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German Pages 105 [106] Year 2010
Die Wahrheit der Historiker
HISTORISCHE ZEITSCHRIFT Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 53
R. Oldenbourg Verlag München 2010
Werner Paravicini
Die Wahrheit der Historiker
R. Oldenbourg Verlag München 2010
Anke nach mehr als vierzig Jahren
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
1.
Einleitung: Erfundene Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
2.
Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
2.1 Wahrheit oder Deutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2.2 Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
2.3 Quelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
2.4 Quantenmechanik und Memorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
Wege heraus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
3.1 Tatsache und Richtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
3.2 Quelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
3.3 Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
3.4 Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
Ewige Jugend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
4.1 Eine unendliche Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
4.2 Doch eine Lehrmeisterin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
4.3 Von der Quelle zum Problem und vice versa . . . . . . . . . . . . .
55
4.4 Unterwegs ohne anzukommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Beschluß: Hoffnung auf Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
3.
4.
5.
Vorbemerkung Diese Schrift ist nicht das Ergebnis langjähriger Forschung, sondern langjährigen Interesses. Sie nährt sich aus mancherlei Lektüre und verschmäht auch ephemere Beiträge nicht, wie sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder in Le Monde erschienen sind. Dabei geht es um Grundfragen, die aber nicht im Modus des „Ich aber sage euch“ behandelt werden, sondern eher in der Form eines etwas unwilligen Essays – der sich bewußt ist Gefahr zu laufen, auf ebenso unwilligen Widerspruch zu stoßen. Die Grundpositionen sind bereits in einer Ansprache zur Einweihung des neuen Gebäudes des Deutschen Historischen Instituts Paris vom 19. Mai 1993 angedeutet (Paravicini 1994) und ausführlicher in einem Lübecker Vortrag am 30. August 1998 dargelegt (Paravicini 1998), dort schärfer als nach einiger Überlegung hier. Weitere Fassungen wurden im Jahre 2009 am 11. Juni in Leipzig und am 10. September in Memel/Klaipeda vorgetragen. Dank schulde ich allen, die mit mir diskutiert haben. Otto Gerhard Oexle (Göttingen, jetzt Berlin) versorgte mich mit Sonderdrucken und bleibt mir verbunden, obwohl wir nicht einer Meinung sind. Bernhard Jussen (Göttingen, jetzt Frankfurt am Main) tat desgleichen und nahm wenigstens ernst, was ich gegen die „künstlerische Produktion von Geschichte“ einzuwenden hatte. Egon Flaig (Rostock) gab bereitwillig Auskunft, Ute Daniel (Braunschweig), Jochen Hoock (Paris), Hans Ottomeyer (Berlin), Peter Schöttler (Paris/Berlin) übersandten noch unveröffentlichte Texte. In Kiel wies Harm von Seggern mich auf unbekannte Literatur hin, und es halfen, wie stets, Jan Hirschbiegel und Jörg Wettlaufer. Daß der Herausgeber der Historischen Zeitschrift diesen Text in die Reihe der Beihefte aufnahm, heißt zwar nicht, daß er alle darin vertretenen Auffassungen gutheißt, läßt aber erkennen, daß die Zeit gekommen ist, eine Stimme zu vernehmen, die bis vor kurzem kaum eine Chance hatte, gehört zu werden. Ist dies lediglich Ausweis der geduldigen Pluralität unserer geistigen Landschaft oder Zeichen für einen Stimmungsumschwung? Das zu beurteilen bleibe dem Leser vorbehalten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die verhärteten Fronten vorgeblicher Selbstverständlichkeiten wieder in Bewegung gerieten. Kronshagen, am Valentinstag 2010
Werner Paravicini
1. Einleitung: Erfundene Vergangenheit Im Jahre 1995 veröffentlichte Binjamin Wilkomirski ein Buch mit dem Titel „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948“. Das Werk erregte Aufsehen aus zweierlei Grund. Einmal schilderte es die Kindheitserlebnisse des Autors in den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz, was niemanden unberührt lassen kann, zumal einen Deutschen nicht. Zum anderen aber stellte sich nach drei Jahren heraus, daß der autobiographische Bericht eine Fiktion war: Binjamin Wilkomirski alias Bruno Grosjean bzw. adoptierter Dösekker war nie im Konzentrationslager gewesen, sondern hatte die fraglichen frühen Jahre in der Schweiz verbracht. Die Empörung war groß, es hagelte Vorwürfe, der Autor ist seither aus der Öffentlichkeit verschwunden.1 Hätte er seinen Bericht als Roman deklariert, wäre er allen Vorwürfen entgangen, vielleicht wären ihm sogar noch höhere Preise zugesprochen worden als er ohnehin erhalten hat, solche wie sie z. B. Jonathan Littell für seine „Bienveillantes“2 zuerkannt worden sind. So aber verletzte er nicht ungestraft den stillschweigenden Pakt3 zwischen Leser und Autor, der vom Historiker und auch vom Memorialisten vor allem eines verlangt: Wahrheit. Um was es sich dabei genauer handelt, das ist der Gegenstand der gegenwärtigen Überlegungen. Der ersten Frage gesellt sich eine zweite hinzu. Sie lautet: Wenn der Historiker die Wahrheit schildert, wie kann dann, ja muß „die Geschichte“ im1 Janser/Kilchmann 2000; Das Wilkomirski-Syndrom 2002; Ganzfried 2002; Mächler 2000 und 2002; Weinberg 2003; Oels 2004; Neukom 2005; Bauer 2006. – Unlängst erfolgte ein Gerichtsurteil zu Olaf Kraemers als Roman ausgegebenem Buch über Romy Schneider: Da der Leser stellenweise „nicht zwischen Wahrheit und Erdichtetem unterscheiden“ könne, wurde dem Witwer das Recht auf Streichungen eingeräumt (FAZ vom 14. 2. 2009). Von dort ist es nur ein Schritt zur romanesken Wirklichkeitsinszenierung mit Hilfe des Plagiats aus dem Internet („Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess“), mit dessen Hilfe eine 17jährige, hochgejubelte Autorin eine Welt zimmerte, die sie selbst nie erlebt hat, wobei sie meint: „nur über die Lüge kommen wir der Wahrheit nahe“, s. von Lovenberg, „Originalität gibt es nicht – nur Echtheit“, FAZ vom 8. 2. 2010; Kaube, „Germany’s Next Autoren-Topmodel“, FAZ vom 10. 2. 2010, beide zu Hegemann, Axolotl Roadkill 2009; weiteres zur Echtheit der (anonymen) Bloggerszene in der FAZ vom 12. 2. 2010 und unter www.faz.net/airen. 2 Zu diesem im Jahr 2006 veröffentlichten Werk aus der Sicht des (Mittelalter-)Historikers Oexle 2009. 3 Zu diesem allgemein Epple 2007, 176–183: Die historiographische Erzählung kann falsch sein (und ist deshalb immer „überholbar“: Koselleck 1999, 149), die literarische nur schlecht (Epple 179). Epple konstatiert zudem S. 199, daß es zu allen Zeiten eine Trennlinie zwischen Fakt und Fiktion gegeben habe, diese Trennlinie aber historisch variabel war. Vom „Pakt“ geht in seinen Überlegungen auch aus Ricœur 2000 und 2003. Hölscher 2003, 31f., und ders. 2007/2009, 74, unterscheidet zwischen „Fiktionalität“ (d. h. „die sprachliche bzw. bildliche Konstruktion aller Ereignisse und ihre mnemotechnische Vermittlung“) und der „Fiktivität“ (aller nicht-realen Ereignisse, Gegenteil: Faktizität). So auch Evans 2003. Grundlegend: Lejeune 1975.
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2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma
mer wieder umgeschrieben werden, womöglich alle zwanzig Jahre, wie jüngst gesagt wurde4, was weniger ist als die Dauer einer Generation? Es gibt doch nur eine Wahrheit? Oder gibt es mehrere? Weshalb hört die Geschichtsforschung eigentlich niemals auf, nimmt sich derselben Gegenstände und anderer, neuer, immer wieder an? Was ruft die ewige Jugend der Clio, der Muse der Geschichtsschreibung hervor?5 Ist etwa die Arbeit all der fleißigen Historiker, die im 18. und 19. Jahrhundert die Scriptores rerum italicarum, die Monumenta Germaniae Historica oder die britische Rolls Series geschaffen haben, umsonst gewesen? Muß nicht jeder wieder von vorne anfangen? Weshalb täuschen die stattlichen Reihen umfangreicher Darstellungen und Quelleneditionen den Studienanfänger, der vor dieser massiven Präsenz schier verzweifeln will6 und meint, ihm bliebe nichts mehr zu tun? Diese Entmutigung dauert nur so lange, bis er entdeckt – ja, was er da entdeckt, ist das zweite Thema dieser Mitteilungen, und schon jetzt läßt sich vermuten, daß es sich bei Wahrheit und ewiger Jugend um die beiden Seiten derselben Medaille handeln muß.
2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma Bevor wir uns den Antworten nähern, müssen wir das Vorfeld säubern und den Zugang eröffnen. Denn er ist durch allerhand schnelle Meinungen und Behauptungen verstellt, von Traditionen beherrscht, von Denkmoden verwüstet. Es herrscht die Tendenz, „das Kind, dessen Lebenschancen man nicht hoch einschätzt, denn auch gleich mit dem Bade auszuschütten“.7 Unaufgeregt hat Peter Burke zur Entspannung geraten: „Daß die Historiker nicht die ganze Wahrheit erzählen können, ist das eine – das andere ist, ihr Ideal, nämlich nichts als die Wahrheit zu berichten, zu verwerfen. Die Realität in Klammern zu setzen oder aber sie gänzlich zu negieren, das sind zwei Paar Schuhe.“8 Beobachten wir zunächst den Sprachgebrauch der Historiker, hier der deutschsprachigen. Das Phänomen jedoch erstreckt sich auf die Historikerschaft aller Länder.
4
So Johannes Fried zum Frankfurter Historikertag, s. Fried 1998. Genicot 1952. 6 Burckhardt, Studium 1982, 249, Z. 6: „Ein verzweiflungsvoller Anblick beim Beginn des Studiums“. 7 Patzig 1977/1980, 78, in bezug auf Objektivität und Tatsache bei den Historikern. So auch Dumolyn 2004. 8 Burke 1994, 65. 5
2.1 Wahrheit oder Deutungshoheit
3
2.1 Wahrheit oder Deutungshoheit Da werden wir feststellen, daß das Wort „Wahrheit“ von allen Fachleuten mit hohem Mißtrauen betrachtet wird. „Nicht mehr hoch im Kurs stehend, in der absoluten Qualität beschnitten und als ganze nur noch selten gefragt: arme alte Wahrheit. Die macht derzeit kein Rennen mehr.“ So Burghard Damerau im Jahre 2003.9 Wilhelm Giesebrecht schrieb 1859 im ersten Band der Historischen Zeitschrift: „Strenge Forschung ist sauere Arbeit, und Niemand unterzieht sich leicht derselben, den nicht ein aufrichtiges Streben nach Wahrheit beseelt. Und dieses Wahrheitsgefühl ist neben der Gründlichkeit das andere edle Kennzeichen unserer Historiographie geblieben.“10 Jetzt wird dagegen tadelnd bemerkt: „Noch immer sind die meisten Mediävisten (zu sehr) geneigt, nach der historischen Wahrheit zu fragen“. Sogar „der Tod der Wahrheit“ ist schon etwas vorschnell verkündet worden.11 Weiter ist durchweg die Rede von der „Konstruktion“ der Geschichte, nicht einmal mehr von der „Rekonstruktion“ – denn diese Metapher setzt ja voraus, daß da einmal etwas gewesen ist, ein Gebäude gestanden hat, verfallen und verschüttet bis zur Unkenntlichkeit fast, aber doch in Umrissen noch zu erkennen. „Wenn nicht nur vergangene, sondern auch gegenwärtige Wirklichkeit ein Konstrukt ist, kann Geschichte nicht mehr rekonstruiert, sondern ,nur noch‘ konstruiert werden, so daß sie neu zu bestimmenden Regeln und Grenzen unterliegt“.12 Jörn Rüsen sprach 1986 noch von „Rekonstruktion der Vergangenheit“, 1987 auch noch Ulrich Raulff; Chris Lorenz hatte derweil schon den Rubikon überschritten und nur noch die „Konstruktion der Vergangenheit“ gesehen13 – nach dem neuesten Stand müßte es wohl heißen „von Vergangenheit(en)“. Für Birbaumer und Langewiesche ist es
9 Damerau 2003, 9. Den Satz, der darauf folgt, s. unten bei Anm. 356. – Neuere Darstellung der nunmehr gängigen Positionen, auch zu den später folgenden: Daniel 52006, 381–389: „Tatsache / Objekt / Wahrheit“, dort Heinz von Foersters Selbstaussage „Wahrheit ist, so habe ich einmal gesagt, die Erfindung eines Lügners“ (vgl. oben Anm. 1) – womit die grundsätzliche Kreter-Paradoxie des Epimenedes von Behauptungen auf diesem Feld angedeutet ist (vgl. Reinhard 2007, 13f.; vgl. unten Anm. 262); Goertz 2001; Lorenz 1987/1997. Die Debatte ist nicht erwähnt bei Hoock/Kaiser 2009. 10 Giesebrecht 1859, hier 12; zum nationalen Unterton S. 14: „… was dankt bis heute unsere Geschichte der Forschung anderer Nationen? Es bedarf darauf keiner Antwort.“ 11 Kiesow 2000, 10. Der flotte Autor, der von der „wahrheitssüchtigen Geschichtswissenschaft“ redet (S. 11), formuliert auch: „Die Geschichte bleibt eine Hure. Sie bietet sich jedem an“ (S. 10) – womit er den Unterschied zwischen Tatsachenwahrheit und geglaubter Wahrheit vollends aufhebt. Das Bild ist im übrigen uralt, s. Langewiesche 2008, 16. – Von diesem Text, den er ausführlich zitiert, distanziert sich Oexle 2003. 12 So Jordan 2005. – Umfassendste Darstellung der konstruktivistischen Position in deutscher Sprache: Goertz 2001. Vgl. Lorenz 1987/1997 und Rheinberger, Historische Epistemologie 2007. 13 Rüsen 1986; Raulff 1987; Lorenz 1987/1997.
4
2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma
im Jahre 2006 jedenfalls eine „fest etablierte historiographische Einsicht, daß Geschichtsschreibung eine Konstruktionsleistung ist“.14 Die Bücher, die von der „Erfindung“ von irgend etwas handeln15, bis hin zur vermeintlich lebenspraktischen Notwendigkeit, sich periodisch stets selbst neu zu „erfinden“, sind Legion. „Es war grauenhaft, wie Fachkollegen in den 80er Jahren das Wort ,Mentalität‘ aufschnappten und damit mündlich wie schriftlich ihre völlig konventionell gebliebenen Arbeitsweisen schmückten“, erinnert sich der Rostocker Althistoriker Egon Flaig.16 Wir erleben ähnliches heute und werden es, leider, immer wieder erleben. Im Jahre 1824 hat Leopold (von) Ranke in der Vorrede zu seinen „Geschichten17 der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535“18 geschrieben: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.“ Diese schlichten vier Worte: „wie es eigentlich gewesen“, dazu Rankes 1829 geäußerte Erwartung, „die Begebenheit von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen“19 sind der früheste und knappeste Ausdruck einer Hoffnung, daß wir wissen können und nicht nur wissen wollen. Daß Ranke sich damals schon dessen bewußt war, daß dieses Ziel unerreichbar ist, wurde vergessen: „die Begebenheit selbst in ihrer menschlichen Faßlichkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle; ihr wäre beizukommen: ich weiß, wie weit ich davon entfernt geblieben. Was ist zu sagen? Man bemüht sich, man strebt, am Ende hat man’s nicht erreicht.“20 Ranke beschrieb 1837 auch schon die Zwitterstellung der Geschichtsschreibung: „Als Wissenschaft ist sie der Philosophie, als Kunst der Poesie verwandt.“ Oder ausführlicher: „Die Historie unterscheidet sich dadurch von andern Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt; Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte wieder gestaltet, darstellt. Andre Wissenschaften begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen; bei der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung dazu.“21
14
Birbaumer/Langewiesche 2006, 159. Vgl. Raphael 2009, 110 und 113. Dahinter steht der von Eric Hobsbawm und Terence Ranger hrsg. Klassiker „The Invention of Tradition“ aus dem Jahre 1983; daneben, die Nation betreffend, Anderson 1983/1996. 16 Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 28. 17 „Nur Geschichten, nicht die Geschichte“. Zu dieser Wandlung s. Koselleck, Art. „Geschichte“ 1975. 18 Abgedruckt in: Über das Studium der Geschichte 1990, 44–46, hiernach die Zitate. 19 Vorwort zur „Serbischen Revolution“, zit. bei Fried, Memorik 2004, 57. 20 S. 46, teilweise zitiert bei Depkat 2004, 104 Anm. 10. 21 Zitiert bei Rüsen, Historik III, 1989, 16, ausführlicher bei dems., Zerbrechende Zeit 2001, 107, und dems. 2005/2006, 46. Rüsen weist nach, daß Sammeln die Heuristik Droy15
2.1 Wahrheit oder Deutungshoheit
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Mit dieser Hoffnung ist nun anscheinend Schluß. „Der Rankesche Traum, zu erfahren ‚wie es eigentlich gewesen‘, ist in dieser Form [d. h. hier: Rekonstruktion von Vergangenheit anhand archäologischer Quellen] längst ausgeträumt. Spätestens seit David Clarkes Aufsatz ‚Archaeology: The Loss of Innocence‘ aus dem Jahr 1973 hat die Archäologie definitiv ihre Unschuld verloren.“22 Diese Äußerung aus dem Jahre 2004 wiegt schwer, denn gerade die Archäologie hat es mit Realien zu tun. Wer heute unter Fachleuten Ranke zustimmend zitiert, erntet müdes Lächeln, schlimmstenfalls Hohn und wird mit seiner „Trivialauffassung“23 als erkenntnistheoretischer Fußgänger entlarvt.24 „Es gibt […] keinen wissensarchäologischen Nullpunkt der Historie, der Leopold Rankes historiographischer Asymptote entsprechen würde, ‚bloß zu sagen, wie es eigentlich gewesen‘.“25 Oexle resümiert angriffslustig: „Daß die Rankeaner oder Neo-Rankeaner von heute dies, ihrem Altmeister folgend, noch immer tun [nämlich an die Realität der Fakten zu glauben], ist freilich skandalös. Es ist Zeugnis einer fatalen Bequemlichkeit des Denkens.“26 Gleichzeitig hat sich ein anderes Wort eingebürgert, das aus der Politik kommt, nun aber mehr und mehr die öffentliche Diskussion um Wissenschaft beherrscht. Da wird nicht mehr von „Wahrheit“ gesprochen, sondern von „Deutungshoheit“, „Deutungsmacht“ und „Meinungsführerschaft“, und das Streben danach wird von Wissenschaftlern als „zweifellos legitimes Ziel“ bezeichnet.27 Es geht also darum, wer den „Diskurs“ bestimmt28, um im Streit um die rare öffentliche Aufmerksamkeit die Oberhand zu gewinnen und damit natürlich auch die Hand auf die entsprechenden Finanzen zu legen. Wenn Hans-Jürgen Goertz in gut Droysenscher Manier schreibt: „Was vergangen ist, existiert nicht mehr, ist also auch nicht wirklich“, dann hängt er dem gegenwärtigen radikalen Konstruktivismus an, der sich durch keine sens, Finden seine Kritik, Durchdringen seine Interpretation ist, und die Darstellung dessen Apodeixis. 22 Jäggi 2004, 120; Clarke 1973. 23 Oexle, Quelle 2004, 165; ders., Jonathan Littells Les Bienveillantes 2009, 155 („geradezu ein Schibboleth der deutschen Geschichtswissenschaft“). 24 Die heutige Position bei Koselleck 1997, 87: „Was tatsächlich der Fall war oder die sogenannte eigentliche Geschichte, über die man später spricht, ist […] immer etwas anderes als die Summe der Aktionsmodalitäten im jeweiligen Erfahrungshaushalt der ehedem Beteiligten.“ 25 Ernst 2003, 186. 26 Oexle, Begriff 2004, 25. Zu Martin Walsers Distanzierung von Ranke s. Langewiesche 2009. 27 So R. Habermas 2000, 64, kritischer 70; s. auch Kittsteiner 2000, 86 mit Anm. 22 (H.-U. Wehler). Zu einer kühlen Betrachtung der Verhältnisse in Deutschland und Frankreich s. Blaschke/Raphael 2007. Zur Selbstpropaganda s. auch Schöttler 2008 (unten Anm. 127). Kritik an der Deutungshoheit auch bei Hölscher 2007/2009, 68f. (zit. unten bei Anm. 157). 28 Zur historischen Dikursanalyse zuletzt Landwehr 2008.
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2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma
greifbare Tatsachenwelt mehr will beschränken lassen.29 Noch tiefer reichen die Spuren, wenn man bedenkt, daß Nietzsche und nach ihm Michel Foucault in der Wissenschaft nur den Willen zur Macht am Werke sahen.30 Ob das Behauptete wahr ist, spielt im Grunde keine Rolle mehr, wie denn der Lüge zunehmend ihre Verwerflichkeit abgesprochen wird.31 Dazu paßt gut, daß in unserer Drittmittelkultur Projekte wichtiger werden als erbrachte Leistungen. Prestigereicher als das Ergebnis ist die weiträumige „Vernetzung“ („Im vulgärwissenschaftlichen Jargon wird der Begriff ‚Netzwerk‘ in allgemeiner Verbreitung nur von ‚Diskurs‘ geschlagen.“)32, ist der mit den richtigen Vokabeln versehene Drittmittelantrag, ist die steile These und die mit dem Autor verbundene öffentliche Diskussion darüber. Es „gewinnt im Rahmen der sogenannten Exzellenzcluster der projektorientierte Professor an Statur. Sein Prestige leitet sich nicht mehr von der Qualität seiner Lehr- und Forschungsleistungen her, sondern vorwiegend quantitativ vom Maß seiner Aktivitäten, insbesondere wenn sie sich in Drittmitteln niederschlagen. […] Mit dem wachsenden Ansehen des projektorientierten Professors sinkt dasjenige des in sich gekehrten, in Gedanken und nicht in Netzwerken befindlichen Forschers älterer Prägung, der nicht auf das antiquierte Ideal der selbstbestimmt praktizierten Gelehrsamkeit verzichten will.“33 Tassilo Schmidt hat denn auch forsch behauptet, die Kritiker an dergleichen Wandel sprächen „aus der Perspektive […] derjenigen, die sich als Verlierer der Veränderungen im Hochschulsystem“ empfinden34. Das nenne ich, sich auf den Boden der Tatsachen stellen, wie immer es um diese auch stehen mag. Dabei reizen die kurzatmigen Versuche, sich einen claim auf dem Feld der Geisteswissenschaften zu sichern, zu unvergnüglicher Satire. Neuerdings stehen wir vor dem „emotional turn“35, nach dem wir schon mit dem „linguistic“, „cultural“, „narrative“, „performative“, „biographic“, „praxeological“, „iconic“, „pictorial“, „sensitive“, „perceptive“ und „geographic“, „topographical“, „spatial“ und „auditory turn“ als Vorgängern Bekanntschaft ge29
Goertz 2003, 329. Oexle, Begriff 2004, 28. Ganz auf dieser Linie liegt Bourdieu (unten Anm. 377). 31 Reinhard 2007, in der Einleitung zu dem von ihm hrsg. Band „Krumme Touren“. Vgl. ders., Lügengesellschaft 2006, hier 99–107: „Wahrheit und Lüge in der Wissenschaft“. Vgl. oben Anm. 1. 32 Reinhard, Kleine Politik ganz groß 2008, bes. 247. Vgl. Bahners, „Als wär’s ein Buch von mir“, FAZ vom 20. 5. 2009: „Die Netzwerkforschung, die heute die vorherrschende Methode in der Geschichte der Geisteswissenschaften ist …“. 33 Apel, „Schicksal als Projekt“, FAZ vom 13. 11. 2007, nach dem französischen Soziologen und Bourdieu-Schüler Boltanski, Leben als Projekt 2007. Beyer, „Sag Medium statt Bild“, FAZ vom 8. 9. 2004, sprach von der „Innovationsrhetorik des Drittmitteldeutschen“. 34 In seiner Rezension von Münch 2007 und 2009. 35 Frevert, FAZ vom 2. 2. 2009. 30
2.1 Wahrheit oder Deutungshoheit
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macht haben, den „tournant numérique“, den „archival“ und „somatic turn“ und die „mikrogeschichtliche Wende“ nicht zu vergessen und auch nicht, daß nun (ironisch) vom „political return innerhalb des cultural turn“ die Rede sein kann36, oder vom „turn from the turn“.37 Hans Ulrich Gumbrecht konstatiert zwar, daß die Folge immer neuer ‚Paradigmen‘ nach der Umdefinition der Geisteswissenschaft in „Kulturwissenschaften“ seit zwanzig Jahren beendet sei38, aber dies dürfte eine vergebliche Hoffnung sein, denn wie Thomas Thiel feststellte: „Nach dem Turn ist vor dem Turn“, denn die Ursache dieser Hatz ist nicht Erkenntnisfortschritt, sondern Karrierekonkurrenz.39 Man „darf […] nicht an der Einsicht der neueren Wissenschaftstheorie vorbeisehen, daß gerade der Erfolg einer Methode oder eines Deutungsansatzes unvermeidlich in die nächste Krise führt, wenn nicht rechtzeitig auf ein neues Paradigma umgestiegen wird“ – so Michael Borgolte anno 1995.40 Hauptsache, man verblüfft, entspricht dem, was als modern gilt, und ist in aller Munde, ohne sich darüber klar zu sein, daß dieser Selbstbezug zum Bedeutungsverlust der Geschichtsschreibung führt.41 Auf „Geschichte schreiben in der Postmoderne“ folgt eben „Geschichte schreiben nach der Postmoderne“ – die Geschichte muß nunmehr nicht erst alle zwanzig, sondern schon alle zehn Jahre neu geschrieben werden.42 „Sichtbarkeit zählt mehr als Qualität“, hat man dazu gesagt.43 Von Selbstzweifel, Demut, Entsagung keine Spur. Oder doch, wenigsten eine, bei Caroline Bynum: „Wenn es schon kein Ziel am Ende des Rennens gibt – d. h., wenn es darum geht, zu laufen, und nicht darum, anzukommen – warum dann sprinten anstatt herumzustrolchen (besonders wenn der Sprint unsere Knie für immer verletzt)?“; und so verbindet sie „das Postmoderne mit dem Bescheidenen“ („the postmodern to the modest“).44 Grundsätzlich aber gilt, was gewisse Politiker vorgemacht haben und bereits tief in die Wissenschaft eingedrungen ist: Nicht die Wahrheit gewinnt (schon diese Vorstellung, daß immer gewonnen werden muß, gehört zum Bild), sondern die bessere Geschichte, womit hier „story“ gemeint ist, nicht „history“.45
36
Auge 2009, 6. Bynum 2009, 74. 38 Gumbrecht, „Geschichtlichkeit nach dem Historismus“, FAZ vom 11. 6. 2008. 39 Thiel, „Vielgewendet“, FAZ vom 7. 9. 2005 (z. T. nach Doris Bachmann-Medick). Vgl. Conrad 2006; Rosenfelder, „Paradigmenwechselbad“, FAZ vom 9. 5. 2006. 40 Borgolte 1995, 621f. 41 Raphael 2009, 120: „wachsende Selbstreferenzialität“. 42 Siehe die Titel von 1998 und 2009 in der Bibliographie. Zwanzig Jahre: s. oben bei Anm. 4. 43 Reents, „Flexibel querlesen“, FAZ vom 25. 2. 2009. 44 Bynum 2009, 84–86. Dazu Eckert , „Big history“, FAZ vom 19. 8. 2009. 45 Altweg, „Das Märchen der Macht“, FAZ vom 27. 1. 2009, über Nicolas Sarkozy. 37
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2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma
2.2 Tatsache Mit dem Begriff „Wahrheit“ gerät auch einer ihrer Begleiter ins Zwielicht: die „Tatsache“, heute definiert als „Postulat einer als wahr angenommenen Aussage über Vergangenheit“.46 „Die wahre Lehre liegt in der Erkenntnis der Thatsachen“, schrieb Ranke im Jahre 183147, und als am 1. November 1949 die erste Nummer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, hieß es programmatisch auf der ersten Seite: „Wir haben genaue Vorstellungen von einer neuen Art Zeitung, die wir schaffen möchten. Für sie müßte die Wahrheit der Tatsachen heilig sein.“ Von diesen wird heute im Brustton der Überzeugung gesagt, sie ließen sich nicht feststellen, es gebe sie nicht, weil ohnehin alles Meinung, verzerrte Überlieferung, interaktiver Diskurs sei. „Die historischen Fakten sind […] subjektive Konstrukte auf objektiver Grundlage“, heißt eine neuere, immerhin noch einen Rest der Objektivität bewahrende Definition.48 Die ist bei anderen gänzlich gefallen, etwa bei Ulrich Raulff, wenn er schreibt: „Es triumphiert der platteste Positivismus, der sich einzureden sucht, das Archiv sei ein Friedhof der Fakten und nicht ein Garten der Fiktionen.“49 Positivismus ist überhaupt das schrecklichste Schimpfwort, das einem Historiker heute entgegengeworfen werden kann, dabei benutzen alle dankbar, was diese dumpfen Leute im 19. Jahrhundert an Fakten bereitgestellt haben.50 Von Belang sei nun nicht mehr, was war, heißt es, sondern wie darüber geredet wurde; nur das dringe ja auch bis an unser Ohr.51 Pervertierter Inbegriff dieser Vorgehensweise ist etwa die Behauptung, die Karolingerzeit habe nie existiert, sei vielmehr eine interessierte Erfindung späterer Zeiten.52 Bezeichnenderweise gerät in den Geruch der Langweilerei53, ja des Hochmuts, wer sich mit dergleichen Absurditäten nicht beschäftigen will. Bösartig wird diese Hyperkritik an den Tatsachen dann im Negationismus, der vorgibt, die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen, indem er die Judenvernichtung in Zweifel zieht – dabei ist gerade diese eine Tatsache, an
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Brendecke 2003, 282. Brief an seinen Bruder Heinrich vom 21. 11. 1831, zit. v. Oexle 2000, 92; 2001, 229. 48 Borgolte 2004, 292, unter Berufung auf Oexle, Kultur 2000, 25ff. 49 Raulff, „Club der untoten Dichter“, FAZ vom 8. 12. 1997. In dieser Perspektive Stoler 2008. 50 Knapp zum Positivismus in seiner klassischen Form des 19. Jh.s Fuchs 2003. 51 Hellsichtig bereits Becker 1926/1955, von Nietzsche, aber offensichtlich nicht von Droysen beeinflußt. 52 Illig 1996. – Zu einer anderen aus der „Reihe kühner Laienthesen“, derjenigen Wilhelm Kammeiers (1889–1959), Fuhrmann 1992/1996. 53 Wozu angemerkt werden muß, daß Langeweile vielleicht eine ästhetische oder existentielle, jedenfalls keine wissenschaftliche Kategorie ist (und ihre vormoderne Geschichte noch erforscht werden muß). 47
2.2 Tatsache
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der alle Tatsachenkritik zerschellt.54 „Hier kann man es sich nicht leisten, über osmotische Grenzen zwischen ‚Fakt und Fiktion‘ in der Geschichtsschreibung zu spekulieren und überhaupt der Repräsentation des Geschehens ein großes Eigengewicht zuzumessen.“55 Nun gilt vielmehr das Wort vom „Schleier der Erinnerung“ (Johannes Fried), in Nachfolge der „veiled reality“ Bernard d’Espagnats.56 Schiller konnte noch glauben, daß man dem Bild zu Saïs den Schleier herabreißen könne – wenngleich mit tödlichen Folgen angesichts der unbekleideten Göttin. Inzwischen hat man „Abschied von der nackten Wahrheit“ genommen57 und glaubt, zöge man den einen Schleier zur Seite, werde nur ein weiterer sichtbar, und so ad infinitum. Aber was im hehren Gewande eines (des wievielten?) turn58 als radikale Gedächtniskritik einherkommt59, ist nichts anderes als eine fortentwickelte Quellenkritik60, was sich schon daran zeigt, daß Johannes Frieds Umdeutung in den „Pakt von Canossa“, zum einen lediglich einen anderen Text als die Vorgänger in den Vordergrund rückt (was stets eine beliebte und durchaus legitime Methode war)61 und zum anderen die darauf gründende Interpretation nicht haltbar ist, wie Gerd Althoff, mit dem Fried schon öfter die Klinge kreuzte, in einem knappen, aber durchschlagenden Leserbrief gezeigt hat.62 Es erstaunt überhaupt, wie folgenlos 54 Vgl. Altweg, „Benedikt und die Brandstifter“, FAZ vom 30. 1. 2009, wo vom „Triumph des Relativismus in der Philosophie“ die Rede ist: „Es gibt keine objektive Wahrheit – auch keine historische. Die Existenz der Gaskammer wird zur privaten oder politischen Ansichtssache.“ Vgl. zum besonderen Darstellungsproblem der Shoa White 1992/2000. Resümierend Reinhard, Geschichte als Delegitimation 2003 (unten Anm. 265): „Der Massenmord an den Juden ist kein Text“. Zuvor schon Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 34f., und Evans 1998, 123 („Auschwitz war kein Diskurs“), was Oexle 2000, 91, erstaunlicherweise zu der Bemerkung veranlaßt: „Man mag es übertrieben finden, wie Richard Evans die Keule des ‚Auschwitz‘-Arguments schwingt“. Vgl. Davis 2001. 55 Nolte 2005, 893. 56 Fried 2004; d’Espagnat 1995, vgl. ders. 2006. Die Schleiermetapher an sich ist viel älter, s. Oster 2007. 57 So der Titel der bebilderten Abhandlung bei Konersmann 2006, 380–399. 58 Beispiele oben nach Anm. 35. 59 Fried, „Das verschleierte Bild zu Aachen“, FAZ vom 26. 3. 2001, Rez. des Buches von Max Kerner, Karl der Große. Entschleierung eines Mythos. Köln 2001. 60 Arnold 2003; Birbaumer/Langewiesche 2006, 159. 61 So schon der Leserbrief von Petersen „Canossa und der Papst“ in der FAZ vom 18. 3. 2009: „daß nun diese eine Quelle zu einem ‚gänzlich anderen Geschehenskonstrukt‘ führen müsse, leuchtet angesichts der von Fried überzeugend entwickelten Memorik nicht ein“; Petersen wies auch auf die verwunderlich geschichtspolitischen Tendenzen der Arbeit hin (Fried, Der Pakt von Canossa 2008). Eher zustimmend der Leserbrief „Zurechtgebogen“ von Strasser in der FAZ vom 14. 3. 2009. Vgl. an anderen Beispielen Birbaumer/Langewiesche 2006, 159. 62 Althoff, „Falsche Memorik statt klassischer Methodik“, FAZ vom 28. 2. 2009; vgl. FAZ vom 28. und 29. 1. 2009. Milder ist Althoffs Nachtrag zu seinem Vorwort zum Band „Heinrich IV.“ 2009, 12. – Zur älteren Polemik um „Phantasie“ s. unten Anm. 284, und Müllerburg 2010.
