen herauslesen, die nicht nur darin bestehen, dass sich ein echter hardboiled-Detektiv kaum von den Beschränkungen der Nutzungsbestimmungen der Archive beeinflussen lassen würde. Als Historiker setzt Hilberg auf die Breite der Dokumentation, um so durch eine Unzahl von zu Indizien geronnenen Aussagen einen Interpretationszusammenhang zu entwickeln. Einen stringenten Fall gibt es nicht, sondern viele Einzelaspekte, die in einen Zusammenhang gebracht werden müssen. So ist sein dreibändiges Werk auch nur rudimentär der »untersuchenden Darstellungsform« im Sinne Droysens verpflichtet. Der detektivische Habitus, der im autobiographischen Rückblick 323

Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

aufscheint, lässt sich kaum auf die wissenschaftliche Komposition übertragen, die durch einen begrifflichen Rahmen und einen sachlichen und verknappenden Duktus besticht. Deshalb bedarf es in Die Vernichtung der europäischen Juden eines strukturellen Entwurfes, der die Verknüpfung der zahlreichen Aspekte gewährleistet und für den sich Hilberg, wie er schreibt, nicht nur von den Klassikern von Fraenkel und Neumann anregen ließ, sondern auch von den Kompositionen klassischer Musik. Aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive spiegelt sich im Roman Noir – insbesondere von Malet, Daeninckx und Kerr, weniger bei Harris – mit der Auflösung des detektivischen Rätsels und der Erfassung sozialer Realitäten eine Kritik intentionalistischer Erklärungsansätze und deren Rückführung eines Geschehens auf klare Motivationen, Ursachen und Gründe. Im Gegensatz zu rein strukturalistischen Erklärungsansätzen innerhalb der Geschichtswissenschaften vermag es der Roman Noir, die strukturelle Gewalt gesellschaftlicher Ordnung zu zeigen, wobei die Bedingungen dieser Gewalt miterforscht werden können. Gleichzeitig vermag es dieser Typus des Kriminalromans, die Rückwirkungen einer gewalttätigen Gesellschaft auf das Individuum exemplarisch, wenn auch literarisch ausgestaltet, nachzuvollziehen. Die Frage, ob es Überschneidungen zwischen dem detektivischen Blick im Roman Noir und der Geschichtswissenschaft gibt, oder ob sich unter professionellen Historikern ein hardboiled-Stil entfalten kann, muss offen bleiben. Die Spezifik des Blicks der Protagonisten des Roman Noir auf die Gesellschaft spiegelt sich vielleicht innerhalb der Geschichtswissenschaft und ihrer Theorie dort am ehesten, wo sich der Historiker nicht allein mit einem Forschungsproblem und dessen Lösung anhand von Quellenmaterial beschäftigt. Bei der Suche nach Parallelen hätte man darauf zu achten, wie intensiv die Beobachtung und die Beschreibung der sozialen Umwelt in die Geschichtsschreibung mit einfließt. Einen noir-Stil mag es verstärkt bei Historikern der Zeit- und Alltagsgeschichte, oder aber der Oral History geben, bei denen sich der Historiker direkt mit den Zeitzeugen auseinander zu setzen hat. 118 Hardboiled-Historie, das könnte aber auch eine bestimmte Forschungseinstellung implizieren. Sie könnte sich dort zeigen, wo Historiker nicht den Geschichtsdiskurs kontrollieren möchten, und dort, wo Historiker einen »vagabundieren Blick« 119 einnehmen und sich in immer neue Forschungsabenteuer stürzen, ohne dass letztgültige Antworten gefunden werden. Und sie mag sich darüber hinaus auch da finden, wo sich die sachliche Argumentation mit einer befreienden Polemik – dem wisecrack des Detektivs – verbindet.

118 Dazu Kapitel IV, 3.2. 119 Maurice Agulhon, Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung, Frankfurt 1995.

324

Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

2 Serielle Aufklärung: NS-Täter im Kriminalroman der DDR Das Potential des Kriminalromans zur populären Verfabelung des Nationalsozialismus im Sinne eines weithin staatlich gelenkten Geschichtsbildes wurde in der DDR frühzeitig erkannt und von theoretischen Überlegungen flankiert. Für die Krimikonzeption in der DDR und die Möglichkeiten, im Rahmen des Genres eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte zu betreiben, waren Bertolt Brechts Überlegungen zum Kriminalroman aus dem Jahr 1938 und sein Exilwerk Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui aus dem Jahr 1941 wegbereitend. Das Stück, welches Brecht vor dem Bekanntwerden der systematischen Vernichtung von Juden und anderen »minderwertigen« Rassen konzipiert hatte, zeigte den Aufstieg Hitlers als »gangsterhistorie« und »historienfarce«. Dabei rekurrierte Brecht auf den amerikanischen Gangsterthriller und den britischen Detektivroman des golden age of crime, dessen Analytik er materialistisch ausdeutete. Als das Stück 1958 zunächst in Stuttgart und 1959 in Ost-Berlin auf die Bühne kam, stand es im Gegensatz zu einem vorwiegend tragödienhaften Geschichtsverständnis, welches im Faschismus einen »Irrweg der Nation«, eine »Deutsche Daseinsverfehlung« oder aber eine »deutsche Katastrophe« sah. 1 Mit dem Fokus auf die nationalsozialistische »Machtergreifung« und die Frage nach den Möglichkeiten des Widerstandes bediente das Stück jedoch zwei Hauptthemen der Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus. 2.1 D ER A UFSTIEG H ITLERS

ALS

» GANGSTERHISTORIE «

Brechts Essay Über die Popularität des Kriminalromans 2, im finnischen Exil um das Jahr 1938 geschrieben und 1940 und 1943 in zwei Zeitungen veröffentlicht, ist nicht nur ein bedeutender Versuch einer Gattungsanalyse, sondern zugleich eine Folie für das von ihm als »historienfarce« und »gangsterhistorie« entworfene Theaterstück Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. 3 Brecht verschränkte seine Auseinandersetzungen mit dem Kriminalroman, mit dem er eine analytisch-materialistische Gesellschaftskritik verband, mit Überlegungen zur Dramentheorie und der Konzeption des epischen Theaters.

1

2

3

Alexander Abusch, Der Irrweg der Nation, Berlin 1946. Ernst Niekisch, Deutsche Daseinsverfehlung, Berlin 1946. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946. Bertolt Brecht, Über die Popularität des Kriminalromans [1938], in: Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 2, S. 315-321. Siehe auch: Ders., Kehren wir zu den Kriminalromanen zurück! [1926/27] in: Ders., Werke Bd. 21: Schriften 1914-1933, S. 128ff. Ders., Glossen über den Kriminalroman [1926/27] in: Ders., Werke Bd. 21: Schriften 1914-1933, S. 130ff. Ders., Über den Kriminalroman, in: Ders., Werke, Bd. 22: Schriften 1933-1942, S. 510f. Bei dem letzten Text handelt es sich wahrscheinlich um einen Textbaustein aus der »Popularitäts-Schrift«, der für die Veröffentlichung herausgenommen wurde. Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 2 Bde. und ein Anmerkungsband, Frankfurt/M. 1973, S. 274 u. S. 250.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Für Brecht bestand die Faszination des klassischen Detektivromans im »intellektuellen Genuß« des Rätsels, welches wie im Schachspiel als »Denkaufgabe« gelöst werden müsse. Nach dem Mord – so Brecht – gehe »der Geist […] auf Patrouille«. Der britische Kriminalroman – Brecht erwähnt Dorothy L. Sayers, Richard A. Freeman und John Rhode [d. i. John Street] – zeige den »reichsten und geschlossensten« Kodex mit »strengsten Regeln« und beruhe auf »Schemata«, die in der »Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente« ihr »ästhetisches Niveau« erreichen. Zur »Fairness« des Kriminalromans gehöre es, dass der Leser nicht getäuscht werde und er alle Indizien vorgeführt bekomme, um »die Lösung selber in Angriff zu nehmen«. 4 Der Kriminalroman besticht durch seinen »wissenschaftlichen Standpunkt«, der neben der ständigen Hypothesenbildung auf einem experimentellen Verfahren beruht. So bekomme man »ausgezirkelte Lebensabschnitte vorgesetzt, isolierte, abgesteckte kleine Komplexe von Geschehnissen, in denen die Kausalität befriedigend funktioniert.« Der Ermittler erscheint als Experimentator, der Handlungen eines (verdächtigen) Subjekts zu provozieren vermag, während der Verfolgte »das Experiment bewußt« stören kann. Der experimentelle Aufbau des Kriminalromans schränkt den Handlungsraum ein: »Es wird über sie meist nur soviel ausgesagt, wie der Leser zum Verständnis ihrer Handlung braucht.« Der Kreis der Verdächtigen ist klein, und »ihr Verhalten kann exakt beobachtet, kleinen Tests unterworfen werden«. Und mit Bezug auf Einsteins Relativitätstheorie führt Brecht aus, dass in der Nachforschung »das beobachtete Objekt […] durch die Beobachtung verändert« wird. Dahingegen sei die Menschenschilderung des traditionellen Romans »völlig veraltet«. Während man sich in der Gesellschaftsanalyse nur mit einer »statistische[n] Kausalität« und mit »Wahrscheinlichkeitsberechnungen« zu begnügen habe, kann im eingeengten, analytisch-experimentellen Raum des Kriminalromans noch die Kausalität menschlicher Handlungen fixiert werden. 5 Die Matrix des Erkennens bildet ein »Feld […], wo nur Motiv und Gelegenheit funktionieren«, weshalb im Kriminalfall anhand der Beweiskraft der Indizien »in bezug auf unser so verwickeltes Leben wirklich entschieden werden« kann. Dadurch komme es zu »vernünftigen Urteilen« und zur Revision von Vorurteilen, in dem der Täter notwendigerweise mit unsympathischen als auch mit attraktiven Zügen charakterisiert werden müsse. So gebe es in der klassischen Detektivgeschichte keine vorschnell dargebotenen Charakterdispositionen, die dem Leser vorab das Wissen vom Täter ermöglichen: »Entscheidend ist, daß nicht die Handlungen aus den Charakteren, sondern die Charaktere aus den Handlungen entwickelt werden. Man sieht Leute handeln, in Bruchstücken. Ihre Motive sind im Dunkeln und müssen logisch erschlossen werden. Als ausschlaggebend für ihre Handlungen werden ihre Interessen angenommen, und zwar beinahe ausschließlich ihre materiellen Interessen. Nach ihnen wird gesucht.«6 4 5 6

Brecht, Über die Popularität, S. 316 u. 321. Ebd., S. 316-320. Brecht, Über den Kriminalroman, S. 511. Brecht, Über die Popularität, S. 317. Bezeichnender Weise streicht Brecht Zweifel an der klaren Handlungsgestaltung aus seinem veröffentlichten Text heraus: Die Handelnden im Kriminalroman sind nämlich auch »grob ge-

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Einen direkten Weg zur Moralität zeigt der Kriminalroman nicht auf. Natürlich sei der Mörder ein böser Mensch, aber um dies herauszufinden, müsse man ihm erst »den Mord anhängen können«. Entscheidend ist nun, dass im Kriminalroman »das bürgerliche Leben als Erwerbsleben aufgefasst und beschrieben« wird. 7 Der Ermittler setzt materielle Interessen voraus, um den Fall auf der Basis von Profitinteressen zu lösen. Damit überschneidet sich das detektivische Modell mit marxistischen Grundüberzeugungen, indem sich die Logik des Ermittelns an der Logik des Kapitals orientiert. 8 Dieser Aufklärungsoptimismus war mit einer pessimistischen Zeitdiagnose und einem pessimistischen Geschichtsverständnis verknüpft. Sowohl das »Leben der atomisierten Masse unserer Zeit« als auch die Intellektuellen, die »Objekt und nicht Subjekt der Geschichte« seien, würden keine Spuren mehr hinterlassen, solange das Individuum nicht kriminell werde. 9 Das Hinterlassen einer Spur als Voraussetzung für Identität und Geschichte gelingt dem Subjekt der Moderne erst, wenn es ein Verbrechen begeht oder gewaltsamen Widerstand leisten muss. Darüber hinaus ist das Detektivschema der Modus einer zu spät kommenden Aufklärung, da »Klarheit […] erst nach der Katastrophe« zu erlangen sei: »Wir machen unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form. Aus Katastrophen haben wir die Art und Weise, wie unser gesellschaftliches Zusammensein funktioniert, zu erschließen.« Brechts recht verschwörerische Vermutung ist, dass die »Existenz von unbekannten Faktoren abhängt«, und Aufgabe einer detektivischen Gesellschaftskritik es deshalb sei, zu »Krisen, Depressionen, Revolutionen und Kriegen« sich die »inside story« zu erschließen. Das detektivische Modell sucht »hinter den Meldungen der Tagespresse, den Rechnungen, Entlassungsbriefen und Gestellungsbefehlen« immer andere, »eigentliche Geschehnisse«, die nicht bekannt sind. Über diese könne nur die Geschichte belehren, soweit es den politischen Akteuren nicht gelungen sei, sie »vollständig geheimzuhalten«. So kann Geschichte im Modus detektivisch-materialistischer Aufklärung immer erst »nach den Katastrophen geschrieben« werden. 10 Im Gegensatz zum analytischen Detektivroman zeigt der amerikanische Thriller »schwächere Schemata« und macht sich der »Originalitätshascherei schuldig«, indem die in Serie stattfindenden Morde einen »Epidemiecharakter« gewinnen würden. Der »Thrill« sei »kein spiritueller mehr, sondern nur

zeichnet«, die »Vorkommnisse plump«, und es gibt »viel zuviel Zufall darin«. Brecht, Über den Kriminalroman, S. 510f. 7 Bertolt Brecht, Über den Kriminalroman, S. 511. 8 Dies war auch Ernst Bloch bewusst, der den Zusammenhang von materialistischer Kritik und detektivischer Aufklärung selbstreferentiell thematiserte: »der Marxismus, in allen seinen Analysen der kälteste Detektiv, nimmt aber das Märchen ernst, den Traum vom Goldenen Zeitalter praktisch«. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffung, in: Ders., Gesamtausgabe 3-5, Frankfurt/M. 1959, S. 1621. 9 Brecht, Über die Popularität, S. 318. 10 Ebd., S. 321.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

noch ein rein nervenmäßiger«. 11 Dies bedeutete keine Ablehnung des amerikanischen Thrillers, schließlich zeigen sich mehrere von Brechts Stücken vom Gangstermilieu und ihrer massenmedialen Repräsentation im amerikanischen Gangsterfilmen inspiriert. 12 In dem Aufstieg amerikanischer Gangsterorganisationen erkannte Brecht die Bildung kapitalistischer Monopole: Nachdem diese sich zunächst auf Erpressung konzentriert hatten, erschlossen sie seit 1930 legale Märkte, was eine zunehmende Verfilzung von Verwaltung, Politik und Justiz bis hin zu Wahlmanipulationen bedeutete. Der Aufstieg der Gangsterbosse bildete die gewaltsame Kehrseite des amerikanischen Traums von einer erfolgreichen Karriere aus unterprivilegierten Verhältnissen. In der Karriere Al Capones sah Brecht insofern Parallelen zum Aufstieg Hitlers, die ihn zum 1941 geschriebenen Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui anregten. 13 Freilich bestand das Problem, dass die Verbindung von offen zur Schau gestelltem Reichtum, kometenhaftem Aufstieg aus bescheidensten Verhältnissen und dem Einsatz brutaler Gewalt anziehend wirken und einer Heldenverehrung Vorschub leisten konnte.

11 Ebd., S. 316. 12 Vom Gangstermilieu lässt sich Brecht in Dickicht der Städte, in Mahagonny, der Dreigroschenoper und dem Dreigroschenroman inspirieren. Zusammen mit Hanns Eisler schaute sich Brecht bei seinem USA-Aufenthalt 1935 mehrere Gangsterfilme an, »um, wie wir uns beide lügnerisch versicherten, soziale Studien zu betreiben.« Siehe: Hans Bunge, Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch, München 1970, S. 233. Als weitere Inspirationsquellen gelten eine Biographie Al Capones, die diesen als »Self-made Man« in sieben abgeschlossenen Episoden darstellte. Hinzu kommen die Gangsterfilme von Mervyn Le Roy, Little Cesar (1930) nach dem Roman von William Richard Burnett, und Scarface von Howard Hawks (1932), in denen der Aufstieg und Fall der Chicagoer Gangsterbosse wie Cesare Enrico Bandellos und Al Capones behandelt werden. 13 Nach erfolglosen Bemühungen, das Stück nach seiner Ankunft im Juli 1941 in New York am Broadway zu inszenieren, verwarf Brecht den Plan einer Aufführung für längere Zeit. Das Stück wurde zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt. Der erste Druck des Ui erschien 1957, ein Jahr später wurde es in Stuttgart uraufgeführt, wobei auf eine deutliche Anspielung auf den Führungskreis um Hitler verzichtet und das Stück in einen erfundenen Staat verlegt wurde. 1959 erfolgte die Aufführung am Berliner Ensemble, in der die Figuren deutlich an die historischen Charaktere angelehnt waren. Ausgelassen wurde die umstrittene Traumsequenz, in der dem Ui im Traum Roma/Ernst Röhm erscheint, weil darin dessen Mythologisierung als SozialRevolutionär befürchtet wurde. Abgesehen von der Frage, ob diese Szene gelungen ist, war ihre Auslassung vor dem Hintergrund des 17. Juni 1953 durchaus folgerichtig. Eine erste amerikanische Aufführung kam 1963 zustande, die jedoch schon nach einer Woche abgesetzt wurde: Chicagoer Gangster als Protofaschisten trafen beim amerikanischen Publikum anscheinend auf Unverständnis.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

Das Bühnenstück war – als typische Brecht’sche Parabel sowie als Experimentalstück charakterisiert worden 14 – auch ein gesellschaftskritischer Geschichtsthriller, der gleichwohl versuchte, die analytische Form des Detektivromans zu nutzen. Dabei musste Brecht freilich das Schema aufbrechen, welches die verbrecherische Störung und die detektivische Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung vorsieht. Denn wenn organisiertes Verbrechen, Politik und Geschäft zusammenfallen, gibt es keine Gewissheit des Rechts mehr. 15 Brecht orientierte sich an amerikanischen Gangsterfilmen und hardboiled Romanen, in denen kriminelles Handeln im Zusammenhang von Korruption, Filz, und machtbesessenen Politikern geschildert wurde, und die Klärung des Falls nichts an der Feststellung einer gestörten Ordnung der Gesellschaft ändern muss. Freilich war dabei die im Gangsterfilm anzutreffende Räuber- und Heldenromantik zu durchbrechen. Brecht destabilisierte den Zusammenhang von bürgerlicher Ordnung, öffentlicher und politischer Moral und Verbrechen, indem nun das Kapital die Gesellschaft und den Einzelnen korrumpiert. Insofern erscheint der Ui als hardboiled-Variante des epischen Theaters, in der es allerdings keinen Helden gibt, der den Kampf gegen die verbrecherischen Verhältnisse aufnimmt. Brecht – der für das epische Theater immer wieder filmische Darstellungstechniken adaptierte – wendet im Ui in extremer Form die Technik des Zeitraffers an, während er die verlangsamende und analysierende Zeitlupe unberücksichtigt ließ. Der Zuschauer wird Beobachter schnell und ruckartig abfolgender Handlungsszenen, die ihrerseits auf historische Ereignisse verweisen, von denen die Zuschauer durch eine Projektion von Titeln auf der Bühne informiert werden. Nötig sei, so Brecht, eine »plastische Darstellung in schnellstem Tempo«, mit übersichtlichen Gruppenbildern im »Geschmack der Jahrmarktshistorien«, wodurch Ui und seine Kumpane zur Schau gestellt werden sollen. 16 Auch innerhalb der einzelnen Szenen wird die Gangstergeschichte im beschleunigenden Zeitraffer geboten, wie etwa in der Szene des »Speicherbrandprozesses«. Hier werden in immer schneller dargebotenen Bildfolgen, die durch Ausblendungen des Lichts voneinander getrennt werden sollen, Details des Reichstagsbrandprozesses aneinandergereiht, bis die Abhängigkeit des Gerichts von den Gangstern deutlich wird. Um den atemberaubenden Vormarsch der Gangster zu unterstreichen, gesteht Brecht den Figuren kaum reflektorische Tiefe zu. Er verzichtet auf die für sein Theater sonst so typischen solistischen und chorischen Musikeinlagen, die dem Zuschauer eine Distanzierung vom dargebotenen Geschehen und damit die Möglichkeit zur Reflexion geben sollen. Begleitet von lauter »Bumsmusik«, dem Knattern von Maschinengewehrsalven und offensichtlichen (Ermordung Romas) und hinterhältigen Morden (Ermordung der wider14 Johannes Goldhahn, Das Parabelstück Bertolt Brechts als Beitrag zum Kampf gegen den deutschen Faschismus, Rudolfstadt 1961. Wolfgang Fritz Haug, Bürgerhandeln, starker Mann und großer Stil. Ein Beitrag zu einer Aktualisierung des Ui-Stücks, in: Raimund Gerz (Hg.), Brechts »Aufhaltsamer Aufstieg des Arturo Ui«, Frankfurt/M. 1983, S. 202-217. 15 Zum Zusammenhang von Brechts Beschäftigung mit dem Kriminalroman und dem Ui vgl. Burkhardt Lindner, Bertolt Brecht. »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«, München 1982, S. 36. 16 Gerz (Hg.), Brechts »Aufhaltsamer Aufstieg des Arturo Ui«, S. 131.

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ständigen Ciceroer) zur Absicherung von Uis Macht baut Brecht das Stück als »nervenmäßgen« Thriller auf. Brecht beschrieb den Ui mit den Begriffen »historienfarce« und »gangsterhistorie« sehr prägnant. Mit dem Begriff »historienfarce« griff Brecht die Marxsche Bemerkung zu Hegel auf, »daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hatte vergessen hinzuzufügen: das erste Mal als große Tragödie, das andere Mal als humorige Farce.« 17 Wenn der imperialistische Faschismus die letzte Stufe des Kapitalismus war, dann drängte sich nach Marx geradezu die Komödie auf: »Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie.«18 Brecht verweist in seinem Stück wiederholt auf die Historiendramen Shakespeares, insbesondere auf Richard III., in denen die Tragödie auf den Aufstieg und Fall einer historischen Persönlichkeit und die Komödie auf den Triumph des Niederen über einen scheinbar Mächtigen ausgerichtet ist. Die klassischen Regeln von Komödie und Tragödie, der Konzentration bzw. Einheit von Zeit, Ort und Handlung und klassischer Verlaufsform (Exposition, Verknüpfung, Zuspitzung, Krise, Katastrophe bzw. glückliche Auflösung) werden im Ui jedoch beiseite geschoben. Der Ui ist wie sein Titel »außerordentlich undramatisch« 19, sieht man ihn nicht vor dem Hintergrund des Thrillerschemas. Uis Aufstieg bildet den internen und linearen Zusammenhang, die entsprechende Akteinteilung ersetzt eine Abfolge von Einzelszenen, deren Schauplätze ohne interne Konsequenz wechseln. Die Figurenkonstellation ist unausgearbeitet, Figuren tauchen auf, die nur in loser Verbindung zum Stück stehen. Ui und seine Gangster, die Trustherren und Händler werden kaum individualisiert, die inneren Beweggründe nicht erforscht. Auch die dramatischen Konflikte, die hinter den Ereignissen stehen, die inneren Entscheidungen, Intrigen und Kollisionen werden in ihrer Entfaltung bewusst eingeschränkt. Zentrale Entscheidungen der Protagonisten müssen die Zuschauer selbst ergänzen, wie beispielsweise Uis Entschluss, Roma zu töten. So wird der Aufstieg von Ui als eine thrillergemäße schwarze Farce dargeboten, die sich tolerant gegenüber den kriminellen Verstößen eines eitlen, irrationalen, käuflichen und kindischen Protagonisten zeigt und ihn schließlich ungeschoren davon kommen lassen kann. Die Farce vermag es, unvorhersehbare Kettenreaktionen und die Absurdität eines kontingenten, unabgeschlossenen Geschehens darzustellen, sie relativiert die heldenzentrierte Form des Dramas, indem sie den geschlossenen Erlebnisund Handlungsraum weniger Protagonisten unterläuft, ebenso wie sie ohne Happy End auskommt. Brecht verstand das epische Theater als antiillusionistisch. Dabei ging es ihm um die »Ausschaltung der restlosen Illusion«, die jedoch nicht zu einer »restlose[n] Ausschaltung der Illusion« führen sollte. 20 Dass Brecht im Ui die Illusion nicht restlos ausschaltet, bedingt sich gerade durch den gerafft und be17 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoléon, S. 115. 18 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. (=MEW; Bd. 1), Berlin 1976, S. 378-391; hier S. 382. 19 Lindner, Bertolt Brecht, S. 96. 20 Brecht, Schriften 2: Schriften 1933-1942 (=Werke; Bd. 22), S. 262.

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schleunigt wiedergegebenen Aufstieg. Gegen die »restlose Illusion« setzte er dann allerdings auf eine mehrfache Brechung seines Geschichtsthrillers. Die antillussionistische Wirkung im Ui hat Brecht selbst als »Doppelverfremdung« charakterisiert. 21 Inhaltlich geschieht dies durch die Transformation groß erscheinender Geschichtsfiguren in die im Gemüsegeschäft operierende Gangsterwelt, die den Kapitalismus auf den vermeintlich lächerlichmarginalen, aber doch existenziellen Nahrungsmittelsektor reduziert. Formal wurde das Gangsterstück durch den »großen Stil« – vor allem also durch den parodistisch verwendeten Sprachgestus der deutschen Klassik – verfremdet, mit dem sich die Gangsterwelt ausstattet, um sich weniger an die Umgangsformen der Machteliten anzupassen, als vielmehr die kleinbürgerlichen Wählerschichten zu beeindrucken. Brecht wollte mit seinem Stück sowohl die Theatralik des Faschismus, welche es verstand, den »Vorkommnissen banaler Art den Anstrich des Historischen zu geben« 22, als auch die Rhetorik des Faschismus als pseudo-heroische Fassade freilegen. Neben dieser Doppelverfremdung erreicht Brecht einen weiteren antiillusionistischen Effekt durch die Sichtbarmachung der Konstruktionsweise des Schauspiels. Deutlich wird dies schon im Prolog, der die handelnden Figuren marktschreierisch – im Stile von »Jahrmarktshistorien« – vorstellt und damit im »großen Stil« auf die effektvolle Ausgestaltung des Stückes aufmerksam macht. Diese Verfremdungseffekte sollten eine Analytik des Faschismus ermöglichen. Der Ui ist insofern nicht nur ein Geschichtsthriller, sondern auch eine »Untersuchung auf dem Theater«, die in ihrer »Dramaturgie des Zeigens« die faschistische Politik einer kritischen Analyse unterzieht. 23 Das Stück ist vor allem eine Untersuchung darüber, wer wann und wie vom Aufstieg Uis profitiert und damit auch eine Konsequenz aus Brechts Lektüre des Detektivromans, indem Verbrechen in erster Linie auf materielle Interessen zurückgeführt werden und ideologische Fragen als demgegenüber sekundär erscheinen. 24 Er zeigt, dass die »Revolution der Kleinbürger« eine Scheinrevolution ist, da diese Zwischenschicht ihre ökonomische Basis nicht ausbauen kann und »objekt der großbürgerlichen politik« bleibt. 25 Dennoch bietet Brecht keine instrumentalistische Faschismusthese. Ui ist nicht allein der Hampelmann und Erfüllungshilfe der Kapitalisten, sondern versteht situativ seine 21 Die Verfremdung – zu der Brecht wie gewohnt die Parabelform nutzte – ist das charakteristische Vorgehen seines epischen Theaters und sollte einem Vorgang oder einem Charakter »das Selbstverständliche, Einleuchtende […] nehmen und über ihn Staunen und Neugier […] erzeugen.« Hinzu kommt das Verfahren der »Historisierung«, die vor allem auf einer historischen Analogie beruht. Um Erkenntnisse aus der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart zu ziehen, wird so »ein bestimmtes Gesellschaftssystem vom Standpunkt eines anderen Gesellschaftssystems betrachtet.« Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1 (=Gesammelte Werke; Bd. 15), S. 301f. 22 Brecht, Arbeitsjournale, S. 184. 23 Haug, Bürgerhandeln, starker Mann und großer Stil, S. 215. 24 Erinnert sei hier an Brechts Aphorismus »Keine Angst vor der platten Wahrheit, wenn sie nur wahr ist!«: Zitiert nach: Gerz, Brechts »Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«, S. 128. 25 Brecht, Arbeitsjournale, S. 379.

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Macht auszubauen, ohne sich dabei grundsätzlich mit dem Kapital zu überwerfen. Und schließlich zielt das Stück auf eine Analytik der Unterdrückungsmechanismen. Die Logik des Terrors besteht darin, Terror zu verbreiten, um sich dann als Retter und Garant einer neuen Ordnung aufzuspielen – was freilich als ein billiger Gangster-Trick leicht zu durchschauen ist. Schließlich bietet sich das Stück für eine detektivische, »experimentelle« Lektüre des Zuschauers an, der sich fragen sollte, wer Widerstand leisten könnte. Brecht wollte mit seinem Stück die großen politischen Verbrecher der Lächerlichkeit preisgeben und »den üblichen gefahrvollen Respekt vor den großen Tötern […] zerstören«. 26 Das war gegen die »romantische Geschichtsauffassung der Kleinbürger« gerichtet mit ihrem Hang zur Mythologisierung großer historischer Persönlichkeiten, die ihre Größe durch das Monströse bzw. das Dämonische erlangen. 27 Große historische Verbrecher seien vielmehr nichts weiter als die »Verüber großer politischer Verbrechen, was etwas ganz anderes« sei. 28 Die Verbrechen im Ui beruhen deshalb auf keinem Plan, sondern die Gangster nutzen situativ die Möglichkeiten für ihren Machtausbau. Während sich der große politische Verbrecher – wie beispielsweise Shakespeares Richard III. – zu seiner Tat bekennt, verschleiert der Biedermann Ui seine Absichten. 29 Brecht nahm dem Ui die psychologische Ungeheuerlichkeit der schwärzesten Schurken Shakespeares, vordergründig machte er ihn lächerlich, indem er zeigte, dass seine theatrale Gestik durch den Unterricht bei einem heruntergekommenen Shakespeare-Schauspieler zusammengeschustert war. Was ihm jedoch nur partiell gelang, war die angestrebte Entmythologisierung sogenannter großer historischer Persönlichkeiten. Zwar vermochte es Brecht mit seinem Stück, die virulente Frage über »historische Größe« ad absurdum zu führen, doch wählte er trotz der Erweiterung des Figurenarsenals überschaubare gesellschaftliche Gruppen, um die Mechanismen aufzuzeigen, mit denen Hitler seiner Ansicht nach an die Macht kam, um sich dann in einen kriegerischen Imperialismus zu stürzen. Die Interpretation des Aufstiegs Hitlers blieb jedoch problematisch. Denn im Wesentlichen beschränkte Brecht sich auf den inneren Machtkreis um Hitler und die verführerische Faszination des Faschismus. Er zeigte aber nicht, warum die Deutschen die breite Basis dieser Politik waren. Auch mit der vermeintlichen Lächerlichkeit der Gangster war es nicht getan und trotz aller Verfremdungsabsichten blieb die Analogie der »Karriere eines Gangsters im Kapitalismus«, die dem Aufstieg Hitlers gleichen sollte, vereinfachend. Denn das Gangstersystem war dazu angetan, selbst mythologisierend zu wirken, indem nun die faschistische Vernichtungspolitik auf einen mafiösen, undurchsichtigen und beschränkten Machtzirkel mit gedungenen Mordschergen zurückzuführen war. 26 Gerz (Hg.), Brechts »Aufhaltsamer Aufstieg des Arturo Ui«, S. 129. 27 Vgl. Lindner, Bertolt Brecht, S. 99f, der am Beispiel der Hitler-Biographie von Joachim Fest zeigt, dass die Frage, ob Hitler als große historische Persönlichkeit aufzufassen ist, in der bürgerlichen Historiographie nach wie vor noch virulent ist. 28 Gerz (Hg.), Brechts »Aufhaltsamer Aufstieg des Arturo Ui«, S. 128. 29 Vgl. Goldhahn, Das Parabelstück Bertolt Brechts, S. 113.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

2.2 K RIMI -D ISKURSE

ÜBER DEN

F ASCHISMUS

IM

S YSTEMKONFLIKT

Brecht gehörte zu den meistzitierten Autoren im Krimidiskurs der DDR. Seine rhetorische Frage »Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« aus der Dreigroschenoper war eines der meistzitierten Bonmots. 30 Allein Brechts positive Lesart des analytischen Detektivromans fand keinen Widerhall, da er als eskapistische und apolitische spätbürgerliche Literaturgattung diskreditiert wurde. Anklang fand dagegen Brechts Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft als kriminelle Vereinigung, um die Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden Gesellschaftssystemen zu suchen. Brechts Aphorismus »Ein Abenteuerroman könnte kaum anders geschrieben werden als ein Kriminalroman: Abenteuer in unserer Gesellschaft sind kriminell.« 31 wurde als Aufforderung verstanden, den Kriminalroman zur Systemkritik zu nutzen. Im klassischen englischen Kriminalroman hatte Brecht »eine merkwürdig konventionsfreie Atmosphäre« gesehen, in der prinzipiell jeder der Täter sein kann: »Kein Kabinettsminister ist frei von Verdacht.«32 In der DDR herrschte eine solche Demokratie der Täter freilich nicht, allenfalls untere SED-Kader durften in Ausnahmefällen im erweiterten Täterkreis auftauchen. Eine Kritik der Ermittlungsbehörden gab es nicht, begingen sie Fehler, mussten sie im gleichen Atemzug korrigiert werden. Konsequent wurde der Detektiv durch ein Kollektiv von Kriminalisten ersetzt, solange nicht der Plot in den kapitalistischen Westen verlegt wurde. Sollte eine Privatperson ermitteln, dann wurde dieser schnell ein Kriminalist der Volkspolizei zur Seite gestellt. Und durch die Vorgabe einer gewaltlosen Gesellschaft konnte kein Verbrecher wirkliches Format gewinnen. Gegenüber der Kriminalliteratur herrschten zu Beginn der fünfziger Jahre Bedenken, die noch im Zeichen der seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland geführten Debatte über sogenannte Schmutz- und Schundliteratur standen. So sah man in den Mike-Hammer-Romanen von Micky Spillane Werte vermittelt, die zu Adolf Hitler und McCarthy geführt hätten und befürchtete sozialpsychologische Auswirkungen, die aus den Lesern der »heute noch verhinderten Mike Hammers die Killer von morgen« machen könnten.33 Den Bedenkenträgern zum Trotz wurde jedoch schnell auf eine eigenständige DDR-Kriminalliteratur hingewirkt, wobei extreme Gewalt oder Selbstjustiz

30 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper [1930], in: GA 2, S. 229-321, hier S. 305. Walter Benjamin bezeichnete folgerichtig den Dreigroschenroman als »Grenzfall des Kriminalromans«: »Bürgerliche Rechtsordnung und Verbrechen – das sind nach der Spielregel des Kriminalromans Gegensätze. Brechts Verfahren besteht darin, die hochentwickelte Technik des Kriminalromans beizubehalten, aber dessen Spielregeln auszuschalten. Das Verhältnis zwischen bürgerlicher Rechtsordnung und Verbrechen wird in diesem Kriminalroman sachgemäß dargestellt.« Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt/M. 1966, S. 92. 31 Brecht, Über die Popularität, S. 318. 32 Ebd., S. 319. 33 Walter Steinberg, Schule der Killer, in: Neue Deutsche Literatur (1957) H. 10, S. 153-155; hier S. 155.

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konsequent aus dem Kriminalroman verbannt wurde. Einer der prominenten Autoren von Spionageromanen formulierte ein Plädoyer für den »Tatsachenroman« und meinte, dass man Themen wie Kriminalfälle, Kriegsgeschichte, Spionagewesen und technische Zukunftsromane nicht dem Gegner überlassen dürfe, da man damit eine ungeheure Leserschicht ausschließe. 34 Vorgabe des sozialistischen Kriminalromans war es, »das Trugbild des äußeren Glanzes in den kapitalistischen Ländern« und die »Lüge von der Überlegenheit westlicher Kultur und Zivilisation« zu zerstören, wobei sie den »Verfall der Bourgeoismoral« und die »Praxis der Barbarisierung« sowie selbstverständlich die »wirtschaftlichen und machtpolitischen Kämpfe« darzustellen habe. 35 Durch die seit den frühen fünfziger Jahren in der DDR betriebene Unterteilung von Kriminalromanen, die in Westdeutschland oder auf dem Staatsgebiet der DDR spielten, wurde der Kriminalroman zum Werkzeug im Dienste des Fortschritts auf dem »Kampfplatz der Ideologien«. 36 Stereotype Gegensatzpaare zwischen DDR und BRD bestimmten den Kriminalroman bis in die Mitte der siebziger Jahre.37 Kennzeichen für die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik waren Klassengegensätze, Klassenjustiz, Korruption, Aufrüstungspolitik, Ämterpatronage, Arbeitslosigkeit und alter und neuer Nazismus. Staatliche Behörden in Legislative und Exekutive zeichneten sich dementsprechend durch Revanchismus, Disziplinierung und Brutalität aus, während in der DDR die Bürger und Behörden kooperierten, und gemeinsam für »Rechtsstaatlichkeit«, Integrität, Humanität und Friedensliebe eintraten. Hinter Sabotage, Spionage und Wirtschaftsdelikten standen dementsprechend reaktionäre Kräfte und westliche Agenten mit häufig nationalsozialistischer Vergangenheit. Damit wurde der Kriminalroman zu einem Genre der Geschichtspolitik. So ging es bis in die siebziger Jahre in Kriminalromanen, die in Westdeutschland angesiedelt waren, »fast ausnahmslos […] um den Nachweis, daß führende Vertreter in Politik und Wirtschaft ehemalige Nazis sind und an der Rückkehr des Faschismus arbeiten«. 38 Die Schilderung des Gegensatzes von Bundesrepublik und DDR folgte konsequent dem offiziellen Geschichtsbild der DDR. Nachdem in den ersten Jahren nach 1945 der Nationalsozialismus nach der sogenannten »Misere-Theorie« als »Irrweg der Nation« oder »deutsche Daseinsverfehlung« interpretiert wurde, forderte man zu Beginn der fünfziger Jahre eine positive, nationale Interpretation der deutschen Geschichte ein. Dies verwirklichte man durch eine »zwei Linien-Theorie«, wel34 Vgl. Wolfgang Schreyer, Das Geheimnis des Tatsachenromans, in: Neue Deutsche Literatur 3 (1955) 11, S. 115-122. 35 Alfred Könner, Kriminalromane und Wirklichkeit. Eine Untersuchung der Kriminalromane des Verlages Das neue Berlin, in: Neue Deutsche Literatur 2 (1954) H. 10, S. 139-148; hier S. 143. 36 Reinhard Hillich, Damm – Brücke – Fluß. Sachdienliche Hinweise zur Diskussion über Kriminalliteratur in der DDR, in: Ders. (Hg.), Tatbestand. Ansichten zur Kriminalliteratur der DDR 1947-1986 (=Deutsche Bibliothek; Bd. 13) (Hg.), S. 9-36; hier S. 20. 37 Vgl. dazu Anselm Dworak, Der Kriminalroman der DDR (=Aussagenanalysen; Bd. 1), Marburg 1974. 38 Walter T. Rix, Krimis in der DDR. Sozialistischer Seiltanz, in: die horen 31 (1986), H. 144, S. 71-77; hier S. 75.

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che die deutsche Geschichte in reaktionäre und progressive Tendenzen, Institutionen und Individuen einteilte – mit der schalen Pointe, dass die DDR die positiven und die BRD die negativen Traditionen verkörperte. 39 Die Kombination aus Marxismus-Leninismus und Nationalismus behinderte »eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit einschließlich des Nationalsozialismus«. 40 Der Faschismus wurde entnationalisiert und als internationales Phänomen gesehen. Mit dem Postulat des eigenen Antifaschismus und einer rein instrumentalistischen Definition des Faschismus, welche den »Faschismus an der Macht« als die »offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals« 41 verstand, wurde eine darüber hinausgehende Untersuchung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus langfristig verhindert. Während man zu Beginn der 1950er Jahre versucht hatte, der westlichen Kriminalliteratur mit einer sozialistischen Massenkriminalliteratur zu begegnen, setzte man im Kampf gegen die »amerikanische und deutsche Gangsterliteratur« seit der 3. Parteikonferenz der SED von 1956 auf literarische Qualität, da nur durch »künstlerische Meisterschaft […] die weltverändernden Ideen des Sozialismus […] eine tiefe Wirkung auf den Menschen ausüben können«. 42 Wichtigster Neuansatz war die Forderung einer sozialistischen Pitaval-Literatur, die auch den Nationalsozialismus thematisieren sollte. So betonte etwa Gottlieb Scheuffler den Zusammenhang von Politik, Verbrechen und Kriminalliteratur in einer 1959 erschienenen Pitaval-Sammlung. Scheuffler operierte mit einem weiten Begriff dokumentarischer Kriminalliteratur, der auch journalistische Arbeiten umfasste. Dieser Dokumentarismus war charakteristisch für die ausgehenden fünfziger Jahre, wie gleichzeitige Fernsehproduktionen wie der Fernseh-Pitaval (seit 1959) oder aber 39 Ulrich Neuhäußer-Wespy, Die SED und die Historie. Die Etablierung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren, Bonn 1996. Über das Geschichtsbild der DDR, staatliche Vorgaben und die Mitwirkung von Historikern ist nach der Wiedervereinigung heftig diskutiert worden. Den Versuch einer ausgleichenden Bewertung unternimmt: Martin Sabrow, »Beherrschte Normalwissenschaft«. Überlegungen zum Charakter der DDR-Historiographie, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), H. 3, Seite 412-445. Ders., Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969 (=Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 8), München 2001. Zur Vergangenheitsbewältigung in der DDR und der Bundesrepublik: Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998. 40 Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR aus Sicht der USA, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Zwischen Parteilichkeit und Professionalität. Bilanz der Geschichtswissenschaft der DDR (=Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), Berlin 1991, S. 57-73; hier S. 63. 41 Protokoll des XIII. Plenums des EKKI, Dezember 1933, Moskau-Leningrad 1934, S. 277. Vgl. Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, 7., überarb. Aufl. (=Erträge der Forschung; Bd. 17), Darmstadt 1997, S. 21. 42 Zitiert nach: Potsdamer Forschungen. Reihe A, erw. Nachaufl. (1980) 15, S. 96 u. 99.

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die inszenierten Dokumentationen der Fernsehserie Blaulicht zeigen. 43 Die Pitavaltradition drängte sich seiner Ansicht nach für eine Verbindung von »sozialistischem Realismus« und Kriminalroman auf. Scheuffler konstruierte eine Traditionslinie der dokumentarischen Kriminalliteratur, indem er behauptete, dass mit dem Eintritt des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium allein antikapitalistische und sozialistische Autoren zum Schreiben von Krimis geeignet seien, weil sie noch an einer dokumentarischen Erfassung des Kriminal- und Gerichtsgeschehens und seiner vollständigen Enthüllung interessiert seien. 44 In diese Tradition integrierte er neben Egon Erwin Kisch, Friedrich Karl Kaul und Günther Weisenborn heute unbekanntere Autoren wie Vera Figner, Theodor Duimchen oder Emil Julius Gumbel, der die rechtsradikalen »Fememorde« aus den Jahren 1919 bis 1929 dokumentarisch nachgezeichnet hatte und sich dabei »streng an Akten und Urkunden« hielt. Die Aufweichung der Gattungsgrenzen war dem Herausgeber wohl bewusst, wenn er sich fragte, ob »die Erinnerungen antifaschistischer Widerstandskämpfer an ihre Haftzeit […] etwas mit Kriminalliteratur zu tun haben«. Er wollte nicht den Kriminalbericht der Kriminalliteratur gleichsetzen, jedoch »der Ausklammerung des literarisch gestalteten Kriminalberichts« aus der Literatur entgegentreten. Zu der so verstandenen sozialistischen dokumentarischen Kriminalliteratur gehörten deshalb auch die Reportagen des Gerichtsberichterstatters Rudolf Hirsch der Berliner Wochenpost, dessen Artikel »beweisen, wie in der Bundesrepublik wieder Nazi-Richter ›Recht‹ sprechen.« 45 Vor dem Hintergrund der Kriminalliteratur fasste Scheuffler den Kapitalismus als verbrecherisches System auf. Ein »typisches Zeichen für Klassengesellschaften« sei es, dass sie das »kriminelle Verbrechen in den Dienst ihrer Politik« stelle. In einer solchen Vorstellung glichen sich alle zeitgeschichtlichen Werke, die sich mit den Verbrechen des Faschismus auseinander setzten, der Kriminalliteratur an. Denn obwohl sie »eminent politische Werke« seien, könnten sie »zugleich Kriminalliteratur« sein, wenn das »Schwergewicht auf der Darstellung der kriminellen Seite jener Verbrechen liegt« und sich den »verbrecherischen Methoden« widmet, »deren sich eine »verbrecherische Politik bedient«: »Der KZ-Aufseher, der Menschen geschändet und gemordet hat, wird in der Tat auch doppelt verurteilt; einmal wird seine menschenfeindliche Ideologie, der Nazismus, als verbrecherisch festgestellt, und zum anderen wird jedes einzelne seiner kriminellen Verbrechen nach den Normen des Strafrechts abgeurteilt. Das ist logisch und richtig, und aus demselben Grunde ist Literatur über die Zustände in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern politische und Kriminalliteratur. Eine andere Definition würde die Bestrebungen der bürgerlichen Literaturtheorie, die Kriminalliteratur als gesellschaftlich und politisch neutral hinzustellen, nur unterstützen.« 46

43 Hillich, Damm – Brücke – Fluß, S. 21. 44 Gottlieb Scheuffler, Nachwort, in: Ders. (Hg.) Die gute Kriminalgeschichte. Eine Sammlung, Rudolfstadt: Greifenverlag 1959, S. 381-392; hier zitiert nach Hillich (Hg.), Tatbestand, S. 59-66; hier S. 61. 45 Ebd., S. 63f. 46 Ebd., S. 65.

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Die sozialistische Kriminalliteratur müsse also eine »Spiegelung der engen Verflechtung von Politik und kriminellen Verbrechen in der kapitalistischen Gesellschaft« vornehmen und drücke »die Notwendigkeit aus, daß die antikapitalistischen Kräfte das politische System bekämpfen müssen, wollen sie die kriminellen Verbrechen in ihren Wurzeln treffen«. 47 So trat an die Stelle der privaten Motivierung des Verbrechens seine gesellschaftliche Bedingtheit. Mit Die Mumie im Glassarg von Hans Pfeiffer erschien 1960 in der DDR die erste bedeutende Monographie zum Kriminalroman. 48 Pfeiffer argumentierte darin im Anschluss an Scheuffler für eine Integration von Kriegsverbrechen in den Korpus der sozialistischen Kriminalliteratur. Im Kapitel »Wachsfigurenkabinett der Massenmörder« führte er aus, dass »der Imperialismus mit seiner technischen Rationalisierung und seiner politischen Diktatur der Monopole […] neue Erscheinungsformen des Verbrechens« schuf. Das Verbrechen im Kapitalismus mache drei Phasen durch, vom Raubmord über den sozialen Mord hin zur offenen Diktatur und dem »Advent der Verüber großer politischer Verbrechen«, in welchem Stadium der Mord »industrialisiert und mechanisiert« wurde. Das Gewaltverbrechen werde »zum System und der Mord Teil der Staatsräson«. Die Kriminalliteratur habe diese Entwicklung sichtbar zu machen, sonst bleibe sie »provinziell, wird Flucht, Lüge, Kitsch«. Der »Hitlerfaschismus« war »die permanente Möglichkeit zum Verbrechen« und habe »Zehntausende« zu Verbrechern gemacht, die von einer »kleinen Herrenschicht« befehligt worden seien, die »Europa zum Totenhaus und ein Zwangsarbeiterlager« gemacht hätten. Der Faschismus habe das deutsche Volk geistig und moralisch verwirrt und mit Drill, Lügen, Mythos und abgestuften Privilegien eine Bereitschaft »unbedingten sklavischen Gehorsams« erzeugt und »Träger einer Raubtier-Gesellschaft herangezüchtet«. Hunderttausende Menschen seien von einem »verbrecherischen System […] in einen Zustand dauernder Möglichkeit versetzt worden, Verbrecher zu werden«. Im Sinne des offiziellen Antifaschismus der DDR – als Staat der Opfer des Faschismus – betonte er, dass es gleichzeitig keine Zeit gegeben habe, »wo Widerstandskraft, Opfermut und Solidarität der Verfolgten eine so starke kollektive Barrikade gegen das organisierte Verbrechen« errichtet hätten. Pfeiffer forderte eine »Politisierung der Kriminalliteratur« durch einen »Pitaval des Faschismus«, auch wenn das angesichts »der Chronik dieser Millionen Morde« die »Darstellungskraft des einzelnen« übersteige. 49 Es gelte, die »kritische und anklagende Tradition« der Kriminalliteratur zu erneuern, um so »das romantische Geschichtsbewußtsein des Kleinbürgers und die 47 Ebd. 48 Hans Pfeiffer, Die Mumie im Glassarg. Bemerkungen zur Kriminalliteratur, Rudolfstadt: Greifenverlag 1960; hier S. 37. Zum Folgenden siehe ebd. S. 136-151. 49 Als Beispiele für einen solchen Pitaval der NS-Verbrechen nannte er Dokumentarberichte über die SS und Zeugnisse polnischer Juden: SS im Einsatz. Eine Dokumentation über die Verbrechen der SS, hg. vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR, Berlin 1957. Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto. Mit einem Vorwort von Arnold Zweig, Berlin 1958.

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Ehrfurcht vor dem Massenmord zu zerstören«, wie er im Einklang mit Brecht formulierte: »Wenn das Verbrechen seine Rolle ändert, wenn es nicht mehr bloß individuelle Handlung, sondern Vernichtungsmaschinerie eines verbrecherischen Staates und Systems wird, kann die Kriminalliteratur nicht ohne Kenntnisnahme davon in ihren alten Gleisen weiterlaufen. Sie kann und muß ihren Gegenstand […] um eine solche Erscheinungsform wie das Kriegsverbrechen erweitern, um ihrer gesellschaftlichen Rolle und Verpflichtung nachzukommen.«50

Als beispielhafte fiktionale Bücher nannte er Harry Thürks Antikriegsroman Die Stunde der toten Augen und Robert Merles Der Tod ist mein Beruf, eine »pathologisch-exakte Studie« 51 des Massenmörders und Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höß aus der Perspektive eines Ich-Erzählers. Weitere Beispiele nannte er mit Charlie Chaplins Monsieur Verdoux, Cyril Jollys Die Vergeltung des Soldaten Pooley und Robert A. Stemmles Dr. Petiot, für dessen Veröffentlichung er sich in der DDR einsetzte. 52 Pfeiffer führte aus, dass aus Mangel an politischer Kriminalliteratur dem »KZ-Roman« wie Anna Seghers Das Siebte Kreuz und Bruno Apitz Nackt unter Wölfen eine Ersatzfunktion zukomme. 53 Der von Hans Pfeiffer geforderte »Pitaval des Faschismus« wurde allerdings nicht geschrieben. Die Pitavalerzählungen Friedrich Karl Kauls – dem »Staranwalt« der DDR, der in bundesdeutschen NS-Prozessen als Nebenkläger auftrat 54 – widmeten sich größten Teils der »Klassenjustiz« der Bundesrepublik und der Weimarer Republik, oder gingen noch weiter zurück in die deutsche Vergangenheit. Auch Günter Prodöhl, ein weiterer bekannter sozialistischen Pitavalautor, beschäftigte sich weitestgehend nicht mit den Kriegsverbrechen. In die von Pfeiffer geforderte Richtung ging allerdings noch Erwin Nipperts Die Maske des Kunsthändlers (1980), eine Textsammlung von vier »spannend« aufgemachten »Tatsachenerzählungen« über NS-Verbrechen, etwa über das Massaker von Malmedy und über Klaus Barbie. Mit dem Bau der Mauer entfiel der Konkurrenzdruck zu den kriminalliterarischen Westerzeugnissen. Im »Leseland DDR« – wie es in der offiziellen Selbstdarstellung hieß – wurde fortan kontrolliert, welche westeuropäischen und amerikanischen Autoren für Lizenzausgaben in Frage kamen. Für die eigenen Autoren veranstaltete man Schulungskurse und Konferenzen zum Mei50 Pfeiffer, Die Mumie im Glassarg, S. 151. 51 Ebd., S. 141. Robert Merle, La mort est mon métier, Paris: Éditions Gallimard 1952. Ins Deutsche wurde der Roman zunächst vom Ostberliner AufbauVerlag übersetzt: Robert Merle: Der Tod ist mein Beruf, Berlin: AufbauVerlag 1957. 52 BArch DR 1/3627, Bl. 64. Der Roman erschien in der DDR erst 1968, nachdem er in der Bundesrepublik 1951 erschienen war. Vgl. dazu Kapitel IV, 3.1. 53 Pfeiffer, Die Mumie im Glassarg, S. 307. 54 Annette Rosskopf, Friedrich Karl Kaul. Anwalt im geteilten Deutschland 1906-1981 (=Berliner Juristische Universitätsschriften. Grundlagen des Rechts; Bd. 19), Berlin 2002.

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nungsaustausch mit Verlagen und Polizeibehörden, in denen kriminalistische Detailkenntnisse vermehrt und das literarische und ideologische Profil der sozialistischen Kriminalliteratur auslotet wurden. 55 Das Zensursystem, welches vom Lektorat über ein langwieriges Gutachterverfahren durch weitgehend linientreue Autorenkollegen, bis hin zu den Verlagsleitungen, der »Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel« des Ministeriums für Kultur, sowie zu einer im Ministerium des Innern eigens eingerichteten Abteilung für Kriminalliteratur reichte, entfaltete eine staatliche Lenkung und Kontrolle des Literaturbetriebs, die im Netz manipulatorischer Praktiken zu erhöhtem Anpassungsdruck und Selbstzensur führten. In der Mitte der 1960er Jahre wurde eine »Debatte« 56 über die Kriminalliteratur der DDR angestoßen, deren Nachwirkungen noch in den 1980er Jahren zu spüren waren. Dabei ging es um die Frage, inwieweit die Kriminalliteratur in der »utopisch spannungslosen DDR« 57 fortbestehen konnte, da doch der Sozialismus die Kriminalität hinfällig mache. Schließlich sollte die DDR »ein sauberer Staat« sein, in der es »unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte« gab, wie Erich Honecker 1965 auf dem 11. Plenum des ZK der SED kundtat. 58 Als Antwort auf diese Forderung konnte man Hasso Magers Streitschrift Krimi und crimen. Zur Moral der Unmoral aus dem Jahr 1969 verstehen, in der er prophezeite, dass der »Krimi in die Schrottkiste« fliege, da der klassische Detektivroman im Sozialismus anachronistisch sei. 59 Das Verbrechen sei dem Kapitalismus immanent, dem Sozialismus jedoch wesensfremd. Die sozialistische Wirklichkeit der Gegenwart zeichne sich gerade darin aus, »daß sie die Wurzeln des Verbrechens beseitigt und damit künftige Verbrechen weitgehend verhindert. Beschleunigter Kriminalitätsrückgang durch vorbeugende Verbrechensverhütung im Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte – das ist eine Erscheinung unserer sozialistischen Realität.« 60 55 Vgl. Hasso Mager, Stirbt der Krimi? [1968], in: Hillich (Hg.), Tatbestand, S. 97-107; hier S. 99. Hillich, Damm – Brücke – Fluß, S. 22. 56 Offensichtlich wurde die literaturtheoretische Diskussion über die Kriminalliteratur im Sozialismus durch eng aufeinander abgestimmte Beiträge mit einem einheitlichen Diskussionsstand inszeniert. Die Theoretiker des Genres, die über Möglichkeiten und Ansprüche des Kriminalromans in der DDR diskutierten, waren zudem oftmals selbst Verfasser von Kriminalliteratur wie Hasso Mager oder Hans Pfeiffer. Hinzu kam, dass neben ausgewählten Autoren auch die Krimikritiker in das Begutachtungssystem der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel eingebunden waren, welche die Druckgenehmigungen erteilte. So war die veröffentlichte Diskussion ein Resultat dessen, was innerhalb des Begutachtungssystems schon durchdiskutiert worden war. Insgesamt resultierte daraus ein Krimifilz, der kreative Veränderungen innerhalb des Genres vorab ausschloss. 57 So die Außensicht von: Dworak, Kriminalroman der DDR, S. 281. 58 Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1997; hier S. 182. 59 Hasso Mager, Krimi und crimen. Zur Moral der Unmoral, Halle 1969. Vgl. Mager, Stirbt der Krimi?, S. 97. 60 Hasso Mager, Der Buchhalter darf leben! [1986], in: Hillich (Hg.), Tatbestand, 119-122; hier S. 120.

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Der moderne Krimi setze deshalb eine »entwickelte Kriminalität« voraus, die es »allenfalls in der spätbürgerlichen Gesellschaft« gebe. 61 Mager meinte darüber hinaus feststellen zu können, dass der traditionelle Detektivroman Ausdruck des »Vergeltungsprinzips des bürgerlichen Strafrechts« sei. Für die sozialistische Gesellschaft reklamierte er dagegen das »Prinzip der allseitigen gesellschaftlichen Umerziehung des Rechtsbrechers«, womit sich die Grundkonstellation der Detektivliteratur auflöse. Mager behauptete damit keineswegs, dass der Kriminalroman seine Existenzberechtigung in der sozialistischen Gesellschaft verliere. Es war allein der Abgesang auf eine Kriminalliteratur, die mit der Überführung des Täters halt machte. Im Raum stand nun die programmatische Forderung einer umfassenden Pädagogisierung des sozialistischen Kriminalromans und die Erziehung zu einer sozialistischen Ethik. Die Kriminalautoren der DDR seien »Moralisten«, die ihre Finger in jene Wunden legten, die gerade noch akzeptabel waren: Besitzgier, Karrierismus und die damit zusammenhängenden Fragen nach »Werten im menschlichen Leben«, nach »moralischer Verantwortung« und nach dem »Niveau menschlicher Beziehungen«. 62 Der Verbrecher war nicht mehr Feind des Sozialismus, sondern wurde zum wissenschaftlichkriminologischen Erkenntnisobjekt. Die soziologische Erklärung des Verbrechens, die in der westeuropäischen Kriminalliteratur vor allem von dem Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö angeregt wurde, fand nun auch in der DDR eine gewisse Resonanz. Die Soziologie des Verbrechens wurde allerdings durch eine Didaktik der Werte ergänzt, die nichts Spielerisches an sich hatte: Der Genosse Kommissar war Lehrer in gesellschaftspolitischen Fragen. In der Ausgestaltung einer realistischen Kriminalliteratur versuchte man als Konsequenz aus der statistisch erhobenen, freilich manipulierten Abnahme der Gewaltkriminalität, stärker Bagatelldelikte zu berücksichtigen. 63 Doch auf den literarischen Mord wollte man aus Gründen der Spannung oder als der »schlimmstmögliche[n] Wendung eines Konflikts« 64 nicht gänzlich verzichten. Ernsthaft wurde jedoch nie an eine Abschaffung der Kriminalliteratur gedacht. Die Debatte entschärfte sich, als mit dem Begriff des »realexistierenden Sozialismus« das kommunistische Projekt stillgelegt wurde. Nun korrigierte man das sozialistische Menschenbild dahingehend, dass Kriminalität nicht gänzlich auszuschalten sei. Schließlich ließ sich der kriminallitera61 Mager, Stirbt der Krimi?, S. 98. 62 Hartmut Mechtel, Die Märchenwelt der Moralisten. DIE-Reihe im Verlag das neue Berlin – Herkunft, Anliegen, Tendenzen [1979], in: Hillich (Hg.), Tatbestand, S. 174-188; hier S. 183. 63 Zur Manipulation der Kriminalitätsstatistik vgl.: Petra Weber, Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961 (=Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 46), München 2000, S. 13. Der weite Bereich politischer Verbrechen wurde in der Kriminalliteratur der DDR ausgeblendet, ebenso wie sie in der Kriminalstatistik marginalisiert wurden: Johannes Raschka, »Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik«. Zur Zahl politischer Häftlinge während der Amtszeit Honeckers (Berichte und Studien des Hannah-Arendt-Instituts; Bd. 11), Dresden 1997. 64 Pfeiffer, Phantasiemorde, S. 73.

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rische Diskurs über Kriminalität mit seinen exklusiven und inklusiven Mechanismen auch als Herrschaftsinstrument nutzen. Das Verbrechen im Sozialismus erwuchs nun nicht mehr aus »unsozialistischen Erscheinungen«, sondern »aus Mängeln beim sozialistischen Aufbau«. Die »Aufgabe der Kriminalliteratur im Sozialismus« sollte darin bestehen, »den Lesern den Blick für überholte, antigesellschaftliche Verhaltensweisen zu schärfen und die schrittweise Verdrängung der Kriminalität aus unserem Leben zu unterstützen; positiv ausgedrückt: Hilfe bei der Herausbildung neuer Moralnormen zu leisten, zur Vertiefung des sozialistischen Bewusstseins, zur Entwicklung des sozialistischen Menschenbildes beizusteuern.« 65 Die Funktion dieser Diskussionsbeiträge war eindeutig: Rituell wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es in der DDR äußerst wenige Tötungsdelikte gebe und dass »in der DDR-Realität Bagatellfälle das Bild der Kriminalität bestimmen«, ausgenommen von Morden, die »im Wahnsinn oder Affekt« begangen werden würden. 66 Noch 1989 betonte man, dass ganz anders als in der Welt des Kriminalromans Mord und Raub in der statistisch erfassten DDR-Wirklichkeit kaum vorkämen. 67 Indem man ständig auf die geringfügige Kriminalitätsrate in der DDR verwies, wurde nun – bei allem geforderten literarischen Realismus – die Fiktionalität der DDR-Kriminalliteratur betont. So war es kein Wunder, dass Hans Pfeiffer noch in den 1960er Jahren der Kriminalliteratur eine pädagogische Präventionsfunktion zuschrieb, während er in den 1980er Jahren von »Phantasiemorden« sprach. So hatte Pfeif65 Das Neue Berlin. Arbeitsmaterial zur Kriminalliteratur [1972], abgedruckt in: Dorothea Germer, Von Genossen und Gangstern. Zum Gesellschaftsbild in der Kriminalliteratur der DDR und Ostdeutschlands von 1974 bis 1994 (=Literaturwissenschaft in der Blauen Eule; Bd. 20), Essen 1998, S. 421-431; hier S. 423f. 66 Mechtel, Die Märchenwelt der Moralisten, S. 175 u. 186. Dazu wurde eine bemerkenswerte »Statistik« aus dem Bezirk Brandenburg aus dem Jahr 1974 von Mechtel wiedergegeben: Hier hätte es nur »vier vorsätzliche Tötungen, alle im Familienkreis« gegeben, wobei die Familien »mehr oder minder asozial« gewesen seien. In zwei Fällen seien dies Tötung aus Verzweiflung und daher mit anschließendem oder gleichzeitigem Selbstmord« gewesen; »in den übrigen Fällen wurde eine störende Person (ein Jugendlicher, ein Kleinkind) ermordet. Alle Taten wurden relativ spontan begangen, ohne vorherige logische Überlegung, und auch in den beiden Mordfällen hatte die Polizei keine Schwierigkeiten, den Täter zu ermitteln. Zwei Mördern stehen etwa vierhundert Rowdies und Asoziale gegenüber, dazu neunzig Sexualtäter.« Bei einer solchen »Statistik« war es klar, dass der sozialistische Kriminalroman keine Widerspiegelung der Wirklichkeit sein konnte. Die Reflexion über die DDR-Kriminalität bot jedoch die Möglichkeit, mit »Bummelanten, Rowdies, mit denen, die sich ohne Arbeit Geld verschaffen«, abzurechnen. Diese Vergehen sollten in die DDR-Kriminalliteratur aufgenommen werden: »So können im Kriminalroman also positive Werte vor allem über Darstellung und Negation der negativen vermittelt werden.« Dazu gehörten auch »Geltungsdrang, Haß nach enttäuschter Liebe oder Sexualgier« oder aber »das Halten von Positionen und zerrüttete Familienverhältnisse«. Ebd. S. 182f. 67 Hillich, Damm – Brücke – Fluß, S. 33.

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fer zunächst den Kriminalautor kriminalbiologistisch als »Arzt gesellschaftlicher Übergangskrankheiten« 68 gesehen, wohingegen in Phantasiemorde die »prophylaktische Fähigkeit des Kriminalromans« nicht mehr so hoch eingeschätzt wurde. 69 Pfeiffer fand nun eine neue Antwort auf das Problem von mordloser DDR-Wirklichkeit und einer Kriminalliteratur, die auf den Mord angewiesen blieb. Der Kriminalroman erzähle von Phantasiemorden der Phantasiemörder, weniger über die reale Kriminalität. Dennoch sollten seine Figuren »sozial genau und psychologisch differenziert dargestellt« werden, der »Konflikt des Täters in seinen objektiven und subjektiven Ursachen« ausgelotet und das Kollektiv der Kriminalisten als »widerspruchsvolle Einheit unterschiedlicher Charaktere und Arbeitsmethoden vor dem Hintergrund sozialer Normalität« dargestellt werden. 70 Damit wurde der Phantastik der Mordfälle mit einem literarischen Realismus sozialistischer Wirklichkeit begegnet. Spätestens seit Beginn der 1970er Jahre war die Kriminalliteratur als wichtiger Bestandteil der Unterhaltungsbelletristik anerkannt. Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 proklamierte Honecker die »entwickelte sozialistische Gesellschaft« und versprach als Antrittsgeschenk eine an den Sozialismus gebundene »Ent-Tabuisierung« der Kulturpolitik: »Wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils.« 71 Die kurze Tauperiode im künstlerischen Bereich endete mit der Ausweisung von Wolf Biermann 1976, die einen offenen Widerspruch zahlreicher Schriftsteller auslöste und in deren Folge es zu Ausschlüssen aus der SED und des Schriftstellerverbandes kam. Erich Loest, der unter dem Pseudonym Hans Walldorf einige Kriminalromane veröffentlicht hatte, trat 1979 aus Protest gegenüber den Zensurmaßnahmen aus dem Schriftstellerverband der SED aus und siedelte 1981 in die Bundesrepublik über. Für die Kriminalliteratur bedeutete diese kurze Öffnung der Kulturpolitik, dass etwa der Verlag Das Neue Berlin eine Trennung vom Ministerium des Inneren durchsetzte und nun statt Fachgutachtern den Autoren sogenannte »Berater« zuteilte. Seit Mitte der 1970er Jahre gab es dann im Schriftstellerverband eine eigene Sektion Kriminalliteratur, die von den Autoren Manfred Drews und Jan Eik ins Leben gerufen worden war. 72 Seit der Mitte der 1970er Jahre wurde die im Kriminalroman betriebene Abgrenzungspropaganda zur BRD verabschiedet und die in der BRD angesiedelten Werke als zu schablonenhaft kritisiert. 73 Die Bundesrepublik verschwand zunehmend aus dem DDR-Kriminalroman, und der DDR-Krimi68 69 70 71 72

Pfeiffer, Mumie im Glassarg, S. 287. Pfeiffer, Phantasiemorde, S. 37. Ebd., S. 348. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 181. Vgl. Germer, Von Genossen und Gangstern, S. 58. Insgesamt bleibt jedoch die zentrale Frage, inwieweit die Kriminalliteratur, aber auch der Fernsehkrimi in der Endphase der DDR als Herrschaftsinstrument einzuschätzen ist, von der Forschung noch unbeantwortet. 73 Vgl. Mechtel, Die Märchenwelt der Moralisten, S. 180.

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nalroman wurde verstärkt zum Heimatroman, in dem über Abweichung und Devianz verhandelt wurde. Umstritten ist dabei in der Forschung, wie die durchaus vorhandene Symptomkritik an der DDR-Wirklichkeit einzuschätzen ist. Während Brigitte Kehrberg von einer weitgehend angepassten Kriminalliteratur spricht 74, meint Dorothea Germer eine »gewisse ›Narrenfreiheit‹« in der Kriminalliteratur beobachten zu können und spricht sogar davon, dass das Genre »zum Fluchtpunkt für Autor und Leser vor wachsenden staatlichen Restriktionen geworden« sei. Eine Systemkritik sei zwar nicht möglich gewesen, doch sei ein »undogmatischer Umgang mit sozialistischen Grundsätzen« festzustellen, während politisch-propagandistische Zwecke durch das Interesse an den sozialpsychologischen Hintergründen einer Tat abgelöst worden seien. Insgesamt vermittele die Kriminalliteratur der achtziger Jahre den »Eindruck von Fatalismus und Resignation« und sei zur »Chronistin des Niedergangs der DDR« geworden. 75 2.3 P LOTKONSTRUKTIONEN

IM

DDR-K RIMINALROMAN

Was konnte nun der Krimileser über die NS-Vergangenheit erfahren? Auf der Basis von 60 ausgewählten Romanen, die von 1952 bis 1990 in der DDR erschienen, lassen sich drei Phasen mit unterschiedlichen Plotmustern einer immer nach ideologisch-propagandistischen und geschichtspolitischen Vor-

74 Brigitte Kehrberg, Der Kriminalroman der DDR 1970-1990 (=Poetica. Schriften zur Literatur; Bd. 28), Hamburg 1998. 75 Germer, Von Genossen und Gangstern, S. 51ff. Damit dreht sie das Argument von Hans Pfeiffer um, der behauptet hatte, wirkliche Kriminalität komme nicht im Kriminalroman, sondern in den DDR-Medien vor. In einer Zeit, in der »der Informationswert der Medien gegen Null ging«, habe die DDR-Kriminalliteratur in den achtziger Jahren »eine Art ›publizistische Zeitungsfunktion‹« bekommen. In Anspielungen und Ironisierungen seien alltägliche Probleme der DDR-Gesellschaft gezeigt wurden, deutliche Anzeichen einer Krise seien für den Leser herauszulesen gewesen, wenn neben Schiebereien, Bummelei, schlechten Wohnungsbedingungen und der Ausgrenzung gesellschaftlicher Außenseiter Probleme der Mangelwirtschaft, Privilegierungen und sozial Deklassierte geschildert werden. Das Genre habe sich immer stärker der ideologischen und politischen Instrumentalisierung entzogen, und auch der didaktischen Funktion der Kriminalliteratur sei eine deutliche Absage erteilt worden. Das stereotype Kriminalistenkollektiv sei zugunsten eines nachdenklichen, unkonventionellen Kriminalisten gewichen, der sich seiner Methoden und des Sinns seiner Arbeit nicht immer sicher gewesen sei. Der Täter sei nicht mehr der Außenseiter und Feind der sozialistischen Gesellschaft, sondern ein Durchschnittsbürger, der durch unglückliche und gesellschaftliche Widrigkeiten zu seiner Tat veranlasst gewesen sei. Germer spricht deshalb vom »Verdienst der Kriminalliteratur der achtziger Jahre«, die »komplexen Ursachen für Verbrechen deutlich gemacht zu haben, die trotz vielfach gegenteiliger offizieller Bekundungen auch im Sozialismus existierten.«

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gaben geschriebenen Kriminalliteratur unterscheiden.76 Zunächst dirigierte ein primitiver historischer Materialismus die Aufklärung der nationalsozialistischen Verbrechen, während seit den späten 1950er Jahren die NS-Thematik gänzlich unter dem Eindruck des Systemkonflikts thematisiert wurde. Schließlich lässt sich seit den 1970er Jahren eine frühzeitige Historisierung der NS-Problematik erkennen. Historischer Krimi-Materialismus und kumulative Verbrechen

Ein frühes populäres Plotmuster war die Verknüpfung von Mord mit versteckten Nazigeldern oder Nazi-Raubkunst. Hier ließ sich auf plakative Weise die Nazi-Vergangenheit mit einem einfach verstandenen historischen Materialismus als Kritik spätbürgerlicher und faschistischer Geldgier verbinden. In einem der ersten Nazi-Krimis ging es 1951 bei Peter Kast um einen Millionenschatz vom Müggelsee, zehn Jahre später bei Kurt Herwart Ball um Die Drachmensammlung (1961). Bei Kast konnte man erfahren, dass im Westen vor allem der große Parteigenosse Zuflucht fand, während die DDR dem kleinen Parteigenossen, dessen Verfehlungen als »Dummheit von Dreiunddreißig« abgetan wurden, die Chancen bot, neu anzufangen, wenn er nur den Verlockungen des Kapitalismus widerstand. 77 In Wolfgangs Helds Der Tod zahlt mit Dukaten (1964) ging es um einen Münzschatz, den 1945 ein flüchtender SS-Verband mit sich führte. Ein ehemaliger SS-Lagerarzt, der sich als Mitglied einer umtriebigen Verbindung alter SS-Leute auf die Suche nach dem Schatz macht, kann in einem thüringischen Ort festgenommen werden. In Werner Toelckes Roman Er ging allein (1968) muss ein Privatdetektiv einen Diebstahl und später einen Mord in der westdeutschen Kleinstadt Rendshagen aufklären, bei dem er mit dem Jahrestreffen ehemaliger SS-Angehöriger konfrontiert wird. Die Verbrechen sind dann auf einen Kunstraub aus Kriegszeiten zurückzuführen. In Treffpunkt Bern (1970) von Günter Spranger kommt der DDR-Reichsbahnrat Nehring, der im Auftrag der DDR in der Schweiz unterwegs ist, in den Verdacht, dass er unter einer Decke mit zwei SS-Angehörigen steht, die an eine Schmuckschatulle in einem Schweizer Banksafe gelangen wollen. Ein weiterer Kunstschatz war in Käuzchenkuhle (1965) von Horst Beseler aus einem See zu heben. Gehindert wird er daran durch einen gewieften Schüler. Dass man aus einem See nicht nur Kunstschätze heben konnte, auch wenn man zunächst nach solchen abgetaucht war, bewies Siegfried Dietrich in Das Geheimnis des Bergsees (1965): Ein Stuttgarter Unternehmer und ehemaliger SSAngehöriger lässt zwei Kisten bergen, die nicht die vermuteten Kunstschätze, sondern Dokumente des Reichssicherheitshauptamtes beinhalten. Damit

76 Die Auswahl beruht auf einer durch eigene Recherchen ergänzten Liste, die mir der inzwischen verstorbene Kriminalhauptkommissar, Krimi-Autor und Mitherausgeber der Bibliografie zur Kriminalliteratur, Wolfgang Mittmann, zur Verfügung gestellt hat. Die Auswahl beansprucht keine Vollständigkeit. Bei über 1800 Krimititeln, die in der DDR erschienen sind, ist der Anteil dieser Krimis als gering einzuschätzen: Reinhard Hillich/Wolfgang Mittmann, Die Kriminalliteratur der DDR 1949-1990. Bibliografie, Berlin 1991. 77 Peter Kast, Der Millionenschatz vom Müggelsee, Berlin: Das Neue Berlin 1951; vgl. S. 29, 225 u. 245.

