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German Pages [588] Year 2014
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350799 — ISBN E-Book: 9783647350790
Analysen und Dokumente Band 38
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
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Jan Philipp Wölbern
Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989 Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen
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Umschlagabbildung: Zwei Busse mit freigekauften Häftlingen passieren im Sommer 1977 den Grenzübergang Wartha/Herleshausen (Foto: Karl-Heinz Brunk)
Mit 34 Abbildungen, 6 Tabellen und 2 Diagrammen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-35079-9 ISBN 978-3-647-35079-0 (E-Book) Die gleichnamige Dissertation wurde an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam eingereicht. Datum der mündlichen Prüfung: 24.1.2013 Gutachter: Prof. Dr. Martin Sabrow, Prof. Dr. Thomas Brechenmacher © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt Danksagung ........................................................................................... 9 Einleitung............................................................................................. 11 Thema und Fragestellung ............................................................ 11 Forschungsstand .......................................................................... 16 Quellenlage.................................................................................. 19 Aufbau ......................................................................................... 32 I
Die Entstehung des Freikaufs (1962–1964) ................................. 35 1 2
3
II
Politische Justiz und politische Häftlinge in der DDR......... 35 Die Anfänge ........................................................................ 48 Private Freikäufe ................................................................. 48 Kreditverhandlungen und erster Freikauf durch die Bundesregierung ................................................................. 55 Die erste Hilfsaktion »großen Stils« und die Kirchen ........... 73 Agentenaustausch: Bedingung für den Häftlingsfreikauf ..... 74 Rückblende: Die Initiative des Ratsvorsitzenden der EKD ................................................................................... 80 Die Freikäufe der Kirche und die Entlassungswelle im Sommer 1964 ..................................................................... 83 Skandalisierung durch die Medien, Übernahme der Trägerschaft durch die Kirchen ........................................... 98
Strukturen, Akteure und Mechanismen ..................................... 105 1
Bundesrepublik ................................................................. 106 Evangelische und katholische Kirche ................................. 106 Bundesregierung, Berliner Senat und Westalliierte ............ 115
2
Die Rechtsanwälte ............................................................. 123 Jürgen Stange (West) ........................................................ 124 Wolfgang Vogel (Ost) ....................................................... 128
3
DDR ................................................................................. 136 Die Spitze des Machtdreiecks: Entscheidungen und Anweisungen durch die SED ............................................ 137
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Inhalt
Durchführung im Auftrag der Partei: MfS ........................ 141 Die »Partner des Zusammenwirkens«: Staatsanwaltschaften, Gerichte, MdI, MdJ, Staatsrat ......... 150 Der Bereich »Kommerzielle Koordinierung« ..................... 154 4
Funktionsmechanismen und ihre Konspiration ................. 156
III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen« (1964–1972) ... 163 1 Begrenzung der Hilfen auf »Langstrafer«, Fluchthelfer und Sonderfälle ................................................................. 163 Verhandlungen unter Vorbehalt ....................................... 166 »Appendix« des Häftlingsfreikaufs: Familienzusammenführungen ........................................... 173 Fortsetzung und Streit um die »Mittäter« .......................... 176 2 Neue Marschrichtung in der Großen Koalition ................. 185 Regierungsbildung ............................................................ 185 Ein Sozialdemokrat an der Spitze des Gesamtdeutschen Ministeriums..................................................................... 187 Ausdehnung der Hilfen auf »Kurzstrafer« .......................... 191 Am Scheideweg: Abbruch oder Fortsetzung der Verhandlungen? ................................................................ 196 Der Fall des KGB-Spions Heinz Felfe – Bremsschuh und Hebel für den Freikauf............................................... 204 Bilanz des Freikaufs in der Amtszeit Herbert Wehners ...... 217 3
4
Häftlingshilfen im Zeichen der »Neuen Ostpolitik« .......... 220 Die sozialliberale Koalition und das Konzept der »Neuen Ostpolitik« ........................................................... 221 Erweiterung der »Preisskala« ............................................. 224 Das Abrechnungssystem.................................................... 228 Der Grundlagenvertrag – Überlegungen für das Ende des Freikaufs ..................................................................... 232 Entlassungen in die DDR.................................................. 238 Arglosigkeit im Westen ..................................................... 255 Ostentlassungen 1966 bis 1972 ........................................ 257 Nachträgliche Ausreisen .................................................... 262 Das Verfahren in den siebziger und achtziger Jahren ......... 264 »Wenn man sich mit Halunken einlässt …« – Betrugsfälle ....................................................................... 267
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Inhalt
IV Der Freikauf als institutionalisiertes Programm (1973–1989) .... 281
V
1
Verstetigung im Rahmen der Entspannungspolitik, 1973–1982 ........................................................................ 281 »Kofferfälle«, Eierschecke und der »Kanal Wehner – Vogel – Honecker« ........................................................... 281 Pauschalierung der Gegenleistung ..................................... 290 »Völlige Pauschalierung«, Ausweitung und Konsolidierung in der Ära Schmidt ................................... 297 Der Freikauf als deutsch-deutsche Normalität................... 305 Bilanz des Freikaufs in der sozialliberalen Ära ................... 315