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2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma
die ganze theoretische Diskussion in der Praxis geblieben ist: „Selten ist die Kluft zwischen der Methodendiskussion und der tatsächlichen Praxis der Geschichtsschreibung so tief gewesen wie in den letzten Jahrzehnten“, beobachtet Carlo Ginzburg63, und Caspar Hirschi legt den Finger auf diese bemerkenswerte Lücke: „Bücher über Methoden der Geschichtswissenschaft machen regelmäßig dort halt, wo es erst richtig interessant wird: bei der Umsetzung theoretischer Modelle in Quellenforschung.“64 Auch Jens Nordalm fragt „nach dem Verhältnis von theoretischer Präzision und praktischem Ertrag.“65 Immer wieder kommt der Verdacht auf, daß, wer von der Sache nichts versteht, bei der Theorie haltmacht66 oder wenigstens den Beweis der Anwendbarkeit schuldig bleibt. Wenn es mit der Rezeption der mehr oder minder neuen Lehre nicht so recht vorangeht, muß es nicht daran liegen, daß die Praktiker uneinsichtig alles ignorierten, was sie aus der Ruhe bringen könnte. Vielmehr gibt es hier einen Widerstand, der, sich allmählich mit brauchbarem Neuen anreichernd, einen Bezug zur Realität bewahrt, die platterdings nicht zum Verschwinden zu bringen ist. Das war schon bei Droysen als Geschichtsschreiber so67, und so ist es geblieben68, obwohl er sehr wohl wußte, wie es um unser Gedächtnis steht: „Man muß sich nur einmal selbst beobachten, wie schwer es ist, Erinnerungen präzis festzuhalten, wie sich das Bild dessen, was man selbst mit angesehen, ja getan oder mitgetan hat, verschiebt und verändert“.69 2.3 Quelle Ein weiterer Verwandter der Wahrheit verschwindet im Dunkel der verworfenen Begriffe: die „Quelle“.70 Sie gilt nun ebenfalls als konstruiert.71 Die schöne Bezeichnung, auch sie eine Metapher72, legt nahe, daß wir, dem 63
Ginzburg 2001, 11. Hirschi, „Methoden für den Lehrstuhl“, FAZ vom 22. 12. 2008. 65 Nordalm 2007, 291. 66 Zu diesem Topos Wegmann 2000. 67 Welskopp 2009, 404f. 68 Es gilt auch für Oexles sachbezogene Arbeiten z. B. zur Memoria der Fugger in Augsburg (2000); zu Wissenschaftsbildern des 17. und frühen 18. Jh.s (2008); zur Memoria der Reformation (2009). 69 Droysen, Historik 71972, 62. 70 Siehe den Band „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt 2004, hier besonders die Beiträge der Hrsg. Rathmann/Wegemann und von Scholz. Daneben: Oexle, Quelle 2004. Metapherngeschichtlich: Zimmermann 1997, Blumenberg 2009 (dazu Mayer, „Gehst du zur Quelle, vergiss das Steuerhandbuch nicht“, FAZ vom 17. 12. 2009). 71 Rathmann/Wegemann 2004, 21 mit Anm. 11, sich auf eine mündliche Äußerung Reinhart Kosellecks berufend; Borgolte 2004, 292 (o. Anm. 48). Oexle, Quelle 2004. 72 Die Studenten am alten Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin in der Altensteinstraße sprachen anfangs der 1960er Jahre denn auch von der nächsten Kneipe als dem „Quellenraum“, der eben einem solchen im Institut entsprach. 64
2.3 Quelle
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reichlich und rein aus der Erde springenden Wasser ähnlich, Zeugnisse haben, willkürliche, vor allem aber unwillkürliche wie etwa die Funde der Archäologie oder die unendliche Zahl der Rechtsgeschäfte, die an eine Nachwelt gar nicht dachten und aus denen wir folglich einen unverstellten Zugang zur Lebenswirklichkeit finden können. Dabei bleibt weiterhin die von Droysen gestellte Frage ungeklärt: „Wie wird aus den Geschäften Geschichte?“73 Aber Wahrheit gilt nicht mehr nur als unerreichbar, sondern als falsches Ziel74, die Tatsache wird als Konstrukt eigener Art entlarvt und die Quelle als schöne Fiktion, die sich lediglich noch aus der Hoffnung methodisch Unbelehrbarer nährt. Man ist versucht, aus einem neueren Interview mit dem Modedesigner Wolfgang Joop zu zitieren. Hier heißt es: „Wir nennen uns ja heute postmodern, das heißt, wir leben nur noch vom Zitat“, und, in bezug auf des Künstlers Damien Hirsts überaus erfolgreiche Selbstvermarktung: „Scharlatan zu sein ist perfektes Marketing. Du mußt sie glauben lassen, daß es Kunst ist. Der Preis für Kunst ist eine Behauptung. Er hat es behauptet, und man hat es ihm geglaubt. Am nächsten Tag war dann schon alles anders.“75 Man setze „Wissenschaft“ für „Kunst“ und die Parallele ist (fast) perfekt, wie der weiter unten erwähnte Streich von Alan D. Sokal zeigt.76 Selbst ein so kritischer Kopf wie Wolfgang Reinhard schreibt nach dem linguistic turn mit leider nur geringer Ironie: „Übertrieben formuliert, wissen wir nichts über Geschichte, sondern nur etwas über Texte, die von Geschichte handeln, und produzieren keine Untersuchungen über historische Wahrheit, sondern nur neue Texte über andere Texte.“77 Anders und doch identisch Koselleck: „Keine Wirklichkeit läßt sich auf ihre sprachliche Deutung und Gestaltung reduzieren, aber ohne solche sprachlichen Leistungen gibt es – jedenfalls für uns – keine Wirklichkeit.“78 Die Kritik am realistischen Wirklichkeitsbegriff ist alt79 und wurde zusammen mit derjenigen am
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Droysen, Grundriß 1882/1977, 418; Droysen selbst sagt lediglich S. 435 § 45: „Erst eine gewisse Art, das Geschehene nachmals zu betrachten, ‚macht aus Geschäften Geschichte‘“. 74 Siehe etwa Rathmann/Wegmann 2004, 33, am Beispiel einer vorgeblich erfundenen Geschichte des Ulrich von Richental aus der Zeit des Konstanzer Konzils (s. zum Sturz Johanns XXIII. auf dem Arlberg Buck, Fiktion und Realität 2001, 61–96): Unter bestimmten Voraussetzungen „ist die Frage danach, ob die Geschichte stimmt oder nicht gegenstandslos“. Diese Geschichte würde aber gerade dadurch interessant, wenn sie erfunden wäre, und das muß man erst einmal feststellen. Vgl. ansonsten hierzu und allgemein Fulbrook 2002, bes. 18–24. 75 Joop, „Die Lempickas sind eine phantastische Krisenanlage“, FAZ vom 4. 4. 2009, mit Swantje Karich. 76 Siehe nach Anm. 179. 77 Reinhard, Pfeife 2005, 8. 78 Koselleck 1983, 5. 79 Siehe unten bei Anm. 272.
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2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma
Begriff der „Tatsache“ schon im Jahre 1935 von Ludwig Fleck vorgenommen; doch blieb vorerst die Wirkung aus. Erst Thomas S. Kuhn hat im Jahre 1962 das 1980 erneut veröffentlichte Werk in die Diskussion eingeführt, mit wachsender Wirkung.80 2.4 Quantenmechanik und Memorik Zwei neuere Tendenzen stellen nun die Realität des Beobachteten überhaupt in Frage. Die eine bedient sich einer Metapher, die noch radikaler ist als Platons Höhlengleichnis: Sahen dort die Menschen nur Schatten, nicht die Sachen an sich, so schafft hier am Beispiel der Quantenmechanik der Blick des Menschen erst die Quellen und Tatsachen, die er für objektive Sachverhalte hält. Bestehendes wird nicht mehr beleuchtet und darum sichtbar gemacht81, sondern das Licht des Beobachters gebiert Fiktionen. Das Beobachtete ist vom Beobachter nicht zu trennen, verdankt ihm vielmehr die Existenz oder wird wenigstens von ihm verändert, so wie es auch ihn verwandelt. „Die Bahn [eines Teilchens] entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten“, schrieb Werner Heisenberg im Jahre 1927.82 „Die Vergangenheit ist nicht das Erinnerte, sondern der sich Erinnernde“, notierte vor 1952 Franz Baermann Steiner.83 „Der Regisseur ist […] Teil des Films“, sagt heute Ute Daniel.84 Dergleichen war zwar schon von Kant postuliert worden, worauf Otto Gerhard Oexle unermüdlich hinweist85 und auch darauf, daß schon Kant, nicht erst Marc Bloch86, für die Tätigkeit des Wissenschaftlers die Metapher des „Untersuchungsrichters“ verwandt hat (die Ginzburg aufgreift87); weiter geht es dann mit Max Weber, Ernst Cassirer und Ernst Troeltsch.88 Dagegen konstatiert Flaig „Die Verteidigung der objektiven
80 Fleck 1935/1980; Gesammelte Aufsätze: Fleck 1983. – Oexle, Naturwissenschaft 1998, 141–145; ders., Begriff 2004, 54; Rheinberger, Fleck/Husserl 2007; eine ihm gewidmete Tagung s. unten Anm. 192. Die Parallele zur verspäteten Rezeption des Werks von Norbert Elias liegt auf der Hand. 81 Zum Bild des wandernden Lichtkegels bei Droysen und Max Weber s. Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 72 Anm. 95. 82 Dazu, jeweils mit dem Zitat Oexle, z. B. 1996, 217f.; 2001, 236; 2003, 38; 2004, Begriff 37. Vgl. in Absetzung von Kant Heisenberg 1969/1979. 83 Zitiert von Kämmerlings, „Worüber man nicht staunt, das vergißt man“, FAZ vom 16. 1. 2010 (Besprechung von Baermann Steiner, Feststellungen und Versuche 2009). 84 Daniel 52006, 386. 85 Dazu Oexle 2003, 17–19 (oder 2009, 385), nach der Vorrede Kants zur 2. Aufl. (1787) seiner Kritik der reinen Vernunft. Leicht ironisch zu „Oexles kantigem Neukantianismus“ Jungen, „Setzen, Aristoteles, sechs!“, FAZ vom 24. 8. 2009 (zum 70. Geburtstag), oder auch Rüsen 2005/2006, 41 Anm. 6. 86 Raulff 1995, 184ff. 87 Ginzburg 2001, 58. 88 Oexle 2003, 19–23.
2.4 Quantenmechanik und Memorik
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Realität bei Kant“.89 Und Jean Grondin fragt: „Wir haben die Welt und die Natur a priori hervorgebracht? Ist das nicht ein zu hoch gesteckter Anspruch des menschlichen Verstandes?“; er schließt: „Es mag trivial klingen, es so zu sagen, aber die postmoderne Radikalisierung der Hermeneutik zwingt dazu: Was wir über die Welt sagen und über sie erfahren, stimmt mit ihr überein – oder nicht (was wir jeweils einsehen und oft genug verifizieren können). Es ist eine wahre Welterfahrung und Welterkenntnis, die wir dank der Sprache (und vielleicht nicht nur dank ihr) haben.“90 Marc Bloch hat bereits das neue Wirklichkeitsverständnis der Naturwissenschaften wahrgenommen, wie die Einleitung zu seiner unvollendeten „Apologie pour l’histoire“ unmißverständlich zeigt: „Die kinetische Energie der Gase, die Einsteinsche Mechanik und die Quantentheorie haben das Bild, das man sich noch gestern von der Wissenschaft machte, grundlegend verändert. Sie haben nicht ihre Bedeutung geschmälert, sondern sie flexibler gemacht. In vielerlei Hinsicht haben sie die Gewißheit durch das unendlich Wahrscheinliche ersetzt und das exakt Meßbare durch den Begriff der ewigen Relativität des Meßvorganges.“91 Dennoch hat er am Wahrheitsbegriff festgehalten92, zu Recht, wie ich meine. Dieses Wirklichkeitsverständnis der (zweiten) neo-kantianischen Wende nach derjenigen um 190093 – Droysen ist ihr lange unwirksam gebliebener Urvater gewesen94 – wird heute in den Feuilletons als Selbstverständ-
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Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 54–57. Grondin 2009, 130. 91 Bloch, Apologie [1941–1943], frz. 77, dt. 19, angeführt von Oexle 1990/1996, 231, wozu Schöttler 2009, 43 u. 44 mit Anm. 84, und eingehend Balibar (im Druck). 92 Siehe das Ende dieses Essays. 93 Bzw. 1880–1932. Diese und deren Übertragung auf die Gegenwart sind das große Thema zahlreicher Arbeiten von Oexle; im Literaturverzeichnis sind viele von ihnen genannt. Auffälligerweise haben sie in der allgemeinen Diskussion wenig Spuren hinterlassen. Zur ersten Wende „um 1800“ u. a. Hoock 2009. 94 Oexle 2000, 94f. u. ö. Droysens „Historik“ von 1857–1882/1883 ist in Jena und Berlin lediglich mündlich vorgetragen worden und erschien erst 1937 in einem die letzte Version mit früheren vermischenden Druck; die kritische Neuausgabe von Horst Walter Blanke ist in Vorbereitung. Lediglich ein „Grundriß“ wurde als Handreichung zur Vorlesung veröffentlicht, in der letzten Fassung von 1882 am einfachsten zugänglich in: Über das Studium der Geschichte 1990, 85–117, kritische Edition mit Materialien 1977–2008; eine frz. Übersetzung erschien 1887 und blieb bis in die Gegenwart unbeachtet (erneut 2002, vgl. Creutz 2009). Zu Droysen (1808–1884) Barrelmeyer 1997; Rüsen 2005/2007; Nippel 2008 (der seine Bedeutung herunterspielt, vgl. FAZ vom 13. 3. 2008); Johann Gustav Droysen 2008 [Ausstellungskatalog]; die Akten der noch unveröffentlichten Tagungen im Gedenkjahr 2008 zu Berlin („Nachdenken über das Ganze“), Essen („200 Jahre Droysen“) und Rauischholzhausen bei Gießen (Johann Gustav Droysen – Philologie und Historie, Politik und Philosophie), vgl. Walter in der FAZ vom 24. 6. und 24. 7. 2008; Welskopp 2009 (der Nippel kritisiert). 90
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lichkeit ausgegeben95 und ist bis in die Belletristik vorgedrungen. Im Jahre 1966 schrieb Michael Ende in einem Brief: „Und was die Tatsachen betrifft: Was man sehen will, das sieht man auch. Denn die Wirklichkeit ist nur ein Spiegel. Es kommt also nicht so sehr auf die Tatsachen an als auf den Willen. Dessen Geistigkeit entscheidet den Grad der Wahrheit.“96 Und in Stefan Beuses Roman „Alles was du siehst“ vom Jahre 2009 steht, nun postmodern, zu lesen: „Es geht darin eigentlich auch nicht mehr um das, was wir glauben zu sehen. Was wir für wahr halten. Wir glauben, was wir sehen und anfassen können. Dabei ist es genau umgekehrt: Wir sehen die Dinge, weil wir sie für wahr halten. Ihre Wünsche, ihre Gedanken erschaffen die Realität.“97 Das wäre eine kopernikanische Wende in der Natur unserer Erkenntnis98: Auch in den Geisteswissenschaften soll sich die Sonne nicht um die Erde drehen, sondern die Erde um die Sonne – wenn das denn uneingeschränkt zuträfe. Die naturwissenschaftliche Wende in den 1920 Jahren, die mit den Namen Nils Bohr und Werner Heisenberg verbunden ist und die mit der Quantenmechanik in gewissen Fällen die Abhängigkeit der beobachteten Phänomene von der gestellten Frage erwiesen hat, stimmte damit überein, so daß sich neue Möglichkeiten der Konvergenz von Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften ergeben.99 Wenn Otto Gerhard Oexle bedauernd feststellt, daß bis heute „die von Heisenberg nach seinen Durchbrüchen zu einer neuen Art der Naturwissenschaft gestellte Frage, was dies denn nun für die Kulturwissenschaft bedeute und wie sich vor dem Hintergrund der Quantentheorie das Verhältnis von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft gestalten müsse und könne, – daß diese Frage Heisenbergs damals unbeantwortet blieb und bis heute unbeantwortet geblieben ist“100 – dann kann dies dieselben Gründe haben, die auch dem Ausgreifen der modernen Gehirnforschung von historischer Seite entgegengebracht werden, die nun unter der Parole „Memorik“ als neueste Errungenschaft ausgibt, daß wir, selbst wenn wir es wollten, die Vergangenheit nicht erkennen können, nicht nur, weil sich jeder Mensch, jede Generation eine eigene Vergangenheit schafft, die, da sie wenig mit der tatsächlich geschehenen zu 95
Perspektivität und Situativität, „jene Unschärferelation, der er [der Historiker] zu keiner Zeit entkommt“, so der Mediävist Borgolte, „Das verschleierte Bild zu Aachen“, FAZ vom 26. 3. 2001. 96 Am 12. 6. 1966 an ein „Fräulein Stock“, s. Voss, „Im Inneren des Michael-Ende-Effekts“, FAZ vom 12. 12. 2009, wo der Brief abgedruckt ist. 97 In München erschienen, Besprechung von Diener, „Wie hängt alles zusammen und warum?“, FAZ vom 9. 2. 2009. Vgl. den Roman von Perlman, Seven Types of Ambiguity von 1964 (dt.: Sieben Seiten der Wahrheit 2008), besprochen von Brandt, FAZ vom 12. 11. 2008. 98 So stets Oexle, z. B. Oexle, Ranke 2001, 233. 99 Auch hierzu die Arbeiten von Oexle, insbes. Naturwissenschaft 1998, Begriff 2004, hier 35ff. 100 Oexle, Begriff 2004, 45, mit dem Zusatz: „Dies muß sich, so denke ich, ändern.“
2.4 Quantenmechanik und Memorik
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tun hat, uns den Zugang zu dieser anderen Vergangenheit versperre. Das Funktionieren des menschlichen Gehirns, falsche Erinnerungen, die Sünden des Gedächtnisses101 machten vielmehr jede Objektivität an sich unmöglich. * Das alles ist einigermaßen bedrückend, ja geradezu lähmend, wenn man nicht etwa blindlings vom Aufbruch in höhere Komplexität schwärmen will, was einige tun.102 Eine neue Ebene historischer Arbeit hat sich etabliert, in der es geradezu überflüssig wird, danach zu fragen, was denn nun eigentlich war bzw. was wahr ist, und die sich damit begnügt, auf der unbestreitbar existierenden Metaebene des sekundären Geredes (oder platonisch gesprochen: der doxa) spazierenzugehen. Vom „Wir können erkennen“ (z. B. wenn wir nur erst alle lateinischen Inschriften gesammelt haben) über die Einsicht in „Wir können nicht erkennen“ (weil die Quellen verloren sind, weil nur eine Seite spricht, weil jede Überlieferung an sich das Geschehene verfälscht) sind wir beim „Wir brauchen nicht zu erkennen“ (denn anderes als wir bislang wissen wollten ist bei weitem interessanter). Wenn man so will, hat die Säkularisierung in der Form des radikalen Historismus jetzt endlich die Geschichtswissenschaft voll und ganz ergriffen. Wenn uns nichts mehr wirklich ist, ist uns auch nichts mehr wertvoll, geschweige denn heilig. „Die Anarchie wird zur Methode“, kann es dann heißen.103 Daß sich aus der Geschichte etwas lernen ließe, gilt deshalb auch in der Wissenschaft (wenngleich nicht in der Gesellschaft) als veraltete Illusion: „Die Devise historia magistra vitae, ‚die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens‘, steht schon seit mindestens zweihundert Jahren nicht mehr auf der Tagesordnung.“104 „Die Vorstellung, man könne ‚aus der Geschichte lernen‘, hat heute jegliche Überzeugungskraft verloren, und es ist an der Zeit, daß zumindest professionelle Historiker ernsthaft auf diese Situation reagieren.“ 105 Nach dem Tode Gottes ist die Geschichte „weder ein Gericht noch 101
So der Titel von Kühnel/Markowitsch 2009, vgl. Leyenberg, „Richtig Lust macht das Plagiat nur unbewußt“, FAZ vom 26. 10. 2009. – Kritisch Oexle, Begriff 2004, 49f.; Birbaumer/Langewiesche 2006; v. Müller 2006. 102 Siehe unten bei Anm. 299. 103 Kiesow 2000, 10. Er nennt sein Vorbild nicht: Feyerabend, Against Method 1975, worin eine Skizze einer „anarchistischen Theorie des Wissens“ entwickelt wird. Hier findet sich auch der Slogan „anything goes“. Vgl. dazu unten bei Anm. 116. 104 Oexle, Begriff 2004, 20, unter Hinweis auf den grundlegenden Aufsatz von Koselleck 1967/1979. 105 Gumbrecht 1997, 51, zit. bei Fröhlich/Kohlstruck 2008, 126. Gumbrecht setzt dann, nachdem „die Legitimationsdiskurse über die Funktionen der Geschichte zu starren Ritualen degeneriert sind“, an die niemand mehr glaube, am Beispiel seines Buches „In 1926“ (1997) dazu an, das Interesse an der Vergangenheit neu zu begründen, und sieht hier vor allem „ein prinzipielles ‚Bedürfnis nach Realität‘“ (59), das in „einem unzähmbaren Wunsch nach Präsenz“ (67) in Form der „Simultaneität“ (68) verlangt und nach
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ein Alibi.“106 Dieser Meinung war schon Hegel: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“107 Historia non docet.108 Pessimismus greift um sich: „Aus der Vergangenheit können keine Zukunftsprognosen gewonnen werden […] wenn Skepsis das einzige ist, was die Geschichtsschreibung zur politischen Orientierung beizutragen hat, dann verwundert es nicht, daß ihre Deutungsmacht geschrumpft ist. […] Groß ist die Gefahr, daß man sich im Unbestimmten, im Detail und schließlich in einer Reihe von Irrtümern verliert.“109 In letzter Konsequenz könnte man zur Auffassung kommen, das Schreiben von Geschichte lohne den Aufwand nicht und man könne es deshalb auch gleich gänzlich unterlassen. Beziehungsweise: Man könne diese Tätigkeit gerne anderen überlassen. Da gibt es Leute, die ein ungleich größeres Publikum erreichen als die Berufshistoriker: Das sind die Romanciers, die ja ohnehin aus dem Fragmentarischen immer ein Ganzes machen können110 (und die besseren Historiker seien ohnehin unbewußte Romanciers).111 Die Autoren von Fernsehdokumentationen, die gerne aus originalen Wochenschauen und nachgestellten Szenen eine neue Vergangenheit zusammenmischen, „Filme, die Geschichte machen“ schaffen, so Frank Schirrmacher zu denjenigen über Albert Speer und Adolf Hitler: „Wenn Kunst etwas Wahres zum Ausdruck bringt, dann könnte es uns möglich sein, Verhaltensweisen und Interaktionen zu verstehen, die kein dem Ende der Relevanzansprüche „das fluktuierende öffentliche Interesse an gewissen Segmenten der Vergangenheit als durchaus hinreichende Orientierung akzeptiert“ (69). 106 Koselleck 1997, 97. – Vgl. Chartier, „Voyage sur le fleuve du temps“, Le Monde vom 12. 9. 2003, in bezug auf Hartog, Régimes d’historicité 2003: „Le régime ancien, dont les racines sont lointaines, définit l’histoire comme magistra vitae […] Comme le note François Hartog: Le topos de l’historia magistra est devenu impossible et l’abandonner n’est pas possible: pas encore.“ Siehe auch Hartog 2009. 107 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, zit. bei Repgen 1996, 174f. 108 Siehe unten nach Anm. 313. 109 Münkler, „Die Welt ist ein sich selbst organisierendes Erregungsmuster“, FAZ vom 23. 7. 2004, zum Buch von Schulz, Geschichte im Zeitalter der Globalisierung. 110 Was aber immer die oft nicht eingelöste Aufgabe des Historikers ist; vgl. Heimpel 1957, 13 (mundus in gutta); gegen den Wert dieser Metapher polemisiert Droysen (Zimmermann 1997, 281). 111 Ermarth 2003 „sucht […] nach alternativen Formen der Darstellung erinnerter Erfahrungen. Die von ihr vorgeschlagene Aufhebung der Grenze zwischen Literatur und Geschichte kann jedoch nicht überzeugen“, so die Rez. von Jordan, HZ 281, 2005, 97f., darin insbes. Teil III: „Inszenierungen von Subjekt und Geschichte in Kunst und Literatur“. – Zur heiklen Frage, wie denn Teil und Ganzes zueinander stehen und vom Historiker überhaupt (nicht) gedacht werden können, s. Oexle, „Der Teil und das Ganze“ 1990/1996. Als Forderung etwa schon bei Humboldt 1821, 586: „Auf verschiedene Weise, aber ebensowohl, als der Dichter, muss er [der Geschichtsschreiber] das zerstreut Gesammelte in sich zu einem Ganzen verarbeiten.“ Auf die Spitze getrieben wurde diese Forderung in der (utopischen) „histoire totale“ der Annales-Schule, s. Hölscher, Neue Annalistik 2003, 39.