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schließt der Roman an jene »entlarvenden Dokumente« an, die in den sechziger und frühen siebziger Jahren der bestimmende Topos des DDR-Krimis sein sollten. Eine noch stärker propagandistische Absicht hatten eine Reihe von in der DDR angesiedelten Romanen, die auf die Widerstände gegen die Bodenreform und Zwangskollektivierung eingingen oder aber die im Zuge des 17. Juni 1953 inszenierte Hysterie vor westlichen Agenten und Saboteuren widerspiegelten. Hier kam es zu einer literarisch ausgestalteten Produktion von Staatsfeinden, denen man ein kumulatives Verbrechen und stereotyp eine »faschistisch-imperialistische Verschwörung« vorwarf. Die Romane zeigen, wie man den Feinden des Sozialismus gleichzeitig eine »dunkle« Nazivergangenheit andichten konnte, ohne dass dabei ausführlich auf die NS-Verstrickungen eingegangen werden musste. Beliebtes Angriffsziel war der ehemalige Gutsbesitzer bzw. Großbauer, der sich der Bodenreform und Zwangskollektivierung entgegen stellte. So konnte beispielsweise in Walter Gorrischs Als der Morgen graute (1953) der ehemalige Gutsbesitzer eines märkischen Dorfes des Mordes an einem polnischen Zwangsarbeiter überführt werden. Nicht integrationswillige Großbauern setzten LPG-Scheunen in Brand oder mordeten die schwangere Frau eines Neubauern. Damit nicht genug, weist man ihnen zugleich nach, dass sie des Mordes an russischen Zwangsarbeitern schuldig waren oder aber französische Zwangsarbeiter der Gestapo ausgeliefert hatten. 78 In Gerhard Harkenthals Rendezvous mit dem Tod (1962) ermordet schließlich ein angesehener Landwirt seine Frau, um sich vor ihrer Anzeige zu schützen, die aufdecken konnte, dass er ein bislang unerkannter SS-Kriegsverbrecher war. In Ulrich Waldner Der Tod macht halt (1954) konnte ebenso wie in Kurt Davids [d. i. P. Schmidt] Der goldene Rachen (1960) ein Saboteur gleichzeitig als untergetauchter SS-Mörder entlarvt werden. In Gerhard Hörnkes Der Schatten des Toten (1958) spioniert ein ehemaliger Nazioffizier einen VEB aus und zwingt einen Mitarbeiter des Betriebes zur Mittäterschaft, da beide in die Ermordung eines französischen Zwangsarbeiters involviert waren. In Meineid auf Ehrenwort (1959) der A.G. Petermann versucht der Pressechef der DEFA einen Film zu sabotieren, in dem es um Kriegsverbrechen aus der Zeit der faschistischen Besatzung der Ukraine geht, an denen er selbst beteiligt war. Schließlich tötet er den einzigen Zeugen, der ihn hätte identifizieren können. Auch dem Anführer einer Bande von Autodieben, die einen allzu unvorsichtigen Ostberliner Kriminalbeamten umbringt, kann nachgewiesen werden, dass er am Ende des Krieges Zivilisten und Fremdarbeiter erschossen hatte. 79 Während sich in Fred Ungers Der scharlachrote Domino (1962) herausstellt, dass in einen Spionagefall eine ehemalige Verwaltungsangestellte des KZ Ravensbrück verwickelt ist, wurde der staatsgefährdende Schmuggel in Günter Sprangers Das Schloß an der Rhön (1959) von einer Bande aus ehemaligen Wehrmachtssoldaten und SS-Angehörigen unter der Leitung eines Baron von Zenn organisiert. 78 So in den Romanen: Ernst Offermann/Kurt H. Ball, Warum schweigt Anna Kersten? (=Das neue Abenteuer 53), Berlin: Verlag Neues Berlin 1954. Kurt Türke, Schweigegeld, Berlin: Verlag Kultur u. Fortschritt 1957. 79 Heiner Rank, Autodiebe, Berlin: Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung 1960.

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West-Ermittlungen – Ost-Ermittlungen

Die Romane der fünfziger bis späten sechziger Jahre entstanden vor dem Hintergrund des Systemkonflikts im Kalten Krieg und den damit in Zusammenhang stehenden deutsch-deutschen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen. Wichtigste Voraussetzungen für den propagandistischen Kriminalroman waren neben dem offiziell propagierten Antifaschismus vor allem die DDR-Kampagnenpolitik gegenüber den »Nazi-Blutrichtern Adenauers«, in der über 1100 Richter und Staatsanwälte beschuldigt wurden, an der NSUnrechtsjustiz aktiv teilgenommen zu haben. Ohne diese Propagandamaßnahme – so Dieter Gosewinkel – wäre es zu Beginn der sechziger Jahre »nicht einmal zu Ansätzen einer systematischen Bestandsaufnahme nationalsozialistischen Justizunrechts, auch nicht zu den begrenzten personellen Sanktionen” in der Bundesrepublik gekommen. 80 Dass es auf dem Gebiet der bundesdeutschen Justiz nicht einmal annähernd zu einem entscheidenden Bruch mit der NS-Vergangenheit kam, zeigte etwa der 1968 geführte Prozess gegen den ehemaligen Beisitzer am Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse, der mit einem Freispruch endete. 81 Neben den Juristen wurden in Personenkampagnen die Verstrickungen prominenter bundesdeutscher Politiker wie Hans Globke oder Kurt Georg Kiesinger in das NS-System aufgezeigt; bei der Kampagne gegen den Bundespräsidenten Heinrich Lübke arbeitete man mit gezielten Fälschungen. Spektakulärer Höhepunkt war der Prozess gegen den Bundesminister für Vertriebene, Theodor Oberländer, der auf der Basis umstrittener justizieller Beweise in Abwesenheit zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt wurde. 1965 verzeichnete dann das Braunbuch die SS-Dienstränge und NS-Parteiämter von 1800 bundesdeutschen Wirtschaftsführern, Politikern und hohen Beamten. Ebenso wie die Kampagnenpolitik der DDR die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik beschränkt förderte, behinderte sie sie jedoch auch, da sie als klare Propagandamaßnahme im binnendeutschen Kalten Krieg zu erkennen war. Gegen Ende der 1960er Jahre wurde die DDR zum Bremsklotz einer juristischen Vergangenheitsaufarbeitung, indem man den deutsch-deutschen Rechtshilfeverkehr behinderte und nicht gewillt war, der Bundesrepublik Profilierungsmöglichkeiten bei der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit zu ermöglichen. Die Kampagnen der DDR zielten weniger auf eine systematische Aufklärung als auf eine Bloßstellung der »renazifizierten« Bundesrepublik. Bei der Präsentation der »entlarvenden« Dokumente arbeitete man dabei mit Mitteln der Suggestion und Provokation. Die Veröffentlichung der Dokumente sollte den Eindruck erwecken, als verfüge die DDR über einen umfassenden Überblick über die NS-Justiz und vor allem über strafrechtlich relevantes Material. Oft genug war jedoch das Gegenteil der Fall, denn die anberaumten Re-

80 Vgl. Dieter Gosewinkel, Politische Ahndung an den Grenzen des Justizstaats. Die Geschichte der nationalsozialistischen Justiz im Deutschen Richtergesetz von 1961, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hg.), Geschichte vor Gericht, S. 60-71. 81 Jörg Requate, Vergangenheitspolitik in der Debatte um eine Reform der Justiz in den sechziger Jahren, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hg.), Geschichte vor Gericht, S. 72-92.

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chercheaktionen brachten zunächst nur Informationen, in welchen Funktionen die Personen vor 1945 tätig waren. Ein weiterer wichtiger Hintergrund waren die bundesdeutschen Debatten über die Verjährung von NS-Tötungsdelikten, die zunächst für 1965 vorgesehen war und die nur aufgrund von massiven internationalen Protesten dahingehend modifiziert wurde, die Verjährungsfrist für NS-Mordverbrechen zunächst um vier Jahre zu verlängern, bis sie 1969 erneut um 10 Jahre verlängert wurde. 1979 beschloss der Bundestag dann endgültig, die Verjährung von Mord und Völkermord aufzuheben. So wurde zu Beginn der sechziger Jahre in der DDR-Kriminalliteratur die NS-Täterfahndung verstärkt nach Westdeutschland verlagert. Dabei ging es insbesondere um in NS-Verbrechen verwickelte Eliten, die in der Justiz, in der Polizei, im Auswärtigen Amt, in Politik, Wirtschaft und in der »Konzernpresse« neue Macht erlangt hatten und die die Aufklärung von NSVerbrechen nun zu verhindern versuchten. In Curt Letsches Der graue Regenmantel (1960) wird in einer westdeutschen Kleinstadt ein Nazijurist tot aufgefunden. Während die Kripo zunächst den Arbeiter Rieger ermittelt, der aus politischen Motiven den Mord begangen haben soll, ist es tatsächlich die Ehefrau gewesen, die mit diesem furchtbaren Juristen nicht mehr zusammenleben wollte. In Gerhard Harckenthals Flucht ins Schwurgericht (1964) tötet in einem westdeutschen Dorf ein von nationalsozialistischer Ideologie besessener Kriegsheimkehrer seine Schwester und ihren Mann, der ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter ist und wird dann von der sympathisierenden Justiz freigesprochen. Im gleichen Jahr wird in dem Kurzroman von Herbert Moll ein Tatzeuge am Erscheinen gehindert (1964): Der aus einer antifaschistischen Arbeiterfamilie stammende Kriminalbeamte hat einen Verkehrsunfall aufzuklären, in dem ein Mann zu Tode kam, der einen hochrangigen SS-Offizier identifizieren sollte. Als er hinter diesem SS-Offizier einen Staatsanwalt vermutet, wird er von seinen Vorgesetzten zurückgepfiffen, aus dem Dienst entlassen und selbst vor Gericht gestellt. In Der Mörder trug Sandalen (1969) bediente der Autor Bernd Diksen [d. i. Walter Dembski] mit dem Gedanken jüdischer Racheaktionen offensichtlich antisemitische Vorurteile. Ein jüdischer Unternehmer ist im Besitz von Dokumenten, die den Staatsanwalt belasten, für KZ-Deportation mitverantwortlich zu sein. Dass sich die Bundesrepublik auf dem Weg der »Refaschisierung« befände, wird anhand der Wahlerfolge der NPD in den sechziger Jahren deutlich gemacht. Nicht nur in der Justiz bestand in der Bundesrepublik eine Kontinuität zum Nationalsozialismus, sondern auch innerhalb der Polizei. Das gab reichlich Stoff für den DDR-Krimi. In Curt Letsches Das Geheime Verhör (1967) überführt Polizeirat Marten seinen Kollegen Schilling, der 1940 als Kriminalanwärter begann und später bei der bundesdeutschen Kriminalpolizei Karriere machte. In Der Mörder kam aus dem »Toten Mann« (1971) von Horst Boas führt der Fall eines toten Bergmanns in Aachen auf die Spur eines ehemaligen SS-Hauptsturmführers, der trotz seiner Vergangenheit als Mehrfachmörder in der Aachener Polizei unter falschem Namen Karriere machen konnte. Fred Ungers [d. i. Peter Vogel] Das verbotene Zimmer (1965) wurde von der Gutachterin der HV Verlage und Buchhandel in sprachlicher und künstle-

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rischer Hinsicht als ein »Höhepunkt der Kriminalliteratur« bewertet. 82 Unger ließ sich von dem Gefängnisausbruch des SS-Obersturmbannführers Hans Walter Zech-Nenntwich anregen, der 1964 aus der Braunschweiger Haftanstalt entflohen war. Anders als im realen Fall, in dem sich Zech-Nenntwich wenige Monate später den Justizbehörden stellte und sich mit seinen Fluchthelfern vor Gericht verantworten musste, entkommt im Roman der prominente Nazi-Kriegsverbrecher. Der Gefängniswärter, für den sich der junge Rechtsanwalt Terdonk – der sich im Verlaufe des Romans von einem genusssüchtigen und zynischen, finanziell gut abgesicherten Bürgersohn zum engagierten Kämpfer für den Antifaschismus wandelt – aus Liebe für dessen Tochter einsetzt, entpuppt sich als Mitglied der Fluchthilfeorganisation Odessa. 83 Doch Terdonk entdeckt darüber hinaus, dass sein reicher Onkel einer Gruppe von Geschäftsleuten angehört, die ehemaliges SS-Vermögen verwalten und verhindern wollen, dass »Deutsche aus dem anderen Deutschland« 84 bei einem Prozess gegen SS-Mitglieder aussagen können. Zudem ist diese Gruppe im Besitz von nebulösen »Dokumenten«, die Verstrickungen in NSVerbrechen von Wirtschaftseliten und Politik in der Bundesrepublik beweisen könnten. Terdonk geht mit seinen Entdeckungen nicht an die Öffentlichkeit und berichtet nur seinem engsten Freundeskreis. Alles andere wäre zu gefährlich, hat doch der geflüchtete Gefängniswärter seine eigene Tochter erschossen, als diese das belastende Dokumentenmaterial für eine Publikation davon schaffen wollte. Ungers Kriminalroman bestätigte damit nicht nur das offizielle Propagandabild, in dem die »Verflechtung zwischen Faschismus, Finanzkapital und neonazistischen Geheimorganisationen« gezeigt wurde, sondern auch, »daß die entscheidenden Stellen in der Wirtschaft von Männern besetzt sind, die während der Zeit des Faschismus eine negative politische Rolle gespielt haben.« 85 Darüber hinaus ist Ungers Roman ein exemplarisches Beispiel, wie in der DDR – ob in der Kriminalliteratur, in anderen offiziösen DDR-Publikationen sowie im deutsch-deutschen Kleinkrieg auf dem Feld der Geschichtspolitik – mit vermeintlich belastenden Dokumenten umgegangen wurde. Rituell wurde behauptet, dass diese Dokumente vorhanden seien, aber von NS-belasteten westdeutschen Behörden nicht ausgewertet werden würden. Was in diesen Dokumenten stand, wurde jedoch kaum ausgebreitet. Meist blieben in diesen Romanen die literarischen Biographien der NS-Täter äußerst dünn, so dass eine Erklärung, warum es zu den nationalsozialistischen Verbrechen gekommen war, über die Verbindung von Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus hinaus nicht gesucht wurde. Kriminalromane, die im Westen angesiedelt wurden, boten den Krimiautoren die Chance, auf Privatermittler, engagierte Rechtsanwälte oder Journalisten zurückzugreifen, die oftmals auch aus der Perspektive des hardboiled82 BArch DR 1/3226a, Bl. 459. In einem Gutachten hieß es, dass es Unger gelinge, »ein zentrales Problem unserer gegenwärtigen Nationalentwicklung in einem Kriminalfalle zur Darstellung zu bringen und auf diese Weise auch politisch wenig geschulte Leserschichten zu erreichen.« Ebd., Bl. 463. 83 Ungers Roman ist ein frühes Beispiel für den Krimi-Mythos Odessa – der dann durch Fredrick Forsyth prominent in Szene gesetzt wurde. 84 Unger, Das verbotene Zimmer, S. 183. 85 BArch DR 1/3226a, Bl. 466.

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typischen Ich-Erzählers verfasst werden konnten. Gleichzeitig konnte man die Arbeit der NS-verfilzten Kriminalpolizei kritisieren, ohne den Aufklärungsprozess unglaubwürdig zu machen. In Egon Günthers Die schwarze Limousine (1963) 86 berichtet die junge Journalistin vom Eichmann-Prozess aus Jerusalem, lässt sich jedoch von dort abberufen, weil sie »am Ende ihrer Nervenkraft« ist. Zurück in Deutschland wird sie in einen Mordfall verwickelt, der sich als Auftragsmord ehemaliger Nationalsozialisten entpuppt. Der Ermordete ist ein ehemaliger »mittlerer Beamter der SS«, der auspacken will, falls sein Name während des Jerusalemer Prozesses fallen sollte, was »manchem hohen Herrn nicht passen« könnte. [SL 142f] Schwarz wie die Limousine, in der nicht zu erkennende, jedoch drahtziehende »Wirtschaftskapitäne oder auch hohe Beamte« herumfahren, ist die gesamte Bundesrepublik: Um einen Freispruch für den Angeklagten zu erreichen, bedrängt der Polizeipräsident (»Die Bräune hält.« [SL 51]; während des »Nazikriegs viele Todesurteile unterzeichnet« [SL 128]) den Staatsanwalt, der rückratlos einknickt. Der wahrheitsliebende Chefredakteur macht vor dem braunen Sumpf schlapp. Dem Richter – nicht NS-vorbelastet – wird die »ganze Fragwürdigkeit der bürgerlichen Rechtsprechung« bewusst, und unter den »Geschworenen« [SL 93; sic!] befinden sich viele ehemalige Parteigenossen. Als das Eichmann-Urteil in einem Rundfunkgeschäft übertragen wird, ziehen die Bundesbürger lieber einen Kanal mit »flott[er]« Jazzmusik vor. 87 Kurz bevor die Protagonistin für den Leser wahrlich erschreckend erschossen wird, äußert sie: »Wie ist es möglich, daß ich, die ich in der Illusion gelebt habe, die Welt wäre ganz gut eingerichtet, plötzlich auf die Barbarei stoße? In Jerusalem ging es los. Es begann mit dem Prozeß, den ich nicht aushalten konnte. Was für ein Jahrhundert …« [SL 166f] In Karl Heinz Bergers Wein für ehrenwerte Männer (1972) übernimmt ein Lokaljournalist einer rheinischen Stadt – die Autoren des DDR-Krimis sollten sich keinesfalls mit der faszinierenden kapitalistischen Großstadt beschäftigen – die Ermittlungen, nachdem die Kripo sich weigert, Ermittlungen gegen eine Gruppe ehrenwerter Männer einzuleiten, die den Weinhändler Küpper ermordet haben. Wieder einmal hat das Opfer Beweise, die in die Vergangenheit zurückführen und die er für eine Erpressung nutzt: Der illustre Kreis hatte 1940 einen Lehrer erschlagen, der sich negativ über das Hitlerregime geäußert hatte. Und in Die Schattenwand (1974) von Christa Johannsen deckt eine Journalistin in einem niedersächsischen Dorf den Mord an einer 86 Egon Günther, Die schwarze Limousine, Berlin: Das Neue Berlin 1963. 87 Gelungen war an diesem Roman der Einstieg, in dem der Chefreporter im Gespräch mit Redakteuren ist, dabei die Fernsehübertragung des EichmannProzesses läuft und sich die junge Journalistin telefonisch um ihre Abberufung aus Jerusalem bemüht. Weitere mediale Prozess-Einsprengsel evozierten das grausame Bild eines Schreibtischtäters: »Ein paar andere Bilder zeigten Fingerstudien. Es waren Hände eines Massenmörders; an ihnen war nichts Schreckliches – nur was sie getan hatten, war schrecklich: Sie hatten die Befehle unterzeichnet.« [SL 132] »Achtzehnfach sah man den Ankläger des Jerusalemer Prozesses, einen kahlköpfigen Mann mit scharfem Profil und eigenartig unbeugsamen Nacken, sah man den Angeklagten, sah man die Zuschauer in ihrer nervösen Gespanntheit, dann wieder den Angeklagten in seiner kugelsicheren Glaskabine …« [SL 145]

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Frau und ihrem Kind auf. Diesmal ist es nicht der Ehemann, der seine nationalsozialistische Vergangenheit schützen muss, sondern der CDU-Bürgermeister, der als SS-Mörder enttarnt werden kann. Doch die Aufklärung scheitert letztlich, denn der angesehene Bürgermeister ermordet auch die Journalistin. Nicht immer standen westdeutsche Journalisten im Dienste der Aufklärung: So wird 1968 auf dem Höhepunkt der Westberliner Studentenproteste gegen den Springerverlag in Werner Steinbergs Und nebenbei: ein Mord (1968) ein Hamburger Starreporter der »Konzernpresse« als Mörder eines Laubenpiepers überführt, der ihn bei der Vernichtung von »Dokumenten« beobachtet hatte, die seine NS-Verbrechen bezeugen konnten. Dass er gerade nicht wegen seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern wegen des Mordes an einem Laubenpieper überführt wird, passt dabei gut in das Muster, sich nicht konsequent mit der Biographie des Täters zu befassen und gleichzeitig zu zeigen, dass die wahrhaft bedeutenden Verbrechen in der Bundesrepublik nicht aufgedeckt werden. Das Ganze wurde von einem Ermittlerpaar gelöst: Dem bürgerlichen Kriminalkommissar Christ ist ein Genosse der ersten Stunde zur Seite gestellt, um den Kriegsverbrecher Grob aufzuspüren. Dabei verrichtet der Assistent mit dem richtigen Bewusstsein die kriminalistische Arbeit, während der bürgerliche Kommissar zum Dr. Watson degradiert wird. 88 Auch in der DDR gab es bedingt durch das deutsch-deutsche Konkurrenzverhältnis in den sechziger Jahren einen widerwilligen Wiedereinstieg in die NSStrafverfolgung. 89 Die DDR-Volkskammer hatte 1964 auf die Verjährungsdebatte in der Bundesrepublik reagiert und demonstrativ das »Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen« eingeführt. 90 In der DDR waren damit zwar die gesetzlichen Voraussetzungen für eine konsequente Verfolgung von NS-Straftaten vorhanden, doch blieben sie weitestgehend ungenutzt. Dafür gab es zwei entscheidende Gründe: Einerseits entstanden mit jedem neuen Fall Legitimationsprobleme für den offiziellen Antifaschismus und die Behauptung, dass innerhalb der DDR die strafrechtliche Verfolgung weitgehend abgeschlossen war. Die wenigen neuen Prozesse wurden dann dafür genutzt, die antifaschistische Selbst- und Außenrepräsentation der DDR zu erneuern. 91 Andererseits wurden Verfahren, in denen es keine erhebliche strafrechtliche Schuld gab, keine schweren Verfahrenshürden bevor88 Vgl. Rix, Krimis in der DDR, S. 75. 89 Vgl. Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002, S. 323-332. 90 Vgl. Rosskopf, Friedrich Karl Kaul, S. 217. Albrecht Götz, Bilanz der Verfolgung von NS-Straftaten, Köln 1986, S. 143f. Erst 1979 beschloss die Bundestagsmehrheit, die Verjährung von Mord und Völkermord aufzuheben, nachdem 1960 Totschlagsdelikte als verjährt eingestuft wurden. 1965/69 verhinderte der Bundestag nach heftigen Debatten den Eintritt der Verfolgungsverjährung von noch nicht entdeckten Mordtaten. 91 Christian Dirks, Die Verbrechen der anderen. Auschwitz und der AuschwitzProzeß der DDR. Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer, Paderborn 2006.

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standen oder aber eine drohende Enttarnung durch westliche Ermittlungen zu befürchten war (wie dies beispielsweise durch die von Simon Wiesenthal im Jahre 1968 veröffentlichte Liste von 244 ehemaligen Nazis geschah, die in der DDR eine hohe politische oder gesellschaftliche Funktion ausübten), pragmatisch nach gesellschaftspolitischen Nützlichkeitserwägungen beurteilt, weshalb in vielen Fällen keine Strafverfahren eingeleitet wurden.92 Im DDR-Kriminalroman der sechziger Jahre gab es nur wenige Beispiele, in denen die Entdeckung von »Kriegsverbrechern« nicht plakativ in den Westen verlegt wurde. Dies war vor allem der Roman Tote schweigen nicht (1965) von Hans Schneider, der unter anderem bei der Spionageabwehr und später Bezirksverwaltungsleiter im Ministerium für Staatssicherheit in Leipzig war, bevor er aus »gesundheitlichen Gründen« freier Schriftsteller wurde. 93 Ausgangspunkt war der Mord an einem jungen Pärchen, welches Hauptmann Fleming aufzuklären hat. Bei der Aufklärung gerät der angesehene LPG Vorsitzende – in dessen Tochter sich Fleming verliebt, ungerechtfertigter Weise in Verdacht. Jedoch stellt sich heraus, dass der LPGVorsitzende, der Besitzer einer halbstaatlichen Möbelfabrik, der SEDKreisleiter sowie ein Ingenieur mit dem Doppelmord versuchten, die Entdeckung eines »Massengrabes« und damit den Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen zu vertuschen, den sie gemeinsam in den letzten Kriegstagen als Mitglieder einer Einheit der Wehrmacht begangen hatten. Schneiders Roman provozierte die Lektoren, und dies obwohl der Autor selbst ein ehemaliger Funktionsträger des MfS gewesen war. Einerseits schilderte sein Roman Streitigkeiten innerhalb der Volkspolizei zwischen Hauptmann Fleming, einem Karrieristen und einem negativ gezeichneten Kripochef. Während man Schneider erlaubte, den intriganten Karrieristen beizubehalten, da dieser letztlich keine Chancen hat, in der Kripohierachie aufzusteigen, mussten die Passagen über den unsympathischen Chef der Kriminalpolizei überarbeitet werden. Interessanter war jedoch, dass man zu bedenken gab, dass Schneider mit dem Aufspüren von verborgenen Kriegsverbrechern in der DDR den Anschein erwecke, »als ob auch in der DDR die faschistische Vergangenheit noch keineswegs völlig bewältigt sei«, weshalb er »ungewollt die neonazistische Entwicklung in Westdeutschland« relativiere. 94 Genehmigt wurde der Roman dann jedoch, weil der Roman »bewusst die Schuldfrage der Soldaten im zweiten Weltkrieg« aufwarf und »genau zeigt«, wie es möglich gewesen sei, dass »diese ›kleinen‹ (im Gegensatz zu den in Westdeutschland lebenden Kriegsverbrechern) Verbrecher bisher nicht entdeckt 92 Weinke, Verfolgung von NS-Tätern, S. 323-332. Henry Leide, Die verschlossene Vergangenheit. Sammlung und selektive Nutzung von NS-Materialien durch die Staatssicherheit zu justiziellen, operativen und propagandistischen Zwecken, in: Roger Engelmann/Clemens Vollnhals (Hg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999, S. 495ff. Auch: Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, 2., durchgesehene Aufl. (=Analysen und Dokumente, Band 28), Göttingen 2005. 93 Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, hg. v. Helmut MüllerEnbergs/Jan Wielgohs/Dieter Hoffmann, überarb. u. erw. Neuausg., Berlin 2001. 94 BArch DR 1/5070, Bl. 89.

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worden sind« und er keinen Zweifel daran ließ, »daß in unserem Staat ganz im Gegensatz zu Westdeutschland alle Kriegsverbrechen, sobald sie entdeckt werden, nachdrücklich verfolgt werden«. 95 Der Roman ist ohne Zweifel eine Ausnahme innerhalb der DDR-Kriminalliteratur, da er dezidiert von ehemaligen Kriegsverbrechern in der DDR berichtet und dabei auch nicht vor angesehenen DDR-Bürgern bis hin zu Parteifunktionären halt macht. So betonte Klaus Walther zu diesem Roman, »daß bei uns die Vergangenheit zwar gesellschaftlich bewältigt ist, im individuellen Schicksal aber noch bis in die Gegenwart reichen kann«. Gleichzeitig bestätigte er den offiziellen Mythos, dass es in der DDR eine hartnäckige Strafverfolgung gebe, die selbst vor Leuten nicht halt mache, »die zwanzig Jahre gut für den Sozialismus gearbeitet haben« und die ihrer gerechten Strafe überführt würden. 96 Solches musste man dem Leser allerdings mit schwer verdaulichen moralischen Exkursen deutlich machen. So stellte der Autor zur Debatte, ob ein Hauptmann der Deutschen Volkspolizei die Tochter eines Kriegsverbrechers lieben darf. Das darf er natürlich, da es keine Sippenhaft in der DDR gab. Und die Tochter eines Kriegsverbrechers bleibt auch dann in den deutschen Volkspolizisten verliebt, wenn dieser ihren Vater ins Gefängnis bringt. Anders als bei Schneider, der zumindest darauf aufmerksam machte, dass es auch in der DDR Mini-Seilschaften alter Nationalsozialisten gab, waren die ansonsten in der DDR-Kriminalliteratur gezeigten NS-Verbrecher meist vereinzelte und von der DDR-Gesellschaft weitestgehend abgeschottete Individuen. Dadurch war die Aufklärung natürlich erschwert. Wiederholt waren es deshalb die Frauen der ehemaligen Wehrmachtssoldaten oder SS-Angehörigen, die um die Vergangenheit ihrer Ehemänner wussten und deshalb umgebracht werden mussten. Dies traf für den Krimi Das Hobby des Herrn R. von Kurt Türke (1967) ebenso zu wie für Der Mann, der über den Hügel steigt (1972) von Horst Bartsch, ein Arztroman der besonderen Art. Hier ermordet Carl August Zinn (allein der Name war wenig sozialistisch) seine Frau, weil sie seine wahre Identität hätte preisgeben können. Biedermann Zinn entpuppt sich als SS-Arzt Egon Leibchen, der medizinische Experimente an KZ-Häftlingen vorgenommen hatte und in der DDR durch geschickte Täuschungsmanöver unerkannt geblieben war. 97 Interessant war dabei die Konstruktion des Romans: Während zu Beginn der Leser in die Tat eingeweiht wird, jedoch noch nichts von der Doppelexistenz des Mörders weiß, deckt der ermittelnde Kriminalist zwar Zinns Vergangenheit auf, auch wenn er bis zuletzt Schwierigkeiten hat, Zinn-Leibchen zum Geständnis am Mord 95 BArch DR 1/5070 Bl. 96 u. Bl. 97. 96 Klaus Walther, Der Krimi lebt!, in: Hillich (Hg.), Tatbestand, S. 108-114; hier S. 111. Ob es sich bei dem Roman des ehemaligen Staatsanwalts Schneider um einen authentischen Fall handelt, konnte nicht geklärt werden. 97 Wenige Jahre zuvor hatte die DDR einen öffentlichkeitswirksamen Prozess gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer geführt. Vgl. Dirks, Die Verbrechen der Anderen. Um die Identifikation und Vertuschungsversuche eines untergetauchten SS-Arztes, nun Chef einer bekannten Hamburger Klinik, ging es auch in: Werner Toelcke, Das Gesicht des Mörders, Berlin: Das Neue Berlin 1981.

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seiner Frau zu bringen. Der DDR-Krimikenner Günter Ebert – der in den siebziger Jahren für die HV Verlage und Buchhandel Gutachten schrieb, später als Autodidakt und »Nichtproduzent« für seine unwissenschaftliche Sichtweise gerügt wurde und aufgrund seiner oft zynischen Kollegenschelte nicht sehr beliebt war 98 – schrieb über diesen Roman, dass sich für ein Tatmotiv nicht immer solche klaren »sozialhistorischen Zusammenhänge« anbieten würden, »doch sollten wir […] den Faschismus, seine Ideologie, nicht als bloße Vergangenheit betrachten, wie auch nicht einem Autor diese Themenwahl als einen Rückzug auf überlebte Konflikte anrechnen: Noch sind die Gespenster lebendig!« 99 Zwei weitere Romane spielten auf dem Gebiet der DDR, verschoben aber noch einmal die Drahtzieher der Verbrechen nach Westdeutschland. Erwähnenswert sind sie nicht so sehr, weil sie noch ganz dem Topos »entlarvender Dokumente« verschrieben sind, sondern vor allem deshalb, weil sich in ihnen die zunehmende Historisierung des Faschismus ankündigte. Denn in beiden Kriminalromanen tauchten DDR-Historiker auf, die die Kriminalisten bei ihrer Arbeit unterstützten. In Die Zeitungsnotiz (1973) von Gerhard Scherfling ist dies der jüdische Professor Goldacker, ein »wandelndes Lexikon auf dem Gebiet der Naziverbrechen«, denn »er kennt fast das gesamte Aktenmaterial aus dieser Zeit«. 100 Ein solcher Historiker ist gut zu gebrauchen, wenn im Heizungskeller einer Zweigstelle des Instituts für Zeitgeschichte in der DDR ein Mitarbeiter ermordet aufgefunden wird. Auslöser ist ein ominöses Aktenbündel, welches über nationalsozialistische Verbrechen informiert, in die ein ost- und ein westdeutscher Wissenschaftler verwickelt sind. Wieder einmal erfährt man nicht, was in den bedeutenden Dokumenten tatsächlich steht: »Die schwarze Aktentasche lag im Licht der Scheinwerfer. Das Leder war teilweise angesengt und von weißen Schaumflocken bedeckt. […] Der Inhalt war bis auf einen unbedeutenden, schmalen Streifen verbrannt.« 101 Deshalb muss sich auch der DDR-Historiker Goldacker nicht mit der Empirie herumschlagen, sondern doziert über Dokumente, die durch die Parteimühle gegangen sind. 102 Um belastende Akten und Historiker ging es auch in dem kolportagehaft zusammenmontierten MfS-Agentenkrimi Auch Tote haben einen Schatten (1975) von Karl Heinz Weber. 103 Diesmal liegen sie jedoch nicht in einem 98 99 100

101 102 103

BArch DR 1/3634 a, Bl. 602-611. Günter Ebert, Männer, die im Keller husten. Ansichten zur Kiminalliteratur, Berlin 1987; hier S. 86. Gerhard Scherfling, Die Zeitungsnotiz, Halle: Mitteldeutscher Verlag 1973, S. 160; auch S. 173: In Goldackers »runzeligem Gesicht schien sich […] der Schmerz eines seit Jahrhunderten verfolgten Volkes widerzuspiegeln. Als Träger sogenannten artfremden Blutes hatte er die Unmenschlichkeit der Nazis am eigenen Leibe erfahren müssen«; Narben zeigen »unverkennbare Zeichen von Folterungen.« Ebd., S. 266. Vgl. ebd., S. 193f. Karl Heinz Weber, Auch Tote haben einen Schatten, Berlin: Militärverlag d. DDR 1975. [Im Folgenden: TS]

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historischen Institut, sondern in einem Grab auf einem Berliner Friedhof. BND-Agenten werden hier im Jahre 1967 zu Grabräubern, denn die dort angeblich zu findenden »Seehausberichte« beinhalten Meldungen über faschistische Verbrechen, die bei Bekanntwerden Wissenschaftlern und Politikern der Bundesrepublik schaden könnten, insbesondere jedoch Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. 104 Hier werden zwar die Dokumente letztlich gefunden, sind jedoch auch am Ende des Romans noch nicht ausgewertet, weshalb »noch nicht nachgewiesen« werden kann, ob Kiesinger sie persönlich entgegengenommen hat und ob er die Originalfassung oder nur die redigierte Fassung der »Seehaus-Berichte« erhielt. [TS 311] Die Handlung dreht sich in weiten Zügen um den irischen internationalen Brigadisten O’Daven, von dem man nicht so genau weiß, ob er im Spanienkrieg getötet wurde oder ob er sich am Ende des Krieges in die rundfunkpolitische Abteilung des faschistischen Auswärtigen Amts als kommunistischer Agent eingeschlichen hat. Damit stellte sich das MfS und mit ihm die DDR in die Tradition der Internationalen Brigaden. 105 104 Kurt Georg Kiesinger musste am 4. Juli 1968 vor dem Bonner Landesgericht im Zuge des Frankfurter »Diplomaten-Prozesses« über sein Wissen um die Judenverfolgung aussagen. Beantragt hatte seine Vernehmung die Verteidigung der angeklagten Diplomaten, die sich für die Deportationen der neubulgarischen Juden zu verantworten hatten. Kiesinger war seit 1940 in der »Kulturpolitischen Abteilung« des AA tätig, die seiner Aussage nach für die »Einflussnahme auf Auslandssendungen« und das Abhören feindlicher Sender und die Verbreitung abgehörter Nachrichten zuständig gewesen sei. In der Vernehmung verfolgte Kiesinger die Strategie, von der systematischen Vernichtung der Juden erst nach dem Krieg erfahren zu haben. In den Berichten des Seehaus-Dienstes habe man vom Schicksal der Juden nichts erfahren können. Zwar habe er von »Massenerschießungen« während des Krieges gehört, doch seien solche Nachrichten meist als »Greuelpropaganda« gekennzeichnet worden. Dem Angeklagten v. Hahn im Frankfurter »Diplomaten-Prozess« kamen die Aussagen des Kanzlers zupass, da sie die stereotype Exkulpationsformel bestätigte, nach der eine Kenntnis vom Zweck der Deportationen aufgrund der Distanz zum Mordgeschehen nicht gewonnen werden konnte. Mit seinen wiederholten rechtfertigenden Verweisen auf seine Dissidenz gegen die grobschlächtige antisemitische Propaganda entzog er sich jeglicher individueller und historischer Verantwortung und versuchte aus Gründen der Staatsräson, die Integrität des Auswärtigen Amtes unangetastet zu lassen. Zur Vernehmung Kurt Georg Kiesingers vor dem Bonner Oberlandesgericht siehe: Weinke, Verfolgung von NSTätern, S. 272-278. Zum »Seehaus-Dienst«: Willi A. Boelcke, Das »Seehaus« in Berlin-Wannsee. Zur Geschichte des deutschen Monitoring-Service während des Zweiten Weltkrieges, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 23 (1974), S. 231-269. Auch: Michael Henske, »Rundfunkverbrechen« vor nationalsozialistischen Sondergerichten. Eine vergleichende Untersuchung der Urteilspraxis in der Reichshauptstadt Berlin und der südbadischen Provinz, Berlin 2001; hier S. 67-69. 105 So wird im Dozententon vorgebracht, dass Spanien in zahlreichen Filmen, Fernsehspielen und Liedern »für unsere Bevölkerung ein Begriff« geworden sei: Die Antifaschisten »sind Helden für uns.« [TS 28-31]

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Neben den Genossen vom MfS ist die dritte Hauptperson des Krimis der Historiker und »Institutsleiter an der Berliner Humboldt-Universität« Professor Heinz Meinck, ein Spezialist auf dem Gebiet der internationalen Brigaden der Spanischen Republik. Dieser Historiker der DDR zieht mit den Behörden an einem Strang, wenn es um die Aufarbeitung der Geschichte geht. Denn für die »Genossen mit besonderen Kenntnissen« vom Ministerium für Staatssicherheit [TS 35] ist klar, dass Meinck und seine Historiker-Kollegen nicht nur »Auskunftspersonen« waren, sondern »Mitstreiter«: »Das waren Genossen, so einfach ließ sich das formulieren.« [TS 98] Meinck, der zu Beginn des Romans auf eine internationale Historikertagung mit dem Thema »Forschungsmethoden der historischen Wissenschaft« nach München reist, hat sich dort mit einem fortschrittlichen irischen Historikerkollegen auseinander zu setzen. Bei dieser Begegnung würde es »hart auf hart zugehen«, es würde »nicht um irgendwelche Methoden«, sondern »um die Vergangenheit eines Menschen […] gerungen werden: um den Tod des irischen Reporters Stewart James O’Daven«. [TS 13] Später wird man erfahren, dass derjenige, den Meinck in München trifft, nicht jener irische Historikerkollege ist, sondern ein eingeschleuster BNDAgent mit historischer Bildung und irischem Akzent. Nur deshalb kann auch an dem Gespräch der – vermeintliche – Unterschied von bürgerlicher und marxistisch-leninistischer Geschichtsbetrachtung gezeigt werden. Meincks geschichtstheoretische Grundüberzeugungen zeichnen sich dreifach aus: es ist einerseits ein »klares Bekenntnis zum Klassencharakter historischer Ereignisse« gefordert, welches keine »nationalen Scheuklappen« kenne, wie er mit »verhärteter Stimme« betont, als der falsche Historiker seine »verwaschene, unwissenschaftliche Einstellung« preisgibt. [TS 30] Geschichtliche Vorgänge müssen gewertet werden, die Betrachtungsweise des marxistischleninistischen Historikers »eindeutig« bzw. »absolut und radikal« sein, während sich der falsche Historiker Mayworld der Wertung entzieht. Zweitens ist sich Meinck darüber bewusst, dass es »um Fakten, um Wissen« geht. Aber hieße dies, seine »Emotionen zu unterdrücken oder das Engagement zu leugnen? Meinck konnte nicht unbeteiligt antworten, weil er nicht unbeteiligt war.« [TS 28] Mit diesem Engagement ist eine Aversion gegen »akademische Disputiererei« verbunden, der er mit »Sachkenntnis« und »äußerster Akribie in der Beweisführung« begegnen will. [TS 13] Drittens lässt sich Meinck – der beseelt vom internationalen Antifaschismus gerne das spanische Freiheitslied No pasarán pfeift – von seiner historischen Imaginationskraft treiben, um ein Gefühl vom antifaschistischen Kampf gegen den Faschismus zu bekommen: »Er selbst sah das alles vor sich. Die Menschen, das Leben und Streben, ihren Haß, ihre Empörung und ihren Kampf. Er sah die karge Landschaft […] einen fast kitschig blauen Himmel […] Heinz Meinck wußte, daß seine Gedanken jetzt abschweifen würden, daß er sich nicht zügeln konnte. […] Er blickte auf die Gestalten, die neben dem Trümmerschutt lagen, Soldaten der internationalen Brigade, so als wäre er jener Mann dort, der sie beobachtete. Meinck sah ihn, dann nicht mehr ihn, sondern mit ihm, mit O’Davens Augen, durchlebte in diesen Sekunden dessen letzte Stunde. Eine Mischung aus Phantasie und Wissen.« [TS 22]

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Das antifaschistische Kolorit ist »gespeist aus vielen Gesprächen, aus der Lektüre vieler Erlebnisberichte, zusammengeflickt aus Abschnitten eines Buches« [TS 27], auf welches dann intertextuell verwiesen wird. Meinck geht es um »die Einschätzung dieses Mannes, das Bild, das sich die Nachwelt von ihm machte« [TS 13] und er »brauchte Bilder, Atmosphäre, brauchte Fassbares, an dem sich seine Phantasie entzünden konnte«, um dem Antifaschismus Leben einzuhauchen. [TS 262] Als historischer Materialist denkt der marxistisch-leninistische Historiker in historischen Kategorien und ist sich seines parteilichen Standpunktes bewusst, doch benötigt er – letztlich eine Reminiszenz an die ›bürgerliche‹, hermeneutisch orientierte Geschichtstheorie – neben Fakten zur Argumentation die historische Imaginationskraft, um den Antifaschismus als zu erlebendes Erbe in das DDR-Geschichtsbild aufzunehmen. Vielleicht war es dieser Widerspruch zwischen der bürgerlich-hermeneutischen historischen Imaginationskraft und der parteilichen Wertung historischer Ereignisse, die den Historiker wieder aus der Kriminalliteratur der DDR verschwinden ließ. Wahrscheinlicher scheint jedoch zu sein, dass man auf den dozierenden Gestus dieser Spezies verzichten wollte. So waren die Historiker in diesen beiden Romanen nicht Ermittler, sondern Stichwortgeber und Bewunderer für die aufdeckende Arbeit der Sicherheitsorgane 106, von denen sie gleichzeitig bei ihren Auslandsaufenthalten überwacht wurden. 107 Die Historisierung des Faschismus

Der Höhepunkt der geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus im Medium der Kriminalliteratur lag in den 1960er Jahren. Seit der Mitte der 1970er Jahre nahm die Zahl von Kriminalromanen, in denen die NS-Vergangenheit thematisiert wurde, kontinuierlich ab, während sie in den 1980er Jahren »nahezu völlig an Bedeutung verliert« 108 und die renommierten DDR-Verlage wie der Verlag Das Neue Berlin, der Greifenverlag und Mitteldeutsche Verlag nur noch wenige Titel zu dieser Thematik brachten und allein der Militärverlag der DDR an dieser Thematik festhielt. Aus den Darstellungsanweisungen für Kriminalautoren aus dem Verlag Das Neue Berlin aus dem Jahr 1972 finden sich Hinweise für einen veränderten Umgang mit der Faschismusthematik. Während nun insbesondere die DDR-eigene Kriminalität beschrieben werden sollte, fand sich die Regieanweisung für die Darstellung eines Kriminalfalles in kapitalistischen Ländern an letzter Stelle wieder. Hier habe der sozialistische Krimi-Autor »den Charakter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung […] kritisch und […] veränderungswürdig« zu zeigen: »Das Verbrechen ist hier kein Ausnahmefall, sondern Produkt, unausrottbarer Bestandteil der gesellschaftlichen Verhält-

106 Die Bewunderung der aufdeckenden Methoden bei Scherfling, Die Zeitungsnotiz, S. 196: »Eine bestechende Theorie«, äußert Historiker Goldacker gegenüber dem ermittelnden Kriminalisten. 107 Vgl. TS 66: Historiker Meinck erfährt, dass die Staatssicherheit von seinem Treffen mit dem falschen irischen Historiker informiert ist – »das wissen wir«, heißt es von einem MfS-Mitarbeiter, ohne dass näher expliziert wird, wie die Staatssicherheit an diese Information gekommen ist. 108 Germer, Von Genossen und Gangstern, S. 226-233, hier S. 232.

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nisse.« Im Mord manifestiere sich »das ins Extrem gesteigerte Konkurrenzprinzip der kapitalistischen Gesellschaft«. In einer Auflistung darstellbarer West-Verbrechen tauchte das Stichwort Faschismus nicht mehr auf, doch konnten »Korruptionsdelikte im Staats- und Polizeiapparat« und »Verbrechen im Schutze, mit direkter oder indirekter Duldung des Staates« sicherlich auch mit vergangenheitspolitischen Topoi ergänzt werden. Der WestErmittler müsse dabei entweder als bewusster Vertreter seines Staates bzw. als »kalter Job-Inhaber« erscheinen, der das »Rache-Prinzip« verkörpere. Andernfalls sei er als klar zu erkennender Gegner des Staates im Kampf gegen eine verbrecherische Ordnung zu zeichnen. Dabei könne er sich für den Unschuldigen oder aber auch den Täter engagieren, »der sich nur im Sinne des im kapitalistischen Staat geübten formalen Rechts, nicht aber tatsächlich schuldig gemacht habe«. 109 In den siebziger Jahren änderte sich die Einstellung gegenüber der Integration von Kriegsverbrechen in den sozialistischen Krimi, wie sie Scheuffler und Pfeiffer gefordert hatten. Norbert Dehmelts Dissertation und seine im Anschluss verfassten Artikel wollten einen solchen ausgeweiteten Begriff der Kriminalliteratur nicht mehr gelten lassen. Dehmelt behauptete, dass die Erweiterung der Kriminalliteratur um den Gegenstand des Kriegsverbrechens und das Thema des verbrecherischen Verhaltens von einzelnen Menschen und ganzen Menschengruppen in Kriegszeiten nur bedingt möglich sei: »Dort, wo der Kriminalfall zum gesellschaftlichen Gesamtfall wird und wo weder das Verbrechen noch seine Aufklärung im Mittelpunkt der Handlungsführung stehen, ist die Grenze der Kriminalliteratur bereits überschritten.« 110 Darüber hinaus meinte er, dass der »Ideengehalt« der Kriminalliteratur nicht zu anspruchsvoll und »die emotionalen und geistigen Erregungen« nicht »zu heftig« sein sollten. Man müsse die Erwartungen an das Unterhaltende und das Spannende erfüllen, müsse sich an diese »besonderen Erlebnisschichten wenden und habe das »ästhetische Bedürfnis breiter Leserkreise« zu befriedigen. 111 Nach Dehmelt sollte der Kriminalroman »zuallererst Unterhaltungsliteratur sein«, weshalb er »auf die Gestaltung von Verbrechen in den Ausmaßen, wie sie beispielsweise vom deutschen Faschismus im Zweiten Weltkrieg begangen wurden, verzichten muß.« Dies hieße jedoch nicht, dass man den Zusammenhang von Imperialismus und Verbrechen nicht aufdecken dürfe. Die Schilderung der NS-Verbrechen gehörte seiner Auffassung nach aber nicht in den sozialistischen Kriminalroman, denn »wir halten es für falsch, diesen Bereich im Literaturangebot, dessen Ursprung ohne Zweifel in die bürgerliche Phase der Literaturentwicklung zurückreicht, dadurch zum sozialistischen zu machen, dass man ihm seine literarische Spezifik nimmt und ihn letztlich in den großen Strom der allgemeinen Literaturentwicklung einmünden lässt.« 112

109 Das Neue Berlin. Arbeitsmaterial zur Kriminalliteratur, S. 430f. 110 Norbert Dehmelt, Die Kriminalliteratur der DDR. Wesen und Haupterscheinungsformen [1975], in: Hillich (Hg.), Tatbestand, S. 137-154; hier S. 149. 111 Ingeborg von Wangenheim, Ein Kampf im Fliegengewicht. Noch einmal zur Unterhaltungsliteratur, in: Sonntag 26 (1972), Nr. 2, S. 6. 112 Dehmelt, Kriminalliteratur der DDR, S. 150f.

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Das bedeutete freilich nichts anderes, als die Aufklärung über den Faschismus anderen Literaturgattungen zu überlassen. Die Auffassung Dehmelts setzte sich durch. Zwar erschienen auch weiterhin einige Romane, die sich der Thematik widmeten, jedoch wurden sie nun zunehmend in die Frühphase der DDR zurückverlegt. Auch wenn der Roman Die Mörder werden alt (1969) von Karl Heinz Berger sich noch ganz den Plotmustern der sechziger Jahre verschrieb 113, war sein Titel mehr als programmatisch. In den siebziger Jahren verlor das Thema der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen seine deutschlandpolitische Brisanz. In der DDR, die sich seit der Ausrufung der »entwickelten sozialistischen Gesellschaft«, der internationalen Anerkennungswelle 1972 bis 1974 sowie nach der Aufgabe des Bonner Alleinvertretungsanspruches wie nie zuvor als eigener Staat begreifen konnte, arbeitete man nun im Kriminalroman am antifaschistischen Gründungsmythos. Eine Reihe von Kriminalromanen erschien, die in der Frühzeit der SBZ/DDR spielten und so die Verfolgung von Kriegsverbrechern im Rahmen der Aufbauphase der demokratischsozialistischen DDR thematisierten. Damit setzte eine frühzeitige Historisierung des Faschismus ein. Im Roman Der vergessene Mord (1977) des Majors der Kriminalpolizei Günter Radtke fand die These der alternden Mörder ihre abschließende Bestätigung. In einem thüringischen Dorf wird 1975 von Jugendlichen eine Waffe gefunden und im Spiel genutzt. Der ermittelnde Kriminalist bekommt durch eine Routineuntersuchung heraus, dass mit der Waffe 1945 eine Frau erschossen worden war. Unter den Kriminalisten tauchen Zweifel auf, wem es nutzen könne, einen über 25 Jahre lang vergangenen Mord aufzuklären. Doch schließlich erkennt der Hauptmann der Deutschen Volkspolizei seine Pflicht, »alle Straftaten aufzuklären«, um damit »die Rechtssicherheit in unserem Staat zu garantieren«. 114 So wird 1977 nochmals im DDR-Kriminalroman auf die langwierigen Debatten über die Verjährung von Totschlag und Tötungsdelikten in der Bundesrepublik aufmerksam gemacht und die DDR als Vorbild in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung dargestellt. Die Spuren führen zu einem Oberleutnant Ottfried Tretter, der zwar nicht auf einer »Kriegsverbrecherliste« 115 steht, jedoch auf einer solchen geführt werden müsste: Tretter ermordete einen Deserteur der Wehrmacht und einen Volksdeutschen, der sich zu gut mit den auf einem Gutsbesitz schuftenden polnischen Zwangsarbeitern sowie mit den sowjetischen Kriegsgefangenen verstand. Doch einen Mann Namens Tretter gibt es in der DDR nicht – allein 113 Privatdetektiv Schumacher, der als junger Kripobeamter in den 30er Jahren gegen NS-Unrecht protestierte und im KZ landete, erhält von einem jüdischen Emigranten den Auftrag, Beweise für Vermögensansprüche zu sammeln. Tags darauf wird der Auftraggeber tödlich überfahren, die Täter und Hintermänner sind Altnazis, die in der BRD Karriere als Beamte und Juristen gemacht haben. Wieder einmal zerbricht am bundesrepublikanischen System eine Figur, so dass klar wird, dass es ein besseres Leben nur in der DDR-Gesellschaft geben kann. 114 Günter Radtke, Der vergessene Mord, Rudolfstadt: Greifenverlag 1977; hier S. 60 u. 140. 115 Radtke, Der vergessene Mord, S. 140.

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es stellt sich heraus, dass die Beschreibung auf einen Mann namens Nowak passt, der bezeichnenderweise schon in den sechziger Jahren in der DDR verstorben ist. Doch damit ist es nicht genug mit dem Abgesang auf die faschistische Vergangenheit: Die ermittelnden Kriminalisten beschließen, der Frau von Tretter/Nowak nicht zu erzählen, mit was für einem Mann sie tatsächlich verheiratet war und mit dem sie eine Tochter bekommen hat, die an einer Hochschule der DDR studiert und mit dem Wissen um den faschistischen Vater dort vielleicht Probleme bekommen könnte. Damit übernehmen die beiden Kriminalisten nach Gutsherrenart das historische Gewissen der DDRGesellschaft und entlasten ihre Staatsbürger, denen sie einen individuellen Aufarbeitungsprozess verweigern. 116 Da die Mörder also alt wurden oder aber schon angeblich längst verstorben waren, verlegte man den Plot in die Frühzeit der DDR. So etwa in Ulrich Waldners Die Thorsteinbande (1970), in dem ein KZ-Heimkehrer vom sowjetischen Kommandanten 1945 mit dem Aufbau der neuen Kripo betraut wird. Sein erster Fall ist die Jagd auf eine Bande aus ehemaligen SSMännern, die unter dem Kommando Thorsteins Überfälle in geraubten Russenuniformen begehen. In Fritz Erpenbecks Der Tote auf dem Thron (1973) geschieht 1946 bei einer Theaterpremiere in einer ostdeutschen Kleinstadt ein Mord. Opfer und Mörder vereint eine blutbefleckte Vergangenheit, doch als das Opfer daraus Kapital schlagen will, wird er von seinem Komplizen umgebracht. In Die Reußische Gemme (1978) von Gerhard Neumann wird 1951 ein Unternehmer bei einer Premierenfeier des Stadttheaters ermordet, was zu den Ermittlungen eines VP-Rats führt, von dem es heißt, dass die »lebenslange Klassenkampferfahrung« seinen »kritischen Blick für verborgene Zusammenhänge sehr geschärft und sicher werden lassen« hatte.117 Als Täter kann der Verwaltungsdirektor des Theaters ermittelt werden, ein alter Bourgeois, der in der Nazizeit Schmuck aus enteignetem jüdischen Besitz zusammengerafft hatte und der mit seinem Mittäter über den Besitz der gestohlenen Güter in Streit gekommen war. Der Plot war konventionell, doch versuchte Neumann mit einem Geflecht aus Jetzt-Zeit und Rückblenden, aus Haupt- und Nebenhandlungen und einem durchgängig ironischen Tonfall, der jedoch vor der Beschreibung des Täters halt machte, den DDR-Kriminalroman ästhetisch zu rehabilitieren. 118 Gleichzeitig hätte die Kritik, die an der stalinisti116 Günter Ebert würdigte in seinen 1984 erschienenen »Ansichten zur Kriminalliteratur« den Roman, da sich hier »der Kriminalist […] auch als Historiker betätigen« könne. Damit tat er so, als ob dies für den DDRKriminalroman ein Sonderfall gewesen sei. So hieß es folgerichtig kitschig weiter, im Roman sei das »Heute […] auf verschlungenem Wege mit dem Gestern verbunden.« Nochmals wurde hervorgehoben, dass ein Kriegsverbrechen »bei uns sowieso nicht verjährt«. Da im Roman durch die jugendlichen Entdecker der Waffe der »gesellschaftliche Entfaltungsprozeß« gestört werde, rechtfertige dies »doppelt und dreifach die Ermittlung in die Vergangenheit«. Ebert, Männer, die im Keller husten, S. 108f. 117 Gerhard Neumann, Die Reußische Gemme, 3. Aufl., Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1978, S. 169. 118 Vgl. Kehrberg, Der Kriminalroman der DDR, S. 182-192.

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schen Aufbauphase betrieben wurde, von subversiven Lesern auf die eigene Zeit übertragen werden können. So hieß es über »manche Genossen«, dass deren Argumentationen zwar »bestechend« klingen würden, doch letztlich nur »leeres Stroh« böten. Auch legte Neumann einem Kriminalisten die Frage in den Mund, ob »wir zunächst einmal wahllos verhaften sollen, auch Unschuldige, nur um den Klassenfeind einzuschüchtern?« 119 Selbst die aufklärerisch-parteiliche Grundkonzeption des DDR-Kriminalromans stellte Neumann in Frage, wenn es hieß: »Kunst artikuliert sich weltbefragend, ob man das am Krimifließband wahrhaben will oder nicht, sie stört auf, zieht in Zweifel, und eines Tages wird man ihr auch bei uns erlauben müssen … zu quieken!« 120 Ob es subversive Lesarten des Kriminalromans gegeben haben mag oder nicht, kann kaum beurteilt werden, die Gutachter störte an diesem Kriminalroman nichts. 121 Andere Kriminalromane hingegen blieben bei traditionellen Mustern. Gerda Streubels Mordanschlag (1982) wird 1946 auf ein FDJ-Heim ausgeführt. Der Täter ist ein ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS, der seine Aufträge von einem westlichen Agenten erhält. Und in Der Mann auf dem Hügel (1983) der gleichen Autorin gelingt es, den Mord an einem Ortspolizisten aufklären. Wieder findet sich ein SS-Angehöriger, der den Auftrag hatte, Viehdiebstähle durchzuführen, und der dabei von dem Ortspolizisten ertappt wurde. Auch die als Agatha Christie des Ostens bezeichnete ehemalige Lektorin des Verlags Das Neue Berlin Tom Wittgen alias Ingeborg Siebenstätter steuerte mit Das Stille Haus (1985) einen Titel bei, der ebenso wie Dietmar Beetz Mord am Hirschlachufer (1982) und Günter Sprangers Der zerbrochene Spiegel (1983) in die Gründungsphase der DDR der Jahre 1945 bis 1949 zurückführte. In dem noch 1990 veröffentlichten Roman Der Tod des Henkers von Jochen Kaske und Lieselotte Kramer-Kaske versteckt eine Frau 1945 in Wernigerode einen Fahnenflüchtigen, der wenig später im August 1945 im Auftrag eines untergetauchten Henkers aus dem KZ Niederhofen ermordet wird. Der Deserteur hatte ihn erkannt und wollte dessen Flucht über die Zonengrenze nach Südamerika verhindern. Schließlich führte Rudolf Harnischs Der goldene Kelch (1985) den Leser in die Zeit des Nationalsozialismus zurück: Ein Diplomat der deutschen NS-Botschaft in Rom bereicherte sich an Kunstschätzen, die er aus ganz Europa zusammengeraubt hat. Während der einfache Soldat Willi Quast, mit dem sich seine Wege im Buch kreuzen, nach Schwerin zum Neuaufbau gehen wird, setzt sich Rakel nach Südamerika ab. Die Aufdeckung nationalsozialistischer Verbrechen konsequent als »historische Kriminalromane« der DDR-Aufbauphase darzubieten, wurde in den 1980er Jahren nur noch von wenigen Romanen durchbrochen. Ein richtiges Steinzeitrelikt der 1960er Jahre war der 1987 veröffentlichte Roman Mord –

119 Neumann, Die reußische Gemme, S. 93. 120 Ebd., S. 95. 121 Vgl. BArch DR 1/2181a, Bl. 400: Einem im Roman kritisierten 2. Sekretär der SED-Kreisleitung erfahre im Nachhinein »Gerechtigkeit«. Dem Autor wurde attestiert, dass er »das heute Erreichte dem Damaligen gegenüberstellen« und »damit die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges belegen« wolle.

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nichts besonderes von Paul Debler. 122 Angesiedelt 1961 in Bremen, war hier noch einmal die Aufklärung des Mordes an einer jungen Frau nachzuvollziehen, der auf ihren Liebhaber, einen Zollinspektor zurückgeführt werden konnte: Die Frau hatte ein Foto entdeckt, welches diesen bei der Erschießung ihres Bruders zeigte, der aus der Wehrmacht desertiert war. Martin Wendlands Der Mörder und sein Opfer (1984) aktualisierte noch einmal die Thematik der »NS-Blutrichter«. Der ehemalige Richter Boltmann mit nationalsozialistischer Vergangenheit stirbt siebzigjährig in Hannover an Gift. Sein sagenhaftes Erbe von 10 Millionen D-Mark soll an die »Gruppe Heide«, eine Schar von Neonazis gehen. Dabei stellt sich heraus, dass Boltmann Selbstmord als Selbstaufopferung im Dienst der nationalsozialistischen Sache beging, womit das Weiterleben des Faschismus auf die nächste Generation übertragen wurde. Auch in Fred Ufers Fingerzeige eines Toten (1988) übertrug sich die NS-Thematik höchst holzschnittartig auf die Kindergeneration. Anders als bei Schneider, der in den 1960er Jahren auf die Unschuld der Kinder von NS-Tätern hingewiesen hatte, bangt hier ein vogtländischer Museumsdirektor um seine Reputation, weil sein Vater als Gestapospitzel zwei Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Dieses Wissen nutzten westdeutsche Antiquitätenhändler zur Erpressung des Museumsdirektors, der für sie Kunstschätze in Böhmen ausfindig machen soll. Hinter diese Verstrickungen war der Lehrer der vogtländischen Kleinstadt gekommen, der dafür von dem Museumsdirektor tödlich angefahren wird. Der Roman Gift im Glas (1982) des Honorarprofessors der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg, Johannes Albrecht, spielte hingegen mit den populären Aufklärungsmythen. In Berlin-Schöneiche stirbt in Professor Walthers Spezialklinik der südamerikanische Arzt Dr. Gonzales an einer Zyankalivergiftung, der als Dr. Mitzinger identifiziert wird. Doch dieser war nun keineswegs ein KZ-Arzt, der sich nach Südamerika abgesetzt hatte. Vielmehr hatte Mitzinger 1938 den jüdischen Professor Nathanson vor der SA versteckt. Beide waren durch eine unbedachte Handlung Walthers aufgeflogen und kamen in ein Konzentrationslager, welches nur Mitzinger überlebte. Der Giftmord erklärt sich so aus einer unglücklichen Dreiecksbeziehung und verwies gerade nicht auf enttarnte KZ-Ärzte, wie der Leser denken konnte. 2.4 K OMMISSAR M AIGRET

IN DER

DDR: J ÜRGEN K UCZYNSKI

Neben Bertolt Brecht war ein wichtiger Verteidiger des klassischen britischen Detektivromans in der DDR der schillernde und widersprüchliche Vorund Querdenker der DDR-Geschichtswissenschaft, der Historiker Jürgen Kuczynski, welcher mit seiner sechsbändigen Geschichte des Alltags der Deutschen (1980-1983) einen alltagsgeschichtlichen Neuansatz innerhalb der deutschsprachigen Historiographie mitgestaltete. Nachdem Kuczynski 1945 aus dem britischen Exil in die SBZ kam, gelangte er kurzzeitig in den Vorhof der Macht. Doch schon 1950 wurde er von der Präsidentschaft der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft enthoben, wobei er später ver-

122 Der Verlag hatte offensichtlich Probleme mit diesem äußerst antiquierten Buch. Vgl. BArch DR 1/3634a, Bl. 560-568.

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mutete, dass damit dem stalinistischen Antisemitismus ein Zugeständnis gemacht wurde. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 schien auch in der DDR die Zeit für eine Öffnung gegenüber einem dogmatischen und stalinistisch geprägten Marxismus-Leninismus gekommen zu sein. Kuczynski nutzte diese Phase für eine Reihe von Zeitschriftenaufsätzen sowie für das Buch Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie, in dem er auf das kleinbürgerliche und nationalistische Massenbewusstsein unter den europäischen Arbeitern hinwies, welches sich keinesfalls nur auf die Sozialdemokratie beschränkt habe. Marxisten, unter ihnen auch Lenin, hätten diese Anfälligkeit der Arbeiter für den Nationalismus völlig unterschätzt. 123 Kuczynski plädierte für eine Öffnung der DDR-Geschichtswissenschaft gegenüber bürgerlich-humanistischen Auffassungen, eine breitere Aneignung der Vergangenheit, die auch die Gegner der Arbeiterklasse berücksichtigen sollte, sowie eine Integration der Soziologie in die Geschichtswissenschaft, die bis dahin als bürgerliche Pseudolehre verdammt worden war. Damit hatte er jedoch die Grenzen möglicher Kritik überschritten und erhielt eine parteioffizielle Zurückweisung. 124 In der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft wurden zahlreiche Historiker genötigt, gegen Kuczynski Stellung zu beziehen, wobei sich alleine Walter Markov und Ernst Engelberg weigerten, diesem Druck nachzugeben. 125 Alleine durch ein »flexibles Verhalten« 126 und durch eine öffentliche Selbstkritik konnte sich Kuczynski vor dem drohenden Parteiausschluss und dem Ende seiner wissenschaftlichen Karriere retten. Er wurde jedoch seiner Mitgliedschaft in der Historikerkommission DDR-UdSSR enthoben und innenpolitisch vorübergehend kaltgestellt, indem er aus der Volkskammer ausgeschlossen wurde. Seine wissenschaftliche Karriere behinderte dies jedoch nicht, und auch politisch hatte er später wieder stärkeren Einfluss. Kuczynski war ein »Parteiarbeiter an der historischen Front« 127, der für Honecker wirtschaftspolitische Reden schrieb und diese wenig später im Neuen Deutschland selbst besprach, aber eben auch ein unorthodoxer Marxist. Er selbst sah sich als lebendes Paradox, als ein »linientreuer Dissident«,

123 Jürgen Kuczynski, Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Chronik und Analyse, Berlin 1957, S. 124ff. 124 Auslöser war ein Artikel in einer russischen Fachzeitschrift, in der er die Ansicht vertrat, dass es neben den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus auch spezielle soziologisch-historische Gesetzte gab: Jürgen Kuczynski, Sociologiýeskie zakony, in: Voprosy filosofii, 1957, Nr. 5, S. 95-100. Veröffentlicht wurde dieser Artikel erst zwanzig Jahre später: Jürgen Kuczynski, Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 10, Berlin 1978, S. 224ff. 125 Vgl. Mario Kessler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der DDR, Köln 2001, S. 91-145; hier insb. 131ff. Vgl. auch: Sabrow, Das Diktat des Konsenses, S. 342-364. 126 Mario Kessler, Jürgen Kuczynski – ein linientreuer Dissident?, in: Utopie kreativ (2005), Nr. 171, S. 42-49; hier S. 44. 127 Ilko-Sascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 1997.

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andere sahen in ihm einen »kritischen Gläubigen«. 128 Kuczynskis Geschichtsschreibung war so einerseits höchst konformistisch, andererseits nutzte er seine Position als Allround-Intellektueller, um Denkanstöße im Rahmen des DDR-Wissenschaftsystems zu geben. Jürgen Kuczynski tauschte mit dem befreundeten Brecht kubanische Zigarren gegen Krimis, die Kuczynski sich aus England – er hatte dort im Exil gelebt – schicken ließ. Seine Krimisammlung ist beträchtlich: sie umfasst über 6000 Bände, unter denen sich auch diejenigen Brechts befinden, die ihm Helene Weigel nach dem Tod Brechts vermachte. 129 Wohl nicht ganz zu Unrecht hielt sich Kuczynski zusammen mit dem kommunistischen Wirtschaftswissenschaftler Eugen Varga für den »international gesehen […] eifrigsten und begeistertsten Leser englischer und amerikanischer Kriminalromane unter den Kommunisten«. 130 Wenn man über die wirtschaftlichen Verhältnisse in einem kapitalistischen Land informiert sein wolle, müsse man Kriminalromane lesen, so kolportierte er eine Aussage von Varga. 131 Seiner Krimisammlung nach zu urteilen, hielt er vom DDR-Kriminalroman recht wenig, denn im Gegensatz zu seinen im Original gelesenen englischsprachigen Krimis glich seine Rezeption der DDR-Krimiautoren einer Marginalisierung. Kuczynski griff jedoch wiederholt in den staatlich beförderten Diskurs über die Kriminalliteratur ein. So wollte er dem Vorurteil entgegenwirken, dass es einem »Wissenschaftler oder Staatsmann unwürdig« sei, Detektivromane zu lesen. Und »ganz unsinnig« erschien ihm die Meinung, »daß Detektivromane gelesen werden, weil das eigene Leben einem langweilig vorkomme. Wie genau besinne ich mich doch, als ich bei einem Verhör in der PrinzAlbrecht-Straße 1934 ›noch einmal davongekommen‹ war und zu Hause dann in einem behaglichen Lehnstuhl voll Freude einen Detektivroman zu lesen begann.«132

Der ins Exil getriebene Kuczynski stilisierte sich hier als ein hardboiledHistoriker, gab sich nachträglich abgebrüht und pointierte kontrastreich sein Leben zwischen realer Verfolgung und kriminalliterarischem Eskapismus. Als Literaturhistoriker und Krimiliebhaber griff Kuczynski in die zwei wichtigen öffentlichen Debatten über den Kriminalroman in der DDR in den 1960er Jahren ein. Zunächst engagierte er sich für das Genre und lobte die Ausweitung des Begriffs Kriminalliteratur um das Dokumentarische und Gesellschaftliche. So gestaltete er den programmatischen Entwurf mit, demzufolge die sozialistische Krimiproduktion sich den Verbrechen des Nationalsozialismus zu widmen habe. Und er bestätigte auch die Praxis der Zensur, indem er betonte, dass zwar die Spannung wichtig, jedoch »das Entscheidende oder richtiger das Vor-Entscheidende […] der gesellschaftlich-moralische 128 Kessler, Jürgen Kuczynski – Ein linientreuer Dissident?, S. 48. 129 Die Krimisammlung Kuczynskis ist innerhalb seines Nachlasses in der Berliner Stadtbibliothek aufbewahrt. 130 Jürgen Kuczynski, Nur Lauwärme gegenüber den Detektivromanen? [1969], in: Ders., Jahre mit Büchern, Weimar 1986, S. 194-199; hier S. 190. 131 Ebd., S. 195. 132 Jürgen Kuczynski, Keller, die im Manne husten [1961] in: Hillich (Hg.), Tatbestand, S. 90f; hier S. 91.