2
Zwischen Kooperation und Kollaboration, 1982–1989..... 316 Kontinuität nach dem Regierungswechsel ......................... 316 Der »Milliardenkredit« und die »Franz-Josef-StraußFälle«................................................................................. 322 Die Verhaftungs- und Ausreisewelle 1984/85 ................... 330 Der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik 1987 .......... 343 Eine zweite Verhaftungswelle aus ökonomischen Gründen? .......................................................................... 347 Das Ende des Freikaufs 1989 ............................................ 352
Der Freikauf und die Öffentlichkeit .......................................... 357 1 Im »medialen Halbdunkel«, 1964–1972 ........................... 361 2 Ein offenes Geheimnis, 1972–1989................................... 367 3 Verbreitung in der DDR: Privatkontakte, Westrundfunk, Menschenrechtsorganisationen ................. 382
VI Auswirkungen des Freikaufs auf die DDR ................................. 395 1 Der Freikauf und die DDR-Opposition ............................ 395 2 Kalkulierter Freikauf.......................................................... 406 3 Erosionsprozesse im Partei- und Repressionsapparat.......... 418 VII Die wirtschaftliche Dimension .................................................. 437 1 2
Waren statt Devisen: Die Lieferungen in die DDR ........... 437 Verwendung und wirtschaftliche Bedeutung der Gegenleistungen ................................................................ 441
VIII Die freigekauften Häftlinge ....................................................... 447 1
Profil und Deliktgruppen .................................................. 447
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Inhalt
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IX
Freikaufquote, Strafhöhen, Verbüßungsdauer, soziale Merkmale.......................................................................... 447 Übersicht der Deliktgruppen ............................................ 451 Erste Hauptgruppe: Spionage, Opposition und Widerstand ....................................................................... 452 Untergruppe: Härte- und Sonderfälle ............................... 456 Zweite Hauptgruppe: Fluchthelfer, »Republikflüchtige« und Antragsteller............................................................... 460 Kriminelle unter den Freigekauften................................... 463 Doppelte Gewalterfahrung und Befreiung? Die Perspektive der Inhaftierten ............................................... 466 Verhaftung, Stasi-U-Haft und Prozess .............................. 466 Im Strafvollzug.................................................................. 471 »Aktion Päppelanstalt«: Abschiebehaft Karl-Marx-Stadt und (Bus-)fahrt in den Westen.......................................... 478 Notaufnahme in Gießen ................................................... 485 Ende gut, alles gut? Neubeginn im Westen und Folgen der Haft ............................................................................ 488
Schluss ....................................................................................... 495
Anhang ............................................................................................... 507 1
Quellen- und Darstellungsverzeichnis ............................... 509 Ungedruckte Quellen........................................................ 509 Akten aus dem Vorzimmer des Büros von Oberst Volpert (sämtlich HA IX) ................................................. 510 Vermerke Volperts über die Treffen mit Vogel sowie Berichte Vogels ................................................................. 511 Zeitzeugeninterviews, Telefonate, Hintergrundgespräche und schriftliche Auskünfte ........... 512 Gedruckte Quellen ........................................................... 512 Darstellungen.................................................................... 518 Filme ................................................................................ 533 Internet ............................................................................. 534 Bildnachweis ..................................................................... 535
2 3 4 5
Abkürzungen ..................................................................... 537 Tabellen und Dokumente ................................................. 541 Personenregister ................................................................ 555 Angaben zum Autor .......................................................... 563
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Danksagung
Cicero wird der Ausspruch zugeschrieben, keine Schuld sei dringender, als die, Dank zu sagen. Gerne komme ich dem nach, denn Viele haben zur Entstehung dieses Buchs beigetragen, weitaus mehr, als ich hier namentlich anführen kann. Besonders erwähnen möchte ich Sylvia Stechel von der Behörde des BStU, Dr. Regina Rousavy vom Landesarchiv Berlin, die DzD-Editionsgruppe unter der Leitung von Dr. Edgar Büttner sowie Barbara Limberg, Anette Meiburg und Claudia Völkel vom Bundesarchiv. Mein spezieller Dank gilt Barbara Richter vom Archiv der Sozialen Demokratie und Greta Wehner, die erstmals umfassende Einsicht in den Nachlass Herbert Wehners in Bonn und Dresden gewährte, sowie Dr. Hermann Barth, der mir die Benutzung des Nachlasses von Hermann Kunst im Evangelischen Zentralarchiv Berlin ermöglichte. Den Mitarbeitern der Gedenkstätten in Potsdam, Hohenschönhausen und Bautzen bin ich für die Kontakte zu Zeitzeugen sehr verbunden. Stellvertretend für alle, die mir Auskunft gaben und die Perspektive der schriftlichen Überlieferung um ihre persönlichen Eindrücke und Erlebnisse bereicherten, seien Senator a. D. Ludwig A. Rehlinger (Berlin), MinRat a. D. Jan Hoesch (Berlin) und Jürgen Schönnagel (Potsdam) genannt. Für die konzeptionelle Begleitung der Arbeit danke ich meinen Betreuern Prof. Dr. Martin Sabrow und Prof. Dr. Thomas Brechenmacher, für die ungezählten Gespräche, Hinweise, Unterstützung bei den Recherchen sowie die kritische