2.4 Quantenmechanik und Memorik
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positivistisches Geschichtsbuch uns erklären kann.“112 Die Erfinder von Computerspielen, die ganzen Generationen das Wenige vermitteln, was von vermeintlicher Geschichte nicht totzukriegen ist113; schließlich die Initiatoren von künstlerischen Installationen, die den Gehalt von Geschichte ins Symbol bannen, ja ausdrücklich „fiktive Wissenschaft“ sein wollen: Jochen Geertz, Anne und Patrick Poirier, Ulriche Grossarth, Hanne Darboven, Christian Boltanski.114 Deren aller Werk wird dann wohlgemerkt als „Produktion“ von Geschichte bezeichnet, nicht etwa als deren Wiederentdekkung oder auch nur als beliebiges Spiel mit mehr oder weniger historischen, d. h. hier tatsächlichen Elementen. „Ficht man diese Trennung [von Verifikation und Deutung] an, so vermag man Tatsachen auf ihre Interpretation zu reduzieren. Dann ist es allerdings legitim, auf der einen Seite Tatsachen zu leugnen, auf der anderen Seite alle Interpretationen als gleichwertig anzusehen.“115 Noch deutlicher war Egon Flaig mit folgenden Worten geworden: „Wenn dieses Wissen [das spezifische der Kulturwissenschaft] nicht mehr gilt, vermag niemand mehr mit legitimen Gründen Einspruch gegen das anything goes116 zu erheben“, und weiter: „Man hat das Recht mitzureden, auch wenn man keine Ahnung hat, weil die Skala, auf welcher der Grad der Ignoranz abzulesen ist, nicht mehr gilt.“117 Neidvoll schauen die Fachleute also auf die freien Demiurgen und die ihnen zuteil werdende Aufmerksamkeit und es hilft ihnen nichts, wenn sie 112
Schirrmacher, „Filme, die Geschichte machen“, FAZ vom 22. 6. 2004. Groebner, Mittelalter 2008, 134–137; ders., Vorwärts 2008. Vgl. Dettmar, „Schaffa, schaffa, Palästle baua“, FAZ vom 26. 6. 2009, zum Computerspiel „Anno 1404“; entsprechend gibt es mit Tobias Breiner einen „Professor für virtuelle Realitäten“ an der Fachhochschule Heidelberg (vgl. Breiner 2009). Zur Tendenz: History goes Pop 2009, und der Bericht von Nolte, „Das Mittelalter als Wille und Vorstellung“, FAZ vom 30. 12. 2009 über die von Thomas Martin Buck in Freiburg im Breisgau am 24.–26. 9. 2009 organisierte Tagung zum Thema: „Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme und Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis“, s. auch http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11667; daneben Buck 2008. 114 Siehe in der beigegebenen Bibliographie die Reihe „Von der künstlerischen Produktion der Geschichte“, hrsg. v. Bernhard Jussen am (nun selbst historisch gewordenen) Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen 1997–2004. Jussens loyale Stellungnahme zu meiner Kritik am Sinn des Unternehmen s. in Jussen 1999, „fiktive Wissenschaft“ hier auf S. 13; dazu Flaig (s. die nächste Anm.). Daß Kunstwerke zu Quellen („Zeugen“) werden können, ist davon nicht berührt, s. Roeck 2004. 115 Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 78. Flaigs vehemente Kritik am erkenntnistheoretischen Belang künstlerischen Umgangs mit historischem Material s. in seinen Spuren des Ungeschehenen 1999, doch nur, um den Mangel an Geschichtstheorie bei den Historikern anzuprangern: „Das Defizit äußert sich nun in einer zunehmenden Unfähigkeit, die eigenen forschungspraktischen Operationen auf begründete Weise – ohne Zuhilfenahme institutioneller Macht – zu verteidigen“ (ebd. 22). In dieser Auffassung steht er Goertz nahe (unten Anm. 273). 116 Vgl. oben Anm. 103. 117 Flaig, Spuren des Ungeschehenen 1999, 22. 113
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2. Die Geschichtswissenschaft im erkenntnistheoretischen Dilemma
sagen, sie hätten dieses und jenes schon vor Jahren geschrieben und veröffentlicht. Wer einen lateinischen Satz in der Originalsprache anführt und gar Anmerkungen unter die Seite setzt, außerdem auf Bilder verzichtet, die doch oft nur sich selbst repräsentieren, der wird außerhalb der Universität nicht zur Kenntnis genommen. Wenn es heißt, „Wahrheit und Rhetorik sind nicht unvereinbar. Im Gegenteil vermag literarische Darstellung auch Erkenntnisse zu vermitteln, die ihrerseits in historische Erklärungen Eingang finden können“118, wie lästig, ja überflüssig wird dann diese ewige Anmerkungsschusterei, der Kampf mit den Materialmassen, das Reden erst nach Sichtung aller erreichbaren Quellen. Der große Arno Borst hat dem französischen Historikergott Georges Duby denn auch „la grande sieste“ vorgeworfen, den großen Mittagsschlaf jenes selbstgenügsamen Abgleitens in die wohlformulierte Synthese (und die Popularität des Fernsehens, fügen wir hinzu): „Auch in Paris liebt inzwischen mancher Starhistoriker das Festessen, den Diwan und ‚die große Siesta‘: wer sich um Nachweis und Fußnoten drücken will, setzt flotte Thesen in einen blendenden Bild- oder Essayband.“ 119 In diesem Sinne hat Philippe Corcuff auch mit Jean Baudrillard abgerechnet: „Da nun ‚das Reale nicht mehr möglich ist‘, weshalb dann die schwierigen und mühseligen Erhebungen der Sozialwissenschaften veranstalten, um sich ihm anzunähern? Stil, Intuition, schillernde Metaphern, die mißbräuchliche Verallgemeinerung können sie ersetzen. Was den widersprüchlichen Austausch vernünftiger Argumente betrifft, so erscheint dieser als völlig überholt: Mit welchem Recht unterwürfe man auch ein künstlerisches Genie solch trivialer Prüfung?“120 „Die kulturwissenschaftliche Wende hat die Einsicht durchgesetzt, daß die wissenschaftliche Historie nicht die Lehrmeisterin ist. Sie hat kein Privileg bei den immer neuen Schöpfungen der Vergangenheit“ – schreibt Bernhard Jussen.121 „In demokratischen Gesellschaften kennt der Geschichtsmarkt unübersehbar viele Anbieter. Die Geschichtswissenschaft ist nur einer von ihnen“ – heißt es in der Ankündigung zu Dieter Langewiesches Aufsatzsammlung „Zeitwende“, die 2008 erschienen ist. Die darin enthaltenen Abhandlungen führen dies näher aus. „Die Geschichte gehört also nicht den Historikern. Physiker oder Neurowissenschaftler mögen Monopolisten in ihrem Fachgebiet sein, Historiker sind es nicht. Ein Monopol, Geschichte darzustellen und zu deuten, hat die Ge118
Werner 2000, 138, der indes fortfährt: „unter der einzigen Bedingung freilich, daß die spezifischen Register der Darstellung von Erkenntnis immer getrennt werden“. Vgl. dagegen Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 10: „Die Probleme von Konstruktion, Modellbildung und Kategorien haben mit Rhetorik nichts zu schaffen.“ 119 Borst, „Der Klang der Historie. Die Handwerker der Geschichtswissenschaft“, FAZ vom 16. 3. 1994. Gemeint sind u. a. die bei Skira in Genf verlegten Bücher zur Kunst des Mittelalters. 120 Corcuff, „Jean Baudrillard n’a pas eu lieu“, Le Monde vom 18./19. 3. 2007. 121 Jussen 1999, 9.
2.4 Quantenmechanik und Memorik
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schichtswissenschaft nie besessen, und die universitäre erst recht nicht. Heute existiert ein großer, weit verzweigter Geschichtsmarkt, der unüberschaubar viele Anbieter kennt. Unter ihnen stellen die professionellen Historiker eine kleine Minderheit.“122 Markt interessiert, nicht Wahrheit. „Der Historiker als Dienstleister“ steht an dieser Grenze und will nicht immer wissen, wann er sie überschreitet.123 Die sich selbst in Frage stellende Skepsis geht indes noch tiefer. Bei Jörn Rüsen ist zu lesen, daß „es schwer, wenn nicht unmöglich [ist], die wissenschaftliche Wissensform gegenüber allen anderen Wissensformen mit einem Monopolanspruch oder zumindest aber mit dem Anspruch einer besonderen, ja höheren Qualität von Geltung zu versehen.“124 Das entspricht einem Wort von Max Weber: „Der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes.“ 125 Das sollen die forschenden Historiker sich gefallen lassen? Vielleicht müssen sie es gar nicht. Denn die Leser und mehr und mehr die Betrachter von Geschichte mögen zwar Tarot legen oder an Sternzeichen glauben, Maria Magdalena für eine Geliebte Christi halten und das neueste Gral-Templer-Buch goutieren, sie machen aber den Verzicht auf erforschte Wahrheit, Tatsache, Quelle nicht mit und lassen sich die handgreifliche Wirklichkeit nicht nehmen. Populäre Ausstellungen versprechen Geschichte „hautnah“ und „zum Anfassen“. Ein ehrwürdiges Museum macht mit dem Spruch „Alle Zeiten. Alle Sinne“126 für sich Reklame, wie überhaupt die „Sinne“ zum unentbehrlichen Gerät jeder Werbung geworden sind, auch wenn es sich um die Einladung in einen Bauerngarten handelt. Und kurioserweise sprechen immer mehr Autoren erst einmal ausführlich von sich selbst, denn Subjektivität ist weniger verdächtig als Objektivität.127
3. Wege heraus „Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken“, bemerkte Goethe.128 Es gibt in der Tat einen Trost
122
Langewiesche 2008, 9. Siehe auch ders. 2006/2008. Blasius, „Der Historiker als Dienstleister“, FAZ vom 8. 2. 2010, zum Erlanger „Zentrum für Angewandte Geschichte“ Gregor Schöllgens. 124 Rüsen 2003/2006, 159. 125 Weber 1904/1968, 213. 126 Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. 127 Schöttler 2008, der darin, wenn auch widerwillig, ein Zeichen für die notwendige Selbsthistorisierung der Geschichtswissenschaft sieht. Vgl. Kaube, „Ich sag mal, also ist’s wichtig“, FAZ vom 9. 9. 2008; oder: Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie 2003. Vgl. Reinhard, Pfeife 2005, 5f. und (kritisch) Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 32. 128 Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, Anhang: Betrachtungen. 123
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3. Wege heraus
in dieser aussichtslos erscheinenden Situation: Die Fragen sind nicht neu, fast alle sind sie schon durchdacht und (versuchsweise) beantwortet worden. Wir müssen uns nur daran erinnern. Das sei hier nicht eigens entwickelt, weil Otto Gerhard Oexle diese Arbeit stetig und mit Nachdruck, die Wiederholung nicht scheuend, bereits geleistet hat, in der Historisierung die Auflösung des Problems suchend und immer wieder auf die „Achsenzeit“ moderner Wissenschaft etwa zwischen 1880 und 1932 verweisend, vor dem Hintergrund der alten und neuen Herausforderung durch Methodik und Erkenntnisbegriff der Naturwissenschaften.129 Dabei geht er noch nicht einmal auf die parallele historiographische Krise des 17. Jahrhunderts ein, die mit dem Namen Pierre Bayles verbunden ist und die Peter Burke in Erinnerung gerufen hat.130 Von Kant, Ranke, Nietzsche, Droysen, Max Weber haben wir kurz gesprochen und werden darauf zurückkommen. Die Namen von Georg Simmel, Ernst Troeltsch, Ernst Cassirer seien kurz aufgerufen, Michel Foucault als Schöpfer des „Diskurses“ sei wenigstens erwähnt. Koselleck, Rüsen, Oexle selbst und Wolfgang Reinhard werden weiterhin zu Worte kommen. Schauen wir also, was mit dieser Hilfe und in Kenntnis der „Problemgeschichte“131 aus heutiger, jedenfalls meiner Sicht zu den aufgeworfenen Fragen gesagt werden kann und wohl auch gesagt werden muß. 3.1 Tatsache und Richtigkeit Es geht mir darum, die Grenze zwischen Tatsache und (Re-)Konstruktion, Richtigkeit und Wahrheit, Fakten und Fiktionen neu zu ziehen und den Grenzverlauf in vernünftiger Weise zu revidieren, auch wenn dazu aufgerufen worden ist, zu begreifen, „daß alles Faktische schon Theorie ist“ und dabei übersehen wird, daß Goethe hier die Evidenz des Phänomens meint.132 Günther Patzig hat in der Zunft „methodologischen Masochismus“ diagnostiziert und stellte in bezug auf die „Tatsache“ fest, daß „auch dieser Begriff […] im Zeichen der Methodenhypochondrie unter den Historikern unverdient in Mißkredit geraten“ ist.133
129 Hier sei nur genannt Oexle 2000, 92ff., wieder aufgenommen und vermehrt in Oexle 2003, 7ff. Vgl. unten die Bibliographie. 130 Burke 1994. 131 Siehe unten Anm. 338. 132 Oexle 2000, Eingangsmotto auf S. 87: „Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist.“ Der Text (Goethes Sprüche in Prosa, Nr. 165 = Maximen und Reflexionen, Nr. 488) wird nicht nachgewiesen; er fährt fort: „Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: Sie selbst sind die Lehre.“ Vgl. Daniel 52006, 387: „Tatsachen sind kleine Theorien, und wahre Theorien sind große Tatsachen“ (nach Goodman 1984, 121). 133 Patzig 1977/1980, 76 u. 79.
3.1 Tatsache und Richtigkeit
21
Zunächst sei daran erinnert, daß alle Geschichtsschreibung auf Faktenermittlung beruht und daß der Wahrheitsanspruch beider Operationen nicht der gleiche ist. Die gegenwärtige Kritik richtet sich gar nicht gegen die Tatsachenermittlung, sondern gegen deren Interpretation, bzw. den Stellenwert, den man den Tatsachen einräumt. Es geht in einem ersten Schritt also um Richtigkeit, nicht um Wahrheit. Weiter ist es unzulässig, den Begriff der „Tat-Sache“ schon dadurch delegitimieren zu wollen, daß sie zu Rankes Zeiten eine Tat Gottes war, womit dann nach dem von Nietzsche proklamierten Tod Gottes der Tatsache gleichsam die Existenzberechtigung entzogen worden wäre.134 Das ist ein historiographischer Husarenstreich und ein mißbräuchlicher Etymologismus dazu. An die Stelle der Religion ist die Logik getreten.135 Wir brauchen keine Metaphysik, um einen Apfel für einen Apfel und einen Stuhl für einen Stuhl zu halten.136 „Das römische Reich existierte unabhängig von meiner Erkenntnis; und die gewaltsamen Kaiserwechsel in ihm vollzogen sich unabhängig davon, ob ich sie erforsche oder nicht.“137 Die biblische Frage „Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18, 38) läßt sich zwar nicht eindeutig beantworten138, aber die Historisierung auch dieses Begriffs139 geht daran vorbei, daß ein Kern bleibt, der überzeitlich ist. Nietzsche hat der Historikerzukunft mit der zweiten seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ mit dem Titel „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874)140 und mit späteren Texten so manches beschert, woran sie immer noch zu beißen hat. Seine Kritik an zeitgenössischer Erkenntnisgewißheit und Weltgeschichtsschreibung (Facta! Ja Facta ficta)141 ist erfrischend, aber völlig übertrieben, da er die gänzliche Fiktionalität dessen behauptet, was die Historiker „Geschichte“ nennen. „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, 134 Oexle 2000, 92f., gestützt auf den Art. „Tatsache“ von Halbfass/Simons 1998; Oexle 2003, 24; ders., Quelle 2004, 167 u. 169. Daniel 52006, 383f. kennt diesen Ursprung ebenfalls und weist auf die Verselbständigung, Entzeitlichung und Verdinglichung (auch des Begriffs „Wahrheit“) infolge der Aufklärung hin. Siehe auch Brendecke 2003, 282f. 135 Hardtwig 1996, 43. Vgl. ausführlich zur Geschichte von Begriff und Sache, ganz kantianisch, Konersmann 2006. 136 Dies gegen Oexle, Ranke 2001, 229f. u. 242. 137 Flaig, Spuren des Ungeschehenen 1999, 45. 138 Siehe unten Anm. 230. 139 Siehe oben Anm. 134 und unten Anm. 214 u. 230. 140 Zur Antwort Max Webers auf diese Herausforderung s. Germer 1994, und, immer wieder, Oexle. Siehe auch Müller 2004 in seiner Rez. „Von Fakten und Fiktionen“ 2003: „Vor allem aber sollte man die schlichte Alternative factum vs. fictum allmählich zu den Akten legen.“ 141 Vgl. Goertz 2003, 329: „Die so genannte historische Wirklichkeit ist nicht ein factum, sondern ein fictum, sie entsteht in der Beziehung, die Historiker mit der Sprache zum Material des Vergangenen eingehen.“ Vorlage: Nietzsche, Morgenröte Nr. 307 (S. 1191), zit. u. a. bei Oexle, Ranke 2001, 230.
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3. Wege heraus
kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hatte, daß sie welche sind. Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“142 Wenn Nietzsche, der erste radikale Dekonstruktivist, behauptet, „Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung“ 143, dann „wirkt sich [dies nicht nur] verheerend in der Geschichtswissenschaft aus“144, es gilt auch nur für die Geschichtsschreibung. Nicht mehr magistra, sondern ancilla vitae sei die Geschichte.145 Den höchsten Lebenswert sieht er bekanntlich in der „monumentalen“ Historie, die wir das „kulturelle Gedächtnis“ nennen würden, jedoch eher Geschichtspolitik nennen sollten.146 Diese aber hat mit Geschichtsforschung primär nichts zu tun, ist höchstens deren Gegenstand, nicht deren Vehikel. Die „antiquarische“ Geschichtsschreibung, die in der Vergangenheit gleichsam lebt, hat er radikal abgewertet und die „kritische Geschichtsschreibung“, die älteres Verständnis zerstört, um die Gegenwart frei für ein neues zu machen, ließ er nur stückweise gelten. Ein kluger Beobachter hat übrigens vorgeschlagen, die heutige Geschichtsschreibung als die „zynische“ zu bezeichnen.147 Nietzsches älterer Zeitgenosse Jacob Burckhardt sprach mit Verachtung vom „Tatsachenschutt“, meinte allerdings noch, daß man sich da hindurcharbeiten müsse; Heinrich Heine, der Dichter, erhob sich souverän über die „Schädelstätte der Tatsachen“148 darin ganz Nietzscheaner avant la lettre. Alle haben sie Geschichtsschreibung im Sinn. 142
Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (posthum veröffentlicht), 314. Vgl. Oexle 2000, 93; Ginzburg 2001, 18–26, auch Reents, „Nietzsche als Historiker. Schlaflos“, FAZ vom 18. 2. 2009. 143 Nietzsche, Morgenröte Nr. 307 (S. 1191), zit. von Oexle 2000, 93; Oexle 2003, 9. 144 Flaig 1998, 345. Er fährt fort: „Die Auswirkungen stehen in keinem Verhältnis mehr zur Richtigkeit des Satzes“ (die also anerkannt wird). 145 Koselleck 1997, 92 u. 95. 146 Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 45 u. 46; ders., Ohne Wahrheit 2007, 50f. 147 Jäger, „Erzähl mir was vom guten Krieg“, FAZ vom 6. 9. 2004. Jäger bezieht sich offensichtlich auf Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft von 1983/84. 148 Zit. von Kiesow 2000, 8; dort noch weitere Zitate Heines: Das Volk „verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers“. – Das mag stimmen, hat aber mit der Wahrheitsfrage nichts zu tun bzw. beweist, daß die Wahrheit oft nicht interessiert. Es ist reine „monumentale Geschichtsschreibung“, wie sie der junge Kantorowicz geschrieben hat und von der er sich im Exil gründlich entfernte (vgl. unten vor Anm. 289). Zu Burckhardts gestörtem Verhältnis zur „Zunft“ der Historiker s. Fuhrmann 1991/2001. „Ich rathe ferner zum einfachen Weglassen des bloßen Tatsachenschuttes – nicht aus dem Studium – wohl aber aus der Darstellung“, Burckhardt, Briefe, Bd. 5 (30. 3. 1870 an Bernhard Kugler).