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Inhalt« sei. 133 Bei der zweiten Debatte polemisierte er gegen Magers Thesen über den Krimi als aussterbende Gattung. Gegenüber Mager wies er darauf hin, dass der Kriminalroman keinesfalls ein spätbürgerliches Phänomen sei, sondern aus der Blütezeit der Bourgeoisie aus den Jahrzehnten vor 1871 stamme und daher ein progressives Genre sei. Zwar habe Mager »zurecht« auf die »absinkende Kriminalität in den sozialistischen Ländern« verwiesen, doch Kriminalromane könne und müsse man weiterhin schreiben, da »kriminelle Elemente, […] Diversanten und Spione von den kapitalistischen in sozialistische Länder eingeschleust werden«. Die »hunderttausend Einzelaggressionsakte von kapitalistischer Seite« gäben das beste Motiv für den sozialistischen Schriftsteller. 134 Trotz dieser Legitimation des DDR-Krimis in den 1960er Jahren hielt er ihn jedoch zu Beginn der 1980er Jahre für »sehr mäßig«. 135 Kuczynski war einer der wenigen Diskursteilnehmer in der DDR, der in Brechts Essay Über die Popularität der Kriminalromans die »historischmaterialistische« Dimension des Detektivromans erkannte, doch fasste er dies als Brecht’sche Koketterie auf. Man kann annehmen, dass es die von ihm internalisierte Parteilichkeit der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft war, die ihn davon abhielt, näher auf das dahinterliegende Problem einzugehen. Dennoch war die Wahrnehmung des Faschismus als Kriminalroman und seine Analyse im Modus des Detektivromans ein unbewusster Grundzug dogmatisch-marxistischer Faschismusinterpretationen innerhalb der DDR. In Der faschistische deutsche Imperialismus 1933 bis 1945 von Walter Ulbricht geriet die Faschismusanalyse zu einer »kriminalistisch anmutende[n]« Suche nach einzelnen Kapitalisten, die »persönlich verantwortlich« und »dingfest« gemacht werden sollten. 136 Die Suche nach Hauptschuldigen und Hauptverantwortlichen wurde dabei durch eine propagandistische Wortwahl unterstützt, die kriminalanthropologische Denkkategorien offenbarte, wenn Ulbricht ausführte, dass Thyssens »Raubvogelgesicht seinen Charakter treffend wiedergibt«. Auch die anderen »Hauptverantwortlichen« waren Gestalten aus 133 Kuczynski, Keller, die im Manne husten, S. 91. Inwiefern der Sozialismus die Verwerfungen der »spätbürgerlichen« Ära, indem noch existentielle Verbrechen existierten, beseitigen würde, enthielt sich der marxistisch geschulte Historiker, der damit alles andere als ein Visionär war: »Ich erinnere mich einer Literaturkonferenz, zu der vor Jahren ein führender Verlag auf dem Gebiete der Kriminalliteratur im Verein mit dem Polizeipräsidium eingeladen hatte. Als ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Instituts behutsam darauf hinwies, dass der Mord in unseren Kriminalromanen auf eine irritierende Weise dominiere, flüsterte mir ein erfolgreicher Autor ins Ohr, der Sprecher offenbare eine bedauerliche Unkenntnis. Er wisse nichts vom Bedürfnis und vom Geschmack des Publikums. Er sah noch lange entrüstet aus. Vermutlich hatte er einen Augenblick lang die Vision, seine Leserschaft bestünde aus lauter Fachleuten, und es muß eine furchtbare Vision gewesen sein: man kann Leuten, deren Beruf die Verbrechensbekämpfung ist, keine kriminalistische Exotik verkaufen.« 134 Jürgen Kuczynski, Nur Lauwärme gegenüber den Detektivromanen?, S. 197. 135 Kuczynski, Jahre mit Büchern, S. 191. 136 Wippermann, Faschismustheorien, S. 58.

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einem Polit- und Wirtschaftskrimi: »Krupp, der Patentzünder an eine englische Rüstungsfirma« verkaufte oder aber Borsig, der als »grimmiger Arbeiterfeind berüchtigt war«. 137 Ob die Faschisten nun als »Agenten des Finanzkapitals« angesehen wurden, als »Naziclique« bzw. als »Clique von Räubern, Mördern und modernen Sklavenhaltern« 138, sie waren auch Figuren aus einem Verbrechensroman. Dieser personalistische Ansatz wurde in den 1960er Jahren von der sogenannten Monopolgruppentheorie bzw. des staatsmonopolistischen Stadiums des Kapitalismus während des Zweiten Weltkrieges abgelöst. Dadurch erhielt das Bild der weiterhin »offenen terroristischen Diktatur des Finanzkapitals« – mit angeregt durch den Krimiliebhaber Kuczynski – mafiöse Grundzüge, indem nun die Konkurrenzkämpfe zwischen der Chemie/Elektro-Gruppe mit ihrer »wendig-parlamentarischen Linie« und der »Kohle/Eisen/Stahl-Gruppe« mit ihrer »abenteuerlich-militaristischen Taktik« nachgewiesen wurden. 139 Durch die revolutionäre Politik der KPD während der Weltwirtschaftskrise seien beide Gruppen dazu gedrängt worden, eine Allianz einzugehen, was sehr stark an die Syndikatbildung in Brechts Arturo Ui erinnerte. Der Erfolg des Faschismus am Ende der Weimarer Republik wurde dann als eine kontinuierliche Übertragung der Macht an den jeweils »noch reaktionäreren und brutaleren Beauftragten des deutschen Monopolkapitals« begriffen. 140 Im Zuge der Diskussion über Tradition und Erbe und des sich wandelnden Geschichtsbildes der DDR am Ende der 1970er Jahre widmete sich Jürgen Kuczynski dem Projekt der Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes, deren fünf Bände die Zeit von 1600 bis 1945 umfassten und in der kurzen Zeit von 1980 bis 1983 erschienen. In die gleiche Zeit fallen auch Kuczynskis Reflexionen über die Möglichkeiten der Historiographie, Literatur als Quelle zu nutzen, und über eine erzählende Geschichtsschreibung. Besonders in der realistischen Literatur von Grimmelshausen im Simplicissimus bis hin zu Fontane sah er die Möglichkeit, die Erfahrungen des »gemeinen Volkes und der Werktätigen« und der herrschenden Klassen wieder zum Vorschein zu bringen. Dabei hob er hervor, dass der Schriftsteller, wenn er zum Geschichtsschreiber werde, den Blick für den Alltag behalte, während er nun umgekehrt forderte, dass der Historiker sich auf eine literarische Ausgestaltung rückbesinnen und eine »künstlerische Sicht« entwickeln müsse, um den Alltag erfahrbar zu machen. 141 137 Vgl. Walter Ulbricht, Der faschistische deutsche Imperialismus 1933 bis 1945 [zunächst: Die Legende vom ›deutschen Sozialismus‹, Berlin 1945], Berlin 1956, S. 13-20. 138 Dietrich Eichholtz, Geschichte der Deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Bd. 1: 1939-1941 (=Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte; Bd. 1), Berlin 1969, S. 11. 139 Jürgen Kuczynski, Die Barbarei – extremster Ausdruck der Monopolherrschaft in Deutschland, in: ZfG 9 (1961), S. 148-195, hier S. 184. 140 Ebd., S. 185. 141 Vgl. Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags der Deutschen, hier Bd. 6: Nachträgliche Gedanken, S. 105-115. Damit übertrug er die Debatte zwischen erzählender und erklärender Geschichtsschreibung, die in der Bun-

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Durch die Analyse der Trivialliteratur – die für ihn »eine Mischung aus realistischer Schilderung und utopischem Weltbild« war – versprach er sich, die »Wunsch-Ideologie« der Werktätigen rekonstruieren zu können. 142 Und tatsächlich nahm in seiner Alltagsgeschichte der Deutschen die Trivialliteratur einen vergleichsweise breiten Raum ein, denn seiner Ansicht nach spielten in der Zeit von 1800 bis 1950 Christian August Vulpius, Eugenie Marlitt oder Hedwig Courths-Mahler eine »ungleich größere gesellschaftsformende Rolle durch Beeinflussung der Gefühle und Gedanken, Wünsche und Hoffnungen des Volkes […] als etwa Goethe«. 143 Wie und mit welchem theoretischen Apparat allerdings der Historiker an literarische Werke herangehen sollte, blieb unbestimmt. In die Zeit der Konzeption seiner Alltagsgeschichte fallen zudem Bemerkungen über das Verhältnis von Detektiv und Historiker, die jedoch von ihm nie vollständig ausgearbeitet wurden. Sicher packte auch Kuczynski bisweilen der detektivische Spürsinn auf der Quellenjagd, doch er hatte nicht primär das detektivische Pathos des Aufdeckens und Aufklärens im Sinn, wenn er auf die Parallelen von detektivischer und historischer Methode sowie Darstellung anspielte. Vielmehr erkannte er im detektivischen Blick das sichere Gespür für die Alltagserfahrungen der Menschen, was eine Analyse der sozialen Bedingungen der Gesellschaft versprach. In dem 1982 verfassten Textfragment Werden und Arbeitsweise des Schriftstellers Georges Simenon verglich er seine Arbeitsweise mit derjenigen Simenons, der für Kuczynski ein erstklassiger Autor von Serienkrimis, aber nur ein drittklassiger und mittelmäßiger Romancier war. 144 Den Niveauunterschied zwischen den »großartigen Detektivromanen« und Simenons desrepublik seit dem Ende der 1970er Jahre geführt wurde, in die DDR. Im Rahmen des sich ausweitenden Traditionsverständnisses in der DDR kam es auch in der DDR-Geschichtsschreibung zu einer Rückkehr der Erzählung. Von den Schriftstellern der DDR forderte er, »historische Alltagsromane« zu schreiben, aus denen zukünftige Generationen das Leben und den Alltag der DDR-Bürger nachvollziehen könnten. Damit waren auch Kriminalromane gemeint, denn Chandler oder Simenon hätten großartige Einblicke in den Alltag geliefert. Andererseits lehnte er »historische Heldenromane« ab, da dort wenig vom Alltag die Rede sei, auch wenn dies sich seiner Forderung zu widersprechen schien, dass sich Historiker ausgiebig den »kleinen Helden« in der Geschichte widmen sollten. Seine wiederholte Forderung, den Detektivroman als Quelle für eine Alltagsgeschichte zu nutzen, erfüllte er selbst nicht, was nicht zuletzt daran lag, dass die deutsche Literatur keine großartigen Kriminalromane hervorgebracht hatte. Vgl. Kuczynski, Geschichte des Alltags, Bd. 6, S. 83-93; auch S. 104. 142 Kuczynski, Geschichte des Alltags, Bd. 6, S. 81ff u. S. 72. Man vergleiche dies mit Thomas Nipperdeys Deutscher Geschichte, der die Trivialliteratur mit keinem Wort erwähnt, dafür aber auf den bürgerlichen Kanon der deutschen Literatur wiederholt Bezug nimmt. 143 Vgl. Kuczynski, Geschichte des Alltags, Bd. 6, S. 113. 144 Jürgen Kuczynski, Werden und Arbeitsweise des Schriftstellers Georges Simenon, in: Ders., Jahre mit Büchern, S. 201-218. Bei dem Text handelt sich weitgehend um ein um einige Gedanken erweitertes Exzerpt des Buches: Georges Simenon – André Gide. Briefwechsel, Zürich 1977.

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weiteren Romanen und autobiographischen Texten erklärte sich Kuczynski damit, »daß gewisse Menschentypen, gewisse Charaktere und Umstände und ihre Beurteilung, ihre gesellschaftliche Einschätzung so ganz anders in Kriminalgeschichten als in anderen Romanen wirken«. 145 Erst im kriminalistischen Fall und in einer detektivischen Spurensuche gewinnen also Charakterstudien und gesellschaftliche Analyse eine bedeutungsvolle Prägnanz. Dass sich Kuczynski gerade für Simenon interessierte, lässt sich gut begründen, denn Simenon prägte eine volkstümliche Spielart des realistischen Kriminalromans. Im Gegensatz zur hardboiled-school reduziert Simenon das Action-Element der Kriminalliteratur, da dieses schnell in Konflikt mit dem Anspruch auf Realismus geraten kann. Ebenso wird das kriminalistische Rätselelement unterhöhlt, da es in den Maigret-Romanen selten einen größeren Kreis gleichberechtigter Tatverdächtiger gibt. Vielmehr fällt der Tatverdacht sehr schnell auf eine bestimmte Person, die schon während und nicht etwa am Schluss des Romans überführt wird. So widmet sich das Ende bei Simenon einer sozialen Enquête, in der die gesellschaftliche und soziologische Analyse des aufgeklärten Verbrechens in den Vordergrund tritt. Diese Realismus-Konzeption wird von einer Verbürgerlichung der Detektivfigur begleitet: Maigret ist ein verheirateter Kleinbürger, der nicht aus Paris sondern aus der Mitte Frankreichs stammt, der eine langjährige Ehe mit seiner Frau führt, die ihn auch dann noch liebevoll bekocht, wenn er wieder einmal zu spät zum Essen erscheint. Maigret ist der Prototyp des sozial integrierten Kleinbürgers, der seine Ideale als Anwalt seiner Klasse auch dann noch mit ernsthafter Bescheidenheit vertritt, wenn sie fragwürdig erscheinen. Simenons Romane betreiben in der Tradition von Honoré de Balzac und Émile Zola Milieu- und Charakterstudien, die eine »Versöhnung von Abenteuer und Alltäglichkeit« und eine »Atmosphäre des Alltäglichen« 146 hervorbringen, wenn neben der kriminalistischen Aufklärung auch über den Novemberschnupfen berichtet wird. Im Gang der Ermittlung werden die privaten Verwicklungen des Verbrechens in die sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge überführt, durch den detektivischen Blick erhält der Leser einen Einblick in psychische und soziale Realitäten. In diesen kleinbürgerlichen Idealen verkörpert sich ein Humanismus, den Kuczynski in höchst eigentümlicher Weise wahrgenommen hat: Maigret sieht eben nicht nur den Verbrecher vor sich, sondern auch den Menschen, […] die Ursachen, Umstände, Beweggründe, die zum Verbrechen geführt haben, auch die Menschen, die dem Verbrecher zugeneigt sind […] Und da Maigret all das sehen und begreifen, ja bis ins letzte verstehen kann, ist er auf der einen Seite fähig, Verbrechen aufzuklären – die Justiz siegt –, aber auf der anderen Seite triumphiert die Gerechtigkeit nicht, sie ist oft traurig über ihren Erfolg. Im Kriminalroman wäre es übrigens auch im allgemeinen nicht angebracht, den Verbrecher siegen zu lassen. Und über Detektive, die voll Begeisterung über Verbrecher siegen, die »rein schlecht« sind, haben wir reichlich genug Geschichten, schlechte und mittelmäßige, doch keine guten. Zu diesen schlechten und bestenfalls mittelmäßigen gehören auch die sogenann145 Kuczynski, Werden und Arbeitsweise des Schriftstellers Georges Simenon, S. 217f. 146 Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien, S. 167.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker ten politischen Kriminalromane, deren Verfasser im allgemeinen die Sache, für die die Menschen einstehen und die natürlich entweder schwarz oder weiß sind, mit den Menschen selbst gleichsetzen und sie auch diese schwarz und weiß malen. 147

Hier zeigt sich eine Abkehr vom politisierten Kriminalroman, die auch in der DDR-Kriminalliteratur seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gefördert wurde. Die Eindeutigkeit des Verbrechensbegriffs wird differenziert und relativiert, der Kriminelle humanisiert. Neben den Klischees, dass die Gerechtigkeit immer siegen solle und die Justiz traurig über eine Menschheit ist, die es noch nicht zur verbrechenslosen – und in diesem Kontext auch klassenlosen – Gesellschaft geschafft hat, kommt es hier auf den umfassenden Verstehensbegriff an. Maigret ist für Kuczynski an erster Stelle ein Hermeneutiker und erst an zweiter Stelle Soziologe. Diese Hermeneutik Simenons wird deutlich, wenn Kuczynski bemerkt, dass dieser sich während des Schreibprozesses »neutralisiere« und »total abschalte« und sein »eigenes Ich vergesse«, ein Zustand, den jeder Historiker mit Ranke verbindet. 148 Dieser Zustand von »Trance und Gnade«, so schreibt Kuczynski, lasse sich auch auf einen Wissenschaftler bzw. auf einen »Historiker des Alltags« übertragen, der mit »Liebe«, mit »Mitfreuen« und »Mitleiden« schreiben müsse. Nur mit »Liebe« könne man den Alltag erfassen, man müsse den »Alltag einer Arbeiterin im 20. Jahrhundert im Kapitalismus« miterleben, ihre »sorgenden Gedanken […] an Mann und Kinder und tausend Arbeiten, die noch den Abend füllen werden«. Dies müsse man »mitansehen«, »mitfühlen« und »mitschmecken«. Der Historiker des Alltags habe sich wie Simenon »ganz den Sinneseindrücken« hinzugeben, denn »ohne Gefühle keine Liebe und keine historische Darstellung, die den Alltag der Massen und seine Widerspiegelung im Leben der Einzelnen schildert«. Das psychologische Einfühlungsvermögen Simenons, der »sichere und disziplinierte Instinkt« bzw. die »physiologische Intuition« sollte auf die Geschichtsschreibung übertragen werden, zumal sich Simenons Detektivromane durch ein »ungewöhnliches Geschehen mitten am Alltag« auszeichnen würden. 149 Neben diesem konventionellen hermeneutischen Einfühlungsparadigma assoziierte Kuczynski jedoch auch kriminalistische Härte mit der Arbeit des Historikers als Detektiv, wenn man »Statistiken berechnen, Dokumente zitieren, eisig kühle rationale Überlegungen anstellen« müsse. Freilich war auch die soziologische Analyse Simenons für den DDRAlltagshistoriker Kuczynski von Interesse. So betrifft die Sozialkritik der Maigret-Romane nie die bürgerliche Gesellschaft als solche, sondern das Großbürgertum, welches von Simenon als »un certain milieu« denunziert wird. Simenon kritisiert wiederholt das zerrüttete Moralbewusstsein der Großbourgeoisie, ihre zerstörerisch wirkenden Freiheiten und ihre Kastenbildung, mit der sie sich gegenüber den kleinen Leuten abgrenzen und sie gleichzeitig ausnutzen. So gehen die Kriminalromane Simenons meistens von 147 Kuczynski, Werden und Arbeitsweise, S. 215. 148 Vgl. Kuczynski, Jahre mit Büchern, hier und im Folgenden S. 209-213. 149 Kuczynski, Geschichte des Alltags, Bd. 6, S. 116. Insofern dachte Kuczynski nicht nur bei der biographischen Darstellung an eine detektivische Herangehensweise, bei der es gelte, »sich ganz tief […] in seine Gestalten« zu versetzen. Kuczynski, Jahre mit Büchern, S. 213.

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einer Bedrohung des gewerbetreibenden Kleinbürgertums aus, deren Interessen vom kapitalistischen Konzentrations- und Modernisierungsprozess aufgerieben werden. War damit die Geschichte des Alltags des deutschen Volkes eine in die Breite geratene Simenonsche Novelle? Kuczynskis bot alles andere als eine in sich abgeschlossene Erzählung, in der alle Teile ineinander greifen. Seine Konzeption beruhte darauf, zunächst den Alltag in »Hintergrund und ›Große Welt‹« einzuordnen. Im zweiten Schritt bewältigte er in den fünf voluminösen Einzelbänden den Alltag der Deutschen unter lose verknüpften Aspekten. Weder entwickelte er dabei eine eigene Rhetorik von Frage-und-Antwort, noch etwa ein durchgängiges, spannungserzeugendes Erzählprinzip. Doch gerade Simenons Romane zeigen, dass die Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts weder auf das dialogische Prinzip, das pointierte Rätsel und das kriminalistische Aufklärungsparadigma, noch auf eine actionreiche Handlung oder aber den kriminellen Grundkonflikt reduziert werden darf. Vielmehr wird der Kriminalroman – bei Simenon, aber auch bei Dorothy Sayers, Sjöwall & Wahlöö und anderen – zu einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte, in welcher der kriminalistische Fall zunehmend eine untergeordnete Rolle spielt. Dabei wird die soziologische Tiefe des detektivischen Blicks bei Simenon mit einer Parteilichkeit verbunden, die Ähnlichkeiten in der historiographischen Konzeption bei Kuczynski aufweist: In der Parteinahme für die unterdrückten Klassen drückte sich der Wunsch aus, dass nicht nur die Geschichte, sondern auch die Geschichtsschreibung diesen Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte. Kuczynskis Geschichte des Alltags des deutschen Volkes war angeregt von der französischen Historikerschule der Annales und den Historikern Ferdinand Braudel und Le Roy Ladurie, deren literarische Qualität er aber nie erreichte. Neben der wissenschaftshistorischen Bedeutung, die Kuczynskis Versuch einer umfassenden deutschen Alltagsgeschichte jedenfalls zukommt, hatte sie in der DDR auch einen erweiterten Kontext. Liest man Kuczynskis Stellungnahmen zur DDR-Gesellschaft und seine Alltagsgeschichte parallel, so wird deutlich, wie hier ein Historiker auf subtile Weise versucht, die sozialen Errungenschaften der DDR vor dem Hintergrund der Lebensbedingungen der breiten Volksmassen in vergangenen Zeiten zu würdigen. So konnte er in seiner weitausholenden Alltagsgeschichte zeigen, dass die longue durée des DDR-Alltags historisch gesehen zumindest einige Verbesserungen der sozialen Lage hervorgebracht hatte. Kuczynski betonte mit dem ihm eigenen Stolz, dass ein Chefredakteur einer Zeitung der DDR der Geschichte des Alltags der Deutschen attestiert habe, dass sie sich wie ein Kriminalroman lese, und dass ein Rentner ihm berichtet habe, dass er bei der Lektüre vergessen habe, den Fernseher anzuschalten. 150 Die Rezensenten in der Bundesrepublik blieben kritisch. Hans-Ulrich Wehler kam das Werk wie ein »umgestülpter Zettelkasten« vor, und mit ihm bemängelten eine Reihe von Kritikern, dass Kuczynski nicht nur in aller Ausführ-

150 Kuczynski, Geschichte des Alltags, Bd. 6: Nachträgliche Gedanken, S. 2541; hier S. 26.

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lichkeit Primärquellen zitiere, sondern dass er seinen Quellen auch den Status von Autoritäten zuschreibe, denen nicht zu widersprechen sei. Über den kompilatorischen Charakter seiner Alltagsgeschichte und seine mangelnde Fähigkeit zur Synthese von Makro- und Mikroebene der Geschichte war sich Kuczynski durchaus bewusst. In seiner Antwort ging er zum Angriff über, wenn er die »amerikanische« Weise des Zitierens innerhalb der Geschichtswissenschaft attackierte, nach der man zunächst eine anscheinend eigenständige Aussage treffe, die man dann mit zehn oder mehr Lektürehinweisen in einer Fußnote begründete. Das war auch ein Angriff auf Hans-Ulrich Wehler, der sich mit uferlosen Literaturangaben zu legitimieren versuchte. Kuczynskis kompilatorisches Verfahren glich tatsächlich der Praxis von Autoren von Trivialliteratur, Versatzstücke ihrer Romane aus dem Textbaukasten hervorzuholen. Neben der hermeneutischen, soziologischen und alltagsgeschichtlichen Dimension des detektivischen Blicks war Kuczynski ehrlich genug, noch einen weiteren Vergleich zwischen sich und Simenon zu ziehen. So exzerpierte er fasziniert, dass Simenon von 1923 bis 1933 über 1000 Erzählungen und 180 Groschenromane geschrieben habe. Bisweilen habe Simenon sogar einen ganzen Roman »an einem Vormittag« verfasst. Exzerpieren wird Kuczynski auch, dass schon der erste Entwurf Simenons meist zur Veröffentlichung kam. Dahingegen betont er, dass er seine Texte wiederholt redigieren müsse. Doch nach einer kurzen Denkpause fügt er stolz über sich selbst in der dritten Person schreibend hinzu, dass auch manch ein Text von ihm »so stehen bleiben kann, wie er ihn zuerst geschrieben hat«. 151 Simenon sei ein »Schriftsteller-Clown-Zauberer« gewesen, wird Kuczynski notieren, er ist ein Viel- und Schnellschreiber, eine Textmaschine, deren Romane auch von anderen Kritikern als »farblos« und »bisweilen schludrig geschrieben« kritisiert wurden. 152 Der erste Maigret-Roman erschien 1931, schließlich wurden es über achtzig Romane: Das Schreiben Simenons hatte etwas Sportliches an sich, wie Kuczynski bemerkte und dabei wohl an seine eigenen Veröffentlichungen dachte: Schon im Alter von 28 Jahren hatte Kuczynski 616 Veröffentlichungen vorzuweisen, am Ende seines Lebens waren es über 4000 wissenschaftliche und journalistische Veröffentlichungen, die wie bei Simenon in der Qualität stark differierten. 153 Nur einer Aussage Simonons wollte Kuczynski nicht beipflichten: »Intelligenz macht mir grässlich Angst.« 154 2.5 V ON

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» HISTORIENFARCE «

ZUR KRIMINALISTISCHEN

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Die Begeisterung Bertolt Brechts über den britischen Detektivroman teilten berufene Krimiexegeten in der DDR – mit der Ausnahme des Historikers Jürgen Kuczynski – nicht. Anknüpfungspunkte für den Diskurs über Kriminalliteratur und Faschismus und damit auch die Förderung einer Kriminallite-

151 Kuczynski, Werden und Arbeitsweise, S. 213. 152 Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien, S. 157. 153 Günter Kröber, Jürgen Kuczynski und der Nobelpreis, in: Utopie kreativ (2005), H. 171, S. 50-54; hier S. 50. 154 Kuczynski, Werden und Arbeitsweise, S. 217.

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ratur, die sich explizit der Aufklärung der Vergangenheit widmete, bot vielmehr Der Aufstieg des Arturo Ui, mit dem die Darstellung des Nationalsozialismus als »gangsterhistorie« durch den als Staatsdichter vereinnahmten Brecht theatral geadelt wurde. Die zentralen Schriften, die einen erweiterten Begriff der Kriminalliteratur, einen sozialistischen Politkrimi und damit die Integration von Kriegsverbrechen in die Kriminalliteratur forderten, entstanden um 1959/1960, als Brechts Arturo Ui in Berlin aufgeführt wurde. Innerhalb der DDR-Krimiproduktion arbeitete man nun aber keinesfalls am Big-History-Thriller. Dies wäre auch schwierig gewesen, hatte doch Brecht schon selbst auf die Schwäche seiner vermeintlichen Verfremdung »Karriere eines Gangsters – Aufstieg Hitlers« hingewiesen und war ihr durch die satirische Verfremdung durch den »großen Stil« entgegengetreten. Die »großen Verüber historischer Verbrechen« blieben im DDR-Kriminalroman ausgeklammert – Fehlanzeige, was Personen wie Himmler, Heydrich, Gestapo-Müller und andere betraf. Eine Faszination des Grauens, die besonders im britischen Thriller durch die Verbindung von SS-Uniformen, Lederstiefeln und eingeschüchterten Frauen zum Ausdruck kommen sollte, gab es nicht – ausgenommen in einem MfS-Agentenschinken wie Auch Tote haben einen Schatten. Vielmehr betrieb man eine Serienaufklärung im volkseigenen Modell des sozialistischen Krimis, die sich auf die vermeintlich kleinen Kriegsverbrecher konzentrierte. Damit traf zu, dass eine (materialistisch orientierte) detektivische Geschichte erst nach den Katastrophen geschrieben werden konnte, wie es Brecht behauptet hatte. In den fünfziger Jahren, als es noch keine klaren Vorstellungen von einem sozialistischen Krimi gab, dichtete man den Feinden des Sozialismus – ob sie Saboteure, westliche Agenten oder ganz gewöhnliche Kriminelle waren – ein Kriegsverbrechen an. Erst mit der Kampagnenpolitik der DDR seit 1957 gegen die unbewältigte Vergangenheit der Bundesrepublik wurde der Kriminalroman etwas realistischer, auch wenn man damit gleichzeitig die eigenen Versäumnisse im Bereich der juristischen und kulturellen Aufarbeitung verschleierte. Die zentrale Plotkonstruktion im DDR-Kriminalroman war es, ein anfangs unbedeutend erscheinendes Verbrechen auf ein vergangenes Kriegsverbrechen zurückzuführen. Zeugen der Verbrechen von einst mussten aus dem Weg geräumt werden. Wiederholt sind es Frauen, die den Kriegsverbrechern in die Quere kommen und getötet werden, womit sich die maßlose Brutalität der Kriegsverbrecher erneut beweist. Bei den Kriegsverbrechern handelte es sich meist um Figuren, die sich in den Wirren des Krieges persönlich bereichert hatten, oder aber am Mord – insbesondere am Mord von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus den nunmehr befreundeten sozialistischen Bruderländern – beteiligt gewesen waren. In den wenigen Kriminalromanen, die die Fahndung nach NS-Tätern auf dem Staatsgebiet der DDR betrieben, wurde vor allem die Konsequenz der ermittelnden Behörden betont. Auf der Gegenseite entwarf der DDR-Kriminalroman das Bild einer westdeutschen Gesellschaft, die keinen konsequenten Bruch mit der Vergangenheit vollzogen hatte und an einer Aufarbeitung der Vergangenheit weitgehend uninteressiert war. Dies war durchaus ein realistischer Hintergrund für einen Kriminalroman. Doch beließ man es nicht dabei: Statt Kontinuitäten und Verstrickungen ernsthaft aufzuzeigen, propagierte man allein personelle und politische Identitäten. Die Bundesrepublik befand sich – so die offizielle 371

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Ansicht – auf dem Weg der »Refaschisierung«, der Verbund aus Finanzkapital, politischen Eliten, Klassenjustiz und »Konzernpresse« funktionierte nach wie vor. Und mit der dichotomischen Gegenüberstellung der Systeme, die in jedem Krimi auftauchen musste, wurde aus dem düsteren Hintergrund eines politischen Kriminalromans ein plakatives Klischee. Die Täter, die sich im Westen aufspüren ließen, waren meist wenig bedeutende Kriegsverbrecher oder mittlere NS-Funktionäre. Hohe NS-Funktionäre waren keine Mörder, da sie als alte Elite neue Macht in der Bundesrepublik erworben hatten und nun als Drahtzieher hinter den Verbrechen vermutet werden mussten. Hinzu kam in den sechziger Jahren das Muster scheiternder Aufklärung in der Bundesrepublik. So gab es neben dem Ermittler als »kaltem Job-Inhaber« und dem frustrierten Gegner der Bundesrepublik wiederholt die engagierte Aufklärerin, die am Ende des Romans erschossen wird. Schon Ende der 1970er Jahre wurde in der DDR behauptet, dass diese Plotkonstruktion mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Faschismus unwahrscheinlicher werde. 155 Dies war selbstverständlich nur ein Ausweichmanöver. Wie der hier gegebene Überblick über die DDR-Kriminalromane zeigt, erfolgte vielmehr seit der Mitte der siebziger Jahre der Kunstgriff, die Auseinandersetzung mit dem Faschismus als frühe Episode der DDR-Geschichte darzubieten. Dass die NS-Tätersuche als Thema der DDR-Kriminalliteratur weitgehend wegfiel, hatte darüber hinaus deutschlandpolitische Gründe. Seit Mitte der siebziger Jahre wurden so Romane, die die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik unter dem Vorzeichen der »Refaschisierung« betrieben, von der kriminalliterarischen Agenda gestrichen. Vielmehr findet sie im Rahmen jener Geschichtskrimis statt, die in die Frühzeit der DDR zurückverlegt wurden. Mit dieser Historisierung der NS-Täterverfolgung im DDR-Kriminalroman wurde der antifaschistische Gründungsmythos der DDR befördert, nach dem die Aufarbeitung der NS-Straftaten schon in der Frühzeit konsequent verfolgt wurde und in den frühen 50er Jahren weitestgehend abgeschlossen gewesen war. Wenn vereinzelte NS-Täter noch in den 1970er Jahren auf dem Staatsgebiet der DDR zu enttarnen waren, bildete Radtkes Roman Der vergessene Mord definitiv den Abschluss dieser Variante der sozialistischen Krimi-Aufarbeitung. Die faschistische deutsche Vergangenheit war nun in der DDR ein strafrechtlich als auch kriminalliterarisch abgeschlossenes Kapitel. Zugleich löste man mit dieser Historisierung des Antifaschismus-Krimis ein Nebenproblem. Denn die Diskussion über die Frage, ob Tötungsdelikte in der sozialistischen, verbrechenlosen DDR-Gesellschaft überhaupt vorkommen könnten, traf hier nicht zu. Die »papierne Leiche« war im »Historiokrimi« kein Widerspruch, 156 und so tangierte Romane, die sich mit der Aufklärung faschistischer Verbrechen in der frühen SBZ/DDR beschäftigen, die 155 Vgl. das Gutachten zu Günter Radkes Kriminalroman Der vergessene Mord: BArch DR 1/2246a Bl. 531: Ein rundes Menschenalter sei seit 1945 vergangen und es bedürfe »immer abenteuerlicherer Kombinationen […], um eine direkte Verknüpfung zwischen heutigen und damaligen Verbrechen noch glaubhaft erscheinen zu lassen.« 156 Mechtel, Die Märchenwelt der Moralisten, S. 186.

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Diskussion über absterbende Kriminalität in der sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft herzlich wenig. Die serielle Aufklärung im DDR-Kriminalroman stützte die Fiktion vom Antifaschismus der DDR. Zwar bestimmten die geschichtspolitischen und ideologischen Vorgaben den Kriminalroman, jedoch bot die forensische Argumentation des Kriminalromans zumindest vordergründig die Chance, die Behauptungen im konkreten Fall induktiv nachzuweisen. Der Kriminalroman der DDR reihte nicht nur parataktisch Propaganda- und Legitimiationsstereotype aneinander 157, sondern nutzte bewusst das Induktionsprinzip, um den »Beweis« anzutreten, dass hinter den neuen Verbrechen die Nazis von damals steckten. Dabei blieb diese sozialistische Induktion offen und suggestiv. Wie in der Kampangenpolitik der DDR beschwor man das Bild, mehr Archivmaterial und authentische Dokumente zu besitzen, als bisher veröffentlicht waren. Das Detektionsschema drängte sich mit seinem expliziten Anspruch auf Wahrheit geradezu auf, insofern es zwar nicht unbedingt Tatsachen ans Licht bringen musste, diese aber literarisch suggerieren konnte. Hatten die Kriminalisten die Dokumente endlich in der Hand, waren sie entweder unleserlich oder noch nicht ausgewertet. Der DDR-Kriminalroman spielte mit der Mutmaßung, während er gleichzeitig durch die parteilich gelenkte Erzählung die Plausibilität dieser Mutmaßung stützte. Reichte dies nicht, konnte man noch auf den marxistisch-leninistischen Historiker zurückgreifen, der sich durch alles andere als seine Recherchetätigkeit, sondern vielmehr durch parteikonforme Interpretationen und Beifall für die staatlichen Ermittlungsorgane auszeichnete. Befragt man die DDR-Romane über das kriminalistische Schema hinaus nach den in ihnen vorherrschenden metanarrativen Plotmustern, so lässt sich konstatieren, dass man sowohl die tragische Irrwegsmetapher als auch Brechts Konzeption der »historienfarce« schnell verabschiedete. Vielmehr wurde der Kriminalroman zum romanzenförmigen Aufklärungsepos umgestaltet. Das DDR-Geschichtsbild, so wie es sich im Geschichtskrimi zeigt, ist damit keinesfalls von einem »tragischen Antifaschismus« geprägt. 158 Vielmehr wird das Tragische aus der historischen Sinnbildung ausgeschlossen, und zwar über den Topos gelingender und staatlich geförderter kriminalistisch-historischer Aufklärung. Allen Subjekten, von denen die Kriminalliteratur erzählt – Opfer, Täter, Aufklärer und die Gesellschaft, in der sich das Drama der Aufklärung entfaltet – wird das Tragische weitgehend verweigert. So taucht das klassische tragische Motiv des »schuldlos Schuldigen« genauso selten auf wie tragisch ausgedeutete Verstrickungen, die Deutsche zu Verbrechern im Nationalsozialismus hätten werden lassen können. Solche Narrative fanden sich hingegen in der Bundesrepublik. 157 Dworak, Kriminalroman der DDR, S. 302. 158 Heinz Bude, Das Ende einer tragischen Gesellschaft, in: Hans Joas/Martin Kohli (Hg.), Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen, Frankfurt/M. 1993, S. 267-281. Bude geht stark von Whites Theorie der Familienähnlichkeiten von archetypischen Metanarrativen und ideologischen Implikationen aus und schließt aus der Tatsache, dass der Faschismus mechanistisch auf den Kapitalismus zurückgeführt wird, auf ein tragisches Geschichtsbild der DDR.

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3 Kriminalistische Fiktionen in der Bundesrepublik Vor dem Hintergrund der staatlich geförderten historischen Aufklärungsfiktion in der DDR scheint die Bedeutung, die dem bundesdeutschen Kriminalroman im Hinblick auf die Repräsentation des Nationalsozialismus zukommt, vergleichsweise geringfügig zu sein. 1 Dennoch lassen sich zwei Narrationsmuster erkennen. Dies ist zunächst die Verfabelung des Nationalsozialismus als Serienmördergeschichte in den 1950er und 1960er Jahren, einem Muster, welches in den 1990er Jahren wieder aufgegriffen wird. Erst um 1980 wird von bundesdeutschen Autoren dann das retrospektive Ermittlungsschema genutzt, um die Verbrechen im Nationalsozialismus und die Bedingungen der Aufklärung in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu untersuchen. Angesichts der Geschichtskultur und der Politik mit der Erinnerung in der Bundesrepublik scheint diese verspätete Entdeckung des Detektivschemas als populäre historische Aufklärungserzählung wenig verwunderlich. Hinzu kamen Erwägungen über das Genre: Schon in einem der ersten deutschsprachigen retrospektiven Detektivromane wurde die detektivische Rationalität und das Lösungsparadigma des Detektivschemas vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen in Frage gestellt. Bezeichnenderweise kam dieser Roman nicht aus der Bundesrepublik, jedoch war er langfristig gesehen vielleicht einer der meistgelesenen Kriminalromane in der Bundesrepublik, der die Möglichkeiten detektivisch-historischer Aufklärung verdeutlichte. In Der Verdacht (1953) des Schweizers Friedrich Dürrenmatt kommt der Berner Kommissär Bärlach – der in Frankfurt am Main der NS-Kriminalpolizei vorgestanden hatte und dort durch eine Ohrfeige bekannt wurde, die er »einem hohen Beamten der damaligen deutschen Regierung« verpasst hatte 2 – nach dem Krieg auf die Spur des offiziell verstorbenen KZ-Arztes Nehle, der nun als Chefarzt unter dem Namen Emmenberger in einer Berner Privatklinik tätig ist. Der pensionierte und todkranke Bärlach lässt sich in die Privatklinik Emmenbergers verlegen, um dessen wahre Identität in einem letzten Aufbegehren für die Gerechtigkeit aufzudecken. Emmenberger erkennt jedoch sofort Bärlachs Motiv und offenbart seinen Plan, Bärlach zu Tode zu operieren. In einem finalen philosophischen Streitgespräch bietet Emmenberger Bärlach die Freiheit an, wenn dieser ihm im Gegenzug ein Geständnis seines Glau1

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Im Gegensatz zur nahezu vollständigen bibliographischen Erfassung der Kriminalliteratur in der DDR bleibt der Blick auf die bundesdeutsche ebenso wie schon der Blick auf die europäische Kriminalliteratur ausschnitthaft. Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker. Der Verdacht, Zürich: Diogenes 1980, S. 13. [Im Folgenden: V] Mit spitzzüngigem Kommentar wird schon in Der Richter und sein Henker Kommissär Bärlach ein- und die Anpassungsfähigkeit der Schweizer vorgeführt, wenn ihnen vorgehalten wird, dass »je nach dem Stand der europäischen Politik diese Aktion zuerst als empörend, dann als verurteilenswert, aber doch begreiflich, und endlich sogar die einzige für einen Schweizer mögliche Haltung; dies aber erst fünfundvierzig« bewertet wurde. Eine Ausgabe des Romans im Rowohlt-Verlag gab 1993 die Auflage mit 1,52 Millionen an, wobei der Roman auch bei Diogenes verlegt und in 26 Sprachen übersetzt wurde.

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bens an Gerechtigkeit, an das Gute oder doch wenigstens seines Glaubens an den Glauben gebe. Für den säkularen Antihumanisten Emmenberger, der allein an »die Materie […] und an das Ich« [V 252] glaubt, lässt sich Freiheit nur durch den Mut zum Verbrechen verwirklichen, da die eigene Freiheit ihre Grenze in der Freiheit des Anderen findet und deshalb eine authentische, unbeschränkte Freiheit der Tat nur durch die Verletzung der Freiheit des Anderen zu verwirklichen ist. Bärlach, der keinen moralischen Grund für die Entscheidung für das Gute und die Anerkennung des Anderen vor diesem anmaßenden Richter und Henker benennen mag, fällt nach empörten Zwischenbemerkungen, die seine »freidenkerische Integrität« 3 nochmals aufblitzen lassen, in hartnäckiges Schweigen. So zeigt er eine letzte Stärke, aber auch seine Ohnmacht, diesem »Ungeheuer an Brutalität und Verschlagenheit« argumentativ etwas entgegen zu setzen. Von Emmenberger kurz vor der todesbringenden Operation verlassen, wird Bärlach in einem »theaterhaften Märchencoup« 4 von dem als deus ex machina erscheinenden riesigen Juden Gulliver gerettet. Mit dieser phantastischen Gestalt – einem KZ-Überlebenden, der in seinem abgerissenen »schwarzen Kaftan« den Eindruck erweckt, »als trüge der Jude die ganze Welt auf den Schultern, die Erde und die Menschheit« [V 265] – überschreitet Dürrenmatt die Spielregeln der Kriminalliteratur. Die Gerechtigkeit der Welt ist nicht mehr innerhalb der Konventionen der Detektivliteratur wiederherzustellen, sondern allein durch eine märchenhafte, irreale Erscheinung. Gulliver, der als Opfer der Konzentrationslager die Rolle des gerechten Rächers einnimmt und Emmenberger tötet, wird Bärlach programmatisch aufklären: »Man kann heute nicht mehr das Böse allein bekämpfen, wie die Ritter einst allein gegen irgendeinen Drachen ins Feld zogen. Die Zeiten sind vorüber, wo es genügt, etwas scharfsinnig zu sein, um die Verbrecher, mit denen wir es heute zu tun haben, zu stellen. Du Narr von einem Detektiv; die Zeit selbst hat dich ad absurdum geführt!« [V 260]

Angesichts der Konzentrationslager scheitern jeglicher Humanismus, jede detektivische Rationalität der Aufklärung und die damit verbundene Fiktion der Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Mit einem mehrfachen »Lebe wohl« entschwindet Gulliver, um sich damit nicht nur von dem nunmehr befreiten, jedoch todgeweihten Bärlach, sondern auch von der Figur des literarischen Detektivs zu verabschieden, der in seiner »armseligen Rüstung« die Rolle des 3

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Eugenio Spedicato, Schweizer, wie sie sein sollten. Zu Friedrich Dürrenmatts Der Pensionierte im Kontext seiner Detektivromane, in: Moraldo, Sandro M. (Hg.) Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Heidelberg 2005, S. 145-153; hier S. 153. Jochen Richter, »Um ehrlich zu sein, ich habe nie viel von Kriminalromanen gehalten.« Über die Detektivromane von Friedrich Dürrenmatt, in: Wolfgang Düsing (Hg.), Experimente mit dem Kriminalroman. Ein Erzählmodell in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts (=Studien zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 21), Frankfurt/M. 1993, S. 141153; hier S. 147.

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Don Quichote einnimmt und als nicht mehr zeitgemäß erscheint: »Wir können als einzelne die Welt nicht retten […] So wollen wir die Welt nicht zu retten suchen, sondern zu bestehen, das einzig wahrhafte Abenteuer, das uns in dieser späten Zeit noch bleibt.« [V 264] Dass Gulliver schließlich eine »nächtliche Reise in die große russische Ebene« anbricht, um den »düsteren Abstieg in die Katakomben dieser Welt zu wagen« [V 265], stand dabei ganz im Einklang mit dem zeitgenössischen Totalitarismustheorem, welches zu Beginn des Kalten Kriegs eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Faschismus verhinderte. Dürrenmatts Infragestellung des Detektivschemas, welches auf die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung abzielt, äußerte sich durch die Transformation des Schlussaktes in den Bereich der Phantastik, um dann jedoch konventionell den Helden zu retten und den Täter zu eliminieren. Die hier zu erkennende Kritik des Detektivschemas, die er in seinem dritten Kriminalroman Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman (1957) noch deutlicher machte, indem er dort dem Leser den auflösenden Schlussakt verweigert bzw. Varianten möglicher Erklärungen anbietet, blieb vor dem Hintergrund der Entwicklung des hardboiled-Thrillers und des Roman Noir höchst konventionell, da dort die Lösung des Falles nichts an der gesellschaftlichen Makrokriminalität änderte. Dürrenmatts Kritik des Detektivschemas hält gleichzeitig an ihm fest, um das Projekt der Aufklärung nicht vorschnell preiszugeben, auch wenn es angesichts der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus erschüttert worden war. Polemisch fasste Jörg Fauser in seiner Abrechnung mit dem soziologisch orientieren, seit den späten 1960er Jahren entstandenen »neuen deutschen Kriminalroman« die Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Kriminalgenre zusammen: In Anlehnung an Adorno fragte Fauser, »wie jemand nach Hitlers ›Mein Kampf‹ noch auf die Idee kommen könne, in Deutschland Kriminalromane verfassen zu wollen, die nicht von der Gewißheit ausgingen, daß das Verbrechen schon gewonnen hat, bevor der Autor auch nur einen Satz hinschreibt.« 5 Die Verbrechen des Nationalsozialismus schienen im Rahmen des Genres nicht erfassbar zu sein. Fausers eigenwilliger Versuch, die faschistische Vergangenheit dennoch zu thematisieren, ohne dabei auf das für ihn überholte klassische Schema des Detektivromans mit seinem Aufklärungspathos oder aber auf den soziologischen Theorieballast des neuen deutschen Kriminalromans zurückzugreifen, fand sich in dem literarisch hervorragenden Thriller Der Schneemann (1981). Fauser folgte hier seiner Prämisse, dass die Literatur jene in den Vordergrund stellen müsse, die »unten sind«, und so dreht sich seine Erzählung um einen Dealer von Pornomagazinen namens Blum, der unerwartet die Chance erhält, ins große Drogengeschäft einzusteigen. In Der Schneemann wird nichts aufgeklärt; und doch gibt es ein heuristisches Prinzip, welches Fauser im hardboiled-Realismus zu finden hofft. Auf Blums Tour durch Deutschland nach Amsterdam, wo er endlich auf Abnehmer zu treffen hofft, verschlägt es ihn in eine Kleinstadt an der deutsch5

Jörg Fauser, Nichts gegen deutsche Krimis, in: TransAtlantik 3 (1983), S. 79ff; hier S. 80.

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niederländischen Grenze. Hier stößt Blum auf einen seiner Kollegen, einen Vertreter von Weißwaschmitteln in braunem Anzug, der ihm beim Grenzübertritt in die Niederlande hilft. Dies reichte aus, um einen konzisen Kommentar über den Zustand der deutschen Nachkriegsgesellschaft abzugeben. Für Fauser war das Deutschland der 1970er Jahre eine Gesellschaft der Vertreter, die Waren bzw. Ideologie verkauften, ohne sich mit ihnen zu identifizieren und sich dabei auch für Mordprojekte anstellen ließen. Ein Held wie Blum, der Dealer ist und auf die Hilfe eines – wie es scheint – alten und neuen Nazis angewiesen ist, um frei zu bleiben, blieb davon nicht ausgenommen. Solche impliziten Kommentare auf die bundesdeutsche Gesellschaft und die Nachwirkungen des Nationalsozialismus mag es in vielen Kriminalromanen seit den 1970er Jahren gegeben haben. Doch das Potential des Ermittlungsschemas für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus blieb – Fauser letztlich eingeschlossen – lange Zeit ungenutzt. 3.1 D AS S ERIENMÖRDER -P ARADIGMA Der Serienmörder ist ein narratives Konstrukt der Moderne, welches eng mit dem Aufkommen der Massenmedien und den Fortsetzungsgeschichten der Tages- und Boulevardpresse verbunden ist. Der Serienmörder gilt als das personifizierte Böse, seine Taten als ein Verstoß gegen die herrschende Moral. Ihre Darstellung in Literatur, Film und Medien stilisiert das Böse und macht es kommunikativ verhandelbar. Serienmördergeschichten vermitteln darüber hinaus Muster von Normalität und Abweichung und erzeugen soziale Zugehörigkeit und Abgrenzungsmöglichkeiten.6

6

Aus der umfangreichen Literatur zum Phänomen des Serienmörders und seiner kulturellen wie medialen Repräsentation seien hervorgehoben: Kerstin Brückweh, Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2006. Hania Siebenpfeiffer, »Böse Lust«. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln 2005. Frank Robertz/Alexandra Thomas (Hg.) Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierung eine ungeheuren Phänomens, München 2004. Susanne Regener, Das Phänomen Serienkiller und die Kultur der Wunde, in: Irmgard Bohunovsky-Bärnthaler (Hg.), Von der Lust am Zerstören und dem Glück der Wiederholung (=Symposion Ossiach/Österreich Juli 2002), Klagenfurt/Wien 2003, S. 85-95. Thomas Kailer, Werwölfe, Triebtäter, minderwertige Psychopathen, in: Carsten Kretschmann (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel (=Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 4), Berlin 2003, S. 323-359. Hania Siebenpfeiffer, Kreatur und Kalter Killer. Der Lustmörder als Paradigma männlicher Gewalt in der Moderne, in: Hanno Ehrlicher/Hania Siebenpfeiffer, Geschlecht und Gewalt. Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert, Köln 2002, S. 109-130. Hans Richard Brittnacher, Zum Motiv des Serienmörders, in: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik (2001) H. 204: Von der Menschenjagd und der Emanzipation des Bösen, S. 39-48. Stephan Harbort, Das Hannibal-Syndrom: Phänomen Serienmord, Leipzig 2001. Angelica Schwab, Serienkiller in Wirklichkeit und Film. Störenfried oder Stabilisator? Eine sozioästhetische Untersuchung (Nordamerikastudien. Münchener Bei-

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Im Diskurs über Serientäter und ihrer medialen Ausschlachtung überschneiden sich verschiedene Deutungsmuster von Kriminalität. Im Anschluss an die Kriminalanthropologie des 19. Jahrhunderts behaupten atavistische und kriminalbiologistische Ansätze, dass es sich beim Triebtäter um einen »geborenen Verbrecher« (Cesare Lombroso) auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe handelt. Demgegenüber sehen soziologische Deutungsmuster in jeder Form von Kriminalität zunächst einen normalen sozialen Tatbestand und wenden sich gegen die Vorstellung von der Kriminalität als pathologische und anormale Erscheinung in der Gesellschaft. Individual- und sozialpsychologische Erklärungsmuster des Serienmörder-Phänomens heben deshalb hervor, dass Menschen aufgrund bestimmter traumatischer Erfahrungen zum Serientäter werden können. Mark Seltzer hat den Serienkiller als den medialen Superstar einer amerikanischen »wound culture« bezeichnet. 7 Die Repräsentationen des Serienkillers schaffen so einen Kult der Wunde und sind gleichzeitig Ausdruck einer verwundeten Kultur. Diese Analyse lässt sich, wenn auch bedingt, auf Deutschland übertragen. Während in der Weimarer Republik dem Serienkiller eine bedeutende mediale wie künstlerische Prominenz zukam 8, hat Martin Lindner in einer Studie über das Motiv des Lustmörders in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts festgehalten, dass dieses mit Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman (1958) verschwindet. Während in der expressionistischen Literatur der Lustmörder noch als transzendentaler Held erschien, der sich die Freiheit nimmt, lustvoll zu töten, sei es auffällig, dass nach 1945 dieses Motiv recht bald verschwindet. Doch das semantische Muster selbst sei nicht verloren gegangen, da seine Merkmale von der antifaschistischen Literatur und der Sozialpsychologie aufgegriffen und auf den typischen »kleinbürgerlichen«, infantilen, verklemmten und sadistischen Nazi übertragen worden seien. 9 In den im Folgenden in den Blick genommenen Romanen wird der »Serienmörder« bzw. »Triebtäter« zum Metonym für die Verbrechen des Nationalsozialismus und seine Erfüllungsgehilfen. So weisen die hier betrachteten Texte eine enge

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träge zur Kultur und Gesellschaft der USA, Kanadas und der Karibik 1) Münster 2001. Edwar J. Ingebretsen, At Stake. Monsters and the Rhetoric of Fear in Public Culture, Chicago 2001. Martin Büsser, Lustmord – Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im 20. Jahrhundert, Mainz 2000. Jürgen Wertheimer, Don Juan und Blaubart. Erotische Serientäter in der Literatur, München 1999. Klaus Bartels, Serial Killers. Erhabenheit in Fortsetzung. Kriminalhistorische Aspekte der Ästhetik, in: Kriminologisches Journal, Beiheft 6, Weinheim 1997, S. 160-181. Deborah Cameron/Elizabeth Frazer, Lust am Töten. Eine feministische Analyse von Sexualmorden, Frankfurt/M. 1993. Mark Seltzer, Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture, New York 1998. Maria Tatar, Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton 1995. Martin Lindner, Der Mythos »Lustmord«. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932, in: Joachim Linder/Claus-Michael Ort (Hg.), Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, S. 273-305; hier S. 301.

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Verbindung zu psychohistorischen und sozialpsychologischen Erklärungsansätzen des Nationalsozialismus auf. Die Verknüpfung einer ebenso individualisierenden wie anonymisierenden Serienmordgeschichte mit dem Nationalsozialismus zeigt sich in zwei Varianten. So kann der Serienmörder als literarische Figur für das »industrielle« Massentöten in den Vernichtungslagern stehen, während im zweiten, häufiger anzutreffenden Narrativ in der triebgesteuerten, sexuell motivierten Tat der mörderische NS-Scherge erscheint. Die Tötungsfabrik

Der 1951 erschienene dokumentarische Roman Reise ohne Wiederkehr. Der Fall Petiot des Drehbuchautors und Regisseurs Robert A. Stemmles deutet die nationalsozialistische Vernichtungspolitik anhand einer Serienmordgeschichte als »modernen«, industriellen bzw. fordistischen Massenmord. 10 Stemmles Roman erzählt auf der Basis von Presseberichten aus dem Jahr 1946 die authentische Geschichte des Pariser Arztes Dr. Marcel Petiot, der in der Zeit der deutschen Besatzung über hundert Menschen umgebracht haben soll. Unter dem Vorwand, Kontakte mit der Widerstandsbewegung zu haben

10 Robert A. Stemmle, Reise ohne Wiederkehr. Der Fall Petiot (=Non StopBücherei), Berlin-Grunewald: Herwig 1951. [Im Folgenden: RW] Stemmle hatte in den 1920er Jahren mehrere sozialkritische Bühnenstücke verfasst. Seit 1935 arbeitete er verstärkt für die UFA als Drehbuchautor und Regisseur. Zusammen mit dem Regisseur Kai Hartl schrieb er das Drehbuch für die Kriminalkomödie Der Mann der Sherlock Holmes war, dem er den Roman Der Meisterdetektiv nachreichte, verfasste die Drehbücher zu Quax, der Bruchpilot (1941), führte Regie in Kleiner Mann ganz groß! (1938), in Mann für Mann (1939) – einem Film über den Bau der deutschen Autobahnen – und in Unterhaltungsfilmen wie dem Fußballdrama Das Große Spiel (1942) oder aber in der Krimikomödie Herr Sanders lebt gefährlich (1944), in der sich ein erfolgloser Kriminalschriftsteller in die gefährliche Aufklärung eines Diamantendiebstahls verwickelt. Nach 1945 arbeitete Stemmle in beiden deutschen Staaten weiter. Er schrieb das Buch für den Film Die Affäre Blum (1948) in der Regie von Ernst Engel, in dem es um einen Magdeburger Justizskandal aus den 1920er Jahren ging, bei dem ein jüdischer Unternehmer beschuldigt wird, seinen Buchhalter ermordet zu haben. Für den antisemitischen Untersuchungsrichter ist der Fall sofort klar. Erst durch das Eingreifen eines Berliner Kriminalkommissars kann ein ehemaliger Freikorpsmann als Täter überführt werden. Nach seinem mit dem Preis der Internationalen Filmfestspiele Venedig ausgezeichneten Erfolgsfilm Berliner Ballade (1948) – einem humoristisch gehaltenen späten Trümmerfilm über das Nachkriegsberlin – drehte Stemmle in den fünfziger Jahren zahlreiche unverfängliche Filme, u. a. Emil und die Detektive (1956). Er schrieb an Drehbüchern von Edgar-Wallace-Filmen und an Karl-May-Verfilmungen mit und griff in seinen Fernsehfilmen Anfang der sechziger Jahre auf dokumentarische Kriminalfälle zurück. Zwischen 1963-69 gab er einen fünfzehnbändigen Neuen Pitaval mit heraus. Vgl. Robert A. Stemmle, Affäre Blum, Berlin: Dt. Filmverl. 1951. Gerhart Herrmann Mostar/Robert A. Stemmle (Hg.), Der neue Pitaval. Sammlung berühmter u. merkwürdiger Kriminalfälle, 9 Bde., München 1963-1966.

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und eine Flucht ermöglichen zu können, lockt Petiot zahlungskräftige Kunden an, unter ihnen viele Juden. Die Notlage seiner Opfer nutzt er zu erpresserischen Forderungen, um sie anschließend mit Giftspritzen zu töten, die Toten zu zerstückeln und die Leichenteile zunächst in der Umgebung von Paris verschwinden zu lassen. Eine kurzfristige Verhaftung durch die Gestapo, die in ihm einen Schlepper vermutete, stoppt vorübergehend sein mörderisches Tun, bevor er dazu übergeht, die Leichen mit Löschkalk zu behandeln und in einem Ofen seiner Villa zu verbrennen. Petiot wird schließlich erst während des Abzugs der Deutschen aus Paris verhaftet. Im Februar 1946 kommt es dann zu einem Sensationsprozess, der mit der Todesstrafe für den Angeklagten endet. Stemmle legte seine Darstellung so an, dass das Verbrechen direkt an die Vernichtungsmaschinerie deutscher Todesfabriken erinnert. Visuell tat dies auch der Prozess, bei dem die französischen Justizbehörden hinter dem Angeklagten eine Wand von sichergestellten Koffern aufgebaut hatten, die unweigerlich an die Todeslager erinnerten. 11 Stemmle schildert den Umbau des Hauses, in dem Petiot sein mörderisches Werk vollzog, als kalt geplanten und systematisch durchkonzipierten Aufbau einer Todesfabrik. Und mehr als effektvoll macht er aus einer Person, die Petiot Kontakte zu Ausreisewilligen verschafft, einen Maskenbildner, der sich auf die Herstellung von Perücken spezialisiert hatte und in dessen Handwerksbetrieb Haufen von Menschenhaaren gelagert werden. Gleich am Anfang des Romans, der mit der Entdeckung des Tatortes durch die Polizei beginnt, verweist Stemmle auf die Todeslager: »In dieser Hölle herrscht Ordnung, höllische Ordnung. Schon hat der Heizer die Feuerung für den nächsten Tag bereit gelegt. Fein säuberlich gestapelt liegen Arme über Arme, Schenkel neben Schenkeln. Frische Schädel zum Nachlegen sind vorbereitet. Ein Beinhaufen, in dem man Hände und Rippen erkennt, ist das Kleinholz. […] Brocken von Kalk haften auf der ausgedörrten Haut. Davor ein Haufen Schirme und Schuhe. Männerhalbschuhe und Frauenschuhe mit hohen Hacken. […] Die Ofentüren sind schwarz und wieder geschlossen. Das rote Grinsen darin ist erblasst.« [RW 15]

Die ausführliche Schilderung des grausigen Tatorts folgt den Konventionen der Gewaltdarstellung, nach der sich der Leser bei jeder weiteren Gewaltbeschreibung an die erste, schockierendste Szene erinnern wird und so das Grauen assoziativ auffüllt. 12 Der Tonfall des Romans ist unterkühlt, lakonisch, fatalistisch-ironisch und selten moralisch empört. Es ist die Stimme eines Prozessberichterstatters, 11 Vgl. dazu: Ronald Seth, Petiot. Victim of Chance, London 1963. John Grombach, The Great Liquidator, New York 1980. Thomas Maeder, The Unspeakable Crimes of Dr. Petiot, Boston 1980. 12 Hans Jürgen Wulff, Die Erzählung der Gewalt. Untersuchungen zu den Konventionen der Darstellung gewalttätiger Interaktion, Münster 1990; hier vor allem S. 51-57. Hitchcock sagte zur Rezeption seines Filmes Psycho (1960), dass dort die erste Szene die gewalttätigste sei, während dann immer weniger Gewalt geschildert werden müsse: »Die Erinnerung an den Mord reicht aus, um die späteren Suspense-Momente furchterregend zu machen.« Ebd. S. 57. Vgl. auch Kapitel IV, 4.1.

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der sich mit Vorverurteilungen weitestgehend zurückhält, dabei aber die Distanz zum Täter wahrt. Die Aneinanderreihung der einzelnen Verbrechen evoziert keinen Spannungsbogen, allein die Chronologie vermag es aus sich heraus, den Schrecken zu erhalten. So wird die Erwartungshaltung des Lesers gesteigert, der wissen will, wie der Täter entdeckt werden wird. Auf eine psychologische Nabelschau wird weitgehend verzichtet, und allein in einer – an Shakespeares Richard III. erinnernden – Traumszene blitzt das Gewissen des Mörders aus Furcht vor seiner Entdeckung noch einmal kurz auf. Nach der Entdeckung der ersten Verbrechen folgt Stemmle nicht der Arbeit der Ermittlungsbehörden, sondern schildert, wie Petiot seine Opfer in die Falle lockt. Die Fiktion ermöglicht es Stemmle, näher auf die Geschichten der bedrängten Opfer einzugehen, ohne dass dabei deren Perspektive übernommen wird. So gewinnen sie einen Teil ihrer Individualität zurück, da Petiot im Prozess kaum etwas über sie aussagt. Dabei bricht die Erzählung jeweils ab, sobald die Opfer die »abseitige unauffällige Schlächterei« [RW 74] betreten. Die Opfer entschwinden dem Blick des Lesers, wenn sie ihre »Reise ohne Wiederkehr« – der Titel wird in der Erzählung mehrmals aufgegriffen – antreten. Für Stemmle ermöglicht sich das Verbrechen Petiots erst aus dem historischen Kontext – der rassenpolitischen Ausgrenzung der Juden und ihrer systematischen Verfolgung, dem Wüten von Gestapo und SS in Frankreich – und indem er das Verbrechen vor dem historischen Hintergrund auslotet, symbolisiert es als pars pro toto »Auschwitz«. 13 »Jagd auf alle Verfolgten und gehetzten Europas, die während der letzten Jahrzehnte ein Asyl in Frankreich gefunden hatten. Deutsche Kommunisten, spanische Republikaner oder italienische Demokraten. Und Jagd, gnadenlose Treibjagd auf die Juden […] Petiot sah zu. Es war eine eiskalte Jagd, die ihm da vorexerziert wurde […] Da musste es in Marcel Petiot aufgeblitzt haben. Der Geistesblitz eines satanischen Genies. Der Doktor begriff, daß dies die Zeit der Jäger war und daß keiner nach den Opfern fragen würde. […] Er schaltete gleich mit dem Terror, der hier den Namen Gestapo trug. Er beschloß, in den großen Mordbottich seine eigene Schädelstätte einzubauen, ein Unteragent zu werden im Geschäft des Todes. Ein kleiner, bescheidender Privatschlächter nur, abseits, unauffällig.« [RW 73f]

Die Fiktion um einen (französischen) Massenmörder, der innerhalb der Gesellschaft lange Zeit unentdeckt bleiben kann, konnte die Entlastungsthese der Deutschen stützen, von den Verbrechen nichts gewusst zu haben. Verstärkt wird diese Alibi-Funktion in Stemmles Roman durch die Frau des Arztes, die ebenso wie der Bruder des Mörders – der immerhin einen Teil der Beute versteckte – ahnungslos geblieben sein wollte. Gleichzeitig schrieb der Roman das traditionelle Deutungsmuster des Serienmörders als »Bestie« und »Jedermann« fort, welches etwa in Robert L. Stevensons The Strange Case of Dr. Jeckyll and Mr. Hyde eine frühe und oft adaptierte Ausprägung gefunden hatte. 14 Die exzeptionelle Einzeltäterthese wurde durch das »satanisch« Böse des mordenden Arztes gesteigert, der unweigerlich an die im ersten Nürnber13 So wird der Staatsanwalt mit den Worten wiedergegeben: »Er hat getötet, wie nur die Nazis in Auschwitz oder Buchenwald töteten.« [RW 250 ] 14 Vgl. Siebenpfeiffer, Kreatur und Kalter Killer, S. 111-114.

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ger Nachfolgeprozess 1946/47 verurteilten KZ-Ärzte erinnern musste. 15 Die Dämonisierung des Bösen hatte jedoch zur Konsequenz, dass das mörderische Treiben deutscher Besatzungseinheiten verschleiert wurde. Der Roman erinnerte zwar an konkrete Verbrechen wie an Oradour-sur-Glane, doch der leitende Gestapobeamte von Paris war nichts weiter als ein »Gestapohäuptling«. [RW 250] So wurde das Personal der Vernichtung allein über die symbolische Repräsentanz des Dr. Petiot assoziierbar, womit die Differenzen zwischen einem Einzeltäter und einem Vernichtungsapparat verschleiert wurden, in dem das Mitwirken Vieler und das Engagement Einzelner zählte. Im dritten Teil der Erzählung schildert Stemmle nach der Verhaftung Petiots den Prozess und die Ausführung des Todesurteils. Der Sensationsprozess wird zu einer »historienfarce«, da Petiot sich als Widerstandskämpfer aufspielt und seine Taten strategisch umdeuten will. Von den 26 in der Anklage aufgeführten Morden gesteht Petiot zwar 19, doch behauptet er, dass seine Opfer Verräter an der französischen Widerstandsbewegung gewesen seien. Der Täter verfällt in die Opferrolle, die ihm jedoch weder das Gericht noch die Zuschauer abnehmen. In der Tradition der Pitaval-Geschichten bot Stemmle den vollständigen Bericht von der Entdeckung der Tat über die Ausführung der Taten bis hin zur Verurteilung und Eliminierung des Täters durch die Guillotine. Durch die justizielle Aufarbeitung war die Geschichte des Serienmörders Petiot und damit des Faschismus keineswegs beendet, denn »nie zuvor blieb eine solche Fülle von Untaten so in Nebel gehüllt«. Was den Prozess anging, stimmte diese Aussage im Grunde genommen nicht, denn die Indizien waren überzeugend und ein Geständnis vorhanden. Die Gesellschaft fand hier ihren Täter. Doch was die »böse Zeit« anging, die »derart das Böse geweckt und genährt« hatte, blieb einiges im Dunklen. [RW 271] Das »Unheimlichste an Marcel Petiot« sei es gewesen, »daß er allein war, daß er allein jagte und tötete, daß er es allein wusste, und daß er allein starb«, wie es auf der letzten Seite des Romans heißt: »Und nur in Wunschträumen hatte er Gesellen und Kameraden«. [RW 271] Damit deutete Stemmle am Ende doch noch an, dass die nationalsozialistische Vernichtungspraxis keineswegs durch dämonische Einzeltäter erklärt werden konnte. Zu einer Verfilmung des Romans kam es nicht, was angesichts des westdeutschen Films der fünfziger und sechziger Jahre nicht verwunderlich war, erinnerte der Roman doch zu direkt an die Vernichtungslager. 16 In der DDR hatte sich Hans Pfeiffer in seinem Buch Die Mumie im Glassarg zu Beginn der sechziger Jahre für eine Veröffentlichung stark gemacht, 1968 erschien der Roman nach längeren internen Auseinandersetzungen. So hatte man in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel in der DDR die Befürchtung, dass der geschilderte Fall zu »drastisch« sei und die Darstellung der »grauen15 Als ein französischer Gerichtsmediziner die These aufstellt, dass es sich bei dem Mörder um einen Arzt handeln muss, schüttelt man noch »ungläubig den Kopf«. [RW 108] 16 Vgl. insg. Reichel, Erfundene Erinnerung, S. 29-128. Der Fall des Dr. Petiot wurde 1989 in einer französischen Produktion verfilmt: Regie: Christian de Chalonge, Buch: Dominique Garnier und Christian de Chalonge, Kamera: Patrick Blossier, Produzent: Alain Sarde u. Philippe Chapelier-Dehesdin und Michel Serrault, der die Rolle des Dr. Petiot spielt.

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haften Verbrechen« bei den Lesern den »Eindruck einer Horrorgeschichte« hervorrufen könnte. 17 Stemmles Roman glich in vielen Details Charlie Chaplins Oscar-nominiertem Monsieur Verdoux (1947), der von dem französischen Frauenmörder Landru handelt, welcher im Kamin seines Gartens – so zeigt es der Film – seine Opfer verbrannte. In einer groteken Fabelkonstruktion beginnt Verdoux seine private Rache an der kapitalistischen Gesellschaft, die ihn – den mittellosen und in der Weltwirtschaftskrise entlassenen Bankangestellten – ausgestoßen hat. Als Aktienspekulant entkommt er seinen finanziellen Engpässen durch wiederholte Morde an wohlhabenden Frauen reiferen Alters. 18 Verdoux wurde von Chaplin als ein völlig asexueller Frauenmörder dargestellt. Einen ebensolch avirilen Frauenmörder stellte Peter Lorre in Der Verlorene (1951) dar, dessen von Lorre verfasstes Drehbuch im gleichen Jahr als Fortsetzungsroman in der Münchner Illustrierten erschien. 19 Für den Film war Lorre kurzzeitig nach Deutschland zurückgekehrt, um seine erste und einzige Regiearbeit in die deutschen Kinos zu bringen. Doch dieser deutsche Film Noir war beim Publikum ein Misserfolg, was nicht zuletzt an dem eigenwilligen, teils nur lose miteinander verknüpftem Plot lag, der sich Eindeutigkeiten konsequent verweigerte. In einem Auffanglager für Displaced Persons trifft der von Peter Lorre gespielte Wissenschaftler Dr. Rothe nach dem Krieg seinen ehemaligen Assistenten wieder. In traumatisch inszenierten Rückblenden in die NS-Zeit erfährt der Zuschauer, dass Rothe kriegswichtige Forschungen für die Nationalsozialisten durchgeführt hat. Eines Tages wird Rothe darüber in Kenntnis gesetzt, dass seine Verlobte nicht nur seine Forschungsergebnisse an den britischen Geheimdienst verraten, sondern auch eine Liaison mit seinem jungen Assistenten begonnen hat, der Informant der Gestapo ist. Rothe bringt daraufhin seine Geliebte um, doch verschiedene Abteilungen des NS-Sicherheitsapparates decken den Mord, da sie die Forschungen des Wissenschaftlers sicherstellen wollen. Gedeckt wird so ein Verbrecher, der als kriegswichtiger Wissenschaftler mit dem verbrecherischen Regime verstrickt ist. Rothe wird 17 BArch, DR 1 3627, fol. 71. Robert A. Stemmle, Reise ohne Wiederkehr. Der Fall Petiot, Berlin: Das Neue Berlin 1968. 18 Vgl. Burkhardt Lindner, Die Spuren von Auschwitz in der Maske des Komischen. Chaplins The Great Dictator und Monsieur Verdoux heute, in: Margrit Frölich/Loewy/Steinert (Hg.), Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust (=Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts; Bd. 19), München 2003, S. 83-106. Die amerikanischen Zensurbehörden, so schreibt Chaplin in seiner Autobiographie, nahmen an dem Vergleich zwischen einem Frauenmörder und dem nationalsozialistischen Massenmord Anstoß, weshalb es wahrscheinlich bei der Oscar-Nominierung blieb. 19 Peter Lorre, Der Verlorene. Mit einem einleitenden Essay von Hellmuth Karasek und Beiträgen von Friedemann Beyer sowie Fotos aus der Filmkopie von Gerhard Ullmann, hg. v. Michael Farin u. Hans Schmid, München: Belleville 1996. Zum Film auch: Barbara Bongartz, Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse? Eine psychologische Geschichte des deutschen Films von 1946 bis 1960 (=Film- und fernsehwissenschaftliche Arbeiten), Münster 1992, S. 88f.