Durchsicht des Manuskriptes meinen Kollegen am ZZF Potsdam Dr. Jens Gieseke, Dr. Hans-Hermann Hertle und Dr. Matthias Judt sowie nicht zuletzt Dr. Tomas Kittan, Dr. Aniela Knoblich, Dr. Johannes Leicht, Andreas Riemann, Dr. Christian Adam und dem Lektorat in der Behörde des BStU. Eine große Unterstützung waren die Treffen des Zeitgeschichtlichen Promotionskollegs (»ZK«) der Konrad-Adenauer-Stiftung unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Beate Neuss, die in einer überaus angenehmen kollegialen Atmosphäre stattfanden und zur regelmäßigen Textproduktion ermutigten. Ermöglicht wurde die Arbeit durch ein Promotionsstipendium der KAS sowie ein Abschlussstipendium des ZZF und wurde ideell gefördert durch die Aufnahme in das Programm »Aufbruch 89« der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Von Herzen danke ich meiner Familie und meinen Freunden, die mich in den vergangenen Jahren fortwährend ermutigt haben, vor allem dann, wenn
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Danksagung
Hindernisse zu überwinden und Durststrecken zu überstehen waren. Widmen möchte ich das Buch meinen Eltern Inge und Klaus Wölbern, ohne deren Liebe und Unterstützung all dies nicht möglich gewesen wäre. Potsdam, im Juli 2013
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Humanität besteht darin, daß niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird. (Albert Schweitzer)
Einleitung
Thema und Fragestellung »Zu den Häftlingen: Wer sich strafbar gemacht hat, ist abzuurteilen und hat die Haftstrafe anzutreten. Und jetzt frage ich euch: Was soll der denn hier sitzen, und frisst hier bei uns! Warum sollen wir den nicht wegjagen? Das kann ich euch sagen: Weil ich ökonomisch denke für unsere Republik, Mensch! Ja, wir lassen sie sitzen, wenn es notwendig ist. Aber andererseits sind wir natürlich keine Dummköpfe und lassen unsere Gefängnisse voll mit irgendwelchen Schmarotzern, die wir sowieso nicht brauchen. Da sitzen ja zigtausende Kriminelle drin.«1
Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit der DDR »Unsere Motive waren und sind, den zu Unrecht in der DDR verurteilten Personen aus menschlichen Gründen zu helfen. Daneben wiegt auch ein politischer Aspekt. Auf die Höhe der Geldsumme dürfte es dabei grundsätzlich nicht ankommen. Die kommunistischen Funktionäre können sich noch so dialektisch gebärden, der Vorgang klassifiziert das System als unmenschlich.«2
Ludwig Rehlinger, Ministerialbeamter der Bundesregierung Zwischen 1963 und 1989 erwirkte die Bundesregierung durch materielle Gegenleistungen an das SED-Regime die Entlassung und meist auch die Ausreise von über 33 000 Deutschen, die aus politischen Gründen in der DDR verfolgt, abgeurteilt und inhaftiert worden waren. Mit dem Verkauf seiner eigenen Bürger an den Westen »erwirtschaftete« das SED-Regime mehr als 3 Milliarden DM, ein Betrag, den die Bundesrepublik der DDR in Form von Warenlieferungen über das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland bereitstellte. Der Tausch von Gefangenen gegen Waren, für den sich seit den achtziger Jahren und besonders nach 1990 die Bezeichnung »Häftlingsfreikauf« etabliert 1 Zum Wortlaut vgl. Dokument 1 im Anhang. 2 Für den genauen Wortlaut siehe Vermerk Rehlingers, 3.9.1963 in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Sonderedition »Besondere Bemühungen«. Bd. 1, München 2012, S. 60 (im Folgenden DzD BesBem Bd. 1 abgekürzt).
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
hat, war Bestandteil eines ungleich breiteren Beziehungsgeflechtes zwischen der DDR und der alten Bundesrepublik. Parallel zum Häftlingsfreikauf vereinbarten Unterhändler beider Seiten abseits der offiziellen Kontaktebenen die Ausreise von insgesamt 215 019 Familienangehörigen und Ausreisewilligen einschließlich von ihren Eltern getrennter Kinder in die Bundesrepublik. Daneben wurden circa 150 Agenten gegnerischer Geheimdienste ausgetauscht.3 Zusammen bildeten der Agentenaustausch, der Häftlingsfreikauf und die Familienzusammen- sowie Kinderrückführung die »Besonderen Bemühungen der Bundesregierung im humanitären Bereich«, so die Bezeichnung im Bonner Amtsdeutsch. Für den Häftlingsfreikauf waren seitens der DDR die Bezeichnungen »Übersiedlungen aus dem Strafvollzug«, »zentrale Maßnahmen« oder schlicht »Häftlingsaktion« in Gebrauch. Den Begriff »staatsfeindlichen Menschenhandel« benutzte das SED-Regime hingegen als Bezeichnung für die organisierte Fluchthilfe. Die Gegenleistungen des Westens für die insgesamt knapp 250 000 freigekauften oder ausgereisten Personen summierten sich auf die beachtliche Summe von rund 3,4 Milliarden D-Mark,4 womit die Aufwendungen für die »Besonderen Bemühungen« im Zeitraum 1963 bis 1989 den zweitgrößten Ausgabenposten aller Transferleistungen aus dem Bundeshaushalt an die DDR darstellten. Sie wurden lediglich von den Zahlungen für die Transitstrecken zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet (8,2 Mrd. DM) übertroffen.5 Auch wuchs der Anteil derjenigen an der Gesamtheit aller Ausgereisten, die auf dem Wege der »Besonderen Bemühungen« in den Westen kamen: Während in den sechziger Jahren lediglich circa 3 Prozent aller Ausgereisten aufgrund der materiellen Gegenleistungen der Bundesregierung die DDR verließen, war es in den siebziger Jahren bereits ein gutes Viertel aller Ausgereisten und in den achtziger Jahren mehr als die Hälfte. In den Jahren 1984/85 erreichte dieser Anteil mit fast 80 Prozent einmalige Spitzenwerte.6 Dieser bemerkenswerten humanitären und wirtschaftlichen Dimension des Themas steht seine weitgehende Vernachlässigung in der geschichtlichen Erinnerung gegenüber. Ungeachtet der Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zum Bereich »Kommerzielle Koordinierung«, 3 Pötzl, Norbert F.: Basar der Spione. Die geheimen Missionen des DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel. 3. Aufl., Hamburg 1997, S. 13. 4 Die genaue Höhe der gezahlten Beträge für den Häftlingsfreikauf einerseits und die Familienzusammenführungen andererseits lässt sich aufgrund der fortdauernden Aktensperrung nach wie vor nicht bestimmen. Vgl. Abschnitt zur Quellenlage. Die Schätzung dürfte jedoch zutreffen, dass ca. 3 Mrd. DM für den Häftlingsfreikauf, ca. 0,4 Mrd. DM für die Familienzusammenführungen aufgewendet wurde. Vgl. Tabelle 1 im Anhang. 5 Vgl. Kap. VII. zur wirtschaftlichen Dimension. 6 Vgl. Tabelle 4 im Anhang.