3.1 Tatsache und Richtigkeit
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Es geht aber erst einmal um Tatsachen. „Und wenn es so um den ‚objektiven‘ Inhalt der Geschichte steht, was wird dann aus der geschichtlichen Wahrheit? gibt es eine Wahrheit ohne Richtigkeit?“ So fragte Droysen im Jahre 1882 und antwortete sogleich darauf: „Ein gewisses natürliches Gefühl und die unzweifelhafte Übereinstimmung aller Zeiten sagt uns, daß dem nicht so sei.“149 Ausführlich breitete er eine „Kritik des Richtigen“ aus.150 Der Sündenfall des Positivismus war, daß er die Tatsachenpräsentation über die Historie stellte: Geschichtsschreibung sei Verrat an der Wirklichkeit. Der einflußreiche Paul Fridolin Kehr hat nach 1900 dergleichen bekannt und es deshalb als wahrer „Urkundione“, wie Jacob Burckhardt diese Species nannte, verabscheut, Darstellungen zu verfassen, vielmehr solche, die es doch taten, als „Romanschreiber“ und „Journalisten“ verunglimpft. Aber er hatte doch die Größe, Kantorowicz’ „Friedrich der Zweite“ gelten zu lassen.151 Kehr und seinesgleichen haben in gewissem Sinne sogar recht: Jede Darstellung ist gezwungenermaßen Auswahl. Dahinter steht aber bei ihnen die Illusion, daß der Forscher gerade dadurch die Geschichte besitze, daß er sie nicht schreibt.152 Ich halte es eher mit Reinhart Koselleck im Jahre 1977: „Was die sogenannte reine Tatsachenermittlung betrifft, so ist sie methodisch unerläßlich und sie bewegt sich in Bahnen allgemeiner Überprüfbarkeit. Die historische Methode hat ihre eigene Rationalität. Echtheitsfragen der Urkunden, Datierungen von Dokumenten, Zahlenangaben von Statistiken, Lesarten und Varianten von Texten, deren Herkunft oder Ableitung: all das läßt sich mit gleichsam naturwissenschaftlicher Exaktheit soweit bestimmen, daß die Ergebnisse unbeschadet des Standorts eines Historikers universal kommunikabel und kontrollierbar sind. Dieser, durch Jahrhunderte hindurch erarbeitete, Kanon methodischer Akkuratesse bietet einen festen Gegenhalt gegen beliebige Behauptungen, die mit dem Versicherungsanspruch einer von sich selbst überzeugten Gewißheit auftreten.“153 Auch Jörn Rüsen bekennt, „daß die Historiker in der Lage sind, Wissen über etwas zu produzieren, von dem man mit guten Gründen sagen kann, daß es tatsächlich stattgefunden hat. Professionelle Historikerinnen und Historiker können klare, präzise, ja: objektive Antworten auf die Frage geben, was wann wo wie und warum in der Vergangenheit der Fall war.“ Denn: „Wer will im Ernst bestreiten, daß es 149
Droysen, Grundriß 1882/1977, 419. Droysen, Historik 71972, 122–131. 151 Fleckenstein 1987 (hier 246f.); Esch 1991, 66–75; Fuhrmann, Burckhardt 1991/2001, 265; ders., Kantorowicz 1996, 260; ders., Kehr 1996/2001 (hier 174, 211f.); Walther/Ernst 1998, 220f.; Weiß 2007 (von dem eine Kehr-Biographie zu erwarten ist). – Reichert 2009, 185–188 (hilfreich-verständnisvolle, doch nicht unkritische Haltung von Karl Hampe). 152 Siehe zu Kehr die vorangehende. Anm. und Ernst 1994. 153 Koselleck 1977/1979, 204. Zu Kosellecks historischer Erkenntnistheorie: Historicités 2009 (darin die Beiträge von Jochen Hoock und François Dosse); Daniel 2009 (Ms.). 150
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3. Wege heraus
methodische Verfahren in der Geschichtswissenschaft gibt, mit denen in reflektierbarer, intersubjektiv überprüfbarer und entsprechend geltungsstarker Weise eine erklärende Verknüpfung der kritisch ermittelten Quelleninformationen hergestellt wird? Zur narrativen Synthese von Quelleninformationen wird stets ein den Zeitzusammenhang der Tatsachen betreffendes Wissen verwendet, das mehr oder weniger theorieförmig gefaßt werden kann. Man könnte im Anschluß an Max Weber von idealtypischen Konstrukten oder Wissenselementen sprechen.“154 Ähnlich besänftigende Zeichen hat Lorraine Daston ausgesandt.155 Sie verweist durchaus beruhigend auf die Kraft der wissenschaftlichen Praxis: „Die Unterscheidung von Quellen und Literatur, der Kult des Archivs, das Handwerk der Fußnoten, die sorgfältig erstellte Bibliographie, das intensive und kritische Lesen von Texten, die riesengroße Angst vor Anachronismen – dies sind die Praktiken, die jenseits aller Krise weiterhin ungestört leben und gedeihen.“ „Nicht einmal die wildesten Radikalen vertreten die Ansicht, daß die Fußnote aufzugeben sei.“156 „In der Erforschung der historiographischen Praktiken liegt der Ausweg aus der sterilen und unentscheidbaren Debatte, ob Geschichte eine Wissenschaft oder eine Kunst ist.“ Hölscher spricht davon, daß es „nur jeweils eine einzige historische Realität gibt“: „Andernfalls wäre ein Streit um die Richtigkeit einer historischen Tatsachenbehauptung zwar nicht sinnlos, aber doch ein zweifelhaftes Machtspiel um die gesellschaftliche Deutungshoheit, so wie dies vor allem in der Nachfolge von Foucaults Diskurstheorie heute ja auch vielfach in den Kulturwissenschaften behauptet wird.“157 Gewiß, Tatsachen sind noch nicht Geschichte. „Die erforschte Wahrheit […] ist keine auf den Menschen bezogene Wahrheit: es ist die buchstabenbezogene, auf Einzelheiten gehende Präzision“, schreibt Horst Fuhrmann.158 Paul Ricœur sagt es anders: „Selbst wenn die Tatsachen auch unauslöschlich sind, wenn man nicht rückgängig machen kann, was getan wurde, und das Geschehene nicht ungeschehen machen kann, so ist doch der Sinn dessen, was geschehen ist, keineswegs ein für allemal festgefügt.“159 Aber die kleinere Wahrheit ist die Grundlage der größeren und die Voraussetzung jeder wie auch immer gearteten Interpretation. Ohne Richtigkeit der Fakten keine Wahrheit.160 „Wer viele Akten gelesen hat, besitzt am Ende mehr Wirk154
Rüsen 2005/06, 45, ähnlich 47, und, weiterführend, 48. Daston 2000, 19f. u. 21. 156 Zu „den tragischen Ursprüngen der deutschen Fußnote“ s. Grafton 1995. 157 Hölscher 2007/2009, 68f. Zur „Deutungshoheit“ oben bei Anm. 27. 158 Fuhrmann, Burckhardt 1991/2001, 250f. 159 Ricœur 2000, 445. 160 Vgl. Heimpel 1957, 9f. Er stellt neben die „Richtigkeit“, an die sich auch historische Darstellungen nichtwissenschaflichen Charakters halten können, die Quellengemäßheit. 155
3.1 Tatsache und Richtigkeit
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lichkeit, so lautet, vereinfacht, das Credo jener Historiker, die darauf vertrauen, daß sich in den Quellen die Wirklichkeit abbildet“, höhnt dagegen Jörg Baberowski.161 Aber auch er weiß: „Jede einzelne Aussage einer Geschichte kann wahr sein, und dennoch kann von der Geschichte selbst behauptet werden, daß sie falsch sei.“162 Ohne das „klappernde Knochengerüst purer Faktizität“163 geht es nicht, und jede Verachtung der „Kärrnerarbeit“ „unter Tage“164 ist fehl am Platze: „Die Detailarbeit des Faches trägt ihren Wert in sich selbst.“165 Diesen gilt es anzuerkennen. Wir können gar nicht genug davon haben, um den Einspruch zweifelsfrei ermittelter Tatsachen als Schutzzaun gegen die wechselhaft wuchernden Interpretationen zu stärken.166 Hier ist an Max Webers berühmte Anerkennung der „spezialistischen Leistung“ zu erinnern: „wer […] nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.“167 Wer die Bemühung um Richtigkeit als Positivismus bezeichnen will, soll dies ruhig tun; enthebt er sich jener Arbeit, dann muß er die Zeche zahlen. Marc Bloch wußte noch davon, daß es neben einem „mißverstandenen“ auch einen richtigen Positivismus gibt, und hat Genauigkeit mit methodischer Offenheit verbunden.168 Arno Borst berief sich auf ihn, als er an den Unterschied erinnerte, der zwischen einem Fräser besteht, der mechanische Präzisionsinstrumente benützt, und einem Geigenbauer, der sich vor allem auf die Empfindsamkeit seines Gehörs und seiner 161
Baberowski 2008, 96. Baberowski, „Über die schöne Schwierigkeit, Geschichte zu schreiben“, FAZ vom 29. 7. 2009, erweitert Baberowski 2009, vgl. Kaube 2009. 163 Rüsen 2004/2006, 124. 164 „Arbeit unter der Erde“ und „Bergmannskunst“ schon bei Droysen, Grundriß 426 (Heuristik), nach Barthold Georg Niebuhr. 165 Huizinga 1929/30, 39. Kracauer 1969/2009, 150, ein Verehrer Huizingas, sieht hierfür allerdings nur ein einziges durchschlagendes, theologisches Argument: „daß nichts verloren gehen soll. Es ist, als sollten die tatsachenorientierten Darstellungen Mitleid mit den Toten haben. Dies rechtfertigt die Gestalt des Sammlers.“ 166 Dagegen (und doch nicht unvereinbar) Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 72 Anm. 95: „Der Fortschritt besteht ja nicht in immer größerer Akkumulation von Wissensbeständen, sondern in immer tauglicheren Theorien, um das Gewußte systematisch zu verbinden.“ Ricœur, der die dokumentarische, explikative (Erklären/Verstehen) und kompositorische Ebene (Repräsentation) in der Arbeit des Historikers unterscheidet, räumt Ankersmit 2001 folgend ein, „daß diese großen narrativen Komplexe […] stets einzigartige Werke sind und sich der Falsifizierungslogik entziehen“ (Ricœur 2000, 441); ausführlich Ricœur 2000/2004, 223ff. Ricœurs Aufsatzsammlung „Geschichte und Wahrheit“ (1955/1974) ist durch seine jüngeren Arbeiten überholt. 167 Weber, Wissenschaft als Beruf [1917/1919] 1990, 204. 168 Schöttler 2009, 32 mit Anm. 40, 43 mit Anm. 82, ebd. 46: „Trotz aller Flexibilität blieb Bloch bis zuletzt ein unbeugsamer ‚Realist‘, ein ,Rationalist‘, ja, horribile dictu, ein ,Positivist‘. 162
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3. Wege heraus
Finger verläßt, wenngleich sie beide auf den Millimeter genau arbeiten. Alle wollen Geigenbauer sein, aber „wer den Dilettantismus in der Geschichtsschreibung überwinden und sie zu einer Kunst erheben will, gehe zuerst bei den Fräsern in die Lehre“. Denn „Geschichtsschreibung und Geschichtslehre wirken ohne solide Quellenforschung allenfalls genialisch oder rührend, bleiben aber jedenfalls dilettantisch.“169 Wer schon nicht ein Marc Bloch (oder Arno Borst) sein kann, sollte wenigstens ein sauberer Handwerker sein. Wie Geistesgeschichte aus dem antiquarischen Reflex erneuert werden kann, hat Quentin Skinner eindrücklich bewiesen.170 Es mag hilfreich sein, einige solcher Grundtatsachen zu benennen: Sie gehören einmal dem Lebenslauf an, wie Geburt, Taufe, Hochzeit, Krankheit, Tod und Begräbnis, oder dem Jahreslauf der Jahreszeiten und (Kirchen-)Feste; zum anderen sind es alle Arten von Ereignissen: Sieg und Niederlage, aber auch Unglück und Glück171, Ort und Zeit, Wissen oder Nicht-Wissen, Normen des Rechts oder der Sitte und nicht zu vergessen: der alle Möglichkeiten aufreißende Zufall.172 Oder mit den knappesten Worten Kosellecks: oben/unten, innen/außen, früher/später.173 Wir können mit großer, zuweilen absoluter Sicherheit aufgrund von Hofrechnungen und erhaltenen Originalen sagen, wann, von wo, an wen ein Brief des Herzogs von Burgund geschrieben wurde, welcher Bote ihn auf welchem Wege und in welcher Dringlichkeit beförderte und wann er in wessen Hände kam. Nur den Inhalt wissen wir manchmal nicht, wenn die Texte fehlen und die Rechnungen keine Angabe dazu machen.174 Chronologie lehrt uns, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gewußt werden konnte. Nicht aussagen kann sie, ob post quem ergo propter quem gilt. Aber die Gültigkeit des Kausalitätsprinzips wird von fortschrittlichen Leu-
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Borst, Der Klang der Historie (wie Anm. 119). Siehe Honneth 2009. Eine Auswahl seiner Aufsätze in dt. Übers. erschien soeben: Skinner 2009 (vgl. Bahners, „Dieser Freistaat ist ja eine unmögliche Person“, FAZ vom 20. 7. 2009), dort S. 10 der tröstliche, an einen Buchtitel von Clifford Geertz (Available Light, 2000) anspielende Satz: „Es gibt keinen Mangel an Licht.“ – Ganz anderer Art ist die Wertschätzung, ja „Ehrenrettung“, die Huizinga 1929/30, 13–15 u. 51 der antiquarischen Einstellung entgegenbringt: „eine vollwertige Form des historischen Wissendranges“. Dazu Momigliano 1950 (s. unten Anm. 298). 171 Der Ersatz eines Farbstoffes durch einen anderen kann ganze Landstriche in die Krise stürzen, s. am Beispiel von Waid und Indigo im Laufe des 16. Jahrhunderts Selzer 2008. 172 Zur „retrospektiven Fatalitätsillusion“ (Raymond Aron) s. Ricœur 2000, 446f. Knapp Hoffmann, Zufall 2003, ausführlich ders. 2005. Siehe auch Raphael 2009, 117, demzufolge die Einbeziehung des Zufalls „sicheres intellektuelles Auskommen“ ermöglicht. Ansonsten: Koselleck 1968/1979. 173 Koselleck, „Was sich wiederholt“, FAZ vom 21. 7. 2005, und öfter. 174 Unzählige Beispiele in: Briefwechsel 1995; Comptes de l’Argentier de Charles le Téméraire 2001–2009. 170
3.1 Tatsache und Richtigkeit
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ten ohnehin ganz selbstverständlich über Bord geworfen.175 Andere machen es sich weniger einfach.176 Wie bei dem fiktionalen oder kontrafaktischen Geschichtsversuch (Was wäre, wenn?), ist der zweite Schritt unsicherer als der erste, und der dritte schon ganz und gar unmöglich.177 „Ereignisse und Personen wiederholen sich nie, sie sind und bleiben einmalig. Wohl aber wiederholen sich die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen Personen leben und handeln und unter deren Vorgaben die Geschehnisse sich abwickeln.“178 Dazu kommt, daß ein Faktum selten eine unumstrittene Bedeutung hat, die Deutung ist oft von Anfang an widersprüchlich. Das Beispiel der Jeanne d’Arc zeigt es: War sie eine rückfällige Ketzerin oder eine standhafte Heilige? Beides kann mit plausiblen Argumenten vertreten werden. Allein feststeht, daß sie am 30. Mai 1430 in Rouen verbrannt wurde. Und selbst das wurde nach ihrem Tode noch bestritten.179 Bereits im Jahre 1996 hat der Physiker Alan Sokal in einem absichtlich unsinnigen Artikel, der gleichwohl umstandslos in einem Avantgarde-Journal veröffentlicht wurde, „nachgewiesen“, daß die postmodernen Zweifel an der Existenz objektiver Gegebenheiten auch im Falle der modernen Quantenmechanik bestätigt würden – und sorgte in einem weiteren Artikel in einem anderen Journal dafür, daß der Humbug aufflog.180 Trotzdem dient die Berufung auf die moderne Physik weiterhin als Totschlagargument zur Vernichtung der gebeutelten Objektivität. Die Heisenbergsche Unschärferelation ist ein faszinierendes Ding. Schon Einstein wollte gegen Nils Bohr an
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Oexle, Begriff 2004, 37: „war das Kausalitätsgesetz in seiner klassischen Form, wie Heisenberg ebenfalls 1927 formulierte, ‚gegenstandslos‘ geworden“. Hölscher 2007/2009 bestreitet S. 74 lediglich (wie viele vor ihm) und zu Recht, daß zeitlich Späteres von zeitlich Früherem kausal abhänge. Nähere Klärung ist von den Akten der Tagung „Geschichte und Kausalität als erkenntnistheoretisches Problem“ zu erhoffen, die im Mai 2009 von der Fondation „Pour la science“ und dem Centre international de Synthèse (Paris) unter Leitung von Jochen Hoock in der HAB Wolfenbüttel abgehalten wurde, s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11224 und die folgende Anm. 176 Siehe den Bericht von Hoock über die Tagung „Histoire et Causalité“, 2009, über welche auch Thiel, „Die Formeln der Geschichte“, FAZ vom 20. 5. 2009. 177 Vgl. Demandt 2003, Science & Fiction 2004 (s. Apel, „Über Fakten und Fiktionen hinaus“, FAZ vom 28. 7. 2004), Henriet 2008. Im Sept. 2009 fand im Freiburg Institute for Advanced Studies eine Tagung über „Counterfactual Thinking/Counterfactual Writing“ statt (s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=12242). Den Wert der Anregung, „Ungeschehenes mitzubedenken“, setzt Flaig, Spuren des Ungeschehenen 1999, 48, mit Recht als hoch an, denn es gehe darum, „das Inventar der Differenzen zu erweitern“; vgl. Kosellecks „mögliche Geschichte“ (unten bei Anm. 207). 178 Koselleck 1999, 148. 179 Siehe das Atelier „Recherches récentes sur Jeanne d’Arc“ 2006/07. Zusammenfassend Krumeich 2006, und künftig das von ihm zu erwartende ausführliche Buch. 180 Siehe Augstein, „Auf den Leim gegangen“, FAZ vom 28. 8. 1996; Sokal/Bricmont 1997 (engl. 1998, dt. 1999). Vgl. Reinhard, Pfeife 2005, 13.
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der Realität der beobachteten Welt festhalten; das trug ihm den Vorwurf des Altersstarrsinns ein – den man auch in der hier behandelten Frage riskieren muß.181 Denn was erlaubt uns, allem Gerede vom „Laboratorium“ ungeachtet, von der experimentellen Versuchsanlage auf historische Sachverhalte zu schließen? Schon Heisenberg hatte einen „praktischen Realismus“ von einem „dogmatischen“ unterschieden und hatte dem praktischen eingeräumt, daß es „Feststellungen gibt, die objektiviert werden können, und daß tatsächlich der größte Teil unserer Erfahrungen im täglichen Leben“ aus solchen Feststellungen bestehe; er sei „immer eine wesentliche Grundlage für die Naturwissenschaften gewesen“, und er werde es auch „in Zukunft bleiben“.182 Handelt es sich etwa um eine neue Fiktion? Die Gegenstände sind hartnäckig.183 Die Tendenz beginnt indes sich wieder zu drehen. „Man weiß doch ganz genau, daß ein geschichtswissenschaftliches Konstrukt keine Erfindung ist“, schrieb bereits 1999 Bernhard Jussen184 und räumte ein: „Es führt nicht weit, den Glauben an die historische Tatsache in den Orkus der Wissenschaftsgeschichte zu werfen, […] das Problem der Objektivität werden wir nicht los.“185 In der Zeitschrift Merkur wurde 2005 intensiv nach der „Realität“ gefragt, ja deren Existenz behauptet, was kritische Leute gleich wieder als unzulässige „neue Sehnsucht nach Wirklichkeit“ angeprangert haben.186
181 Kumar 2009; vgl. de Padova, „Schwierigkeiten mit der Quantenwelt“, FAZ vom 14. 10. 2009; auch von Rauchhaupt, „Die Welträtsellöser machen mobil“, FAZ vom 10. 12. 2009. Vgl. Oexle, Begriff 2004, 39f. 182 Oexle, Begriff 2004, 401, nach Heisenberg [1959] 31978, 67; 72007, 118. 183 Vgl. Nortmann 2008, 3–7, und Kap. 19, 21, 34; Espagnat 2006 ruft (in seinem Vorwort u. ö.) indes mit Nachdruck zur Integration der physikalischen Erkenntnisse in die allgemeine Erkenntnistheorie auf, insbesondere zur Unterscheidung von „ontological“ oder „mind independent“ und „empirical reality“, wobei immerhin konzediert wird, daß es die „seiende Wirklichkeit“ gibt. „But such great moves take much time (one or two centuries in general).“ Darauf wiederum das Echo von Fried, Pakt von Canossa 2008, 133: „bedarf es vermutlich eines generationenlangen Umdenkens, eines Einübens in einen neuen Denkstil.“ 184 Jussen 1999, 8 (in direkter Auseinandersetzung mit meinem Aufsatz von 1998). Er fährt aber fort: „Denn man hat die Kategorie der ‚historischen Tatsache‘ nicht deshalb eliminiert, um sie durch Kategorien wie ‚Phantasie‘ oder ,Dichtung‘ zu ersetzen. Eher trägt man der Annahme Rechnung, daß geschichtswissenschaftliche Arbeit […] nicht Fund ist, sondern Befund, also die Herstellung von Zusammenhängen. Befunde aber sind Deutungen (oder Konstruktionen), keine Tatsachen.“ Damit steht er wieder auf der konstruktivistischen Seite. Vgl. Koselleck 1999, 147: Die (mit der Geschichtsschreibung vergleichbare) Karikatur „zeigt Vorgegebenes, aber das Vorgegebene neu. Insofern verbleibt sie im Umkreis der alten ‚inventio‘, die findet aber nicht erfindet, auch kein ungewohnter Ratschlag an den zünftigen Historiker.“ 185 Jussen 1999, 10. 186 „Wege in die Realität“ = Merkur 59, 2005, hier bes. die Beiträge von Willaschek (vgl. unten Anm. 362), Gerhardt, Seel u. Nolte (S. 890: „eine Wiedergewinnung der Realität [steht] auf der Agenda“, und S. 898: „Es gibt also viele gute Gründe, das Koordinaten-
3.1 Tatsache und Richtigkeit
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Im Jahre 2008 hieß es, daß man die Obsession der Form aufgeben und sich eher um Evidenz und Wahrheit kümmern solle.187 „Sehnsucht nach Evidenz“ ist das Thema eines 2009 erschienen Heftes der Zeitschrift für Kulturwissenschaften188, während Ende 2008 in Wien „Der Einbruch des Realen“ besprochen wurde189. Carlo Ginzburg zeigte im Jahre 2001, „daß (a) der Beweis in der Vergangenheit ein vollgültiger Teil der Rhetorik war, und (b) diese heute vergessene Selbstverständlichkeit eine Vorstellung von der Arbeitsweise der Historiker […] impliziert, die sehr viel realistischer und komplexer ist als die gegenwärtig modische Auffassung.“190 Im Jahre 2007 schrieb Lucian Hölscher: „Entgegen manchen konstruktivistischen Theorien soll hier die These vertreten und begründet werden, daß wir für den historischen Nachweis realer Personen und Ereignisse das Konzept einer einheitlichen Wirklichkeit benötigen“; er redet von der „Vorfindlichkeit von Tatbeständen, die schon vor unserer Kenntnisnahme existierten und von uns nur gefunden wurden“.191 Auffälligerweise wird in jüngster Zeit auf mehreren Kolloquien die Frage nach der Evidenz gestellt: „Doch was kommt nach der Erkenntnis, daß es Diskurse sind, die über Wahrnehmung von Dingen und Sachverhalten entscheiden?“, wird da gefragt, und man erklärt zum Anliegen, „sich der Frage zu widmen, ob es nach den Jahrzehnten der Dekonstruktion möglich ist, eine eigenständige Dynamik von Dingen und Situationen wissenschaftlich zu denken“.192 Hans Ulrich Gumbrecht und Henning system ein Stück weit von den Repräsentationen zu Realität zu verschieben“). Vgl.: Imagination und Illusion. Verschleierungen und Verblendungen in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Tagung des Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg SFB 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“, veranstaltet v. Rudolf Schlögl u. Christopher Möllmann, Konstanz, 4.–6. Mai 2006. Bericht: Andreas Rosenfelder, „Paradigmenwechselbad“, FAZ vom 9. 5. 2006: „Der Exodus aus den großen Theoriegebäuden hat längst begonnen – wo er hinführt, ist noch offen“; „die neue Sehnsucht nach Realität“ als „intellektuelle Stimmung“. Weiterer Bericht von Möllmann (http://www.ahf.muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/2006/ 123-06.pdf). 187 Day 2008, 230: „It has been suggested [by the author] that this obsession with form be dropped, and replaced with a concern with evidence and truth.“ 188 Siehe http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/zeitschriften/id=422. 189 Tagung veranstaltet vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften, s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=10496. Auch die Akten der Tagung „What (Good) is Historical Epistemology?“, die vom 24.–26. 7. 2008 im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zu Berlin stattfand, sind noch unveröffentlicht. 190 Ginzburg 2001, 11. 191 Hölscher 2007/2009, 68f. 192 Bericht von Schaper-Rinkel über die Wiener Tagung vom 23.–25. 10. 2008, „Was zeigt sich? Evidenz in den Kulturwissenschaften“, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=2329. „Evidenz“ war das Thema des Herbstprogramms 2008/09 des Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, dem noch weitere Tagungen gewidmet waren, „Die Unanschaulichkeit der Geschichte“ (s. http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/termine/id=10020, und Felsch, „Nur wer nicht dabei gewesen ist,
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Ritter bemerken „die deutliche Tendenz in der Philosophie unserer jüngsten Gegenwart […], sich erneut dem Anspruch von Wirklichkeitsreferenz und Wahrheitsbegriffen auszusetzen“, und vermuten, daß hierfür Ursache war der „Prestigeverlust einer Philosophie, die sich zeitweilig von der Realität freigesetzt hatte und so allein abgeleitete Probleme verfolgte, deren Relevanz höchstens eingeweihten philosophischen Parteigängern nachvollziehbar war“.193 Das läßt sich auf die Geschichtswissenschaft übersetzten. Michael Borgolte konstatiert denn auch: „Keineswegs naiv, sondern philosophisch geschult drängen begabte Studierende über den Relativismus historischer Erkenntnis hinaus, um bei aller Erinnerungskritik anhand der Überlieferung doch zu ‚Tatsachen‘-Aussagen vorzustoßen“194 – Wer hätte das gedacht, möchte man da ausrufen und freut sich über die Rückkehr des Gewohnten, wenngleich auf vorgeblich höherer Ebene. Plötzlich kann in einem „fulgor veritatis“ also die Maske der Ereignisse fallen und die unmittelbare Anschauung möglich werden.195 Das sind „die bedeutenden Augenblicke und vorherbestimmten Stunden, da uns aus dem vielleicht längst zu Gebote Stehenden und vermeintlich längst Bekannten eine plötzliche Intuition aufgeht“.196 „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter“ (und nicht nur diesem) treten hervor, wie sie Arnold Esch erzählt hat.197 Hierzu zwei Beispiele aus eigenem Erleben: Waren an den Wänden des Königsberger Doms Ordensritter dargestellt oder fremde „Kriegsgäste“? Nach langem Suchen verbanden sich plötzlich die Wappen hier mit den Wappen in einem niederländischen Heroldsbuch dort: Es waren die gleichen, aus derselben Zeit vom Ende des 14. Jahrhunderts, womit der
kann mitreden“, FAZ vom 5. 6. 2008), sowie „Schauplätze der Evidenz: Ludwig Fleck und die Kulturwissenschaften“, Wien, 4.–5. 6. 2009 (s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/termine/id=11581). Vgl. Evidentia 2007, dazu die Rez. von Fischel, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-255. Im Zentrum „Geschichte des Wissens“ (Universität Zürich und ETH Zürich) fand im Herbst 2009 eine Vorlesungsreihe mit dem Thema „Auferstehung der Evidenz“ statt; s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ termine/id=12185: „Warum, so fragen wir, reden plötzlich so viele wieder von der neuen Unmittelbarkeit? Woher rührt die Müdigkeit an Reflexion und der Verdacht, kritische Diskursanalyse zersetze nur alles?“ In München und Tübingen wird ein DFG-Schwerpunktprogramm „Wissenschaft und Öffentlichkeit: Das Verständnis fragiler und konfligierender wissenschaftlicher Evidenz“ betrieben, s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/chancen/type=stellen&id=3940. Siehe auch oben Anm. 188 und unten 219 und 275 (Evidenz als Beweis bei Droysen). 193 Gumbrecht/Ritter, „Philosophische Derivate. Zur Sache“, FAZ vom 14. 10. 2009. 194 Borgolte, „Mittelalter für die Schule“, FAZ vom 25. 8. 2008. 195 Die zunächst religiös gedachte Metapher wurde von Guillaume de Saint-Thierry († 1148/49) geprägt, s. Haas 2007, hier 83. 196 Burckhardt, Studium 1982, 252, Z. 23–25. 197 Esch 2010, nach den Suppliken kleiner Leute, an die päpstliche Pönitentiarie gerichtet. Daß diese auf Begnadigung zielenden Texte ebenso wie Gnadenbriefe überhaupt einer besonderen Quellenkritik bedürfen, liegt auf der Hand.
3.2 Quelle
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Charakter der Ausmalung der Laienkirche als Erinnerungsort für die Teilnahme des europäischen Adels an den Litauerkämpfen des Deutschen Ordens ein für allemal feststand.198 Ähnliches begegnete mir, als ich den Reisebericht des schwäbischen Ritters Georg von Ehingen mit der Chronik des burgundischen Hofhistoriographen Georges Chastellain verglich: An einer gewissen Stelle stimmte der Inhalt beider Texte derart überein, daß ich, obwohl sein Name nicht genannt wird, plötzlich den schwäbischen Ritter in Valenciennes aus einem Fenster schauen sah, geschwächt noch nach langem Fieber, im Gespräch mit dem Herzog von Burgund.199 Aber auch hier ist selbstkritische Vorsicht geboten: Jede Generation geht von dem aus, was sie sieht: den weißen Marmor der antiken Statuen, deren Farbe Wind und Wetter der Jahrhunderte nicht widerstanden hat, oder Michelangelos bewunderungswürdiges Sfumato, solange die Fresken der Sixtinische Kapelle nicht gereinigt waren. Besonders hinderlich sind ungeprüfte Prämissen, gefolgt vom Zeitgeist der „Wünschbarkeiten“ Jacob Burckhardts und den falschen Selbstverständlichkeiten, die stets der Epoche des Betrachters angehören. Sie sind eine ständige Gefahr, selbst für die Tatsachenermittlung, und viel mehr noch für die Tatsachenverwertung. 3.2 Quelle Tatsachen werden aus Quellen ermittelt. Wie sehr Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung von ihren realen Quellen abhängig sind, wurde der deutschen Öffentlichkeit plötzlich wieder bewußt, als im März des Jahres 2009 das riesige Kölner Stadtarchiv in die große Grube stürzte. Es gab heftiges Entsetzen, weil vor Augen stand, daß Vergangenheit, eben noch vermeintlich sicher zur Verfügung gehalten, unwiederbringlich verlorengehen kann. Was in Köln schließlich nur zum geringsten Teile geschah200, hat sich anderswo ereignet, in Paris 1737 und erneut 1870, in Hamburg 1842, in Ypern im Ersten Weltkrieg, in Middelburg auf Walcheren, Abbéville an der Somme, Tournai und Mons, Hannover und Neapel im Zweiten. Das gegenwärtige Erwachen ist desto bemerkenswerter, als üblicherweise das „Archiv“ als verstaubter Unort galt und mit Desinteresse bestraft wurde. Erst in den letzten Jahren ist darin eine Änderung eingetreten.201 Was war denn neu an Ranke gewesen? Daß er einer Art von Geschichtsschreibung, die im Kern literarisch war und am liebsten erzählenden Quel198
Paravicini 1989 u. 1990. Paravicini 2000. 200 Die Zeitschrift „Geschichte in Köln“ hat ihr 56. Heft (2009) dem Vorfall gewidmet. 201 So gibt es ein Graduiertenkolleg „Archiv – Macht – Wissen“ in Bielefeld, das im Januar 2009 eine Tagung zum paradoxen Thema „Archive Vergessen. Räume des Verlusts“ veranstaltet hat, s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2545, jetzt nachzulesen in Heft 52 der Zeitschrift „WerkstattGeschichte“. 199
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len folgte, die Absage erteilte und den Primat den kritisch beurteilten Archivalien zusprach, auch wenn er den Kreis seiner Quellen viel enger zog, als wir es heute tun, wo schlichtweg alles zur Quelle wird, die Fiktionen eingeschlossen, und besonders diese. Das ist so modern, daß Ranke fast als postpostmoderne Referenz dienen kann.202 Denn lange galt die deutsche Geschichtsschreibung als stocktrocken und ungenießbar. Jetzt hat sie das Schreiben gelernt, aber den Ernst der Quellenstudien verloren oder, genauer gesagt, in den Hintergrund getrieben und akademisch abgewertet. Zwei der besten Federn des 20. Jahrhunderts, Hermann Heimpel und Arno Borst, sind im Alter zu gewaltigen Werken reiner Gelehrsamkeit und Edition zurückgekehrt – nicht aus konzeptueller Schwäche, sondern weil sie den Sachen auf den Grund gehen und der vergangenen Wirklichkeit nahekommen wollten. Das elegante Aperçu, die leichtfertig-schnittige These hatten sie satt.203 Arnold Esch hat uns bewußt gemacht, daß nicht nur das zufällige Überlieferungsschicksal, sondern auch die Überlieferungschance bestimmt, was uns an Archivmaterial erhalten ist – auf Dauer gestellte Grundstücksgeschäfte sind prinzipiell besser bewahrt worden als etwa ein Brief, Skandale besser als der ruhige Fluß alltäglichen Lebens.204 Er fragte vor zehn Jahren: „Was also bedeutet dem Historiker der Umgang mit seinen Quellen?“ Seine Antwort lautete: „Er bedeutet ihm alles.“ Er bezeichnet Edition und Quellenerschließung als „Grundlagenwissenschaft“ der Historiker.205 Jüngere Leute206 aber fragen weiter, was dies denn heißen solle, und mahnen eine Beschäftigung mit den „konstruktivistischen Aspekten der ‚Quelle‘ “ an, darin mit Reinhart Koselleck einig, der gesagt hatte: „Das, was eine Geschichte zur Geschichte macht, ist nie allein aus den Quellen ableitbar: es bedarf einer Theorie möglicher Geschichten, um Quellen überhaupt erst zum Sprechen zu bringen.“207 In der Tat: Die Theorie des Geschichtsverlaufs, ob unbewußt oder ausgesprochen, bedingt die Auswahl der Quellen und deren Interpretation. 202
So schon Demandt 1996, 14f. („der nachgeholte Vorsprung der Rückständigkeit“), von Oexle, Ranke 2001, 243 streng kritisiert. 203 Borst 2009, 53: „Allerdings mußte ich den bisherigen Weg von Einzelstudien zu Gesamtdarstellungen verlassen und von der großen Geste zum genauen Blick zurückfinden.“ 204 Esch 1985/1994. Vgl. Droysen, Grundriß 1882/1977, 446 § 89: „Die Darlegung des Erforschten wird in dem Maße richtiger sein, als sie sich ebenso dessen bewußt ist, was sie nicht weiß, als dessen, was sie weiß.“ Im Institut Français d’Histoire en Allemagne zu Frankfurt am Main fand im November 2009 eine Tagung „Das Schweigen der Quellen / Le silence des sources“ statt (s. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/ id=12500). 205 Esch 1999, 129, 147. 206 Rathmann/Wegmann 2004, 23f., 30f. 207 Koselleck 1977/1979, 206; ders. 2001, 260.