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in der Folge zum frauenmordenden »Totmacher«. Während ihm eine Prostituierte zunächst noch entkommt, wird er kurz darauf in einem S-Bahn-Zug während Verdunklung und Luftangriff eine Frau umbringen, die Mutter zweier Kinder und deren Mann seit Jahren im Krieg ist. Rothe, völlig überfordert bei der Äußerung zwischenmenschlicher Bedürfnisse, kann auf das Angebot eines erotischen Abenteuers, welches ihm seine zufällige S-BahnBekanntschaft macht, nicht eingehen. Durch den Filmschnitt dramatisch inszeniert, sieht man wie sich das Antlitz wandeln kann und aus einem respektablen Normalbürger ein zwanghafter Frauenmörder wird. Diese Geschichte, verknüpft mit einer höchst konventionellen Fabel aus dem militärischen Widerstand, endet doppelt tödlich. Zunächst erschießt Rothe den eiskalten, letztlich aber auch naiven Gestapo-Spitzel, der ihm seine Geliebte abspenstig gemacht hatte. Die Schlusssequenz zeigt dann den Freitod Rothes: In einer Einöde geht der verlassene Arzt zwischen Bahngleisen entlang, während aus dem Bildhintergrund ein Zug mit qualmender Lokomotive anrollt. Peter Lorres Film Der Verlorene ist eigenwillig, seine Fabel uneindeutig. Der Film evoziert immer wieder – für das bundesdeutsche Kino der 1950er Jahre äußerst ungewohnt – Bilder des nationalsozialistischen Lagersystems: In der einführenden Sequenz, die ein Auffanglager zeigt, dessen Wachtürme und Umzäunungen jedoch auch auf das nationalsozialistische Lagersystem verweisen, durch den Spritzen injizierenden »Lagerarzt« Dr. Rothe, und durch das wiederkehrende Motiv der Zuggleise und dampfenden Lokomotiven. Rothe ist, daran lässt der Film keinen Zweifel, schon vor dem Kriegsende eine displaced person: Er ist unfähig zu kommunizieren und zu lieben, ein sprachloser, apathischer Beobachter einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft, in der nichts an eine »Volksgemeinschaft« erinnert. Dabei gibt es – und das machte den Film wohl in erster Linie zu einem Flop – kaum Anzeichen einer möglichen Entschuldung oder Entlastung für einen Mitläufer, der zum Täter wird. Weder individualisiert der Film diesen deutschen Mehrfachtäter, noch macht er ihn zu einem bestienhaften Ungeheuer, doch vereinzelt er ihn und entzieht ihn so gesellschaftlichen Zusammenhängen. Er ist ein Jedermann, der in Zustände eines »außer-sich-Seins« verfällt und gefühlsunfähig und zwanghaft Frauen tötet. Rothe ist kein »schuldlos Schuldiger«, kein tragischer Held. Die Machination der Geschichte treibt ihn in den Selbstmord, nachdem er seine Schuld erkannt hat und in einem letzten Akt des Aufbegehrens mit einem Gestapo-Spitzel abrechnet. Triebtäter im nationalsozialistischen Unrechtsstaat

Wesentlich erfolgreicher als Peter Lorres Der Verlorene war 1957 an den Kinokassen Nachts, wenn der Teufel kam von Robert Siodmak, der auf einer Zeitungsreportage der Münchener Illustrierten von Will Berthold beruhte und nachträglich als »Roman nach Tatsachen« publiziert wurde. 20

20 Will Berthold [d. i. Stefan Amberg], Nachts wenn der Teufel kam, in: Münchener Illustrierte, Artikelserie in 15 Folgen, H.41-52/1956 u. H. 1-3 (1957). Ders., Nachts wenn der Teufel kam. Roman nach Tatsachen, Bad Wörishofen: Aktueller Buchverlag 1959. [Im Folgenden: NT].

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Der Reportage war die vermeintlich authentische Geschichte von dem effektivsten Serienmörder, den die deutsche Gesellschaft hervorgebracht hatte. Auf der Basis dokumentarischen Materials aus dem Reichskriminalpolizeiamt erzählte der Autor die Geschichte des Serienmörders Bruno Lüdke, der über 80 Morde von den späten 1920er bis in die 1940er Jahre begangen haben sollte. Der Remigrant Robert Siodmak verfilmte noch 1957 die Zeitungsstory nach einem Drehbuch von Werner Jörg Lüddecke und das Resultat wurde 1958 mit zahlreichen Filmpreisen – u. a. dem Bundesfilmpreis als »bester Film mit besonderem staatspolitischen Inhalt« – ausgezeichnet. Abseits der euphorischen Filmkritiken 21 kamen gleich zur Premiere des Films Zweifel an der Wahrheit beanspruchenden dokumentarischen Grundlage des Films auf. Sowohl die Schwestern Bruno Lüdkes als auch ein Hamburger Kriminalist, der in die Untersuchungen im Jahr 1943/44 involviert gewesen war, erklärten, dass die Geständnisse des Bruno Lüdke erzwungen bzw. durch fragwürdige Ermittlungsmethoden erreicht worden waren. 22 Der DDR-Autor und Verfasser zahlreicher Pitavalgeschichten Günther Prodöhl meinte 1958 in einer Reportage in Zeit im Bild, dass es sich im Fall Lüdke nicht um Deutschlands größten Massenmörder aller Zeiten, sondern um »den größten Geständnisbetrug […] der Kriminalistik« handelte. 23 Zum gleichen Ergebnis kam wesentlich später ein niederländischer Kriminalist. 24 21 Ausführliche Literaturhinweise zur Rezeption des Films bei: Wolfgang Jacobsen/Robert Siodmak, Siodmak Bros.: Berlin – Paris – London – Hollywood (=Retrospektive. Stiftung Deutsche Kinemathek und Internationale Filmfestspiele Berlin), Berlin 1998, S. 247ff. 22 Die Schwestern Lüdkes hatten gegen die Verwendung des Namens ihres Bruders im Spielfilm geklagt und eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, aus der zu entnehmen war, dass ihr Bruder nach seiner Verhaftung von den Kriminalisten mit Gewalt geständig gemacht wurde und ihm mit dem Tod gedroht worden war. Die Klage verhinderte freilich nicht, dass der Film in den Kinos weiterlaufen konnte. Das Gericht folgte der Argumentation von Gloria Filmverleih, dass Lüdke aufgrund seiner eigenen Geständnisse arretiert worden und so zu einer Person der Zeitgeschichte geworden sei, der Film zumal ein künstlerisch wertvolles und authentisches Bild des Nationalsozialismus entwerfe. Die Frage, ob Lüdke tatsächlich ein Massenmörder war, wurde vom Gericht nicht behandelt, jedoch sorgte die Gerichtsentscheidung dafür, dass sich das populäre Bild vom Massenmörder Bruno Lüdke festigen konnte. Vgl. dazu: Jan A. Blaauw, Kriminalistische Scharlatanerien. Bruno Lüdke – Deutschlands größter Massenmörder?, in: Kriminalistik 11 (1994), S. 705-712; hier S. 707. 23 Günter Prodöhl, Unter Tatverdacht. Die »Geheime Reichssache Bruno Lüdke«, in: Zeit im Bild (1958), H 32, S. 12f; H 33, S. 12-16; H. 34, S. 12-17, H 35 9-12; hier H 32, S. 12. Prodöhl schoss in seiner zwei Jahre später herausgebrachten Buchversion entdifferenzierend über das Ziel hinaus, wenn er den Film als »faschistische Propaganda« bezeichnete. Auch Prodöhl konnte in seiner Tatsachengeschichte nicht auf eine zentrale Fabel verzichten. So behauptete er, dass der leitende Untersuchungskommissar Franz von seinem Vorgesetzten unter Druck gesetzt worden sei und seine UKStellung aufgehoben werde, wenn er den Mörder nicht ergreife. Am Ende wird Franz bei Prodöhl an die Front abkommandiert und fällt wenige Tage

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Der »Dokumentarbericht« und spätere »Roman nach Tatsachen« Will Bertholds über den vermeintlichen Massenmörder Lüdke basierte auf einer dreibändigen Dokumentation aus dem Reichskriminalpolizeiamt (RKPA), die das annähernd 400 Akten umfassende Archivmaterial zusammenfasste und die den Abschlussbericht der »Sonderkommission Lüdke« des jungen Kriminalkommissars Heinrich Franz beinhaltete. Danach war Lüdke am 18. März 1943 von der Berliner Kriminalpolizei wegen eines Frauenmordes in Berlin festgenommen worden. Der Sonderkommission gestand er im Verlauf der folgenden Untersuchungen insgesamt 53 zwischen 1924 und 1943 verübte Morde und drei weitere Mordversuche: 51 Frauen – darunter 11 Prostituierte – und 5 Männer sollten ihm zum Opfer gefallen sein. Am 8. April 1944 wurde Lüdke letztlich auf Veranlassung von Artur Nebe in Wien im dortigen kriminaltechnischen Institut ermordet, in dem er zuvor kriminalbiologisch und kriminalanthropologisch untersucht worden war. 25 Was mit dem Fall von der Kriminalpolizei bezweckt wurde, lässt sich kaum eindeutig klären. In den Berichten der fünfziger Jahre kursierte das Gerücht, dass mit dem Fall eine »Lex Lüdke« vorbereitet werden sollte, »um alle Schwachsinnigen ›legal‹ liquidieren zu können«, wie es bei Berthold hieß. [NT 243f u. 278] Auch Prodöhl behauptete die Vorbereitung eines solchen Gesetzes, was sowohl eine nachträgliche Legitimierung der »Euthanasie-Aktion« als auch einen Wiedereinstieg in eine öffentlich legitimierte Vernichtung von Menschen mit »minderwertigem Erbgut« hätte bedeuten können. 26 Man kann darüber hinaus vermuten, dass der Fall Lüdke, mit dem man auf einen Schlag zwei Drittel aller unaufgeklärten Morde in Deutschland zu lösen glaubte, zu einem Paradebeispiel einer biologistischen NS-Kriminologie aufgebaut und der Fall propagandisvor Kriegsschluß »beim Kampf um Berlin.« Günter Prodöhl, Die »Geheime Reichssache Bruno Lüdke«, in: Ders.: Kriminalfälle ohne Beispiel 1960, S. 145-189; hier S. 150 u. S. 181. 24 Jan A. Blaauw, Bruno Lüdke: Seriemoordenaar. De werkelijkheid achter de bekentenissen van »de grootste seriemoordenaar« uit de Duitse criminele geschiedenis, Baarn 1994. Ders., Kriminalistische Scharlatanerien, S. 705712. Auf der Basis eines intensiven Aktenstudiums kommt Blaauw zu der Überzeugung, dass Bruno Lüdke für keinen einzigen der ihm zu Last gelegten Morde verantwortlich gewesen sei. Lüdke machte zunächst Globalgeständnisse, bevor er in einer suggestiven Befragung Einzelheiten der Taten wiedergab. Ein zusammenhängendes Geständnis gab Lüdke in keinem der ihm zu Last gelegten Fälle. Sein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen beruhte auf der Erfindung der ermittelnden Kriminalisten. Der Historiker Patrick Wagner ist in der Beurteilung, ob Bruno Lüdke tatsächlich keinen der Morde ausgeübt hat vorsichtiger, verweist aber auch auf die Geständniserpressungen. So heißt es in einem Vernehmungsprotokoll: »Wir sagen dir alles vor.« Zitiert nach: Patrick Wagner, Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus, München 2002, S. 9. 25 Vgl. Wagner, Hitlers Kriminalisten, S. 7ff. 26 Damit spielten sowohl Berthold als auch Prodöhl auf das im Volksmund sogenannte »Lex van der Lubbe« über »Verhängung und Vollzug der Todesstrafe« vom 29.3.1933 an. Das Gesetz war ein nachgeschobener Teil der Reichstagsbrandverordnung, mit der rückwirkend Marinus van der Lubbe als Reichstagsbrandstifter zum Tode verurteilt werden konnte.

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tisch ausgenutzt werden sollte. 27 Ob dies aufgrund der Brisanz des Falles, der auftauchenden Zweifel am Wahrheitsgehalt der Geständnisse, oder aber an der Schwierigkeit, sie öffentlich zu präsentieren, letztlich verworfen wurde, bleibt unklar, zumal die »Aufklärung« des Falles in die letzten Kriegsjahre fiel. Das Argument, dass der nationalsozialistische Staat bei einer Veröffentlichung des Falles zugegeben hätte, dass ein vielfacher Mörder lange Zeit unentdeckt sein Handwerk ausüben konnte, kam jedenfalls der Nachkriegsgesellschaft gerade recht. Denn das Verschweigen von Verbrechen durch den NS-Staat sollte gleichzeitig das vermeintliche Nichtwissen über die Konzentrationslager und die systematischen Verbrechen des Vernichtungskrieges legitimieren. Die Sensationsreportage der Münchner Illustrierten behauptete, dass sie als erste den ungeheuerlichen Fall publik gemacht habe. So neu wie die Münchner Illustrierte vorgab, war die vermeintliche »Enthüllung« des Falles indes nicht. Schon 1946 tauchte die Geschichte vom »Monster in Menschengestalt« in der Berliner Presse auf. 28 Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel griff der ehemalige RKPA-Kriminalist Bernd Wehner 1949/50 den Fall in seiner in apologetischer Absicht verfassten dreißigteiligen Artikelserie über die deutsche Kriminalpolizei während der NS-Zeit auf. 29 Wehner versuchte die heik27 So Susanne Regener, Mediale Transformationen eines (vermeintlichen) Serienmörders: Der Fall Bruno Lüdke, in: Kriminologisches Journal 33 (2001), S. 7–27; hier S. 13. Regener stellt die Kontinuitäten des Verbrecherbildes in den 1940er und 1950er Jahren in den Vordergrund ihres Aufsatzes. Dabei beachtete sie jedoch nicht, dass diese Kontinuitäten im Fall des SpiegelArtikels auf einer Identität des Diskursteilnehmers – dem Kriminalisten Bernd Wehner – beruhte. 28 Blaauw, Bruno Lüdke: Seriemoordenaar, S. 284. 29 Bernd Wehner, Das Spiel ist aus – Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei, in: Der Spiegel, Nr. 40 (1949) bis Nr. 16 (1950). Über Lüdke vgl.: Der Spiegel Nr. 9 (1950), S. 24-27. Ders./Horst Herold, Dem Täter auf der Spur. Die Geschichte der deutschen Kriminalpolizei, Bergisch Gladbach 1983. Bernd Wehner war 1931 in die NSDAP und SA eingetreten, 1944 zum Leiter zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen im RKPA aufgestiegen, wurde 1951 wieder in den Polizeidienst aufgenommen und war von 1954 bis 1970 Leiter der Düsseldorfer Kriminalpolizei. Vgl. dazu Patrick Wagner, Hitlers Kriminalisten, S. 7-10. Zum Mord an Lüdke durch das RKPA schrieb Wehner 1950, Luedke sei »bei obskuren und keineswegs gesetzlichen Versuchen« der Wiener Kriminalpolizei gestorben, 1983 führte er aus, dass Lüdke aufgrund von »sogenannten Unterkälteversuchen« gestorben sei, womit er Assoziationen zu entsprechenden Versuchen in Konzentrationslagern weckte. In der Artikelserie entschuldete Wehner Arthur Nebe nicht nur in diesem Fall in auffälliger Weise. Wehner konnte zwar nicht verschweigen, dass Nebe als Chef der Einsatzgruppe B verantwortlich für die Ermordung von Juden war, behauptete jedoch, dass die ihm zu Last gelegte Anzahl von Morden wesentlich geringer anzusetzen sei. Wehner fand weitere entlastende und verschleiernde Worte, wenn er ihn als »anständigen, ehrgeizigen, ängstlichen Ausrottungshäuptling« titulierte, der nichts weiter als »die Kollektiv-Seele der Deutschen unter Hitler« repräsentierte. Anders als

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len Momente der Geschichte der Kriminalpolizei während der NS-Zeit zu verwischen, um sich desto intensiver über die spektakulären Fahndungserfolge auszubreiten. Einer dieser »Erfolge« war der Fall Bruno Lüdke. Wehner nutzte eingeübtes kriminalbiologisches und kriminalanthropologisches Vokabular: Der Massenmörder Lüdke war ein starker Raucher und Trinker, ein herumstreunender »gefräßiger Faulpelz«, womit er Assoziationen zur stereotypen Wahrnehmung von Sinti und Roma weckte, schließlich »schwachsinnig«. Auf wenigen Seiten schaffte es Wehner, Lüdke – der in seiner Nachbarschaft als der »doofe Bruno« bekannt gewesen sein sollte – als einen »Tiermenschen«, als »riesenhaften Gorilla«, als einen »unzeitgemäßen homo sapiens«, und als einen »zurückgebliebene[n] Neanderthaler« zu stigmatisieren. Lüdke hatte zudem ein »fliehendes Gesicht mit vortretendem Unterkiefer, starken Backenknochen und der breit aufgesetzten Nase, die niedrige, weit nach hinten fliehende Stirn mit dem anschließenden Flachschädel, die überlangen, stets nach unten hängenden Arme an dem gedrungenen, leicht nach vorn gebeugten Rumpf erinnerten mit den kleinen, merkwürdig bald stumpfen, bald lebhaft tiefliegenden Augen an einen großen starken Menschenaffen.« 30 Wehner behauptete, war Nebe zu dem Zeitpunkt des Todes von Lüdke keinesfalls »selbst ein Verfolgter«, vielmehr tauchte Nebe erst nach dem fehlgeschlagenen Attentat als Teilnehmer der Verschwörung des 20. Juli 1944 unter. Zudem behauptete Wehner, dass Nebe dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich den Fall vorgetragen habe, was ein peinlicher Versuch war, diesem die Schuld für die Ermordung Lüdkes zu geben: Heydrich war schon im Juni 1942 getötet worden. Wehner verschleierte die Rolle des Kripo-Chefs Nebe und des RKPA und versuchte insgesamt die Schuld auf andere zu übertragen. 30 Wehner, Das Spiel ist aus, in: Der Spiegel, Nr. 9 (1950), S. 23-28; hier S. 26. Das kriminalbiologische und kriminalanthropologische Verbrecherbild verschwand 1983 aus der gekürzten Darstellung Wehners. Er war jetzt nur noch »schwachsinnig« und ein »Spanner«, der aufgrund einiger kleiner Diebereien verurteilt worden war, wobei ihm das Gericht den »Paragraphen 51 zubilligte«. Aus dem »Herumstreunen« wurden »Reiseerlebnisse«. Wehner machte sich so gegen eine medizinische Indikation von Unzurechnungsfähigkeit stark, die auch in seinem Spiegel-Artikel ein wichtiges Argument war. Die wiederholten Anspielungen auf den Paragraphen 51 können im Zusammenhang mit dem Reformentwurf des StGB aus dem Jahr 1962 gedeutet werden. Hier wurde der Begriff der »seelischen Abartigkeit« in den § 51 StGB hinzugefügt, der die Zurechnungsfähigkeit regelte. An der Ausarbeitung der Reform waren mit Kurt Schneider, Ernst Kretschmer, Werner Villinger und Friedrich Panse Psychiater beteiligt, die zwischen 1933 und 1945 an den sogenannten »Euthanasie«-Maßnahmen mitgewirkt hatten, teilweise durch Gutachtertätigkeit. Panse war bspw. Mitglied des Erbgesundheitsobergerichts Köln und Lehrbeauftragter für Rassenhygiene an der Universität Bonn. Vgl. Dirk Blasius, »Einfache Seelenstörung«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945., Frankfurt/M. 1994, S. 167. Dazu auch: Bernhard Wegener, Seelische Abartigkeit (§ 20 Strafgesetzbuch), in: Kritische Justiz 22 (1989), H. 3, S. 316-328. Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit wurde im Zuge der großen Strafrechtsreform 1975 durch den Begriff der Schuldfähig-

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Wehner verschwieg nicht die Zweifel an den Aussagen Lüdkes, der jedoch letztlich mit einem »außerordentlich guten Gedächtnis« überraschte und Einzelheiten »in bildhafter Anschaulichkeit« erzählt habe. 31 Wehner war seinen Ausführungen zufolge aufgrund dieser Zweifel vom Chef des RKPA, Arthur Nebe, beauftragt worden, in einem Magdeburger Mordfall zu überprüfen, ob Lüdke für einen dortigen Mordfall verantwortlich gewesen sei. Während in einigen der 54 Fälle »Zweifel an seiner Täterschaft […] nicht auszuräumen waren«, war der Fall hier klar: »Seine [Lüdkes] Darstellung der Vorgänge war überzeugend; alle geschilderten Details konnten so nur vom Täter wiedergegeben werden.« Um diese Behauptung zu rechtfertigen, nutzte Wehner eine Passage mit wörtlicher Rede Lüdkes: »Als wir mit Lüdke im Dienstwagen in die Nähe der Stadt kamen, sagte er plötzlich, wir seien schon zu weit gefahren. ›Ich kam aus der anderen Richtung. Ihr fahrt viel zu schnell!‹ Wir fuhren also zurück und stiegen an der von Lüdke bezeichneten Stelle aus. Er lief vor uns durch ein Strauchwerk und zeigte uns, wie er der Frau gefolgt war und wo er sie niedergeschlagen hatte.« 32 Durch den performativen Sprechakt wurde hier eine Wahrheit präsentiert, die nichts weiter als eine Erfindung war. Wehners Darstellung ließ einen kriminalistischen Denkstil erkennen, der eindeutig von der Kriminalbiologie und Kriminalanthropologie geprägt war. Dies sollte sich in der Reportage der Münchner Illustrierten fortsetzen, insbesondere durch die Text-Bild-Gestaltung, die Material aus einem sogenannten »Album der Morde« veröffentlichte, welches das RKPA zusammengestellt hatte und nach dem Krieg im Berliner Kriminalmuseum aufgehoben wurde. Dieses Album versammelte Fotografien der Opfer, ihrer Verletzungen, der Tatorte, sowie Fotos von polizeilichen Ortsterminen, die im Zusammenspiel von Text und Bild »beweisen« sollten, dass Lüdke sich tatsächlich an den Tatorten auskannte und sich an Details erinnerte, die nur der Täter wissen konnte. Die Illustrierte veröffentlichte jedoch nicht nur diese nachgestellten Tatortfotos, sondern auch erniedrigende Aufnahmen, die deutlich kriminalbiologische Kriminalitätstheorien umsetzten: So veröffentlichte man von NSKriminalisten gemachte Fotos, die Lüdke nur mit einer Unterhose bekleidet und mit kahlrasiertem Kopf beim Essen zeigten. Auch Fotos von der Anfertigung von Gipsabdrücken des Kopfes Lüdkes zeigte man, ebenso wie die fotografische Reproduktion des Gipsabdruckes der Mörderhand, die für die pathologische Handsammlung der Charité hergestellt worden war. 33 Der vertiert dargestellte Täter wurde so »bei lebendigem Leib stillgestellt und mundtot gemacht« 34: »Der Mörder als Golem, als gipsverkrustetes Untier«, hieß es

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keit ersetzt. Zur Einschätzung des Paragraphen siehe: Wilfried Rasch, Forensische Psychiatrie, Stuttgart 1986, S. 35. Thomas Hoffmann, Besserung und Sicherung. Soziologie, Psychiatrie und Strafjustiz im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, Berlin 1998, url: www.erzwiss.uni-hamburg.de/personal/hoffmann/texte/diplom/hoff1998.pdf), 1.5.2007. Wehner, Das Spiel ist aus, in: Der Spiegel, Nr. 9 (1950), S. 24-27. Wehner, Dem Täter auf der Spur, S. 243. Blaauw, Bruno Lüdke: Serienmordenaar, S. 272. Vgl. Regener, Mediale Transformationen, S. 17-26. Regener, Mediale Transformationen, S. 23.

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dazu bei Berthold. [NT 271] Allein die im »Album der Morde« befindlichen Ganzkörper-Nacktaufnahmen zeigte man in der Illustrierten nicht. Doch fertigte die Illustrierte eigens Silhouettenbilder an, die in der Tradition der Physiognomik und der Charakterkunde standen. Im Zusammenspiel von sensationsjournalistischem Aufklärungspathos und einbezogenen Leserbriefen, die sich entrüstet zeigten, entstand so eine »Öffentlichkeit«, die sowohl am Mythos des Serientäters als auch am Exorzismus des »NS-Täters« arbeitete. Die medialen Darstellungen im Spiegel, der Münchner Illustrierten der »Roman nach Tatsachen« sowie der Film vollzogen eine nachträgliche öffentliche Verurteilung und Hinrichtung. Im Vergleich zu Wehners im Wesentlichen durch kriminalbiologistisches Vokabular auffallende Darstellung des Falles, als auch zu der Bild-TextMontage der Zeitungsstory blieb das Verbrecherbild des Dokumentarromans vergleichsweise schwach ausgedeutet, zumal Berthold die visuelle Evidenz der Reportage literarisch nicht erweitern konnte. Berthold interessierte sich weder für eine psychologische Einfühlung noch für eine sonstige Erklärung der vermeintlichen Taten Lüdkes. Vielmehr entsprang diese aus den Akten der NS-Kriminalpolizei. Dabei schrieb er am Motiv des Triebtäters fort: »Der Mörder […] rast kreuz und quer durch Deutschland, vorwärtsgepeitscht von einem Drang, einer Gier, von einem Trieb […] von der Mordlust.« [NT 27] Lüdke ist der »abscheulichste Mörder, den es in der Kriminalgeschichte gibt«, der »vertierte Mörder« [NT 37], ein »Teufel« [NT 194] und eine »Bestie«, »ein Scheusal in Menschengestalt« [NT 275], der eine »Statistik des Entsetzens, die der Analphabet Lüdke mit Blut geschrieben hat«, hinterließ. [NT 196] Auch hier ist er der maßlose Esser, der »doppelte Portionen« isst, der »derbe Witze« reißt und »frech, faul, launenhaft und unberechenbar« [NT 248] ist und ein »starker Raucher« und ein Alkoholiker, der sich über seine Zukunft »nie irgendwelche Gedanken« machte. [NT 253] Berthold verzichtete nicht auf den Hinweis, dass Lüdke seine Verbrecherkarriere mit kleineren Diebstählen begonnen habe, ebenso wie er wiederholt auf den Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches hinwies, der die Unzurechnungsfähigkeit regelte und auf den sich Lüdke wiederholt berufen habe. Dieser sei »ein viel gemeingefährlicherer Verbrecher« gewesen, der sich über eine »offensichtlich übertrieben dargestellte Beschränktheit« in den Vernehmungen »listig und verschlagen« als »harmloser Idiot« tarnte. [NT 250] Auch das »Umhertreiben« Lüdkes muss angeprangert werden: Durch Bettelei habe sich Lüdke Lebensmittel verschafft, wobei sein »unterwürfiges Wesen […] bei Frauen Mitleid« erzeugt habe. Berthold wusste zudem zu berichten, dass Lüdke »wie viele geistig minderwertige Personen« frühzeitig geschlechtsreif war und er schon im Alter von 14 oder 15 sein erstes Erlebnis mit einem Straßenmädchen hatte. Da er ein »Mensch von abschreckender Hässlichkeit« war, geriet er »zwangsläufig in das Prostituiertenmilieu«. Darüber hinaus war Lüdke aber auch Tierquäler, »Sadist« und »Pyromane«, und nicht zuletzt ein »Kleider- und Schuh-Fetischist«: »Frauen, die schwarze Unterwäsche trugen, waren besonders gefährdet.« [NT 251f] Als generelle Motivation für die Taten machte Berthold einen generellen »Mordtrieb« aus, auch wenn der Autor wenig später von »raffiniert« vorbereiteten Verbrechen

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[NT 191] spricht. Im Diskurs über Serienmörder ist eine solche Verknüpfung freilich keineswegs ausgeschlossen. Bedingt war das Verbrechensphantasma letztlich durch die Aufzeichnungen des RKPA, die die Verbrechen von verschiedensten Tätern auf eine Person zurückführte und damit ein Massenmörder-Phantom schuf. Ein klares Täterprofil konnte es in einem »Tatsachenroman« nicht geben, der unkritisch am ermittelten Sachverhalt des RKPA festhielt. Die Darstellung erinnerte so an einen kumulativen Verbrechertypus, der den üblichen Deliktkategorisierungen der modernen Kriminalistik widersprach und eher an den Vorwurf der Hexerei erinnerte. Während das Verbrecherbild der Reportage in der Kontinuität von Kriminalanthropologie und Kriminalbiologie stand, wurde die Ermittlungsarbeit der Polizei von Berthold umgedeutet. Bertholds Bericht sah in dem Fall die »größte Blamage der deutschen Polizei, die größte Niederlage der deutschen Justiz, ein Justizirrtum ohne Ende, eine zwanzig Jahre lang dauernde Zeit des Grauens sollte verschwiegen werden.« [NT 277] Die Polizei habe sich zum »Zuhälter des Verbrechens« gemacht, da sie die Presse nicht informiert habe. Die Bevölkerung sollte nie erfahren, »was im nationalsozialistischen ›Ordnungsstaat‹ möglich war.« [NT 277] Um dies zu verdeutlichen, wählte Berthold als Rahmenhandlung die Geschichte eines zu Unrecht Verurteilten, dessen Unschuld sich erst nach 10 Jahren Haft und dem Geständnis von Lüdke herausstellt. Dies war eine sehr freie Ausbuchstabierung der dokumentarischen Grundlage, handelte es sich dabei doch um einen Tatverdächtigen, der wohl schon nach kurzer Untersuchungshaft aus Mangel an Beweisen freigelassen worden war. 35 Bei Berthold hieß es nun, dass die »unschuldig Verfolgten, Eingesperrten und vielleicht sogar Hingerichteten« nie öffentlich rehabilitiert werden sollten, was jedoch nicht den Tatsachen entsprach. 36 Dieses fiktive Justizdrama signierte den nationalsozialistischen Staat unter den Vorzeichen der Totalitarismustheorie als mit dem Kommunismus vergleichbaren Unrechtsstaat, der Unschuldige verurteilte, weil eine unfähige Polizei es nicht schaffte, den Serientäter aufzuspüren. Doch trotz der Kritik an den Ermittlungen und der Pressepolitik des NS-Staates forderte der Autor populistisch eine effizient arbeitende Polizei und trauerte dem Ordnungsmodell des NS-Staats hinterher. [vgl. NT 65f] In seiner Erzählung orientierte sich Berthold weitestgehend an der Chronologie der Morde. Obwohl Lüdke jedoch Morde in den zwanziger Jahren »nachgewiesen« wurden, ist der erste ausführlich geschilderte Fall ein Mord in einer dunklen Dezembernacht in einem Wald im Jahr 1933: »Da ist der Schatten über ihr. Ein Mann mit grinsendem, verzerrten Gesicht. Sie will schreien, aber das Entsetzen lähmt sie. Die Arme des Mannes pressen sich brutal um

35 Prodöhl, »Geheime Reichssache«, S. 148. 36 Blaauw, Bruno Lüdke: Serienmordenaar, S. 283: Nach der Ermordung Lüdkes wurde in drei lokalen Zeitungen die Aufklärung des Mordes veröffentlicht, um den seinerzeit Tatverdächtigen eine »Ehrenrettung« zu ermöglichen.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker sie. Sie wehrt sich verzweifelt. Die Todesangst gibt ihr Riesenkräfte. Aber was nützen sie gegen die Gewalt dieses Untiers?« [NT 20f]

Damit konnotierte der erste Mord jene »Dunkelheit«, die mit der Zeit des Nationalsozialismus über Deutschland anbrach – symbolisiert durch den sich vergeblich wehrenden weiblichen Körper. Der Nationalsozialismus wurde so auf subtil-plakative Weise aus dem Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte herausgelöst. Im Deutschland der Jahre 1933-1945 »besinnt man sich auf das nordische Gedankengut. Hier bereitet sich der arische Herrenmensch darauf vor, dem bolschewistischen Untermenschen den Garaus zu machen. Und den Juden. Und den Freimaurern. Und den Katholiken.« [NT 38f] Der kolportagehafte Dokumentarbericht verwischte so die völlig unterschiedlichen Ebenen der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis und ermöglichte den Lesern – insbesondere den katholischen Lesern der Münchner Illustrierten – eine eigene Opferposition. Zudem behauptete der Text, dass die deutsche Bevölkerung ebenso wie von den Taten des Serienmörders keine Informationen über die Konzentrationslager bekommen habe. [vgl. NT 39] Ins Konzept der Entschuldung passte dabei auch, dass der »schwachsinnige Teufel aus Köpenick« nicht nur 49 Männer und Frauen »mit Sicherheit ermordet« hatte, sondern auch noch weitere »31 Mordtaten in den Ostgebieten« begangen habe, die aus »Sicherheitsgründen« nicht mehr aufgeklärt werden konnten. [NT 245] Unaufklärbar und dunkel blieben damit die Taten aller Massenmörder im »Osten«. Im zweiten Mordfall zeigt Berthold den Täter bei der Annäherung an sein Opfer, wechselt dann aber bei der Ausführung seiner Tat wie schon im ersten Fall in die Opferperspektive: Eine Strategie, die zumindest in der Kriminalliteratur dazu eingesetzt wird, die Grausamkeit des Täters zu verstärken. Im dritten Mordfall wird dann die Annäherung des Mörders an sein Opfer gezeigt, die Tat ausgeblendet und erst mit der Entdeckung des »bestialische[n] Mord[es]« fortgefahren. Berthold griff dann wiederholt auf eine Auflistung von Mordtaten und Opfern zurück. Mit dieser Chronologie der Morde wurden die Taten zu einer statistischen Größe und entzogen sich ebenso wie die nationalsozialistischen Verbrechen der Vorstellungskraft. Indem Berthold dem Leser den Täter bei der Tat vorführte, ließ er von Anfang an keinen Zweifel aufkommen, dass es sich bei Lüdke um den wahren Täter handelte. Dazu erfand er eine wichtige Episode – die auch im Film eine wichtige Rolle spielen sollte – um die vermeintliche Triebhaftigkeit Lüdkes zu beweisen. So fiel Lüdke bei einer Tatortbesichtigung »blitzschnell« mit seinen »brutalen Pranken« über die einzige anwesende Frau her. [NT 190] Zwischen den einzelnen Morden schilderte Berthold die Ermittlungstätigkeit der Polizei. Er suggerierte dabei, dass man Bruno Lüdke früher hätte ergreifen können, vor allem durch eine Informierung der Presse, deren aufklärenden Gestus die Reportage vehement behauptete. [NT 127] Erst als der Kriminalkommissar Franz den Fall übernimmt, wird die Arbeit der Polizei stringenter. Mit einem Boxhieb erwirbt er das Vertrauen des Beschuldigten, der erkennt, dass der Kriminalkommissar ihm kräftemäßig überlegen ist, ihn andererseits aber freundlich behandelt. Kommissar Franz ist ein »junger, energischer Beamter«, der in das »Dunkel eindringen« will und dem »Verbissenheit, Fleiß, Logik, Phantasie und […] Kunst, mit Menschen umzuge392

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hen« zugeschrieben wird. [NT 179]. Franz »will es seinen routinierten Fachleuten zeigen, wie man nicht einen, sondern gleich 84 Morde aufklärt.« [NT 170] Doch bald stößt die Lichtgestalt Franz im RSHA auf Widerspruch, bis der dunkeldüstere Himmler verfügt, dass auf »fahrlässige Indiskretion […] die Todesstrafe« steht: »Der eiserne Vorhang ist über den Frauenmorden heruntergegangen.« [NT 178] Berthold kommt nicht umhin, in seinem Dokumentarbericht zu zeigen, dass die Zwischenberichte der Untersuchungskommission »phantastisch« wirken und man an ihrer Echtheit zweifeln kann, dass auch die Reichskriminalpolizei mit »Tricks und faulen Trümpfen arbeitet« und der Verdacht aufkommt, dass man »einen Schwachsinnigen missbraucht, ihm alle ungeklärten Fälle in die Schuhe zu schieben.« [NT 183] In der »politisch gelenkten« Polizei stimmt es »vorne und hinten nicht«, doch folgt Berthold auch hier apologetischen Mustern, die zwischen der SS und Polizei einen »Dualismus« konstruieren, der sich in der Rivalität zwischen »politischen Emporkömmlingen und alten Fachleuten« geäußert habe. [NT 266-269] So entsteht nochmals das Bild einer unpolitischen Kriminalpolizei, welches Bernd Wehner in der erwähnten Spiegel-Serie entworfen hatte, und geht darüber hinaus, wenn er neben dem Reichssicherheitshauptamt dem Propagandaministerium die Schuld für die Unstimmigkeiten des Falles zuschreibt. Im Gegensatz zu Wehner bemerkte Berthold in knarzendem Kasernenton, dass Lüdke 1940 sterilisiert wurde und er während der Euthanasie-Aktion nur knapp dem Tod entrann: Das »braune System macht kurzen Prozeß mit den Schwachsinnigen. Man schickt sie in die Irrenanstalt Hadamar. Von dort kommt einige Wochen später eine Urne zurück mit einem Begleitschreiben, daß der Patient bedauerlicher Weise einem Herzschlag erlegen sei.« Während man mit »Tausenden von unschuldigen Menschen« so verfahren sei, ließ man Lüdke laufen, »der den Tod hundertfach verdient« habe. [NT 78] Berthold ließ keine Zweifel, dass es sich bei dem Mord an Lüdke im kriminaltechnischen Institut Wien um Unrecht handelte, der jedoch nicht der Kriminalpolizei, sondern dem RSHA und dem Propagandaministerium anzulasten sei. [vgl. NT 274] Für Berthold war der Mord zwar ungesetzlich, jedoch ließ er an der Berechtigung der Todesstrafe im Fall Lüdkes keinen Zweifel. Im Film von Robert Siodmak verwandelte sich die anormale Männlichkeit in eine dumpfe Triebhaftigkeit. Gleichzeitig findet im Film die Analogie zwischen dem Triebtäter und der SS eine narrative Verdichtung. Die Reaktionen auf den Film, der mit seinen dramatischen hell-dunkel Kontrastierungen dem expressionistischen Film der 1920er Jahre und dem Film Noir verpflichtet war, waren bis auf die Reaktionen aus der DDR durchweg emphatisch. 37 Der Film, der die in der Illustrierten veröffentlichten Fotografien des Reichskriminalpolizeiamtes filmisch nachstellte, löste sich vom Dokumentarbericht Bertholds, indem er mit der Einführung neuer Figuren wie dem Parteimit37 Eine Beschreibung des Films, die jedoch nicht berücksichtigt, dass es sich bei Lüdke um einen erfundenen Serienmörder handelt und Siodmak fotografisches NS-Dokumentarmaterial filmisch umsetzte, bei: Schwab, Serienkiller in Wirklichkeit und Film, S. 150-170. Siehe auch: Bongartz, Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse?, S. 88-95.

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glied Keun, den SS-Männern Rossdorf und Scharf oder aber der Freundin Helga Hornung des Kriminalkommissars Kersten ein erweitertes Figurenarsenal schuf, mit dem die Analogie von NS-Verbrechensstaat und Serienmörder, aber auch Fragen nach Mitläufertum, Überzeugungstätern und den Möglichkeiten innerer Dissidenz thematisiert werden konnten. Die Verbrechensgeschichte sollte zur Parabel des Dritten Reichs werden und ein »wirklicher Anti-Nazi-Film« sein, wie Robert Siodmak in seiner Biographie kundtat. 38 Anders als seine dokumentarischen Vorläufer entwirft der Film einen psychologischen Blick auf den Täter. Lüdke, gespielt vom jungen Mario Adorf, wird als kindlich-zurückgebliebener, stupider und dumpfer Frauenmörder gezeigt, der nicht nur Schrecken verbreitet, sondern auch Empathie erzeugen kann, wenn der Zuschauer an der inneren Rede eines Täters teilhat, der das »Unheimliche« und animalisch-triebhafte auslebt und seiner Ängste und Begierden nicht Herr wird. Ein Höhepunkt der Dämonisierung ist jedoch die Verfilmung der Moulagierung Lüdkes, der dadurch zum hilflosen Monster gemacht wird. Von Anfang an ist der Zuschauer eingeweiht, wer der Mörder ist, während der Film daraufhin den Zuschauer spannungsreich an der Genese der Verbrechen teilhaben lässt. Im Schutz der Verdunkelung während eines Luftangriffes ermordet Lüdke eine Kellnerin. Verdächtigt wird zunächst der schmierbäuchige Parteigenosse Keun, der mit dem Opfer ein außereheliches Verhältnis hatte. Kriminalkommissar Kersten wird auf den Fall angesetzt, doch auch das Reichssicherheitshauptamt schaltet sich ein, welches von nun an als Gegenspieler einer rein kriminalistisch, das heißt unpolitisch und unideologisch arbeitenden Kriminalpolizei aufgebaut wird. Bruno Lüdke soll so einerseits zum Modellfall für die ideologische Ausmerzung sogenannter krankhafter Elemente gemacht werden. Kommissar Kersten hingegen erwirbt sich das Vertrauen Lüdkes, macht ihn geständig und reist mit einer Sonderkommission von Tatort zu Tatort, an denen ihm die verschiedensten Morde nachgewiesen werden. Mit dem Fortschreiten des Krieges tritt eine Wende im Fall ein. Lüdke wird zu einem innenpolitischen Problem, da man der Öffentlichkeit nur schwer erklären kann, warum während der Naziherrschaft ein solcher Massenmörder lange Zeit unentdeckt bleiben konnte. Auf Befehl des Führers – darunter ist es im Film nicht zu machen – muss die Aktion vertuscht werden: Parteigenosse Keun wird ermordet, Kriminalkommissar Kersten an die Front geschickt und Lüdke in Wien im kriminaltechnischen Institut getötet. Der Film war darauf ausgerichtet, die Analogie zwischen dem Serienmörder und dem SS-Staat herzustellen und die nationalsozialistischen Vertuschungsstrategien zu pointieren. Die Verbrechen des »größten Mordfalls der Kriminalgeschichte« – die im Schutz der Verdunklung, im verlassenen Wald, oder aber an einem Steinbruch verortet wurden, der an die Gruben der Er-

38 Karl Prümm, Universeller Erzähler. Realist des Unmittelbaren, in: Jacobsen (Hg.), Siodmak Bros. Berlin – Paris – London – Hollywood (=Stiftung Deutsche Kinemathek und Internationale Filmfestspiele Berlin, Retrospektive 1998), Berlin 1998, S. 61-182; insb. S. 61f Eine ausführliche Filmbeschreibung bei: Ch. Schmidt, Nachts wenn der Teufel kam, in: Holger Wacker (Hg.), Enzyklopädie des Kriminalfilms, 10. Erg.-Lfg, Meitingen 1998, S. 1-9.

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schießungskommandos erinnerte – erschienen als das Resultat eines Zerfalls von staatlicher Ordnung und alltäglich gewordenen Unheils. Während der Film eindringliche Bilder von der fatalistischen Hinnahme des Krieges durch die Bevölkerung erzeugte, schonte er doch das Publikum durch Entlastungsnarrative. Denn er zeigte neben dem vereinzelt dumpfen Täter als metonymischer Figur des »SS-Staates« in den Figuren des Kriminalkommissars Kersten, seiner Freundin und einem Wehrmachtssoldaten vor allem Widerständige, Aufmüpfige und Respektlose, oder aber am NS-Staat gebrochene Figuren, die sich in eine innere Emigration begeben hatten oder ihr Leid im Alkohol ertränkten. Gleichzeitig stärkte die filmische Narration das Vertrauen in die aufklärerische kriminalistische Praxis, die von politischen und ideologischen Einflüssen vermeintlich frei war. 39 Der Serienmörder Lüdke wurde zu einem medialen Phantom, zu einer Projektionsfläche des Bösen. Bevor mit dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958 die juristische Aufarbeitung in der Bundesrepublik wieder aufgenommen wurde, konstruierte die Populärkultur den Mythos vom triebhaften und vertierten Einzeltäter. Die verschiedenen medialen Darstellungen interpretierten das nationalsozialistische Regime als einen Unrechtsstaat, der Unschuldige schuldig sprach und der die Öffentlichkeit durch eine gleichgeschaltete Presse im Dunkeln über Frauenmörder und Konzentrationslager ließ. Dabei transportierten sie restriktive Ordnungsvorstellungen des Boulevards: Aversionen gegen den Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches wurden befördert, eine effiziente Arbeit sowie hartes Durchgreifen der Polizei gefordert, während der fiktive Frauen- und Serienmörder als Bestie auszuschalten blieb. Der NS-Täter als Psychopath

Noch deutlicher als Will Berthold wurde Hans Hellmut Kirst in Die Nacht der Generale. 40 Kirst war während des Zweiten Weltkrieges Oberleutnant der Wehrmacht und als Aufsichtsoffizier und NS-Führungsoffizier Lehrer für Kriegsgeschichte und für die ideologische Festigung der Wehrmacht bei den Kriegen gegen Polen, Frankreich und die Sowjetunion zuständig. 41 Von einer Spruchkammer im Zuge der Entnazifizierung mit einem zweijährigen Schreibverbot belegt, erschien 1950 sein Erstlingswerk Wir nannten ihn Galgenstrick. 1954 landete er mit dem vorab in der Neuen Illustrierten veröffentlichten ersten Band der Trilogie 08/15 einen internationalen Bestseller, der noch im gleichen Jahr verfilmt wurde. 08/15 erschien während der kontroversen Debatte um die Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik und wurden ein enormer Publikumserfolg. Kirst erzählte in einer humoristisch gefärbten Kritik des Kasernenhofdrills die Erlebnisse des Soldaten Asch. Dabei stellte er weder den Krieg noch das Militär in Frage, sondern allein Drill, Korruption, Schlendrian und Schinderei der

39 Vgl. Regener, Mediale Transformationen, S. 12. 40 Hans Hellmut Kirst, Die Nacht der Generale, München: Desch 1962. Hier zitiert nach der Goldmann-Taschenbuchausgabe München 1966. Verfilmung: »The Night of the Generals« GB/F 1966, Regie: Anatole Litvak. 41 Vgl. Heinz Puknus, Hans Hellmut Kirst. Der Autor und sein Werk. Information, Zeugnis, Kritik, München 1979.

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militärischen Ausbildung. 42 Das war anschlussfähig an die Kriegserfahrungen des Publikums, zumal der Film im Gegensatz zu den üblichen Generalitätsfilmen mit dem einfachen Soldaten eine »Perspektive von unten« wählte. Während der Bund deutscher Soldaten anlässlich des Films vor einer Untergrabung des Verteidigungswillens warnte, behauptete die Produktionsgesellschaft mit dem Film eine Vermenschlichung der militärischen Ausbildung bewirken zu wollen. 43 So konnte der Film Vorbehalte gegen die Wiederbewaffnung relativieren und unterstützte die Debatte um die »Innere Führung« des »Staatsbürgers in Uniform«. Bei den ernst zu nehmenden zeitgenössischen deutschen Filmkritikern fiel der Film indes durch, da man in ihm ein geschicktes Medium der Remilitarisierung und eine »verlogene Militärhumoreske« sah. 44 In seinem Roman Die Nacht der Generale (1961) verknüpfte Kirst nun die Wehrmachtsthematik aus 08/15, den Topos des militärischen Widerstandes um den 20. Juli 1944 mit dem Erfolgsrezept der Triebtätergeschichte aus Nachts, wenn der Teufel kam. 45 Zielsicher machte er den SS-General Tanz zum reinheitsfanatischen Triebtäter. Aus der metaphorischen Andeutung Robert Siodmaks wurde nun eine Identität von SS-Kriegsverbrecher und Dirnenmörder. Der Roman nutzte eine Montagetechnik, die die auktoriale Erzählerrede mit fiktiven Dokumenten und Aufzeichnungen von Ermittlungsgesprächen aus dem Jahr 1960 verknüpft, die dem Erzähler in die Hände gefallen sind. Durch diese Darstellungsweise konnten die Ereignisse aus verschiedenen personalen als auch zeitlichen Perspektiven dargestellt werden und erzeugten einen Sog, der den Leser zum Mit-Ermittler werden lässt. Der Roman beginnt im besetzten Warschau 1942, wird dann im Umfeld des 20. Juli 1944 in Paris fortgeführt und endet schließlich in der Sektorenstadt Berlin 1956. In Warschau beginnt der »Fall«: Maria Kupiecki, sowohl

42 Friedrich Kahlenberg, Der Film der Ära Adenauer, in: Ursula Bessen (Hg.), Trümmer und Träume. Nachkriegszeit und fünfziger Jahre auf Zelluloid. Deutsche Spielfilme als Zeugnisse ihrer Zeit. Eine Dokumentation, Bochum 1989, S. 243. 43 Vgl. dazu Reichel, Erfundene Erinnerung, S. 101-107. 44 Ebd., S. 105f. 45 Sowohl zu Nachts, wenn der Teufel kam als auch zu Der Verlorene hatte Kirst Kritiken geschrieben. Hans Hellmut Kirst, Der Verlorene – Eine Fundgrube, in: Münchner Merkur vom 20.10.1951. Ders., Nachts, wenn der Teufel kam, in: Münchner Merkur vom 25.9.1957. Für Nacht der Generale wurde Kirst 1964 auf dem Festival des Humors in Bordighera mit der »Goldenen Palme des Humors« ausgezeichnet und für den Edgar Allan Poe-Award (vergeben von amerikanischen Kriminalromanautoren) nominiert, den 1965 jedoch John le Carré mit Der Spion der aus der Kälte kam gewann. 1966 wurde der Roman als britisch-französische Koproduktion verfilmt. Kirst wurde als erster deutscher Autor in die amerikanische Schriftstellervereinigung The Authors Guild aufgenommen und war Mitglied des deutschen PEN. Die Boston University legte eine Kirst Collection als Dokument der Zeitgeschichte an, 1968 ernannte ihn die Mark Twain Gesellschaft zum »Knight of Mark Twain«.

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Prostituierte als auch eine Agentin der deutschen Spionageabwehr, wird regelrecht abgeschlachtet aufgefunden: »Es war eine dunkle Nacht. Ich fuhr zum Tatort und begann meine Untersuchungen. Die Leiche war verhältnismäßig leicht zu identifizieren. Der Name Maria Kupiecki kam mir bekannt vor […] Die Leiche war grauenhaft zugerichtet. Drei Stiche des Messers – es kann ein großes Taschenmesser gewesen sein – führten mit Sicherheit den Tod herbei. Zwei dieser Stiche gingen durch die Brüste – dort wo die Brustwarzen sind. Der dritte Stich ging durch den Nabel. Dann folgten Dutzende andere, wie besinnungslos durchgeführt – aber sie hatten nur ein Ziel: Sie verletzten alles, was zu den weiblichen Geschlechtsmerkmalen gehörte. […] Resultat: Tod durch eine Eruption besessener Leidenschaft. […] er war gefährlich wie ein wildes Tier.« [NG 20]

Der Verdacht fällt auf einen deutschen General, von denen es in Warschau drei gibt: den »kommandierenden General der Infanterie« Seydlitz-Gabler, Generalmajor und »Chef des Stabes beim Armeekorps« Kahlenberge und schließlich den »Generalleutnant Tanz, Kommandeur der für »Sonderaufgaben zusammengestellten Elitedivision Division Nibelungen.« [NG 33] Den Aufklärungsprozess übernimmt der positiv ausgestaltete Major der Abwehr namens Grau, der ebenso zwielichtig bleibt wie sein Name: Grau lässt sich nicht in die Karten schauen, benimmt sich weltmännisch und ist mit dem französischen Ermittlungsbeamten Henri Prévert befreundet. Schnell wird klar, dass der Hauptverdächtige dieses sexuell motivierten Mordes »Tanz« sein wird: Tanz ist Ordnungsfanatiker und hat einen zwanghaften Reinheitskomplex, er ist ein schwerer Trinker, wenn er allein ist, und ein kalter Mordplaner. In Warschau, dessen jüdisches Ghetto am Rande erwähnt wird, sieht man ihn bei der Planung und Ausführung eines »Testversuchs« bzw. einer »Art Generalprobe« [NG 66; 70] gegen polnische Widerstandskämpfer. Kirst gibt distanzierend die Sprache der Militärs wieder – »gedachte, seinen ›ersten Keil‹ anzusetzen«; »Tanz registrierte präzis«; »abriegeln, sichern, durchkämmen!«; »Und dann die Flammenwerfer!« [NG 33] – bleibt aber vom kalten Metall der Panzerspähwagen und Mercedes-Kübel als auch vom »sanft glänzende[n] Lederzeug« des Soldaten stets angezogen. [NG 66] Von der schließlich durchgeführten »Aktion«, bei der »die Erde um ihn wie unter einem Steinhagel aufzuplatzen begann« und ein »jähes Aufgurgeln« tönt (»danach klatschte ein zweiter Körper auf das Pflaster«) ist Grau angewidert: Für ihn sind die Vernichtungsaktionen ein »Idiotenzirkus«. [NG 77]. Graus Ermittlungen im Mordfall treffen bei den Generälen auf Unverständnis. So bemerkt Kahlenberge: »Doch in dieser absurden Zeit geht die Zahl der Toten bereits in die Millionen. Wollen Sie wirklich ihre Mörder finden? Vielleicht Millionen Mörder? Oder an wen dachten Sie?« [NG 49] Damit begründet sich ein Topos jener Kriegsverbrechen aufklärenden Kriminalliteratur, denn auf dem Widerspruch zwischen der Fahndung nach einem individuellen Mord in einer Zeit der Massentötungen in den Vernichtungslagern und im Krieg bauen viele spätere Kriminalromane auf. Erst am individuellen Fall zeigt sich der sich der Anschauung entziehende Massenmord, der hier als deutsche Tragödie und Verfallsgeschichte interpretiert wird:

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker »Als vor zwei Jahren die erste dieser Leichen vor mir lag, ist in meinen Augen mehr als nur ein Mensch bestialisch umgebracht worden – für mich war die Tat wie ein Symbol: ein Symbol für den tiefsten Niedergang, für den Einbruch des VerbrecherischGrausamen in eine Nation, die ich geliebt habe.« [NG 231]

Für den Aufklärer Grau, der sich nicht vor der Autorität und dem Standesdünkel der Generäle scheut und herausbekommen will, wer von ihnen den Mord an der Prostituierten begangen hat, bleibt kein Platz in Warschau: Die Führungsclique der Generäle lobt ihn nach Paris weg, ohne dass der Fall geklärt werden kann. Doch in Paris treffen sich 1944 Grau und die drei Generäle wieder. In einer Verdichtung der Ereignisse kommt es zu einem erneuten Mord durch Tanz in der Nacht zum 20. Juli 1944. Währenddessen versucht Kahlenberge vergeblich, Seydlitz-Gabler für »eine Konspiration gegen Hitler und Genossen« zu gewinnen, der sich jedoch nicht festlegen will. [NG 213] Von Anfang an kein Vorbild für die Truppe, interessiert sich Seydlitz-Gabler mehr für gesellschaftliche Ereignisse und die Verheiratung seiner Tochter. Auserkoren ist dazu Frauenmörder Tanz, doch die Tochter liebt mit dem Gefreiten Hartmann – einem einfachen deutschen Soldaten – die zentrale Identifikationsfigur des Romans. Die berechnende Grausamkeit von Tanz zeigt sich nun, als er dem Gefreiten Hartmann den Mord an der Prostituierten in die Schuhe schieben will, ihm aber dennoch aus einer Mischung aus Perfidie und Sympathie die Desertion ermöglicht. Der mit dem Widerstand sympathisierende Grau wird während des fehlschlagenden Putsches in Paris im Auftrag von Tanz erschossen. Tanz entledigt sich damit seines gefährlichsten Widersachers, der es fast geschafft hätte, ihn wegen der Frauenmorde zu verhaften. Kirst belässt es aber nicht dabei. Eine solche schwarze Geschichte, in der ein SS-General und Frauenmörder überlebt, hätte an den Grundfesten der Vergangenheitsbewältigungsstrategien gerüttelt. Deshalb muss der Fall im Jahr 1956 vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs und der Wiederbewaffnung aufgeklärt werden. Dazu kommt ein französischer Interpolbeamter ins Spiel, der schon mit Grau zusammengearbeitet hatte. Allein »die Polizisten aller Länder [sind] in diesen Tagen noch die einzigen Behörden in der Welt […], die eindeutig gemeinsame Interessen hatten, solange es um Kapitalverbrechen« ging. [NG 60] Tanz, der nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft mittlerweile in Ostdeutschland für den Wiederaufbau des Militärs engagiert worden ist, verübt einen erneuten Mord, wird letztlich gestellt und begeht angesichts der erdrückenden Beweislage Selbstmord. Wie viele ostdeutsche Krimi-Pendants verlässt sich auch Kirst nicht auf seine Kriminal-Fabel, sondern sieht sich genötigt, eine Geschichtslektion – wenn auch unter anderen Vorzeichen – zu erteilen. Ebenso wie in 08/15 wird auch in Die Nacht der Generale das Lied vom einfachen Soldaten in einer »Rede, die nie gehalten, aber immer wieder gedacht worden ist« besungen, von »Soldaten, die frontwärts fahren oder von dort zurückkommen«, von Soldaten, die abhängig von ihren »niemals gesehen[en]« Generälen sind, »denen kein Soldat entrinnen kann« und deren Befehle ausgeführt werden müssen. Doch Verständnis heischend komme den Generälen in »jenen Stunden, in denen das Ausnahmerecht herrscht, allein diktiert von den Gesetzen des Krieges« eine unfassbare Machtvollkommenheit zu. [NG 317f] Der Krieg mache Menschen zu »Massen«, die Generäle lassen sich hingegen identifizie398

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ren, weil sie einen »Namen«, ein »Gesicht« haben. Sie sind »Direktoren einer Fabrik«, »operieren mit Menschenleben«, für sie sind »Menschenleben nichts anderes als Menschenmaterial«, doch werden ihnen schwerste »Entscheidungen« abverlangt. Unter den Generälen gebe es jene »Soldaten des 20. Juli«, die Verantwortung gegenüber der Geschichte gezeigt hätten, und die nicht anders sterben »als tausend andere Soldaten auch«. Dann gebe es jene Generäle, die angepasste »Dienstboten der jeweiligen Machthaber« seien, die an ihre Erfüllung nationaler Pflichten glaubten, was »bei einem Hitler wie skrupelloser bis verbrecherischer Leichtsinn« anmutet. Schließlich gebe es Generäle, die genau wussten, daß Hitler und seine Clique eine Gefahr waren und die dennoch »Tausende und aber Tausende von armen, braven, ahnungslosen Soldaten für diesen Hitler sterben« ließen, für »eine Kanalratte, für ein Schwein«. [NG 321] Dies führe jedoch dazu, dass »alles, was in den letzten Jahren geschehen ist, nicht mehr als bedauerliche Ausnahme oder tragische Einzelerscheinung abgetan werden kann.« So behauptete der Erzähler entschuldigend, dass die deutschen Offiziere in den »Reißwolf der Geschichte« hereingeraten seien, doch es insgesamt eine »Dummheit oder Verblendung oder Lüge« sei, »immer noch von den guten alten Werten zu sprechen, so von der Tradition, die man nicht nur pflegen will, aus der man sogar wesentliche Dinge zu übernehmen gedenkt.« Als Frage stand dabei im Raum, ob es etwas »Lächerlicheres« gebe, »als die Bankrotteure von gestern mit der Geschäftsführung von morgen zu betrauen?« [NG 328] Aus einer derartigen Menschengruppe, die den Titel General trage, könne »auch einmal eines jener Geschöpfe kommen, die so viel Rätsel aufgeben« wie General Tanz: »Einst vergötterte Publikumslieblinge können sich als stupende Dummköpfe oder triebhafte Sexualhyänen entlarven.« [NG 321] Solange die Menschheit lebe, habe es »Lebewesen von einer scheußlichgigantischen Abnormität gegeben«. Kirst bemerkte zwar nebenbei, dass es auch unter »einfachen Soldaten« und »soliden Bürgern« Menschen dieser Art gegeben habe, doch Tanz personifiziere den Krieg als »ein sinnloses, hemmungsloses, grausames Blutbad«. Er sei einer, der sich dem Krieg hingebe wie einem Laster, der gezeichnet sei wie von der »Pest« und »Syphilis«. Er sei »nichts anderes als die Fratze des Krieges: Der Blutrausch unter der eigenen Maske: Die Lust der Vernichtung. Vielleicht: die Hölle.« [NG 323] Der Kriegsverbrecher wurde zur Figur des völlig Anderen, zum kriminellen Psychopathen. Sowohl Nachts, wenn der Teufel kam als auch Die Nacht der Generale spiegeln ein in den 1950er und 1960er Jahren höchst anschlussfähiges Täterbild, gerade durch die Synthese aus Kolportage und Kriminalschema. Denn sowohl die Kriminalisierung und Diabolisierung der Täter als auch die Exterritorialisierung der Tatorte war das zentrale Verarbeitungsmuster.46 Eine Vorgabe für die Auseinandersetzung mit den NS-Tätern hatten die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gemacht, die allein die Geheime Staatspolizei und die SS als »verbrecherische Organisationen« eingestuft hat46 Vgl. Gerhard Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und »ganz gewöhnlichen« Deutschen, in: Ders. (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? (=Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; Bd. 2), Göttingen 2002, S. 16-20.

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ten. Damit fielen die Ordnungspolizei, die Kriminalpolizei und die Wehrmacht aus dem Kreis der Täter heraus. Die Verortung der Täter in »Himmlers Schergenkorps« waren das »große Alibi« 47, man vollzog eine »institutionelle Isolierung der Verbrechen«. 48 Typisch für die distanzierende Deutung der Täter als das absolut Andere und die Inkarnation des Bösen als Distanzierungsversuch war Eugen Kogons 1945 verfaßtes Buch Der SS-Staat. Kogon hatte nach jahrelanger Haft im Konzentrationslager Buchenwald im Auftrag der US-Armee eine Studie angefertigt, die sich auch an eine psychologische Typisierung der Täter heranwagte. Die SS-Angehörigen waren danach »dressierte« Männer mit Minderwertigkeitskomplexen, je nach ihrer sozialen Herkunft »Tiefunzufriedene, Nicht-Erfolgreiche, durch irgendwelche Umstände zurückgesetzte, um Minderbegabte aller Art und häufig genug sozial gescheiterte Existenzen, meist ohne jede charakterliche oder fachliche Vorbildung.« 49 Die Lager-SS war für Kogon »kein psychologisches Rätsel«, denn »genauso haben, ganz oder teilweise, alle Barbaren der Weltgeschichte, alle Massenmörder, die Lustmörder, die primitiven Fanatiker gehandelt«. 50 Im Umkehrschluss behauptete Kogon eine »psychologische Ähnlichkeit« bzw. »seelische und gesellschaftliche Verwandtschaft« der »Asozialen« und »Berufsverbrecher« mit der SS, sie waren »Sozialdeklassierte von beschränkter Bildung, mit vorherrschender Triebwelt, ohne erarbeitete Überzeugungen«. 51 Die SS-Schergen erschienen auch hier als dumpfe Triebmenschen und Kriminelle und zeichneten sich darüber hinaus durch eine »Faulheit der Dummen« aus: »Oder die SS-Führer. Was lasen sie denn? Kaum jemals ein Buch, Kriminalromane höchstens, auch wenn sie sich kostbare Bücher zu schenken pflegten.« 52 Gesellschaftliche Psychopathologien I: Pavel Kohout

Mit dem Roman von Hans Hellmut Kirst verschwand die Serienmörderfiktion vorübergehend aus der populären kriminalliterarischen Repräsentation des Nationalsozialismus. Dies lag vermutlich auch daran, dass sich das Täterbild im öffentlichen Diskurs über den Nationalsozialismus seit dem Eichmannprozess und der Debatte um Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem (1963) veränderte. Die Vorstellung vom dumpfen NS-Triebtäter und Psychopathen wurde vom literarisch anscheinend schwerer umsetzbaren Schreibtischmörder und Bürokraten der Vernichtung abgelöst. Jedoch geisterte der faschistische »Psychopath« – ein Terminus, der in der heutigen Psychologie aufgrund seiner begrifflichen Unschärfe nicht mehr gebraucht wird – weiterhin durch psychohistorische Auseinandersetzungen

47 Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1967, S. 12. 48 Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und »ganz gewöhnlichen« Deutschen, S. 17. 49 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Berlin 1947, S. 316. 50 Ebd., S. 364. 51 Ebd., S. 367. 52 Ebd., S. 358.

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über den Nationalsozialismus. 53 Maßgebend waren insbesondere die HitlerPsychogramme. Schon 1943 hatten vier Psychologen unter der Leitung Walter C. Langers im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes OSS ein psychopathologisches Profil Hitlers entworfen, welches zu Beginn der 1970er Jahre mit einem neugeschriebenen Vorwort veröffentlicht wurde. Dabei wurden die diagnostischen Begriffe aktualisiert: Während Hitler 1943 noch als hysterische und schizophrene Person eingeschätzt wurde, sah man in den 1970er Jahren in ihm einen Paranoiker oder neurotischen Psychopathen oder attestierte ihm ein paranoides Borderline-Syndrom. 54 Die psychoanalytischen Erzählmuster und die Ausdeutung von Hitlers Kindheit changierten dabei wie die medikalisierenden Zuschreibungen. Prägende traumatische Erfahrung wurden zunächst im Anschluss an Freud in einem ödipalen Grundkonflikt und einer problematischen Mutter-Kind-Beziehung gesehen. So wurden als einschneidende Erlebnisse etwa die Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der Eltern durch den jungen Adolf (Walter C. Langer), oder aber die ausgedehnte Stillzeit (Binion) angesehen. 55 Alice Miller sah dann weniger in der Mutter, sondern in dem repressiven und gewaltsamen Vater den entscheidenden Punkt für die Ausbildung von Hitlers Destruktivität. Damit betrieb Miller gleichzeitig eine verstärkte Pädagogisierung des psychohistorischen Ansatzes, der den späteren Werdegang Hitlers auf eine »schwarze Pädagogik« in seiner Jugendzeit zurückführte. 56 Die Psychohistorie pathologisiert und medikalisiert den historischen Diskurs, und damit bleibt ihre historische Diagnostik äußerst ambivalent: Ihrer Forschungslogik entspricht es, das Monströse, Kreatürliche und Ungeheure des späten Hitlers zu hypostasieren, um in einem zweiten Schritt aus dem Monster wieder einen Menschen zu machen, dessen Biographie und frühe Kindheit vor dem Hintergrund ödipaler und familiärer Grundkonflikte als Erklärungsansatz dafür angeboten wird, wie ein Mensch zum Ungeheuer werden kann. 57 Dabei haben diese psychohistorischen Narrative eine evidente

53 Im Folgenden beziehe ich mich insbesondere auf: José Brunner, Humanizing Hitler. Psychohistory and the Making of a Monster, in: Moshe Zuckermann (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse (=Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte; Bd. 32), Göttingen 2004, S. 148-172. 54 Walter C. Langer, A Psychopathical Analysis of Adolph [sic!] Hitler: His Life and Legend, Washington 1943. Ders., The Mind of Adolf Hitler: The Secret War Time Report, New York 1972. Robert G. L. Waite, The Psychopathic God Adolph [sic!] Hitler, New York 1977. Norbert Bromberg/Vera V. Small, Hitler’s Psychopathology, New York 1983. Edleff H. Schwaab, Hitler’s Mind. A Plunge into Madness, New York 1992. Fredrick Carl Redlich, Hitler: Diagnosis of a Destructive Prophet, Oxford 1998. 55 Rudolph Binion, Hitler Among the Germans, New York 1976. 56 Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/M. 1980. 57 Vgl. Brunner, Humanizing Hitler, insb. S. 171f. Brunner betont, dass die psychoanalytischen Narrative über Hitler weitgehend auf abduktiven Spekulationen beruhen. Im Gegensatz zur Diabolosierung im Diskurs über die NSTäter »humanisieren« psychohistorische Narrative gleichwohl die Subjekte ihrer Forschungen.

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Ähnlichkeit zu detektivischen Erzählungen 58, denn sie sehen dort Hinweise, wo insbesondere Historiker einer unsicheren Quellenlage gegenüber stehen und deshalb einer erweiterten Bedeutung der dokumentarischen Spuren nicht nachgehen wollen. Während für traditionelle Historiker die Berichte über Hitlers Erziehung und Jugend – wenige Passagen aus Mein Kampf oder aber aus den von Hermann Rauschning aufgezeichneten »Tischgesprächen« – einer historisch-kritischen Quellenkritik kaum standhalten, sind sie für den psychoanalytischen Diskurs Grundlage von abduktiven Schlüssen, die vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theorien und Praxen Bedeutung erlangen. 59 Psychohistorische Ansätze sind erklärende Narrative, welche aus den wenigen bekannten Daten aus dem frühen Leben Hitlers eine »wissenschaftlich« lesbare Biographie herstellen und somit der Genese der Person einen Sinn zuschreiben. Eine der wesentlichen Differenzen von historischen und psychohistorischen Interpretationen besteht dann darin, dass die Historiographie die Undurchschaubarkeit des Phänomens Hitler stilisiert, während die Psychoanalyse die Hybris besitzt, zu behaupten, sie besäße die richtige Methode, um ein schlüssiges Hitlerbild zu entwerfen. Traditionelle historiographische Biographien basieren so auf klassischen Erzählmustern vom »Aufstieg und Fall« – welche gewisserweise nur eine Umkehrung des nationalsozialistischen Herrschaftsmythos vom »Gefreiten zum Führer« ist. Oder aber sie arbeiten sich an einer vermeintlichen »historischen Größe« ab, wie dies Joachim Fest in seiner Hitlerbiographie gemacht hat, oder versuchen wie Ian Kershaw das biographische Genre sozialhistorisch zu erweitern. 60 Einen Teil seiner Monstrosität erhält Hitler jedoch auch in der traditionellen Historiographie dadurch, dass er keine traditionelle Herrscherbiographie vorweisen kann, also keine Genealogie besitzt, die ihn für seine Führungsposition prädestinierte. Neben der Individualisierung des Faschismus durch die Psychohistorie, die mit der Fokussierung auf den NS-Führer das Deutungsmuster vom »Hitlerismus« stützte, nahmen sozialpsychologische Erklärungsansätze – von Wilhelm Reich über Theodor W. Adorno bis Erich Fromm – über Hitler hinaus die deutsche Gesellschaft in den Blick. 61 Erich Fromm – von den genannten Autoren gewiss derjenige, dessen Ausführungen am stärksten pathologisieren – konstruierte dabei einen Zusammenhang von »Nekrophilie« und Faschismus, während er im Zusammenhang mit Hitler von psychotischen und schizophrenen Charakterzügen und einer sexuellen Perversion sprach. Hinter diesen Begriffen – vom Psychopathen bis zur Nekrophilie – standen entweder modifizierte psychoanalytische Theorien, die ihre Bestätigung im historischen Material finden sollten, oder aber es waren am historischen Material gewonnene psychoanalytische Neuschöpfungen. Die psychoanalyti58 Haubl/Mertens, Der Psychoanalytiker als Detektiv, insb. S. 7-42. Brunner, Humanizing Hitler, S. 149. 59 Brunner, Humanizing Hitler, S. 168f. 60 Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, München 1973. Ian Kershaw, Hitler, 2 Bde., Stuttgart 1998/2000. 61 Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus [1933], Frankfurt/M. 1977. Theodor W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality. Studies in Prejudice, New York 1950. Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität [1973], Hamburg 1979.