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Einleitung
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der Enthüllungen der Medien nach Öffnung der Stasi-Akten und einigen von Journalisten verfassten Büchern, in denen das Thema eine Rolle spielte, ist seit 1990 keine grundlegende wissenschaftliche Monografie zum Häftlingsfreikauf erschienen. Einer der Gründe hierfür ist sicherlich, dass das Thema Teil der – bisweilen mythisch aufgeladenen – »Geheimgeschichte« des Kalten Krieges ist. Einschlägige Dokumente sind bis heute, über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, nicht oder nur eingeschränkt verfügbar; manche wurden wegen ihrer Brisanz vernichtet, möglicherweise außer Landes geschafft.7 Sowohl die Bundesregierung als auch die beteiligten Stellen in der DDR stuften die Vorgänge als Geheim oder gar Streng Geheim ein. Zwei Berliner Rechtsanwälte, Jürgen Stange aus dem Westteil und Wolfgang Vogel aus dem Ostteil der geteilten Stadt, handelten im Auftrag ihrer Regierungen und mit Unterstützung der evangelischen und katholischen Kirche die jeweiligen Leistungen und Gegenleistungen aus. Politiker, Ministerialbeamte, Anwälte, Kirchenmänner und allemal die Akteure im Staats- und Parteiapparat der DDR waren gegenüber Dritten zum Schweigen verpflichtet. Dies entsprach der Bedingung der DDR, dass derartige Vereinbarungen nur unter strengster Diskretion möglich seien. Sie sah in einer öffentlichen Behandlung der Vorgänge eine Gefahr für ihr Ansehen und befürchtete, sich dem Vorwurf des Menschenhandels ausgesetzt zu sehen, eine Sorge, die umso schwerer wog, je mehr das Streben nach internationaler Anerkennung zum Hauptziel der DDR-Außenpolitik wurde. Doch auch die Bundesregierung hatte ein Interesse an Geheimhaltung, da die Vereinbarungen die ethisch-moralisch schwierige und öffentlich umstrittene Frage des Regierungshandelns gegenüber dem anderen deutschen Staat berührten. Dass die Geschichte des Häftlingsfreikaufs bislang nur auszugsweise bekannt, die Grundzüge aber kaum wissenschaftlich erforscht sind, ist umso überraschender, als dass das Thema in mehrfacher Hinsicht nachgerade exemplarisch für zentrale Probleme in der DDR-Geschichte und der Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen seit 1961 ist. Im Einzelnen lassen sich vier Aspekte benennen, die die zentralen Untersuchungsfelder und Fragestellungen der vorliegenden Studie bilden. 1. Wie in kaum einem anderen Thema spiegeln sich in der Geschichte des Freikaufs die Kontinuitäten und Wandlungsprozesse im deutsch-deutschen Verhältnis zwischen Mauerbau und Mauerfall wider. Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung wandelte sich in diesem Zeitraum von der Politik der Nicht-Beziehung und Nichtanerkennung der DDR über eine Phase der partiellen Kooperation hin zur Entspannungspolitik, die auch nach dem Regie7
Vgl. Abschnitt zur Quellenlage.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
rungswechsel 1982 fortgeführt wurde. Auch die Außenpolitik der DDR verlagerte ihren Schwerpunkt von der propagandistischen Abgrenzung hin zu einer verstärkten Kooperation mit dem Westen. Der Häftlingsfreikauf war im übertragenen Sinne sowohl Barometer als auch Instrument dieser atmosphärischen Veränderungen: Je mehr sich die Rahmenbedingungen verbesserten, desto mehr wuchs auf beiden Seiten die Kompromissbereitschaft, änderten sich der Umfang und die Modalitäten der Häftlingsentlassungen, die ihrerseits auf das »deutsch-deutsche Klima« zurückwirkten. Jenseits aller weltanschaulichen und ideologischen Gegensätze stellten die Vereinbarungen oftmals den Versuch dar, die gegenseitigen Interessen auf pragmatische Weise auszugleichen. Dabei war diese Entwicklung keinesfalls zwangsläufig. In ihr zeigte sich das Grundproblem der Entspannungspolitik, das nach wie vor aktuelle Dilemma zwischen den Chancen der Zusammenarbeit eines demokratischen Systems mit einer Diktatur auf der einen Seite und den Risiken einer solchen Kooperation auf der anderen Seite. Wie weit sollte und durfte die Bundesrepublik mit der DDR in Bezug auf die Befreiung politischer Häftlinge kooperieren? Welche Interessenkonflikte gab es diesbezüglich und wie beeinflussten sie den Prozess der Entscheidungsfindung? Welche Bedingungen, welche »Spielregeln« der DDR waren die Akteure im Westen bereit zu akzeptieren, um die Entlassung von Häftlingen zu bewirken? Immerhin bestand Anlass zur Sorge, mit den Gegenleistungen an die DDR das repressive System zu stabilisieren. Noch größer war die Gefahr, bei einer zeitlich und inhaltlich unbegrenzten Fortsetzung der Freikaufspraxis dem SED-Regime Anreize für die absichtliche »Produktion« politischer