3.2 Quelle
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Es ist aber kein Zufall, daß die Rede von der „Memorik“ mit ihrer fundamentalen Quellenskepsis aufgrund der Struktur des menschlichen Gedächtnisses aus dem hohen Mittelalter entwickelt wurde, genauer: aus dem Vorakten-Zeitalter. Es fehlt dort in der Regel die Möglichkeit der Gegenprobe, weil so wenig Quellen erhalten sind, weil sie zerstört sind, vor allem aber weil sie im Zeitalter des gesprochenen Wortes und der Gesten nie entstanden. Wie Egon Flaig beobachtet hat: „Es ist geradezu prosopographisch aufweisbar, daß der Dekonstruktionismus desto weniger Fuß faßt, je eher Historiker auf außerliterarische Dokumente angewiesen sind.“208 Deren Reichtum nimmt im Laufe der nachantiken Jahrhunderte zu, hier früher (in England, in Italien), dort später (im nordalpinen Reich und seinen Nachbarn). Einem Spätmittelalter-Historiker würde man es nicht durchgehen lassen, daß er ganze Welten aus nur einer Quelle aufbaut, der Chronik des Lambert von Ardres etwa oder der gereimten Lebensbeschreibung des Guillaume le Maréchal: Georges Duby hat die strenge Welt seiner Dissertation über den Mâconnais verlassen und ist nie mehr in sie zurückgekehrt.209 Ich höre noch das Urteil Jean Schneiders, das der große alte Mann von Nancy in einem Gespräch über den sechzehn Jahre jüngeren Duby fällte: „Une déception“, eine Enttäuschung. Auf gleicher Augenhöhe ist Arno Borst den anderen Weg gegangen. Seine monumentalen Arbeiten zu Zeit und Kalender in der Karolingerzeit legen davon Zeugnis ab. Es bleibt bei der Forderung Léopold Genicots, daß erst nach möglichst vollständiger Materialsammlung das Schreiben begonnen und nach langer Reife abgeschlossen werden dürfe: „Man sollte die Geduld und die Weisheit haben, ein erstes Mal zu redigieren, und danach alle Zeugnisse erneut durchzugehen und dann alles umzuschreiben. Wenn man denselben Gegenstand in zwei oder drei Seminaren im Abstand von einigen Jahren behandelt, bemerkt man den Fortschritt, der sich von einem zum anderen Mal einstellt.“210 Die Neigung zur Statistik mag als überwundene Stufe der französischen Annales-Schule gelten und das Publizieren um jeden Preis ist inzwischen zur akademischen Überlebenstechnik geworden, verstärkt durch eine Politik des ratings, die nur zählen kann und nicht mehr wiegen. Wer aber über Genicots Rat den Kopf schüttelt, der muß sich fragen lassen, was aus seinem Wissenschaftsideal geworden ist. Reinhart Koselleck nun hat der Quelle jede aktive Kraft abgesprochen und ihr lediglich eine reaktive zuerkannt. „Erst wenn wir ein Archivstück befragen, wird aus dem Archivstück eine Quelle. […] Dann erst fängt es zu sprechen an, oder wie die Metapher lautet, fängt es an zu fließen. Und die
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Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 44. Siehe zu Duby Oexle 1981; Seischab 2004 u. 2005. Mâconnais: Duby 1953. Lambert d’Ardres: 1964. Guillaume le Maréchal: 1984. – Ironische Bemerkungen bei Martin 1987, 22–24 u. 27. 210 Genicot 1980, 113. 209
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Quelle fließt immer aufs neue, wenn wir sie erneut befragen. Durch keinen Gebrauch kann sie, wie Hans-Georg Gadamer einmal sagte, verunreinigt werden.“211 Von Koselleck stammt ein Wort, das, laufend zitiert, zur erkenntnistheoretischen Grundausstattung der Historiker geworden ist: „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht.“212 So im Jahre 1977. 1982 lautet es: „Jede historische Theorie, jede Hypothese oder Konjektur muß sich der prüfenden Instanz unterwerfen, die mit der Selbstaussage einer Quelle vorgegeben ist. Quellen haben ein Vetorecht. Der Historiker kann nicht behaupten was er will, da er beweispflichtig bleibt. Seine Beweise kann er nur den Quellen entnehmen, ohne die er vieles, gegen die er aber gar nichts sagen kann. In der Quellenkontrolle liegt die Bedingung wissenschaftlicher Objektivität beschlossen.“213 Das „Vetorecht der Quellen“ erwähnt Koselleck auch im Jahre 2003 und erläutert es: „Die Quellen sagen uns zwar nie, was wir sagen sollen, wohl aber hindern sie uns, Aussagen zu riskieren, die der Quellenbefund nicht zuläßt, die er schlicht als falsch ausschließt.“ Es gehe aber nicht um wahr und falsch, sondern um richtig oder falsch: Die Richtigkeit läßt sich verifizieren, die Wahrheit nicht.214 Die Quellen haben also ein Vetorecht. Ist „Veto“ alles, was die Quellen sagen? Schweigt die Quelle wirklich? Koselleck sagt: „In dem Archivale ist die Vergangenheit zwar gegenwärtig, aber stumm, sie schlummert, ist aber nicht tot.“215 Da lebt also noch etwas, ein Dornröschen im gläsernen Sarg.216 211 Koselleck 1982, 29, s. Gadamer 21965, 474: „… daß nämlich Quellen durch ihre Benutzung durchaus nicht trüb werden müssen. In der Quellen strömt immer frisches Wasser nach …“. Vgl. Rüsen, Historik II, 1986, 90: „… der Informationsfluß und die Wissenschöpfung der Forschung werden grundsätzlich von den leitenden Gesichtspunkten der Bedeutungsverleihung bestimmt, mit denen der Forscher fragend an die Quellen herantritt. Seine Fragen präformieren die Antwort der Quellen.“ Vgl.: „Würde die Geschichtswissenschaft sich ausschließlich als ein Unternehmen verstehen, in dem es darum geht aus dem, was von der menschlichen Vergangenheit empirisch übrig geblieben ist (aus den Quellen also), Informationen darüber zu gewinnen, was in der Vergangenheit tatsächlich der Fall war, dann wäre sie genau in der Weise sinnlos, wie sich die Tatsachen einer Geschichte als sinnlos ausnehmen, wenn man sie isoliert von dem narrativen Zusammenhang für sich betrachtet, in dem sie unter sinnbildenden Ideen mit bedeutungsverleihenden Normen stehen.“ (Rüsen, Historik I, 1983, 97). Vgl. Fulbrook 2002, 104–106. 212 Koselleck 1977/1979, 106. 213 Koselleck 1982, 34. 214 Koselleck 2003, 12. Dagegen jedoch Epple 2007, 180 Anm. 22: „Die Falsifizierbarkeit unterliegt ebenfalls der Historizität und ist insofern nicht mit dem Popperschen Kriterium von Wissenschaftlichkeit gleichzusetzen“; vgl. oben Anm. 3. 215 Koselleck 1982, 30. 216 Lebloser: Droysen, Grundriß 1882/1977, 422 § 6: „Jeder Punkt in dieser Gegenwart ist ein gewordener. Was er war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. Aber nur ideell, erloschene Züge, latente Scheine; ungewußt sind
3.2 Quelle
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Kann man es wachküssen? Schreit nicht der jüdische Grabstein aus der Treppe, in der er nach dem Pogrom zur Stufe geworden war, wohnt ihm nicht eine Evidenz inne, sofern man nur die Schrift, die Sprache, das historische Umfeld kennt? Gab es nicht im Nationalarchiv zu Paris die „Armoire de Fer“, die die kostbarsten Stücke der französischen Nationalgeschichte in sich versammelte und besonders schützte? Redet die Quelle also doch? Man hat dies vehement bestritten.217 Daß dem nicht so sei, ist allgemeiner Konsens der Zunft. Unlängst218 gab mir G. Ulrich Großmann auf meine Frage die Antwort: „Die Dokumente sprechen nicht, sie antworten nur.“ Großmann ist immerhin Direktor des Germanischen Nationalmuseums, des größten kulturhistorischen Museums in Deutschland, wo das originale Erbe von Jahrhunderten deutschsprachiger Geschichte aufbewahrt wird. Wer, wenn nicht einer wie er, sollte eine hohe Meinung von der Quelle, hier dem musealen Ausstellungsstück haben?219 Man muß indes weiter fragen: Welche Qualität erlaubt es dem Dokument, eine Antwort zu geben? Die „Aura“ des Originals teilt sich nur dem Wissenden mit. Auf die anderen wirken, wenn es hoch kommt, Goldglanz und enormes Alter. Man frage die Kinder: Ihnen als den unwissend Neugeborenen ist fast alles gleichgültig, was da aus Jahrhunderten vor ihre Augen tritt. Arthur Schopenhauer forderte: „Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses selbst nicht anzureden: denn da würde er nur sich selber vernehmen.“220 Da könnten wir lange warten: Die Quellen sprechen nicht von selbst. Aber die Frage erschafft die Quellen auch nicht, denn sie mußten schon dasein, wenn überhaupt die Möglichkeit bestehen soll, etwas auszusagen. Die Behauptung der Kreation ist nichts anderes als eine unzulässige Metapher. Quellen werden nicht geschaffen, sondern ausgesie, als wären sie nicht da.“ Hingegen ganz tot: Becker 1926/1955, 332: „the facts lying dead in the records“. 217 Vgl. Westerkamp 2007, 104f.: „die Vorstellung einer sich von selbst zeigenden, idealerweise unverstellt und unverhüllt greifbaren Wahrheit [ist] in der Moderne endgültig revidiert worden“; er ist sich sicher, „daß nach dem Abschied von der metaphysischen Idee der nackten Wahrheit auch das positivistische Gegenideal der nackten Tatsachen nicht mehr zu halten ist“. 218 Nürnberg, 24. April 2009. 219 Trotz des Titels „Das Exponat als historisches Zeugnis“ bzw. „Zeugnisse der Geschichte“ stellt der Direktor des Deutschen Historischen Museums Berlin, Hans Ottomeyer, die Frage nach dem Quellenwert des ausgestellten Objekts nicht eigens, macht aber deutlich, daß Ästhetisierung und die Isolation vom Überlieferungszusammenhang dem Objekt das meiste seiner Aussagefähigkeit nehmen (Ottomeyer 2009). Zum Problem macht den Zusammenhang das Projekt „Wissen & Museum: Archiv – Exponat – Evidenz“, das 2009 in Tübingen aufgenommen wurde, s. http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/projekte/id=345. 220 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 1949, 464f. (3. Buch, Kap. 34), zit. von Kracauer 1969/2009, 96f.
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3. Wege heraus
wählt. Man kann sie zu Gruppen zusammentreiben, zählen, werten, nach etwas befragen, was fern jeglicher Absicht ihrer Autoren lag. Der schöpferische Prozeß liegt in dieser Auswahl aus dem Vorhandenen und in der Einordnung in den chronologischen, ökonomischen, sozialen, symbolischen Zusammenhang.221 Die Zahl der Fragemöglichkeiten ist unendlich, doch ist kein Element der Antwort erfunden. Mit Nachdruck beteuert sogar Otto Gerhard Oexle, „Historische Erkenntnis ist […] empirisch.“222 Um welche Art von Empirie geht es da? Kommt die Wirklichkeit durch die Hintertür wieder herein? Die oben erwähnten jungen Leute machen sich schon Gedanken, wie es ohne Quellen weitergehen könnte223: „Noch ist eine Geisteswissenschaft, die ihr Wissen nicht primär auf Quellen stützt, schwer vorstellbar. Das wäre dann vielleicht ein Fach, in dem ein quellengestützter Forschungsstil ersetzt wird durch eine ‚Fanprosa‘, die ihr Wissen nur noch mit der gesteigerten persönlichen Anteilnahme an einem Phänomen begründet bzw. motiviert.“ Offensichtlich glauben sie nicht an diese Zukunft, und wir tun es mit ihnen. Lorraine Daston weist jedoch gleichfalls darauf hin, daß es eine Zeit vor der Objektivität gegeben hat und fragt deshalb, ob es nicht auch eine Zeit danach geben könne, in der man das Objektivitätsgebot aufgebe, „so wie unsere Vorfahren einst das göttliche Recht der Könige stürzten“.224 Wie gefährlich dergleichen historisierende Denkspiele sind, zeigt das Schicksal der Geschichtswissenschaft in Diktaturen. Denn dort war und ist Parteilichkeit eine Tugend. Wie dem auch sei, das Pendel schlägt schon längst zurück: Da ist vom „Charisma der Dinge“ die Rede und der „Macht des Realen“, auch von notwendigen „Gegenentwürfe[n] zu den Theorie-Routinen von Konstruktion und Kontingenz“.225 Der Internationale Kunsthistorikerkongreß des Jahres 2012, der in Nürnberg am Germanischen Nationalmuseum stattfindet, wird unter dem Motto stehen „The Challenge of the Object“. Erneut möchte man „Ach!“ ausrufen. Ihr wollt die Gegenstände neu entdecken, die Euch herausfordern, sich geradezu in den Weg stellen auf der luftigen Route der Bildtheorien?226 Hatten wir nicht geglaubt, daß ihr zu nichts anderem da 221
Vgl. Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 58: „Wenn Erkennen hieße, objektive Tatsachen abzubilden, dann versänke der Historiker in einem Wust von bedeutungslosem Schutt, welchen zu ordnen er außerstande wäre, da ihm die Kriterien fehlten.“ 222 Oexle, Ranke 2001, 232f. 223 Rathmann/Wegmann 2004, 23 Anm. 16. 224 Daston 2000, 24. Vgl. zur Historisierung des Begriffs, der von Genauigkeit und Wahrheit zu unterscheiden sei, Daston 1998, 30–38. Ausführlich: Daston/Galison 2007. 225 Griem, „Zerfallskontrolleure der bürgerlichen Wissensbestände“, FAZ vom 10. 2. 2010, zur Tagung „Wie viel Kultursoziologie brauchen die Geisteswissenschaften“ im Freiburg Institute for Advanced Studies. 226 Zu diesen unlängst der Band „Kompetenzen der Bilder“ 2009. Vgl. Gross, „Philosophie des Visuellen“, FAZ vom 16. 9. 2009. Zur neuen „primacy of the object“ s. Bynum
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seid, als um diese Objekte zu betrachten und gleichsam in sie hineinzuhorchen daraufhin, was sie sagen wollen? Nein, zugegeben, sie sagen nichts, aber sie sind vorhanden und warten im Museum darauf, daß sie jemand zum Sprechen bringt. Vor ihnen und nichts anderem müßt ihr Euch bewähren. Und vielleicht werdet ihr beobachten, wie der seit der Krise der Historienmalerei um 1900227 verschwundene Realismus wiedergekehrt ist, z. B. in Werner Tübkes Bauernkriegspanorama von 1976–1987 zu Frankenhausen in Thüringen, oder in der neuen Begeisterung für Lawrence Alma-Tadema und Paul Delaroche. 3.3 Wahrheit Erneut muß an den Unterschied von Richtigkeit und Wahrheit erinnert werden. Wir dürfen, müssen vom Historiker (im Unterschied zum Romancier) Richtigkeit verlangen, etwa in der Chronologie.228 „Es gibt Richtigkeitsgrade historischer Feststellung, über die endgültig entschieden werden kann. Der Streit über ‚Objektivität‘ gewinnt seine Brisanz erst dort“, schreibt Reinhart Koselleck, „wo eine ‚Tatsache‘ in den Kontext geschichtlicher Urteilsbildung einrückt.“229 Das ist dann die Domäne der Wahrheit oder Wahrhaftigkeit. Dürfen wir auch sie vom Historiker fordern? Wir müssen es, fragt sich nur, ob er sie liefern kann, bzw. welche Art von Wahrheit ihm gemäß ist. Was ist Wahrheit (Joh. 18, 38)? Lange Zeit hat man angenommen, sie sei adaequatio intellectus et rei, die Übereinstimmung von Urteil und Sache. Jetzt werden eher Kriterien wie Kohärenz, Korrespondenz und Evidenz angelegt, um sie zu konstatieren.230 Für andere ist wahr lediglich, was jemand oder eine Gruppe für wahr hält.231 Dirk Westerkamp konstruiert sogar ein „konvergenztheoretisches Modell“ der Wahrheit in den Kulturwissenschaf2009, 74, 77 und 78–80. Im Oktober 2009 fand an der Universität der Künste zu Berlin eine Tagung statt mit dem Titel „Objektgeschichte als Menschenwissenschaft. Dinge – Materialität – Kultur“, s. den Bericht von Stefanie Johnen, http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2935. 227 Freundlicher Hinweis von Stephan Selzer, Hamburg, vom 2. 10. 2009. Siehe Heinig 2004. 228 Geyer, „Lügen, ohne zu täuschen“, FAZ vom 14. 2. 2007, Rez. v. Frankfurt 2007. 229 Koselleck 1977/1979, 204. Vgl. Rüsen, Historik II, 1986, 109: die Quelle hat „eine Einspruchsfunktion dort, wo die Plausibilität einer Geschichte mit der Richtigkeit der in ihr behaupteten Tatsachen steht und fällt. […] Dieses Urteil ist unerbittlich, da keine Geschichte wissenschaftlich bestehen kann, deren Tatsachengehalt dubios ist.“ 230 Damerau 2003, bes. 69–120. Gloy 2004, hier 46–59 der Exkurs „Wahrheit und Geschichte“: „Die einmal entdeckte Historizität der Wahrheit läßt keinen Ausweg ins Ungeschichtliche mehr offen und entlarvt jeden Versuch dieser Art als unkritische Verallgemeinerung einer historisch bedingten Wertung“ (ebd. 58); Szaif 2005. 231 „Gérard Noiriel définit ainsi la vérité en histoire non comme un absolu, mais comme ce qui est reconnu comme vrai par une communauté de spécialistes.“ Offenstadt, „Le chercheur dans la cité“, Le Monde vom 12. 9. 2003, Rez. von Noiriel 2003.
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ten, nachdem er ganz richtig festgestellt hat, daß das Wahrheitsproblem darin eine „eigentümlich marginale Rolle“ gespielt habe und die herrschende methodische Beliebigkeit deren Substanz angreife.232 Gibt es keine Wahrheit an sich? Als Idee schon, angewandt auf konkrete Sachverhalte nicht: Diese Hoffnung müssen wir aufgeben. Der „Abschied von der nackten Wahrheit“ ist vollzogen.233 Der Weg führt von der Richtigkeit der Einzeltatsache zur Wahrheit des Gesamtzusammenhangs. Den aber zu erkennen ist schwierig, weil Fakten neuer Ordnung sich davor stellen: das Geglaubte, das Vergessene, das Erinnerte. Die Aufdeckung der Parallelität von Geschichtsforschung und erinnerter Geschichte, von histoire et mémoire, von forschungsferner Geschichtskultur und der Geschichtsschreibung der Experten ist ein Gewinn.234 Die Geschichtswissenschaft hat sich damit einen ganzen neuen Kontinent erobert. Aber sie darf vor Freude über diese (Neu-)Entdeckung des Nachlebens als Gedächtnisgeschichte235 weder die Gefahr einer Metaphorisierung von Erinnerung verkennen, die authentischer als die Geschichte wird236, noch vergessen, ja gleichsam leugnen, daß es je ein Leben gab. Und sie muß sich bewußt sein, daß Forschen und Gedenken nicht dasselbe wollen, auch wenn sie sich gegenseitig unablässig beeinflussen: Hier geht es um Wahrheit, dort um Identität und rechtes Leben.237 Wird nicht achtgegeben, tötet die ausufernd emotionale Geschichtspolitik die rationale Geschichtsforschung, weil keiner sich mehr für sie interessiert.238 Ist die Wahrheit der Historiker „wahrer“ als diejenige der Dichter und Künstler? „ ‚Der freischaffende Schriftsteller‘ hat seinem Publikum nicht selten mehr zu sagen als der Berufshistoriker“, sagt Horst Fuhrmann, fügt aber listig hinzu: „zumindest sagt er ihm mehr zu.“239 Oder ist es umgekehrt, wie 232
Westerkamp 2007, Zitat 79. Westerkamp 2007, 104, nach Konersmann 2006, 380–399. 234 Grundlegend hierzu das Werk von Paul Ricœur, zuletzt ausführlich Ricœur 2000/2004, knapp zusammengefaßt in Ricœur 2000. Vgl. Hölscher, Semantik der Leere 2009. 235 Vgl. Oexle, Die Memoria der Reformation 2009, 57, unter Berufung auf Jan Assmann; hier S. 54 die Zurückweisung meiner Kritik an der alles beherrschenden Stellung der Memoriaforschung (wozu Flaig, Spuren des Ungeschehenen 1999, 20: „Brei der Mémoire“); ebenfalls auf S. 57 das Diktum: „… erweist sich der Streit um das bloße ,Wie es eigentlich gewesen‘ als unergiebig, wenn gedächtnisgeschichtliche Fragestellungen und Befunde außer acht bleiben.“ 236 Nolte 2005, 895. Vgl. Gantet 2001. 237 Diese Unterscheidung machte Falke, „Tafeln liest niemand mehr“, FAZ vom 2. 2. 2005. 238 Siehe das Interview mit Hoog in Le Monde vom 24. 10. 2009: „L’histoire est scientifique, la mémoire est politique, le souvenir est privé.“ – „Le couple identité-mémoire fondé sur l’émotion a pris le pas sur le couple identité-histoire fondé sur la raison, créant un rapport de doute, d’interrogation sur ce que nous sommes.“ Notwendige Folge im Internetzeitalter: „L’oubli est nécessaire“. 239 Fuhrmann, Golo Mann 1995/2001, 144. 233
3.3 Wahrheit
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Aristoteles meinte? „Die Dichtung ist etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als die Geschichtsschreibung, die Dichtung teilt Allgemeines, die Geschichtsschreibung Besonderes mit.“240 Ich vermag historische Romane241 nur selten mit Freude zu lesen, weil sie in der Regel vor Anachronismen wimmeln. „Irgendwo hapert’s mit der Güte dieser Ware. Diese Güte hängt ab von dem einen, sehr bestimmten Kriterium, das wir immer voraussetzen: dem aufrichtigen Bedürfnis, ‚Wahrheit‘ zu geben, so gut als die Wissenschaft sie fassen kann.“ Im selben Text wird Huizinga noch anschaulicher: „Der wirklich historische Geist […] reagiert auf diese ganze Gattung negativ. Aus denselben Gründen, aus denen ein Weinkenner gepanschten Wein verabscheut. Er spürt die Verfälschung heraus. Kein literarischer Effekt von der Welt kann ihm den reinen kühlen Geschmack der Historie ersetzen. Trocken will er sie nicht, wohl aber à sec.“242 Und doch notierte Reinhart Koselleck: „Kleists Verlobung in San Domingo – ersetzt tausend Aktenbände“, und bezeichnet die Novelle als „eine Liebesgeschichte, in deren symbolischen Konfliktlagen die gesamte Französische Revolution enthalten ist“. Er bedauerte auch den Verlust der erfundenen Reden des Thukydides in der modernen Geschichtsschreibung, die historische Erfahrungen unnachahmlich verdichten.243 Darin ist er sich mit Thomas Mann einig, der von Schillers Wallenstein sagte: „Historische und psychologische Intuition sind da der sich nachschleppenden Quellenforschung, die sie nur bestätigen kann, kühn und sicher voraus gewesen.“ An diesem Beispiel empfinde man, „daß die Aufgabe, die ein Historiker sich stellt: zu zeigen ‚wie es in Wirklichkeit gewesen‘244, was wenigstes das innerlichst Menschliche angeht doch eben dem Dichter vorbehalten bleibt.“245 Offensichtlich kann trotz mangelnder Richtigkeit im Detail beim Romancier eine tiefere oder höhere Wahrheit entstehen, die dem Historiker durchaus
240
Vgl. Aristoteles, Poetik, 1451b. Dazu unter Hinweis auf ganz andersartige Aussagen in Aristoteles’ Rhetorik Ginzburg 2001, 47–62. 241 Holzner 2003. 242 Huizinga 1929/1930, 41 u. 45. 243 Koselleck 2003, 14; ders. 2001, 265f. Vgl. Ginzburg 2001, 33 u. 103–120 am Beispiel Flauberts. Auch Kleist war ein Erkenntnisskeptiker: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün“; vgl. Košebuba, „Zeigen die Augen uns die Dinge, wie sie sind?, FAZ vom 14. 9. 2008. Der Wahrheit der Literatur hat Damerau 2003 eine eingehende Studie gewidmet. 244 Ranke schrieb: „eigentlich gewesen“ (oben Anm. 18). 245 Zit. von Walther, Fernes Kampfgetümmel 1992, 19. Vgl. Lämmert (Germanist) 1997 über die Wallenstein-Bücher des Historikers Josef Pekař (1895/1937), des HistorikerRomanciers Golo Mann (1971) und des Romanciers Alfred Döblin (1920); die Frage des Ranges wird hier indes nicht gestellt. Thomas Mann ist darin, wie auch sonst, ganz „goethisch“.
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neue Sichtweisen eröffnet.246 Aber es könnte auch und eher sein, daß das „innerlichst Menschliche“ nichts anderes ist als unsere jeweilige Befindlichkeit, die, in die Vergangenheit projektiert, uns die Freude des Wiedererkennens vorgaukelt. „Alle echte Überlieferung ist auf den ersten Anblick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist. Sie kündet die Anschauungen und Interessen ihrer Zeit für ihre Zeit und kömmt uns gar nicht entgegen, während das modern Unechte auf uns berechnet, daher pikant und entgegenkommend gemacht ist. Der historische Roman, den so viele Leute für Geschichte lesen, die nur ein wenig arrangiert, aber im Wesentlichen wahr sei“, so, treffend wie stets, Jacob Burckhardt.247 Und Droysen bemerkt: „Wäre die psychologische Interpretation die wesentliche Aufgabe des Historikers, so würde Shakespeare der größte Historiker sein. Wie verfährt er? Er nimmt sich aus Plutarch, Boccaccio, aus der englischen Chronik von Holinshed oder woher sonst eine Geschichte, die ihm paßt, und dramatisiert sie.“248 Oder Huizinga über das „historische Erbauungsbuch“: „Für Künstler, die pfeifend ihre höchsten Werke schufen, ersinnt es tragische Seelenkonflikte.“249 Was Wahrheit in der Geschichtsschreibung aber bedeutet, hat eindrucksvoll Wilhelm von Humboldt 1821 beschrieben: „Die Wahrheit des Geschehenen scheint wohl einfach, ist aber das Höchste, was gedacht werden kann. Denn wenn sie ganz errungen würde, so läge in ihr enthüllt, was alles Wirkliche, als eine nothwendige Kette, bedingt.“250 Ganz so hoch greift Paul Ricœur nicht mehr, aber immerhin geht es ihm zufolge um das Selbstverständnis einer ganzen Epoche, wenn über die Wahrheit in der Geschichte diskutiert wird.251 Wer eine „beobachterunabhängige Realität“ postuliere, argumentiere nicht mehr auf der Höhe der Zeit, so Marie Theres Fögen im Jahre 2006.252 246
So wies mich eine an sich unwahrscheinliche Liebesvermutung in Werner Bergengruens Roman aus dem Jahre 1930 auf den gestörten Gefühlhaushalt Herzog Karls des Kühnen hin, s. Paravicini 1976. Wenn es um fleißige Lektüre geht, dann hat ohnehin Flaubert Theodor Mommsen geschlagen: Mommsen las für seine Römische Geschichte, so hat man berechnet, etwa 500 Werke, Flaubert für seinen Karthago-Roman „Salammbô“ 1600. 247 Burckhardt, Studium 1982, 250. Oder auch, schon 1842: „Summa summarum, der Historiker steht in diesem Augenblick schief mit dem Publikum und muß es entweder mit demselben oder mit der Wahrheit verderben“; zit. bei Hardtwig 1996, 30, nach Burckhardt, Briefe, Bd. 1, 1949, 197. 248 Droysen, Historik 71972, 174; s. auch 273. 249 Huizinga 1929/30, 42. 250 Humboldt 1821, 587. 251 „C’est […] l’auto-compréhension de toute une époque que se joue à l’occasion du débat autour de la vérité en histoire.“ Ricœur 2000, 743. 252 Marie Theres Fögen auf der Tagung „Imagination und Illusion. Verschleierungen und Verblendungen in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften“, veranstaltet vom Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg SFB 485 „Norm und Symbol. Die kul-
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Manchmal ist es aber notwendig, unzeitgemäße Betrachtungen anzustellen. Mutig tut dies Jens Nordalm (im Jahre 1969 geboren, also kein älterer Herr wie ich), der „einige Zweifel am Methodendiskurs in den Geschichtswissenschaften“ anmeldet und zustimmend Erich Marks aus dem Jahre 1896 zitiert, der damals in Sachen Lamprecht-Streit an Friedrich Meinecke schrieb: Er finde am Ende immer, „daß die Methoden-Rederei mir nichts Neues gesagt hat und Alles entweder eigensinnig zugespitzt oder so ist, wie es vorher war“.253 Nordalm genügt es, mit Droysen „forschend zu verstehen“.254 Er fragt „nach dem Verhältnis von theoretischer Präzision und praktischem Ertrag“255 und stellt fest: „Die Bindung an einen theoretisch-methodologisch begründeten ,Forschungsansatz‘ birgt die Gefahr einerseits einer Blickverengung, andererseits der Neu-Erfindung des Rades.“256 Hans-Ulrich Wehler, von der Höhe seiner vielbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte blikkend, wirft offen den Fehdehandschuh in den Ring: „Wie wäre es mit einem konkreten Stück Kittsteinersche [sic] Kulturgeschichte, auf der Höhe des gegenwärtigen Reflexionsniveaus selbstredend und geschichtsphilosophisch vom Meister selber inszeniert, damit man endlich einmal, über den postulatorischen Duktus hinaus, in einen Leistungsvergleich eintreten könnte? Soviel Siegesgewißheit müßte doch eigentlich zur Probe aufs Exempel reizen.“ Hier sei eine Beobachtung Hegels angefügt257: „Die Engländer und Franzosen wissen im allgemeinen, wie man Geschichte schreiben müsse, sie stehen mehr auf der Stufe allgemeiner und nationeller [sic] Bildung; bei uns klügelt sich jeder eine Eigentümlichkeit aus, und statt Geschichte zu schreiben, bestreben wir uns immer zu suchen, wie Geschichte geschrieben werden müsse.“258 Otto Gerhard Oexle, der trotz seiner fundamentalen Beiträge zur historischen Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts offensichtlich als Mediävist gilt und deshalb weitgehend ignoriert werden kann, wird von Nordalm nicht zitiert, und das gilt mit geringen Ausnahmen für den gesamten Band, in dem sein Beitrag erschienen ist.259 Unkonventionell zu sein war und ist auch stets das Anliegen des Freiburger Frühneuzeithistorikers Wolfgang Reinhard, der unlängst bekannte, er als „eine Art von Dekonstruktivist“ habe es für „seine Berufspflicht als
turelle Dimension sozialer und politischer Integration“, durch Rudolf Schlögl und Christopher Möllmann, Konstanz, 4.–6. 5. 2006, nach dem Bericht von Möllmann, http://www. ahf.muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/2006/123-06.pdf. 253 Nordalm 2007, 285. Zum Lamprecht-Streit s. Chickering 1993, 108–283. 254 Nordalm 2007, 286. 255 Ebd. 291. 256 Ebd. 294. 257 Zitiert bei Walther, Fernes Kampfgetümmel 1992, 39 Anm. 34. 258 Wehler 2000, 127. 259 Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 2007. Steter, wenngleich kritischer Bezug indes in den Arbeiten von Flaig.