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schen Deutungen waren also nicht nur Versuche, der Persönlichkeit Hitlers auf die Spur zu kommen, sondern entsprachen auch einer innerwissenschaftlichen Logik des psychoanalytischen Diskurses, in dem neue psychoanalytische Begriffe durch eine Analyse Hitlers als historischem Spezialfall menschlicher Destruktivität durchgesetzt werden sollten. Von einer auf ödipale Kategorien beschränkten psychoanalytischen Faschismustheorie – und auch von Hitler als psychoanalytischem Forschungsobjekt – verabschiedete sich Klaus Theweleit in seinem rhizomatischen TextBild-Labor Männerphantasien (1977), in dem er den Vorstellungen und kulturellen Repräsentationen von männlichen und weiblichen Körpern im Diskurs des weißen Terrors bzw. der Soldaten der Freikorps nachging. 62 Dabei bindet Theweleit seine Ausführungen an Institutionen (Militär) und Gesellschaftsformen (Wilhelminismus/Faschismus) an und zeigt, wie durch Drill den männlichen Körpern die Lust an der Gewalt eingeschrieben wird. Zentraler Punkt seiner Ausführungen ist dabei die sexuell aufgeladene Gewalt, wie sie in den Selbstrepräsentationen des soldatischen Mannes und im Handeln von Männerbünden zum Ausdruck kommt. In diesen soldatischen Männern sieht Theweleit im Anschluss an die Kinderpsychologin Margaret Mahler »Nicht-zu-Ende-Geborene« bzw. »psychotische« »Symbiotiker«. Diesen »Nicht-zu-Ende-Geborenen sei es nicht gelungen, im frühkindlichen Stadium eine »lustvolle Besetzung ihrer Peripherie« bis zu dem sicheren Gefühl zu erlangen, ein von der Mutter geschiedenes Selbst zu sein, ohne dabei eine »Wiederverschlingungsangst oder Wiederverschlingungssehnsucht« zu verspüren. Bei den soldatischen Männern, so Theweleit, wäre es zu einer gestörten Individuation innerhalb der ersten zweieinhalb Lebensjahre gekommen, und zwar durch »die Eindämmung und Negativisierung ihrer Körperflüsse, durch den Zugriff strenger, harter Hände, die die Lustempfindungen aus der Haut vertrieben, durch schmerzhafte Eingriffe körperlicher Strafen aber möglicherweise auch durch gelegentlich oder andauernde ›verschlingende‹ Emotionalität mütterlicherseits, die das Kind mit unverarbeitbaren intensiven Reizen ›überschwemmt‹, vor denen es ebenso nach ›innen‹ flüchten kann wie vor dem Schmerz«. 63 Den soldatisch-faschistischen Mann umgibt nach Theweleit ein »Körperpanzer«, der eine Kontrolle der Affekte des als fragmentiert wahrgenommenen eigenen Körpers ermöglichen soll. Dabei hat Theweleit drei sogenannte »Wahrnehmungsidentitäten« festgestellt, die wiederholt in den Repräsentationen des soldatischen Mannes auftauchen: erstens das Muster der Entlebendigung im vom (revolutionären) Gewimmel befreiten »entleerten Platz« 64, zweitens das Muster des Herausdifferenzierens aus einem »blutigen Brei«. Beide Wahrnehmungsmuster zielen darauf ab, »etwas zu beseitigen oder zunichte zu machen und eben darin das Überleben zu finden«, und beiden ist eine Abwehrreaktion gegen weiblich konnotierte »Fluten« und »Ströme« eingeschrieben, die die Vermischungszustände zwischen männlichem Subjekt und Objekten an den Körperrändern deutlich machen. Drittens findet sich das Wahrnehmungsmuster des »Blackouts«, welches mehr »ein Erlö62 Klaus Theweleit, Männerphantasien [1977], 2 Bde., 2. Aufl., München 1995. Zum Folgenden insb.: Bd. 2, S. 206-265. 63 Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2, S. 212. 64 Vgl. auch Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960.

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sungs- als ein Erhaltungsmechanismus« ist: Der »Blackout« ist die rauschhafte Wahrnehmung vom »Ende der Qual, ein Mensch zu sein, der das Fließen der Lust nicht verspürt, der aber um jeden Preis will, das etwas verschmilzt«. Dabei sei das Objekt des »Liebesrasens« nicht ein/eine Andere/r, sondern es werde im eigenen Leib und »Muskelpanzer« aufgesucht. Als zentrale »Körperaktionen« des »Blackouts« fasst Theweleit Folgendes zusammen: »rasen, höchste Geschwindigkeit erreichen, Überdrehen, Eindringen (sich und den anderen zum ›Platzen‹ bringen)«. 65 Alle drei Wahrnehmungsidentitäten seien Erhaltungsvorgänge, die im strengen Sinn »nicht nach dem Lustprinzip« funktionieren und in denen die Sexualtriebe unter die Selbsterhaltungstriebe subsumiert werden würden. 66 In den Männerphantasien findet sich folgerichtig ein Kapitel über den »Lustmord« der soldatischen Männer, deren Angst vor der erotischen Frau in Gewalt umgesetzt wird, bis das Opfer als »blutiger Brei« wahrgenommen wird: Die erotische Frau ist in den Vorstellungswelten der soldatischen Männer eine vulgäre, gefühllose, angreifende, kastrierende Frau, Hure, Jüdin und Kommunistin. Dagegen steht das Bild der »weißen Frau«, verkörpert als reine Mutter und Schwester, die bedroht ist von der Vergewaltigung durch »Rote«. Dabei werde – so Theweleit – der »Terror gegen die Frau, die nicht mit dem Mutter/Schwesternbild identifiziert ist« als »Notwehr« verstanden. 67 Nach der Analyse des »Lustmordes« in den Dokumentarfiktionen des weißen Terrors – insbesondere in Erich Ballas Landsknechte wie wir. Abenteuer aus dem Baltikum (1932) – kommt Theweleit zu der Feststellung, dass der soldatische Mann beim Töten »intensiv abwesend« ist, während die Taten der Anderen (des Rotarmisten, Polen oder Letten) »bewusst und sadistisch« durchgeführt werden. Der Tötungsakt des soldatischen Mannes sei vergleichsweise steril, während sich erst in der Betrachtung der Toten die Sterilität im blutigen Brei auflöse: »Das Opfer verlor als ›blutige Masse‹ seine Grenzen und seinen Objektcharakter. Das Gleiche geschieht hier dem wahrnehmenden Subjekt. Es befindet sich ebenfalls in einer Art Auflösung. Dieser Vorgang, in der der Tötende wie sein Opfer ihre Grenzen verlieren und eine Verbindung eingehen, in der eine halluzinatorische Wahrnehmung vorherrscht, die den Mann in einen Trancezustand versetzt, scheint das wirkliche Ziel der Angriffe zu sein.« 68

65 Theweleit, Männerphantasien, S. 274. 66 Klaus Theweleit, Nationalsozialismus – Männerphantasien und Männerhandeln, in: Macht und Gesellschaft. Männer und Frauen in der NS-Zeit. Eine Perspektive für ein künftiges NS-Dokumentationszentrum in München. Tagungsband 18. u. 19. Juni 2004, url: www.ns-dokumentationszentrummuenchen.de, 21. 2. 2007. Theweleit verweist in einer neueren Studie darauf, dass sich »industrielles« Massenmorden und die Lust am Töten bzw. das »inszenierte Einzelvergnügen« nicht ausschließen müssen: Klaus Theweleit, Deutschlandfilme. Godard, Hitchcock, Pasolini. Filmdenken & Gewalt, Frankfurt/M. 2003, S. 224-229. Das Argument richtet sich gegen Daniel Goldhagens Argumentation in Hitlers willige Vollstrecker. Vgl. dazu Kapitel IV, 4.2. u. 4.3. 67 Theweleit, Männerphantasien, S. 188. 68 Ebd., S. 209.

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Die psychohistorischen Deutungsangebote nationalsozialistischer Gewalteruption überschneiden sich so in reziproker Ergänzung mit den populären Repräsentationen des »NS-Triebtäters«, ohne dabei die feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen imaginierten Frauenbildern, die etwa Theweleit über seine eindringliche Beschreibungskraft hinaus herausgearbeitet hat, zu erkennen. Dabei blieb dieses Narrativ als deutendes Sinnmuster des Unsagbaren nicht auf die Populärkultur beschränkt: Eine künstlerische Umsetzung erhielt sie etwa im Haarmann-Zyklus des österreichischen Künstlers Alfred Hrdliþka, für den der Wiederholungstäter Friedrich Haarmann nicht nur ein »ordnungsliebender Polizeispitzel«, sondern auch ein »Wetterleuchten für den staatlich organisierten Massenmord« 69 anzeigte und »Prophet des nationalsozialistischen Massenmordes« war: »Der Nationalsozialismus bestand aus unendlich vielen solcher Haarmanns.« 70 Die kriminalliterarischen Fiktionen deuten dies aus, wenn in ihnen die Bestien der soldatischen Männer geweckt und sie auf die Blutspur gesetzt werden, um in einer sexuell aufgeladenen Mordraserei Körper blutig zu zermetzeln. 71 Dass die Serienmörderfiktion nicht nur auf faschistische Mörder übertragbar ist, bewies 1995 der tschechische Dramatiker und Schriftsteller Pavel Kohout mit Sternstunde der Mörder. 72 Zentrales Thema dieses als auch seines Romans Die lange Welle hinterm Kiel (2000) sind die Verbrechen von Deutschen an Tschechen und Tschechen an Deutschen, die während der Besatzungszeit, des Prager Aufstands und nach der Kapitulation der Deutschen begangen wurden. Kohouts Roman arbeitet mit dem Erfolgsmuster der Verknüpfung von Aufklärungs-, Triebtäter- und Liebesgeschichte von Hans Hellmut Kirst: Sternstunde der Mörder führt in die Endzeit der deutschen Besatzung nach Prag in die Monate Februar bis Mai 1945. Ein tschechischer Hauptkommissar und sein Assistent haben einen neuen Mordfall zu bearbeiten: Eine deutsche Generalswitwe ist – derart zeigt es uns der Autor – »ausgeweidet« worden. Die Indizien sprechen für einen Tschechen als Täter. Von der deutschen Administration wird den tschechischen Kriminalbeamten der Oberkriminalrat Buback von der Gestapo zugewiesen. 69 Alfred Hrdliýka, Zu Haarmann, in: Ders./Walter Schurian, Von Robespierre zu Hitler. Die Pervertierung der Revolution seit 1789, Hamburg 1988, S. 24f. 70 Hans-Dieter Schütt, Stein des Anstoßes. Gespräche mit Alfred Hrdliýka, Berlin 1997, 125f. Vgl. dazu Brückweh, Mordlust, S. 376-419, die jedoch die erinnerungspolitische Dimension des öffentlichen Streits um den Haarmann-Zyklus von Hrdliýka weitgehend unberücksichtigt lässt. 71 Vgl. Theweleit, Männerphantasien, S. 192. 72 Pavel Kohout, Sternstunde der Mörder, Berlin: Knaus 1995. Der 1928 in Prag geborene Kohout wurde als einer der Wortführer des »Prager Frühlings« 1969 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Gemeinsam mit dem späteren Staatspräsidenten Vàclav Havel verfasste er 1977 das Gründungsdokument der »Charta 77«. Daraufhin wurde er mit einem Publikationsverbot belegt und 1979 ausgebürgert. Seit 1980 österreichischer Staatsbürger, engagierte sich für eine Aussöhnung von Tschechen, Deutschen und Österreichern, wofür er 2002 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik erhielt.

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Dieser bekommt einen merkwürdigen Lebenslauf angedichtet: Er kommt aus der Reichskriminalpolizei, um nach der Neustrukturierung des Reichssicherheitshauptamtes jedoch bei der Geheimen Staatspolizei zu landen. Auch in diesem Roman fehlt es nicht an der Bemerkung, dass unter den Nazis »Fachleute« bei der Kriminalpolizei arbeiteten, zu denen Buback gehört. [Vgl. SM 82; 94] Auch ansonsten wird der Leser mit einem allzu plausiblen und beschönigenden Lebenslauf konfrontiert, der aus einem Gestapo-Angehörigen einen Sympathieträger, aus einem prinzipiellen Täter ein Opfer der Umstände macht. Buback ist zunächst begeisterter Anhänger Hitlers, bis ihm mit dem Angriff auf die Sowjetunion erste Zweifel kommen, da seine ehemalige Frau auf den Irrwitz des Krieges aufmerksam macht und in Frage stellt, »ob sich der Führer seinem Volk nicht schon längst entfremdet habe.« [SM 84] Buback wird sich also mit den tschechischen Kriminalisten befreunden, die die Suche nach dem Täter vereint. Im zu Beginn verwirrenden Stimmengewirr und Perspektivwechsel des Romans soll die Zerstückelung des deutsch-tschechischen Verhältnisses im 20. Jahrhundert wiedererkannt werden, die der Serienmörder mit der Zerstückelung seiner Opfer dann symbolisch repräsentieren wird. Garant dafür, dass es dennoch zu einem gegenseitigen Verstehen kommen kann, ist der Prager Deutsche und Gestapomann Buback. Sternstunde der Mörder will ein deutsch-tschechischer Versöhnungsroman sein, der beiden Leserschaften ein Mitfühlen und Mitleiden am jeweilig anderen Leid ermöglichen soll. Dies gelingt Kohout vor allem durch seine beiden Helden, ihre Liebesgeschichten und ihre persönlichen Tragödien: Der sympathische Buback liebt eine laszive Deutsche, die die Endzeit des Großdeutschen Reichs verkörpert – er wird in einer melodramatischen Szene dem Frauenmörder zum Opfer fallen, während seine Geliebte den Täter umbringt. Der tschechische Kriminalassistent Morava wird überleben, bezahlt aber dafür mit dem Verlust seiner Geliebten und dem gemeinsam erwarteten Kind, die von dem Frauenschlächter umgebracht werden. Ebenso wie die tschechischen und deutschen Kriminalisten bekommt der Serienmörder eine eigene Stimme zugewiesen. Dies stellt im Vergleich zu vorangegangenen Darstellungen eines »NS-Serienmörders« eine neue Perspektive dar, bildete sich das Täterprofil doch zuvor vor allem aus den kriminalistischen und kriminologischen Zuschreibungen aus. Durch diese neue Darstellungsoption wird nun der Einblick in die Psyche des Täters geschärft. Seinen ersten Mord – die »Lust am Töten« und seine »Lust aufs Schießen« [SM 294] hatte er schon zuvor gewonnen, indem er als Gefreiter die Südslowakei von den Magyaren »säuberte« [SM 255; 472] 73 – begeht der Triebtäter, der den sprechenden Namen »Rypl« trägt (also an Jack the Ripper bzw. einen »Rüpel« erinnert), im März 1939 kurz nach dem Einmarsch deutscher Truppen und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren in Brünn. Als das Dritte Reich »auf dem Rücken wie ein Käfer« liegt, kommt es bei Rypl zu einer Eruption der Gewaltlust und zu einer Stimmung der »Unzurechnungsfähigkeit« [SM 438], in der sich die »Leichtigkeit des Tötens zeig73 Der wiederholt vorgebrachte Vergleich zwischen den Exzesstaten der Deutschen und dem »Ausrotten« der Magyaren ist ein wesentliches Moment des Relativierungsversuches, den dieser Roman unternimmt.

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te« und »alle Hemmungen verloren« gehen. [SM 410] Beruhigende Befriedigung erfährt Rypl allein bei der Tötung von Witwen durch wahnwitziges Zustechen, um dann einem zwanghaften, waidmännischen Ritual zu huldigen, indem er den Opfern ihre Herzen entnimmt. Während des Prager Aufstandes, als es zu Gewaltexzessen von Deutschen und Tschechen kommt, ist Rypl »wieder wer«, kann sich »öffentlich zeigen« und entwickelt ein »völlig neues Ich«. [SM 335; 410] Rypl wird zum Führer einer Bande von Rachsüchtigen, die Deutsche brutal massakrieren: Ein »Eldorado, wo allein die Massenpsychose, wie er sie gerade erlebt hatte, Gewalttäter, die die primitivsten Vorstellungen von Rache erfüllten, von vorneherein guthieß«. [SM 440] Kurz nach einer Mehrfachvergewaltigungsszene durch seine Mitstreiter – er beteiligt sich nicht, sondern wird das Opfer am Ende der Tat an ihren Brüsten aufschlitzen – begreift er sich als »Nation« [SM 391] und »geborener Führer«. [SM 464] Die Projektionen Rypls werden dabei vom Autor durch Kapitälchen stilistisch hervorgehoben: Worte wie »Vernichten«, »Sendung« und »Züchtigung« schlagen dem Leser großgeschrieben entgegen. [SM 30] Er hat Missionsgedanken [SM 293], Straf-, Reinigungs- und Machtphantasien [SM 115], und die Vision, »gegen den Sittenverfall anzutreten. […] Bis ich sie alle ausrotte!« [SM 178] Als Rypl erkennt, dass den tschechischen Tätern die »Germanen sind, was mir die Huren«, werden für ihn die Deutschen zu »Otterngezücht« 74, die es zu verbrennen gilt. [Vgl. SM 271; 472] So quillt aus dem von Hass aufgestauten Denken des Frauenritzers die Sprache eines neutestamentlichen Judenhasses, des Antisemitismus und Rassismus, und die Sprache Hitlers. Dass er dabei wiederholt mit seiner verstorbenen Mutter wie mit einer Engelsfigur in enger Zwiesprache steht [vgl. SM 293; 324ff], deutet ein Erklärungsmuster an, welches die Gewalteruptionen wenn nicht auf ödipale Grundkonflikte, so doch auf ein gestörtes Mutter-Kind-Verhältnis zurückführen will. 75 Dass der Schlitzer Rypl mit seinen Zerstückelungen weiblicher Körper nichts anderes repräsentieren soll als das Denken und die mörderische Praxis Hitlers, erfassen die Ermittler schnell, wenn darüber sinniert wird, ob »die weltweiten Blutbäder dem Führer der Deutschen, der sie entfesselte, eine ähnliche perverse Befriedigung wie dem unbekannten Mörder die Frauenschlächterei« verschaffen würde. [SM 85] Dieser »ungeheuerliche Gedanke« – so reflektiert Buback – würde Hitler in »eine Reihe mit den Schwerstverbrechern« stellen: »Adolf Hitler war das Willensprodukt einer aus den Fugen geratenen Nation, schrecklich, doch erklärbar und demzufolge besiegbar. Der unbekannte Mörder zog das dün-

74 Dabei handelt es sich um ein traditionelles antisemitisches Vokabular, welches von Luther bis Hitler u. a. aufgegriffen wurde. Vgl. Mat. 3,7 und 23,33. 75 Auch die Ermittler erkennen bald, dass der Mörder ein Ritual abhält, in der Überzeugung, »in höherem Interesse zu handeln«. Der Mörder verstehe sich als das »Rachewerkzeug seiner Mutter«, die es als »arme Näherin« nicht geschafft habe, ihm Selbstwertgefühl einzuimpfen. Er sei unfähig, sich von seiner Mutter zu lösen und glaube aus »dunklen Trieben« heraus, »die Welt von einem Unkraut zu befreien«. [SM 276]

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker ne Häutchen der Zivilisation von der Menschheit ab und schleppte sie in eine bestialische Urzeit zurück.« [SM 190]

Die Exzesstaten werden individualpsychologisch als auch mentalitätsgeschichtlich erklärt, indem sie auf ein gestörtes Mutterverhältnis und eine gestörte Libido, als auch auf einen durch die militärische Erziehung hervorgerufenen autoritären Charakter zurückgeführt werden, der sich in der Kriegssituation zu bewähren hat. Mordlust wird als sexuelle Ersatzhandlung aufgefasst, die hier auf eine gesellschaftliche Umgebung trifft, die das Morden fordert und in der Dynamik der Ereignisse gegen Ende des Krieges nach jahrelanger Unterdrückung zu tschechischen Racheexzessen führt. Die Figur des Frauenmörders nimmt damit sowohl eine individualisierende Verallgemeinerung der Exzesse als auch eine Exklusion der Exzesse vor, indem sie die deutschen und tschechischen Verbrechen auf eine Figur überträgt, die als anormale und perverse Bestie geschildert wird. Als Projektionsfläche dient sie der Verarbeitung der Verbrechen, an sie können die Erinnerungen an die Verbrechen herangetragen werden. So wird die Serienmörderfiktion von Kohout explizit als Verarbeitungs- und Läuterungsinstanz gewählt: »Er ist auserwählt, um zu läutern.« [SM 16] Am Ende des Romans wird der grausame Frauenmörder und Schlächter von Deutschen, der von den Pragern bis auf wenige Ausnahmen breite Ablehnung erfährt, zum Mörder von Buback, den er an einer Straßenlaterne mit den Füßen nach oben aufknüpft und anzündet. Solchem Bösen entkommt man nur durch wahren Exorzismus. Während der Serienmörder seinen weiblichen Opfern das Herz entnahm, muss er nun durch die Geliebte des Helden getötet werden. Das blutige Szenario endet mit einer symbolischen, im Feuer verschmelzenden Umarmung des Gestapomanns und des Frauenschlächters. [SM 474] Umgesetzt wird hier, was Theweleit als den Zustand des »Blackouts« im Tötungsrausch charakterisiert hat. 76 Dabei zeigt die literarische Ausgestaltung der Gewalt eine Veränderung im populären Diskurs über Gewaltverbrechen, insbesondere über Serienmörder an. Die Gewaltdarstellung wird nun direkter für den Leser erfahrbar, indem sie auf wiederholte Schock-

76 Vgl. Theweleit, Nationalsozialismus – Männerphantasien und Männerhandeln, o. S.: »Gesucht wird die Wahrnehmung des Verschmelzens vom eigenen Innen und Außen, von Organphysis und Muskelphysis. Ein äußeres Objekt kann sie finden im Feind, wenn er von gleichem Bau ist, das eigene Ebenbild, wie Ernst Jünger sagt. Wenn die ›Verkörperung des eigenen Willens zweier Völker aufeinanderprallt‹, Mann und Mann sich bewaffnet gegenüberstehen, dann ist die Utopie, dass Liebhaber und Geliebter sich treffen, am nächsten und am fernsten zugleich. Sie treffen sich unter dem Tötungsgebot, fließen wird nur der Getötete, sein Leib wird durchbohrt zum Zeichen dafür, dass der Töter aus sich ausbricht. Die Selbstverschmelzung vollzieht sich als Verschmelzung mit dem Blut dessen, der ist wie man selbst. Der Blackout im Rausch ist Wahrnehmung vom Ende der Qual, ein Mensch zu sein, der das Fließen der Lust nicht mehr verspürt, der aber um jeden Preis will, dass etwas verschmilzt. Es ist mehr ein Erlösungs- als ein Erhaltungsmechanismus.«

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momente ausgerichtet wird und die rituellen Zwangshandlung detailliert dargestellt werden. 77 Kritisch betrachtet muss Kohouts Roman in der Verknüpfung von scheiternden Liebesbeziehungen und das Töten in Zeiten des Faschismus als ein Höhepunkt der Verkitschung angesehen werden. 78 So versteht er es, eine durchweg pathetisch wirkende Empathie mit den beiderseitigen Opfern herzustellen und eine kathartische Wirkung zu erzielen, die in der Erinnerung an die historischen Verbrechen Freiraum für Zukunft schaffen soll. Obwohl der Roman keine Zweifel daran lässt, dass der Nationalsozialismus die Gewalt entfesselt hat, verschleiert die Entlastungsfigur eines tschechischen Serienmörders ebenso wie die zwiespältige Identifikationsfigur des GestapoErmittlers dies. So erscheint das ungeschilderte tschechisch-deutsche Verhältnis vor dem Krieg nachträglich als ein Idyll, in welches der Nationalsozialismus gleichsam aus dem Nichts – wie ein Serienmörder, den mit seinen Opfern anscheinend nichts verbindet – einfällt. Der Roman fiel bei seinem Erscheinen 1995 in die Debatte um die Entschädigung Vertriebener aus Tschechien und formulierte den Wunsch, dass jede Aufrechnung der Schuld fehlschlagen muss. Kohout setzte sich auch außerhalb seines literarischen Werkes dafür ein, das begangene Unrecht von Tschechen am Ende der deutschen Okkupation anzuerkennen. Ebenso griff er jedoch auch das fehlende Aufklärungsengagement insbesondere der Sudetendeutschen Landsmannschaften und ihrer Unterstützer in der bundesdeutschen Politik an. 79 Kohout kann mit seinem Roman als ein Wegbereiter der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 gelten. Darin bekannten sich die beiden Staaten dazu, dass man sich der beiderseitigen »tragischen Kapitel« der Geschichte bewusst sei, doch gehöre das »begangene Unrecht der Vergangenheit« an, weshalb die Beziehungen »nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belastet werden« dürften. 80 Mit der Projektion der vergangenen Verbrechen auf einen außenstehenden und radikal andersartigen Serienmörder, versucht dieser tschechischdeutsche Roman, einen pragmatischen Freiraum für die Entwicklung eines 77 Bei den NS-Krimis gilt dies etwa für die Romane von: Thierry Jonquet, Les Orpailleurs (=Série Noire 2313), Paris: Gallimard 1993. [dt.: Die Goldgräber] Eliette Abécassis, L’Or et la Cendre, Paris: Éd. Ramsey 1997. [dt.: Asche und Gold] Marek Krajewski, Mord in Breslau, München: btb 1999. Cara Black, Murder in the Marais. An Aimée Leduc Investigation, New York: Soho Press 1999. Und wie oben gezeigt gibt es auch bei Philip Kerr in Berlin Noir einen Fall, der mit dem Ritualmordstereotyp spielt. 78 Vgl. Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, erw. Neuausgabe, Frankfurt/M. 1999. Auch Kapitel IV, 4.1. 79 »Ich will das alles nicht so ernst sehen«. Die Benesch-Dekrete und das deutsch-tschechische Verhältnis: Pavel Kohout im WELT-Interview, in: Die Welt (online), 15. März 2002. 80 Vgl. Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung vom 21.1.1997, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 24. Januar 1997, Nr. 7, S. 61f. Freilich blieb trotz der Deklaration die deutsch-tschechische Vergangenheit ein Ort der historischen Auseinandersetzung, wie die erneute Diskussion um die Beneš-Dekrete von 2001/2002 zeigte.

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besseren zwischenstaatlichen Verhältnisses zu schaffen. Doch der mit dem letztlich schiefen Vergleich zusammenhängenden Problematik einer Relativierung der deutschen Verbrechen entkommt dieser polyperspektivische Roman nicht. Gesellschaftliche Psychopathologien II: Horst Bosetzky

Der lange Zeit unter dem Pseudonym -ky schreibende Soziologieprofessor Horst Bosetzky darf als einer der erfolgreichsten deutschen Krimi-Autoren angesehen werden. Während seines Studiums schrieb der 1938 geborene Bosetzky zunächst Heftromane, zu Beginn der 1970er Jahre wurde er zum Mitbegründer des »Sozio-Krimis« bzw. »neuen deutschen Kriminalromans«. Mit gesellschaftskritischen Kriminalromanen wie Zu einem Mord gehören zwei (1971), Stör die feinen Leute nicht (1973) und Es reicht doch, wenn einer stirbt (1975), die in der fiktiven Kleinstadt Bramme spielen, schaffte er seinen Durchbruch als Krimiautor. 81 Eingebettet ist das Verbrechen bei Bosetzky in eine soziologisch zu analysierende Gesellschaft. Dabei geht es ihm nicht nur um die Aufdeckung des Verbrechens, sondern immer auch um Macht-, Unterdrückungs- und Abhängigkeitsmechanismen und Folgeerscheinungen von Verbrechen. In seinen späteren Romanen bemüht er sich stärker um die Motivierung der Tat, die er sowohl psychologisch verständlich erscheinen lässt, als auch als sozialpathologisches Symptom einer krankenden Gesellschaft deutet. 82 Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus spielte in Bosetzkys Kriminalromanen bis zu Wie ein Tier. Der S-Bahn-Mörder (1995) keine tragende Rolle. Dieser »dokumentarische Roman« erzählt den aktenkundigen Fall des Sexualmörders Paul Orgorzow, der 1940 mehrere Frauen tötete und ein Jahr später in der Strafanstalt Plötzensee hingerichtet wurde. Der eigentümliche Dokumentarismus des Romans wird durch verschiedene literarische Strategien erzeugt, insbesondere jedoch durch eine Adaption der ersten literarischen Bearbeitung des Falles, die ein gewisser Axel Alt unter dem Titel Der

81 Später kamen historische Berlin-Romane hinzu, die in der Nachkriegszeit und den fünfziger Jahren spielen. Seine Affinität zu historischen Erzählungen zeigt sich auch in Der letzte Askanier (1997). 82 Vgl. Peter Nusser, Kritik des neuen deutschen Kriminalromans, in: Karl Ermert/Wolfgang Gast (Hg.), Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres (=Loccumer Kolloquien; Bd. 5), Rehburg-Loccum 1985, S. 19-32. Die Umsetzung der Gesellschaftskritik durch Bosetzky, aber auch des »neuen deutschen Kriminalromans« insgesamt – ist wiederholt kritisiert worden. In Bezug auf die Bramme-Romane von Bosetzky werfen ihm Becker und Buchloh eine »eskapistische Tendenz« vor, die bei allem Realismus keinem weh tun wolle und das Verbrechen an einem Phantasieort ansiedelt: Jens Peter Becker/Paul Gerhard Buchloh, Ist der Kriminalroman im traditionellen englischen Sinn in Deutschland möglich?, in: Ermert/Gast (Hg.), Der neue deutsche Kriminalroman, S. 50-57; hier S. 56. Das vernichtende Fazit von Becker und Buchloh, dass der Balanceakt zwischen Sozialkritik und Krimihandlung nicht gelinge, da beide »nicht kompetent genug behandelt« würden, ist mehr als überspitzt.

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Tod fuhr im Zug 1944 veröffentlichte. 83 Bosetzky benutzt diesen Roman, um »absolut authentisch zu sein und die Sprache wie den Geist der deutschen Kriminalpolizei der Jahre 1940/41 wiederzugeben«, »Fahndung, Festnahme und Vernehmung […] recht genau zu rekonstruieren«, wozu er »einige Passagen […] nahezu wörtlich« entnommen habe. [WT 323] Damit wird der ideologische Charakter der Vorlage jedoch nur angedeutet: Hinter dem Pseudonym Axel Alt verbarg sich der Geschäftsführer der Reichsschrifttumskammer Wilhelm Ihde, der neben diesem Kriminalroman vor allem durch ideologisch eindeutige populäre Werke zur europäischen Geschichte auffiel. 84 Sein Kriminalroman ist in seiner offensichtlichen propagandistischen Vehemenz wohl zu recht als maßgebliches Beispiel des nationalsozialistischen Kriminalromans bezeichnet worden. 85 In dem Roman, der 1944 in den Zeiten größter Papierknappheit in hoher Auflagezahl auf den Markt gebracht wurde, verbanden sich die Forderungen nach Unterhaltung, Dokumentarismus und nationalsozialistischer Weltanschauung durch nationalsozialistische Literaturexperten. 86 Die nationalsozialistische Kriminallite83 Axel Alt [d. i. Wilhelm Ihde], Der Tod fuhr im Zug. Den Akten der Kriminalpolizei nacherzählt (=Neuzeitliche Kriminalromane), Berlin-Grunewald u. Leipzig 1944. [Im Folgenden: TZ] 84 Siehe zu Wilhelm Ihdes Partei- und SS-Karriere: Jan Pieter Barbian, Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, überarb. und aktualisierte Ausgabe, München 1995, S. 207 u. 397. Ihdes populären Geschichtspamphlete lassen ihren Geist an ihren Titeln erkennen: Wilhelm Ihde, Niedergang im Aufbruch: Der Einbruch des Marxismus in Deutschland vor der nationalen Einigung 1871, Leipzig: Lühe 1939. Ders., Hie Preußen, Hie Menschenrechte! Eine leidenschaftliche Gegenüberstellung der europäischen Wohltat des preußischen Staates Friedrich d. Großen zum internationalen Vernichtungswillen der französischen Revolution, Leipzig: Lühe 1938. Ders., Mensch als Gott. Verirrungen des menschlichen Geistes. Dargestellt aus der Geschichte Britanniens, München: Eher 1940. Ders., Wegscheide 1789. Darstellung und Deutung eines Kreuzweges der europäischen Geschichte, Leipzig u. Berlin: Lühe 1940. Ders. (Hg.), Los von England. Der deutsche Abwehrkampf gegen Englands wirtschaftliche Weltmachtstellung in d. 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. List, Harkort, Borsig, Siemens. Leipzig u. Bern: Lühe 1940. Ders., Das preußische Prinzip, Berlin: Kyffhäuser 1941. Ders., Von Kunersdorf bis Torgau, Berlin: Steiniger 1942. Ders., Die Realpolitik des großen Preußenkönigs, Leipzig u. Berlin: Lühe 1943. 85 Walter T. Rix, Wesen und Wandel des Detektivromans im totalitären Staat, in: Paul G. Buchloh/Jens P. Becker (Hg.), Der Detektivroman. Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen Detektivliteratur, 2., überarb. u. erg. Aufl., Darmstadt 1978, S. 121-134. 86 Zur Kriminalliteratur im Nationalsozialismus und Propagierung eines neuen, nationalsozialistischen Kriminalromans, die seit 1940 umgesetzt wurde, vgl.: Carsten Würmann, Deutsche Kommissare ermitteln. Der Kriminalroman im »Dritten Reich«, in: Walter Delabar/Horst Denkler/Erhard Schütz (Hg.), Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus (=Zeitschrift für Germanistik, Beiheft 1), Bern 1999, S. 217-

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ratur wandte sich dabei gegen die »unechten« Darstellungen von Kriminalität in der englischsprachigen Kriminalliteratur, ohne dabei freilich auf eine literarische Ausgestaltung verzichten zu können. 87 Alts Roman ist, wie der Untertitel betont, »Den Akten der Kriminalpolizei nacherzählt«, doch wird auf den realen Fall – im Roman heißt der Frauenmörder nicht Ogorzow, sondern Omanzow – des Jahres 1940/41 weder im Vor- noch Nachwort hingewiesen. Seine ideologische Linientreue erlaubte es Alt, näher auf das nationalsozialistische Deutschland einzugehen als dies andere Kriminalromane der Zeit tun. Weder die Einwirkungen des Krieges – Sorge um Söhne und Männer im Krieg oder etwa die Verdunkelung Berlins, die als konstitutiver Faktor des Verbrechens gedeutet wird – noch zahlreiche NS-Institutionen bleiben unerwähnt. Alt will »den Sinn wecken für den Kampf gegen den Verbrecher und für die Menschen und ihre Einrichtungen, die von Berufs wegen diesen Kampf rücksichtlos [sic!] führen.« [TZ 6f.] Die Kriminalisten des Romans repräsentieren dabei den alten und den neuen Geist der Kriminalpolizei: Leiter der Ermittlungen ist Kommissar »Überfeld« – dessen Name ein Garant für den Weitblick der Berliner Kriminalpolizei darstellt und dessen Vorbild wohl der mythenumwobene Berliner Kriminalist Ernst Gennat ist. Demgegenüber verfahren die jüngeren Kollegen nach einem explizit kriminalbiologischen Ansatz, denn sie verstehen sich als »Ärzte am Volkskörper; was da faul ist, muß erbarmungslos herausgeschnitten werden.« [TZ 62] Alt will »bewusst auf jegliche Verniedlichung, Romantisierung oder andere Formen der Darstellung« verzichten, »die auf eine sogenannte ›Lockerung‹ des Themas abzielen könnten.« Daraus spricht eine emotionale Kälte, die verstärkt wird, indem sich der Autor an der »Psyche des Täters« schon vorab »nicht interessiert« zeigt.[TZ 7] Während ein biographisches und psy240. Joachim Linder, Feinde im Innern. Mehrfachtäter in deutschen Kriminalromanen der Jahre 1943/44 und der ›Mythos Serienkiller‹, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003), H. 2, S. 190-227. Ders., Polizei und Strafverfolgung in deutschen Kriminalromanen der dreißiger und vierziger Jahre, in: Michael Walter/Harald Kania/Hans-Jörg Albrecht (Hg.), Alltagsvorstellungen zur Kriminalität. Individuelle und gesellschaftliche Bedeutung von Kriminalitätsbildern für die Lebensgestaltung (=Kölner Schriften zur Kriminologie und Kriminalpolitik; Bd. 5), Münster 2004, S. 87-115. 87 Dies wird auch aus Alts Stellungnahme zum amerikanischen Krimi deutlich: »Es tritt in kleiner und noch ungewisser Form das auf, was wir in seiner massierten und aggressivsten Form von jenseits des großen Teiches, aus den Vereinigten Staaten kennen: die unbekümmerte Lust am Verbrechen […] Das hat in Deutschland keinen Platz! […] Jener bunte Reigen von Bobbyund Gunmennervosität aus USA. [sic!] und England sind phantasiereiche Darstellungen, wie sie uns in völlig unechten Romanen vorgesetzt worden sind und im günstigsten Falle nur in jenen ›glücklichen‹ Polizeistationen des Auslandes vorkommen, wo man täglich mit schwerbewaffneten Gangsterbanden zu tun hat. Umstände, wie sie in Deutschland erfreulicher Weise unbekannt sind; aber die deutsche Kriminalpolizei ist dank ihrer vorzüglichen Organisation und technischen Ausstattung seit dem Jahr 1933 jeder größeren Beanspruchung gewachsen.« [TZ 48f]

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chologisches Deutungsmuster von Kriminalität ausgeschieden wird, privilegiert Alt kriminalbiologische und »soziale« Deutungsmuster von Kriminalität, die mit konservativer Großstadtkritik und »Blut-und Boden-Ideologie« [vgl. TZ 220] verbunden wurden: 88 »Jedes Verbrechen ist eine asoziale Erscheinung, die von Menschen mit einer ganz bestimmten Umwelt begangen werden und nicht beziehungslos erdacht werden können. Jedes Verbrechen hat seine bestimmte soziale Voraussetzung und ist zugleich ein solches gegen die soziale Gemeinschaft. Es kann also in diesem Sinne nicht auf die Wirklichkeit verzichtet werden. […] Wobei wir unter dem Wort sozial nicht den abgegriffenen Inhalt von Tarifkämpfen und Ähnlichem verstehen, sondern alles Zusammenleben von Menschen.« [TZ 6]

Diese »soziale Dimension« ergibt sich also, sobald das Verbrechen als gemeinschaftszersetzende Tat ausgedeutet werden kann. Folgerichtig wird vom Kriminellen als einem »anormalen Schädling«, als einem »Scheusal in Menschengestalt« und als einem »asozialen Subjekt« gesprochen. [TZ 47; 219; 6] Ziel der Ermittlungen ist die »Befreiung von einem Volksfeind«, mit dem »kurzer Prozeß« gemacht wird. [TZ 119; 138] Der Täter wird zunächst zum Unmenschen aufgebaut, um ihn nach den erfolgreichen Ermittlungen der Polizei schrumpfen zu lassen, wenn er zum »feigen Burschen« erklärt wird, der es nur auf »kleinere Frauen abgesehen« habe. [TZ 216] 89 Schließlich erscheint der Kriminelle als innerer Feind einer »mit soviel Freudigkeit, aber auch mit so vielem Leid entstandenen Volksgemeinschaft«. Der elementaren Gefährdung der Volksgemeinschaft durch den Triebmörder muss »eine starke äußere Gewalt« entgegengesetzt werden, wobei sich »jedes asoziale Subjekt […] unseres augenblicklichen gemeinsamen Angriffs gegenwärtig sein« muss. [TZ 220]

88 Zwar konzentrierte sich die Kriminologie im Nationalsozialismus auf atavistische und biologistische Erklärungsversuche von Kriminalität, jedoch versuchten führende Kriminologen wie Mezger oder Exner eine Synthese von biologistischen und soziologischen Deutungsmustern. Vgl. dazu: Richard Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology 18801945 (=Studies in Legal History), Chapel Hill 2000, insb. S. 209-219. Auch: Thomas Kailer, Biologismus und Soziologismus: Normative Deutungsmuster von Kriminalität? Zum Verhältnis von übergeordneter Sinnstiftung und Verbrechenskategorien in Deutschland 1882-1933, in: Heike Franz/Walter Kogge/Torger Möller/Torsten Wilholt (Hg.), Wissensgesellschaft. Transformationen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag. Tagung vom 13.-14. Juli 2000 an der Universität Bielefeld, Bielefeld 2001, S. 50-84. Diese vermeintliche Integration sozialer Faktoren innerhalb der NS-Kriminologie darf nicht die Unterschiede zu klassischen soziologischen Kriminalitätstheorien verschleiern, da letztere davon ausgehen, dass Kriminalität ein normales bzw. konstitutives Phänomen moderner Gesellschaften darstellt. Vgl. etwa Emil Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. u. eingeleitet v. René König, Frankfurt/M. 1999, S. 156. 89 Vgl. Linder, Feinde im Innern, S. 210.

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Gute fünfzig Jahre später wird nun die Geschichte des Frauenmörders Ogorzow von Horst Bosetzky aus dem Giftschrank der deutschen Populärliteratur herausgeholt. Im Anschluss an die literarischen Vorläufer von Berthold und Kirst, deren Kontinuität mit der nationalsozialistischen Krimikonzeption nun deutlich geworden ist, verkörpert auch hier der Frauenmörder in einer Umdeutung den NS-Staat und seine Täter. Ebenso wie Kohout versucht Bosetzky die literarische Ausgrenzungsstrategie mit psychohistorischen und sozialpsychologischen Deutungsangeboten zu ergänzen. Die unausgesprochene Affinität der populären Serienmörderfiktion zum psychohistorischen Diskurs tritt nun klar zu Tage. Überdeutlich sind dem Roman psychohistorische und sozialpsychologische Theoriederivate der kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer, Reich, Fromm und nicht zuletzt Theweleit eingeschrieben. 90 Bosetzky geht es in erster Linie um die literarische Ausgestaltung der Frage, warum und unter welchen Umständen Männer, bzw. »Männerbünde« morden, wie er es im Anschluss an Klaus Theweleit formuliert. Für Bosetzky finden nun die Taten des Serienmörders Ogorzow ihre allgemein-gesellschaftliche Entsprechung in der Vernichtungspraxis des NS-Staats. Drei dem Roman vorangestellte Zitate von Goebbels, Hitler und aus der »Verdunklungsverordnung« aus dem Jahr 1939 verweisen auf die zentrale Verfabelung des Romans, dass sich die Taten des Sexualverbrechers nicht nur auf der höchsten Ebene des »Dritten Reichs« widerspiegeln, sondern insgesamt deutsche Täter repräsentieren. 91 So wird von Goebbels eine Tagebucheintragung von 1926 zitiert, dass ihn »jedes Weib […] bis aufs Blut« reize und er »wie ein hungriger Wolf« umherrase. Hitler wird nach Herrmann Rauschnings fragwürdigen »Tischgesprächen« zitiert, nach der er eine »gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend wolle, aus deren Augen »das freie, herrliche Raubtier« blitzen müsse. Die Verdunklungsverordnung ist die Ermöglichung der Verbrechen und ein theatraler Vorhang, hinter dem die Lichtquellen der Aufklärung verblassen. In seinem Nachwort äußert Bosetzky, dass er den Fall in einem der Archäologie ähnlichen Vorgehen rekonstruiert habe und will seine Darstellung in seiner Eigenschaft als Soziologieprofessor als »eine wissenschaftliche Arbeit« verstanden wissen, was er mit einer Literaturliste unterstreicht. 92 Was 90 Das im Roman enthaltene Plädoyer für einen offeneren Umgang mit Sexualität und eine antiautoritäre Erziehung ist sozusagen die »antifaschistische« Komponente dieses verspäteten 68er-Romans. 91 So heißt es schon in der vorangestellten Verlagsnotiz: »Eine Serie grausamer Morde schreckt die Berliner Bevölkerung auf. Ein unberechenbarer Triebtäter überfällt wehrlose Frauen, nötigt, vergewaltigt und ermordet sie kaltblütig. […] Seine Kaltblütigkeit, Selbstsicherheit und Unauffälligkeit haben ihre unheimliche Entsprechung in der blutrünstigen Machtausübung der Nazis – und der Mörder wird in diesem Roman zum Vollstrecker des Zeitgeistes.« 92 Dazu verweist er auf seine Gespräche mit Zeitgenossen, auf Tatortbesichtigungen, um ein Gefühl für eine vergangene Atmosphäre zu bekommen, auf die mühevollen Recherchen, bei der ihm ein Mitarbeiter geholfen habe, und die freundliche Unterstützung von Archivaren. Wenn Bosetzy schreibt, dass er »als Sozialwissenschaftler bei einer Monographie über die Geschichte des Berliner Fußballvereins Hertha BSC oder des Sozialamtes Kreuzberg auch nicht anders vorgegangen« wäre, gibt sich Bosetzky volksnah.

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als Persiflage auf den Wissenschaftsbetrieb gemeint sein könnte, betont hier den Ernst, mit dem der Autor an seine interpretierende Rekonstruktion herangeht. Neben dem dokumentarischen Anspruch ist es jedoch gerade die literarische Montage verschiedener Perspektiven, die ein relativ komplexes Bild der Vergangenheit zeichnet und durchaus die Perspektive mikrogeschichtlicher Ansätze der Geschichtswissenschaft adaptiert und in eine eigenwillige »dichte Beschreibung« (Clifford Geertz) überführt. 93 Bosetzky verknüpft dabei fiktive Passagen mit Dokumentarpassagen und Archivmaterial wie Photos und Tatortskizzen aus den Ermittlungsakten. Die Imaginationskraft seiner Leser fördert Bosetzky durch die Wiedergabe von Quellen, die ein eigenständiges »Gegenlesen« des Falles ermöglichen. So wird die Vergangenheit als Tatort sichtbar gemacht, wenn auch mit den Reduktionismen historischkriminalistischer Rekonstruktion. Historizität gewinnt die Montage durch die wiederholt am Anfang der Kapitel stehenden chronikalischen Einträge, die insbesondere von außenpolitischen Maßnahmen des NS-Staats berichten. Diese chronikalischen Eintragungen stellen eine der Verbindungen zwischen der mikro- und makrogeschichtlichen Ebene des Romans her und produzieren eine eigene Spannung, da sie auf den Überfall auf die Sowjetunion hinauslaufen, während gleichzeitig alles auf die bevorstehende Festnahme des Frauenmörders hinweist. Bosetzkys polyperspektivischer Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er die Taten des Straftäters und deren Aufklärung aus der Perspektive der Opfer, des Täters und der Kriminalpolizei schildert. 94 Indem der Blick auf die Opfer gelenkt wird, wird die Bedrohung spürbar und gleichzeitig das Ungeheuerliche des Sexualstraftäters pointiert. Der sexualpathologische Blick auf den Täter impliziert neben seiner symbolischen Bedeutung als Repräsentant für faschistische Einzel- bzw. Mehrfachtäter insbesondere ein Spannungselement: Da am Anfang des Romans ein Opfer dem Sexualmörder nur knapp entrinnen kann, wird ein Voyeurismus provoziert, der den Leser gespannt auf ein weiteres Verbrechen warten lässt. Doch beschränkt sich die Polyperspektivität darauf, den zentralen Figurengruppen abwechselnd Raum zu geben, während die auktoriale Erzählposition nie aufgegeben wird. Die für den Kriminalroman so typische Konfrontation zwischen Ermittler und Täter gibt es erst, als letzterer schon festgenommen ist und nur noch sein Geständnis ablegen muss. So kann in Bosetzkys Roman – der hier seiner Vorlage von Alt folgt – eine Konfrontation oder gar 93 Zur Mikrogeschichte vgl. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 285313. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1994. 94 Bosetzky hat einen sich auf angloamerikanische Theorien berufenden Ansatz der »Mikropolitik« innerhalb von bürokratischen Organisationen in die deutsche Soziologie mit eingeführt. Dieser Ansatz versucht, das Funktionieren von bürokratischen Organisationen nicht generell auf hierarchische Strukturen zurückzuführen, sondern zwischenmenschliche Machtspiele zu analysieren, die eine erfolgreiche Arbeit von Organisationen garantieren. Vgl. Horst Bosetzky, Mikropolitik, Machiavellismus und Machtkumulation, in: Willi Küpper/Günther Ortmann (Hg.), Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen 1988, 27-37. Ders./Peter Heinrich, Mensch und Organisation 5. überarb. u. erw. Aufl., Köln 1994.

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ein Dialog der Gesellschaft mit dem Verbrecher nicht hergestellt werden. Dies steht in Kontrast zu den bemühten Versuchen des Autors, auch das Böse zu verstehen. Die Hauptfiguren wie Emmi Borowka, die dem Mörder knapp entrinnt, und die Kriminalassistenten Grete Behrens und Gerhard Baronna, sind als Berliner Normal- bzw. Kleinbürger »mittelmäßige Helden« (Lukács), die weitgehend in die Strukturen der Polizei eingebunden sind. Behrens erscheint als das erweiterte Erzähler-Ich, versucht sie doch, »ganz dicht an die Täter heranzukommen«, wozu ihr ein Studium der Psychologie und Psychoanalyse bei Sigmund Freud und Melanie Klein helfen soll. 95 Ihre Resistenz gegenüber dem Regime offenbart sich schnell, versteht sie doch ihre Arbeit bei der Reichskriminalpolizei als »ein langes Praktikum«. [WT 50] 96 Sie erscheint als gebildete und emanzipierte Figur, doch haftet ihr wie allen weiblichen Figuren des Romans eine zarte und beschützenswerte Weiblichkeit an. Ihr männlicher Kollege Baronna, der einen sozialdemokratischen Hintergrund hat, ist einfacher gestrickt. Er nimmt eine erstaunliche Entwicklung: Zunächst dechiffriert er mit seinen aufmüpfigen Kommentaren den NS-Polizeiapparat, später tritt er aus Opportunismus in die Partei ein, bis er am Ende des Romans selbst am Judenmord teilhaben wird. Beide Kriminalisten vertreten zunächst als Sympathieträger der ingroup eine kritische Position gegenüber einer sich kriminalbiologisch ausrichtenden Kriminalpolizei. Die praktischen Schlussfolgerungen aus den »Ergebnissen der Erbforschung« – so behaupten die Protagonisten, ließen sich im Fall des Serienmörders kaum umsetzen, da man so nur den »Großvater unseres Täters finden muß, um zu wissen, wer das ist«. [WT 50] Obwohl die Protagonisten erkennen, dass »Heydrich seinen Katalog der Staatsfeinde und Volksschädlinge« ständig ausbaut und nicht mehr nur die »Politischen«, sondern auch »Asoziale, Bettler, Landstreicher, Prostituierte und Minderjährige in die Konzentrationslager« verbracht und »ausgemerzt« werden, bleibt die Ermittlungstätigkeit der Protagonisten davon anscheinend unbetroffen. Bosetzky folgt damit apologetischen Tendenzen, die die kriminalistischen Erfolge einer unpolitischen bis republikanisch gesinnten Kriminalpolizei gegenüber ideo95 Die Psychologin Melanie Klein entwickelte die Psychoanalyse Freuds weiter und lenkte im Zuge ihrer »Objektbeziehungstheorie« die Aufmerksamkeit auf die frühkindlichen Interaktionen von Kind und Eltern bzw. zentralen frühen Bezugspersonen. Rezipiert wurden Kleins Ausführungen in der Psychohistorie u. a. in Theweleits Männerphantasien. 96 Dass innerhalb der Reichskriminalpolizei Frauen nur in Bereichen arbeiten durften, die traditionellen Geschlechterrollen entsprachen (wie zum Beispiel im Bereich der Jugendkriminalität oder als Kriminalsekretärinnen), und dass sie keine Aufstiegschancen innerhalb der Polizeibürokratie hatten, bleibt unerwähnt, vielmehr wird behauptet, dass es eine »weibliche Kriminalpolizei« gegeben habe, an deren Spitze eine Kriminalrätin stand. [WT 196; 206] So ergibt sich das Bild einer in Geschlechterfragen fortschrittlichen Kriminalpolizei, aus der eine fortschrittliche NS-Frauenpolitik abgeleitet werden kann. Tatsächlich waren die Lockvögel perückentragende und in Frauenkleider gehüllte Männer. Die Wiedergabe dieses Details hätte Bosetzky dazu bringen können, seine Annahmen über Männer- und Frauenrollen zu überdenken und in eine Travestie der Geschlechterrollen zu überführen.

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logisch überfrachteten Positionen in den höheren Führungsebenen ausspielen und reproduziert so das Bild einer Kriminalpolizei, die bei der Kriminalitätsbekämpfung nichts als ihre Pflicht getan habe. 97 Zwar thematisiert er die Beteiligung des RKPA am Vernichtungsfeldzug, ebenso wie die Reflexionsfiguren darüber sinnieren, ob sie das System durch ihre Verbrecherjagd stabilisieren könnten. Doch dass gerade die Reichskriminalpolizei zu den Vorreitern der Vernichtung gehörte, indem sie »Berufsverbrecher«, »Asoziale«, »Homosexuelle«, Sinti und Roma unter dem euphemistischen Begriff der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« in Konzentrationslager schickte, ist nicht zu erkennen. 98 So vermag die Kriminalpolizei die Gesellschaft vor dem Menschen-Tier zu schützen, welches unschädlich gemacht werden muss. Das von Bosetzky gezeichnete Täterbild bleibt höchst ambivalent. Der Frauenmörder verübt seine Morde im »Labyrinth der Lauben« [WT 10], er ist ein durch Gras und Sträucher schleichendes »Tier«, ein »Tiger«, der hinter Hecken »auf seine »Beute« lauert und aus dem »schwarzen Nichts« auftaucht. [WT 13] Dieses atavistische Bild eines tierisch-triebhaften Serienmörders wird im Verlauf des Romans psychohistorisch weiterentwickelt. Mit dem 97 Während im Roman durch die Reflexionen der Figuren Kritik an der Herrschaftspraxis der Nationalsozialisten geübt wird, unterbleibt dies jedoch im Falle des in aller Ausführlichkeit integrierten Geständnisses von Ogorzow. Von »einer Kritik am Sondergerichtsverfahren und am schnell vollzogenen Todesurteil« als integralem Bestandteil der nationalsozialistischen Terrorjustiz ist »im Hinblick auf das Verfahren gegen diesen Täter keine Rede«, wie Joachim Linder kritisch angemerkt hat: Linder, Feinde im Innern, S. 197. 98 Im Roman heißt es: »Er [Heydrich] und die führenden Männer der Gestapo verfolgten die Unternehmungen der Kripo-Kameraden ebenso neidisch wie misstrauisch. Die Kriminalbeamten hatten es gut verstanden, die Arbeit der RKPA weiterhin von der Gestapo freizuhalten. Dabei war ihnen zugute gekommen, daß die Nationalsozialisten 1933 bei der Umstrukturierung der Polizei von sich aus reine und tüchtige Kriminalisten den politischen Mitläufern vorgezogen hatten.« [WT 51] Die Tatsache, dass das dem RKPA angeschlossene Kriminaltechnische Institut eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung von Verfahren zur Ermordung von »Geisteskranken« spielte und deren Gaswagen später bei der Ermordung von Juden eingesetzt wurden, wird erst zum Schluss des Romans kurz erwähnt. [WT 312] Bosetzky folgt den Schilderungen Bernd Wehners, obwohl er die Arbeit von Liang laut Literaturverzeichnis kennt, dessen Hinweise auf das bereitwillige Arrangement der Reichskriminalpolizei mit den Nationalsozialisten, die Entlassung politischer Gegner als auch die freiwilligen Versetzungen von der Kriminalpolizei zur Gestapo unberücksichtigt lässt: Hsi-Huey Liang, Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik (=Veröff. d. hist. Kommission Berlin; Bd. 14), Berlin u. New York 1977, S. 129-170 u. 187. Freilich wurde das Bild der Kriminalpolizei im »Dritten Reich« erst durch die nach der Veröffentlichung des Romans erschienenen Arbeiten von Patrick Wagner korrigiert: Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher (=Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 34), Hamburg 1996; ders., Hitlers Kriminalisten; siehe auch: Ulrich Herbert, Werner Best. Biographische Studie über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996.

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mageren Faktum, dass Ogorzow 1912 in Muntowen/Ostpreußen geboren wurde, hebt der Text an, um eine mörderische Karriere aus einer Kindheit in Ostpreußen abzuleiten, deren Sozialisation aus psychoanalytischem und sozialpathologischen Blickwinkel aufgearbeitet wird. Der fiktive Rückblick in die Kindheit gibt eine eindeutige Antwort: Der spätere Serienmörder hat eine Mutter, die ihrem Sohn kaum Zuneigung zeigt und auch das Windelwechseln vergisst, während der schlagende Stiefvater ihm »den Trieb austreiben« will. Kurze Zeit verbringt er im Waisenhaus. Sein Jugendfreund, »ein schöner, schneidiger Mann«, »weizenblond, mit der Figur eines Olympiakämpfers« [WT 17], ist dem Leser schon als brutaler KZ-Scherge bekannt, der Häftlinge mit einem »Ochsenziemer« das »nackte Gesäß« züchtigt und so seine Sexualphantasien auslebt. Die Schlachtung eines Schweins erregt den jungen Paul so sehr, dass sein »Samen […] in die faltenreiche Lederhose« fließt, als ihn »das warme Blut des bestialisch geschlachteten Schweins« trifft: »Erst wenn geschlachtet wurde, wurde er zum Leben erweckt.« Darauf folgt die Beobachtung einer Vergewaltigung in der Ehe während der Menstruation, bis sich Paul und sein Freund an einer Magd mit dem slawischen Namen Jadwiga vergehen und der mörderische Protagonist nur mit einiger Mühe davon abgehalten werden kann, diese sofort zu erstechen. Nach diesen Jugenderlebnissen führt der Weg in die Großstadt Berlin, wo er sich bei einer Prostituierten mit Syphilis ansteckt, an den Gewalttaten der SA teilnimmt und durch eine sexuell nicht vollkommene Ehe eine bürgerliche Scheinexistenz aufbaut. 99 Bei den folgenden Mordtaten hat er dann »den Instinkt eines jagenden Tieres« [WT 169] und erscheint als die »äußerste Konsequenz deutscher Männlichkeit«. [WT 197] Für Bosetzky ist der Frauenmörder Ogorzow »ein Mensch mit einer bestimmten genetischen und sozialisationsbedingten ›Programmierung‹«, der »in ein Milieu und eine Zeit [gerät], den nationalsozialistischen Mörderstaat und die Verdunkelung Berlins, die seine Taten in ihrer einmaligen Konstellation nicht nur ermöglichen, sondern regelrecht provozieren.« 100 Fünfzig Jahre 99

Vgl. WT 294ff. Im Rahmen des populären und des psychohistorischen Diskurses verweist dies auf die syphiliphoben Bemerkungen in Hitlers »Mein Kampf«, die dazu führten, ihn selbst zum sexualpathologischen Fall zu erklären. Vgl. Langer, The Mind of Hitler, S. 170f. Erich Fromm bringt Hitlers »Nekrophilie« mit seiner Syphilisphobie und seiner Angst vor Ansteckung in Verbindung: Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, S. 449ff. Vor jeder psychohistorischen Ausdeutung verweist die Angst vor Ansteckung und der Vermischung von Körpersäften zunächst einmal auf einen biologistischen Rassismus. 100 Sowohl in Axel Alts als auch in Bosetzkys Roman kommt der Verdunklung Berlins neben der Steigerung des suspense eine entscheidende metaphorische Bedeutung zu. Während sie im Roman aus dem Jahr 1944 die besondere Aufmerksamkeit der Volksgemeinschaft herausfordert, schreibt sie sich bei Bosetzky wie auch andernorts in der populären Geschichtskultur und im kommunikativen Gedächtnis als Metapher für ein »dunkles Kapitel« der deutschen Geschichte fort, welches sich der Aufklärung entzieht, sie aber auch herausfordert. Die Ermöglichung des Sexualverbrechens durch Verdunklung war schon in Nachts, wenn der Teufel kam anzutreffen. Vgl. dazu z. B. die Zeitungsstory »Der Mörder hilft bei der Jagd nach dem Mör-

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früher oder später geboren, so Bosetzky in seinem Nachwort, wäre Paul Ogorzow mit »einiger Sicherheit ein ganz normaler Bürger gewesen, hätte seine Triebkräfte kontrollieren beziehungsweise anderswie ausleben können.« [WT 321] Der psychohistorische Ansatz scheitert jedoch genau da, wo er ihn in einer Verquickung der Deutungsangebote letztlich biologistisch auflöst. Der Sexualstraftäter bleibt trotz aller biographischen und psychoanalytischen Deutungsversuche das titelgebende, triebbestimmte »Tier«, dem der Autor »Hass« 101 entgegen bringt. So kann sich auch die Polizei als Schutzund Ordnungsmacht profilieren, auf die vor allem schwache Frauen angewiesen sind. Dieses Konstruktionsschema greift ebenso wie das atavistische Deutungsmodell letztlich auf die Vorgaben des Romans von Axel Alt zurück. Im Gegensatz zu allen früheren populären Serienmörderfiktionen wird die Analogie von Sexualstraftätern und Nazi-Mördern im Zuge des psychohistorischen Ansatzes auf weitere männliche Protagonisten des Romans übertragen. Anhand verschiedener Portraits versucht Bosetzky, individuelle Wege ins Verbrechen nachzuzeichnen, wobei wiederholt auf eine autoritäre Erziehung, ein problematisches Verhältnis zur Sexualität und ein unterdrücktes Triebleben sowie traditionelle Männlichkeitsvorstellungen zurückgegriffen wird. Das geht soweit, dass Männer generell eine Disposition zur Gewalt haben: »Wer seine Kinder schlug und wer als Kind geschlagen wurde, der erschlug auch Menschen. Er [Baronna / A. S.] wußte es: Das Mördertier, das steckte auch in ihm. Wie in allen Männern. Die Frage war allein, ob man stark genug war, es zu bändigen. Nein, ob andere einen dazu brachten, es rauszulassen. [WT 27]

Und so ist auch der Kriminalist Baronna, der eine kurzfristige Liaison mit der Protagonistin des Romans hat, vor der weiblichen »Provokation« nicht gefeit: »Damit ließ er sie alleine stehen. Er fühlte es, das war der Bruch. Es tat weh. Vor allem schmerzte ihn, dass er nun keine Frau mehr hatte, wenn das Tier in ihm erwachte. Kichernd ging eine Schar junger Stenotypistinnen vor ihm den Flur entlang. Und plötzlich verstand er den S-Bahn-Mörder. Denn er verspürte eine ungeheure Lust, ihnen die Röcke hochzureißen und in sie hineinzustoßen. [WT 216]

der« über den Fall Ogorzow in der Bild-Zeitung, 2.9.1976, S. 5: »Todesangst war wie Geschlechtsverkehr. Es war kalt und zugig und stockfinster – nirgendwo brannte Licht. Man schrieb den 4. November 1940. Deutschland befand sich im Krieg und überall war verdunkelt, um feindlichen Flugzeugen kein Ziel zu bieten.« Genauso taucht bei Bosetzky der nationalsozialistische Vertuschungstopos auf, der behauptet, dass die Nationalsozialisten die Bevölkerung über die Verbrechen im Dunkeln lassen: »Die Polizei tat ihrer Meinung nach wenig bis nichts dagegen und alles sehr leise. Im nationalsozialistischen Staat konnte so etwas nicht sein, weil es nicht sein durfte.« [WT 10] 101 Bosetzky positioniert sich in seinem Nachwort, indem er seine eigene subjektive Abscheu gegenüber dem Mörder stark macht: »Ich hasse diesen Mann, weil ich – um aller Frauen wegen, um die ich Angst habe – Menschen wie ihn irgendwie aus der Welt haben möchte.« [WT 323]

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Später an der Front wird Baronna es bei einer Erschießung von »Partisanen« »rauslassen«, da ansonsten die Gefahr besteht, dass sich der »Iwan« über seine Frau »hermacht«, wie ihm ein Kompaniemitglied suggeriert. [WT 315] Allein die Kriminalistin Behrens sieht aufgrund ihrer psychologischen Kenntnisse die gesellschaftliche Dimension: »Sie dachte an die zahllosen Schlachten der Weltgeschichte und an die Konzentrationslager, wo vornehmlich Männer Männer töteten. Wie anormal war ihr S-Bahn Mörder eigentlich? Nicht sonderlich, wie sie fand. Nur tötete er für sich allein und nicht im Namen von Königen, Kaisern, Göttern, Führern und Heilslehren aller Art. [WT 180] Dass jeder Mann klammheimlich auf Seiten des Vergewaltigers war, weil er aufgrund seiner Biologie nicht anders konnte, als an dessen Lust immer irgendwie auch teilzuhaben, und weil es sein Vorstellungsvermögen bei weitem überstieg, sich selber als Opfer einer solchen Tat zu sehen.« [WT 195]

Durch die immer wieder sexuell aufgeladenen Gewaltdarstellungen des Romans und ihre psychohistorische Ausdeutung erzeugt der Autor eine Atmosphäre des Ekels und des permanent unguten Gefühls, die sich nicht nur auf den Fall, sondern auch auf die Geschichte des Nationalsozialismus überträgt. In einem melodramatischen Ende wird dann nochmals der Vergleich zwischen dem Sexualstraftäter und den NS-Mördern stark gemacht und auf seine erinnerungspolitische Dimension verwiesen, die in eine Affirmation der bundesrepublikanischen Nachkriegsgegenwart mündet: »›Sein [Ogorzows] Schatten wird noch lange auf uns lasten, und noch zu Beginn des nächsten Jahrtausends werden viele mit Schaudern an ihn denken […] vorausgesetzt, daß es Berlin und Deutschland dann überhaupt noch gibt.‹ […] ›[…] Haben wir einen Mörder ausgeschaltet, gibt es ein Dutzend neue. Wir büßen alle, aber wofür? Wer schickt uns Männer wie Hitler, Himmler, Heydrich und Ogorzow auf die Erde und lässt sie morden?‹ ›Die schickt uns doch keiner, die sind einfach da.‹ ›In uns Menschen‹, Grete nickte. ›Und die Frage ist nur: Wer zähmt die, die wie Marder sind? Wer zerschlägt sie, die Männerbünde und rottet sie aus: ihr Denken, ein Denken, für das Ogorzow steht?‹ Grete wusste die Antwort, und sie träumte von einem Land in der Zeit danach.« [WT 317]

Der populärpsychologische Gedanke, dass das Abgründige in jedem Menschen steckt, wird schließlich dahin ausgeweitet, dass das Superlativ HitlerHimmler-Heydrich-Ogorzow im deutschen Mann der Zeit steckt. Die Männerbünde gilt es »auszurotten«: Damit löst sich das Verstehen der Vergangenheit im verzweifelten Wunsch nach ihrer Eliminierung auf. 3.2 R ETROSPEKTIVE D ETEKTIVROMANE

IN DER

B UNDESREPUBLIK

Die »Unfähigkeit zu Trauern« nach 1945 und das kollektive Zurückweisen individueller Schuld mündete in eine lang anhaltende Zurückhaltung bei der justiziellen, historischen und moralischen Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus. Dieser Konsens des beredten Beschweigens und Aus420

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weichens übertrug sich auch auf die bundesdeutsche Kriminalliteratur, von der sich allerdings auch erst mit Beginn der 1970er Jahre überhaupt sprechen lässt. Während in der vergangenheitspolitisch aktiven, freilich instrumentalisierten DDR-Kriminalliteratur die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen letztlich einem faschistisch-kapitalistischen System zugeschrieben wurde, dem die ausführenden Verbrecher untergeordnet waren, waren die gesellschaftlichen Voraussetzungen für retrospektive Kriminalromane über den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik kaum vorhanden. Denn der retrospektive Kriminalroman muss die Verbrechen individualisieren und sich an der Aufarbeitung individueller Schuld und personeller Kontinuitäten interessiert zeigen, will er sie nicht im Rahmen einer Faschismusdoktrin vorschnell verallgemeinern. So verwundert es zunächst kaum, dass neben dem Motiv des NS-Schergen als »Triebtäter« das Kriminalschema nicht aufgegriffen wurde, um sich mit dem Nationalsozialismus und seinem Nachwirken zu beschäftigen. Auch mit der Entstehung des politisch anspruchsvolleren und sozialkritisch ausgerichteten »neuen deutschen Kriminalromans« in den 1970er Jahren und einer ebensolchen Ausrichtung etwa der Tatort-Reihe zählte die historische Ermittlung kaum zu den bevorzugten Plots. Doch lässt sich feststellen, dass im Zuge der Herausbildung des historischen Kriminalromans und einer veränderten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seit 1980 wichtige öffentliche Debatten über den Nationalsozialismus ihren Weg in die geschichtskriminalistische Fiktion fanden. Verdrängung und Rache

Zu den bemühten Anfängen in der Bundesrepublik, retrospektive historische Ermittlungsromane über die NS-Vergangenheit zu schreiben, gehört Michael Molsners Harakiri einer Führungskraft, der 1969 eine Ausnahme war und lange eine bleiben sollte. Der Roman verknüpft die Darstellung einer vornehmlich aus wirtschaftlichen Motiven vergangenheitsvergessenen Gesellschaft mit dem Motiv einer schwarzhumorig scheiternden Vergeltung an einem ehemaligen Nationalsozialisten. So muss die Hauptperson des Romans als Jugendlicher kurz vor Kriegsende die Ermordung eines Freundes durch einen Feldgendarm beobachten, womit der Roman zunächst an Plotbildungen des DDR-Kriminalromans erinnert. Bei der Suche nach dem Mörder von einst enthüllt sich die Geschichte des erfolgreichen Wiederaufbaus in Westdeutschland. Auch der Mörder des Jugendfreunds entpuppt sich als erfolgreicher Geschäftsmann, und statt Rache auszuüben, wird der Held mit dem Mörder zusammenarbeiten und dadurch den eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg befördern. Während hier der Versuch der Vergeltung aus eigenem Profitstreben pointiert scheitert, gelingt die Vergeltung in Hansjörg Martins Dein Mord in Gottes Ohr (1979), ohne dass jedoch der Protagonist wie geplant zum Mörder werden muss: Der Ich-Erzähler und Kriminalschriftsteller Gohlis erkennt Jahre nach dem Krieg in dem erfolgreichen Bauunternehmer Kutsch seinen ehemaligen vorgesetzten Hauptfeldwebel wieder, der ihn während eines Lazarettaufenthaltes während des Krieges drangsaliert und seine Liebe zu einer jungen ukrainischen Sanitäterin vereitelt hatte, indem er sie einem Abtransport überstellte und ihn frühzeitig an die Front versetzte. Aus persönlichen 421

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Eitelkeiten plant der Erzähler nun den perfekten Mord an seinem ehemaligen Vorgesetzten aus Kriegstagen, doch will es der Plot, dass der Mord von einer weiteren Figur ausgeführt wird, der in der Nachkriegszeit von dem Bauunternehmer übel mitgespielt wurde. Die Vergangenheit des Ich-Erzählers und Kriminalschriftstellers wird als die eines einfachen Landsers vorgeführt, der einen vorurteilslosen Umgang mit seiner ukrainischen Freundin, deren jüdischem Onkel und einer wahrsagenden alten »Zigeunerin« pflegt. Der ideologischen Infiltration der Wehrmacht durch die NS-Führungsoffiziere steht der Erzähler kritisch gegenüber, so dass der subtile Leser im Umkehrschluss von dem Kriegsteilnehmer Hansjörg Martin erfährt, wie stark die ideologische Mobilmachung in der Wehrmacht tatsächlich gewesen sein muss, um noch gute dreißig Jahre später derart präsent zu sein. Doch im Roman wird die Beteiligung am Krieg nicht weiter hinterfragt, wenn diese nicht sogar romantisiert wird, da das Lazarettleben kaum etwas von den Schrecken des Krieges widerspiegeln kann. Ebenso wie bei Hans Hellmut Kirst verbindet sich der Krimiplot mit Kommisskritik, die in eine Differenzierung der Vorgesetzten mündet, die zwischen den »raunzenden Bullerköppe[n]«, den »Pragmatikern«, den »Gernegroßen«, den »Kleinbürgern« und den »fanatischen Nationalsozialisten« unterscheidet, »bei denen zum Ehrgeiz noch der bedingungslose Glaube an Führer und Reich kam, so daß der arme Kerl, der seine Stiefel nicht ordentlich wichste, nicht nur ein ›Schlappschwanz‹ war, sondern obendrein ein ›Volksfeind‹.« 102 Die ideologischen Überzeugungstäter sind die Anderen, und so ist es bezeichnend, dass der Ich-Erzähler den Mord aus persönlichen und nicht etwa aus politischen Gründen plant. Die Kritik des Romans, dass der Wiederaufbau der Bundesrepublik auf den Säulen überzeugter Nationalsozialisten stehe, bleibt deshalb äußerst fadenscheinig, wenn man nicht in dem unausgeführten Plan eine implizite, komödienhafte Kritik an der bundesdeutschen Auseinandersetzung mit den alten und neuen Eliten herauslesen will. Während in diesem Roman deutliche Reminiszenzen an Kirst sowie Molsner vorhanden waren, kann man in Das Zittern der Tenöre (1981) die Parodie eines Plotmusters erkennen, welches in der DDR wiederholt für eine Entzifferung der faschistischen Vergangenheit der Bundesrepublik hergehalten hatte. Die älteren Honoratioren einer westdeutschen Kleinstadt und ehrenwerten Herren eines Gesangsvereins zittern vor der Veröffentlichung des Inhalts eines auf einem Dachboden eingestaubten Koffers, in dem sich seit 1945 Dokumente aus dem Rathausarchiv befinden sollen, die ihre Verwicklung in verschiedene Verbrechen aufdecken könnten: von der Denunziation von Regimekritikern über die Aneignung jüdischen Eigentums durch »Arisierung« bis hin zur Erschießung eines Deserteurs. Dass am Ende der Koffer leer ist – unschwer erkennt man hier wieder einen Topos des DDR-Kriminalromans – und die beiden Toten, die der Verlauf der Handlung bringt, nicht ermordet werden sondern an Altersschwäche sterben, trägt die Züge einer schwarzen Komödie. Eine Gesellschaft gerät in Panik vor der »Wiederentdeckung alter Geschichten«. 103 Der Roman präsentiert eine belastete Gesell102 Hansjörg Martin, Dein Wort in Gottes Ohr, Hamburg: Rowohlt 1979; hier zitiert nach der Rowohlt-Taschenbuchausgabe von 1985, S. 51f. Letztmalig 1990 aufgelegt, erreichte der Roman eine Auflage von 41 Tausend. 103 Hansjörg Martin, Das Zittern der Tenöre, Hamburg: Rowohlt 1981, S. 179.