Häftlinge zu schaffen, der DDR somit eine ergiebige und dauerhafte Einkommensquelle zu eröffnen. Würde der Freikauf nicht ab einem bestimmten Punkt das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken, d. h. die Kausalitäten dahingehend umkehren, dass nicht mehr die Verhaftungen der Grund für den Freikauf, sondern der Freikauf der Grund für Verhaftungen würde? Der Häftlingsfreikauf bewegte sich dabei im Spannungsfeld zwischen humanitären Aktionen auf der einen und Menschenhandel auf der anderen Seite. Humanitäre Aktion war er unbestreitbar im Hinblick auf die Motive der Bundesregierung, Menschenhandel zweifellos in Hinsicht auf das Handeln der DDR. In seiner Ambivalenz kann die Geschichte des Häftlingsfreikaufs somit die Geschichte beider Staaten in ihrem jeweiligen Verhältnis von Verflechtung und Abgrenzung untersuchen,8 damit zu der oft geforderten »Analyse von
8 Vgl. Möller, Frank; Mählert, Ulrich (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin 2008; Wengst, Udo; Wentker, Hermann (Hg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz. Berlin 2008.
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Einleitung
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innerdeutschen Transfers«9 beitragen und einen wichtigen Aspekt der deutschdeutschen Beziehungsgeschichte im Rahmen einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte darstellen. 2. Eng verbunden mit der Funktion als Barometer für den Wandel der innerdeutschen Beziehungen und als Beispiel für das Grunddilemma der westlichen Entspannungspolitik ist der Aspekt der Widersprüchlichkeit des Häftlingsgeschäftes für die DDR. Zum einen ließ sich die innere Opposition schwächen, wenn man die »Staatsfeinde« in den Westen abschob. Gleichzeitig konnte das Regime aus ihrem Verkauf im wahrsten Sinne des Wortes »Kapital« schlagen. Sofern man die Erlöse in die Wirtschaft lenkte oder für die Anschaffung von Konsumgütern nutzte, stärkte dies die Legitimation der Einparteienherrschaft gegenüber der Bevölkerung. Zum anderen jedoch verursachte die vorzeitige Entlassung von Inhaftierten ein ganzes Bündel an Problemen. Zunächst drohte die öffentliche Behandlung des Vorgangs in den Westmedien das Ansehen der DDR zu beschädigen und das Streben nach internationaler Anerkennung zu torpedieren. Beträchtlich waren die Probleme zudem im Hinblick auf die Ideologie und das Grenzregime. Wenn ein Inhaftierter, ohne dass er »Reue« gezeigt oder »Besserung« gelobt hatte, vor der vollen Verbüßung seiner Strafe aus der Haft entlassen wurde, war dies faktisch eine Aufgabe des Anspruchs, den Häftling zum sozialistischen Staatsbürger zu »erziehen« und ihn von der Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu »überzeugen«. Zudem untergrub das Häftlingsgeschäft im übertragenen Sinne die Mauer, insofern die Inhaftierten nach ihrer Entlassung in den Westen ausreisen durften und es sich um Personen handelte, die wegen eines Fluchtversuchs oder wegen ihrer Bemühungen um Ausreise festgenommen worden waren. Im äußersten Falle war zu befürchten, dass die Freikaufspraxis Ausreisewillige sogar auf den Gedanken bringen könnte, sich absichtlich verhaften zu lassen, um über den Freikauf in den Westen zu gelangen. Nicht zuletzt war damit zu rechnen, dass der Vorgang die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und des Ministeriums des Innern, die Bediensteten im Strafvollzug sowie die Funktionäre im Justizapparat demotivieren würde, geradezu eine »zersetzende« Wirkung auf ihre Arbeitsmoral und in letzter Konsequenz auch auf ihre innere Bindung an die 9 Wentker, Hermann: Forschungsperspektiven und -desiderate der DDR-Geschichte. In: Hechler, Daniel (Hg.): Promovieren zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Ein Handbuch. Berlin 2009, S. 25–39, hier 31; im gleichen Sinne Kleßmann, Christoph: Konturen und Entwicklungstendenzen der DDR-Forschung. Herausforderungen zeithistorischer Promotionsthemen. In: Ebenda, S. 40–54, hier 46.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Staatsführung haben könnte. Schließlich unterminierte die von oben befohlene vorzeitige Entlassung und Abschiebung inhaftierter Ausreise- und Fluchtwilliger den Sinn ihrer Tätigkeit, Flucht- und Ausreise zu bekämpfen und Gesetzesverstöße zu ahnden. Wie gingen die verantwortlichen Stellen in der DDR mit diesem Dilemma um? Was taten sie, um die Widersprüche zu entschärfen, wenn sie schon nicht zu beseitigen waren? Wie wirkte sich das Häftlingsgeschäft somit langfristig auf die »Bindekräfte«10 des Systems gegenüber seinen eigenen Trägern aus? 3. Der Häftlingsfreikauf ergänzt die quasi-diplomatische »horizontale« Ebene der Verhandlungen zwischen den