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Historiker“ gehalten, „an alle Aussagen über die Welt und die Menschen unnachsichtig immer wieder dieselbe Frage zu stellen: Und wie verhält es sich in Wirklichkeit?“260 – ein wahrlich rankeanischer Reflex.261 Reinhard ist denn auch der Autor eines Aufsatzes mit dem beziehungsreichen Titel: „Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife“. Der spielt auf René Magrittes berühmtes Pfeifenbild von ca. 1926 an, auf dem zu lesen steht „Ceci n’est pas une pipe“, dies ist keine Pfeife, was eben wahr und falsch zugleich ist.262 Darin weist Reinhard einen unverbesserlichen Symbolisten, der einer im Text auftauchenden „geistlichen Krone“ allerlei Deutungen angedeihen ließ, darauf hin, daß mit der corona clericalis schlicht die Tonsur gemeint war.263 Flaig nennt das die „Verkennung der Differenz zwischen Pragmatik und Semiotik“ oder auch „die Leugnung der objektiven Realität“264 – wir können es auch ungestraft als Ignoranz bezeichnen. Reinhard zufolge „kann es jenes so vorläufige wie zerbrechliche Gebilde geben, das man historische Wahrheit nennt“.265 Mit ihm könnte ich sagen: „Ich wende mich nur gegen den […] aktuellen Reduktionismus mit seinem wissenschaftsimperialistischen Anspruch auf Deutungshoheit.“266 Und ebenso: „Ich schlage vor, bei dieser Unterscheidung [von Wirklichem und Möglichem] zu bleiben und weiter darauf zu bestehen, daß es historische Wirklichkeit gibt und daß diese nicht auf Bedeutungen beschränkt werden darf, die Menschen der Vergangenheit wirklich oder angeblich ihrer Welt gegeben haben.“267 Egon Flaig, der muntere Spielverderber, plädiert längst dafür, „daß auch die Geschichtswissenschaft eine Wahrheit annehmen muß, die sich auf eine äußere, objektive Realität bezieht“268 – auf einer Tagung mit dem trotz aller Abgeschmacktheit des Chiasmus sprechenden Titel „Wahre Geschichte – Geschichte als Ware“269. So vertraut er klingt, ist dies der Ton eines neuen 260
Reinhard, Replik 2008, 89. Vgl. Hirschi, „Endlich mal ein Symposion ohne Pfeifen und trübe Tassen“, FAZ vom 3. 11. 2008. 261 Vgl. Koselleck, Über Krisenerfahrung 2005: „… ich kann nur sagen, daß die Hauptaufgabe des Historikers ist, zunächst einmal davon auszugehen, daß immer alles anders war als gesagt. Und diese Regel trifft fast immer zu. Die zweite Regel ist, daß immer alles immer anders ist als gedacht.“ 262 Reinhard, Pfeife 2005. Reinhard bezieht sich auf Robert W. Scribner und dieser auf Michel Foucault („Dies ist keine Pfeife“, 1973). Das Bild ist im Grunde nichts anderes als eine Darstellung des Kreterdilemmas (oben Anm. 9). 263 Reinhard, Pfeife 2005, 9f. 264 Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 37. 265 Reinhard, Geschichte als Delegitimation 2003, mit geringfügigen Kürzungen schon in der FAZ vom 26. 11. 2001. 266 Reinhard, Pfeife 2005, 2. 267 Ebd. 12. 268 Flaig 2007. 269 In Greifswald, Untertitel: Die Verantwortung des Historikers gegenüber Wissenschaft und Gesellschaft 2007; vgl. den Bericht von Fischer und Terberger, http://www.ahf. muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/2006/026-06.pdf.
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turn, genauer, eines return, einer Rückkehr zur Selbstverständlichkeit. Selbst Michel Foucault hat gegen Ende seines Lebens ein Bekenntnis, wenn nicht der Wahrheit, so doch zu Wahrheiten abgegeben.270 Allerdings spricht Flaig auch vom Generationenproblem in der Sicht auf diese Dinge. „Die drohende Wissensentwertung ist der schlimmste, existentielle Feind etablierter Wissenschaftler.“271 Ältere bekämpfen neues Wissen, um weiterhin das Sagen zu haben. Dieser Versuchung gilt es zu widerstehen. Im Grunde handelt es sich um den alten Streit zwischen den mittelalterlichen Realisten (Begriffe haben ihre Entsprechung in der Wirklichkeit) und den Nominalisten (Begriffe sind keine Abbilder von Wirklichkeit, sondern lediglich Interpretamente).272 „Das ist die Position eines Realismus, der zwischen Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt trennt und der wissenschaftstheoretisch eigentlich überwunden ist, die Praxis der Historiker aber noch beherrscht“, schreibt bedauernd Hans-Jürgen Goertz.273 In der Tat, alle moderne Wissenschaft ist nominalistisch274, aber das muß nicht stets so bleiben. Hören wir noch einmal Droysen: „Endlich die Hypothese, die Voraussetzung eines Zusammenhangs, für den dann die Evidenz der Beweis ist. Solche Hypothese ergibt sich dem Forschenden aus einer freien und großen Gesamtauffassung, aus der heraus er den Kreis der Möglichkeiten oder den einer erklärenden Möglichkeit entwickelt und versucht, ob die Fragmente, die noch vorhanden sind [!], in diese hypothetische Linie sich einfügen.“275 Daß die Hypothese verifiziert werden muß, liegt auf der Hand, und das erwähnte „Vetorecht“ der Quellen spielt hier seine richterliche Rolle. Unnachahmlich hat Karl Lamprecht diese Erweckung des Lazarus beschrieben:
270
Foucault, Le courage de la vérité [1983/1984] 2009, s. Gehrting, „Einer, der die Dinge zurechtrückt und im richtigen Moment interveniert“, FAZ vom 20. 11. 2009, und, anläßlich der deutschen Übersetzung von 2010, Altweg, „Fortan wird er die Wahrheit sagen“, FAZ vom 12. 2. 2009; hier geht es um die Parrhesia, das Recht, die Wahrheit zu sagen. Veyne, „Une conception nouvelle de la vérité“, Le Monde vom 19./20. 9. 2004, hatte im übrigen schon zurechtgerückt, daß „Foucault ne pretendait pas réduire le réel à des discours, mais rappeler que pour nous ce réel est toujours déjà ensablé dans un discours“; sein Skeptizismus bezieht sich lediglich auf die Wahrheit. 271 Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 30. 272 Diese Erinnerung bei Boockmann 1995, 507. Auch Huizinga 1929/30, 10f. sprach davon. 273 Goertz 2003, 329, der noch zwischen einem „naiven“ und einem „reflektierten“ Realismus unterscheidet, wobei er bei letztem davon überzeugt ist, „daß die Subjektivität des Erkennenden das Objekt selber durchsetzt und im Grunde schon verändert, bevor es erkannt wird.“ Ausführlicher Goertz 2001, z. B. 112 oder 114: „es wird aber unumgänglich sein, sich die erkenntnistheoretische Rückständigkeit einzugestehen und nach Wegen zu suchen, auf denen Begriffe, Theorien und Konzepte eine zeitgemäße, modernere Gestalt als bisher erhalten. Mit alten, abgenutzten Werkzeugen läßt sich Geschichte nicht neu schreiben.“ Vgl. Flaig (Anm. 108). 274 Vgl. Oexle, Ranke 2001, 242 mit Anm. 87. 275 Droysen, Historik 71972, 88.
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3. Wege heraus
„Der Historiker muß der Vergangenheit Gegenwart einhauchen können gleich Ezechiel dem Propheten: er schreitet durch ein Gefilde voller Totengebeine, aber hinter ihm rauscht erwachendes Leben.“276 Wenn nicht alles täuscht, wird die „Wahrheit“ und ihr Troß demnächst zur neuesten Mode werden. Im Jahre 2007 bekannte die überaus intellektuelle Zeitschrift „Tumult“ ihren „Hunger auf Wirklichkeit“ nach all den Jahren der Auszehrung; Wirklichkeit solle gegen das Virtuelle rehabilitiert werden.277 Man staunt. Weshalb dauert es so lange, bis die Stimme der Vernunft wieder gehört wird? 3.4 Phantasie Es bleibt die Frage, woher der Historiker die Einsicht und die Kraft nimmt, um aus dem Angebot der Quellen, die er selbst gesammelt hat, ein Ganzes zu machen.278 Genau diese heikle Operation hat ehemals die HandwerkerHistoriker in Rage gebracht, denn hier kommt die Phantasie ins Spiel. Es ist eine überflüssige Konfrontation. Schon der bedeutende belgische Historiker Henri Pirenne (1862–1935) hat die Phantasie als unabdingbare Qualität des Historikers gefordert. Ein Schüler erinnert sich an eine seiner Übungen zu Karl dem Großen: „Ein junger ‚Herr‘, dick, blond, pretentiös, dessen Namen ich nie erfahren habe, hatte sich an diesem Tage als freier Zuhörer eingefunden. Wir bemerkten sofort, daß er Pirenne ebenso reizte wie uns. Pirenne, überaus höflich, empfing ihn indes sehr freundlich. Ich hatte an diesem Tag die Aufgabe, mehrere Kapitel von Einhards Karlsvita zu übersetzen, zu erklären und zu kommentieren und war an der Stelle angelangt, wo die äußere Erscheinung des Kaisers beschrieben wird. Unvermittelt unterbrach mich Pirenne: ‚Ja, so ist es: groß, sehr korpulent, aber mit einer dünnen Stimme; sportlich, ein großer Schwimmer …‘ Dann, direkt an mich gewandt: ‚Alles in allem, wenn Sie eine solche Passage lesen, sehen Sie den Kaiser vor sich?‘ – Ich antwortete ohne zu zögern […]: ‚Aber ja, sicher, Herr Professor, und mir kommt es so vor, als könnte er gerade diese Tür öffnen und zu uns hereinkommen.‘ – Eine vielleicht etwas schlichte Antwort und sicherlich sehr romantisch; aber sie versetzte Pirenne in gute Laune. Hinter meinem Rücken, ohne daß ich es bemerkt hätte, gab der dicke Snob, der freie Zuhörer heftige Zeichen der Mißbilligung. Pirenne wandte sich in seine Richtung: ‚Und Sie, mein Herr?‘ ‚Ich, nein, niemals, Herr Professor, ich werde mich davor hüten, denn das ist nicht wissenschaftlich!‘ – Stille trat ein. Pirenne schien zu träumen, dann, langsam: ‚Ja, vielleicht, wahrscheinlich haben Sie recht, das ist nicht wissenschaftlich!‘ Dann, plötzlich, mit klarer, direkter, aggressiver Stimme: ‚Aber Sie sollten wissen, daß Sie ohne Vorstellungs-
276
Lamprecht, Paralipomena 1910, 4, hier zit. nach Rüsen 2004/2006, 124. Ezechiel = Hesekiel, 1, 1: „Im dreißigsten Jahr, am fünften Tag des vierten Monats, da ich war unter den Gefangenen am Wasser Chebar, tat sich der Himmel auf, und Gott zeigte mir Gesichte“. 277 „Gesichtermoden“ 2007, die Rez. von Encke, „Bootswechsel“, FAZ vom 7. 2. 2007, insbes. zum Vorwort der Herausgeber Frank Böckelmann und Walter Seitter. 278 Vgl. oben Anm. 111.
3.4 Phantasie
45
kraft (imagination) nie ein wirklicher Historiker sein werden!‘. – Dann, nach einer Pause: ‚Nun, meine Herren, fahren wir fort!‘ “279
Der Historiker muß sich also Vorgänge und Situationen vorstellen können, er muß Hypothesen aufstellen, wie es gewesen sein könnte, und die springen einem nur dann entgegen, wenn man die notwendige Imagination besitzt. Aber was, wenn die Phantasie die Zügel abstreift und zum Pegasus der Dichtung wird und den Historiker zum Grenzgänger macht, der desto mehr in den Anachronismus versinkt, je weiter er sich vom sicheren Ufer der Quellenbelege entfernt? Als deklariertes Gedankenexperiment ist die historische Collage durchaus erlaubt, die Lücken der Überlieferung durch andere zeitgenössische Versatzstücke schließt.280 Wenn aber Alfred Döblin in seinem „Wallenstein durch seine „,Tatsachenphantasie‘ erst […] die Geschichte so erscheinen [läßt], ‚wie es gewesen‘, und […] auch denen [den kleinen Leuten] fortdauernde Lebendigkeit [gibt], denen der an seine schriftlichen Dokumente gebundene Historiker sie im Detail versagen muß“, dann sind wir im Bereich der Dichtung, die Tatsachen nicht erforscht, sondern arrangiert.281 Der Vorwurf der imagination créatrice, den Albert Brackmann ehemals gegen den jungen Ernst Kantorowicz erhob, nachdem dieser im Jahre 1927 seine stimmungsvolle Schau Kaiser Friedrichs des Zweiten ganz im erhabenen Stil Stefan Georges veröffentlicht hatte282, war berechtigt, auch wenn Kantorowicz darauf mit réalisme destructeur antwortete. Daß Brack279
Berben 1987, 133. Siehe künftig die Akten der Tagung „Henri Pirenne (1862–1935): un historien belge face au développement des sciences sociales et historiques“, veranstaltet von den Universitäten Brüssel und Gent am 27./28. 3. 2009, Bericht: http://geschichtetransnational.clio-online.net/tagungsberichte/id=2634; bereits Boone 2008. 280 Fried, Ein Gastmahl Karls des Großen 2007; Paravicini, Gruppe und Person 1998; ders., Gaston Fébus en Prusse 2008, auch ders., Ein Gegenstand beginnt zu sprechen (im Druck). Bei Heimpel 1957, 9, der schöne Satz: „Die Sprachkunst gibt eine Chance, die richtige Anschauung der Dinge zu bereichern durch die rechte Benutzung des Unbeglaubigten“. 281 Vgl. Lämmert 1997, 581, auch oben Anm. 245. 282 Die Rezension von Brackmann, die Entgegnung von Kantorowicz, die Replik von Brackmann in der HZ von 1929–1930 sind mit anderen Texten der Diskussion nachgedruckt im Band: Stupor Mundi 1966. Siehe weiter Grünewald 1994 zu und mit Kantorowicz 1930 auf dem Historikertag zu Halle an der Saale; Fuhrmann, Kantorowicz 1996; Oexle, Das Mittelalter als Waffe 1996/97 (ausführlich zur Zeitgenossenschaft); Grünewald 1997 mit seiner Edition von Kantorowicz’ „Antrittsvorlesung“ von 1933/1997, die zeigt, in welch (heute) schwer erträglichem Maße der junge Kantorowicz der Geschichtsmystik des „Geheimen Deutschland“ Georges verhaftet war, das er hier unausgesprochen, aber wohl verstanden, gegen das aufsteigende Nazitum wandte (dazu Ernst 1996; Raulff/Näfelt 2008); Grünewald 1997 zur Rezeption des Buches in der zeitgenössischen Presse. Zum Erzählstil: Orłowski 1996; zur Bildhaftigkeit Kittsteiner 1998 (der S. 16 Brackmann einen „schon etwas altbackenen Historisten“ nennt und Kantorowicz als „erkenntnistheoretisch auf der Höhe der Zeit“ bezeichnet); zur „Mythenschau“ Mali 1998; zur Modernität des frühen und vor allem des späten Kantorowicz s. Ernst 1998 und Raulff 2009, 322–346; zur „Erkenntnistheorie“ des Georgekreises Schönhärl 2009.
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3. Wege heraus
mann später mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, darf nicht dazu herhalten, seine Kritik für unzulässig zu halten283, was sich schon daran zeigt, daß dieselbe Kontroverse vor fünfzehn Jahren zwischen Gerd Althoff und Johannes Fried284 und jüngst auch zwischen Fried und Sylvain Gouguenheim wieder auflebte, in deren Zusammenhang Fried den „Neopositivismus“ als ein Glaubenspostulat bezeichnete, ohne sich zu fragen, ob dies nicht auch für die Gegenposition gilt.285 Brackmann jedenfalls hat die hellsichtige Frage aufgeworfen, ob Kantorowicz „am Ende seiner Entwicklung bei Stefan George oder bei Paul Kehr stehen wird“, und tatsächlich wollte Kantorowicz angesichts der Popularität des Werks bei den Nationalsozialisten von einer Neuauflage seiner Friedrichbiographie nichts mehr wissen. Zwar heißt es „Kantorowicz ist George treu geblieben, und keine ‚Entwicklung‘ hat ihn zu Paul Kehr geführt“286, und bis an sein Lebensende stand ein Bild von George auf seinem Schreibtisch287. Gleichwohl: Hat er seine Themen nicht ausgewechselt, so doch den Stil, in dem er sie behandelte: Er transformierte, „was einst Jubel und Jammer einer Dichterwelt gewesen, in die prosaischen Gegenstände einer Problemgeschichte“.288 Er selbst hat es anders gesagt: „Mysticism, when transposed from the warm twilight of myth and fiction to the cold searchlight of fact and reason, has usually little left to recommend itself.“289 Der Pakt zwischen Historiker und Leser darf nur um den Preis eines Rollenwechsels gebrochen werden, und er gilt nicht nur für die Geschichtsforschung, sondern auch und besonders für die Geschichtsschreibung. Wenn man fragt, „wodurch sich die Geschichte als Wissenschaft von anderen Ausprägungen des Geschichtsbewußtseins unterscheidet“, lautet die Antwort: 283
Diese Verbindung stellt Fried, „Das verschleierte Bild zu Aachen“, FAZ vom 26. 3. 2001 her: „Rächt sich so, daß seinerzeit, vor 1933, die Diskussion zwischen dem George-Schüler Ernst Kantorowicz und dem Positivisten Albert Brackmann durch den Einbruch des Nazitums, mit dem Brackmann sympathisierte, abrupt abbrach?“ Oexle, Begriff 2004, 39, läßt es sich nicht entgehen, daß die neue Quantenphysik zumal von der nationalsozialistischen „Deutschen Physik“ angegriffen wurde, wie überhaupt die „Rankeaner“ (und noch mehr die „Nietzscheaner“) von ihm unter den einschlägigen Generalverdacht gestellt werden (vgl. Oexle, Zusammenarbeit mit Baal 2000; ders., Wirklichkeit 2002; ders., Begriffsgeschichte 2009). 284 Zur Diskussion über Frieds Buch „Der Weg in die Geschichte“ 1994, und damit auch über Brackmann, s. Althoff 1995, Fried 1995, Vollrath 1995, Seibt 1995, Fried 1996, Rader 1998. 285 Fried, Die Endzeit fest im Griff des Positivismus? 2002, hier 288, 321. 286 Salin 1964, 553f., zit. von Raulff 2009, 325. 287 Raulff 2009, 324. 288 Ebd. 313–346, hier 326 (in Anspielung auf ein Wort von Jacob Burckhardt); vgl. Klenner 2009, bes. 134f. Den Blick eines heutigen, zugegebenermaßen unkonventionellen „Monumentisten“ auf Kantorowicz wirft Rader 1998. 289 Kantorowicz, The King’s Two Bodies 1956, 3 (Anfang der Einleitung), dt. zit. von Raulff 2008, 327f.
3.4 Phantasie
47
„Weil mit der Geschichte als Wissenschaft etwas bestimmtes erreicht werden soll, ein bestimmter Geltungsanspruch des historischen Erzählens, schlicht: Wahrheit der jeweils erzählten Geschichte.“290 Ebenso wie Drehbuchschreiber von Film und Fernsehen wählt der Romancier eine Form: Romanze, Tragödie, Komödie, Satire291 und betreibt Individualisierung, Dramatisierung, Aktualisierung, Emotionalisierung und allgemeine Versinnlichung für das Auge, das Ohr, die Nase, den Geschmack, den Tastsinn. Auch „die Historiker erscheinen in der Rolle von Sinnbildnern, fast wie Künstler im Umgang mit dem, was die Vergangenheit hinterlassen hat. Wie Gott schaffen sie aus dem Lehm der Überbleibsel ihr Geschöpf: die Geschichte“, schreibt Jörn Rüsen, und er fragt bedenklich: „Erneuert sich der Machbarkeitswahn moderner Subjektivität und Rationalität nun im scheinbar harmlosen Gewand ästhetischer Konstruktion?“292 Der Historiker mag die Vergangenheit auferstehen lassen293 und in antiker Manier Dialoge erfinden294, aber er darf es nur, soweit entsprechende Quellen ihn dazu autorisieren. Treibt er es zu weit, wird er die beschreibenden, historiographischen, literarischen Quellen bevorzugen und nacherzählen, weil sie all diese belebenden Elemente enthalten, und er wird damit in vorkritische Zeiten zurückfallen. Es war nicht alles „passionnant“, wie das französische Qualitäts-Stichwort für historisches Sujet und Darstellungsform lautet, und es muß es auch nicht sein. Die Kenntnis, die aus unwillentlichen Quellen herausgelesen werden kann, ist ungleich verläßlicher als das oft bunte Bild der Chroniken. Gleichwohl, beide Arten von Quellen ergänzen einander, der Körper der reinen Fakten erhält sein Kleid von der zeitgenössischen Historiographie. Wie weit die Verunsicherung gegenwärtig geht, zeigte die Göttinger Akademie, indem sie ihre neuen Mitglieder des Jahres 2008 danach fragte, was sie von Albert Einsteins Ausspruch hielten, der da heißt „Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt“. Das Ergebnis veröffentlichte sie in ihrem ersten Mitteilungsblatt des Jahres 2009: Es besteht Übereinstimmung darin, daß Wissen ohne Phantasie nicht auskommen könne, diese aber in Grenzen gehalten werden müsse: „Besser etwas über Fantasie wissen als über Wissen fantasieren“, faßte die Germanistin Simone Winko den Befund zusammen.
290
Rüsen, Historik I, 1983, 76. Vgl. die Arbeiten von Hayden White, knapp White 2003. Zusammenfassend Rüsen, Historik III, 1989, Kap. 1: „Topik – Formen der Geschichtsschreibung“; Zur Topik auch knapp Fulda 2003; ders. 1996; zuletzt Müller 2008; Die Kunst der Geschichte 2009, passim. 292 Rüsen 2005/06, 50. 293 Unvergeßlich das Pop-Up „Hier steht Vergangenheit auf“, das vor Jahren die Reklame für ein Buch über das Haus Hohenlohe darstellte. 294 Davis 1996, 7–10, angeführt von Habermas 2000, 69 Anm. 20. Kosellecks Wunsch (oben Anm. 243) ist doch erfüllt worden. 291
48
3. Wege heraus
Es gibt also eine Arbeitsverteilung im Hause der Geschichte, verschiedene Typen von Historikern und der historischen Arbeit: die Kompilatoren, die Editoren, die Analytiker, die Synthetiker; die Jäger (nach Ideen) und die Sammler (von Material). Alle haben ihre Würde und Berechtigung. König ist, wer Sammler und Jäger zugleich ist, wenngleich der großen Synthese immer etwas Frevelhaftes anhaftet. Denn sie muß der Darstellbarkeit und Lesbarkeit halber reduzieren, kondensieren, abbreviieren und vergeht sich unausweichlich an der Komplexität der Wirklichkeit. Dennoch gebührt dem Synthetiker die Krone, weil er versteht und erklärt. Er muß diesen Ruhm aber nicht nur mit seinem Verrat bezahlen. Pirennes Geschichte Belgiens wird kaum noch benutzt, Léopold Genicots „Lignes de faîte du Moyen Âge“295 sind im Gegensatz zu seinen Studien über die Grafschaft Namur296 fast vergessen. Die Editoren nehmen ihre Revanche im Laufe der Zeit. Bis auf rare Genies der Darstellung (Theodor Mommsen, Jacob Burckhardt, Johan Huizinga297) sind sie es, die in geborgter Unsterblichkeit überleben: die Joseph Chmel, Louis-Prosper Gachard, Johann Friedrich Böhmer und alle „Monumentisten“, von den großen Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts ganz zu schweigen, den Du Cange, Martène und Durand, Vic und Vaissette, Plancher und Aubrée, Bernhard Pez und Martin Gerbert, Johann Christoph Lünig und Thomas Rymer. Außerdem haben sie zuweilen die Vergangenheit gerettet, indem sie nicht Geschichte schrieben, sondern Material veröffentlichten.298 Die Regesta Imperii (http://www.regesta-imperii.de/) und die römischen Regesten aus dem vatikanischen Archiv, das Verzeichnis der älteren Papsturkunden, seit einhundert, einhundertfünfzig Jahren bearbeitet, sind nun oder alsbald im Internet zugänglich und leisten beste Dienste. Peter Strohschneider, amtierender Präsident des deutschen Wissenschaftsrats, hat unlängst für die Geisteswissenschaften die doppelte Parole von „Komplexitätsaufbau“ und „Möglichkeitssinn“ ausgegeben. Sie hängen im Inneren zusammen, denn nur wer der Komplexität des Seienden gerecht wird, kann Möglichkeiten aufweisen, oder, wie der von ihm zitierte Robert Musil es formulierte: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.“299 Damit spinnt er einen Gedanken Kosellecks fort,
295
Genicot 1951, sieben Auflagen bis 1976. Genicot 1943–1995. 297 Wie Jacob Burckhardt hielt Huizinga sich von den „homines eruditissimi“ fern, doch ohne dessen Verachtung: „Ein Geschichtsforscher pur sang bin ich nie geworden. Gewichtige Quellenpublikationen mit überfließendem kritischem Material findet man nicht unter meinem Namen …“; Huizinga 1943/1947, 52. 298 Momigliano 1950, vor Anm. 59: „Der Antiquar rettete die Geschichte vor den Skeptikern, obwohl er nicht Geschichte schrieb.“ 299 Strohschneider, Möglichkeitssinn 2009; Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 16. – Die historische Komplexität stellt in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen Herbst 2004 (in dessen Sachregister das Wort „Wahrheit“ nicht vorkommt). 296
3.4 Phantasie
49
der bereits 1977 „eine Theorie möglicher Geschichte“ zur Kontrolle dessen forderte, was mit den Tatsachen gemacht wird.300 Was tut der Historiker? Mit Realitätsfragmenten eine unvollständig überlieferte Wirklichkeit rekonstruieren. Dafür braucht er sowohl Kenntnis als auch Phantasie. Nicht zufällig schreibe ich „rekonstruieren“ Auch wenn sich fast alle einig sind und selbst so nüchterne Leute wie Egon Flaig im Gefolge von Chris Lorenz das Gegenteil behaupten301: Der Historiker darf nie konstruieren, er muß (und darf) lediglich rekonstruieren. Wenigstens teilweise hat Reinhart Koselleck dies für möglich gehalten, nicht für die unsichtbaren Konflikte langer Dauer, die erst durch die Erhebungen der Historiker ans Licht treten, sondern „in Bezug auf Ereigniszusammenhänge, in denen die agierenden Menschen und Menschengruppen empirisch nachvollziehbare Aktionen tätigen“, etwa in der Diplomatie- und Politikgeschichte.302 Aber auch die statistischen Daten sind ja nicht konstruiert, sondern lediglich ermittelt. Nur der Rekonstruktionsversuch hält die Grenzen ein, die ihm die Quellen setzen, und nur er erfüllt die Hoffnung, zu erfahren, „wie es eigentlich gewesen“. Denn diese „Sehnsucht nach Wahrheit“ darf nicht lächerlich gemacht werden, sie ist ein Durst, der zu unseren tiefsten Bedürfnissen gehört. Die „Wahrheitskommissionen“, die allenthalben nach Umbrüchen gebildet wurden und werden, sind das beste Beispiel dafür.303 Konstruieren wir also, aber nur, um rekonstruieren zu können. Und wenn der Bau stimmig ist, fallen die Gerüste. 300
Koselleck 1977/1979, 205: „Die reine Feststellung, was der Fall war, reicht nie hin, um eine Geschichte zu rekonstruieren oder zu erzählen. Immer hängt das was vom wie ab, von seiner Ermöglichung. Die Frage nach dem Tatsächlichen als dem Wahren evoziert notwendig die Frage nach dem Möglichen bzw. Wahrscheinlichen.“ 301 „… wissen Historiker schon seit den alten Tagen der Hermeneutik, daß die Quellen uns kein direktes Abbild der vergangenen Wirklichkeit geben, wir also die vergangene Wirklichkeit immer konstruieren – nicht rekonstruieren – müssen“; Flaig, Kinderkrankheiten 2000, 39; ebd. 46 (ähnlich ders., Ohne Wahrheit, 59): „Daraus folgt, daß wir streng genommen keine ‚Rekonstruktion‘ der Geschichte betreiben – was schon für Droysen klar war. Sondern unser Tun ist ‚Konstruktion‘ hochgradig selektierter Beziehungen und Verhältnisse in der Vergangenheit“, mit Verweis auf Lorenz 1987/1997, 17–64. Ähnlich Goertz 2001, 110 oder 118: „Aus dem Gegenstand, dem der Historiker gegenüberstand, wurde eine Beziehung, die der Historiker zur Vergangenheit sucht.“ Oexle, Ranke 2001, 233: Es geht darum „einen ‚Tatbestand‘ zu konstruieren (nicht: zu re-konstruieren!)“; vgl. Oexle, Historische Kulturwissenschaft heute 2004, 39f. Auch Ricœur sieht in den notwendigen Konstruktionen historischer Erkenntnisfelder Voraussetzungen zur Rekonstruktion der Geschichte, Ricœur 2000, 736, 741 u. 746; ders. 2003. Etzemüller 2007, 68: „Was man da beobachtet – und dann in der Form Geschichte konkret historisierend beschreibt – ist wohl nicht die Realität, sondern eine gegenwärtige Wirklichkeit. Wie ihr Abstand zur Vergangenheit aussieht, wird demnach nur als Konstruktion zu klären sein.“ 302 Koselleck 2001, 262. 303 Vgl. Bilder nach dem Sturm 2007. Im Demjanjuk-Prozeß wird ausdrücklich die „historische Wahrheit“ gefordert, für „eine genaue Rekonstruktion der Gegebenheiten im Lager“ Sobibor, s. Truscheit, „Rekonstruktion des Mordens“, FAZ vom 13. 1. 2010.