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schaft, die darauf aus ist, das Belastungsmaterial verschwinden zu lassen, damit die Vergangenheit nicht an die Oberfläche geschwemmt wird. Der Kriminalkommissar tastet hingegen im Dunkeln; er ist Teil einer Komödie, in der er zwar ahnt, dass der Fall etwas mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Honoratioren zu tun hat, doch beweisen kann er nichts. Für Hansjörg Martin war dieser ironische Blick typisch, zumal es zu seinem Anspruch gehörte, das Verbrechen mit einer gewissen »Heiterkeit« zu schildern, ohne dass dies zur »Verschleierung der Wahrheit« führen müsse. Seine Kriminalromane zeichnen sich durch eine Selbstironie aus, die auch vor dem Helden nicht halt macht, sie verknüpfen »Satire und tiefere Bedeutung«, um »den blinden und unfruchtbaren Hass auf Menschen, Methoden und Massenmedien« zu überwinden. Gerade in einer autoritätshörigen Gesellschaft sei eine unarrogante Heiterkeit ein unerwartetes und deshalb wirksames Mittel bei der Beschreibung gesellschaftlicher Zustände, die im besten Fall dazu führen sollte, dass die »Leser beim Anblick eines Polizisten nicht mehr militärisch grüßen und die Hacken zusammenknallen« würden. 104 Das Zittern der Tenöre war der erste Kriminalroman aus dem Umfeld des neuen deutschen Kriminalromans, der die Thematik der unbewältigten Vergangenheit aufgriff und es 1981 zu einer Verfilmung in der Fernsehreihe Tatort brachte. Dafür wurde die Figurenkonstellation nur leicht umgebaut, doch fehlte signifikanter Weise das Motiv der Erschießung eines Deserteurs. 105 Dass es überhaupt zu einer Fernsehbearbeitung kam, lag wohl nicht zuletzt an dem 1979 in der Bundesrepublik erfolgreich ausgestrahlten und viel diskutierten Fernsehvierteiler Holocaust, der einen neuen Spielraum für die fiktionale Ausgestaltung der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihres Nachwirkens geschaffen hatte. 106 Spurensuche und Oral History

Das Zittern der Tenöre signalisierte auch in der bundesdeutschen Kriminalliteratur ein verändertes öffentliches Geschichtsbewusstsein zu Beginn der 1980er Jahre, welches sich auch in den politisch engagierten »Geschichtsinitiativen« und »Geschichtswerkstätten« zeigte, die sich mit der Vergangenheit »vor Ort« auseinander setzten. Diese »neue Geschichtsbewegung« formierte sich als zivilgesellschaftlicher Gegenpol zur akademischen Geschichtsschreibung. Sie wollte »Geschichte entdecken« und »Spurensicherung« betreiben, wie zwei exemplarische Titel hießen. 107 Dabei spielte die Auseinanderset-

104 Hansjörg Martin, Mal ernsthaft: Heiterkeit ist mir wichtig. Ein ›unseriöses‹ Plädoyer, in: die horen 31 (1986), H. 144, S. 95ff. 105 Tatort: Das Zittern der Tenöre, Erstsendung 31.5.1981; Regie: Hans Dieter Schwarze. Vgl. zur Verfilmung die kurzen Ausführungen bei: Wolfgang Struck, Germanias Speicher. Populärkultur und kollektives Gedächtnis, in: Fulda/Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte, S. 195-220. 106 Peter Märthesheimer/Ivo Frenzel (Hg.), Der Fernsehfilm Holocaust. Eine Nation ist betroffen, Frankfurt/M. 1979. 107 Hannes Heer/Volker Ulrich (Hg.), Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Hamburg 1985. »Spurensicherung« wurde auch im Anschluss an Carlo Ginzburgs Plädoyer für einen mikrohistorischen Ansatz zum zentralen Begriff der neuen Geschichtsbewe-

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zung mit dem Nationalsozialismus die öffentlich wirksamste Rolle, wie sich an den umstrittenen Projekten einer Alltagsgeschichte des Dritten Reichs zeigte, die sich zwischen der nicht-institutionalisierten neuen Geschichtsbewegung und der universitären Geschichtsschreibung formierten. Neu waren dabei auch die methodischen Ansätze, insbesondere der Oral History als einer Geschichte der Erfahrung derjenigen gesellschaftlichen Schichten und Milieus, die in der traditionellen Geschichtsschreibung aus dem Raster gefallen waren. Neben den Schriftarchiven begann man verstärkt, das kommunikative, visuelle und lokale Gedächtnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu erforschen. Die erfahrungsgeschichtlichen Interviews mit Zeitzeugen beleuchteten die historische Erfahrung abseits des institutionell und öffentlich verankerten Gedächtnisses. Dabei stellte sich bei der Befragung der Zeitzeugen heraus, dass die NS-Zeit, insbesondere die Vorkriegszeit, weniger negativ empfunden wurde als man dies angenommen hatte. Die Überwindung der Arbeitslosigkeit und die verschiedenen sozialen Maßnahmen des Regimes wurden von der Bevölkerung mehrheitlich positiv gesehen, obwohl sie im Zeichen der Aufrüstung standen und den politischen Gegnern und rassischen Opfern vorenthalten wurden. 108 Politisch engagiert, wenn auch literarisch etwas bemüht in der Tradition der westdeutschen Arbeiterliteratur der Dortmunder Gruppe 61 und des Werkkreis Literatur der Arbeitswelt stehend, zeigte sich der Kriminalroman Nahtlos braun (1984) von Werner Schmitz. Emil Strothkämper, Bergarbeiter und Kommunist aus dem Ruhrgebiet, fällt einem Mordanschlag zum Opfer. Seine Enkelin, ihr Freund sowie ein aus dem Exil zurückgekehrter Rechtsanwalt entlarven als Täter einen Gastronomen, der als SA-Mann nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in einem »wilden KZ« politische Gegner – unter ihnen Strothkämper – quälte und zu Tode prügelte. Hilfestellung erhalten die Detektive durch einen alten, nach dem Kriege von den britischen Besatzungsbehörden eingesetzten Kriminalpolizisten und von jüngeren Stadtarchivaren, die ein Projekt begonnen haben, alte Widerstandskämpfer zu interviewen und nun bereitwillig ihr Wissen aus den Akten und Aufzeichnungen zur Aufklärung der Anschläge zur Verfügung stellen. Diese Dokumente der Oral History versetzen die Detektive schließlich in die Lage, den Täter, dem bereits der Großvater auf der Spur gewesen war, zu überführen. Das politisch engagierte, aber eben auch nicht-institutionalisierte Vorgehen der Geschichtsermittler im Roman von Werner Schmitz stand ganz im Zeichen jener neuen Geschichtsbewegung, welche die Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort aufarbeitete. Der Ansatz der Oral History, der in diesem Roman auf die Spur des Täters führt, hatte insbesondere durch die Argung: Siehe: Berliner Geschichtswerkstatt e.V. (Hg.), Projekt: Spurensicherung. Alltag und Widerstand im Berlin der 30er Jahre, Berlin 1983. Rekapituliert wird dies von einem der Protagonisten: Thomas Lindenberger, »Alltagsgeschichte« oder: Als um die zünftigen Grenzen der Geschichtswissenschaft noch gestritten wurde, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 74-91. 108 Vgl. Wolfgang Wippermann, Umstrittene Vergangenheit. Fakten und Kontroversen zum Nationalsozialismus, Berlin 1998, S. 26.

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beiten zur Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus in Bayern und im Ruhrgebiet wissenschaftliches Renommee gewonnen. 109 Sowohl im Roman als auch in den neuen alltagsgeschichtlichen Studien ging es um die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte der Bevölkerung während der NS-Zeit. Bei Lutz Niethammer, einem der Protagonisten der neuen Alltagsgeschichte und Oral History, konnte man dabei Reminiszenzen an das Vorgehen von widerständigen und eigen-sinnigen Detektiven erkennen, wenn er in einer Rundfunkreportage in den sechziger Jahren schrieb: »Ich steige vor dem Gebäude des Friedhofamtes in O. aus. Schlage die Autotür zu, zünde mir eine Zigarette an und blicke, den Mantelkragen hochgeschlagen, über die Fassade des Hauses. Plötzlich sehe ich mich in einem Schaufenster gespiegelt, bemerke die prächtige Kriminalfilmpose, die ich eingenommen habe, muss laut lachen, werfe die Zigarette weg, nehme meine Mappe. Steige die Stiegen empor, klopfe, erkundige mich in höflichen und schüchternen Wendungen, ob ich eintreten dürfe, und frage, was ich zu fragen habe.« 110

Auch wenn der spätere Historiker des kommunikativen Gedächtnisses der Bundesrepublik und der DDR hier noch über seine Kriminalfilmpose lacht, wird er kurz darauf bei seinen Nachforschungen über ehemalige Zwangsarbeiter bei der örtlichen Polizei vorsprechen, die jedoch von dem Einsatz ausländischer Arbeitskräfte nichts wissen will. Von da aus geht es – wie in einem klassischen Kriminalroman – zum Pfarrer, der als derjenige befragt wird, dem gewöhnlich im vertraulichen Gespräch sonst nicht ans Tageslicht gelangende Wahrheiten berichtet werden. Auch die Beamten des Friedhofamtes werden befragt, ebenso wie der ehemalige Gestapochef, der den werdenden Historiker jedoch vor die Tür setzt, als er das Wort Arbeitserziehungslager gebraucht. Dann führen die Ermittlungen zur Lokalzeitung und ins städtische Archiv. Die Reportage von Niethammer ist spannend aufgezogen und bedient sich dabei des Topos des Detektivs, der mit seiner »Kriminalfilmpose« an einen abgebrühten Detektiv aus einem Film Noir erinnert. In seinem autobiographischen Buch »Ego-Histoire« präsentiert sich Niethammer ansonsten mit aller Bescheidenheit und sieht sich trotz seiner durchaus erfolgreichen Wissenschaftskarriere als ein »Scheiternder«, der »mit seinem Hang zum Nonkonformismus kokettiert«. 111 Stimmig erscheint dies, wenn man diese Selbst109 Martin Broszat (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, 3 Bde., München 1977-1987. Lutz Niethammer (Hg.), »Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll«. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet (=Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960; Bd. 1), Berlin 1983. Ders. (Hg.), »Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist«. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet (=Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960; Bd. 2), Berlin 1983. 110 Lutz Niethammer, Ego-Histoire? Und andere Versuche, Wien 2002, S. 12. 111 Vgl. die Rezensionen zu Niethammers Buch Ego-Histoire: Frank Ebbinghaus, Wie man wird, was man wurde. Ich etc.: Lutz Niethammer über die letzten historisierbaren Bestände, in: Süddeutschen Zeitung vom 19.5.2003, S. 14. n.n., Bekenntnisse eines Hochschullehrers, Neuen Züricher Zeitung vom 12.7.2003.

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beschreibung in Beziehung zu jenen Privatdetektiven der hardboiled-school wie Philip Marlow oder Sam Spade setzt, bei denen Aufklärungsanspruch, Nonkonformismus und gesellschaftliches Scheitern immer zusammengehören. Die Oral History, für die Niethammer ein wichtiger Wegbereiter in der Bundesrepublik gewesen ist, widmet sich der mündlich überlieferten Geschichte, welche die Differenzen und Überschneidungen zwischen dem individuellen, dem kommunikativen und dem kollektiven Gedächtnis untersucht. Mit der Oral History werden Zeitzeugen von der Geschichtswissenschaft wahrgenommen, die durch die lange Zeit bestehende Beschränkung auf die politischen Entscheidungsträger unberücksichtigt blieben. Hinzu kommt eine neue Aufmerksamkeit für das gesprochene Wort, welches nun – oft mit dem Gestus des Authentischen – protokolliert und interpretiert wird. Wenn die an die Oral History anschließende lebensgeschichtliche Biographieforschung »rekonstruktive Fallanalysen« betreibt und zwischen »erzählter« und »erlebter Lebensgeschichte« unterscheidet, ist sie von der Idee eines detektivischen Nachspürens und Nachfragens nicht weit entfernt. So schreibt etwa Gabriele Rosenthal als eine der führenden Vertreterinnen dieser Forschungsrichtung emphatisch, dass die Forscher »nicht anderes« als Detektive seien. So folge die Logik des Fragenstellens dem abduktiven Hypothesenbilden im Sinne von Charles S. Peirce. 112 Dennoch bleibt die Beziehung der Oral History und einer detektivischen Geschichtskonzeption problematisch. Diese erfahrungsorientierte Geschichte basiert auf einem dialogischen Zugang, auf einer Befragung von Zeitzeugen mit einer meist »narrativen« Interviewtechnik, die einen Zeitzeugen zunächst seine Lebensgeschichte vortragen lässt, bevor es zu Rückfragen kommt.113 Trotz des dialogischen Prinzips und des Einzugs der Alltagssprache der Zeugen in die Studien resultiert aus der Logik und Widergabe solcher narrativen Interviews jedoch nicht zwangsläufig, dass sich diese Studien als kritisch detektivische Narrative lesen lassen. Denn innerhalb dieser Forschungsrichtung entscheidet der Umgang mit den Interviewten und die wissenschaftliche Analyse und Darstellung darüber, inwieweit diese Studien einer kriminalistischen Befragung oder aber einem einfühlenden Dialog entsprechen. So wird nämlich der Forderung, die Berichte von zeithistorisch weniger bedeutenden Augenzeugen mit ergänzenden Quellenmaterial oder aber der historischen Forschung zu konfrontieren, um danach zu fragen, inwieweit die »erzählte« mit der »erlebten« Geschichte übereinstimmt, oft genug nicht konsequent nachgegangnen. Denn dies hängt stark davon ab, inwieweit eine solche »erlebte« Geschichte überhaupt rekonstruiert werden kann. Gerade angesichts einer oft problematischen, wenn nicht sogar überhaupt nicht vorhandenen Quellenlage, entzieht sich die priva112 Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt/M. 1995, S. 212. Auch: Fritz Schütze, Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Studienbrief der Fernunversität Hagen, Hagen 1987, S. 257. 113 Schon darin scheint sie dem Detektiv- und Kriminalroman zu widersprechen, der zunächst im Spiel von Frage und Antwort die Möglichkeiten des Hypothesenbildens schafft, um dann in den Geständnispassagen den Zeugen das Wort zu geben.

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te, im Gespräch zur Gestalt gebrachte Erinnerung oft genug einer kritischen Überprüfung. Die Konsequenz daraus ist, dass sich diese Forschungsrichtung weniger für den problematischen Wahrheitsgehalt der Aussagen zu interessieren beginnt, sondern prägnante und typische Erzählmuster erforscht, die den Umgang des privaten Gedächtnisses mit selbsterlebter und kollektiver Geschichte strukturieren. Gefragt wird nun, wie der Autograph sein Erleben in der Erinnerung im Hinblick auf die kollektive und öffentliche Erinnerung modelliert, glättet oder anpasst. Während so verstärkt die Authentizität des Gesagten und die narrative Struktur seiner Darstellung in den Vordergrund rückt, scheint sich die kriminalistische Befragungssituation aufzulösen. So lässt sich gerade in der Oral History bzw. der lebensgeschichtlichen Biographieforschung ein Unterschied zwischen einer detektivischen Befragung der Vergangenheit und einem Dialog mit der Vergangenheit erkennen. Geschichte, Recht und Gerechtigkeit

Anfang der achtziger Jahre wurde von dem Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und Initiator des »Bayern-Projekts« Martin Broszat der umstrittene Begriff der »Historisierung des Nationalsozialismus« in die Debatte über den Nationalsozialismus eingeführt, mit dem die Kontinuitäten und Brüche des »Dritten Reichs« zur Weimarer Republik und zur Bundesrepublik stärker berücksichtigt werden sollten. 114 Broszat – der in der Debatte mit Saul Friedländer mit einem »Pathos der Nüchternheit« auftrat und dabei seine eigene Befangenheit als Mitglied der HJ-Generation nie problematisierte 115 – wandte sich gegen eine ausschließliche Orientierung auf politisch-ideologische Aspekte des NS-Regimes und setzte sich für eine Alltagsgeschichte des Dritten Reichs ein, die stärker die »gesellschaftlichen Normalitäten« und die gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie »resistenten« Bereiche des Alltags berücksichtigen sollte. Mit »Resistenz« war ein erweiterter Widerstandsbegriff verbunden, der nicht nur Umsturzaktionen und öffentlichen Protest, sondern auch Verweigerung und Nonkonformität erforschen wollte. Diese Verschiebung der Perspektive ermöglichte neue Ausgestaltungsmöglichkeiten für literarische Figuren, die dem repressiven Charakter des natio-

114 Martin Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Merkur 3 (1985), S. 375-385. Zur Kritik und Debatte vgl.: Saul Friedländer, Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt/M. 1987, S. 34-50. Martin Broszat/Saul Friedländer, Um die Historisierung des Nationalsozialismus. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 339-372. Ian Kershaw, Der NSStaat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, vollständig überarb. und erw. Neuausg., Hamburg 1994, S. 316-342. Wippermann, Umstrittene Vergangenheit, S. 21-27. 115 Vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung (=Moderne Zeit; Bd. 3), Göttingen 2003. Ders., Die Lebenslüge vom Pathos der Nüchternheit. Subjektive jüdische Erinnerung und objektive deutsche Zeitgeschichtsforschung in den sechziger Jahren, in: Süddeutsche Zeitung, 17.07.2002.

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nalsozialistischen Herrschaftssystems mit Nonkonformität und Verweigerung begegnen konnten. In gewisser Hinsicht erneuernd wirkte der Roman Selbs Justiz (1987) um den Privatdetektiv Gerhard Selb von Bernhard Schlink und Walter Popp, den der Rechtshistoriker Bernhard Schlink in Eigenregie zu einer Serienfigur umwandelte. 116 Mit Selb führen die Autoren einen Ermittler ein, den es derart in der deutschsprachigen Kriminalliteratur noch nicht gegeben hatte, da er mit einer nationalsozialistisch belasteten Vergangenheit aufwartet. Die Schwierigkeiten bei der Konstruktion eines Protagonisten, der in die Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit verwickelt gewesen ist, veranlasste andere – nicht nur deutschsprachige – Autoren dazu, ihre Geschichtsermittler mit einer links von der Mitte orientierten politischen Einstellung auszustatten, wie etwa in den Romanen des französischen neo-polars oder des Sizilianers Leonardo Sciascia, dessen kommunistisch und antifaschistisch orientierte Kommissare als Garanten für den Aufklärungswillen gelten konnten. Gerhard Selb, der bezeichnenderweise das Alter von achtundsechzig erreicht hat, hält sich mit unspektakulären Aufträgen im Versicherungs- und Wirtschaftsmilieu über Wasser. Selb war »überzeugter Nationalsozialist gewesen, aktives Parteimitglied und ein harter Staatsanwalt, der auch Todesstrafen gefordert und gekriegt hatte.« [SJ 120f] Nach dem Krieg muss er seine Karriere im öffentlichen Dienst aufgeben, eine Wiedereinstellung nach der Währungsreform lehnt er ab. Sein Fall, der ihn mit seiner eigenen Familiengeschichte konfrontiert, bringt Selb nun dazu, sich mit seiner eigenen Vergangenheit »in den dunklen Jahren« auseinander zu setzen: »die Realität« hatte ihn »eingeholt und das gefährdete das Gleichgewicht.« [SJ 214] Sein Schwager und Chef der Rheinischen Chemiewerke beauftragt ihn mit einem Fall, in dem es um Manipulation in den Chemiewerken geht. Der Fall ist schnell gelöst, doch der Tatverdächtige wird seinen Schwager erpressen, da dieser in einen Sabotageakt während des Nationalsozialismus verstrickt war. Genau in diesem Sabotagefall während der Kriegszeiten hatte Selb die Todesstrafe für die beiden Angeklagten gefordert, die an einem der beiden auch vollzogen wurde. Selb, der erkennt, dass er »nur einen nützlichen Idioten« in dem Fall abgegeben hatte, wird sich für die Instrumentalisierung rächen, seinen späteren Schwager rein zu waschen, und bringt ihn bei einem fingierten Unfall um. Das Plotmuster des Krimis ist traditionell: Ein aktuelles Verbrechen fungiert als Katalysator für Zusammenhänge, in denen die Vergangenheit plötzlich neue Bedeutsamkeit erlangt. Über dieses Katalysemodell hinaus entwickelt sich in Selbs Justiz eine Form der rückblickenden Erzählung, die weniger auf den kriminalistischen Fall, sondern auf die verbrecherische Geschichte des eigenen Selbst zurückführt. Damit deutet sich eine Nähe der detektivischen und kriminalistischen Erzählung zum psychoanalytischen Modell an, 116 Bernhard Schlink/Walter Popp, Selbs Justiz, Zürich: Diogenes 1987. [Im Folgenden: SJ] Zur Trilogie um den Ermittler Selb siehe: Sandro M. Moraldo, Bernhard Schlink, in: Kritisches Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur, 70. Nachlieferung, März 2002. Der Roman wurde 1991 unter dem Titel »Der Tod kam als Freund« für das ZDF in der Regie von Nico Hoffmann verfilmt.

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aber auch zur (auto-)biographischen Erinnerungsliteratur, geht es doch hier um die Erkundung der Vorgeschichte der eigenen Existenz, die seit König Oedipus von Sophokles den Urstoff des Detektorischen ausmacht. Die Konzeption zeigt sich bemüht, einen zwiespältigen und gebrochenen Aufklärer einzuführen. Dieser wird dabei zum Berichterstatter seines selbst begangenen Unrechts während des Nationalsozialismus, dem er mit den Deutungsmustern der Verblendung zu begegnen versucht. Dass Selb ein überzeugter Nationalsozialist war, wird jedoch vom Ich-Erzähler mehr konstatiert als ausführlich expliziert. So bleibt seine Entscheidung, angesichts der Kontinuitäten im Justizapparat nicht in den Staatsdienst zurückzukehren, merkwürdig indifferent. Nach der Währungsreform, so Selb, habe er die Möglichkeit der Wiedereinstellung gehabt, doch habe er gesehen, »was die Bemühung um die Wiedereinstellung selbst aus den Kollegen machte. Anstelle von Schuld hatten sie nur noch das Gefühl, man habe ihnen mit der Entlassung Unrecht getan und die Wiedereinstellung sei eine Art Wiedergutmachung. Das widerte mich an.« [SJ 121] Auch später beklagt er bei seinen ehemaligen Kollegen »das Fehlen jeglichen Bewusstseins der eigenen Schuld« [SJ 251], ihren »Zynismus« und den Rückzug auf Argumentationen, stets »im Recht gewesen zu sein und nur die Pflicht getan zu haben.« [SJ 279] Die eigene Schuld ist ein desillusionierend wirkendes Schicksal, aus dem es kein Entrinnen gibt, aber mit dem man sich arrangieren muss. Es geht bei diesem Charakter mehr um Einsicht in die Schuld als um die persönliche Verantwortung. Schlink, der andernorts von der »Integration des Vergangenen als Bedingung der Selbstwahrnehmung und -darstellung« 117 gesprochen hat, geht es um die Möglichkeiten des Weiterlebens und um Fragen der persönlichen Identität angesichts von Schuld und Verstrickung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, um die Möglichkeit, »Haut oder Identität zu retten«. 118 So ist dieser nur vordergründig gebrochene Mann letztlich ein positiver Held, der frühzeitig auf eine Beamtenbesoldung und eine weitere Karriere verzichtet hat. Damit gelingt es den Autoren, die für den Kriminalroman so grundsätzliche identifikatorische Sympathie für den Protagonisten zu erzeugen. Selb aber bleibt Einzelgänger, und er verkörpert in keiner Weise eine typisch juristische Karriere in der Übergangszeit vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik. Dass »die Jahre zwischen 1933 und 1945 vergessen bleiben«, heißt es resignierend, sei ein Fundament, auf dem unser Staat gebaut ist«. [SJ 283] Beklagt wird jedoch mehr die »Unsauberkeit der Welt« [SJ 82] als die fehlende justizielle Aufarbeitung des Justiz-Unrechts während des Nationalsozialismus. Als sich Selbs Verdacht bestätigt, dass er während des Krieges einen Mann aufgrund eines »Fehlurteils« unschuldig hinrichten ließ, erkennt er, »auf dem Schachbrett einer kleinen, schäbigen Intrige« missbraucht worden zu sein. [SJ 214] Problematisch an diesem »Fehlurteil« ist, dass das damalige Urteil positivistisch lesbar bleibt, da Selb damals nicht für den wahren Sabo117 Bernard Schlink, Die Bewältigung der Vergangenheit durch Recht, in: Ders., Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Frankfurt/M. 2002, S. 89123; hier S. 93. 118 »Ich kann auch sehr fröhlich sein«. Bernhard Schlink über die schwierige Suche nach dem rechten Wort, moralisierende 68er und die Sehnsucht nach einer heilen Welt; in: Frankfurter Rundschau Magazin vom 6.10.2001, S. 4.

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teur das Todesurteil forderte. Damit wird jedoch die Ungerechtigkeit der damaligen Gesetzgebung und die Gnadenlosigkeit, mit der die justiziellen Vollstrecker zu Werke gingen, verschleiert. Nicht nur der private, sondern auch der historische Verlauf gerät so zu einer Machination von unbestimmten Wirkungskräften, die ein »Gefühl der Machtlosigkeit« und ein unbestimmtes »Schuldgefühl« auslöst. [SJ 201] Die deutsche NS-Vergangenheit wird so zu einer andauernden Tragödie der Geschichtsklitterung, des Opportunismus der Nutznießer und der Anpassungsbereitschaft von Denken und Handeln. Selbs Justiz liest sich als eine mit den Mitteln der Populärliteratur vollzogene Antwort eines Rechtshistorikers auf die Auseinandersetzung mit der NS-Justiz und ihrer inkonsequenten Aufarbeitung durch die bundesdeutsche Justiz, die Mitte der 1980er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt findet. Furchtbare Juristen (1987) hatte der Strafrechtshistoriker Ingo Müller seine Anklageschrift gegen den eigenen Berufsstand genannt und damit eine breite öffentliche Diskussion ausgelöst, der sich auch eine vom Bundesjustizministerium geförderte Ausstellung stellte. 119 Dabei verwies Müller insbesondere auf die Kontinuitäten innerhalb der bundesdeutschen Justiz. Eine Gegenposition formulierten nun Schlink und sein Co-Autor, die sich ausgesprochen skeptisch gegenüber der Möglichkeit einer juristischen und historischen Aufarbeitung des Unrechts der NS-Justiz zeigen und die Auseinandersetzung über vergangenes Unrecht in einen moralischen Erinnerungsdiskurs überführen, der nach den Konsequenzen für die bundesdeutsche Identitätsbildung fahndet. 120 Auch in dem wesentlich erfolgreicheren und oft besprochenen Roman Der Vorleser (1995) lässt sich eine Erzählweise erkennen, die Anleihen beim Detektivschema macht. Hier wird zunächst die Liebe eines pubertierenden Jungen zu der wesentlich älteren Hanna geschildert, der er vorliest. Im zweiten Teil trifft der Ich-Erzähler als Jurastudent Hanna nach ihrem plötzlichen Verschwinden als Angeklagte in einem Prozess gegen KZ-Aufseherinnen wieder. An dem Tod mehrerer Jüdinnen mitschuldig, wird sie jedoch nur aufgrund eines falschen Geständnisses verurteilt. Da sie Analphabetin ist – eine Tatsache, deren Peinlichkeit die Angeklagte verheimlichen will – konnte sie das Hauptbeweisstück nicht selbst geschrieben haben. Nur der Erzähler ist sich dessen bewusst und verschweigt das prozessentscheidende Indiz des Analphabetismus. Damit nimmt er ein Fehlurteil in Kauf, weil sie ohne Zweifel eine Täterin war, aber auch, um das von der Angeklagten entworfene Selbstbild nicht zu zerstören. Schlink versteht es, die Vergangenheitsbewältigung der Nachkriegszeit und die Erinnerungsleistungen des involvierten Erzählers nicht als kriminalistische, so doch als moralisch-reflexive Detektion zu entwickeln. Dem Roman liegt ein autobiographischer Prozess des Suchens zugrunde, bei dem ein Tatbestand – der Analphabetismus der ehemaligen 119 Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. Mit einem Vorwort von Martin Hirsch, München 1987. Gerhard Fieberg (Hg.), Im Namen des deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, Köln 1989. 120 Vgl. Beate M. Dreike, Was wäre denn Gerechtigkeit? Zur Rechtsskepsis in Bernhard Schlinks Der Vorleser, in: German Life and Letters 55 (2002), H. 1, S. 117-129.

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KZ-Wärterin Hanna – aufgedeckt wird. Die klare Ökonomie der Erzählung, in der sich die verstreuten Indizien zu einer einzigen Lösung zusammenfügen, lassen auch mit der spektakulären Pointe, durch die sich der Roman erst vom Ende her erschließt, Ähnlichkeiten zum Kriminalschema erkennen. 121 Wenn die verurteilte Hanna jedoch im Gefängnis lesen lernt, wissenschaftliche Werke über den Holocaust liest und ihren mühsam erarbeiteten Gefängnislohn für die Überlebenden spenden will, wird die ganze Erinnerungsarbeit des Romans zum rührseligen Melodrama. Verbrechen, Schuld und deutsche Identität

In dem Kriminalroman Armer Nanosh (1989) von Asta Scheib und Martin Walser kommt es zum Mord an einer Frau, um deren Liebe die zwei Hauptverdächtigen gekämpft haben, und deren Biographien zweierlei Tragödien darstellen. 122 Der erste Protagonist, Frohwein, hat sich zum Prokuristen des verstorbenen Kaufhausbesitzers Sander hochgearbeitet und betrachtet ihn als seinen Ersatzvater. 123 Kaufhausbesitzer Sander hat jedoch einen Adoptivsohn, Nanosh Steinberger, der unter dem angenommenen Vornamen Valentin das Geschäft weiterführt. Über die verstorbenen Väter begründet sich die Konkurrenz um den Ersatzvater. Vater und Mutter von Nanosh Steinberger sind als »Zigeuner« 124 in Auschwitz-Birkenau ermordet worden, während Nanosh in einem Versteck überleben konnte. Der Vater von Frohwein war dagegen als Angehöriger einer deutschen Polizeieinheit in Krakau stationiert und bei der Verfolgung und Deportation von Zigeunern beteiligt, als Kriegsverbrecher zu zehn Jahren Haft verurteilt und 1953 in einem polnischen Gefängnis gestorben. Mit der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma greifen Kriminalroman und Tatort-Verfilmung ein Thema auf, welches Ende der 1980er

121 Kathrin Kollmeier, Beihilfe zum Völkermord. Zur Aufdeckung nationalsozialistischer Verbrechen bei Marten t’Hart und Bernhard Schlink, in: Franceschini/Würmann (Hg.), Verbrechen als Passion, S. 189-203; hier S. 194. Über die Forderungen des Literaturmarktes einer »neuen Lesbarkeit« und den Anschluss an das Detektivschema in Der Vorleser siehe auch: Katharina Hall, The Author, the Novel, the Reader and the Perils of »Neue Lesbarkeit«. A Comparative Analysis of Bernhard Schlink’s Selbs Justiz and Der Vorleser, in: German Life and Letters 59 (2006), H. 3, S. 446-467. Nach den euphorischen Kritiken nach dem Erscheinen des Buches sieht die neuere Forschung dieses Werk zunehmend kritisch: Vgl. u. a. Schlant, Die Sprache des Schweigens, S. 259-268. Hahn, Repräsentationen des Holocaust, S. 215240. 122 Astha Scheib/Martin Walser, Armer Nanosh, Frankfurt/M.: Fischer 1989. Verfilmt in der Fernsehserie Tatort; NDR: Erstsendung am 9.7.1989; Regie: Stanislav Barabas. 123 Zur Beschreibung des Fernsehfilms, insbesondere im Hinblick auf die dort eingesetzten Gedächtnismetaphern, siehe: Struck, Populärkultur und kollektives Gedächtnis, S. 201-205. 124 Von »Zigeunern« spricht der Roman durchgängig, nur einmal gebraucht der Kommissar die Bezeichnung »Sinti und Roma«. Der Begriff »Zigeuner« wird dabei stereotyp in Kontrast zu »Deutsch« gesetzt.

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Jahre noch zu den weitgehend verdrängten Themen innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gehörte.125 Doch mehr als ein Wimpernschlag der Aufmerksamkeit für den Genozid an Sinti und Roma war dies nicht. Geprägt ist der Roman vielmehr durch ein traditionelles romantisches Zigeunerbild, welches antiziganistische Stereotype verbreitete. Sinti und Roma des Romans spielen Zigeunermusik, sie fahren Mercedes, sie sind trickreich, sie hintergehen ihre eigenen Väter, sie können nicht wirtschaften und pflegen eine »parasitäre« Lebensweise 126, und ihnen ist ein südländischer und heißblütiger Charakter eigen, der sie für Frauen attraktiv macht, diese aber auch schlagen lässt. Der Roman lässt keine Zweifel aufkommen, dass es ein »Zigeunertum« gibt, denn innerhalb der »Sippe« ist man »blutsverwandt« und die »Zigeunerabstammung« ist identitätsbildend. 127 Diese rassistischen Denkmuster werden den Figuren des Romans nicht etwa von unverbesserlichen Deutschen zugeschrieben, sondern Sinti und Roma des Romans müssen über ihre Identität in den Kategorien des Rassismus reflektieren. Die Nachgeborenen leiden nun unter ihren gebrochenen Identitäten. Vom Ersatzvater abgewiesen, bleibt Frohwein auf seinen biologischen Vater zurückgebunden und durchlebt als Sohn eines Täters den Konflikt mit den Opfern neu. Er deutet Nanosh zum Gewinner der Geschichte um, der durch den Tod seiner Eltern zum alleinigen Erben eines Kaufhauses geworden sei und nun aufgrund eines »positiven Rassismus« 128 gesellschaftliche Vorteile gewinnt. Damit einher geht der Versuch, die Schuld des eigenen Vaters zu verringern. Dazu begeht er den Mord an der umkämpften Frau – deren Liebe der von Identitätskomplexen gefangene und von seinem Volk entfremdete Deutsche im Gegensatz zum vitalen Zigeuner nicht erreichen wird – und versucht, den Mord Nanosh Valentin Steinberger unterzuschieben. Das Motiv des Verbrechens rekonstruiert Kommissar Stoever: »Aber wenn in einem Prozeß der Öffentlichkeit des langen und breiten demonstriert worden wäre, wozu ein Zigeuner fähig ist, dann war ihr Vater ein wenig weniger schuldig. Sie haben es nicht ertragen, daß ihr Vater schuldig ist. Das ist verständlich, Herr Frohwein.« 129 Bei Nanosh äußert sich seine gebrochene Identität im Wunsch nach Assimilation und seiner Unfähigkeit, sich von seiner Herkunft zu trennen. 130 125 Vgl. Wolfgang Wippermann, Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997. 126 Vgl. Scheib/Walser, Armer Nanosh, S. 41: »In der Elften hatten sie sich in Musik lange mit Zigeunermusik beschäftigt. Béla Bartóks musikethnologische Feldforschungen waren die Grundlage gewesen. Bartók hatte herausgefunden, daß es keine ethnische Gruppe gab, die sich so präzise dem musikalischen Geschmack des Volkes anpasste, in dessen Gebiet sie sich gerade aufhielt.« 127 Scheib/Walser, Armer Nanosh, S. 41f u. 135. 128 Scheib/Walser, Armer Nanosh, S. 99: »Ein ganzes Kaufhaus hat es ihm gebracht, sein Zigeunertum.« 129 Scheib/Walser, Armer Nanosh, S. 133. 130 Im Film wird dies u. a. dadurch vermittelt, dass Nanosh ein gebrochenes Deutsch spricht, obwohl er ja seit Kriegsende in einer großbürgerlichen Familie groß geworden ist. Zudem erkennt man seine gebrochene Identität

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Damit stellt der Kriminalroman die Identitätsstörung Nanoshs in Analogie zu derjenigen Frohweins. Dieser behauptet zwar, kein Rassist zu sein, aber die Erzählung zeigt, dass er typischen Denkfiguren des Rassismus verhaftet ist: »Heute ist natürlich jeder erhaben über solchen Rassismus. Klar. Ich auch. Aber wer praktisch zu tun hat mit anderen Rassen, im Alltag, der weiß, daß es Verschiedenheiten gibt.« 131 Vielmehr treibt ihn die Unfähigkeit, die Schuld seines Vaters zu akzeptieren oder zu »bewältigen«. Es ist nicht der Hass des Vaters, der sich auf den Sohn überträgt. Seine Motivation begründet sich vielmehr in einer in seinen Augen ungerechtfertigten, übertriebenen Schuldzuweisung an die Generation der Väter und der vermeintlich gesellschaftlich geforderten, überzogenen Sühne. Innerhalb der Befragungen der Kommissare, die sich auf die psychologischen Tiefenschichten des Täters richten, wird dieser gestehen, dass er »permanent an Unterlegitimiertheit« leidet, an einem »deutschen Leiden«, womit er individuelle und kollektive Identität verknüpft. Die Welt »kenne keine Gerechtigkeit für uns Deutsche« behauptet Frohwein, auch wenn er begriffen habe, dass dies »nach Auschwitz« kaum möglich sei. Kommissar Stöver wird dem entgegnen, dass Frohwein zwar ein rationales Eingeständnis der deutschen Schuld vollzogen habe, aber zu keinem emotionalen persönlichen Schuldeingeständnis fähig sei. Damit wurde ein nahezu klassisches narratives Muster des neuen deutschen Kriminalromans auf die Befindlichkeiten deutscher Identität nach Auschwitz übertragen: Der Täter wird als Opfer der gesellschaftlichen Umstände vorgeführt, hier als Sohn eines NS-Täters. Der Koautor des Kriminalromans, Martin Walser, hatte – innerhalb einer Reflexion über öffentliche Sprechweisen über den Nationalsozialismus und der von ihm beobachteten privaten Abwehr gegenüber der deutschen Schuld – schon lange vorher die These aufgestellt, nach der die Deutschen zunächst »Auschwitz zu bewältigen hätten«, bevor sie sich »nationalen Aufgaben« widmen könnten. 132 In seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 sollte er ausführen, dass er jedes Mal, wenn »in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird«, merke, »daß sich in mir etwas gegen diese Dauerrepräsentation unserer Schande wehrt.« 133 Im Kriminalroman vollzoin seinem inneren Widerstand, seine Frau zu schlagen, denn »Bei den Zigeunern heißt es: eine ungeschlagene Frau ist wie ungebratenes Fleisch«. Vgl. Scheib/Walser, Armer Nanosh, S. 80. Im Film spielen die visuellen Repräsentationen der Väter eine wichtige Rolle: Ebenso wie Frohwein besitzt Nanosh keine Fotos von seiner Familie. Erst der Kommissar wird ein Foto des Vaters von Frohwein im Polizeiarchiv auftreiben. Frohwein ist selbst Sammler von Videobildern, was seine Entfremdung deutlich machen soll. 131 Scheib/Walser, Armer Nanosh, S. 99. So auch S. 100: »Wo zwei Rassen aufeinander treffen, wird jede Empfindung rassistisch. Sander selber hat ja auch versucht, alles Zigeunerische zu verdrängen.« 132 Martin Walser, Händedruck mit Gespenstern, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, Bd. 1, Frankfurt/M. 1979, S. 39-50; hier S. 48. Vgl. dazu auch Hahn, Repräsentationen des Holocaust, S. 241-274. 133 Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Walser Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1999, S. 7-17; hier S. 12.

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gen die Autoren eine Parallelisierung der beiden Lebensläufe in Form einer zweifachen Tragödie. Die fehlende Identifikation mit den Vätern macht beide Protagonisten einsam und autistisch, und sie macht sie beide zu Mördern, denn Nanosh Steinberger kann der Mord nur angehängt werden, weil er für einen Augenblick bereit war, den Mord wirklich zu begehen. Diese Parallelisierung des Leides von Opfern und Tätern – übertragen auf die Folgegenerationen – stand dabei ganz im Zeichen des Historikerstreits. Die Plotkonstruktion erinnert an den schmalen Band des Historikers Andreas Hillgruber Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, der neben den Äußerungen Ernst Noltes zu den auslösenden Faktoren des Historikerstreits gehörte. 134 Der Band vereinigte zwei kurze Studien – »Der Zusammenbruch im Osten 1944/45« und »Der geschichtliche Ort der Judenvernichtung«. Hillgruber stellte darin den Mord an den Juden in den Jahren 1941 bis 1944 und die unmittelbar folgende Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und die Niederlage der Wehrmacht in der Form einer doppelten Tragödie dar.135 Scheib und Walser führten die Analogie fort und behaupteten nun, dass die psychologischen Folgen auf Täter- und Opferseite gleichwertig einzuschätzen seien. Darüber hinaus war die vorgeführte Konzeption von »gestörter« und »ungestörter«, von individueller und deutscher Identität mehr als traditionell, da sich Identitäten hier »allein in bruchlosem Traditionalismus realisieren können«. 136 In einem weiteren Tatort, der eine Nominierung für den renommierten Grimme-Preis erhielt, wurde die Debatte um die vom Hamburger Institut für Sozialforschung kuratierte Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 mit dem Titel Bildersturm filmisch umgesetzt. 137 Die Krimihandlung spinnt sich in Bildersturm um einen Professor für Zeitgeschichte der Bonner Universität, dessen Spezialgebiet die Verbrechen der Wehrmacht an der Westfront sind. Sein wissenschaftliches Interesse entpuppt sich jedoch auch als biographische Aufarbeitung: Als sechsjähriger Junge musste er in einem belgischen Dorf beobachten, wie seine Familie einem von der Wehrmacht angerichteten Blutbad zum Opfer fiel, nachdem von einem Partisanen ein Schuss mit tödlicher Folge auf die Militäreinheit abgegeben worden war. Das dadurch ausgelöste Trauma versucht der Professor nun nicht mehr durch seine wissenschaftliche Arbeit zu kompensieren, sondern durch Rache zu bewältigen: Ein Foto bringt ihn auf die Spur jener drei Männer, die seine Fa-

134 Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986. Rudolf Augstein (Hg.), »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. 135 White, Historical Emplotment and the Problem of Truth, S. 37-53. 136 Struck, Populärkultur und kollektives Gedächtnis, S. 204. 137 Tatort »Bildersturm«; Erstsendung: WDR 21.6.1998; Regie: Niki Stein; Drehbuch: Robert Schwentke u. Jan Hinter. Nach Angaben der Produktionsfirma Colonia Media hatte der Tatort einen Marktanteil von 19,08 Prozent und 5,24 Millionen Zuschauer.

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milie auf dem Gewissen haben. Er zwingt sie zu einem späten Schuldeingeständnis und tötet sie. Die ersten beiden Mordopfer führen zu den Ermittlungen der beiden Kölner Kommissare Ballauf und Schenk, die ein Foto aus der Wehrmachtsausstellung auf die entscheidende Spur bringt und sie drängt, den dritten fehlenden Mann auf der Fotografie ausfindig zu machen, bevor der Täter ihn ermordet. Der Wehrmachtssoldat auf dem Foto besitzt eine verblüffende Ähnlichkeit zu Kommissar Schenk, und so wird sein Onkel, den er aus seiner Kindheit in bester Erinnerung hat, im Verlauf der Handlung als der dritte mordende Wehrmachtssoldat aufgespürt. Kommissar Schenk, der zu Beginn ablehnend der Ausstellung gegenübersteht, ist gezwungen, die familiären Lebenslügen und Legenden aufzudecken. Der Geschichtsprofessor, der seine einstige Opfer- und Zuschauerrolle mit der eines Racheengels getauscht hat, wird sich stellen, nachdem er mit Schenk sen. ein erinnerungstherapeutisches Gespräch geführt hat, in denen beide ihre Taten sich gegenseitig eingestehen. Der Fernsehkrimi handelt vom Versagen des Befragens und Erzählens zwischen den Generationen. Dem fotografischen Bild kommt dabei eine entscheidende Funktion zu, vermag es doch das Schweigen anscheinend aufzubrechen, da es – durch seine Authentizität des es ist so gewesen – vielfältige Fragestellungen auszulösen vermag. Andererseits bleibt die Fotografie stumm, ihre Stille muss durch die Lebensgeschichten der Protagonisten aufgefüllt werden. Der Fernsehfilm will mit seiner überfrachteten Dramaturgie nicht nur Krimihandlung und Geschichtsfiktion, sondern auch Actionfilm, Liebesgeschichte und psychologische Studie sein. Der Film liefert darüber hinaus eine selbstreferentielle Medienkritik und verweist auf die historiographiegeschichtliche Dimension der Debatte als auch auf metahistorische Probleme, inwieweit unterschiedliche mediale Repräsentationen der Vergangenheit verschiedene Funktionen für das individuelle und kollektive Gedächtnis haben können. 138 Dabei wurde der Film jedoch der Debatte um die Repräsentationsformen der Ausstellung nicht gerecht: In der fiktiven Ausstellung des Films – die Verbrechen an der Westfront thematisiert und großformatig aufgezogene Bilder zeigt, jedoch keine Texte – dreht sich der Streit um eine bewusst verfälschte Ausschnittsvergrößerung. Dies war jedoch keinesfalls der Fall in der Ausstellung des Hamburger Instituts. 139 So wird die Problematik der Quellenkritik verzerrt wiedergegeben, denn beim Streit um die »verfälschenden« Absichten der Wehrmachtsausstellung ging es um fehlerhaft in die Ausstellung aufgenommene Fotografien und um ungenaue Zuschreibungen zu diversen Fotografien – abseits der Debatte über die durch die Ausstellung vorgenommene Interpretation der Verbrechen der Wehrmacht. 140 Der Ausstel138 Vgl. Struck, Populärkultur und kollektives Gedächtnis, S. 205-210; hier S. 206. 139 Vgl. den Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«, November 2000, url: http://www.his-online.de/download/Kommissionsbericht.pdf; 08.05.2007. 140 Nach dem Kommissionsbericht zur »Wehrmachtsausstellung« traf dieser Vorwurf auf 20 von 1433 gezeigten Fotografien zu: Bericht der Kommission, S. 87.

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lungsleiterin des Films, die bezeichnenderweise Kunsthistorikerin ist, geht es in einem konzisen Kommentar weniger um Information, sondern um Emotionen, und so erregt sie sich auch nicht über Hakenkreuzschmierereien von Neonazis, da diese die öffentliche Aufmerksamkeit steigern. Die fiktionale Verdichtung kollektiver und individueller Geschichte dieser Krimifiktion modifizierte die Intention der Ausstellung in entscheidender Weise. Während es dort es um den geplanten, organisierten Völkermord ging, erinnert das Kriegsereignis im Film an eine Vergeltungsmaßnahme von deutschen Kampfverbänden, der keine Systematik zugrunde liegt, hat doch das Filmereignis einen eher spontanen Charakter und wird als die Tat einzelner Soldaten gedeutet, die aus Wut, Angst und Panik handeln. Im Diskurs über die Motivation der nationalsozialistischen Täter, der sich seit der Debatte um Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker und dem Erscheinen von Christoper Brownings Ganz normale Männer über das Polizeibataillon 101 verstärkte, positionierte sich der Film schon zu Beginn, als Kommissar Ballauf von einem Besuch in Auschwitz berichtet und äußert, »dass das damals keine Monster waren, die Abertausende von Menschen umgebracht haben, sondern Menschen wie ich und du«. Am Ende des Krieges – so erscheint es im Film, tendieren die damaligen Verbrechen zu einer »Tötung im Affekt«, wodurch sich »das Maß der Schuld auf ›mittlerem Niveau‹ einpendelt«. 141 Über Habsucht und Profitgier

In Mann ohne Makel (2002) von Christian von Ditfurth, der selbst Historiker ist, kommt es wohl erstmals in der westdeutschen Kriminalliteratur zur Identität eines institutionalisierten professionellen Historikers mit der Figur des Ermittlers. 142 Protagonist Dr. Josef Maria Stachelmann arbeitet am Historischen Seminar der Hamburger Universität und leidet nicht nur an Arthritis, sondern auch an seiner Habilitation über die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald, die nicht fertig werden will. So entfaltet sich zunächst ein Campusroman, der im ironischen Blick auf den Alltag von Lehre und Forschung Spitzen gegen den Universitätsbetrieb und ganz im Rahmen des geschichtswissenschaftlichen Diskurses kritische Kommentare über namhafte NS-Historiker bereithält. Seinen politisch apathischen Studenten kann Stachelmann wenig abgewinnen. Umgekehrt ist dies anders, hat es doch eine

141 Struck, Populärkultur und kollektives Gedächtnis, S. 210. 142 Christian v. Ditfuth, Mann ohne Makel, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002. Diese Identität von Detektiv und Historiker machte Ditfurths Krimis um den Historiker Stachelmann für die Fachhistoriker interessant: »Ob Historiker die besten Berufsperspektiven als Kriminalisten haben, muss man nach der Lektüre beider Bücher deshalb nicht glauben. Es befriedigt allerdings den historisch versierten Leser: In seiner Branche scheint ein kriminalistisch durchdringender Spürsinn heimisch zu sein, der – wenn es denn einmal bei Geschichtsforschenden besonders fiktional zugeht – verhindert, dass so unsägliche Erzeugnisse wie die historischen Romane von Tanja Kinkel allein den Markt beherrschen.« Wolfram Siemann, Geschenktipps für Weihnachten, in: sehepunkte 12 (2004), url: www.sehepunkte.de/2004/12/w04_siemann.html, 18. 1. 2007.

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Studentin auf ihn abgesehen. Und dann ist da noch die junge Doktorandin Anne, die Angst vor der Arbeit in historischen Archiven hat. Das ist wahrlich keine gute Voraussetzung für die gemeine Vorstellung vom echten Historiker, doch kein Grund für Stachelmann, sich nicht näher mit ihr einzulassen. Dass Stachelmann sich erst im Zuge seines Falles mit der eigenen Familiengeschichte näher beschäftigt und aufdeckt, dass sein eigener Vater als Hilfspolizist bei der Arisierung jüdischen Eigentums teilnahm, ist ein ironisches Detail des Romans. Denn so zeigt Ditfurth, dass die biographische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit keine Voraussetzung dafür ist, NS-Historiker zu werden. Spannung entwickelt sich, als Stachelmanns alter Bekannter aus links bewegten Studienzeiten auftaucht. Dieser hat die Seiten gewechselt – er ist Kriminalpolizist geworden – und sucht Stachelmann auf, um ihn in einem Fall eines Dreifachmordes zu konsultieren, dessen Lösung zu den Akteuren und Profiteuren der »wilden Arisierung« führt, die den Nachkriegserfolg eines ganzen Kreises Hamburger Immobilienmakler sicherten. Mit der »wilden Arisierung« gerät ein Aspekt des Holocaust in den Blick, der sich für die kriminalistische Fiktion geradezu anbietet, da der Mord im traditionellen Detektivroman – dem sich Ditfurths Romane insbesondere durch das Spurenlegen und durch die überraschenden Wendungen verpflichtet fühlen – oft genug auf ökonomische Motive zurückgeführt wird. Für eine kriminalistische Geschichtsfiktion besteht darin jedoch auch eine Gefahr: Beraubung, Enteignung und die anschließende Vernichtung der Juden scheinen wenig mit einem spezifisch deutschen Antisemitismus zu tun zu haben. So ist es folgerichtig, dass Historiker Stachelmann mit dem Buch Hitlers willige Vollstrecker des amerikanischen Historikers Daniel Goldhagen abrechnet, in dem er diesem vorhält, nicht nur abgeschrieben zu haben, sondern auch, dass Goldhagen den »Schuldkomplex« der »bundesdeutschen Erregungsgemeinschaft« angesprochen habe, »an dem meistens die leiden, die keine Schuld haben.« 143 Wie eng persönliche Schuld und kollektive Verdrängung zusammenhängen, erfährt Stachelmann jedoch im Verlauf seiner Ermittlungen, da sie ihn dazu bringen, seinen Vater erstmals nach seiner Zeit während des Nationalsozialismus zu befragen. Dieser wird ihm erzählen, dass er schon 1932 in die SA eintrat und später Hilfspolizist war und dabei KZ-Häftlinge bewachte, die nach den Bombardierungen Hamburgs Blindgänger entschärfen mussten. Neben dieser typischen familiären Einbindung des Plots wird auch das Motiv der Rache fortgeschrieben, in dem sich die Ermittlungen zunächst auf einen Juden »Kohn« konzentrieren, dessen Familie beraubt und enteignet wurde. Die ökonomische Motivation der Verbrechen im Nationalsozialismus wird auch in den Kriminalromanen Schattenbilder. Van Dyck ermittelt (2003) von Felix Huby und Ulrich W. Grimm und in Das Kindermädchen (2005) von Elisabeth Herrmann betont. Voraussetzung für den Ermittlungsprozess eines Rechtanwaltes, der mit seinen Nachforschungen seine eigene finanzielle Existenz aufs Spiel setzt, ist hier der Mord an einer Ukrainerin, wodurch die Reputation einer angesehenen Familie aus Berlin-Grunewald gefährdet ist. Die Autorin vertraut dabei nicht auf das von ihr intensiv recherchierte Thema der Ausbeutung ukrainischer Zwangsarbeiterinnen als Kindermäd143 Ditfurth, Mann ohne Makel, S. 145.

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chen in deutschen Haushalten während des Zweiten Weltkrieges, von denen nun eine in Berlin auftaucht und eine Arbeitsbestätigung ihres ehemaligen »Arbeitgebers« einfordert, die sie für eine Entschädigungszahlung benötigt. Vielmehr verknüpft Herrmann ihren Plot mit dem für den NS-Krimi traditions- und klischeebeladenen Motiv geraubter Kunstschätze, welches auch in Schattenbilder die tragende Rolle spielt. 144 Hier ist ein Professor der Kunstgeschichte Ausgang der Ermittlung, von dem allerdings nur noch seine verbrannte Leiche ohne Kopf vorhanden ist. Wie sich herausstellt, war der Kunsthistoriker während des Zweiten Weltkriegs Kunstexperte bei der Wehrmacht. Die drei Kriminalromane popularisierten dabei eine Tendenz innerhalb der zeitgenössischen geschichtswissenschaftlichen Forschung seit Mitte der 1990er Jahre, die bis zu Götz Alys These vom nationalsozialistischen »Gefälligkeitsstaat« reicht. 145 Studien über die »Arisierung« jüdischen Eigentums 146, über Korruption 147, über große deutsche Wirtschaftsunternehmen oder Banken 148, die Debatte über den »Stiftungsfonds der deutschen Wirt144 Aufgrund der zahlreichen laufenden Restitutionsansprüche im Kunstmarkt hatte das Thema neue Aktualität bekommen: Vgl. Hannes Hartung, Kunstraub in Krieg und Verfolgung. Die Restitution der Beute- und Raubkunst im Kollisions- und Völkerrecht (=Schriften zum Kulturgüterschutz), Berlin 2005. 145 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005. 146 Zur »Arisierung« u. a.: Wolfgang Dreßen, »Aktion 3«. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998. Mathias Krispin u. a., Ein offenes Geheimnis – »Arisierung« in Alltag und Wirtschaft in Oldenburg zwischen 1933 und 1945: Katalog zur Ausstellung, Oldenburg 2001. Angelika Baumann/Andreas Heusler (Hg.), »München arisiert«. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004. Ulrich Werner Grimm u. a. (Hg.), Zwangsarbeit und »Arisierung«. Warnecke & Böhm – ein Beispiel. Dokumentation einer Ausstellung, Berlin 2004. Regionalgeschichtliche Studien u. a.: Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945 (=Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 35), Hamburg 1997. Alex BrunsWüstefeld, Arisierung. Das Beispiel Göttingen, Göttingen 1995. Susanna Misgajski, »Arisierung« auf Rügen am Beispiel des Kurhauses Binz, 2004. Zusammenfassend u. a.: Irmtrud Wojak, »Arisierung« im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis (=Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, 2000), Frankfurt/M. 2000. Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hg.), »Arisierung« und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002. 147 Cordula Ludwig, Korruption und Nationalsozialismus in Berlin 1924-1934 (=Geschichtliche Grundlagen der Politik; Bd. 1), Frankfurt/M. 1998. Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt/M. 2001. 148 Harold James/Karl Heinz Siber, Die Deutsche Bank und die »Arisierung«, München 2001. Ingo Köhler, Die »Arisierung« der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung, Ausschaltung und die Frage der Wiedergutmachung

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schaft zur Entschädigung von Zwangsarbeit« und die Schwierigkeit bei der Akquirierung der »Spenden« aus der Wirtschaft erweiterten das Bild vom deutschen Antisemitismus, in dem sie eine Volksgemeinschaft von »willigen Profiteuren« und »Schnäppchenjägern« sichtbar machten. 149 Überspitzt lässt sich konstatieren, dass sich damit die Erkenntnisse der geschichtswissenschaftlichen Produktion dem Lösungsversprechen des Kriminalromans annähern. Eine neo-ökonomistische und utilitaristische Interpretation des Nationalsozialismus hat Renaissance, die jedoch einen marxistischen Interpretationsrahmen eines Zusammenhangs von Kapitalismus, Imperialismus und Rassenpolitik negiert und das Augenmerk auf den individuellen Profit wirft. 150 Dass sich dadurch auch Mord erklärt, ist gerade dem Krimileser plausibel. 3.3 V ON

DER

E XKLUSION

ZUR I NKLUSION DER

T ÄTER

Während es in der DDR-Kriminalliteratur frühzeitig zur seriellen Aufklärung von Kriegsverbrechen kam, war es in der westdeutschen Populärkultur zunächst der vereinzelte Serientäter, der als symbolische Ersetzung für die faschistische Vernichtungspolitik einstehen musste. Die Serienmörderfiktionen versuchen – mit Ausnahme von Stemmles Dr. Petiot und Lorres Der Verlorene – die NS-Verbrechen und ihre Täter über die pathologische Figur des Triebtäters zu verbildlichen. Diese wird zu einem populären Fetisch, mit dem die Gewalt singularisiert und ihre allgemeine Existenz im Sinne einer strukturellen gesellschaftlichen Gewaltausübung durch die Institutionen und ideologischen Vorgaben der »Volksgemeinschaft« weitgehend verschwiegen werden konnte. 151 Innerhalb der bundesdeutschen Kultur des beredten Verschweigens waren die Serienmörderfiktionen Beispiele dafür, wie die Populärkultur die der Gesellschaft weitgehend bewussten Verbrechen zur Darstellung bringen und sie dabei gleichzeitig verschleiern konnte. Wie gerade der Dokumentarbericht von Will Berthold und seine filmische Umsetzung in Nachts, wenn der Teufel kam zeigt, wurden dabei nazistische Kriminalitätsvorstellungen über Sexualstraftäter in paradoxerweise auf

(=Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte; Bd. 14), München 2005. Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Die Dresdner Bank im Dritten Reich, München 2006. 149 Zitate aus folgenden Rezensionen: Uwe Wittstock, Der Historiker Götz Aly im Disput mit seinen Kritikern in Frankfurt am Main, in: Die Welt, 6. Mai 2005, S. 29. Maik Söhler, Deutsche verwerten Juden. Wolfgang Dreßen hat mit »Betrifft: ›Aktion 3‹« eine einzigartige Bestandsaufnahme öffentlicher und privater Schnäppchenjäger im Dritten Reich vorgelegt, in: Jungle World, 10. Februar 1999. 150 Vgl. dazu die Kritik von Hans Ulrich Wehler an Götz Alys Buch »Hitlers Volksstaat«, der diesem einen »engstirnigen Marxismus« bzw. einen »Vulgärmarxismus« vorwarf: Siehe: Engstirniger Marxismus. Hans Ulrich Wehler kritisiert Götz Alys Darstellung von »Hitlers Volksstaat«, in: Der Spiegel 14 (2005), 4.4.2005, S. 50-54. 151 Vgl. Carla Freccero, Historical Violence. Censorship and the Serial Killer: The Case of American Psycho, in: diacritics (1997) 27, S. 44-57; hier S. 48.

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die NS-Täter übertragen. Gerade hier lässt sich in der Adaption atavistischer und biologistischer Deutungsmustern von einer »faschisierten« Wahrnehmung der NS-Vergangenheit sprechen. 152 Bei Kirst zeigten sich dann erstmals Parallelen zu psychohistorischen Deutungsmuster des Faschismus mit der Vorstellung vom verklemmten und sadistischen NS-Täter, dem hier noch vor dem Hintergrund eines biologistischen Rassismus ein zwanghafter Reinheitszwang zugeschrieben wurde. Der Zwang zu Töten und die Lust am Töten wird dabei in ein triebgesteuertes Töten verwandelt, welches weitgehend als motivlos empfunden werden muss. Im Hinblick auf die sozialhistorischen und ideologiegeschichtlichen Kontexte der Vernichtung ist dies bedeutungsvoll, da durch die vermeintliche Motivationslosigkeit eines triebgesteuerten Sexualmörders das »Täterprofil« deutscher Mörder und damit gesellschaftliche Kontexte der Verbrechen ausgeblendet werden. Die Romane entziehen sich so dem Versuch, die Mordtaten verstehen zu wollen und ihre Taten nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Sie arbeiten an der Exklusion der Täter ebenso wie an der Exterritorialisierung der Tatorte und führen damit zu einer Entwirklichung der nationalsozialistischen Verbrechen. In den Romanen von Kohout und Bosetzky aus den 1990er Jahren, die nun deutlich mit psychohistorischen Deutungsangeboten arbeiten, wirkt sich das Motiv des Lustmörders als Analogie für die NS-Verbrechen höchst ambivalent aus, gerade wenn es im (pseudo-) dokumentarischen Rahmen verankert wird. Sie repräsentieren jedoch nun nicht mehr allein den auszuschließenden Einzeltäter, sondern den Durchschnittstäter, indem ihr Handeln in einer Pathologie der Gesellschaft verankert wird. Verbunden ist damit der Versuch, aufgefächerte Täterprofile zu erstellen, auch wenn sie bei Bosetzky durch eine autoritäre Erziehung und unterdrückte Sexualität determiniert bleiben. Indem aber auch diese Romane vehement auf der Anormalität und Exklusion der Täter bestehen, arbeiten sie sowohl den ausgefeilteren psychohistorischen Theorieangeboten als auch den traditionellen historischen Erklärungsmodellen entgegen, die beide auf die relative gesellschaftliche »Normalität« verweisen, auch wenn sie dabei psychopathologisch ausgedeutet werden. 153 Hier setzt sich der traditionelle Serienmörder-Mythos durch, der darauf aufgebaut ist, das radikal Andere und Böse literarisch auszugrenzen. Ebenso bleibt auch das atavistische Erklärungsmodell erhalten, wenn der Mensch als Mordtier erscheint, welches seine Beute im Dickicht kriegsverdunkelter Städte oder im Dschungel der Kleingartenkolonien reißt. Dennoch zeigt sich in der Rückkehr des Motivs des triebgesteuerten Exzesstäters in den 1990er Jahren ein erneutes Interesse für die Täter der Vernichtung, wie es auch in der Geschichtswissenschaft anzutreffen ist. Während bis in die 1960er Jahre eine oft mit sexuellen Perversionen verknüpfte Diabolisierung von SS-Tätern dominierte, brach dieses Bild im Zuge der Debatte 152 Vgl. Georg Seeßlen, Tanz den Adolf Hitler. Faschismus in der populären Literatur, Berlin 1994, S. 14. 153 Vgl. Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt/M. 1992, S. 64. Harald Welzer, Männer der Praxis, in: Ders. (Hg.) Nationalsozialismus und Moderne (=Tübinger Beiträge zu Philosophie und Gesellschaftskritik; Bd. 5) , Tübingen 1993, S. 105-127.

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über Hannah Arendts Begriff der »Banalität des Bösen« auf. Strukturalistische und intentionalistische Erklärungsansätze der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik dominierten seit der Mitte der 1970er Jahre zunehmend die Diskussion, die jedoch beide die »gewöhnlichen« oder auch »ganz normalen« Täter der Vernichtung aus den Augen verloren. Erst mit der »neueren Täterforschung« seit 1990 kamen diese Akteure wieder ins Blickfeld. Die weiterhin vorhandene Attraktivität des psychohistorischen Narrativs in der Literatur beruht darauf, dass es von der historiographischen Forschung weithin gemieden wird und sich die Literatur erhofft, in tiefere Schichten des Individuums vorzudringen. Hier zeigt sich ein erweiterter Deutungsanspruch der Literatur, welche über behavioristisch-anthropologische, strukturell-institutionelle, situative, intentionale oder aber sozialpsychologische Ansätze in der Geschichtswissenschaft hinausgehen will und die individuelle Täterdisposition durch psychoanalytische Deutungsmuster zu ergänzen sucht. Auf das Ermittlungsschema der Kriminalliteratur als einer Möglichkeit, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Kontinuitäten auseinander zu setzen, griffen bundesdeutsche Autoren nur vereinzelt und auch sehr verspätet zurück. In einer Kultur des Beschweigens und gesellschaftlich unerwünschter Auseinandersetzung war dies kaum verwunderlich. Doch auch andere Gründe sind heranzuziehen: Erstens fallen die Anfänge des bundesdeutschen Kriminalromans erst in die späten sechziger Jahre – zuvor war man an einer fiktionalen Verbrechensdarstellung sowie ihrer aufklärenden Ermittlung bezeichnenderweise kaum interessiert. Zweitens hatte schon Friedrich Dürrenmatt früh auf das Scheitern des Aufklärungsprojektes angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen hingewiesen, und Jörg Fauser betonte in einer ähnlichen Argumentation, dass das Verbrechen schon gewonnen habe, bevor ein Autor überhaupt anfange, einen Kriminalroman zu schreiben. Drittens konnte eine Überführung der nationalsozialistischen Verbrechen in den Bereich des Trivialen als inadäquat erscheinen, bis mit dem Beginn der achtziger Jahre durch den Fernsehfilm Holocaust neue Repräsentationsmöglichkeiten geschaffen wurden. Viertens bildete sich der historische Kriminalroman erst in den 1970er Jahren im Zuge einer international bemerkbaren Rückkehr zur Geschichte aus, die insgesamt als Selbstvergewisserung einer in die Krise geratenen Moderne zu verstehen ist. Die indirekte Thematisierung des nationalrassistischen Mordprojektes über die Exklusion einzelner Täterfiguren im psychopathologischen Erzählmuster löst sich in den seit den 1980er Jahren erschienenen retrospektiven historischen Ermittlungsromanen auf. Gezeigt wird nun die Inklusion der Täter, Profiteure und Mitläufer in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, so dass Kontinuitäten und Verstrickungen der Nachkriegsgesellschaft aufgedeckt werden konnten. So kommt es von der Thematisierung der NS-Unrechtsjustiz bis zur Wiedergutmachung von Zwangsarbeit zu einer Übertragung zentraler inhaltlicher Debatten über die NS-Vergangenheit in die Kriminalliteratur. Dabei bleibt die Konkretion der nationalsozialistischen Verbrechen, verglichen etwa mit Didier Daeninckx’ Meurtres pour Memoire in Romanen von Hansjörg Martin, Bernhard Schlink, Asta Scheib und Martin Walser gering. Räsoniert wird über die Last der Geschichte und eine deutsche Identitätsfindung »nach Auschwitz«, während eine deutsche Tätergesellschaft 441

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noch weitgehend unsichtbar bleibt. Bemerkenswert ist das Bedürfnis, auch diejenigen zu verstehen, die sich schuldig gemacht haben. Solches gelingt insbesondere dann, wenn man nicht zu sehr ins historische Detail geht. Der retrospektive Ermittlungsroman kündigt das Verschweigen auf und eröffnet ein beredtes Beschweigen. Das erscheint angesichts des detektivischen Paradigmas des Ermittelns und Aufdeckens verwunderlich. Doch im retrospektiven Ermittlungsroman wird primär ein aktuelles Verbrechen aufgedeckt, welches allein seinen auslösenden Grund in der Vergangenheit hat. Die Kriminalliteratur zeigt sich insofern weitgehend resistent gegenüber forschungsbestimmenden Ansätzen wie die »Banalität des Bösen«, verkörpert durch die sogenannten Schreibtischtäter und Bürokraten der Vernichtung, gegenüber strukturellen Deutungsmustern des NS-Systems, als auch gegenüber einer »Generation der Unbedingten«154, also überzeugten Nationalsozialisten oder ideologischen Fanatikern. Von einer Analytik möglicher Täterprofile bleibt der retrospektive Ermittlungsroman weit entfernt, denn er beschränkt sich weitgehend auf die Identifizierung und die Überführung von Tätern, deren Motive oft auf ökonomische Interessen zurückgeführt werden. Allein hier finden sich Parallelen zur neueren NS-Forschung.

154 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.