staatlichen, kirchlichen und anwaltlichen Akteuren um die »vertikale« Perspektive der betroffenen Häftlinge, deren weiteres Lebensschicksal sich schließlich an der Einbeziehung oder Nichteinbeziehung in den Freikauf entschied. Wer waren die Freigekauften und welche Tatvorwürfe lagen ihrer Inhaftierung zugrunde? Welche Bedeutung hatte der Freikauf für sie, wie erlebten sie ihre Haftzeit sowie die Ausreise über die Untersuchungshaftanstalt des MfS im Karl-Marx-Stadt (Chemnitz)? Was geschah mit ihnen nach der Ankunft in der Bundesrepublik? Ist der Einwand, dass die Haft mit der Entlassung in den Westen ja meist ein glückliches Ende fand, nicht eine allzu wohlmeinende Verkürzung der »Erfolgsstory Häftlingsfreikauf« auf den Aspekt der körperlichen Befreiung, wenn man die langfristigen psychischen Folgen betrachtet? 4. Abschließend stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Häftlingsfreikaufs in einem größeren historischen Kontext. War er eine historische Singularität oder hat es ähnliche Phänomene in anderen historischen Epochen, in der Geschichte des 20. Jahrhunderts oder anderen Nahtstellen der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges gegeben? Inwiefern war es im Kalten Krieg »üblich«, gegnerische »Kombattanten« für wirtschaftliche Leistungen freizugeben? Zeigt sich im Häftlingsfreikauf ein grundlegender Wandel in der politischen Kultur des Kalten Krieges, besonders im Hinblick auf die Rolle physischer Gewalt?
Forschungsstand Obwohl seit der Öffnung der DDR-Archive mehr als 20 Jahre vergangen sind, ist die Geschichte des Häftlingsfreikaufs bis heute weitgehend unerforscht. 10 Sabrow, Martin; Zündorf, Irmgard: Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Bonn 2007, S. 415; vgl. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin 2000, S. 433–471.
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Zum Teil noch vor 1989, besonders aber nach der Wiedervereinigung wurde das Thema zunächst in journalistischen Publikationen aufgegriffen, die sich in teils polemisch-investigativem Stil damit auseinandersetzten.11 Später richtete sich das öffentliche Interesse hauptsächlich auf die Person und die Rolle des DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel.12 Zweifelsohne eine »Pionierarbeit«13 ist die Vogel-Biografie des Spiegel-Autors Norbert F. Pötzl. Sie befasst sich hauptsächlich mit der Rolle des Anwaltes beim Agentenaustausch und beruht u. a. auf Unterlagen aus Vogels Privatarchiv, sodass das Buch die Ereignisse hauptsächlich aus der Perspektive des Anwaltes schildert. Ein Schwachpunkt der journalistischen Publikationen und der seit 1992 ausgestrahlten Fernsehdokumentationen ist, dass die Darstellungen nicht auf schriftlichen Quellen, sondern im Wesentlichen auf Interviews mit den seinerzeit auskunftsbereiten Akteuren beruhen.14 Ähnliches gilt für die Erkenntnisse des 1. Untersuchungsausschusses der 12. Wahlperiode (1990–1994) zum Bereich »Kommerzielle Koordinierung«15 und der Enquete-Kommission des Bundestages zur »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« sowie zur »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit«,16 in denen zahlreiche Zeitzeugen aus ihrer noch »frischen« Erinnerung berichteten. Die vorliegende Monografie ist die erste Studie zum Thema Häftlingsfreikauf, die auf breiter Quellenbasis fußt und den aktuellen Forschungsstand berücksichtigt.17 Neue Erkenntnisse hat bisher zum einen Christoph Meyers 11 Meyer, Michel: Freikauf. Menschenhandel in Deutschland. Übers. von Marianne Lipcowitz. Original u. d. T. »Des hommes contre des marks« (1977). Wien 1978; Schmidthammer, Jens: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West. Hamburg 1987; Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker. Berlin 1992; Ders.: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski (Tatort Politbüro, Bd. 2). Berlin 1992; Brinkschulte, Wolfgang; Gerlach, Hans Jörgen; Heise, Thomas: Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen. Frankfurt/M. 1993. 12 Wyden, Peter: Wall. The inside story of divided Berlin. New York 1989, gekürzte deutsche Ausgabe: Ders.: Die Mauer war unser Schicksal Berlin 1995; Whitney, Craig R: Advocatus Diaboli. Wolfgang Vogel – Anwalt zwischen Ost und West. Berlin 1993; Pötzl: Basar der Spione. 13 Creuzberger, Stefan: Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die Politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969. Düsseldorf 2008, S. 20. 14 Hemming, Heinz: Kopfgeld für die Freiheit – die Geschäfte der DDR mit politischen Gefangenen, 12.11.1991, ZDF; Edler, Horst: Menschenhandel? Häftlingsfreikauf aus der DDR, 1.10.1998, MDR; Ast, Jürgen: Die gekaufte Freiheit. Häftlingsfreikauf im geteilten Deutschland. Dokumentation (2 Teile), 6.9.2004, ARD. 15 PA, 12. Wahlperiode, 1. Untersuchungsausschuss (»KoKo«), 1993. 16 Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Hg. v. Deutschen Bundestag. Baden-Baden 1995. 17 Der jüngste (Bild-)Band von Kai Diekmann (Hg.): Freigekauft. Der DDR-Menschenhandel. München 2012 nähert sich dem Thema aus einer populären Perspektive; Jenkis, Helmut: Der Frei-