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4. Ewige Jugend
4. Ewige Jugend Wir haben schon gesehen, daß es vielleicht eine ideelle Wahrheit an sich gibt, die in unendlicher Komplexität abbildete, was ehemals geschah. Aber sie ist uns nicht erreichbar. Allein die Zweidimensionalität der Darstellung, die nur nacheinander gelesen werden kann, hat unabsehbare Verluste zur Folge. Wahrheit kann in diesem Prozeß nicht unbeschadet bleiben. 4.1 Eine unendliche Materie Die Komplexität zwingt zur Auswahl, wenn überhaupt dargestellt werden soll. Andere werden anders auswählen. Johan Huizinga hat eindrücklich den vielen Historikern, die sich als „Beiträger“ von „Bausteinen“ verstehen, ins Stammbuch geschrieben, daß der künftige Baumeister andere Steine werde haben wollen: „Wenn aber der Baumeister kommt, wird er die Steine, die ihr für ihn bereitgelegt habt, zum größten Teil doch unbrauchbar finden.“304 Aber selbst wenn dasselbe ausgewählt würde, würde das Ergebnis der Vieldeutigkeit der Fakten wegen nicht dasselbe sein. Und wenn dieselben Fakten verhandelt würden, wäre die Rede davon doch nicht dieselbe. Weiter ist keinem noch so gelehrten Kopf jede einschlägige Quelle bekannt, so sehr er sich auch darum bemühen mag. Das gilt sowohl für das Zentrum seiner Aufmerksamkeit als auch für deren Peripherie, womit wir wieder bei der Komplexität wären. Neue Quellen werfen ältere Deutungen um: Ich verdächtigte einen Reisebericht zum Purgatorium des hl. Patrick in Irland der zeitgenössischen Fälschung, weil es keinen externen Beleg für Reisenden und Reise gab – bis dieser externe Beleg gefunden wurde.305 Neue Probleme, neue Verfahren, neue Gegenstände306 lassen den Wissenschaftler das Veralten seiner Methoden und Ergebnisse am eigenen Leibe erleben: „nicht unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck“, wie Max Weber dem Gelehrten ins Stammbuch schrieb307 – wobei man hinzufügen möchte, daß es dennoch eine Kumulation von Faktenwissen und Methodenbewußtsein gibt, hinter das auch die neue Generation nicht zurückfallen darf. Nur Quelleneditionen überdauern – wahrscheinlich muß man im Zeitalter der stets wandelbaren Wiki-Produktionen schon sagen: überdauerten –, zumal wenn sie je länger je öfter einen verlorenen Text überliefern. Aber auch sie werden ersetzt, spätestens nach fünfzig oder einhundert Jahren;
304
Huizinga 1929/30, 10. Paravicini 2007. 306 Dies die Bandtitel von „Faire l’histoire“, hrsg. v. Le Goff und Nora 1974. 307 Weber, Wissenschaft als Beruf (1917/1919), 207; vgl. Oexle, Begriff 2004, 33. Wehler 1996, 167f. sieht das nicht so und widerspricht Weber („Edelmenschentum“), was ihm einen herben Verweis von Oexle, Ranke 2001, 240, eintrug. 305
4.1 Eine unendliche Materie
51
handelt es sich um Urkunden und Akten zuweilen noch später.308 Das muß man heiter nehmen, so wie man sich an seinen Enkeln freut. Immer weitere Fortschritte der Quellenedition, Quellenkritik, Faktensicherung sind zu verzeichnen, seit zweihundert Jahren schon – und dennoch konstatieren wir auch bei bedeutenden Historikern hemmungsloses Verfallen an herrschende Ideologien: „… bis eines Tages der tüchtige Forscher, blind vor Tüchtigkeit, aus der von der Wissenschaft nicht erreichten Tiefe seines Gemüts irgendeinem Philosophen verfällt, ohne zu wissen, was sein irrationales Tun oder Lassen mit seinen Urkunden zu tun habe“, schrieb Hermann Heimpel, der genau dies in seiner Begegnung mit Martin Heidegger selbst erlebt hatte.309 Harmloser sind mangelnde Widerstandskraft gegen interpretatorische Moden, lemmingartiger Herdentrieb, der dem Rausch der jeweiligen Modernität verfällt, anstatt in ruhiger Wahl im Blick auf das Ganze auszuwählen, was der Wahrheitserkenntnis förderlich ist. „Es gibt offenbar so etwas wie die Unwiderstehlichkeit und paradoxe Verführungsmacht der großen ordnungsstiftenden Begriffe“, seufzt Valentin Groebner.310 Wir verstehen jetzt, weshalb dies so ist: Das wechselnde Interesse der Gegenwart wählt aus der Vergangenheit stets das ihr Genehme aus311, so daß in diesem Licht die Vergangenheit sogar „besser werden“ kann312. Eine Zeitlang suchte man den Freiheitsstrang in der deutschen Geschichte, jetzt schaut alles nach Europa, die Globalisierung aller Bezüge und besonders der Wirtschaft führt gegenwärtig zum Wiederaufleben der Weltgeschichte. Der Auswahlmöglichkeiten sind unendlich viele, weil die Zeit unendlich ist und die Menge der Geschehnisse, Menschen, Schicksale ohne Zahl. Der Wandel der Interessen offenbart immer wieder neu den latenten Anachronismus dieser Vorgehensweise: Die Vergangenheit wird nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern der Hilfe wegen, die sie der Gegenwart zu geben vermag oder wenigstens geben soll313, wenn nicht in Handlungsmaximen, so
308
Vgl. Märtl 1996; Quelleneditionen und kein Ende? 1999. Heimpel 1957, 15. 310 Groebner 1998, 167 Anm. 9. 311 Etzemüller 2007, 67: „Man sagt etwas vage, jede Generation müsse die Geschichte neu schreiben, weil sie anders sehe – doch man sollte viel deutlicher sagen, daß unser Bild von der (vergangenen) Realität das Produkt dessen ist, was wir sehen wollen und dürfen, was unsere Methoden und geistigen Dispositionen zu sehen erlauben und was schließlich die Historiker aus all dem machen und als ,Wahrheit‘ etablieren können.“ – „Geschichtsschreibung [ist] eine radikal gegenwartsbezogene Veranstaltung.“ 312 Dazu Rüsen, Kann gestern besser werden? 2003, und Schulin 1998. Vgl. Walther, „Vorwärts in die Vergangenheit“, FAZ vom 22. 4. 2003. 313 Vgl. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, VI (S. 695): „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt“; oder XIV: (S. 701): „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“ 309
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4. Ewige Jugend
wenigstens in einer Übereinstimmung des Rahmens und der Grundsätze, die das Gefühl beruhigender Kontinuität zur Folge hat. 4.2 Doch eine Lehrmeisterin Vielleicht ergibt sich hier sogar die Möglichkeit, dem Wissen um Vergangenes (nicht der Geschichte) die verlorene Würde einer Lehrmeisterin zurückzugeben. Vor fünf Jahren schon wurde festgestellt, daß es sich wieder lohne, über das Verhältnis von Geschichte und Lernen nachzudenken, unter anderem angesichts der Geschichte Deutschlands und Frankreichs und der Europäischen Einigung seit 1945.314 Ich will hierfür drei weitere Gründe angeben: Zunächst, weil alles gegenwärtige Wissen notwendigerweise sich auf vergangenes Wissen stützt, ja nichts anderes sein kann. Ich stimme mit Johannes Frieds Demonstration überein, daß „wir Menschen […] nur aus der Geschichte [lernen] – und aus sonst gar nichts“, was meint, daß alles Wissen notwendig historisch ist, weil tradiert315: „Alles Wissen ist gestrig.“316 Dann, weil alle Erwartung und jede Verhaltenssicherheit sich auf Wiederholung gründet, wie Reinhart Koselleck wiederholt dargelegt hat.317 Schließlich weil das Wissen von Problemen und Entscheidungen in der Vergangenheit zu einer unaufgeregten Distanz führt, die verantwortliche Entscheidungen in Problemlagen der Gegenwart erleichtert. José Ortega y Gasset schrieb in seinem Werk „Aufstand der Massen“ von 1929: „Die Vergangenheit kann uns nicht sagen, was wir tun, wohl aber, was wir lassen müssen.“318 Das ist minimalistisch gedacht (aber deshalb nicht korrekter). Der ältere Jacob Burckhardt teilte der Geschichte mit berühmten Worten zwar ebenfalls nicht die Fähigkeit unmittelbarer Belehrung zu, ging aber doch darüber hinaus: „… der Satz: Historia vitae magistra [erhält] einen höhern und zugleich bescheidnern Sinn. Wir sollen durch Erfahrung nicht so wohl klug (für ein andermal), als vielmehr weise (für immer) werden.“319 Arno Borst hat es unter ausdrücklichem Bezug auf Burckhardt etwas anders gesagt: „Jawohl, solche Kunstgebilde [gemeint sind Poesie und Historie] könnten keine Anweisungen zum täglichen Handeln erteilen, jedoch zu Haltungen erziehen,
314
Historia Magistra Vitae 2005, 10 (Vorwort der Hrsg.); s. in dem Band bes. die Beiträge von Jordanova (Ikonographie), Mitterauer (sein Lebensweg zur Relevanz), Kocka (Erfahrungen nach 1945) und Schöttler (Prognostik bei Marc Bloch). 315 Fried, Aktualität 2002. 316 Fried, Memorik 2004, 5. 317 Koselleck 1973/1979, zur Möglichkeit der Prognose 1975, 642ff. und 1985/2000, auch 2001, 269–271; vgl. Epple 2006. Zur mimetischen Wiederholungsstruktur der erlebten Geschichte, s. Koselleck 1999, 148f. (oben Anm. 178, 184), 2005 („Was sich wiederholt“) und 2006 und, darauf aufbauend, Daniel 2009 (Ms.). 318 Zit. von Moser in seinem Leserbrief „Die Geschichte rät ab“, FAZ vom 25. 3. 2003. 319 Burckhardt, Studium, 230, Z. 16–18.
4.2 Doch eine Lehrmeisterin
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die den Bestand des Gemeinwesens über den Tag hinaus verbürgten.“320 Bundeskanzler Helmuth Kohl, immerhin ein promovierter Historiker, schloß ebenfalls an Burckhardt an, als er 1995 schrieb: „Die intensive Beschäftigung mit Geschichte kann […] helfen: nicht als Rückgriff auf vermeintliche Rezepte, sondern um aus historischem Bewußtsein handeln zu können.“321 Wilhelm von Humboldt hatte es 1821 nicht anders gesehen: Die Geschichte „dient nicht sowohl durch einzelne Beispiele des zu Befolgenden oder Verhütenden, die oft irre führen, und selten belehren. Ihr wahrer Nutzen ist es, mehr durch die Form, die an den Begebenheiten hängt, als durch sie selbst, den Sinn für die Behandlung der Wirklichkeit zu beleben.“322 Droysen urteilte ähnlich und berief sich dabei (nicht ganz zu Recht) auf Friedrich den Großen: „Lehrhaft ist die Geschichte nicht, weil sie Muster zur Nachahmung oder Regeln für die Wiederanwendung gibt, sondern dadurch, daß man sie im Geiste durchlebt und nachlebt; ,c’est un répertoire d’idées qui fournit de la matière que le jugement doit passer au creuset pour l’épurer‘ (Friedrich der Große, Œuv. IV, p. XVII).“323 Anfang Dezember 2009 wurde in Heidelberg eine Tagung über die Weise veranstaltet, wie man von der Antike bis in die Frühe Neuzeit aus Katastrophen gelernt hat.324 An der Technischen Universität Berlin arbeitet ein eingetragener Verein namens „Lernen aus der Geschichte“, mit eigenem Webportal.325 Wer denkt dabei nicht an die Maßnahmen, die in unserer Gegenwart ergriffen worden sind, um den Schäden zu begegnen, die Vulkanausbrüche, Erdbeben und Flutwellen anrichten? Und was wäre die Bundesrepublik ohne die Erfahrung des Nationalsozialismus326 und was Europa ohne die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs (was uns wiederum Ortega y Gasset nahebringt)? Mit anderen Worten: aus der Geschichte läßt sich wenig lernen, aber viel aus den Geschichten.327 Aus ihnen können wir zwar nicht ableiten, was kommen wird; wir können aus ihnen aber erkennen, was vernünftig zu tun ist. Das Interesse an der einen Geschichte ist besonders stark in Gesellschaften der Unfreiheit: Das tendenzielle Anhalten der Geschichtsdeutung ist immer ein totalitärer Akt, weshalb er denn auch in allen Diktaturen anzu320
Borst 1982/1988, 605. Zit. bei Repgen 1996, 181. 322 Humboldt 1821, 590. 323 Droysen, Grundriß 1882/1977, 447 § 92. 324 „Learning from Desaster from Antiquity to Early Modern Time: Knowledge and Experience, Flow and Blockage“, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=12696. 325 www.lernen-aus-der-geschichte.de. 326 Fröhlich/Kohlstruck 2008. 327 Zur Orientierungsfunktion auch Rüsen, Historik III, 1989, 93–108 (Die drei Lerndimensionen der historischen Bildung: Erfahrung, Deutung, Orientierung); Hölscher 2003, 52–56; weitere Perspektiven bei Herzog 2003; Hoffmann, Voraussage 2003; Hölscher, Zukunft 2003; ders., Semantik der Leere 2009. Auch Golo Manns Beitrag von 1952/1961 ist zu berücksichtigen und derjenige von Repgen 1996. 321
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4. Ewige Jugend
treffen ist. Die terribles simplificateurs, die furchtbaren Vereinfacher mögen in der Öffentlichkeit Erfolg haben, der Wahrheit dienen sie nicht. Hartnäkkig wird jeder wissenschaftliche Historiker sich der unwahrhaften Aneignung von Geschichte widersetzen. Nicht nur das Heilen widersprüchlicher Erinnerungen328 ist seine Aufgabe, sondern auch das Delegitimieren von Ansprüchen als Ausweis der Freiheit329. Durchschlagendes Interesse und grundsätzliches Erkenntnisunvermögen: Diese doppelte Skepsis ist zunächst ein Erbe der Zeit um 1900: Historismus als Relativismus der Werte, Wissenssoziologie als Relativismus der Erkenntnis. Gibt es einen dritten Weg? An die Stelle von Relativismus Relationismus zu stellen und sich damit zu trösten, daß gleichwohl immer die Wahrheit (oder Richtigkeit) das Regulativ darstellt330, ist eine geringe Hilfe. Soll man Otto Gerhard Oexle folgen, der den Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Fiktion auf einer höheren Ebene mit der „Repräsentation“ der Vergangenheit überwinden will?331 Er zitiert zustimmend den Aufruf Robert Chartiers: „Wollte man diese Wahrheitsabsicht, die vielleicht übertrieben, sicherlich aber grundlegend ist, aufgeben, überließe man das Feld allen Fälschungen und allen Fälschern, die, indem sie den Kenntnisstand verraten, die Erinnerung verletzen. Es ist an den Historikern, in der Ausübung ihres Handwerks wachsam zu sein.“332 Jan Dumolyn schlägt statt dessen einen „kritischen Realismus“ als Ausweg vor.333 Peter Burke sah schon im Jahre 1994 das Heil darin, „daß man manche Infragestellung historischer Gewißheit verurteilt, andere jedoch freispricht und zukünftig zwar einige Techniken der Romanschriftsteller übernimmt, trotzdem aber historiographische Texte als ein von der Literatur getrenntes Genre fortführt“. Dieser Pragmatismus dürfte allseits akzeptabel sein, auch wenn Burke meint, daß ihm „der Angriff von beiden Seiten gewiß“ ist.334 Im Grunde ist die Diskussion um Wahrheit, Fakten, Quellen einer Verwechslung des Objekts aufgesessen. Daß es Fakten bzw. als deren Unterkategorie Ereignisse gibt, kann platterdings nicht bestritten werden: unsere Geburt, unser Tod erinnern jeden von uns täglich daran. Geradezu zum An328
Siehe z. B. Vergeben und Vergessen? 2009; Der Zweite Weltkrieg in Europa 2007. Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1997; Reinhard 2003. 330 Oexle 2003, 39–41. 331 Oexle 2000, 100; ders., Begriff 2004, 54. Von 1993 bis 2006 erschien, vom Post-Modernisten Frank Ankersmit in Groningen hrsg., die Zeitschrift „Feit & fictie. Tijdschrift voor de geschiedenis van de representatie“. 332 „Abandonner cette intention de vérité, peut-être démesurée mais sûrement fondatrice, serait laisser le champ libre à toutes les falsifications, à tous les faussaires qui, parce qu’ils trahissent la connaissance, blessent la mémoire. Aux historiens, en faisant leur métier, d’être vigilants.“ Chartier 1998, 105, nach Oexle 2000, 100. 333 Dumolyn 2004 und der von dems. hrsg. Band „Aan de rand van het relativisme“ 2003. 334 Burke 1994, 66. 329
4.3 Von der Quelle zum Problem und vice versa
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gelpunkt seiner „annalistischen Geschichtsbetrachtung“ macht das Ereignis Lucian Hölscher: „Die transzendentale Zufälligkeit historischer Ereignisse setzt […] allen diskursanalytischen Bemühungen, die Geschichte (wie jedwede Wirklichkeit überhaupt) als ein Konstrukt derjenigen zu entlarven, die sie erforschen oder beschreiben, eine letzte Grenze.“ „Aber das Ereignis ist nicht eindeutig […] ein langfristiger historischer Zusammenhang zwischen diesen wechselnden historischen Deutungen ergibt sich nur dann, wenn wir sie nicht im Verhältnis von Wahrheit und Irrtum, sondern als unterschiedliche Deutungen derselben historischen Ereignisse historisch auf einander beziehen.“335 Der Streit entsteht um die Deutung.336 Da aber die Deutung sich auf Fakten beruft und von ihnen abhängt, davon, daß sie vollständig und überprüfbar sind und bleiben, muß zunächst diesen die unermüdliche Aufmerksamkeit der Geschichtsforschung gelten. Es gilt, die Zahl der möglichen Ausgangspunkte und die Instanzen der Kontrolle zu mehren. Daß die Fakten bleiben, wenn die Interpretationen längst vergessen sind, liegt in der Natur der Sache. 4.3 Von der Quelle zum Problem und vice versa Nicht unachtsam habe ich soeben von den Quellen als Ausgangspunkt gesprochen. Denn es gibt einen zweifachen Weg der Forschung: einen induktiven von den Quellen zur Hypothese und einen deduktiven von der Hypothese zu den Quellen. Zum ersten bekannte sich in der Einleitung zu seinem monumentalen Alterswerk über die Vener von Schwäbisch Gmünd und Straßburg Hermann Heimpel: „Wir gehen nicht von den Problemen zu den Quellen, sondern von den Quellen zu den Problemen. Da wir nun einmal einen in solcher Reichlichkeit wohl einmaligen Quellenstoff aufgedeckt haben, war die Absicht keine andere als die: das uns Überlieferte auszupressen.“ 337 Für manche Theoretiker ist dieser Weg von der Quelle zur Frage indes gar nicht denkbar, so für Jörn Rüsen: „Die Forschung wird regelhaft dadurch in Gang gesetzt, daß die perspektivierenden theoretischen Konstrukte der historischen Erkenntnis die Form dezidierter Fragenstellungen annehmen, durch die der Theorieüberschuß historischer Deutungsmuster über die in sie eingegangene historische Erfahrung zum Ausgriff auf neue Erfahrung wird. […] Aus theorieförmigem Wissen werden erfahrungsoffene 335 Hölscher, Neue Annalistik 2003, 57ff., 66 u. 71); vgl. ders., Ereignis 2003, und Walther, „Vorwärts in die Vergangenheit“, FAZ vom 22. 4. 2003. 336 Vgl. Sonne 2000, der zudem als Kunsthistoriker auf die geringere Textabhängigkeit seiner Disziplin verweist, die deshalb stets resistenter gegen die Destruktionsideologie gewesen ist als z. B. die Literatur- und auch die Geschichtswissenschaft. Darauf hatte schon Koselleck 1977/1979, 205 hingewiesen; kritisch Fögen 2003/2009. 337 Heimpel, Vener, Bd. 1, 1982, 18. Die Metapher erinnert an Marc Blochs Bild vom Historiker in der Kelter, s. unten Anm. 380.
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4. Ewige Jugend
Fragen.“338Abgesehen von einem gewissen Schauder vor solchem Deutsch bin ich dennoch der Meinung, daß die Wege gleichberechtigt sind. Auch Koselleck äußert sich in ablehnender Weise dazu: Es „bietet sich ein sinnvoller, aber nicht hinreichender Ausweg an: Die Summe der erreichbaren Quellen zu edieren. So notwendig Quelleneditionen für die Forschung sind, die Geschichtsschreibung können sie nicht ersetzen, auch wenn man zeitweilig das geglaubt hatte.339 Eine Summe von addierten Aktenstücken ergibt so wenig eine Geschichte, wie die Aneinanderreihung von Punkten eine Linie ergibt.“340 Ist aber, so meine eigene Frage, die Operation, die solche Punkte zu einer Gerade oder Kurve verbindet, also erkennt, was sie verbindet, nicht durch diese Vorgabe bedingt?341 Wenn ich als alter Hase ein Regestenwerk oder ein Urkundenbuch lese, stellen sich die Verbindungslinien wie von selbst her und das „interessante“ Stück fällt sofort auf. Ein Studienanfänger ist dagegen hilflos einem Meer von Fakten ausgeliefert. Gehen ein Bauforscher und ein Historiker durch die Nürnberger Sebaldskirche, so wird der eine nur Baufugen, der andere patrizische Memoria sehen.342 Ganz gleichberechtigt sind die Wege also nicht. Auch der induktive Gang setzt Wissen, Vorverständnis, Interesse voraus. Aber angesichts eines Textes, einer Privilegienlade343, einer Kirche ist es erst einmal das vorhandene Faktenensemble, das zum Nachdenken anregt und insofern die Forschungsrichtung vorgibt. Dennoch, man kann sowohl vom Problem zur Quelle kommen, wie von der Quelle zum Problem, nämlich demjenigen, das von den Tatbeständen aufgeworfen und zugleich eingegrenzt wird. Steht die Problemgeschichte344 hier am Anfang, so im anderen Fall in der Mitte oder gar am Ende. Man vergesse auch nie, was Lichtenberg notiert hat: „In Deutschland sieht man den Mann schon als etwas an, der weiß, was in jeder Sache geschrieben worden ist, ja, wenn man ihn um sein Urteil in der Sache fragt, so nimmt man wohl vorlieb, wenn er einem eine Literär-Geschichte der Sache statt der Antwort gibt.“345
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Rüsen, Historik II, 1986, 97. Diese auf Droysen zurückgeführte Gegenposition ist weiter entwickelt in: Das Problem der Problemgeschichte 2001; Lorenz 2003. 339 Hier denkt Koselleck vermutlich an Paul Fridolin Kehr, s. oben Anm. 151. 340 Koselleck 1982, 31. 341 „Nur weil wir historische Fakten als Elemente einer zusammenhängenden vergangenen Wirklichkeit begreifen, können wir sie auf einander beziehen, Zusammenhänge zwischen ihnen heraus arbeiten und Wirkungen postulieren, die in den Quellen so gar nicht erwähnt werden.“ Hölscher 2003, 23. 342 So geschehen am 24. 4. 2009 auf einem Spaziergang mit Armand Baeriswyl (Bern). 343 Exemplarisch zu derjenigen der schleswig-holsteinischen Ritterschaft Paravicini (im Druck). 344 Siehe oben Anm. 338. 345 Lichtenberg, Sudelbücher J, 822 Nr. 1195.
4.4 Unterwegs ohne anzukommen
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4.4 Unterwegs ohne anzukommen „Es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe.“346 Daß die Geschichtswissenschaft, wie im Grunde alle Wissenschaft, ewig jung ist und bleibt, liegt nicht daran, daß sie fortwährend lügt. Verifiziert man z. B. die phantastisch anmutenden Ehrenreden eines Herolds des 14. Jahrhunderts daraufhin, ob die Fakten, die darin erwähnt sind, zutreffen, dann wird man feststellen, daß sie alle wahr, genauer: richtig sind. Aber, ausgewählt, sind sie nicht die Wahrheit: Nur was dem Idealbild des Ritters ohne Furcht und Tadel stets auf Fahrt und Kriegszug entspricht, ist darin erwähnt. Derselbe Mann kann ein übler Spieler voller Gewalttätigkeit gewesen sein. Es werden also Teilwahrheiten entsprechend einer vorgestellten Rolle präsentiert.347 Diese mag auch auf diejenige des idealen Königs verpflichten, woraus dann Ludwig IX., der Heilige entstand.348 Wir greifen stets nur Teilwahrheiten, und viele dieser Art ergeben immer noch nicht die gesamte Wahrheit. Die Komplexität des Lebens ist auch die Komplexität der Wahrheit. Es mag eine einzige, ganze geben, wir leben sie jeden Tag in der Vielfältigkeit unserer Bezüge. Aber wir können sie nicht schildern. Nicht nur neue Fragestellungen und Interessen verjüngen den unendlichen Stoff der Geschichte. Wir haben gar nicht die Mittel, sie im Ganzen abzubilden. Um erneut mit Max Weber zu sprechen: „Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, ,historisches Individuum‘ wird. Es wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird.“349 Wahrheit gibt es auf vielen Stufen. Die Wahrheit ist unerreichbar.