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4 Die Repräsentation des Grauens Die Repräsentation des Holocaust in der Populärkultur nach 1945 ist wiederholt als ein ambivalentes Fortschreiben mythogener nazistischer Strukturen interpretiert worden, als eine Reproduktion der Faszination des Faschismus und faschistischer Wahrnehmungsstrukturen. Peter Reichel hat in seinem Buch Der schöne Schein des Dritten Reiches das Ineinanderspiel von Faszination und Gewalt als kennzeichnendes Merkmal des Nationalsozialismus hervorgehoben, welches sich gerade im nichtwissenschaftlichen Diskurs über den Faschismus widerspiegelt: »Für viele war und ist Faschismus die ästhetische Erfahrung des Außergewöhnlichen.« Reichel stellt dabei fest, dass es kein Zufall sei, »daß sich die Obsessionen dieses Diskurses und die mit ihm einhergehende Vermarktung von Todeskitsch, Gewaltkult und sexuellen Phantasien vor allem mit der SS verknüpfen.« Die Faszination des Faschismus sei eng verbunden mit der Stilisierung der SS, ihrer bedrohlichen Uniformierung, der bizarren Vorstellung einer geheimnisvollen Ordensgemeinschaft, der Doktrin des unbedingten Gehorsams und Treue, dem Kult des Kampfes und des Opfers, der Blutmetaphorik, der rassischen »Auslese« und dem damit verbundenen »rassistischen Leitbild asexueller Schönheit, physischer Überlegenheit des nordischen Herren-Menschen.« Das von ihm betonte »Doppelgesicht des Dritten Reichs aus Gewalt und geschönter Wirklichkeit« sieht er in der (Selbst-)Täuschung der Massen durch die Mythisierungen, Dekorationen und Inszenierungen der Politik, in der geschönten Wirklichkeit in Alltagsbereichen wie Arbeit und Freizeit, Bauen und Wohnen, Kunst und Unterhaltungsindustrie, die insgesamt eine »Scheinwelt bürgerlicher Normalität und äußerer Respektabilität« aufbauten. 1 Die »Ästhetisierung der Politik« 2 und die geschönte Wirklichkeit des Alltags finden ihren verschleierten Gegenpol in der terroristischen Machtausübung, im Vernichtungskrieg und der Vernichtung »minderwertiger Rassen« und »unwerten Lebens«. Auch für Georg Seeßlen schreibt sich die »Faschisierung der Wahrnehmung« in der Populärkultur fort. Entgegen dem psychoanalytischen Deutungsmuster der Verdrängung beschreibt Georg Seeßlen die Populärkultur als eine »Kultur der Entschuldung«, die das Ziel für den »faschisierten Menschen« gehabt habe, sich mit den Verbrechen, der militärischen Niederlage und der Demokratie zu arrangieren. 3 In den verschiedenen »kollektiven Affekten« 4 und populären Mythen – dem Mythos der deutschen Opfer, dem Mythos des Rückzuges in die Innerlichkeit und der Unschuld, der frühzeitigen Versöhnung mit den Völkern, dem Mythos des Kulturvolkes, des Widerstandes bzw. der Oberschurken – sei die faschistische Schuld weder geleug-

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Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs. Faszination und Gewalt des Faschismus. Frankfurt/M. 1996, S. 222f. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt/M. 1996, S. 42ff. Seeßlen, Tanz den Adolf Hitler, S. 14f. Vgl. Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987.

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net noch akzeptiert worden, sondern wurde stattdessen in einen »Zustand der Unleserlichkeit« versetzt. 5 Für Saul Friedländer ist ein zentraler Topos des populären Diskurses die Verbindung von Kitsch und Tod, die Gegenüberstellung von »Kitsch-Harmonie und permanenter Beschwörung der Themen Tod und Zerstörung«, eine Erotik der absoluten Macht, von Todeskult und Zerstörungssehnsüchten einerseits und einer vermeintlich banalen und »reinen« Wirklichkeit, die das Leben und die idyllische Liebe beschwört, andererseits. 6 Friedländer analysiert dabei insbesondere die exzessive Beschäftigung mit der Biographie Hitlers: der »Exorzismus« der populären Darstellungen blende die Verbrechen der rassistischen Vernichtungspolitik weitgehend aus, betone die dunklen Andeutungen und das bedrohliche Raunen des Faschismus und reproduziere die euphemistische Sprache des Nationalsozialismus. 4.1 A NGST

UND

E RSCHRECKEN

Die Funktionsweise vieler Geschichtskrimis muss in diesem Kontext der Faszination von Verbrechens und Gewaltexzessen und den mit ihnen verknüpften sexuellen Phantasien und Romanzen gesehen werden, die ihre Entsprechungen in der Realität des Dritten Reiches haben, wie Reichel gezeigt hat. Das Raunen der Vernichtung, die Juxtaposition von Tod, Sexualität und Liebe ist gerade im historischen Kriminalroman, dessen Handlungszeit in den Nationalsozialismus fällt, und insbesondere in den Serienmordfiktionen zentraler Bestandteil der Erzählung. In der Verknüpfung von Serienmörderfiktion, Liebeshandlung und vorgeblicher Aufklärung wird der Faschist zum sexualpathologischen Objekt, der nicht Juden, Sinti und Roma, Slawen, Homosexuelle, politisch Verfolgte oder vermeintliche Kriminelle tötet, sondern Frauen. Zum Opfer der faschistischen Sexualhyänen werden »leichte Mädchen« oder Prostituierte, die Perversion ist eng mit faschistoiden Reinheitsvorstellungen verknüpft. Der Populärkultur fällt zunächst nichts anderes ein, als faschistische Reinheitsideologien und rassistische Ausschlussideologien auf in Serie mordende Einzeltäter zu übertragen. Die Verknüpfung von schwarzen Stiefeln und Sexualität, vom anzüglichen Tête-a-tête bis hin zu sado-masochistischen Macht- und Männerphantasien finden sich jedoch nicht in allen NS-Krimis. Der populäre Kriminalroman ist ein Narrativ, welches als »Ersatzsprache« der Abmilderung und Verhüllung dient, aber deshalb nicht eine Negierung der nationalsozialistischen Verbrechen bedeutet, sondern vielmehr Aufklärung verspricht. Im Kriminalroman der DDR gab es ein nicht ausgesprochenes Repräsentationsverbot der Gewaltausübung, was nicht zuletzt daran lag, dass man sich größtenteils auf retrospektive historische Ermittlungsromane konzentrierte. In den bundesdeutschen Serienmörderfiktionen wird zunächst die Vernichtungspolitik als Entgleisung der Moderne, als industrieller, fließbandmäßiger Massenmord dargestellt, während dann der Serienmörder zum psycho-, sexual- und soziopathologischen Objekt ausgerufen wird, welches aus der Gesellschaft auszustoßen ist: Hier schreibt sich umcodiert eine faschistische Wahr-

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Seeßlen, Tanz den Adolf Hitler, S. 31. Friedländer, Kitsch und Tod, S. 114.

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nehmung fort, sobald es um das »Ausrotten« solcher Täter geht. Als in den 1980er Jahren diese Gewaltfiktionen in den Hintergrund treten, wird der Schrecken des Holocaust durch die Reflexionen und Erfahrungen der Figuren angedeutet. Das Interpretationsmuster der »Banalität des Bösen«, der Massenmord als bürokratische Verwaltungsangelegenheit, ist selten – wie etwa in Robert Harris Fatherland – ein Motiv, welches durchschimmert. Den Schrecken anzudeuten, wird entweder durch eine Ersetzung (wie mit dem Serienmördermotiv oder einem grausam durchgeführten Einzelmord), durch direkte Tabubrüche (wie beispielsweise dem Mord durch Gas an Überlebenden des Holocaust bei Fredrick Forsyth und Philip Kerr), oder aber durch einen Kurzaufenthalt im KZ als anstößiges Überlebenstraining (Malet und Kerr) des Helden erzeugt. 7 Ein populärer Mythos im NS-Krimi ist schließlich der in der einen oder anderen Weise ausgemalte »Ritualmord«, der äußerst ambivalente Assoziationen zum Antisemitismus weckt.8 Hier schreibt sich ein Motiv fort, auch wenn es – wie beispielsweise bei Philip Kerr – im Zuge windiger Spekulationen als Trick, den Juden etwas unterzuschieben, ausgedeutet wird. Wenn es – wie etwa bei Thierry Jonquet – bisweilen als berechtigte Rache eines Juden erscheint, ist der Übergang zu antisemitischen Stereotypen fließend. Sowohl der retrospektive historische Ermittlungsroman als auch der historische Kriminalroman verzichtet weitestgehend auf eine direkte narrative Ausgestaltung der realen historischen Gewalt. Dies hängt oft genug mit der Wahl der erzählten Zeit zusammen, die meist die Frühphase oder aber die Endphase des Dritten Reichs betrifft. Wenn die reale historische Gewalt auftaucht, dann – ob erdacht oder authentisch spielt hier keine Rolle – als überlieferter Augenzeugenbericht. Nachdem der Kriminalroman frühzeitig bei Malet aus einem Kriegsgefangenenlager berichtete, kam es erst zu Beginn der 1990er Jahre mit den Romanen von Kerr, Harris und Bosetzky dazu, dass die Kriminalliteratur den Blick in die Konzentrationslager wagt. Bosetzky kommt dem aus der Ethnographie und auch von den Geschichtswissenschaften adaptierten Verfahren der »dichten Beschreibung« nahe und zeigt zu Beginn und am Ende seines Romans, wie zwei seiner Protagonisten mit sehr unterschiedlichen Biographien zu Tätern des Holocaust werden. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf wenige Szenen, alles weitere wird an die historische Imagination verwiesen. So ist es zu Beginn der Blick in ein Konzentrationslager, am Ende des Romans schweift der Blick um einen Gaswagen des Kriminaltechnischen Instituts, den zwei der Protagonisten steuern: ›Und der Jedanke, det die dahinten krepieren …‹ ›Sollten wir nicht doch Häftlinge dafür nehmen?‹ fragte Baronna. ›Unsinn!‹ Herbert Bloh winkte ab. ›Die türmen doch bloß. Ihr müsst das bloß richtig machen. Nicht gleich Vollgas geben.‹ ›Denn isset wenigstens jleich vorbei.‹ ›Ja, aber hinten ersticken sie, anstatt daß sie ganz langsam eingeschläfert werden.‹ [WT 313] 7

8

Vgl. Wulff, Die Erzählung der Gewalt, S. 51-57. Die literarische Gewaltdarstellung verweist insofern durch symbolische Ersetzung auf die reale Gewalt des Nationalsozialismus. Vgl. die Romane von Philip Kerr, Marek Krajewski oder Thierry Jonquet.

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Bosetzky ist – auf berlinerisch – ganz in der Nähe des Massenmordens. Die Täterperspektive entwickelt einen dumpfen Unterton, den es auch schon in der medialen Verarbeitung um den vermeintlichen Serienmörder Bruno Lüdke gab. Die bei Bosetzky evozierten Leiden der Opfer eines Frauenmörders stehen in einer völligen Diskrepanz zu jenen, die der systematischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. In den Romanen dominiert insgesamt eine Täter- und ermittlungstaktische Verfolgungsperspektive, die dem Leid der Opfer nicht gerecht werden kann und ihnen keine Stimme verleiht. So scheint das Schlimmste am Nationalsozialismus zu sein, dass das Projekt der Liebe in irgendeiner Weise scheitert, oder aber, dass sich der männliche Ermittler »aufopfern« muss. Die Preisgabe der Liebe erfolgt zur Sicherung der eigenen Existenz, im Dienst des Vaterlandes, oder aber für nichts weniger als die historische Wahrheit. Im Scheitern der Liebe wird die NSGeschichte zum Melodrama, gepaart mit der Hoffnung auf Besserung und demokratische Wiedergeburt. Neben der sexuell aufgeladenen Gewalt gibt es jedoch im Thriller die klassische Verbindung von Angst und Lust, die Spannung bzw. den suspense, also einen Zustand ungewöhnlicher, bedrohlicher Unsicherheit bzw. die spannungsvolle Erwartung auf eine angekündigte aber noch nicht eingelöste Information. Die Spannung als Lust an der Angst schwört die Erwartung eines in seinen Auswirkungen bisher unbekannten Ereignisses herauf. Der Thrill besteht dabei gerade nicht in der Ausgrenzung der Gefühle, sondern beruht als »Erregungsdrama« auf der »untrennbaren Verbindung von emotionaler Nähe und Gefahr«. 9 Der Thrill funktioniert nur dann, wenn er mit den Konventionen und Festschreibungen erotischer Beziehungen in Konflikt gerät, wenn er mit einer Dosis Geheimnis und einer Prise Gefahr spielerisch verknüpft wird. Der Ausgangspunkt des Entsetzens im Thriller ist das emotionslos durchgeführte Verbrechen: Der Mord, die Bedrohung, der Anschlag auf Leben, Eigentum und Sicherheit gegen den Mitmenschen erfolgt ohne nachvollziehbare Aggression. Ob es der sympathisch dargestellte Kriminelle ist, der wahnsinnige Mörder, der verräterische (Doppel-)Spion, zunächst erscheint die Tat grundlos und am Rande der Absurdität. In dem Moment, wo man etwas über die Motivation des Täters erfährt, löst sich die Lähmung, die der Schrecken ausgelöst hat. Die Absenz der Gefühle und das weniger sichtbare als vielmehr vorgestellte Leiden der Opfer gehören zum suspense wie das Wissen um die Gefahr. Der Thriller ist die Darstellung von Extremsituationen, in der alltägliche Sicherheiten ihre Wirksamkeit verlieren. Die Angst ist gleichzeitig ein Mittel, Verdrängtes ans Licht zu bringen: Im Rückblick auf die Vergangenheit die Alpträume jener Schrecken, die in Kulturen des Verschweigens allenfalls in der Form metonymischer Ersetzungen benannt werden können. Der historische Thriller ist also nicht allein eine spannungsgeleitete Historie, sondern sie zeigt eine Historie, in der Angst, Schrecken und Gewalt tatsächlich existent sind, auch wenn sie – paradoxerweise – nicht immer direkt dargestellt werden müssen. Im Zuge eines literarischen re-enactments historischer Erfahrungen wird die Angsterfahrung und das Mitfiebern beim Lesen 9

Georg Seeßlen, Thriller. Kino der Angst, überarb. Neuaufl., Marburg 1995, S. 12; vgl. zum Folgenden ebd.

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geweckt, um den Schrecken der Historie zu erfassen. Der gelungene Geschichtsthriller basiert deshalb in erster Linie nicht auf einer schlüssig rekonstruierten Geschichte, sondern auf der Herstellung von suspense, von Grauen, Todes- und Verfolgungsangst. Die Literaturwissenschaft hat meistens, wenn sie sich dem Phänomen einer so »unheroischen Empfindung« wie der Angst angenommen hat, dieses in eine »Beschwichtigungsästhetik« überführt. 10 Damit wird die Angst von der Wissenschaft kaum mehr wahrgenommen, sondern die kathartische Wirkung und die »Bändigung von Ängsten« betont, oder aber im Zuge sozialpsychologischer Erklärungen als die Erfüllung des »Reizhungers« moderner Gesellschaft ausgedeutet, deren Sicherheitsangebote durch »künstliche Risiken und Sensationen« durchbrochen werden müssen. 11 Die Erzeugung des literarischen Schreckens wird so häufig in eine sinnvolle Erfahrung umgedeutet: als Kompensationsmittel, welches letztlich der Stabilisierung dient. Der Thrill, den der Geschichtskrimi auszulösen vermag, und die Angst und die Hilflosigkeit dessen, der ihr ausgeliefert ist, muss jedoch ernst genommen werden: Die Erfahrung des historischen Schreckens ist auf bestimmte Narrationsmuster angewiesen, und der historische Thriller – auch der retrospektive Detektivroman, wenn er nicht alle Handlungsstränge in eine plausible Erklärung auflösen will – ist eine literarische Form, die den Schrecken der Geschichte wieder aufrufen kann. Die Darstellung der Gewalt beruht auf literarischen Konventionen. So wird der Leser oft zu Beginn mit einem haarsträubenden Verbrechen konfrontiert, welches im Akt des Lesens durch erneute Suspense-Momente wieder aufgerufen werden kann. 12 Genregemäß wird dies in hardboiled-Varianten kalt und zynisch kommentiert. Zu erkennen ist seit den neunziger Jahren der Trend einer direkteren Gewaltdarstellung, die weniger ausblendet und die Gewalterfahrung der Einbildungskraft überstellt, als vielmehr grell belichtet. So nehmen etwa in den Werken von Philip Kerr, Robert J. Janes, Pavel Kohout, Marek Krajewski oder aber Eliette Abecassis die Schockmomente im Zusammenhang mit »Gewaltritualen« zu. Abgesehen von der Frage, ob dies auf allgemeine Veränderungen in der Gewaltdarstellung in der Populärkultur zurückzuführen ist, verändern sich damit über die Genregrenzen hinaus die Repräsentationsmöglichkeiten nationalsozialistischer Gewaltexzesse und insgesamt der Diskurs über die NS-Vergangenheit: Um den Nationalsozialismus adäquat darzustellen, bedarf es nun des Schocks.

10 Nusser, Der Kriminalroman, S. 156 u. 166f. 11 So die Kritik von: Hans Richard Brittnacher, Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt/M. 1994, S. 22f. Vgl. zur filmischen Gewalt als ein modernes zivilisatorisches Bedürfnis nach Schock und Erschütterung: Ralf Schnell (Hg.), Gewalt im Film, Bielefeld 2007. 12 Hitchcock sagte zur Rezeption seines Filmes Psycho (1960), dass dort die erste Szene die gewalttätigste sei, während dann immer weniger Gewalt geschildert werden müsse: »Die Erinnerung an den Mord reicht aus, um die späteren Suspense-Momente furchterregend zu machen.« Zitiert nach Wulff, Erzählung der Gewalt, S. 57.

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4.2 D AS G RAUEN

C HRISTOPHER R. B ROWNING D ANIEL G OLDHAGEN

BEI

UND

Das Erschrecken vor dem historischen Grauen ist auch ein Ausgangspunkt der geschichtswissenschaftlichen NS-Forschung. Ob und wie die historiographische Forschung allerdings die Verbrechen zur Darstellung bringen kann, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Erinnerungs- und Geschichtskultur, von Sagbarem und Unsagbarem im Zusammenhang mit den internen, historisch variablen methodisch-theoretischen Anforderungen der Geschichtswissenschaft. Saul Friedländer hat schon frühzeitig auf die Neutralisierung des Schreckens durch die Sprache der historischen Forschung hingewiesen. 13 Als Beispiel griff er auf einen Ausschnitt eines Aufsatzes von Martin Broszat zurück, in dem in summarischer Weise deutsche Vernichtungsaktionen rekapituliert werden. Eine wissenschaftliche Einstellung, die auf Genauigkeit aus ist und weithin ohne emotionale Reaktionen auskommen will, sei – so Friedländer – nicht in der Lage, das Morden auch nur ansatzweise zu erfassen. Das Resultat einer historischen Forschung, die vorwiegend aus bürokratischen Vorgängen die Chronologie der Vernichtungsaktionen rekonstruiert – um dann im Rahmen eines funktionalistischen Deutungsmodells von einer interinstitutionellen »kumulativen Radikalisierung« 14 bzw. von einer »Implementierung des Holocaust« bzw. einer »Implementierung der Shoah« 15 zu sprechen – führte und führt zu in Verwaltungsdeutsch geschriebenen historiographischen Texten: »Das neutralisiert die ganze Problematik und versetzt ganz plötzlich jeden von uns, bevor wir Zeit haben, uns zu besinnen, in eine Position, die nicht unähnlich der distanzierten Einstellung eines Ausrottungsverwalters ist.« 16 Die Problematik der Repräsentation nationalsozialistischer Gewalt in den Geschichtswissenschaften wurde durch die Kritik an Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker (1996) und die daran anschließende Debatte erneut deutlich. 17 Das Grauen der Geschichte zurückzugeben und das Handeln der Täter 13 Friedländer, Kitsch und Tod, S. 89-96. 14 Hans Mommsen, Die Realisierung des Utopischen. Die »Endlösung« der Judenfrage im »Dritten Reich«, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 381-420; hier S. 399. 15 Hans Mommsen, Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus, in: Aus Politik u. Zeitgeschichte 14 (2007), url: http://www.bundestag.de/dasparlament/2007/14-15/Beilage/index.html; 08.05.2007. 16 Friedländer, Kitsch und Tod, S. 92. 17 Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. Hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe 1998. Zur Debatte vgl.: Schoeps/Augstein (Hg.), Ein Volk von Mördern?; Heil/Aschheim/Erb (Hg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit; Briefe an Goldhagen. Eingeleitet und beantwortet von Daniel Jonah Goldhagen, Berlin 1997. Norbert Frei, Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. Über die Repräsentation des Holocaust im Zeitalter der Visualisierung, in: Sabrow/Jessen/Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, S.

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in den Vordergrund der Perspektive zu rücken, war nach der Fokussierung auf den bürokratischen und polykratischen Aspekt des Massenmordens eine konsequente Kehrtwende innerhalb der Forschung. Sowohl bei Goldhagen, aber auch in der wegbereitenden Studie zur »neueren Täterforschung« 18, Christopher Brownings Ganz normale Männer (1992), zeigten sich neue innerwissenschaftliche Repräsentationsverfahren von Gewalt und Schrecken. Sowohl Browning als auch Goldhagen suchen mit Fallstudien über das Reserve-Polizeibataillon 101, die Motivation der Täter zu eruieren. 19 Beide Werke weisen dabei eine Nähe zu kriminalliterarischen und detektivischen Erzählungen auf, ebenso wie es zu einer neuen Erzählbarkeit der Gewalt kommt. Christopher Browning hatte in der von Saul Friedländer 1992 initiierten Debatte über die Darstellbarkeit des Holocaust die Bedeutung des Erzählens im Hinblick auf seine Forschungsleistung abgewogen. Dabei bezog er die Fragen zur narrativen Sinnbildung auf die NS-Forschung und betonte, dass die moralische Dimension, die aus jedem quasipoetischen Akt des emplotments resultiere, keinesfalls als eine »Verlegenheit« im Hinblick auf die Erkenntnis der Vergangenheit und insbesondere des Holocaust anzusehen sei. Jedoch verwies er auf die forschungsleitenden Fragestellungen im Zuge historischer Sinnbildung und verknüpfte Forschung und Erzählung: »I would not disagree that it is the plot that determines the narrative, I would add that the questions being posed shape the plot and narrative together.« Gegen die von Hayden White vertretene Annahme, dass Historiker ihren Text nach vorgegebenen narrativen Sinngebungsmustern konfigurieren, betonte er, dass ihm die abschließende Dimensionen »of the plot or ›moral of the story‹« zu Beginn seiner Forschung nicht klar gewesen wären. 20 Browning wählt für seine Studie einen narrativen Einstieg, der innerhalb der NS-Forschung außergewöhnlich war. Im ersten, nur zwei Seiten beanspruchenden Kapitel »Ein Morgen in Jósefów« wird der Leser mittels einer spannungserzeugenden, dramatischen Szene elektrisiert, die über das rhetori138-151. Volker Ullrich, Eine produktive Provokation. Die Rolle der Medien in der Goldhagen-Kontroverse, in: Sabrow/Jessen/Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, S. 152-170. 18 Zur neueren Täterforschung siehe die Überblicksdarstellungen: Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und »ganz gewöhnlichen« Deutschen, S. 13-92. Ulrich Herbert, Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des »Holocaust«, in: ders. (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt/M. 1998, S. 9-66. 19 Im Gegensatz zu Browning beruht Goldhagens Buch auf drei Fallstudien, wobei er in einer problematischen Berufung auf statistische Verfahren davon ausgeht, dass sie einen repräsentativen Charakter haben. Vgl. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker; hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe 1998: S. 544f und Fußn. 4, S. 685. 20 Browning, Christopher R., German Memory, Judicial Interrogation, and Historical Reconstruction: Writing Perpetrator History from Postwar Testimony, in: Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation, S. 22-36; hier S. 29f.

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sche Mittel eines cliffhangers den Anreiz zum Lesen und die Erwartung einer Antwort erzeugt: »In aller Frühe wurden die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 am 13. Juli 1942 aus ihren Pritschenbetten geholt. Befehle schallten durch das große Schulgebäude […] Die Männer stammten aus Hamburg, waren Familienväter mittleren Alters und kamen aus proletarischen oder kleinbürgerlichen Verhältnissen. Da sie als zu alt galten, um noch für die Wehrmacht von Nutzen zu sein, waren sie zur Ordnungspolizei eingezogen worden. Es war noch ziemlich dunkel, als die Männer auf die wartenden Mannschaftslastwagen kletterten. An alle war zusätzliche Munition ausgegeben worden, außerdem hatten sie noch Munitionskisten auf die LKW’s geladen. Die Polizisten waren zu ihrem ersten größeren Einsatz unterwegs, ohne bisher erfahren zu haben, was ihnen bevorstand. Die Bataillonswagen rollten im Konvoi aus Bitgoraj in die Dunkelheit hinaus nach Osten. Auf der holprigen Schotterstraße ging es nur langsam voran. So dauerte es […], bis sie ihr kaum 30 Kilometer entferntes Ziel erreichten: die Ortschaft Jósefów. Als der Konvoi vor dem Ort hielt, begann es gerade hell zu werden. […] 1800 der Einwohner waren Juden. Im Ort war es völlig still. [Browning fügt eine Fußnote ein, um dieses spannungssteigernde Element mit der Aussage von drei Angehörigen des Bataillons abzusichern. / A. S.] Die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 […] sammelten sich um Major Wilhelm Trapp […] Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie von ihrem Kommandanten erfahren sollten, welchen Auftrag das Bataillon erhalten hatte. Trapp war bleich und nervös, hatte Tränen in den Augen und kämpfte beim Reden sichtlich darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das Bataillon stehe vor einer unangenehmen Aufgabe […] Nachdem Trapp seinen Männern auf diese Weise erklärt hatte, was ihnen bevorstand, machte er ein außergewöhnliches Angebot: Wer von den Älteren sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne beiseite treten.« 21

Angekündigt wird in dieser Passage der Mord an den jüdischen Einwohnern der Ortschaft Jósefów durch Major Trapp. Gleichzeitig wird dadurch ein zentraler Argumentationsstrang der Studie vorbereitet, indem festgehalten wird, dass die Männer des Polizeibataillons die Möglichkeit hatten, sich nicht an dem Morden zu beteiligen. Damit endet das erste Kurzkapitel und die Frage, wer und ob jemand beiseite treten wird, wird erst im siebten Kapitel »Erste Erfahrungen mit Massenmord« aufgelöst. Oft zu Beginn einer Erzählung oder am Ende eines Kapitels eingesetzt, erzeugt der cliffhanger durch eine dramatische, spannungsgeladene Szene Fragen, die zunächst nicht beantwortet werden. Es ist die Exposition einer Situation der Entscheidung bzw. einer drängenden Frage, die den Leser animiert, die Erzählung weiter zu verfolgen, da mit der Exposition der Frage ein Versprechen auf Auflösung verbunden ist. Zur Konstruktionsweise des cliffhangers gehört auch der nach dem Spannungsaufbau vollzogene Bruch im Handlungsstrang. Gleiches passiert im Wechsel vom ersten zum zweiten Kapitel in Ganz normale Männer, wenn der Blick vom Tatort des sich ankündigenden Massenmordes zurück auf die institutionellen Rahmenbedingungen

21 Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Hamburg 1996, S. 21f.

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der Ordnungspolizei und die Rekrutierung und Aufstellung des Polizeibataillons 101 gelenkt wird. Das Angebot des Majors Trapp, nicht an den Erschießungen teilnehmen zu müssen, wird als ein point of no return aufgebaut, denn »sofern sie nicht spontan auf Trapps Angebot eingegangen waren, hatten sie diese erste Chance vertan.« 22 Nur 12 Angehörige des Polizeibataillons nutzten die Möglichkeit, nicht an der vorab angekündigten ersten systematischen Mordaktion des Polizeibataillons in Jósefów teilzunehmen. Als die Erschießungen begannen, sahen sich weitere Männer nicht in der Lage, am Mordwerk teilzunehmen und versuchten, sich ihm auf verschiedene Weise zu entziehen, was ihnen auch gelang. In zehn anschließenden Kapiteln erzählt Browning die grausige Geschichte des Reserve-Polizeibataillons 101, welches in der Zeit von Juni 1941 bis November 1943 an der Exekution von 38000 Juden und an der Deportation von 45000 Juden beteiligt war. 23 Das Angebot Major Trapps, sich nicht an den Erschießungen zu beteiligen, ist der entscheidende Aspekt der Erzählung, der zu Beginn, in der Mitte und am Ende aufgegriffen wird. Es ist das entscheidende Argument gegen das Rechtfertigungsargument vom Befehlsnotstand und den angeblichen Repressionen bei der Verweigerung eines Befehls, auch wenn Browning in der Folge auf den Gruppendruck aufmerksam macht. Für Browning bedeutet dieser Handlungsspielraum der Polizisten – Beispiele, sich dem direkten Morden zu entziehen, gab es nach den Zeugenaussagen auch später noch – das zentrale moralische Problem im Zuge seiner Frage, wie, warum und aus welchen Entscheidungszwängen heraus »normale« Männer mittleren Alters, die sich aus verschiedensten sozialen Schichten zusammensetzten, zu Massenmördern werden konnten. Der Einsatz des cliffhangers ist keinesfalls Effekthascherei oder unlauterer Wettbewerb im Wissenschaftsbetrieb, sondern eine literarische Strategie, ein wissenschaftliches Thema mit Spannung darzubieten. Browning adaptiert eine kriminalliterarische Technik, die freilich im Thriller derart auf die Spitze getrieben wird, dass es dort zu einem beständigen Rhythmus von Spannungsaufbau und Spannungsauflösung kommt. Dazu kommt es bei Browning nicht, auch wenn er in seine Erzählung wiederholt Fragen einbaut, um vorläufige Antworten zu suchen. Doch ist das Buch so angelegt, dass man in das Grauen eintauchen muss, bis man im letzten Kapitel den Versuch von Erklärungen dargeboten bekommt. Noch etwas anderes erinnert an Konventionen der Gewaltdarstellung im Thriller. Das erste Massaker von Jósefów wird sehr ausführlich beschrieben und bleibt so beim Lesen in Erinnerung und kann wachgerufen werden. Nach den Konventionen des Thrillers könnten nun die weiteren Szenen weniger grausam ausfallen. Etwas Ähnliches geschieht nun in Brownings Darstellung und mündet in eine Erklärung, wenn er einen Abstumpfungsprozess bei den Tätern ausmacht und in der Intensität der Darstellung des Mordens etwas nachlässt. Dabei rufen allerdings die folgenden, immer noch grauenhaften 22 Browning, Ganz normale Männer, S. 105. 23 Die Verhöre von 211 ehemaligen Angehörigen des Bataillons fanden im Zeitraum von 1962 bis 1967 statt, im Prozess von Oktober 1967 bis April 1968 standen 14 Angehörige des Bataillons vor Gericht, von denen fünf Gefängnisstrafen erhielten.

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Episoden der Vernichtungsaktionen des Polizeibataillons immer wieder jene erste detailliert beschriebene Vernichtungsaktion in Jósefów in Erinnerung, ebenso wie die Möglichkeit der Verweigerung der Beteiligung am Morden. Die bekannte Kritik an Goldhagens Werk basierte auf verschiedenen Argumentationssträngen, zu denen auch Goldhagens Repräsentation der Gewalt gehörte. 24 Sein Gestus wurde mit demjenigen eines mit »simplifizierender Einseitigkeit« argumentierenden »Staatsanwaltes« 25 oder sogar »Scharfrichters« 26 verglichen, der zu argumentativer Vereinfachung und begrifflicher Pauschalisierung neige, was insbesondere den umstrittenen Terminus des »eliminatorischen Antisemitismus« betraf und dessen Herleitung aus einer langen deutschen antisemitischen Tradition. 27 Im Hinblick auf die Repräsentation der Gewalt wurde dem Buch eine Aufmachung bescheinigt, die einer den Massenmedien abgeschauten Dramaturgie oder »Ästhetik des Grauens« folge, um die emotionale Wirkung zu steigern. 28 Goldhagens Darstellungsformen brachen augenscheinlich mit den bestehenden Diskursregeln geschichtswissenschaftlichen Schreibens, nach der die Wissenschaft auf die Wahrung und Herstellung von Distanz zum Gegenstand der Untersuchung zielen sollte. Goldhagens Darstellung zielte hingegen auf Betroffenheit und Identifikation. 29 Den Topos des Gegensatzpaares von kühler Wissenschaftlichkeit und emotionalisierender populärer Darstellung bedienten Kritiken, die im Buch das »voyeuristische Element der Darstellung« oder aber die publikumsorientierten »seitenlangen und drastischen Schilderungen des Grau-

24 Zum Überblick über die verschiedenen Argumente und Diskursstränge vgl.: Michael Schneider, Die »Goldhagen-Debatte«. Ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft (=Gesprächskreis Geschichte 17), Bonn 1997. Wolfgang Wippermann, Wessen Schuld? Vom Historikerstreit bis zur Goldhagen-Kontroverse, Berlin 1999. 25 Volker Ullrich, Hitlers willige Mordgesellen, in: Schoeps/Augstein (Hg.), Ein Volk von Mördern?, S. 89-93. 26 Rudolf Augstein, Der Soziologe als Scharfrichter, in: Schoeps/Augstein (Hg.), Ein Volk von Mördern?, S. 106-110. 27 Diese Betonung des deutschen Antisemitismus als langer Vorgeschichte des Holocaust war keineswegs neu. Goldhagen folgte mit seiner These Historikern wie Alex Bein, Hermann Greive, Herbert A. Strauss oder Jakob Katz, die einen geraden Weg »vom Vorurteil zur Vernichtung« (Jacob Katz) beschrieben hatten. Auf die Kritik dieser Deutung eines sich stetig radikalisierenden Antisemitismus von Werner Jochmann, Reinhard Rürup oder Shulamit Volkov ist Goldhagen nicht eingegangen. Vgl. dazu Wippermann, Wessen Schuld?, S. 99f. 28 Ulrich Raulff, Herz der Finsternis. Daniel Jonah Goldhagens Ästhetik des Grauens, in: FAZ vom 16.8. 1996; S. 27. Raulff bezieht sich in der Überschrift auf den gleichnamigen Klassiker des Spannungsromans von Joseph Conrad aus dem Jahr 1902. Siehe auch ders., Geschichte und die Erziehung des Gefühls, in: Ulrich Borsdorf; Heinrich Theodor Grütter; Jörn Rüsen (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 105-124. 29 Vgl. Schneider, Die »Goldhagen-Debatte«, S. 7.

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ens« kritisierten. 30 Ruth Bettina Birn sprach im Zuge von Goldhagens Quellenumgang und seinem Versuch, eine »dichte Beschreibung« der Mörder und ihrer Taten zu liefern, von einem »Wenn-Stil schlechter historischer Romane«. 31 Goldhagen stellt ebenso wie Browning die Frage nach den Motiven des Mordens ins Zentrum der Darstellung, beantwortet sie aber eindeutiger als Browning, der sie vor allem situativ erklärte. Im Vergleich zeigt sich deutlich, wie unterschiedlich Goldhagen und Browning die Zeugenaussagen der Bataillonsangehörigen interpretieren. Browning stellt die Frage, warum so wenige dem Morden widerstanden und legt das Augenmerk auf die Möglichkeiten der Verweigerung. Goldhagen, der Brownings Konzentration auf die Verweigerungsmöglichkeiten vehement angriff, weist auf die grundsätzliche »moralische Billigung« hin, die die Akteure der Vernichtung ihrem Handeln zusprachen, was für ihn als eine Grundvoraussetzung des Mordens erscheint. 32 Goldhagen wollte die antisemitische Motivation der bereitwilligen Täter sichtbar machen, die – so seine Interpretation – zumindest teilweise mit Lust mordeten. Dabei setzte er neue Stilmittel in der Historiographie ein, die er methodisch mit dem von dem Ethnologen Clifford Geertz geprägten Begriff der »dichten Beschreibung« abzusichern versuchte. 33 So beschreibt Goldha30 Hans Mommsen, Die dünne Patina der Zivilisation. Der Antisemitismus war eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für den Holocaust, in: Die Zeit, 30.8.1996, S. 14. Christof Dipper, Warum werden deutsche Historiker nicht gelesen? Anmerkungen zur Goldhagen-Debatte, in: Johannes Heil/Steven E. Aschheim/Rainer Erb (Hg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel Goldhagen, Frankfurt/M. 1998, S. 93-109; hier S. 106. 31 Ruth Bettina Birn, Eine neue Sicht auf den Holocaust, in: Norman G. Finkelstein/Dies., Eine Nation auf dem Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit. Mit einer Einleitung von Hans Mommsen, Hildesheim 1998, S. 137-192; hier S. 184. Dieser Angriff auf die wissenschaftliche Reputation des Autors fand sich in verschiedenen Spielarten der Kritiken wieder, indem man darauf verwies, der Historiker sei »jung« bzw. »Assistenz-Professor«, oder aber – völlig unsinnig aber durchaus traditionsreich, wenn man an den Briefwechsel zwischen Broszat und Friedänder denkt – »Sohn eines Holocaust-Überlebenden«, dem die nötige Distanz zur Geschichte fehle. 32 Vgl. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 310 und Fußnote 65; S. 635. Dies wird u. a. deutlich, wenn es um den Alkoholkonsum bei den Erschießungsaktionen geht. Browning verweist darauf häufiger als Goldhagen. Alkohol war sicher ein Mittel, um die Erschießungen ›durchzustehen‹, aber es war doch auch ein gewisses Entlastungsargument der Angeklagten: Wer im Zustand der Betäubung tötet, und wer dazu noch betrunken gemacht wird, bekommt vielleicht mildernde Umstände; und die Frage nach einem antisemitischen Antrieb, nach Judenhass, stellt sich weniger. 33 Über die Frage, ob sich Goldhagens narrative Ausgestaltung des Grauens plausibel auf das theoretische Konzept der »dichten Beschreibung« von Geertz beziehen kann, bestehen divergierende Ansichten. Eine direkte Übersetzung der ethnographischen, auf schriftlose Völker ausgerichteten Metho-

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gen die geselligen Abende, die man nach den Mordaktionen beging, er betont die Anwesenheit der Frauen der höheren Offiziere an den Tatorten der Vernichtung, und er verweist anhand von Fotografien, auf denen lächelnde und feixende Männer sich stolz bei der öffentlichen Diffamierung von Juden für die Fotografen präsentieren, auf die Lust am Quälen: »Das Töten selbst war eine grausame Angelegenheit. Nach dem gemeinsamen Gang durch den Wald musste jeder Deutsche seine Schußwaffe auf den Hinterkopf des Opfers richten, das nun mit gesenktem Kopf dastand. Er bediente den Abzug, sah wie die Person, manchmal ein kleines Mädchen, zuckte und sich dann nicht mehr rührte. Die Deutschen mussten gefühllos bleiben angesichts der Angst und Verzweiflung der Opfer, ob nun eine Frau jammerte oder ein Kind wimmerte. Bei so geringer Distanz zu ihren Opfern bespritzten sich die Täter häufig mit menschlichem Blut. Einer von ihnen berichtet: ›Durch den dadurch bedingten Nahschuß traf das Geschoß mit derartiger Rasanz in den Schädel, daß zumindest die ganze hintere Schädeldecke abgerissen wurde und nun Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse durch die Gegend spritzten und die Schützen beschmutzten.‹«34

Goldhagen zeigt nicht allein am Beispiel der Einsatzgruppen, sondern auch in seinen Kapiteln über die Arbeitslager und Todesmärsche die sadistische Brutalität der Deutschen. Dabei legt er ein besonderes Augenmerk auf Gewalt gegen Frauen und personalisiert weibliche Schicksale unter den jüdischen Opfern, während er andererseits aber auch darauf verweist, mit welcher Brutalität deutsche Frauen vorgingen – ob es die peitschenschwingende Gattin eines Offiziers mit dem Namen Wohlauf des Reserve-Polizeibataillons 101 ist, oder aber weibliche Aufseherinnen von Konzentrationslagern. Goldhagen lässt in beiden Varianten ein sehr traditionelles Rollenverständnis anklingen, nach dem die Schwächsten der Schwachen Frauen und Kinder sind, die nach den moralischen Maßstäben des Autors weder Gewalt erleiden noch ausüben dürfen. Die Konnotierung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen mit sexueller Gewalt, die es durch die psychohistorischen Deutungsmuster und die Fiktion des nationalsozialistischen Triebtäters zu einiger Aufmerksamkeit gebracht hatte, schreibt sich folgerichtig auch bei Goldhagen ein. Jedoch ge-

de, die im Rahmen der Feldforschung den Kontakt mit einer fremden Kultur sucht, ist für die Geschichtswissenschaft per se nicht möglich. Jedoch kann man Goldhagen nicht vorwerfen, dass er auf Selbstbeschreibungen der Täter verzichte: Habbo Knoch, Im Bann der Bilder. Goldhagens virtuelle Täter und die deutsche Öffentlichkeit, in: Heil/Aschheim/Erb (Hg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, S. 167-183. Ambivalent, weil in eine traditionelle Hermeneutik führend, bleibt auch die Kritik bei: Volker Pesch, Die künstlichen Wilden. Zu Daniel Goldhagens Methode und theoretischem Rahmen, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Wege zur Kulturgeschichte, Göttingen 1997, S. 152-162. 34 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 261. Auch Browning verzichtet nicht darauf, das Interesse der Ermittlungsbehörden am Tötungshandeln aufzugreifen und wiederzugeben: Vgl.: Browning, Ganz normale Männer, S. 98.

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braucht er sie nicht als Erklärung des Mordhandelns, sondern zeigt sie als deren integralen Bestandteil: »Unter den Aufsehern entwickelten sich auffallend viele dauerhafte Liebesromanzen, obwohl sie im Schatten der von ihnen selbst verursachten Grausamkeiten und Leiden lebten. […] Deutsche hatten miteinander Geschlechtsverkehr in Baracken, die unmittelbar von ungeheurer Not und ständigem Grauen umgeben waren.«35

Goldhagen greift dabei auf Zeugenaussagen zurück, die in den sechziger Jahren auf die Befragungen der Ermittler hin gemacht wurden. Warum die Ermittler danach fragten, oder warum die Täterinnen gerade davon berichteten, befragt Goldhagen allerdings nicht. Die Zeugenaussagen, so scheint es, mussten sich in ein Erinnerungsnarrativ der Nachkriegszeit einfügen lassen: in das sexuell aufgeladene, diabolisierende Serienmord-Narrativ. Die Schilderung und Kommentierung solcher Szenen stieß bei den meisten Kritikern auf Ablehnung. Nur wenige attestierten die Notwendigkeit, die schrecklichen Mordtaten in einer »dichten und einfühlsamen Schilderung« zu schildern, »um beim Leser den angestrebten emotionalen Effekt zu erreichen.« 36 Doch neben den realen, aus den Zeugenaussagen zu entnehmenden Mordtaten ließ Goldhagen seine historische Imaginationskraft freizügig walten und beschrieb eine Szene, für die er keine gesicherten Berichte vorliegen hatte, wie die Ermordung von jüdischen Patienten in einem Krankenhaus: »Aller Wahrscheinlichkeit nach erschoß einer der Mörder ein Baby in den Armen seiner Mutter und die Mutter obendrein, oder aber er hielt das Kleine, wie es damals mitunter die Gewohnheit der Täter war, am Bein auf Armeslänge von sich, um es dann zu erschießen. Vielleicht musste die Mutter dies voller Entsetzen mitansehen.« 37

Angesichts der belegten Greuel, die Goldhagen schildert, ist es fragwürdig, ob seine Darstellung einer solchen, nicht abgesicherten Szene überhaupt bedurfte. 38 Ermöglicht wurde eine solche Darstellung jedoch kaum durch eine Anlehnung an populäre Darstellungsformen. Wichtiger für einen solchen Einsatz der historischen Imaginationskraft auf dem Feld der nationalsozialistischen Mordtaten waren vielmehr Veränderungen innerhalb der Historiographie, die mit dem New Historicism, der Mikrogeschichte und der Adaption ethnographischer Beschreibungen durch die Geschichtswissenschaften verbunden, aber bis dahin selten auf dem Feld der NS-Forschung erprobt worden 35 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 398f. 36 Wippermann, Wessen Schuld?, S. 98. 37 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 258. Vgl. im Gegensatz dazu Browning, Ganz normale Männer, S. 90: »Ebenso erklärten Polizisten, sie hätten davon gehört, daß alle Patienten eines jüdischen Hospitals und die Bewohner des jüdischen Altersheims auf der Stelle erschossen wurden, aber keiner von ihnen gab zu, die Erschießungen selbst gesehen zu haben oder daran beteiligt gewesen zu sein.« 38 Wolfgang Wippermann hat angesichts dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht, dass weniger die emphatische Schreibweise als vielmehr die »Vermischung von Fakten und Fiktionen« im Zentrum der Kritik hätte stehen müssen: Wippermann, Wessen Schuld?, S. 98.

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waren. Gerade die sich detektivisch verstehende Mikrogeschichte ist eng mit einer »Rhetorik der Wahrscheinlichkeit« 39 verbunden, die da, wo die Quellen lückenhaft sind, nicht halt machen will, sondern vor dem Horizont des eigenen Wissens begründete Mutmaßungen über den Hergang trifft, um im Anschluss daran weitreichendere Interpretationen zu liefern. Da die Quellenlage im Fall der deutschen Täter jedoch ausreichte, um die Brutalität der Täter zu veranschaulichen, hätte es dieser Rhetorik des Wahrscheinlichen nicht bedurft. Die historische Imaginationskraft muss jedoch auch angesichts der vorhandenen Täter- als auch Opferaussagen zur NS-Geschichte nicht preisgegeben werden. Das Forschungswissen des Historikers erlaubt es, mit klarer Angabe des Wahrscheinlichkeitsgrades über das eindeutig Belegbare hinauszugehen. Die rhetorische Strategie bei Goldhagen besteht jedoch im weiteren Verlauf seiner Darstellung darin, das als das wahrscheinlich Gegebene nicht nur als das Plausible, sondern als das Reale auszugeben. So wird der Absatz über jene Mutter, die bei der Ermordung ihres eigenen Kindes anscheinend zugesehen haben könnte, durch einen Satz abgeschlossen, der die Einschränkung des historischen Vorstellungsvermögens nicht mehr beinhaltet: »Der kleine Körper wurde dann wie Abfall fallengelassen, und man ließ ihn verrotten.« 40 Während Goldhagen eine »dichte« Beschreibung jener grausamen Szenen an den Tatorten der Vernichtung versucht, ist es bei Browning vielmehr eine minutiöse Rekonstruktion, die ihre eigene narrative und moralische Kraft gewinnt. Bei beiden Autoren erfolgt die Repräsentation der Gewalt über Kontrastierungen, die freilich bei Goldhagen stärker ausfallen. Browning setzt auf den Kontrast zwischen dem Alltagsleben – beiläufig zitiert er etwa, dass vor einer Erschießungsaktion Butterbrote an die Polizisten verteilt wurden – und den Eruptionen der Gewalt. Goldhagen betont diesen Gegensatz von Alltagsleben und Gewalthandeln ebenso, geht jedoch darüber hinaus, insbesondere, wenn er die Täterperspektive mit dem Leiden und der Qual der Opfer konfrontiert 41, starke Kontraste zwischen Leben und Tod, zwischen (äußert klassisch konzipierten) Männer- und Frauenbildern, zwischen Lieben und Morden aufbaut, um sich dann wiederholt als moralische Instanz in den Text einzuschreiben. Die Reihung der Schrecken, mit denen Goldhagen seine Leser konfrontiert, verweist schließlich – wenn man es vor dem Hintergrund populärer kriminalistischer Narrative liest – auf ein serielles Prinzip. Durch die perma-

39 Vgl. Rüth, Erzählte Geschichte, S. 158-184. Vgl. dazu: Carlo Ginzburg, Beweise und Möglichkeiten. Randbemerkungen zur Wahrhaftigen Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, in: Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, S. 185-213. 40 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 258. 41 Im Gegensatz zu Browning versucht Goldhagen, die Täterperspektive und Opferperspektive in seiner Darstellung zusammenzubringen. Insbesondere im Kapitel über das Polizeibataillon gelingt dies nicht, aus naheliegenden Gründen, denn die Opferperspektive ist angesichts der wenigen vorhandenen Berichte nicht zu rekonstruieren.

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nente Wiederholung des Schreckens lässt Goldhagen seine Leser nicht zur Ruhe kommen. 42 Ein wichtiger Unterschied besteht weiterhin im Umgang mit den Zeugenaussagen. Während Goldhagen seine Zitate im Fließtext belässt, rückt Browning für ihn entscheidende längere Passagen der Zeugenaussagen aus dem Fließtext heraus. Goldhagen hat Browning unterstellt, dass dieser aus den Zeugenaussagen auf das schließe, was wirklich geschah, und nicht erkenne, dass es sich um entschuldigende und apologetische Erinnerungen handele, die im Verlauf der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Jahre später und unter dem Druck der Strafandrohung gemacht wurden. 43 Damit wies Goldhagen, der ansonsten mit überzogener Kritik an seinem wissenschaftlichen Gegenüber nicht sparte, in eine wichtige Richtung. Denn Browning distanziert sich kaum – bevor er in seinen letzten Teilen eine stärker analytische Perspektive einnimmt – vom Blick der ermittelnden Staatsanwälte. Aus der Rekonstruktion aus den Akten generiert er eine Narration, die dem Leser die Verbrecher am Tatort regelrecht sichtbar vorführt und »ihrem Weg hin zu abgebrühten Mördern« folgt. 44 Schon zu Beginn seines Buches hatte Browning eine andere Erzählstrategie angewandt, die deutlich macht, dass seine mikroskopisch genaue Rekonstruktion eine neue Erzählbarkeit der Gewalt begründet: So zitiert er vollständige schriftliche Dokumente, die er samt ihrer Kopfzeilen mit seiner Narration verwebt. 45 Dies ist für geschichtswissenschaftliche Werke äußerst unüblich, wenn es sich nicht um Quellensammlungen handelt, und imitiert damit literarische Verfahren, die insbesondere aus der Faction-Literatur bekannt sind. 46 Die Aufnahme dieser Quellen dient nämlich keineswegs allein der Argumentation, sondern ist eine literarische Montage, die die »vergangene Wirklichkeit« indiziert und so das interpretative und rekonstruktive Verfahren seiner Geschichtsschreibung mit einem populären literarischen Realismus verknüpft. Der Bruch mit den Regeln des wissenschaftlich Sagbaren, der mit Goldhagen und der anschließenden Debatte verbunden ist, erneuerte die Diskursregeln der Geschichtswissenschaften. Dies ist insbesondere in der sogenannten »neueren Täterforschung« zu erkennen, die nicht mehr davor zurückschreckt, drastische Zeugenaussagen in die wissenschaftliche Darstellung zu integrieren. Oftmals verbleibt dies im Rahmen eingeübter Zitierregeln, ohne dass dabei auf jenen minutiösen Realismus (Browning), oder aber auf Goldhagens durch die Debatte letztlich zurückgewiesene »dichte« und vor allem moralisch kommentierende Beschreibung zurückgegriffen wird. 47 Während Goldhagens neue Anschaulichkeit in das Zentrum der Kritik geriet und die »Gren42 43 44 45 46 47

Vgl. Kapitel IV, 5. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 617, Fußn. 1. Browning, Ganz normale Männer, S. 125. Ebd., S. 40-45; 51-49-51; 52-56. Vgl. die Einleitung zu Kapitel IV. Vgl. dazu etwa die drastischen Zitate bei Klaus-Michael Mallmann, »Mensch, ich feiere heute den tausendsten Genickschuß«. Die Sicherheitspolizei und die Shoah in Westgalizien, in: Paul (Hg.), Täter der Shoa, S. 109-136.

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zen der Darstellbarkeit«48 des Holocaust auf seine Weise überschritt, wurde Brownings ebenso neues, dem Realismuskonzept von Faction-Literatur ähnelndem Darstellungsverfahren, nicht bemerkt. Die Kritik an der Darstellungsweise Goldhagens war nämlich vor allem ein Resultat seines Erklärungsangebotes, dass die Deutschen wegen ihres »eliminatorischen Antisemitismus« zu Mördern wurden. 4.3 D ETEKTIVSCHEMA

UND

NS-H ISTORIOGRAPHIE

Mit dem britischen Historiker E. H. Carr soll abschließend die Möglichkeit wahrgenommen werden, »sich die Technik der Kriminalromanliebhaber« zu eigen zu machen und das Ende eines historischen Werkes zuerst zu lesen, um die Schlussfolgerungen präsentiert zu bekommen. 49 Auch wenn man sich fragen mag, ob nicht gerade der Kriminalromanliebhaber darauf verzichten sollte und dies eher eine Angewohnheit von leidgeprüften Geisteswissenschaftlern ist, lohnt sich der Blick auf die Schlusskapitel von Browning und Goldhagen, um Nähen zum Narrativ des Detektivromans aufzuzeigen. In den beiden abschließenden, resümierenden Kapiteln versucht Browning, Antworten auf die entscheidende Frage nach der Motivation der Mörder in einem Panorama verschiedener Deutungs- und Verstehensansätze zu finden. 50 In seiner Erzählstruktur ist dieses Kapitel wie das Finale eines klassischen Detektivromans aufgebaut, freilich mit Veränderungen. Nicht die möglichen Täter werden in einem geschlossenen Raum versammelt, sondern die zur Verfügung stehenden Interpretationsansätze: Dies sind situationsabhängige und dynamische Prozesse innerhalb von sozialen Kollektiven, Autoritätsdruck und Autoritätshörigkeit, Propaganda, Ideologisierung und ein rassistischer Antisemitismus. Wie im klassischen Detektivroman, wo jeder Verdächtige ein Motiv gehabt haben könnte, wird die Relevanz jedes Deutungsansatzes betont. Doch abschließend kommt es zum entscheidenden Bruch mit dem Detektivschema (sowie dem Gerichtsverfahren): Statt der Privilegierung eines Deutungsansatzes (statt der Überführung des oder der Täter bzw. deren gerichtlich wirksamer Verurteilung), der die Taten einer Großgruppe von mehr als 500 Männern erklärt, verweist Browning letztlich auf »ein großes Unbehagen« und die »zutiefst beunruhigenden Implikationen«, welche nach seiner rekonstruierenden Erzählung übrig bleiben. Die Geschichte von ganz normalen Männern sei nicht die Geschichte aller Männer oder Menschen; die

48 Vgl. dazu Kapitel I, 2. 49 Carr, Was ist Geschichte?, S. 23. 50 Zunächst geht es ihm im ersten Resümee um das Verhältnis von Deutschen, Polen und Juden in den Täteraussagen. Quellenkritisch macht er darauf aufmerksam, dass in den Aussagen der deutschen Täter das deutschpolnische Verhältnis oft als positiv herausgestellt wurde, während das polnisch-jüdische Verhältnis als besonders negativ dargestellt wurde, nicht um zuletzt den bescheidenen Versuch zu unternehmen, die eigenen Taten zu relativieren. Die dem Kapitel anscheinend zugrunde liegende Forschungsfrage, wie sich Rassismus und Antisemitismus gegenseitig bedingen und ob der Mord an den Juden eine außerordentliche Bedeutung in der rassistischen Vernichtungspolitik zukommt, umschifft Browning.

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Reserve-Polizisten hatten Wahlmöglichkeiten; die meisten von ihnen begingen dennoch schreckliche Untaten; jene die getötet hätten, könnten nicht aus der Vorstellung heraus freigesprochen werden, dass in ihrer Situation jeder Mensch so gehandelt hätte, denn es habe auch jene gegeben, die sich von vornherein weigerten: »Die Verantwortung für das eigene Tun liegt letztlich bei jedem einzelnen.« 51 Doch durch die Komplexität, Bürokratisierung und Spezialisierung des Lebens in »modernen Gesellschaften« werde das Gefühl für die persönliche Verantwortung geschwächt, so dass vor dem Hintergrund aktueller Kriege und dem Druck sozialer Kollektive sich nicht ausschließen ließe, dass unter ähnlichen Umständen Vergleichbares geschehe. Christoper Brownings Erklärungsansätze bleiben variabel, sie sind multikausal angelegt, doch wird in seinem letzten Kapitel deutlich, dass er die dynamischen und situativen Beweggründe gegenüber der ideologischen Indoktrination stärker in den Fokus seiner Erklärung rückt, ohne dabei dem Antisemitismus seine zentrale Bedeutung als notwendige Ausschlussideologie abzusprechen. Entgegen dieser Rückführung der Mordaktionen und Deportationen auf situative Handlungszusammenhänge, die bei Browning die Grundvoraussetzungen des Verstehens komplexer Handlungsabläufe sind, hat Daniel Goldhagen das Spezifische des Holocaust auf einen »eliminatorischen« und dann »exterminatorischen« deutschen Antisemitismus zurückgeführt. 52 Goldhagen erneuerte damit das intentionalistische Erklärungsmodell, welches im Zuge der siebziger und achtziger Jahre durch den strukturalistischen bzw. funktionalistischen Ansatz zunehmend in die Kritik geraten war. Er wies nun nicht mehr – wie dies herkömmlich im intentionalistischen Modell der Fall war – der nationalsozialistischen Führungselite den Willen zur Vernichtung der europäischen Juden als programmatisches Ziel nach, sondern behauptete, dass der Vernichtungswille im Antisemitismus deutscher Ausprägung verankert war und dass die Motivation der Täter sich nur aufgrund dieser Vernichtungsideologie erklären lasse. 51 Vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 246f. 52 Liest man unter diesem Gesichtspunkt Brownings Abschlusskapitel, so liegen die beiden Autoren nicht weit auseinander, denn der Antisemitismus ist die grundlegende Voraussetzung, die den Mord an den Juden ermöglicht. Browning meint jedoch aus den Quellen keinen spezifischen Antisemitismus der Täter herauslesen zu können. In einer neueren Arbeit modifiziert Browning noch einmal seine Argumentation und betont die Bedeutung der »ideologischen Überzeugungstäter«, deren Verhalten »nicht maßgeblich durch situative, organisatorische oder institutionelle Faktoren« geprägt war. Vgl.: Christopher R. Browning, Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt/M. 2001, S. 266. Goldhagens Argument, dass im Polizeibataillon 101 der deutsche Antisemitismus der entscheidende Faktor für das Morden war, hängt mit der Zeugenaussage einer der wenigen Männer zusammen, die sich entschieden gegen das Morden zur Wehr setzten. Dieser sagte aus, dass er schon bei seiner früheren Tätigkeit als Hamburger Geschäftsmann viel mit Juden zu tun gehabt habe und sich deshalb nicht am Mord beteiligen wollte. Daraus folgert Goldhagen im Umkehrschluss, dass die meisten anderen Reserve-Polizisten aus antisemitischer Grundüberzeugung handelten. Vgl. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 296f.

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Die Anlage der Erzählung ist auch bei Goldhagen vor dem Horizont des Detektivromans bzw. der analytischen Erzählung zu hinterfragen. In seinem »Finale« macht Goldhagen nämlich genau das Gegenteil von Browning: Zunächst unterzieht er im vorletzten Kapitel alle ihm bekannten Erklärungsansätze, die der Motivation der Täter nachspüren und damit eine Erklärung für den Holocaust anbieten, einer grundlegenden und bisweilen polemischen Kritik. Im letzten Kapitel präsentiert er dann die »richtige« Lösung (er identifiziert sozusagen den Einzeltäter), die er schon in seinem einleitenden Überblick über den deutschen Antisemitismus im 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre als Rahmenhandlung vorbereitet hatte: »Der eliminatorische Antisemitismus: Das Motiv für den Völkermord«, heißt das letzte Kapitel wenig bescheiden. Die Verstörung bei der deutschen Historikerzunft und den Erfolg beim deutschen Publikum, die Goldhagen auslöste, hing neben vielen weiteren Gesichtspunkten auch damit zusammen, dass er ältere intentionalistische und ideologiekritische Erklärungsansätze im Zuge einer neuen empirischen Untersuchung wieder aufgriff und sie nun auf die Gesamtheit deutscher Täter, Zuarbeiter, Zuschauer und Wegseher übertrug. Damit fand er eine verstörend einfache Erklärung, während funktionalistische Historiker in der »polykratischen« Herrschaftsform des Nationalsozialismus den Holocaust als »ein zwingendes Resultat des Systems kumulativer Radikalisierung« begriffen. 53 Insbesondere die Kritik der deutschen Fachhistoriker richtete sich dabei sowohl gegen die eindimensionale Erklärung als auch die Motivationssuche des Überführungs- und Identifizierungsmodells des klassischen whodunit, welches im Zuge strukturalistischer und funktionalistischer Ansätze einerseits und durch die Untersuchung kleinteiliger, situationsbezogener Handlungsprozesse andererseits in die Kritik geraten war. Die Frage, aufgrund welcher Motivation die nationalsozialistischen Täter ihre Taten durchführten, überführt die Geschichtswissenschaften unweigerlich in den Bereich einer historischen Kriminologie. Goldhagens Argumentation, dass ein »eliminatorischer« Antisemitismus als der bedeutendste Motivationsgrund für deutsche Täter anzusehen ist, bleibt kaum überzeugend. Goldhagen vernachlässigt den übergreifend rassistischen Aspekt der Vernichtungspolitik und behauptet, dass die Grausamkeiten gegen Juden größer waren als gegen andere rassisch Verfolgte. Dies führt zu einer äußerst problematischen Klassifizierung der Opfer, die historisch gesehen – angesichts der »Euthanasie«-Aktionen, des Genozids an Sinti und Roma, an Homosexuellen und der angestrebten Vernichtung slawischer Völker – nicht zu rechtfertigen ist. 54 Im Hinblick auf Brownings sozialpsychologische Fragestellung, unter welchen situativen und gruppendynamischen Bedingungen Menschen kollektiv zu Mördern werden können, bleibt aus historischer Perspektive die Frage nach dem Spezifischen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms bestehen. Dan Diner hat in Bezug auf die NS-Forschung davon gesprochen, dass »historische Diskurse durchweg der Struktur gerichtsförmiger Narrative« folgen. 53 Hans Mommsen, Die Realisierung des Utopischen. Die »Endlösung« der Judenfrage im »Dritten Reich«, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 381-420; hier S. 399, Fußn. 65. 54 Wippermann, Wessen Schuld?, S. 98-122.

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Auch die lange Zeit die NS- und Holocaustforschung dominierenden intentionalistischen und funktionalistischen Erklärungsansätze könnten danach als unterschiedlich gelagerte gerichtsförmige Narrative gelesen werden, auch wenn sich deren Vertreter vehement gegen eine moralische Wertung wehren. 55 Da sich die Kontroversen insbesondere um Absichten und Beschlüsse der mit jüdischen Angelegenheiten befassten deutschen Behörden drehen und damit um Fragen nach den jeweiligen besonderen Umständen, die zur Tathandlung führten, sei dem Geschichtsdiskurs »aus sich heraus eine Gerichtsförmigkeit eigen«. Während ein intentionalistischer Zugang die Verbrechen als »schuldhaftes Handeln« interpretieren würde, stehe der funktionalistische Ansatz mit dem Deutungsmuster der »Fahrlässigkeit« in Verbindung, einer Art »schuldlose Schuld«. 56 Diner konstatiert, dass es zwischen einem »jüdischen Gedächtniskollektiv« und dem »Gedächtniskollektiv der Täter« eine interpretatorische Differenz gebe, die epistemologisch auf unterschiedliche Fragehorizonte zurückzuführen sei. Denn im Gedächtniskollektiv der Opfer – unter welches er auch das Werk von Daniel Goldhagen einordnet – stelle sich die Frage, wer die Opfer waren. Dies führe zu der Frage nach den Motiven der Täter, die gezielt aufgrund der Herkunft der Opfer mordeten. Im Gedächtniskollektiv der Täter stelle sich demgegenüber die Frage, wie es zu den Verbrechen kommen konnte. Eine solche auf die Umstände der Tat zielende Perspektive fokussiere auf die Geltung historischer Kontingenzen und auf die anthropologischen Ursachen eines Menschheitsverbrechens, bei dem von der »ethnischen« Herkunft der Opfer abstrahiert werde. So begründe sich aus dem Kollektivgedächtnis der Opfer heraus, auf den lange in der deutschen Kultur verankerten Antisemitismus aufmerksam zu machen, während im Gedächtnis der Täter diese Frage zugunsten der Wie-Fragen weitgehend ausgeklammert bliebe. Bei Forschern, die in keinem der beiden zentralen Gedächtniskollektive verankert seien, gebe es eine auffällige Tendenz zur »Universalisierung« des Holocaust, um herauszubekommen, zu was zivilisierte Menschen fähig seien. Damit rücke die vermeintlich »allgegenwärtige Möglichkeit von Menschheitsverbrechen in den Blick« und weniger der spezifische historische Kontext. 57 Die neuere Genozid-Forschung – zu der Diner auch das Werk von Christopher Browning rechnet – konvergiere zunehmend mit der epistemologischen Fragestellung, die dem deutschen Tätergedächtnis eigen sei, nämlich der Favorisierung der Wie- gegenüber der Wer-Frage. Damit umschreibt Diner insgesamt, was man die aus der Debatte zwischen Daniel Goldhagen und Christopher Browning hervorgehende Unterscheidung von »Disposition« und »Situation« nennen kann, die für die Einschätzung des Täterhandelns be-

55 Dan Diner, Ereignis und Erinnerung. Über Variationen historischen Gedächtnisses, in: Nicolas Berg/Jess Jochimsen/Bernd Stiegler (Hg.), Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte – Philosophie – Literatur – Kunst, München 1996, S. 13-30. 56 Dan Diner, Über Schulddiskurse und andere Narrative. Epistemologisches zum Holocaust, in: Gertrud Koch (Hg.), Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung (=Beiträge zur Geschichtskultur 20), Köln 1999, S. 61-84; hier S. 70f. 57 Diner, Über Schulddiskurse und andere Narrative, S. 71ff; hier S. 72f.

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stimmend ist. 58 So wird auch einleuchtend, was Harald Welzer mit seinem erwähnten Verweis auf Henning Mankell meinte, nachdem es »keine Mörder, sondern nur Menschen, die Morde begehen« gebe. Welzer verneint eine »judenmörderische« Disposition der Deutschen und privilegiert eine Sicht, in der Menschen im Rahmen ihrer sozialen Rollen handeln, die sich mit den an sie gestellten Anforderungen verändern. Doch kann die Frage nach dem Wer tatsächlich derart stark von der Frage nach dem Wie getrennt werden, und zwar abseits Dan Diners pointierter Anbindung an Erinnerungskollektive? Der untersuchungsrichterliche bzw. detektivische historiographische Zugang, wie er bei Droysen und Collingwood formuliert wurde, geht davon aus, dass beide Fragen zusammenzudenken sind: Denn erst über die Frage nach dem Wie kann ein komplexes Bild von denjenigen entfaltet werden, deren Handeln man erforscht. Sowohl Browning als auch Goldhagen haben den Fokus auf die Täter gelenkt, die direkt an der Vernichtung teilgenommen haben. Während sie damit die Beschränkungen der funktionalistischen Perspektive auf den polykratischen Charakter der Vernichtung überwunden haben, konnten sie jedoch eine Perspektive der Opfer nicht oder nur selten integrieren. 59 Viel deutet darauf hin, dass sich die »neuere Täterforschung« insgesamt nicht nur forschungsimmanent erklären lässt, sondern sie auch vor dem Hintergrund von populären kriminalliterarischen und historiographisch kriminalistischen Narrativen verstanden werden muss. 58 Peter Longerich, Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14 (2007), url: http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=QWIKM5&page=0; 05.05.2007. 59 Saul Friedländer hat daraus die Konsequenz gezogen, dass eine Beschreibung des Holocaust die Opferperspektive und die Täterperspektive, die jüdische und die deutsche Perspektive vermitteln muss. Seine »integrierte Geschichte des Holocaust«, die er mit seiner zweibändigen Geschichte Das Dritte Reich und die Juden vorgelegt hat, weicht von der Täterforschung insofern ab, als sie sich weder auf die Täter- noch auf die Opferperspektive einseitig ausrichtet. Für diese Synthese, welche durch die Doppel- bzw. Mehrfachperspektive eine große Materialfülle zu verarbeiten hat, vertraut er auf die moralische Kraft der Chronik. Gleichzeitig verweist er darauf, dass er eine filmische Technik adaptiert habe, indem er »plötzliche Schnitte in der Erzählung, gefolgt von abrupten Perspektivwechseln« macht. Löst sich damit das gerichtsförmige, kriminalistische Modell der Geschichtsschreibung auf? Vorbehalte sind angebracht, denn eine Ästhetik des filmischen Schnitts ist nicht nur in der Hochliteratur, sondern gerade im Thriller und Roman Noir weit verbreitet, die das Prinzip des filmischen Cuts und der Perspektivwechsel spannungserzeugend verfeinert haben: Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bde., München 1998/2006. Ders., Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte (=Vorträge und Kolloquien; Bd. 2), Göttingen 2007, bes. S. 7-28. Ders., Eine integrierte Geschichte des Holocaust, in: Aus Politik u. Zeitgeschichte 14 (2007), http://www.bundestag.de/dasparlament/2007/1415/Beilage/index.html; 08.05.2007.