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Biografie über Herbert Wehner zutage gefördert, in der die Entwicklung der »Besonderen Bemühungen« in Wehners Amtszeit auf der Basis des WehnerNachlasses beschrieben wird.18 Zum anderen wird der Freikauf in einem Unterkapitel in Johannes Raschkas Studie zur Justizpolitik in der Ära Honecker thematisiert, wofür Raschka MfS-Akten auswertete.19 Die meisten Darstellungen zur deutsch-deutschen Geschichte, der Geschichte der Bundesrepublik oder der DDR erwähnen das Thema hingegen gar nicht oder nur kursorisch.20 Ansonsten stützen sie sich auf die bisher publizierten Aufsätze in Fachzeitschriften und Beiträge in Sammelbänden.21 Diese setzen sich übergreifend mit einzelnen Aspekten oder in einem anderen Zusammenhang mit dem Häftlingsfreikauf auseinander.22 kauf von DDR-Häftlingen. Der deutsch-deutsche Menschenhandel. Berlin 2012 stützt seine Darstellung weder auf intensive Quellenstudien noch auf die Fachliteratur, ein Quellen- und Darstellungsverzeichnis fehlt; die Publikation von Thomas von Lindheim: Bezahlte Freiheit. Der Häftlingsfreikauf zwischen beiden deutschen Staaten. Baden-Baden 2011 genügt nicht wissenschaftlichen Standards, da sie mindestens 2 unzureichend als Zitate gekennzeichnete Textpassagen enthält und über weite Strecken eine zusammenhanglose Aneinanderreihung von MfS-Dokumenten ist, auch hier fehlt ein Quellenverzeichnis; methodische Mängel weist auch Lindheims Beitrag im DA auf: Juristische Probleme beim Freikauf von politischen Häftlingen, 1963–1989. In: DA 43 (2010) 6, S. 1002–1007. Die Veröffentlichung von Henrik von Quillfeld: Dissidenten für Devisen. Häftlingshandel zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland. Erfurt 2010 ist der Abdruck der Magisterarbeit des Autors. Zwei weitere Dissertationen sind im Entstehen: Alexander Koch: Eine deutsch-deutsche Geschichte im Kalten Krieg. Der Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR (Stand Juni 2013, Universität Heidelberg) sowie Bernd Lippmann: Der Freikauf von politischen Häftlingen aus der DDR unter besonderer Berücksichtigung des Wirkens des MfS (Stand Dezember 2007, TU Chemnitz). 18 Meyer, Christoph: Herbert Wehner. Biographie. 3. Aufl., München 2006, S. 314–323, 395– 403 u. 448–458. 19 Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers. Köln 2000, S. 280–287. 20 Z. B. Nakath, Detlef: Deutsch-deutsche Grundlagen. Zur Geschichte der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik in den Jahren von 1969 bis 1982. Schkeuditz 2002; Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006; Garton Ash, Timothy: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. München 1993, S. 212–218; Potthoff, Heinrich: Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990. Berlin 1999, S. 32 f., 66 u. 121 f.; Wentker, Hermann: Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989. München 2007, S. 413 f. 21 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 367–373. 22 Budde, Heidrun: »Freikauf« im Zwielicht. In: Recht und Politik (2010) 3, S. 157–163; Eisenfeld, Bernd: Der Freikauf politischer Häftlinge. In: Buchstab, Günter (Hg.): Repression und Haft in der SED-Diktatur und die »gekaufte Freiheit«. Dokumentation des 14. Buchenwald-Gesprächs vom 22. bis 23. November 2004 in Berlin zum Thema »Häftlingsfreikauf«. Sankt Augustin 2005, S. 11–35; Horster, Maximilian: The Trade in Political Prisoners between the Two German States, 1962–1989. In: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 403–424; Judt, Matthias: Häftlinge für Bananen? Der Freikauf politischer Gefangener aus der DDR und das »Honecker-Konto«. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007) 4, S. 417–439; Ders.: Der Bereich
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Breit gefächert ist demgegenüber die Forschungsliteratur zu den Themen politische Justiz, politische Häftlinge und mit Einschränkungen auch zu einzelnen Haftanstalten in der DDR. Sie ist im vorliegenden Zusammenhang besonders für den Kontext des Freikaufs von Bedeutung, sowohl aus Sicht der Inhaftierten wie aus der Binnenperspektive des Justiz- und Repressionsapparates.23 Wenn überhaupt, so berühren jedoch auch diese Studien den Häftlingsfreikauf nur am Rande.