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Weber 1904/1968, 206. Vgl. Paravicini, Ritterliches Rheinland 2009. 348 So Le Goff, Saint Louis 1996. 349 Weber 1904/1968, 184; s. auch 213f.: „Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden, fällt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt.“ 347
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5. Beschluß: Hoffnung auf Wahrheit
5. Beschluß: Hoffnung auf Wahrheit Kommen wir noch einmal zurück auf den von Wilkomirski gebrochenen Wahrheits-Pakt zwischen dem Historiker und seinem Leser. Ich habe bereits dargelegt, daß er eingehalten werden muß, wenn wir überhaupt Geschichte noch neben Literatur haben wollen. Mit Paul Ricœur350 vermag ich zu behaupten, daß er auch eingehalten werden kann – bis zu einem gewissen Grade. So wie das Gedächtnis das wundersame Glück des plötzlichen Wiedererkennens kennt, das dem Geschichtsschreiber von Zeiten jenseits seines Menschenalters verwehrt ist351, so kann dieser doch jene grundsätzliche, Energie verleihende Unvollkommenheit überbrücken durch das Handwerkszeug seiner Methoden und Verfahren und ebenfalls zu einer zuweilen beglückenden Evidenz kommen, die aber nicht jenen existentiellen Charakter haben kann, sondern bei erhöhter Plausibilität stehen bleiben muß.352 Es gibt keinen archimedischen Punkt, der es einem von uns erlaubte, sich außerhalb seiner selbst zu stellen.353 Wie im Leben überhaupt werden auch in der Wissenschaft manche Probleme nicht gelöst, sondern allmählich zur Seite gelegt: Die Praxis sorgt für Dauer und für Unaufgeregtheit354, während die Schlüsselbegriffe als Waffen im Distinktions- und Aufmerksamkeitskampf alsbald wieder untauglich werden. Die kennzeichnenden Vokabeln und Sichtweisen verschwinden nach einer Weile und dienen späteren Generationen zur recht genauen chronologischen Bestimmung der Entstehungszeit der solchen Moden verfallenen Texte. Wenn Dirk Westerkamp „der Wahrheit nicht übergeschichtliche Invarianz, sondern einen historischen ‚Zeitkern‘ zuspricht“355, dann kann man ihm insofern nur zustimmen. Burghard Damerau, der etwas mitleidsvoll festgestellt hatte, daß die „arme, alte Wahrheit“ derzeit „kein Rennen mehr“ mache, fügt hinzu: „Statt dessen läßt sie sich Zeit – und pfeift darauf, ans Ziel zu kommen.“356 Caspar Hirschi hat angesichts des überraschenden 350 Ricœur 2000, 2003. Damit verwandt ist die unmittelbare Anschauung bei Huizinga, s. Boone 2008, 29. 351 Vgl. Esch 1984/1994. 352 Plausibilität ist nach P. Th. Walther 2003, 236, „ein Konzept in der Geschichtsschreibung, das einen Begründungszusammenhang herstellt“. 353 So, alte Erkenntnis zusammenfassend, auch Reinhard 2007, 30; vgl. oben Anm. 25. 354 Siehe oben bei Anm. 155. 355 Westerkamp 2007, 102. Ironisch Borst 2009, 36: „Zuversichtlich schloss ich mit Aulus Gellius und Leonardo da Vinci, die Wahrheit sei immer nur die Tochter der Zeit gewesen.“ 356 Damerau 2003, 9; vgl. oben Anm. 9. Ganz ähnlich Reinhard 2007, 14: „Wahrheit hat ihren Nimbus verloren, ist entzaubert, es ist nicht mehr weit her mit ihr, der Begriff ist ausgelaugt und scheint nur noch eine Bezeichnung für beliebige Ansichten zu sein.“ Er fügt jedoch hinzu: „Auch wenn uns niemand sagen kann, was Wahrheit ist, was Wahrhaftigkeit ist, das wissen wir. Warum nicht dabei bleiben?“
5. Beschluß: Hoffnung auf Wahrheit
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Abrückens von den drei „I“s (innovativ, international, interdisziplinär) unlängst festgestellt: „Offenbar ist die Halbwertszeit der förderpolitischen Floskeln noch kürzer als jene der Forschungsergebnisse, die in ihrem Namen erzielt werden.“357 In einer derartigen Phase des Verblassens scheinen wir uns gegenwärtig zu befinden. Die Wahrheitskrise verflüchtigt sich zur Zeit. Aber im Grunde ist sie ist immer noch da, und sie wird sich wieder bemerkbar machen. Deshalb müssen wir uns ihrer annehmen. Wissenschaft treiben heißt auch immer nachdenken über das eigene Tun.358 Und Max Weber folgend ist nicht nur vor „Positivisten“ zu warnen: „Es gibt, um mit F[riedrich] Th[eodor] Vischer zu reden359, auch auf unserem Gebiete ‚Stoffhuber‘ und ‚Sinnhuber‘. Der tatsachengierige Schlund der ersteren ist nur durch Aktenmaterial, statistische Folianten und Enqueten zu stopfen, für die Feinheit des neuen Gedankens ist er unempfindlich. Die Gourmandise des letzteren verdirbt sich den Geschmack an den Tatsachen durch immer neue Gedankendestillate.“360 Zuweilen muß man „schlicht“ sein361, gleichsam intellektuell anspruchslos, um nicht dem vermeintlichen Zwang gerade aktueller Theorie zu verfallen. Marcus Willaschek spricht mir aus der Seele, wenn er am Ende seiner Untersuchung über Realität als mentales Konstrukt schreibt: „Es spricht deshalb alles dafür, zu jener naiven Auffassung zurückzukehren, die sich die schlichteren Gemüter unter uns ohnehin bewahrt haben: nämlich die uns umgebende Realität als etwas objektiv Gegebenes, von Denken und Sprache weitestgehend Unabhängiges zu verstehen.“362 Zwar heißt es, daß die
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Hirschi, „Das Kulissenbewußtsein der ,Gott und die Welt‘-Cluster“, FAZ vom 9. 12. 2009. Vgl. auch Jungen, „Sie geben Steuergelder aus!“, FAZ vom 4. 12. 2009, über die Eröffnung des „Internationalen Kollegs Morphomata“ in Köln: „Nachdem alle weiteren forschungsförderrelavanten Schlüsselbegriffe wie ‚dezentral‘, ‚ateleologisch‘, ‚integrativ‘ oder ‚interdisziplinär‘ einigermaßen wahllos gefallen sind …“. 358 Vgl. Oexle 2003, 4. 359 Der Ästhetiker lebte von 1807 bis 1887, das Zitat stammt aus seinem satirischen Theaterstück „Faust. Der Tragödie dritter Teil“ (1862). 360 Weber 1904/1968, 214. 361 Vgl. Oexle 2003, 6: „Man wird sich fragen müssen, was mit solch schlichten Behauptungen des Gegenteils gegen die ‚Herausforderungen des Postmodernismus‘ gewonnen werden kann“, in bezug auf Paravicini 1998. Hingegen stellt Damerau 2003, 475, am Ende seiner Untersuchung über Wahrheit der Literatur fest: „Es handelt sich um eine relativ schlichte Art von Wahrheit.“ Patzig 1977/1980, 96, beschließt seine Abhandlung über das Problem der Objektivität und den Tatsachenbegriff mit den tröstlichen Worten: „Wenn es auch keine streng objektiven Sätze und Erkenntnisse in den Geisteswissenschaften gibt, so gibt es doch ein wohlformulierbares Objektivitätsideal und die Möglichkeit, jeweils objektivere von weniger objektiven Untersuchungsverfahren, Auffassungen und Resultaten zu unterscheiden. Und das sollte für erwachsene Menschen genug sein; es ist jedenfalls genug für die tägliche wissenschaftliche Arbeit.“ 362 Willaschek 2005, 772. Ausführlicher sein 2003 erschienenes Buch.
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Wissenschaft da anfange, wo der gesunde Menschenverstand aufhört363, und mancher gratuliert sich dazu, „aus dem Paradies der einfachen Seelen“ vertrieben worden zu sein364. Aber es gibt auch Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Nietzsches Instrumentalisierung der Geschichte für „das Leben“ ist mir nicht sympathisch, aber ein wenig mehr Rücksicht auf Lebenswirklichkeit und Wahrheitssehnsucht angesichts des methodischen Masochismus unserer Theoretiker wäre willkommen, ob sie nun radikaler Historismus, radikaler Konstruktivismus oder radikale Gedächtniskritik heißen. Michael Werner, der kluge Deutsch-Franzose in Paris, hat gelassen gemeint, die uns hier bewegende Frage sei „letztlich Glaubenssache“: „Die radikale Infragestellung der Möglichkeit von historischer Erkenntnis“, sagt er, „hat keinen grundsätzlich anderen Status als die teilweise oder wie auch immer sonst spezifizierte Bejahung einer solchen Möglichkeit“ – und plädiert für die „Pluralität der Verstehensweisen“.365 Das ist gut zeitgenössisch. Unserer täglichen Erfahrung entspricht, daß es eine lebenspraktische Wirklichkeit und Wahrheit gibt – wie sollte man sonst sicher autofahren können?, fragt Egon Flaig.366 Nach dem Philosophen Günther Patzig ist die Auffassung, die Historiker redeten nicht von Tatsachen, sondern lediglich von Behauptungen, „gleichzuachten der These, daß wir Menschen nicht eigentlich in Häusern, sondern in Sinnesdaten von Häusern wohnen, weil uns Häuser ja auf keine andere Weise als durch Sinneswahrnehmungen zugänglich werden“.367 John McDowell befindet sich gegen Richard Rorty „auf dem Weg zur Rehabilitierung der Objektivität“: „Weit davon entfernt, unsere Menschlichkeit zu verraten, ist die Anerkennung einer nicht-menschlichen, äußeren Autorität über unser Denken schlicht eine Bedingung des Erwachsenwerdens.“368 Nicht anders Harry G. Frankfurt: „Somit fußt unser Erkennen und Verstehen unserer Identität auf unserer Einschätzung einer Realität, die definitiv von uns unabhängig ist, und ist zur Gänze von ihr abhängig.“369 363
Vgl. Baberowski 2008, 129, der die praxeologischen Überlegungen mit den Worten abfertigt: „Sie scheinen mir aber oftmals die methodisch reflektierte Anwendung des ‚gesunden Menschenverstandes‘ nicht zu übersteigen …“. Zum „Allerweltswissen“ als Gegenstand der Wissenssoziologie s. Berger/Luckmann 1966/1990, 16. Vgl. Westerkamp 2007, der sich S. 92 entschieden absetzt von „Auffassungen […], in denen ein naiv empiristisches Tatsachenverständnis mit unserem Alltagsverständnis von Fakten eine trübe Verbindung eingehen“, was „die sprachanalytische als auch die kulturphilosophische Kritik des Tatsachenbegriffs unumkehrbar korrigiert“ habe. Vgl. Graf 2008. 364 Gensicke 2008, 14. 365 Werner 2000, 140f. Vgl. oben bei Anm. 285. 366 Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 52. 367 Patzig 1977/1980, 90f. 368 McDowell 2000, 47. 369 Frankfurt 2007, 93, welche Auffassung streng gerügt wird von Geyer, „Lügen, ohne zu täuschen“, FAZ vom 14. 2. 2007.
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Ebenso gilt aber, daß Forschung nicht zu abschließenden Antworten, sondern zu neuen Fragen führt. Wahrheit zu ermitteln bleibt die Aufgabe nicht nur der Historiker, sondern jeder Wissenschaft370, wobei es sich nicht lediglich um jemandes Wahrheit handeln kann, sondern nur um eine Wahrheit an und für sich.371 „Lüge kann es nur geben, solange es einen Wahrheitsanspruch gibt, an dem sie gemessen wird, sonst wäre die Kategorie ‚Lüge‘ selbst obsolet“ (Flaig formuliert knapper: „Nichts beweist die Existenz von ‚objektiver Realität‘ besser als der Irrtum“372); und mit demselben Wolfgang Reinhard weiter: „Weil der Wille zur Wahrheit immer noch lebendig ist, und sei es in noch so kläglicher Form, schlage ich vor, uns nicht der resignierten Hinnahme, wenn nicht sogar Rechtfertigung der Lügengesellschaft durch die Wissenschaften anzuschließen, sondern an der normativen Unterscheidung von Wahrheit und Lüge ebenso festzuhalten wie an Wahrhaftigkeit als Tugend und Verlogenheit als Laster.“ Er gibt freilich zu, daß dies eine „vorwissenschaftliche anthropologische Entscheidung“ ist.373 Mit Karl Popper „können wir an der Idee festhalten, daß die Wahrheit selbst jenseits aller menschlichen Autorität ist. Ja wir können nicht nur, wir müssen an ihr festhalten. Denn ohne sie gibt es keine objektiven Maßstäbe der wissenschaftlichen Forschung, keine Kritik an unseren Lösungsversuchen, kein Tasten nach dem Unbekannten und kein Streben nach Erkenntnis.“374 Mehr noch, nur sie nimmt uns in die Verantwortung.375 „Veritas“ ist nicht nur der Wahlspruch der Universität Harvard und „Wahrheit wird euch frei machen“ derjenige der Universität Freiburg im Breisgau376, sondern, Niklas Luhmann zufolge, der Code des gesamten Wissenschaftssystems.377 Man mag noch so
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Rüsen 2003/2006: Wissenschaftlichkeit wird durch Methode begründet, die ihrerseits durch Erfahrungsbezug und Begrifflichkeit gekennzeichnet ist. „Wahrheit ist ein diskursiver Prozeß, der von Kriterien geleitet wird, die kulturelle Sinnbildungen zustimmungsfähig machen“ (ebd. 167). 371 Anders etwa Weber 1904/1968, 184: „wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen“. Immerhin geht es immer noch um intendierte Allgemeingültigkeit. 372 Flaig, Ohne Wahrheit 2007, 72. 373 Reinhard 2007, 20. Vgl. ders., Lügengesellschaft 2006. 374 Popper 1984, 63. Vgl. auch Carr 1997, 326, der wahrheitsgemäßer Geschichtserzählung, und nur dieser, praktischen Wert zumißt. 375 Daniel 52006, 389: in kulturwissenschaftlicher Sicht bezeichnet Wahrheit, „was wir für richtig, wissenswert und begründungsfähig halten und wofür wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen“. Vgl. Ginzburg 2001, 29, Donna Haraway zitierend. Massiv dagegen Oexle, Ranke 2001, 241, sich auf Daniel 2000 beziehend. 376 Kaiser 2003, wozu Reinhard 2007, 11. 377 Gensicke 2008, 105, 108, nach Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft 1990, hier 167–270 das Kap. „Wahrheit“, zum binären Code (als Kommunikationsmedium), u. a. 173, 194. – Im Sachindex von Pierre Bourdieus Untersuchung der zeitgenössischen französischen Universität (Bourdieu 1984) kommt das Stichwort „vérité“ dagegen nicht vor, und es ist sehr selten in seinem grundlegenden Aufsatz zur Wissenschaftssoziologie
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5. Beschluß: Hoffnung auf Wahrheit
viel von Konstruktion anstatt Rekonstruktion reden: Die Historiker können sich vom Wahrheitsproblem nicht befreien. Es ist lediglich auf eine andere Ebene gehoben, diejenige der gespaltenen Wahrheiten, die doch eine Wahrheit bleiben und dabei stets das Lebenselement aller Geschichtsforschung und aller Geschichtsschreibung. Ernest Renan (1823–1892) hatte in einer Rede um den Grabspruch Veritatem dilexi gebeten. Marc Bloch (1886–1944), der große französische Historiker, schrieb es im Kriegsjahr 1917 in sein Notizbuch ein.378 In sein Testament vom 18. März 1941, erneut im Krieg, nahm er dann folgende Bitte auf: „Wie ein viel größerer als ich wünschte ich mir, daß man, als einzigen Spruch, auf meinen Grabstein diese einfachen Worte schriebe: Dilexit veritatem.“379 Marc Bloch, auf dessen Exlibris ein junger Winzer in der Kelter zu sehen ist und das Motto Veritas vinum vitae, „Die Wahrheit ist der Wein des Lebens“380, er, der wenige Jahre später mit seinem Leben für seine Überzeugungen einstand, „liebte die Wahrheit“, hat an die Wahrheit geglaubt. Sicher nicht an eine aus den Quellen einfach zu schöpfende, aber doch an eine vorhandene.
von 1975, wo (S. 26) „brilliant“ und „obscure“ die maßgeblichen Begriffspaare sind, Wahrheit als „official truth“ nur in der Religion eine Rolle spielt (35) und „scientific truth“ (36) lediglich je nach Interessenlage von Bedeutung ist. In „Science de la science“ von 2001 gibt es S. 141–165 einen Abschnitt „histoire et vérité“, in dem dargelegt wird, daß Tatsache und Wahrheit im Wettbewerbsfeld Wissenschaft zwar sozial bestimmt sind, die „coopération amicalement-hostile“ (S. 162, nach Popper) bzw. diese Art kollektiven Über-Ichs (S. 164) aber Objektivität erzeuge (was aber in Zeiten einer ideologisch beherrschten Wissenschaft außer Kraft gesetzt ist). 378 Bloch 1997, 165 (freundliche Auskunft von Peter Schöttler, Paris/Berlin). 379 Der Text bei Bloch, L’étrange defaite 1990, 211: „Comme un beaucoup plus grand que moi, je souhaiterais volontiers que, pour toute devise, on gravât sur ma pierre tombale ces simples mots: Dilexit veritatem.“ – Fiat veritas in vita war dagegen im Jahr 1930 die Devise von Ernst Kantorowicz (Oexle 2003, 30), eine Antwort auf Nietzsches Vorwurf gegen die Geschichtsforschung seiner Zeit: fiat veritas pereat vita (Nietzsche, Nutzen und Nachteil 1997, 231). 380 Raulff 1995, 372ff. (mit Abb.); vgl. Fögen 2003/2009, 71.
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Personenregister Das Register verzeichnet die im Text und in den Anmerkungen erwähnten Personen und Autoren. Nennungen nur in den Anmerkungen sind mit * gekennzeichnet. Althoff, Gerd 9, 46 Alma-Tadema, Lawrence 37 Altweg, Jürg 7*, 9*, 43* Ankersmit, Frank R. 25*, 54* Apel, Friedmar 6*, 27* Aristoteles 39 Arnold, Klaus 9* Assmann, Jan 38* Aubrée, Dom G. 48 Auge, Oliver 7* Augstein, Franziska 27* Baberowski, Jörg 25, 60* Bachmann-Medick, Doris 7* Baeriswyl, Armand 56* Baermann Steiner, Franz 12 Bahners, Patrick 6*, 26* Balibar, Françoise 13* Baudrillard, Jean 18 Bauer, Alexandra 1* Bayle, Pierre 20 Becker, Carl Lotus 8*, 35* Benjamin, Walter 51* Berben, Henri 45* Bergengruen, Werner 40* Berger, Peter L. 60* Berrelmeyer, Uwe 13* Beuse, Stefan 14 Birbaumer, Niels 3, 4*, 9*, 15* Blanke, Horst Walter 13* Blaschke, Olaf 5* Blasius, Rainer 19* Bloch, Marc 12 f., 25 f., 55*, 62 Blumenberg, Hans 10* Boccaccio, Giovanni 40 Bockelmann, Frank 44* Böhmer, Johann Friedrich 48 Bohr, Nils 14, 27 Boltanski, Luc 6*, 17 Boockmann, Hartmut 43* Boone, Marc 58* Borgolte, Michael 7, 8*, 10, 14*, 30 Borst, Arno 18, 25 f., 32 f., 52, 53*, 58* Bourdieu, Pierre 6*, 61* Brackmann, Albert 45 f. Brandt, Sabine 14* Breiner, Tobias 17*
Brendecke, Arndt 8*, 21* Buck, Thomas Martin 11*, 17* Burckhardt, Jacob 2*, 22 f., 30*, 31, 40, 48, 52 f. Burke, Peter 2, 20, 54 Bynum, Caroline W. 7, 36* Carr, David 61* Cassirer, Ernst 12, 20 Chartier, Robert 16*, 54 Chastellain, Georges 31 Chmel, Joseph 48 Clarke, David 5 Conrad, Christoph 7* Corcuff, Philippe 18 Creutz, Daniel 13* Damerau, Burghard 3, 37*, 39*, 58, 59* Daniel, Ute VII, 12, 20*, 21*, 23*, 61* Darboven, Hanne 17 Daston, Lorraine 24, 36 Davis, Nathalie Zemon 47* Day, Mark 29* Delaroche, Paul 37 Demandt, Alexander 27*, 32* Depkat, Volker 4* Dettmar, Jakob 17* Diener, Andrea 14* Döblin, Alfred 45 Dösekker s. Wilkomirski Droysen, Johann Gustav 4*, 8*, 10 f., 12*, 13, 16*, 20, 22, 25*, 32*, 34*, 40 f., 43, 49*, 53 Duby, Georges 18, 32 Du Cange, Charles du Fresne seigneur 48 Dumolyn, Jan 2*, 54 Durand, Dom Ursin 48 Eckert, Andreas 7* Einstein, Albert 27, 47 Elias, Norbert 12* Encke, Julia 44* Ende, Michael 14 Epimenedes 3* Epple, Angelika 1*, 34* Ermarth, Elizabeth Deeds 16* Ernst, Wolfgang 5*, 23*, 45*
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Personenregister
Esch, Arnold 23*, 30, 32, 58* Espagnat, Bernard d’ 9, 28* Etzemüller, Thomas 49*, 51 Evans, Richard J. 1*, 9* Falke, Gustav 38* Felsch, Philipp 29* Feyerabend, Paul 15* Fischel, Angela 30* Fischer, Erik 43* Flaig, Egon VII, 4, 9*, 12, 13*, 17, 18*, 19*, 21*, 22*, 25*, 27*, 33, 35*, 38*, 41*, 42 f., 49, 60 f. Flaubert, Gustave 39*, 40* Fleck, Ludwik 12 Fleckenstein, Josef 23* Fögen, Marie Theres 40, 55*, 62* Foerster, Heinz von 3* Foucault, Michel 6, 20, 24, 42*, 43 Frankfurt, Harry G. 60 Frevert, Ute 6* Fried , Johannes 2*, 4*, 9, 28*, 45*, 46, 52 Friedrich II., der Große, König von Preußen 53 Fröhlich, Claudia 15*, 53* Fuchs, Eckhardt 8* Fuhrmann, Horst 8*, 22*, 23*, 24, 38, 45* Fulbrook, Mary 11*, 34* Fulda, Daniel 47* Gachard, Louis-Prosper 48 Gadamer, Hans-Georg 34 Gall, Lothar VII Gantet, Claire 38* Ganzfried, Daniel 1* Geertz, Clifford 26* Geertz, Jochen 17 Gehrting, Petra 43* Gellius, Aulus 58* Genicot, Léopold 2*, 33, 48 Gensicke, Dietmar 60*, 61* Georg von Ehingen 31 George, Stefan 45 f. Georges Chastellain 31 Gerbert, Dom Martin 48 Gerhardt, Volker 28* Germer, Andrea 21* Geyer, Christian 37*, 60* Giesebrecht, Wilhelm 3 Ginzburg, Carlo 10, 12, 22*, 29, 39*, 61* Gloy, Karen 37* Goertz, Hans-Jürgen 3*, 5, 6*, 17*, 21*, 43, 49*
Goethe, Johann Wolfgang von 19 f. Goodman, Nelson 20* Gouguenheim, Sylvain 46 Graf, Rüdiger 60* Grafton, Anthony 24* Griem, Julika 36* Groebner, Valentin 17*, 51 Grondin, Jean 13 Grosjean s. Wilkomirski Gross, Thomas 36* Grossarth, Ulrich 17 Grossmann, G. Ulrich 35 Grünewald, Eckhart 45* Guillaume de Saint-Thierry 30* Guillaume le Maréchal 33 Gumbrecht, Hans Ulrich 7, 15*, 29 Habermas, Rebekka 5*, 47* Halbfass, Wilhelm 21* Hampe, Karl 23* Haraway, Donna 61* Hardtwig, Wolfgang 21*, 40* Hartog, François 16* Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 41 Hegemann, Helene 1* Heidegger, Martin 51 Heimpel, Hermann 16*, 24*, 32, 45*, 51, 55 Heine, Heinrich 22 Heinig, Anne 37* Heisenberg, Werner 12, 14, 28 Henriet, Eric B. 27* Herbst, Ludolf 48* Herzog, Benjamin 53* Hirschbiegel, Jan VII Hirschi, Caspar 10, 42*, 58, 59* Hobsbawm, Eric 4* Hölscher, Lucian 5*, 16*, 24, 27*, 29, 38*, 53*, 55, 56* Hoffmann, Arndt 26*, 53* Holinshed, Raphael 40 Holzner, Johann 39* Honneth, Axel 26* Hoock, Jochen VII, 3*, 13*, 27* Hoog, Emmanuel 38* Huizinga, Johan 25*, 26*, 39*, 40, 43*, 48, 50 Humboldt, Wilhelm von 16*, 40, 53 Illig, Heribert
8*
Jäger, Lorenz 22 Jäggi, Carola 5*
Personenregister Janser, Daniela 1* Johnen, Stefanie 37* Joop, Wolfgang 11 Jordan, Stefan 3*, 16* Jordanova, Ludmilla 52* Jungen, Oliver 12*, 59* Jussen, Bernhard VII, 17*, 18, 28 Kaiser, Gerhard 61* Kämmerlings, Richard 12* Kammeier, Wilhelm 8* Kant, Immanuel 12 f., 20 Kantorowicz, Ernst H. 22*, 23, 45 f., 62* Karich, Swantje 11* Kaube, Jürgen 1*, 19*, 25* Kehr, Paul Fridolin 23, 46, 56* Kerner, Max 9* Kiesow, Rainer Maria 3*, 15*, 22* Kilchmann, Esther 1* Kittsteiner, Heinz Dieter 5*, 45* Kleist, Heinrich von 39 Klenner, Jost Philipp 46* Kocka, Jürgen 52* Kohl, Helmuth 53 Kohlstruck, Michael 53* Konersmann, Ralf 21* Košebuba, Alexander 39* Kosellek, Reinhart 1, 4*, 5*, 10*, 11, 15*, 16*, 20, 22*, 23, 26, 27*, 28*, 32–34, 37, 39*, 42*, 48 f., 52, 55*, 56 Kraemer, Olaf 1* Kracauer, Siegfried 25*, 35* Krumeich, Gerd 27* Kühnel, Sina 15* Kuhn, Thomas S. 12 Kumar, Manjit 28* Lämmert, Eberhard 39*, 45* Lambert von Ardres 33 Lamprecht, Karl 41, 44 Landwehr, Achim 5* Langewiesche, Dieter 3, 4*, 5*, 9*, 15*, 18, 19* Le Goff, Jacques 50*, 57* Lejeune, Philippe 1* Leyenberg, Arne 15* Lichtenberg, Georg Christoph 56 Littell, Jonathan 1, 5* Lorenz, Chris 3, 49 Lovenberg, Felicitas von 1* Luckmann, Thomas 60* Lünig, Johann Christoph 48 Luhmann, Niklas 61
97
Mächler, Stefan 1* Märtl, Claudia 51* Magritte, René 42 Mali, Joseph 45* Mann, Golo 53* Mann, Thomas 39 Markowitsch, Hans J. 15* Marks, Erich 41 Martène, Dom Edmond 48 Martin, Hervé 33* Mayer, Helmut 10* McDowell, John 60 Meinecke, Friedrich 41 Mitterauer, Michael 52* Möllmann, Christopher 29*, 41* Momigliano, Arnaldo 26*, 48* Mommsen, Theodor 40*, 48 Moser, Peter 52* Müller, Achaz von 15* Müller, Jan-Dirk 21*, 47* Müllerburg, Marcel 9* Münch, Richard 6* Münkler, Herfried 16*, 20 Musil, Robert 48 Näfelt, Lutz 45* Neukom, Marius 1* Niebuhr, Barthold Georg 25* Nietzsche, Friedrich 6, 8*, 20–22, 60, 62* Nippel, Wilfried 13* Noiriel, Gérard 37* Nolte, Maik 17* Nolte, Paul 9*, 28*, 38* Nora, Pierre 50* Nordalm, Jens 10, 41 Nortmann, Ulrich 28* Oexle, Otto Gerhard VII, 1*, 3*, 5 f., 8*, 9*, 10*, 12, 13*, 14, 15*, 16*, 20, 21*, 22*, 27*, 28*, 32*, 33*, 36, 38*, 41, 43*, 45*, 46*, 49*, 50*, 54, 59*, 61*, 62* Offenstadt, Nicolas 37* Orłowski, Hubert 45* Ortega y Gasset, José 52 f. Ottomeyer, Hans VII, 35* Padova, Thomas de 28* Paravicini, Werner 31*, 40*, 45*, 50*, 56*, 57*, 59* Patzig, Günther 2*, 20, 59*, 60 Perlman, Elliot 14* Petersen, Traute 9* Pez, Dom Bernhard 48
98
Personenregister
Pirenne, Henri 44, 48 Plancher, Dom Urbain 48 Platon 12 Plutarch 40 Poirier, Anne und Patrick 17 Popper, Karl 61, 62* Rader, Olaf B. 46* Ranger, Terence 4* Ranke, Leopold von 4 f., 8, 20 f., 31 f., 39* Raphael, Lutz 4*, 5*, 7*, 26* Rathmann, Thomas 10*, 11*, 32*, 36* Rauchhaupt, Ulf 28* Raulff, Ulrich 3, 8, 12*, 45*, 46*, 62* Reents, Edo 22* Reents, Friederike 7* Reichert, Folker 23* Reinhard, Wolfgang 3*, 6*, 9*, 11, 19*, 20, 27*, 41 f., 58*, 61 Renan, Ernest 62 Repgen, Konrad 53 Rheinberger, Hans-Jörg 3*, 12* Richental, Ulrich von 11* Ricœur, Paul 1*, 24, 25*, 26*, 38*, 40, 49*, 58 Ritter, Henning 30 Roeck, Bernd 17* Rorty, Richard 60 Rosenfelder, Andreas 7*, 29* Rüsen, Jens 3, 4*, 12*, 13*, 19 f., 23, 24*, 25*, 34*, 37*, 44*, 47, 51*, 53*, 55, 56*, 61* Rymer, Thomas 48 Saint-Thierry, Guillaume de 30* Salin, Edgar 46* Schaper-Rinkel, Petra 29* Schiller, Friedrich von 9, 39 Schirrmacher, Frank 16 Schlögl, Rudolf 29* Schmidt, Tassilo 6 Schneider, Jean 33 Schöllgen, Gregor 19* Schönhärl, Korinna 45* Schöttler, Peter VII, 5*, 13*, 19*, 25*, 52*, 62* Scholz, Oliver 10* Schopenhauer, Arthur 35 Schulin, Ernst 51* Schulz, Gerhard 16* Scribner, Robert W. 42* Seel, Martin 28*
Seggern, Harm von VII Seibt, Ferdinand 46* Seischab, Steffen 33* Seitter, Walter 44* Selzer, Stephan 26*, 37* Shakespeare, William 40 Simmel, Georg 20 Simons, Peter 21* Skinner, Quentin 26 Sloterdijk, Peter 22* Sokal, Alan D. 11, 27 Sonne, Wolfgang 55* Stoler, Ann Laura 8* Strasser, Helge 9* Strohschneider, Peter 48 Terberger, Thomas 43* Thiel, Thomas 7, 27* Thukydides 39 Troeltsch, Ernst 12, 20 Truscheit, Karin 49* Tübke, Werner 37 Ulrich von Richental
11*
Vaissette, Dom Joseph 48 Veyne, Paul 43* Vic, Dom Claude de 48 Vinci, Leonardo da 58* Vischer, Friedrich Theodor 59 Vollrath, Hanna 46* Walser, Martin 5* Walter, Uwe 13* Walther, Gerrit 39*, 41*, 55* Walther, Peter Th. 23*, 58* Weber, Max 12, 19 f., 21*, 24 f., 50, 57, 59, 61* Wegmann, Nikolaus 10*, 32*, 36* Wehler, Hans-Ulrich 5*, 41, 50* Weinberg, Avraham 1* Weiß, Stefan 23* Welskopp, Thomas 10*, 13* Werner, Michael 18*, 60 Westerkamp, Dirk 35*, 37, 58, 60* Wettlaufer, Jörg VII White, Hayden 9*, 47* Wilkomirski, Binjamin 1, 58 Willaschek, Marcus 28*, 59 Winko, Simone 47 Zimmermann, Michael
10*, 16*