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5 Literarischer Eigensinn und poetologischer Geschichtensinn Zum Abschluss dieses Kapitels soll danach gefragt werden, welchen literarischen Eigensinn populäre und geschichtswissenschaftliche kriminalistische Narrative über den Nationalsozialismus entfalten. Die kriminalistischwissenschaftliche Rhetorik und Narrativik, so die These, erweitert jene metanarrativen poetologischen Sinnmuster, wie sie Hayden White beschrieben hat, ohne sie dabei zu ersetzen. Der historische Kriminalroman scheint zunächst den Beweis anzutreten, dass es für historische Ermittlungen keine Historiker braucht. Denn in den kriminalliterarischen Fiktionen übernimmt der staatliche Ermittlungsbeamte oder Detektiv die Rolle des Zeithistorikers und Zeitzeugen. Sein detektivischer Blick richtet sich auf die Spuren der Vergangenheit, die sich in die Topographie des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses eingeschrieben haben. Das Vorgehen ist befragend dialogisch, kommentierend, diskussiverörternd und bestenfalls selbstreflexiv. Der standortgebundene Forschungsprozess zeigt sich in zwei Hauptvarianten: Entweder vertritt der Ermittler einen emanzipatorischen Anspruch, oder aber er ist selbst beruflich oder persönlich in die Vergangenheit verstrickt. Während die politische Distanz der Protagonisten oft in eine historische Pädagogik mündet, wird durch die eigene Verstrickung derselben eine Auflösung binärer Wertstrukturen von Gut und Böse und eine moralische Indifferenz befördert, die beste Voraussetzung für eine psychologische Dramatisierung bietet. Der realistische Anspruch des Genres führt jedoch dazu, die arbeitsteilige Wirklichkeit wahrzunehmen und die von der Gesellschaft abgestellten Spezialisten des historischen Gedächtnisses und der geschriebenen Geschichte in die Fiktion zu integrieren. Auf ihr Wissen ist nicht zu verzichten, sobald sich eine Gesellschaft mit einer Geschichte konfrontiert sieht, die nicht mehr die ihre zu sein scheint. So tauchen in den populären kriminalistischen Fiktionen die Historiker zunächst als klassische Watson-Figuren auf, bis sie selbst zu leitenden Ermittlern werden. Aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer weitreichenden Kenntnisse über die Vergangenheit sind diese Historiker die kompetenten Ansprechpartner für professionelle Ermittler für Fragen, wie und wo man entsprechende Dokumente findet und wie sie in den politisch-historischen Kontext einzuordnen sind. Das Archiv wird neben dem sprichwörtlich verstaubten Dachboden zu einem mythenumwobenen und umkämpften Ort, in dem Teilbestände der Akten in Flammen aufgehen oder aber mit krimineller Energie entwendet werden. Im Labyrinth der Archive lassen sich jene Dokumente finden, die die Dimension des Falles verdeutlichen, auf die Spur des Täters führen und zu einer Revision des Geschichtsbildes führen. Zunehmend verschiebt sich die Funktion des Historikers im Roman, indem er vom Berater zum handelnden Akteur wird, der persönlich in den Fall verstrickt ist. Nun sucht er die direkte Auseinandersetzung mit dem Fortleben einer Vergangenheit, der er nicht mehr durch den geschriebenen Text, sondern durch die Überführung von Tätern beikommen will. Mit seinem historischen Wissen ist er den Ermittlungsbehörden bei der Verfolgung des Täters weit voraus, falls sich diese staatlichen Ermittlungsorgane überhaupt für den Fall interessieren. Und mit diesem Wissen, welches im Widerstreit mit dem öffentlichen Erinnerungsdiskurs steht, gerät er in Gefahr: So wird bei Didier 463

Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Daeninckx der ermittelnde Geschichtsstudent ermordet, während in L’Or et la Cendre (1997) von Elliette Abécassis oder in Mann ohne Makel von Christian v. Ditfurth die Historiker den Winkelzügen und Anschlägen der Aufklärungsgegner nur knapp entrinnen können. Die retrospektive historische Ermittlungserzählung ist eine konventionalisierte, aber modifizierbare Form, deren Rhetorik und Enthüllungsdramatik der Kritik und Revision der Geschichte verpflichtet ist. Dies trifft selbst dann zu, wenn sie letztlich – wie beispielsweise in der DDR – nichts anderes im Sinn hat, als gesellschaftlich kaum verhandelbare Vergangenheitsdeutungen zu stützen. Die Übergänge zwischen fadenscheiniger und ernst zu nehmender kritischer Revision der Geschichte bleiben fließend und kommunikativ auszuhandeln. Der Reiz der Form für die Theoriebildung der Geschichtswissenschaften liegt in der sich ständig wiederholenden Fiktion gelingender Rekonstruktion, die sich damit gleichzeitig als eine Ideologie der Aufklärung zeigt. So basiert die Historik des Kriminalromans im Wesentlichen auf einem kriminalistischen Verständnis der historischen Methode und führt damit das Erbe von Positivismus, Empirismus und einem an Rechtsdogmen gebundenen Wahrheitsbegriff fort, welches jenseits materialistischer und gesellschaftstheoretischer Geschichtskonzeptionen auch in Romanen französischer Linker oder aber den Politaktivisten des DDR-Kriminalromans fröhliche Urständ feiert. Die Erkennbarkeit des Faktischen bleibt das Metier detektivisch-fiktionaler Aufklärung auch dann, wenn der Kriminalroman ein undurchsichtiges Dickicht bedeutender und unbedeutender Zeichen entwirft, oder wenn er versucht, das Gesellschaftliche auf Kosten des whodunit zu betonen. Dass die fiktionalen Geschichtsermittler dabei bisweilen angesichts eines vermeintlich klaren historischen Tatbestandes über die Interpretierbarkeit der Welt verzweifeln, gehört zu den Topoi des historischen Kriminalromans. Die detektivische Erzählung zeigt ihre Entfaltungskraft in der Tatsachenermittlung, und der Leser erkennt ihre sinnhafte Bedeutung in der geleisteten historischen Aufklärungsarbeit der Ermittler und der Wiederherstellung von individueller und historischer Gerechtigkeit. Der Detektivroman bleibt ein Erzählmuster voller Pathos auch dann, wenn Geschichten aufdeckt werden, die – soweit wir es wissen und vermuten – tatsächlich einer Amnesie anheim gefallen sind, die bewusst verdrängt oder ausgeschaltet wurden, oder die auf der Basis neu gelesener Quellen und im Rahmen eines neuen zeitspezifischen Blickwinkels eine neue Sicht auf die Vergangenheit ermöglichen. Dabei gibt es die Tendenz, das fiktionale Detektivschema nicht nur für eine allgemeine Popularisierung des historischen Diskurses zu nutzen, sondern Themen zu lancieren, die parallel in der Geschichtswissenschaft diskutiert und erforscht werden. Mit diesen konkreten, historisch-kriminalistischen Einzelfallanalysen wird der Kriminalroman zu einer Poetik des historischen Sachverhalts. Neben dieser Poetik des Sachverhalts tendieren andere Romane dazu, hinter den kriminellen Machenschaften größere und kleinere Verschwörungen zu sehen. Schon in der Bemerkung von Brecht, dass der Kriminalroman die inside story einer Gesellschaft aufdecke, ist dieses Verschwörungsmotiv enthalten. Während der Polit- und Geschichtsthriller die Verschwörer benennt und personalisiert, deutet der Roman Noir die Verstrickungen von staatlichen Machtorganen und politisch motivierten Verbrechen nur 464

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an. Er zeigt die Korrumpierung der Gesellschaft und behauptet implizit, dass sie wie ein großer Kriminalroman funktioniert. 1 Kriminalistische Narrative – von der Kriminalliteratur bis hin zu kritischer Geschichtsschreibung – erzeugen also einerseits einen Eigensinn, welcher der Rhetorik des Aufspürens und Entdeckens neuer Details der Geschichte verpflichtet ist. Kriminalistische Narrative sind eine Form, in der Wahrheit, Tatsächlichkeit und Wirklichkeit hergestellt wird. Sie sind darüber hinaus jedoch auch ein Ort, in dem die Beziehungen von Tätern, Opfern, Zuschauern und Aufklärern ausgehandelt und vorgeführt werden können. Damit kommt ihnen eine soziale Funktion zu, indem über eine Thematisierung von historischer Schuld und Gerechtigkeit Fragen des Zusammenlebens und Ausschließens behandelt werden. So lässt sich der historische Sinn, den solche historisch-kriminalistischen Narrative erzeugen, nicht allein auf das »kritische Geschäft« reduzieren. In historisch-kriminalistischen Narrativen können weiterhin jene poetologischen Sinnmuster der Tragödie, der Komödie, der Romanze und der Satire erkannt werden, die nach Hayden White den historischen Diskurs strukturieren und eine beschreibend-analytische Funktion darstellen. 2 Während das Konstruktionsprinzip moderner Geschichtsschreibung in der Interdependenz zur Kriminalliteratur gesucht werden muss, bieten sich diese klassischen dramatischen Formen an, die Sinnkonstitution erzählter Geschichte zu erfassen. Dabei sind sie nicht allein Konstruktionsmuster, sondern auch Rezeptionsmuster, die durch metaphorische Verknappung einen metanarrativen Sinn von Geschichte erschließen lassen. So lassen sich in den historischen Kriminalromanen tragische und ironische, romanzen- und komödienförmige Deutungsmuster von kritisch erforschter Geschichte erkennen. Dabei kann erstens der Gesamtblick auf die Geschichte des Nationalsozialismus, wie er sich durch die Romane entfaltet, auf einen solchen »poetischen« Sinn hin befragt werden. Zweitens kann das Projekt der ermittelnden Aufklärung, wie es von den Detektiven vorgeführt wird, hinsichtlich dieser Muster betrachtet werden. Befragt man die DDR-Romane über das kriminalistische Schema hinaus nach den in ihnen vorherrschenden metanarrativen Plotmustern, so lässt sich ausgehend von Brechts Arturo Ui die Tendenz konstatieren, dass dieser – für die Krimikonzeption der DDR wichtige – Geschichtsthriller, welcher die Geschichte des Aufstiegs des Nationalsozialismus in der Form einer »historienfarce« darbietet, zum romanzenförmigen Aufklärungsepos umgestaltet wird. Das DDR-Geschichtsbild, so wie es auch vom Geschichtskrimi ausgestaltet wird, ist damit keinesfalls von einem »tragischen Antifaschismus« geprägt. 3 1 2

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Martin Compart, Noir 2000. Ein Reader (=DuMont Noir; Bd. 22), Köln 2000, S. 12. Sicherlich sind diese metanarrativen Strukturen mit ideologischen Implikationen besetzt, jedoch bleiben die von White ins Spiel gebrachten Familienähnlichkeiten sowohl zu konkret als auch zu vage, um übernommen werden zu können. Bude, Das Ende einer tragischen Gesellschaft, S. 267-281. Bude geht hier stark von Whites Theorie der Familienähnlichkeiten von archetypischen Metanarrativen und ideologischen Implikationen aus und schließt aus der Tat-

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Vielmehr wird das Tragische aus der historischen Sinnbildung ausgeschlossen, und zwar über den Topos gelingender und staatlich geförderter kriminalistisch-historischer Aufklärung. Allen Subjekten, von denen die Kriminalliteratur erzählt – Opfer, Täter, Aufklärer und die Gesellschaft, in der sich das Drama der Aufklärung entfaltet – wird das Tragische verweigert. Motive wie eine tragische, aus den Umständen resultierende Schuld eines Charakters und die damit verbundene Erzählung von einem schuldlos Schuldigen tauchen in diesen Romanen selten auf. Selbst die letzten Reste einer tragischen Geschichtskonzeption, die darin zu sehen wären, dass der Sozialismus weder zur Vollendung gebracht wurde noch als Exportschlager erfolgreich war, finden zunehmend keine Thematisierung in den Geschichtskrimis. So folgte das Geschichtsbild der DDR letztlich der Romanze: Der kommunistische Antifaschismus siegt nach langem Kampf gegen den Faschismus und gründet eine »Familie«, den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden, verbunden mit den sozialistischen Brudervölkern. Tragische Interpretationen, wie die zu Beginn der DDR prominente »Miseretheorie« der Deutschen Geschichte, verlieren schon in den 1950er Jahren zunehmend an Bedeutung. Folgerichtig sieht man schon in den 1950er Jahren staatliche Ermittler, die im Zuge des Systemkonflikts ganz im Dienst der Romanze ermitteln. Sie ist wohl die einfachste populäre, vor allem aber propagandistische Version des historischen Ermittlungsromans: Der NS-Täter wird verfolgt und festgesetzt, während sich der Staat ganz der gelingenden Aufklärung verschrieben hat. Für die bundesdeutschen Romane ist nun keineswegs allein ein »ironischer Antifaschismus« zu konstatieren: Das Argument von Heinz Bude, dass sich in der Bundesrepublik eine Gesellschaft mit ihren Tätern arrangiert habe und sich dieser »ironischen« Situation insgesamt bewusst gewesen sei, steht in Widerspruch zu einem in der Bundesrepublik konkurrierenden tragischen Modell der Geschichte und ihrer Aufarbeitung bzw. Verdrängung. 4 Eine ironische Ausdeutung des Arrangements mit den Tätern findet man zwar in den Romanen von Michael Molsner und von Hansjörg Martin, wenn Das Zittern der Tenöre zunächst als komödiantische Satire beginnt: Der unbeholfene Versuch alter Faschisten, ihre Vergangenheit nicht ans Licht kommen zu lassen, führt dazu, dass der Kommissar ihre Verstrickung mit dem NS-System nur erahnen, aber nicht aufklären kann. Als Ironie der Geschichte erweist sich auch der Versuch des Protagonisten in Martins Dein Mord in Gottes Ohr, seinen ehemaligen Wehrmachtsvorgesetzten zu töten, dieser dann aber von demjenigen umgebracht wird, dessen Gründe nicht auf die NS-Vergangenheit zurückgeführt werden können. Verbreiteter erscheint jedoch ein tragisches Grundverständnis der Vergangenheit und ihrer Auswirkungen auf die Gegenwart. Während etwa Friedrich Meinecke kurz nach dem Krieg von einer Deutschen Katastrophe sprach, behauptete Golo Mann in dem Vorwort der deutschen Ausgabe von

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sache, dass der Faschismus mechanistisch auf den Kapitalismus zurückgeführt wird, auf ein tragisches Geschichtsbild der DDR. Siehe auch: Heinz Bude, Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose, Hamburg 1999. Dazu: Loewy, Projektive Auserwähltheitskonkurrenz, S. 73-86. Loewy, Faustische Täter? Tragische Narrative und Historiographie, S. 255-264.

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Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

William Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reichs, dass Shirer nicht das »Tragische in der Geschichte« erkenne: »Aber verschuldet-unverschuldete Ausweglosigkeit, den Zwang zu irren, da wo es den rechten Weg nicht gibt – das sieht er nicht.« 5 Wie Hanno Loewy gezeigt hat, bekommt diese narrative Figur der tragischen, schicksalhaften und ›schuldlos-schuldhaften‹ Verstrickung eine »emblematische Qualität im öffentlichen Diskurs über den Nationalsozialismus in Deutschland«, auf die man sowohl in Werken der Geschichtswissenschaft als auch in populären Geschichtserzählungen, und auch darüber hinaus in den Erklärungsversuchen der Täter trifft. 6 Der modernen Kriminalliteratur kommt bei der Inszenierung dieses tragischen Grundtopos eine wichtige Bedeutung zu. In der vorliegenden Arbeit findet man ihn etwa schon in Der Verbrecher aus verlorener Ehre von Friedrich Schiller, in verschiedenen Pitavalerzählungen von Willibald Alexis, in Josephine Teys The Daughter of Time bis hin zu den bundesdeutschen Kriminalromanen, die sich mit dem Nationalsozialismus befassen. So gehören schon in den frühen Darstellungen bei Peter Lorre, Will Berthold und Hans Hellmut Kirst jene »schuldlos Schuldigen« zu den Hauptprotagonisten. Insbesondere in Armer Nanosh von Asta Scheib und Martin Walser als auch bei Bernhard Schlink wird diese tragische Grundkonzeption fortgeschrieben: Die »Last der Vergangenheit« lässt die Menschen wiederum zu »Tätern aus Vergangenheit« werden. Dabei zeigen sich tragische Täter, deren Handeln nicht fahrlässig, sondern schicksalhaft zwangsläufig ist – und so werden die Täter von einst zu Opfern der Umstände umgedeutet. Wiederholt greift die populäre Geschichtserzählung auf tragisch verstrickte Aufklärer zurück, die sich am Ende des Romans selbst töten müssen, um mit der Vergangenheit abzurechnen. Mit einer solchen Plotkonstruktion ist eine tragische Theorie des historischen Gedächtnisses verbunden, denn dieses übt einen nicht zu entkommenden Zwang aus, der die Protagonisten zwanghaft handeln lässt. Der grundkonservative Ton, der den Romanen von Schlink, Bosetzky und Scheib & Walser durch die Thematisierung der Aufkündigung weiterer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eingeschrieben ist (ohne dass sie dies wirklich einfordern), zeigt dabei, dass ein tragisches Geschichtsverständnis kaum mit einer vermeintlichen Radikalität in Verbindung gebracht werden kann, wie dies Hayden White meinte. Allein die erneuten Morde, die hier begangen werden, kann man vor dem Hintergrund einer tragischen Ironie ausdeuten, welche darin besteht, dass durch die kons-

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Loewy, Projektive Auserwähltheitskonkurrenz, S. 75. Vgl. Golo Mann, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: William Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reichs, Köln 1961, S. 16. Als weiteres Beispiel nennt Loewy Gerald Reitlingers Buch The SS. Alibi of a Nation (1956), in der deutschen Übersetzung Die SS. Tragödie einer deutschen Epoche. Dazu auch: Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker; ders. Lesarten des Judenmords, in: Ulrich Herbert, Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980 (=Moderne Zeit; Bd. 1), Göttingen 2002, S. 49-97; ders., »Auschwitz« und die Geschichtswissenschaft. Überlegungen zu Kontroversen der letzen Jahre, in: Ders./Jochimsen/Stiegler (Hg.), Shoah. Formen der Erinnerung, S. 31-52. Vgl. Loewy, Projektive Auserwähltheitskonkurrenz, S. 75.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

tatierte »Vergangenheitsbesessenheit« ein »normales« Weiterleben – wie auch immer dieses aussehen soll – nicht erfolgen kann. Dabei ist diese tragische Situation der Verstrickung keineswegs auf bundesdeutsche Romane beschränkt. In Fatherland endet die Aufklärung des Holocaust durch den Protagonisten mit dem Weg in den freiwilligen Tod. Befreiend erscheint deshalb – trotz seiner schicksalhaft-zwangsläufigen Verstrickungen in das NS-System – die ironische Distanz des hardboiled-Helden Bernard Gunther bei Kerr. Tragische Deutungsmuster der Vergangenheit sind schließlich auch dort zu sehen, wo zwischen Opfern und Tätern nicht mehr sicher unterschieden werden kann, wie dies etwa in Sternstunde der Mörder von Pavel Kohout oder in Wer übrig bleibt, hat recht von Birkefeld & Hachmeister der Fall ist. Im Morast individueller Verstrickungen und entdifferenzierender Verbrechensschauen – Opfer, die Täter werden, und Täter, die Opfer sind – wird darüber hinaus das Exklusionsprinzip, welches in den Serienmörderfiktionen ein entscheidendes Erzählmotiv ist – auf die Geschichte des Nationalsozialismus übertragen. Während also im populären Geschichtsdiskurs in der Bundesrepublik vornehmlich tragische, seltener ironische Deutungsmuster der Vergangenheit deutlich werden, gibt es auch hier Formen, die eher der Romanze verpflichtet sind. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist in der Populärkultur die Thematisierung des Endes des Naziregimes und der unmittelbaren Nachkriegszeit als Phase des Überganges, etwa in den Romanen von Philip Kerr, Horst Bosetzky und Birkefeld & Hachmeister. Die damit verbundene Hoffnung auf eine bessere Zukunft – man denke auch an die Schlussszene des Filmes Der Untergang (2004) von Oliver Hirschbiegel, in dem die Sekretärin Hitlers und ein Hitlerjunge der Sonne entgegenradeln – impliziert nichts anderes als ein romanzenförmiges, in seiner teleologischen Ausrichtung höchst einseitiges Geschichtsbild, welches weniger die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte, sondern einen radikalen Bruch nach 1945 betont. So muss man insgesamt von einer gewissen Pluralität poetologischer Sinnmuster ausgehen und berücksichtigen, dass verschiedene dieser Sinnmuster der Vergangenheit in ein und derselben Geschichtsfiktion konkurrieren können. Dennoch lassen sich zwei narrative Hauptkonstruktionen für den historischen Kriminalroman zusammenfassen: Wird die gelingende Aufklärung eines spezifischen Verbrechens von einem integren Helden durchgeführt und mit einem eindeutigen Deutungsangebot in Bezug auf den NS-Staat verknüpft, handelt es sich um eine Geschichtsschreibung in der Form der aufklärerischen Romanze. Kann jedoch nur das spezifische Verbrechen vor einem oft im Allgemeinen verbleibenden Hintergrund eines verbrecherischen Systems aufgeklärt werden, handelt es sich um eine tragödienhafte Aufklärung. Letzteres ist das klassische Grundmuster des hardboiled-Romans und des Roman Noir: Aufklärung gelingt partiell, sie signiert den historischen Hintergrund als verbrecherisch, scheitert jedoch im Hinblick auf ein umfassendes Verstehen der Geschichte und zerbricht an einer nicht mehr zu verändernden Geschichte. So sinnvoll diese poetologischen Erzählmuster zur Beschreibung der Geschichtsbilder in populären historischen Kriminalroman sind, steht doch in Frage, ob sie auch angesichts der neueren Geschichtsforschung, etwa der 468

Der Nationalsozialismus als Kriminalroman

»neueren Täterforschung« Relevanz beanspruchen können. Die Täterforschung zeigt zunächst, dass sich das kriminalistische, untersuchungsrichterliche und detektivische Modell der Geschichtsschreibung keinesfalls überlebt hat: Es ist von zentraler Notwendigkeit für die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Sicher kann man der Täterforschung, wie dies Dan Diner und auch Hanno Loewy getan haben, eine Affinität zu tragischen Sinnmustern zuweisen. Doch als kriminalistische Narrative erreichen sie auch etwas, was sich den klassischen dramatischen Formen entzieht: Wie gezeigt, führt Browning den Leser an den Tatort und schildert das verbrecherische Geschehen in minutiöser Genauigkeit. Goldhagen konfrontiert den Leser mit einer Reihung enervierender Schreckensberichte. Auf diese Weise entzieht sich die Darstellung der Verbrechen einer klassischen Dramatik. Während Browning die literarische Form des Thrillers adaptiert, nutzt Goldhagen die serielle Reihung. So entstehen – eingedenk aller Kritik an diesen Darstellungsformen – neue historische Repräsentationsformen und neue geschichtspoetologische Verstehensmuster durch die Interdependenzen mit der Populärkultur, die das Grauen neu begreifbar machen.

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Zusammenfassung »Fact … is a poor story-teller. It starts a story at haphazard, generally long before the beginning, rambles on inconsequently and tails off, leaving 1 loose ends hanging about, without a conclusion.«

Untersuchungsrichter und Detektive sind die Kollektivsymbole der Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Innerhalb der Geschichtstheorie zeigt sich eine Genealogie vom Historiker als Inquisitor, als Untersuchungsrichter und als Detektiv, bis die Kriminalliteratur selbst zu einer alternativen Geschichtsschreibung wird und die fiktiven Detektive am Projekt historischer Aufklärung teilnehmen. In der Geschichtstheorie dienen die Kriminalliteratur und die Figur des Untersuchungsrichters und Detektivs als eine heuristische Fiktion, um sich über prinzipielle Fragen der Historik ebenso wie über Fragen und Formen der historiographischen Darstellung zu vergewissern. Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Frage, inwieweit das »Indizienparadigma« (Ginzburg) der Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert einen rechtshistorischen Hintergrund hat, und wie es sich auf die Epistemologie der Geschichtswissenschaft sowie die Theorie und Konzeption historiographischer Darstellungsformen ausgewirkt hat. Der rechtshistorische Horizont des Indizienparadigmas in den Humanwissenschaften – aber auch für die Geschichtswissenschaften – sind eng mit der von der Französischen Revolution ausgehenden Reformierung des Strafverfahrens in Europa verbunden, wie dies hier beispielhaft für Deutschland nachgezeichnet werden konnte. Die Einführung des »vollgültigen« Indizienbeweises und der »freien richterlichen Beweiswürdigung« boten neue Legitimationsstrategien wissenschaftlicher Wahrheitsfindung, und sie regten zu einer neuen Epistemologie historischer Wahrheit an. Im Gegensatz zu Foucault, der in seiner Genealogie der juristischen Formen den Rechtsdiskurs als leitendes Paradigma der Wahrheitsfindung verstand, zeigten sich interdiskursive Verknüpfungen zwischen Historik, Kriminalistik und Jurisprudenz. Die traditionelle Verbindung von Historik und Kriminalistik, die seit der antiken Rhetorik und den Ausführungen zur forensischen Beredsamkeit besteht, entfaltet mit der Abschaffung der Folter im 18. Jahrhundert ein neues Reflexionspotential über die Problematik historischer Wahrscheinlichkeit und historischer Gewissheit. In der Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) von Johann Martin Chladenius zeigt sich noch die Problematik, dass die Theorie der Geschichte nicht problemlos an das überlieferte forensische Modell der Wahrheitsfindung anknüpfen konnte, da die Indizien im geständnisorien-

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Somerset Maugham, Ashenden: The British Agent, New York: Avon 1951, S. VII.

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Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

tierten Inquisitionsprozess allein die Anwendung der Folter regelten und nicht zu »historischer Gewissheit« führten. Dies änderte sich mit der Einführung des vollgültigen Indizienbeweises und der freien Beweiswürdigung durch die Strafrechtsreformen des frühen 19. Jahrhunderts. So beriefen sich Juristen nach 1800 auf den Terminus der »historischen Gewissheit« historiographischer Erkenntnisse, der den Begriff der »historischen Wahrscheinlichkeit« verdrängte, um die Einführung des Indizienbeweises zu legitimieren. Während sich Juristen damit auf die überzeugenden Erkenntnisse der Geschichtsforschung beriefen, spielten Historiker wie Jacob Grimm auf die neue Theorie des vollgültigen Indizienbeweises und das Geschworenengericht an, um sich von der Plausibilität ihrer Erkenntnisse überzeugt zu zeigen. Dies wurde insbesondere auf den Germanistentagen 1846/1847 deutlich, als Historiker, Germanisten und Juristen sich gemeinsam für die Einführung von Geschworenengerichten einsetzten. So wurde der juristisch vollgültige Indizienbeweis mit der schon zuvor praktizierten freien historischen Beweisführung verschränkt, wodurch historische Interpretationen eine quasi-rechtliche Legitimation erfuhren. Eine prägnante Ausführung, wie sich die Einführung des Indizienbeweises und der freien Beweiswürdigung im Zuge der Strafrechtsreformen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Theorie der Historiographie niederschlägt, findet sich in Johann Gustav Droysens Historik. Die Einschreibung des juristischen in den historiographischen Diskurs wird insbesondere an Droysens umfassendem Begriff des »Tatbestandes« deutlich. Droysen argumentiert gegen die Annahme, dass man durch das Verfahren der Kritik an »objektive Tatsachen« gelange. Er kritisiert die Fixierung der historischkritischen Schule auf autopische Nachrichten und auf »erste Quellen«, die die reine Wahrheit wiedergeben, im übertragenen Sinn also die Fixierung auf das »Geständnis« historischer Zeugen. Dies ist im Zusammenhang der Strafrechtsreformen des 19. Jahrhunderts zu sehen, mit der sich die Bedeutung des Geständnisses im Rahmen der Beweistheorie verändert. Das Geständnis wird nicht mehr als regina probationum aufgefasst und verliert seine herausragende Stellung im Beweisverfahren. Das Geständnis oder der »erste Aussager« (Chladenius) wird nun selbst als zu überprüfendes, unsicheres Indiz gewertet, welches erst im Rahmen einer umfassenden Beweiserhebung Evidenz erzeugt. Mit Foucault lässt sich konstatieren, dass Historiker seit den Strafrechtsreformen des 19. Jahrhunderts nicht mehr darauf eingeschränkt sind, den Wahrheitsgehalt der Quellen in einem dem inquisitorischen Prozess ähnlichen Verfahren festzustellen, um dann zum Urteil zu kommen. Vielmehr unterziehen sie die Quellen einer umfassenden Prüfung, sie werden getestet, um dann innerhalb einer freien Beweiswürdigung eine These, die im Hinblick auf die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart und im Hinblick auf eine leitende Idee entworfen wurde, per Indizienverfahren darzulegen. So kommt es in Analogie zur Jurisprudenz sowohl zu einer Subjektivierung wie auch zu einer methodischen Regulierung des historischen Verfahrens. Mit der Metapher des Untersuchungsrichters und des Detektivs wird die forschende Praxis und die Arbeit des Historikers gegenüber einer rein urteilenden Historie betont, die sich sowohl gegen die eschatologische und idealistische Denkfigur der Geschichte als Weltgericht, als auch gegen die Vorstellung vom Historiker als Richter wendet. Historiker begriffen sich nun als 472

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Zuarbeiter für eine Wahrheitsfindung vor Gericht, die ihre Ergebnisse der Erinnerungs- und Forschungsgemeinschaft überstellen, welche als Geschworenengericht über seine Erkenntnisse tagt. Die Droysensche Heuristik regelt die gezielte Befragung, die Kritik ist dazu da, den Materialien den »Mund zu öffnen«, woraus sich eine kriminalistische Verhörsituation ergibt. Während innerhalb der Heuristik die Materialien nur ein unartikuliertes Gestammel hervorbringen, werden sie durch die kritische Analyse zum »Sprechen« gebracht. Das »forschende Verstehen« – Droysens zentraler Begriff – ist mitnichten das Gespräch unter gleichberechtigten Partnern, wie es die Hermeneutiken Gadamers oder aber Paul Ricœurs entwerfen werden. »Forschendes Verstehen« ist hier nicht das Verständnis des Anderen, sondern eine Verhörsituation, in der der Untersuchungsrichter Delinquenten gegenübertritt und seine Interpretationsmacht entfaltet. Das forschende Verstehen der Historik zeigt sich freundschaftlich-kriminalistisch-aggressiv. Im hermeneutischen Verstehen zeigt sich der Historiker als Freund und Helfer, dann wieder greift er zu rigiden Maßnahmen gegenüber seinen Zeugen. Die historische Forschung ist der Akt eines umfassenden Polizierens, dem es – vor dem Hintergrund der Theorie der sittlichen Mächte in der »Systematik« Droysens – um Sicherheit und Ordnung geht. Aus der kriminalistischen Metaphorik der Historik resultiert also fernab erkenntnistheoretischer Fragen ein normativer und normbildender Diskurs. Die Historik entlehnt dem juristischen Diskurs nicht nur die Wahrheitsfindung, sondern offenbart, dass es der Geschichtswissenschaft in zentraler Weise um die »Anomalien« und die »Pathologien« des historischen Geschehens geht. Die untersuchungsrichterliche Metaphorik steht darüber hinaus in Verbindung zur rhetorischen Tradition der Geschichtsschreibung, weshalb von einer »Entrhetorisierung der Geschichtswissenschaft« bei Droysen nicht gesprochen werden kann. Historiker können zwei Geschichten erzählen: Die rekonstruierte Geschichte und die Rekonstruktion der Geschichte, und zwar in der Form der »erzählenden« und der »untersuchenden« Darstellung. Sobald sie sich thematisch mit den Anomalien und den Verbrechen der Vergangenheit auseinander setzen, werden die Parallelen zur Kriminalliteratur noch deutlicher: Historiker erzählen dann entweder eine Verbrechensgeschichte, oder aber sie erzählen die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens: eine Detektivgeschichte. Droysen kann damit als ein Theoretiker des Kriminalromans avant la lettre bezeichnet werden, einer Gattung, die sich erst zu seiner Zeit ausbildet und die den pointierten Rätselroman des golden age of crime noch nicht kennt. Denn seine Unterscheidung von »untersuchender« und »erzählender« Darstellung nimmt narratologische Analysen der Kriminalliteratur und insbesondere des Detektivromans vorweg. Dabei koppelt er die »Mimesis des Findens« und die »Mimesis des Suchens« als zwei Varianten der untersuchenden Darstellung von der erzählenden Darstellung ab, die zwar ein konsistentes, persuatives Vergangenheitsbild erzeugt, jedoch nicht den Forschungsprozess zur Darstellung bringen kann. Die Historik nimmt damit eine Erneuerung der rhetorischen Unterscheidung von narratio und argumentatio als der grundlegenden Doppelkodierung der historiographischen Erzählung vor. Im Anschluss an Axel Rüth kann festgehalten werden, dass mit der »Verwissenschaftlichung« der Historiographie die untersuchende, detektivi473

Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

sche Darstellung zur dominanten Erzählweise der Historiographie des 20. Jahrhunderts wird. Ebenso wie dem neuzeitlichen Roman für die Konstitutionsphase des Historismus nach Daniel Fulda und Johannes Süssmann eine synthesebildende Funktion zukommt, ist die Kriminalliteratur seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert diejenige literarische Form, mit der die Forschung in Darstellung überführt werden kann. Die Ausbildung untersuchender Darstellungsformen steht so im Kontext der »juristischen Geschichtserzählung«, der Entwicklung der Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts und den literarischen Untersuchungsrichtergeschichten, die sich um 1850 ausbilden. Im Interdiskurs von Historiographie und Kriminalliteratur zeigt sich, dass sich im 19. Jahrhundert die Trennung von der »juristischen Geschichtserzählung« – die narrative Wiedergabe einer Tathandlung – und der »Prozesserzählung« – die Analyse des Geschehens im Hinblick auf eine »Idee« oder ein »Gesetz« – auflöst, so dass beide Elemente zunehmend in eine Erzählung integriert werden. Mit der untersuchenden Darstellung entfaltet der Historiker einen eigenen Habitus und eine ihm eigene Stimme, die seine Praxis als detektorische, forschende Arbeit erscheinen lässt. Indem nun die Geschichtsschreibung verstärkt auf detektorische Erzählmuster zurückgreift, verstärkt sie rhetorisch den Eindruck ihrer Wissenschaftlichkeit. Die Forschungserzählungen der modernen Historiographie grenzen sich damit zunehmend von genetischlinearen und realistisch-illusionistischen Erzählweisen ab. So erscheinen die »Verwissenschaftlichung der Historiographie« und die offensichtliche Anästhetik moderner historiographischer Darstellungen selbst als ein Resultat der Erneuerung der rhetorischen Tradition der Geschichtsschreibung, indem sie parallel zur Kriminalliteratur analytische und diskussiv-erörternde Erzählweisen verstärkt. Der pointierte Rätselroman wird – angedeutet bei Marc Bloch und ausformuliert bei Robin George Collingwood – zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Projektionsfläche der Geschichtstheorie. Die kriminalistisch-heuristische Befragung deutet Collingwood als eine Logik von Frage und Antwort, welche von ihm mehr als ein innerer Dialog denn als ein Dialog mit der Forschungsgemeinschaft verstanden wird. Seine hermeneutische Geschichtstheorie beruft sich dabei auf das »Modell Poirot« und wendet sich gegen das »Modell Sherlock Holmes«, mit dem von ihm eine positivistisch-kriminalistische Spurensicherung verbunden wird, ein Sammeln historischer Daten ohne gezielte Fragestellung von »Spürhunden in Menschengestalt«. In seiner Kritik der historisch-kritischen Schule und seinem Angriff gegen die von ihm sogenannte sissors-and-paste-Historiographie macht er ebenso wie Droysen die zentrale Bedeutung des Indizienbeweises für die Historiographiegeschichte deutlich, auch wenn beide – und dies bleibt erstaunlich – den Begriff nicht reflektieren. Collingwood zeigt, dass der Historiker im Gegensatz zum Detektiv des Romans niemals auf ein Eingeständnis der Wahrheit hoffen darf: Historische Interpretationen beruhen auf hypothesenbasierten Schlussfolgerungen, sie sind spurenabhängige freie Beweiswürdigungen. Die »historische Imagination«, die nicht mit dichterischer Phantasie verwechselt werden darf, benötigt der Historiker nach Collingwood deshalb nicht nur für eine sinnvolle Verknüpfung innerhalb einer lückenhaften Überlieferung. Vielmehr gilt es einen vergangenen Handlungsakt nachzuvollziehen, eine Verstandesoperation, die 474

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er mit dem schillernden Begriff des re-enactment umschreibt. Verbunden sind seine Ausführungen ebenso wie diejenigen Droysens mit einer vehementen Kritik des Quellenbegriffs, den er durch den doppelcodierten Begriff evidence ersetzt: Eine moderne, detektivische Geschichtswissenschaft kann sich nur auf die Gewissheit ihrer schlussfolgernden Herleitung berufen und nicht auf den Aussagegehalt ihrer Fundstücke. Denn eine historische Frage – so Collingwood – ist allein diejenige, die über den Horizont der Quellen hinausgeht und nach den Ideen, Gedanken und Erfahrungen fragt, die der Geschichte zugrunde liegen. Bei Collingwood zeigen sich allerdings auch die Auswirkungen der Fiktion gelingender Rekonstruktion, wie sie die klassische Detektiverzählung vorführt: Vor dem Hintergrund des golden age of crime neigt er dazu, sich das historische Geschehen als closed room mystery vorzustellen und damit geschichtswissenschaftliche Probleme als lösbare Rätselgeschichten zu verstehen. Die wichtigste Voraussetzung der Collingwood’schen Theorie historischen Verstehens ist dabei ein intentionales Handlungsmodell, welches über die Erforschung von Ursachen und Wirkungen zur Rationalisierung von Intentionen und Motivationen historischer Akteure neigt. Denn nur im heuristisch begrenzten Raum der Handlungsakteure kann die Logik von Frage und Antwort als ein selbstgewisses Spiel der sachbezogenen historischen Imaginationskraft eine überzeugende »Lösung« bzw. Interpretation entwerfen. Darüber hinaus unterschätzt er – ein Resultat der heuristischen Fiktion des Mordfalles, der immer nach einer eindeutigen Lösung verlangt – die Vorurteilsstrukturen und Wertbezogenheit, die mit jeder historischen Interpretation verbunden sind. Das kriminalistisch-hermeneutische Verständnis der Geschichte geht also ein Paradox ein: Einerseits nutzt es die heuristische Fiktion des Mordfalls dazu, eine Eindeutigkeit der Interpretation zu suggerieren. Andererseits betont gerade die hermeneutische Tradition – Chladenius ebenso wie Droysen und Bloch – das perspektivisch eingeschränkte Blickfeld der historischen Akteure, die Standortgebundenheit des Historikers und damit die nicht zu hintergehende Relationalität der Geschichte. Das zentrale Problem der kriminalistischen Metapher bleibt so die reduktionistische Idee eines Handlungsvollzuges, die vom identifizierbaren Täter eines Mordfalls auf Gruppen, Gesellschaften, Nationen oder geschichtsmächtige Ideen übertragen wird und damit die Eindeutigkeiten statt die oft genug ambivalente Perspektivität, Relationalität und Relativität hervorhebt. Mit Collingwood hat sich das ursprünglich reale Vorbild des Inquisitionsrichters oder Untersuchungsrichters hin zu einer Projektion verschoben, die im fiktionalen Detektiv das Vorbild für die Forschungspraxis der Historiographie sieht. Im Vergleich der Geschichtstheorien von Droysen und Collingwood wird klar, dass beide hermeneutische Theorien mit ihrer expliziten Gegenwartsorientierung und ihrer Neigung zu einer konstruktivistischen und relativistischen Konzeption der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis das Detektivmodell nutzen, um gleichzeitig einen empirischen Realismus zu integrieren. Beide erkennen, dass sich historische Interpretationen ausgehend vom vorhandenen Spurenmaterial entfalten, dass jedoch die rekonstruierten Geschichten keine direkte Bestätigung in den Quellen finden können. Dieser problematische Wirklichkeitsbezug der Historie – der im Pyrrhonismus die 475

Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker

Annahme beförderte, dass es sich bei der Historie um keine wissenschaftliche Erkenntnisform handele – fand seit der Anerkennung des Indizienbeweises als juristisch vollgültigem Beweis eine pragmatische Lösung: Es kam zu einer Angleichung der historischen und der juristischen Beweiswürdigung, welche die Anerkennung der Geschichtsschreibung als Wissenschaft verstärken konnte. Dass sich Collingwood paradoxerweise auf den Detektivroman als Fiktion gelingender Rekonstruktion beruft, zeigt noch einmal, dass die historische Interpretation stets unsicher bleibt. Doch überführt die geschichtswissenschaftliche Adaption rhetorischer Strategien, wie sie mit der Indienstnahme kriminalliterarischer Formelemente verbunden ist, keinesfalls die Geschichte in den Bereich der Fiktion. Denn dass sich historische Interpretationen auf Indizienbeweise stützen, meint in erster Linie, dass sie ihre Interpretationen auf der Basis guter und überzeugender Gründe entfalten. Der wesentliche Unterschied zwischen rechtlicher und historischer Wahrheitsfindung bleibt dann darin bestehen, dass die Historiker ihre »Gesetze« – also handlungsleitende Ideen der Geschichte, theoretische Zugriffe etc. – selbst erfinden können, bzw. im Rahmen der Gemeinschaft der Forschenden und der Öffentlichkeit intersubjektiv auszuhandeln und zu begründen haben. In der im Vordergrund der Arbeit stehenden hermeneutischen Theorietradition dient die kriminalistische Metaphorik dazu, die Historie empirisch an eine vergangene Wirklichkeit anzukoppeln. Das Problem einer vergangenen Wirklichkeit, die nicht mehr einzuholen ist, erklärt die kriminalistische Theorietradition zum Scheinproblem. Sie deutet vielmehr die Gegenwart als Tatort einer Vergangenheit, die spürbare Auswirkungen hinterlassen hat. Aus dem kriminalistischen Modell der Geschichtsschreibung resultiert so eine starke Gegenwartsorientierung bzw. ein »Präsentismus« (White) des Geschichtsverständnisses, der sich auch auf die historiographische Narration auswirkt: Die klassische Einteilung vom Anfang, Mitte und Ende einer Erzählung wurde durch das Schreiben der Geschichte als Detektivgeschichte umgestellt: Das Ende der Geschichte – der Mord, das Forschungsproblem, die Gegenwart – wird an den Anfang gestellt, um von dort durch kontinuierliche Befragung zu Antworten zu kommen. Gerade der Begriff der Spur deutet als eine Metapher der Zeitlichkeit die gleichzeitige An- und Abwesenheit der Vergangenheit und damit die offene Relation von Nähe und Distanz zwischen dem historischen Subjekt und dem Objekt seiner Erkenntnis an. Das mit der Figur des Untersuchungsrichters und Detektivs angesprochene Spurenlesen gleicht dabei einer heuristischen Temporalfiktion. Der Historiker versetzt sich an einen Zeitpunkt vor das zu erklärende Ereignis, um dann im Nachvollzug der Vergangenheit (reenactment) diverse Kalküle aufzustellen, um das Mögliche, das Unmögliche und Wahrscheinliche zu bestimmen. Innerhalb der Genealogie stehen die staatsbediensteten Ermittler den »Privaten« gegenüber. Die Metapher des Untersuchungsrichters ist der Wahrheitsfindung vor Gericht verpflichtet und präsentiert gerichtsverwertbare Narrative. Obwohl sich Collingwood schon auf die Kriminalromane von Agatha Christie bezog, wählte er in seiner Detektivgeschichte jedoch noch einen Angestellten von Scotland Yard als Ermittler. Erst von der Mikrohistorie lässt sich behaupten, dass ihre Ermittlungstätigkeit den »Privaten« folgt: Sie zeigt sich an historischen Subjekten abseits einer traditionellen Politik- und Ereig476

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nisgeschichte interessiert, sie stellt der Makroperspektive eine Mikroperspektive entgegen, und nicht zuletzt versucht sie, ihr Augenmerk herrschafts- und diskurskritisch verstärkt auf die Opfer und Entrechteten der Geschichte zu richten. Dabei zeigt sich eine solche kriminalistische Geschichtsschreibung fallorientiert, indem sie sich auf einen Tathergang und die erweiterten Motive und Umstände einer Handlung konzentriert. Neben intentionalen Erklärungsansätzen in der Geschichtstheorie, die eine offensichtliche Nähe zu kriminalistischen Geschichtskonzeptionen haben, können jedoch auch sozial-, struktur- oder mentalitätsgeschichtliche Ansätze, die Oral History und die Alltagsgeschichte, sowie historisch-materialistische Theorieentwürfe in Verbindung mit einer detektivischen Geschichtskonzeption gebracht werden, auch wenn dies nicht der zentrale Fokus der Arbeit war. So können die Detektive und Helden des hardboiled-Romans und des Roman Noir vor dem Hintergrund ethnographischer und soziologischer Erkenntnisinteressen gelesen werden. Sie stellen sich den sozialen Realitäten, sind teilnehmende Beobachter und registrieren präzise die gesellschaftlichen Veränderungen des Alltags und die verschiedenen Perspektiven auf diesen. Sie geben sich nicht mehr mit logischen Schlussfolgerungen auf der Basis zahlloser Indizien zufrieden, ebenso wie sie das Selbstgespräch und das Räsonnieren über gute Gründe aufgeben. Das whodunit spielt nicht mehr die zentrale Rolle, wenn auch die Überführung des Täters nicht gänzlich aufgegeben wird. Während die Aufklärung der Tat zunehmend eine untergeordnete Rolle spielt, zeigt sich durch den »vagabundieren Blick« (Agulhon) eine korrupte Gesellschaft, deren normative Regeln aus den Fugen geraten sind. Weniger das Individuum, sondern die Gesellschaft erscheint als verbrecherisch. Zeugen und Verdächtige werden nun direkt befragt, dem Gegner begegnet man mit dem schlagfertigen wisecrack. Dieses dialogische Prinzip des hardboiled-Romans findet seinen historiographischen Widerpart etwa in der Historik der Oral History: So spiegelt sich in einer frühen Reportage eines der Wegbereiter der Oral History in Deutschland, Lutz Niethammer, das Ego des Historikers im Vexierbild eines Protagonisten des Film Noir. Mit diesen neueren Formen der Kriminalliteratur gerät das intentionale Erklärungsmodell, welches dem klassischen Detektivroman zugrunde lag, in die Krise. Der Sozio-Krimi seit den 1970er Jahren geht dann einen anderen Weg, indem er sich nicht mehr auf die teilnehmende Beobachtung verlassen will, sondern ebenso wie die neuere Sozialgeschichte die längerfristigen gesellschaftlichen Bedingungen des Verbrechens strukturell und funktionalistisch zu erklären sucht. Ein solches soziologisches Interesse spiegelt sich auch in der Rezeption Georges Simenons bei dem Querdenker der DDRGeschichtswissenschaft Jürgen Kuczynski. Für seine Geschichte des Alltags der Deutschen beanspruchte er den detektivischen Blick à la Maigret und verstand sich ebenso wie der französische Kommissar paternalistisch als Anwalt der kleinen Leute. Eine funktionalistische Auflösung des Kriminalschemas findet sich schließlich in der marxistischen Rezeption. So erkennen etwa Bertolt Brecht und Ernst Bloch, dass in der Kriminalliteratur das bürgerliche Leben als Erwerbsleben aufgefasst wird und sich die Logik der Ermittlung an der Logik des Kapitals auszurichten habe.

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Die Anbindung der Historiographie an juristische Formen der Wahrheitsfindung bleibt problematisch. Die mit der Berufung auf den Indizienbeweis einhergehende Abwertung des Zeugen, dessen Aussagen nur als Beweismaterial für eine schlüssige Interpretation angesehen werden, ist schon Marc Bloch bewusst, wenn er das detektivische Modell stärker mit dem Begriff der Spur verbunden sieht und er sich emphatisch auf das Verstehen des Zeugen und des historischen Zeugnisses beruft. In die gleiche Richtung geht sowohl die Kritik Siegfried Kracauers an Collingwood, wenn er das historische Verstehen als eine Reise in die Vergangenheit beschreibt, oder aber, wenn HansGeorg Gadamer Droysens und Collingwoods kriminalistisches Verhör der Vergangenheit in eine Gesprächssituation überführt. Dass gerade der Holocaust die Aporien eines rein kriminalistischen Modells der Wahrheitsfindung deutlich machen, zeigt nicht zuletzt die eingangs thematisierte Hermeneutik Paul Ricœurs. Ein kriminalistisches Geschichtsverständnis ist primär täterorientiert, auch wenn es nicht allein um die einfache Überführung von Tätern geht. Vielmehr erfolgt die kriminalistische Aufklärung verstärkt vor dem Hintergrund der Tetrade Täter, Opfer, Ermittler und die Gesellschaft, in der die Tat als auch ihre Aufklärung stattfindet. Damit kann sie in einer umfassenden Prüfung und Examinierung des Tatbestandes nicht nur die Frage nach dem Wer und Weshalb, sondern auch nach dem Wie des historischen Geschehens erfassen. Mit der durch Indizienbeweis und freie Beweiswürdigung verbundenen Abwertung des »Geständnisses« und historischer Zeugenschaft, die weniger auf die Perspektivenvielfalt subjektiver Wahrnehmungen zielt, sondern die Aussagen der Vergangenheit im Zuge einer Frage objektiviert und rationalisiert, zeigt sich ein weiteres Problem eines kriminalistischen Zugriffs auf die Vergangenheit. Deutlich wird dies insbesondere angesichts der Geschichte des Holocaust, bei der ein kriminalistischer Zugriff auf die Zeugnisse, Erzählungen, die Zeugnisliteratur, Memoiren und Tagebücher der Überlebenden trifft, deren Erfahrungen und deren Geschichten kaum mit kriminalistischen, weil immer auch kriminalisierenden Methoden zu rekonstruieren sind. Denn hier benötigt die Geschichtswissenschaft eine grundsätzlich andere hermeneutische Einstellung gegenüber den Subjekten ihres Erkenntnisinteresses, ohne dass dabei kritische Prinzipien der historischen Forschung über Bord geworfen werden müssen. Andererseits hat ein kriminalistischer Zugriff auf die Vergangenheit gerade angesichts der »neueren Täterforschung« Konjunktur, so dass Forschungsgegenstand, Forschungsmethode und Forschungseinstellung im Einklang zu stehen scheinen. Mit der exemplarischen Interpretation von zwei Werken der »neueren Täterforschung« – Christopher R. Brownings Ganz normale Männer und Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker – wurde auf die Affinitäten zu kriminalistischen und gerichtsförmigen Narrativen in der neueren Historiographie über den Holocaust hingewiesen. In ihren Schlusskapiteln zeigen sich beide Autoren dem Finale der klassischen Detektivgeschichte verpflichtet. Doch darüber hinaus begründen beide eine neue Erzählbarkeit der Gewalt und eine spezifische Moralität, indem sie der Kriminalliteratur bekannte ästhetische Kompositionsstrategien adaptieren. So konfrontiert Christopher R. Browning seine Leser mit den Zeugenaussagen der Täter der Vernichtung, die sowohl intentionalistische als auch funktionalistische Erklärungsansätze zuvor nicht in den Blick bekamen. Seine morali478

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sche Wirkungskraft entfaltet er nicht zuletzt dadurch, dass er formale Erzählstrategien des Thrillers adaptiert. Mit seiner minutiösen kriminalistischen Rekonstruktion versucht er, nicht nur die Handlungsspielräume der Täter auszuloten, sondern er führt den Lesern mit einer neuen Anschaulichkeit vor Augen, was an den Tatorten der Vernichtung passierte. Bei Daniel Goldhagen kommt es verstärkt zu kontrastierenden Gegenüberstellungen, die in der Rezeption als eine »Ästhetik des Grauens« wahrgenommen wurden. Mit der Gegenüberstellung von Leben und Sterben, Lieben und Leiden adaptiert er letztlich triviale Erzählstrategien, die bei ihrer Transformation in die wissenschaftliche Holocaustforschung zur kritischen Resonanz herausforderten. Aber auch sie entfalten eine eigene moralische Kraft, die durch den Eingriff des Autors in seinen Text als moralische Instanz noch verstärkt wird. Die visuelle Nähe, mit denen beide Autoren die grauenvollen Mordtaten der Deutschen beschreiben, müssen vor dem Hintergrund einer veränderten Kultur der Darstellbarkeit von Gewalt begriffen werden. Welche Geschichtsbilder resultieren nun aber daraus, wenn die Geschichte in den Kriminalroman zurückkehrt, aus dem Historiker wiederholt Anregungen für ihre eigene Methode und ihre Darstellungskonzeptionen gewonnen haben? Faschismus und Nationalsozialismus werden schon in den 1930er Jahren zum Thema des Politthrillers, der dann durch den retrospektiven historischen Ermittlungsroman eine Erweiterung erfährt, bis schließlich – mit zunehmendem zeitlichen Abstand – die Geschichte des Nationalsozialismus selbst als (bisweilen kontrafaktischer) historischer Kriminalroman dargeboten wird. Dabei korrespondiert der Zeitgeschichtsthriller mit dem historischen Kriminalroman, da beide im Wesentlichen auf einem linearen Erzählprinzip beruhen, dessen Spannung weniger aus der Klärung eines in der Vergangenheit liegenden Rätsels resultiert, sondern aus der Frage, wie der Held den Gefahren einer verbrecherischen Politik begegnet. Mit Eric Ambler und anderen Autoren des antiheroischen Spionageromans entwickelt sich die Figur eines sich emanzipierenden Helden, der sich mit der Bedrohung durch den europäischen Faschismus auseinander zu setzen hat. Autoren wie Fredrick Forsyth, Christian v. Ditfurth oder Elisabeth Hermann greifen auf diesen Figurentyp zurück, der weder Privatdetektiv noch Polizist ist, sondern engagierter Citoyen – bis schließlich der Historiker selbst ermittelt. Im Anschluss an die amerikanische hardboiled-school entfaltet sich bei Léo Malet – der noch zur Besatzungszeit schreibt – ein ironischer, distanzierter und surrealistischer Blick, um den deutschen Besatzern zu begegnen. Im Roman Noir gerät die Aufklärung des die Detektion auslösenden Verbrechens zur Nebensache, während gleichzeitig durch den »ethnographischen« Blick die soziale sowie verbrecherische Wirklichkeit des Nationalsozialismus deutlich werden kann. Diese typische Erzählweise wird um 1990 von Autoren wie Philip Kerr, J. Robert Janes oder Carlo Lucarelli aufgegriffen. Einerseits ermöglicht dies, die Erfahrung des Faschismus als Bedrohung noch einmal nachzuvollziehen, andererseits erliegen sie einer populären Faszination des Grauens, die vom Faschismus nach wie vor ausgeht. Die Erfahrungen von Faschismus und Nationalsozialismus finden in – freilich vereinzelten – poetologischen Reflexionen über die Kriminalliteratur von 479

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Bertolt Brecht, Boileau & Narcejac sowie Friedrich Dürrenmatt ihren Ausdruck. So favorisieren Boileau & Narcejac die Form des Psychothrillers, der aus der Innenperspektive des Helden die Furcht vor der Aufdeckung seiner falschen Widerstandsbiographie thematisieren kann. Im französischen Roman Noir und seit den 1970er Jahren im neo-polar, aber auch im deutschen Sozio-Krimi der 1970er Jahre im Anschluss an das Autorenduo Sjöwall & Wahlöö verstärkt sich die gesellschaftskritische Zielrichtung des detektivischen Blicks, freilich in ganz unterschiedlichem Format, was seine politische Radikalität als auch seine stilistische Prägnanz betrifft. Beispielhaft für den politisch engagierten retrospektiven historischen Ermittlungsroman ist Meurtres pour mémoire (1984) von Didier Deaninckx, in dem ein authentischer Fall – hier die Kollaborationstätigkeit von Maurice Papon – literarisch aufgearbeitet wird. Spätestens seit den 1980er Jahren wird der Kriminalroman zu einer in der westlichen Populärkultur verbreiteten Form der Geschichtsdarstellung. Aus der transnationalen Perspektive lässt sich hier eine in den 1970er Jahren europaweit festzustellende Identitätssuche und ein neues Geschichtsbedürfnis insbesondere derjenigen Generationen feststellen, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr direkt erlebt haben. Ebenso ist diese Entwicklung auf eine Politisierung nach 1968 zurückzuführen und nicht zuletzt auf eine neue Wahrnehmung der nationalsozialistischen Massenverbrechen, die sich am nachdrücklichsten mit der Ausstrahlung des Fernsehfilms Holocaust (1979) festmachen lässt. In Großbritannien kommt es in der Mitte der sechziger Jahre im Zuge des Verlusts des Empires zu einer Konjunktur der Thematisierung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, nicht um zuletzt eine Neuorientierung britischen Selbstverständnisses vorzunehmen. Gerade die britische und amerikanische Kriminalliteratur trägt dazu bei, im Nationalsozialismus einen für die individuelle Freiheit bedrohlichen »Polizeistaat« zu erkennen, der durch die Aufsplitterung der Machtkompetenzen und die Ränkespiele prominenter Protagonisten des NS-Staats und die Entrechtung seiner Gegner sein Bedrohungspotential entfaltet. Das Konstruktionsprinzip des Best- und Longsellers – deutlich zu erkennen in Fredrick Forsyths The Odessa File (1972) oder aber in Robert Harris’ Fatherland (1992) – beruht vor allem darauf, dem Leser verschiedenste Deutungsangebote zu machen, die mit den unterschiedlichen nationalen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs in Einklang gebracht werden können. Gleichzeitig kommt es im internationalen Bestseller zu einer Reduktion nationaler Stereotype und zu einer Auflösung von schwarz-weiß Schemata bei der Charakterisierung der Protagonisten. Verbunden ist damit eine zunehmend universalistische Bedeutung, die dem Holocaust als dem Zivilisationsbruch der Moderne in der Populärkultur zugewiesen wird, womit jedoch seine Spezifik mitunter aus dem Blick gerät. Im Anschluss an Bertolt Brechts Arturo Ui, der den Aufstieg Hitlers als »gangsterhistorie« auf die Bühne gebracht hatte, war es für die Theoretiker des Krimigenres in der DDR klar, dass die Kriminalerzählung um das »Gesellschaftliche« und darüber hinaus um einen »Pitaval des Faschismus« bzw. um »Kriegsverbrechen« erweitert werden müsse. Unter staatlicher Aufsicht wurde über den retrospektiven historischen Volkspolizisten- und MfS-Agen480

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tenroman der antifaschistische Gründungsmythos der DDR verbreitet: man klärt die Verbrechen der Anderen auf und lenkt damit von den Verstrickungen der eigenen Gesellschaft ab. Nach dem offiziellen, materialistisch ausgerichteten Faschismusverständnis und im Rahmen der Kampagnenpolitik der DDR gegen Faschisten in der Bundesrepublik wurden literarisch blasse Figuren als Täter und Hintermänner in der »BRD« enttarnt. In der DDR erschienen keine fiktionalen Kriminalromane, die den Aufklärungsprozess in die nationalsozialistische Vergangenheit verlegten, womit man sich einer populären Mystifizierung der NS-Vergangenheit zu entziehen versuchte. Frühzeitig war man hingegen bestrebt, den Nationalsozialismus zu historisieren. Und aus dem Bild vollständiger Aufklärung resultierte im Anschluss an Hayden White eine letztlich romantische Geschichtskonzeption, die im Gegensatz zu tragischen und ironischen Geschichtskonzeptionen der Bundesrepublik stand. Während die DDR-Kriminalliteratur frühzeitig eine serielle »Geschichtsaufklärung« betrieb, prägt die Kriminalliteratur und den Kriminalfilm in der Bundesrepublik zunächst das Motiv des Serienmörders. Hier zeigt sich der NS-Täter in den 1950er Jahren zunächst als »fordistischer« Serienmörder, um dann schnell als Psychopath oder sexuell Perverser zu erscheinen, der das »anormale« Böse verkörpert. Dieses diabolisierende Deutungsmuster projiziert die nationalsozialistischen Verbrechen zunächst auf einzelne SS-Täter, während es gleichzeitig an atavistische und biologistische Deutungsmuster von Kriminalität anschließt, die diskursgeschichtlich eng mit dem Faschismus verbunden sind. Die Figur des Serienkillers wird zu einem Fetisch, mit dem Gewalt singularisiert und ihre allgemeine Existenz durch Institutionen oder Gemeinschaften verschwiegen wird. Das mit dem Serienmördermotiv verbundene Exklusionsprinzip der Täter und die Exterritorialisierung der Tatorte ist auch dann noch wirkmächtig, wenn Romane von Kohout und Bosetzky in den 1990er Jahren diesem Interpretationsmuster sozial- und populärpsychologische Erklärungsmotive hinzufügen und nun nicht mehr nur den Einzeltäter herausstellen, sondern insgesamt eine gesellschaftliche Pathologie entwerfen. Der dokumentarische Anspruch der Romane von Berthold (auf der Basis einer Erfindung der Reichskriminalpolizei) und Bosetzky (auf der Basis eines nationalsozialistischen Propagandaromans) treibt ein ambivalentes Spiel mit dem vermeintlich Authentischen. Trotz ihrer höchst problematischen Implikationen macht die Serienmörderfiktion jedoch gesellschaftliche Gewalterfahrungen erzählbar. Die Attraktivität des psychohistorischen Narrativs in der Literatur beruht nicht zuletzt darauf, dass es von der historiographischen Forschung weithin gemieden wird. Hier zeigt sich ein erweiterter Deutungsanspruch der Literatur, der über behavioristisch-anthropologische, institutionell-situative, intentionale oder aber sozialpsychologische Erklärungsansätze hinausgeht und die individuelle Täterdisposition durch Versatzstücke der Psychohistorie ergänzt. Das anscheinende Verschwinden des Serienmördermotivs in der Populärkultur in der Mitte der 1960er Jahre und sein Wiederauftauchen zu Beginn der 1990er Jahre zeigt – bei aller gebotenen Vorsicht – Parallelen zu Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft und zum öffentlichen Diskurs über nationalsozialistische Verbrecher. Mit der Dominanz des strukturalistischen Erklärungsansatzes und der Ausrichtung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die »Banalität des Bösen« und die »Bürokraten der Vernichtung« gerieten 481

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andere Tätergruppen in den Blick. Parallel zur »neueren Täterforschung« in der Geschichtswissenschaft zu Beginn der 1990er Jahre wurde in der Populärkultur auch das ältere Motiv des Serienmörders wiederentdeckt. Die indirekte Thematisierung der nationalsozialistischen Gewalt im psychopathologisierenden Erzählmuster wird in der Bundesrepublik durch den retrospektiven historischen Ermittlungsromanen seit den 1980er Jahren abgelöst. Trotz der in den poetologischen Reflexionen von Friedrich Dürrenmatt und Jörg Fauser angeklungenen Zweifel, ob nicht das rationale, detektivische Erklärungsmodell angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus scheitern müsse, kommt es zu einer Entdeckung des Kriminalschemas für die Auseinandersetzung mit der Geschichte in der westdeutschen Populärkultur. Thematisiert wird nun die Inklusion der Täter, der Profiteure und Mitläufer in der westdeutschen Gesellschaft, wobei Kontinuitäten und Verstrickungen der Nachkriegsgesellschaft aufgedeckt werden. Räsoniert wird über die Last der Geschichte und eine deutsche Identität »nach Auschwitz«, während eine verwickelte Tätergesellschaft weitgehend unsichtbar bleibt. Sichtbar wird ein Bedürfnis, auch diejenigen zu verstehen, die sich schuldig gemacht haben. So neigt die bundesdeutsche Kriminalliteratur dazu, tragische Ermittlerfiguren und tragische Täterfiguren zu zeichnen, die mit dem NS-System in »schuldloser Schuld« verstrickt sind. Die Kriminalliteratur greift jedoch als »reintegrativer Interdiskurs« (Jürgen Link) auch die Arbeit der Historiker auf und popularisiert zumindest partiell die Erkenntnisse der historiographischen Forschung sowie zentraler Debatten über die NS-Vergangenheit, von der Thematisierung der NS-Unrechtsjustiz bis zur Wiedergutmachung von Zwangsarbeit. Zu einer weiteren Überschneidung zwischen kriminalistischen Fiktionen und akademischer Geschichtsschreibung kommt es seit Mitte der 1990er Jahre. Sowohl im Kriminalroman als auch in der Geschichtsschreibung werden verstärkt utilitaristische Motive als Erklärungsansatz für den Holocaust betont: Entrechtung, Vertreibung und Mord an den Juden wird neben einem gesellschaftlich verankerten Antisemitismus auf eine »anthropologisch« verankerte Profitgier des Menschen zurückgeführt. Dabei bleibt die Konkretion der nationalsozialistischen Verbrechen insgesamt gering. Der retrospektive Ermittlungsroman kündigt das Verschweigen auf und eröffnet ein beredtes Schweigen. In überspitzter Weise zeigt er die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart, auf die privaten Erinnerungen und das kommunikative Gedächtnis. Das Motiv der Rache für Verbrechen während der NS-Zeit, und die Gefahr, dass eine falsche Nachkriegsidentität auffliegt und nur durch einen Mord gerettet werden kann, sind die beiden grundlegenden Plotstrukturen des NS-Krimis. Das aktuelle Verbrechen ist der Auslöser für Ermittlungen, die im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis die Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft aufzeigen und damit eine kritische Revision von Geschichtsbildern vornehmen können. Die sinnhafte Bedeutung des retrospektiven historischen Ermittlungsromans begründet sich in der geleisteten historischen Aufklärungsarbeit der Ermittler und der Wiederherstellung von individueller und historischer Gerechtigkeit, und weniger durch den konkreten, sachbezogenen individuellen Fall. Der Ermittler steht entweder auf einem emanzipatorischen Stand482

Zusammenfassung

punkt, oder aber er ist selbst in eine verbrecherische Welt verstrickt, wenn er sich nicht sogar mitschuldig gemacht hat. Das Konstruktionsmuster, Aufklärer und Mittäter in einer Person zu sein, gehört ebenso wie das Opfer, welches zum Täter wird, zu den sich wiederholenden Dramatisierungen der NSKrimis. Der Detektiv als Historiker zielt darauf, für historische Gerechtigkeit zu sorgen, da andere gesellschaftliche Instanzen bei dieser Aufgabe scheitern. Zunehmend engagiert sich der Ermittler jedoch für die Opfer und Verlierer der Geschichte, und er sorgt sich um einen Ausgleich zwischen Opfern, Tätern und (lesenden) Zuschauern. Dabei ist die fiktive Ermittlung stets mit einem graduell divergierenden Anspruch auf Authentizität verbunden und bleibt in jeweils spezifische zeitgenössische Diskurse eingebettet. Durch den Vorführeffekt gesellschaftlicher Aufklärungstätigkeit geraten jedoch die einstigen Verbrechen, ihre Motive und ihre Umstände teilweise aus dem Blick, da sich die Geschichtsdetektive mehr der »Vergangenheitsbewältigung« bzw. der »Geschichtsvergessenheit« als der Tat widmen. So bleibt die Kriminalliteratur weitgehend unfähig, Interpretationsangebote wie die »Banalität des Bösen« umzusetzen, nicht zuletzt weil sie Schwierigkeiten hat, die Schreibtischtäter oder Bürokraten der Vernichtung in den Blick zu bekommen. Ebenso finden sich in den Romanen auch keine überzeugten Nationalsozialisten oder ideologische Fanatiker, also keine Protagonisten einer »Generation des Unbedingten«. Die Stärke der Kriminalliteratur liegt in der Individualisierung und Emotionalisierung der Geschichte und der Betonung persönlicher Schicksale. Damit geht sie freilich die Gefahr ein, über die Schlichtheit der Fabelkonstruktion eine Verkitschung der Vergangenheit und der ermittelnden Aufklärungstätigkeit zu betreiben, die meist in der überpointierten Kontrastierung von Liebe und Tod, Freiheitswillen und Verfolgungsschicksalen liegt. Die Gewaltexzesse insbesondere in neueren Serienmörderfiktionen, aber auch in den hardboiled-Romanen, sind der bemühte und ebenso oft voyeuristische Versuch, die Massen- und Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus metonymisch zu erfassen. Mit der Ausbildung des retrospektiven historischen Ermittlungsromans ist jedoch eine Kehrtwende in der Populärkultur verbunden, aus der eine offensichtliche Demythisierung der NS-Vergangenheit resultiert und die populäre Faszination des Faschismus und die Faszination des Grauens zunehmend in den Hintergrund tritt. Detektive übernehmen die Rolle des Historikers und teilen mit ihnen die Forschungsobjekte. Die Vorstellungen, welche die Detektive des NS-Krimis von Methodologie und Historik an den Tag legen, sind von bestechender Klarheit und basieren im Wesentlichen auf einem traditionellen, das heißt kriminalistischen Verständnis der historisch-kritischen Methode: Rekonstruktion von kriminellen Handlungsvollzügen, Überführung der Täter, Motive, die ihren Grund in der Vergangenheit haben, Wirkungen, die auf Ursachen zurückgeführt werden. Bei allen Infragestellungen und Erweiterungen des klassischen Kriminalschemas bleibt im Geschichtskrimi überall die Erkennbarkeit des Faktischen die Grundbedingung der detektivisch-fiktionalen Aufklärung. Nicht selten wird dabei die positivistischkriminalistische Aufklärungsarbeit gegen die Interpretierbarkeit der Geschichte ausgespielt. So entfalten die historischen Kriminalromane als Aufklärungsfiktionen eine mythisierende Kraft, während die Kriminalliteratur als

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Fiktion gelingender Rekonstruktion immer wieder Anlass bot, von Historikern rezipiert zu werden. Die populären Darstellungen des Nationalsozialismus deuten insgesamt eine Sichtweise auf die Vergangenheit an, nach der es zu einer Vorstellung vom Nationalsozialismus als Kriminalroman kommt. Geschichte erscheint als Krimi und wird nach den Bauformen des Krimis dargestellt. So versprechen die detektivischen Methoden Aufklärung und nachträgliche Gerechtigkeit. Die historisch-kriminalistische Fiktion überführt Geschichte jenseits aller Differenzierungen konsequent in eine Pathologie des Verbrechens. Sie deutet vergangenes Geschehen als Verbrechensgeschichte und bildet damit ein wichtiges historisches Sinnbildungsmuster aus. Das Krimigenre reflektiert über die Schrecken der rassistischen Vernichtungspolitik, über Schuld und Sühne, über Möglichkeiten von Widerstand und den Tatbestand der Kollaboration, über Recht und Gerechtigkeit, über Verschweigen, Sprachlosigkeit und mangelnde Befragung, es forscht nach der Motivation der Täter und fragt nach individueller Verantwortung. Die Kriminalliteratur zielt auf die Ab- und Ausgrenzung, aber auch auf das Verständnis und die Erklärung des Anderen, des Devianten und Bösen. Sie entfaltet Verbrecherbilder und Aufklärungswelten, und indem sie dies tut, reproduziert und konstruiert sie nicht nur in den Erinnerungskulturen vorhandene Geschichtsbilder, sondern auch gesellschaftliche Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen. Historiker schließlich greifen auf das Kollektivsymbol des Detektivs zurück, um sich über Fragen der Historik und ihre forschende Praxis zu vergewissern, ebenso wie sie detektivische Darstellungsformen adaptieren, um ihren Narrationen eine überzeugende Anschaulichkeit zu verleihen. So entfaltet die Kriminalliteratur narrative Logiken und Sinnschemata sowie einen assoziativen Bildraum für bestimmte Blick- und Beweiskonstruktionen, die Historiker auch weiterhin versuchen können, kritisch in ihre geschichtstheoretischen Reflexionen, Interpretationen und Narrationen mit einzubeziehen.

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Q UELLEN Für das Kapitel »Serielle Aufklärung in der DDR« wurden Bestände des Bundesarchivs Berlin hinzugezogen. BArch DR 1 Ministerium für Kultur (MfK) Hauptverwaltung Verlage und Buchhandlungen Verwiesen sei auch auf die Sammlung Kuczynski in der Berliner Stadtbibliothek, in der seine umfangreiche Krimisammlung bewundert werden kann.

R OMANE Aufgenommen werden hier so weit wie möglich die Originalausgaben, bei der Zitation anderer Ausgaben wurde dies im Text vermerkt. Die Literaturliste umfasst auch Kriminalromane mit »NS-Thematik«, auf die nicht gesondert eingegangen wurde. Abécassis, Eliette, L’Or et la Cendre, Paris: Éd. Ramsey 1997. Albrecht, Johannes, Gift im Glas. Kriminalroman, 3. Aufl., Halle: Mitteldeutscher Verlag 1982. Alexis, Willibald, Der falsche Woldemar. Vaterländischer Roman, Leipzig: Hesse & Becker 1890. — , Isegrimm. Vaterländischer Roman, 4 Bde., 2. Aufl., Berlin: Jancke 1871. Allbeury, Ted, All Our Tomorrows, London: Granada 1982. — , Children of Tender Years, Sevenoaks: New English Library 1985. — , The Reaper, London: Granada 1980. Alt, Axel [d. i. Wilhelm Ihde], Der Tod fuhr im Zug. Den Akten der Kriminalpolizei nacherzählt (=Neuzeitliche Kriminalromane), Berlin-Grunewald: Hermann Hillger 1944. Ambler, Eric, Cause for Alarm, London: Hodder & Stoughton 1938. — , The Dark Frontier, London: Hodder & Stoughton 1936. — , Epitaph for a Spy, London: Hodder & Stoughton 1938. — , The Intrusions of Dr. Czissar, London: Hodder & Stoughton 1940. — , Journey into Fear, London: Hodder & Stoughton 1940. — , The Mask of Dimitrios, London: Hodder & Stoughton 1939. — , Uncommon Danger, London: Hodder & Stoughton 1937. Apitz, Bruno, Nackt unter Wölfen, Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1958. Ball, Herwarth, Die Drachmensammlung (=Das neue Abenteuer; Bd. 192), Berlin: Neues Leben Berlin 1961. Bartsch, Rudolf, Der Mann, der über den Hügel steigt. Kriminalroman, Berlin: Das Neue Berlin 1972. Beetz, Dietmar, Mord am Hirschlachufer. Kriminalroman, Rudolfstadt: Greifenverlag 1982. Bengsch, Gerhard, Institut Bodelsang unter Mordverdacht, Berlin: Tribüne 1955. Berger, Karl Heinz, Die Mörder werden alt. Kriminalroman, Berlin: Union-Verlag 1969. — , Wein für ehrenwerte Männer, Berlin: Neues Leben 1972. 486

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Histoire Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz (Hg.) Väter, Soldaten, Liebhaber Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader 2007, 432 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-664-9

Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus 2008, 352 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-955-8

Massimo Perinelli Fluchtlinien des Neorealismus Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943-1949 August 2009, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1088-8

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Histoire Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst Nationale und internationale Perspektiven

Thomas Müller Imaginierter Westen Das Konzept des »deutschen Westraums« im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus April 2009, 434 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1112-0

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Rheinische Archivberatung – Fortbildungszentrum Brauweiler/Landschaftsverband Rheinland (Hg.) Eine Gesellschaft von Migranten Kleinräumige Wanderung und Integration von Textilarbeitern im belgisch-niederländischdeutschen Grenzraum zu Beginn des 19. Jahrhunderts 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1059-8

Stefanie Michels Schwarze deutsche Kolonialsoldaten Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika Mai 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1054-3

Nina Möllers Kreolische Identität Eine amerikanische ›Rassengeschichte‹ zwischen Schwarz und Weiß. Die Free People of Color in New Orleans 2008, 378 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1036-9

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