Quellenlage Dass die Forschung bislang einen Bogen um das Thema geschlagen hat, ist nicht zuletzt der schwierigen Quellensituation geschuldet, vor allem insofern es die Verhandlungsebene zwischen den Akteuren in Ost und West betrifft. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass viele der personenbezogenen und vertraulichen Informationen nur mündlich ausgetauscht wurden.24 Von dem, Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski. Mythos und Realität. Berlin 2013, S. 125–128 u. 221–227; Koch, Alexander: Die Rolle der Kirchen im deutsch-deutschen Häftlingsfreikauf. In: MKiZ 31 (2013) 7, S. 169–180; Lippmann, Bernd: Moderner Menschenhandel. Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR. In: Conze, Eckart (Hg.): Die demokratische Revolution 1989 in der DDR. Köln 2009, S. 64–77; Tessmer, Carsten; Wiegrefe, Klaus: Deutschlandpolitik in der Krise. Herbert Wehners Besuch in der DDR 1973. In: DA 27 (1994) 6, S. 600–627; Volze, Armin: Kirchliche Transferleistungen in die DDR. In: DA 24 (1991) 1, S. 59–66; Ders.: Eine Bananenlegende und andere Irrtümer. In: DA 26 (1993) 1, S. 58– 66; Wölbern, Jan Philipp: Die Entstehung des »Häftlingsfreikaufs« aus der DDR, 1962–1964. In: DA 41 (2008) 5, S. 856–867; Ders.: Quellen und Forschungsbedingungen zum Freikauf von politischen Gefangenen durch die Bundesrepublik Deutschland. In: Hering, Rainer; Kretzschmar, Robert (Hg.): Zeitgeschichte, Archive und Geheimschutz. Beiträge einer Sektion auf dem 49. Deutschen Historikertag 2012 in Mainz. Stuttgart 2012, S. 20–26. 23 Das Standardwerk ist nach wie vor der 1979 in erster Auflage erschienene Band von Karl Wilhelm Fricke: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945– 1968. Bericht und Dokumentation. 2. Aufl., Köln 1990; vgl. ferner Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Berlin 1995; Raschka: Justizpolitik; Weinke, Annette: Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis in der Honecker-Ära. In: Ansorg, Leonore; Gehrke, Bernd; Klein, Thomas (Hg.): »Das Land ist still – noch!«. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln 2009, S. 37–56 sowie die Beiträge in: Engelmann, Roger (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000. Zu einzelnen MfS- und MdI-Gefängnissen vgl. z. B. Schnell, Gabriele: Das »Lindenhotel«. Berichte aus dem Potsdamer Geheimdienstgefängnis. Berlin 2005; Fricke, Karl Wilhelm; Klewin, Silke: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956 bis 1989, Bericht und Dokumentation. 3., aktualis. Aufl., Dresden 2007; Ansorg, Leonore: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg. Berlin 2005. 24 Siehe z. B. die Notiz des Ministerialbeamten im BMB Plewa für Rechtsanwalt Stange, Juli 1978; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13650, Bl. 118: »Erläuterungen – wie immer – mündlich«.
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was schriftlich festgehalten wurde, ist das meiste nur in Archiven zugängig. Archivquellen bilden daher die wesentliche Materialgrundlage der vorliegenden Studie. Hinsichtlich des ungedruckten Materials herrscht weitestgehend noch die von Hermann Weber beklagte »archivarische Asymmetrie«25 vor, d. h., während die DDR-Archive seit 1992/93 der Forschung offen stehen, gilt dies nicht ohne Einschränkung für die Archive der Bundesrepublik. Asymmetrisch ist die Quellenlage außerdem hinsichtlich des Umfangs der Überlieferung: Zwar sind die Unterlagen in den Archiven der DDR in der Regel zugänglich, doch ist der größte Teil der seinerzeit angefertigten Dokumente nicht mehr vorhanden. Genau umgekehrt ist die Lage in Bezug auf die Archive der Bundesrepublik: Hier ist offenbar der größte Teil der seinerzeit angefertigten Dokumente zwar noch vorhanden, aber nicht zugänglich. Zunächst zu den Archiven der DDR. Die Problematik der lückenhaften Überlieferung zeigt sich besonders im Parteiarchiv der SED im Bundesarchiv.26 Obwohl die maßgeblichen Entscheidungen zweifelsohne im Parteiapparat gefällt wurden, gibt es fast keine diesbezüglichen Dokumente, weder in den Protokollen und Beschlussauszügen des Politbüros, noch in den fachlich zuständigen ZK-Abteilungen für Staats-, Rechts- und Sicherheitsfragen oder im Büro Ulbricht. Lediglich im Büro Honecker sind einige wenige Berichte Vogels über seine Treffen mit Bundespolitikern überliefert sowie Gesprächsvermerke der DDR-Delegation während des Staatsbesuches in der Bundesrepublik im September 1987.27 Der gleiche ernüchternde Befund gilt für die Überlieferung des Staatsapparates, hier hauptsächlich in Bezug auf die Generalstaatsanwaltschaft, obwohl Generalstaatsanwalt Josef Streit als formeller Auftraggeber Vogels gegenüber dem Westen auftrat.28 Lediglich die Aufzeichnungen von KoKo-Chef Alexander Schalck-Golodkowski über seine Kontakte zum Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß sind erhalten und ermöglichen teilweise die Rekonstruktion der Verhandlungsverläufe
25 Weber, Hermann: »Asymmetrie« bei der Erforschung des Kommunismus und der DDRGeschichte? Probleme mit Archivalien, dem Forschungsstand und bei den Wertungen. In: APuZ 47 (1997) 26, S. 3–14, hier 4. 26 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen (SAPMO) im Bundesarchiv. 27 BArch-SAPMO, DY 30, Büro Honecker. 28 Behlert, Wolfgang: Die Generalstaatsanwaltschaft. In: Rottleuthner, Hubert: Steuerung der Justiz in der DDR. Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Hg. v. Bundesministerium der Justiz. Köln 1994, S. 287–350, hier 288 f. berichtet, dass im Dienstgebäude der GStA Reißwölfe aufgestellt waren, die »im Sommer/Frühherbst 1990 praktisch ununterbrochen in Betrieb« gewesen seien.
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und der wirtschaftlichen Bedeutung des Häftlingsgeschäftes im Zeitraum zwischen 1982 und 1988.29 Gleichfalls schwierig ist die Quellenlage hinsichtlich der Überlieferung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU). Als »Generalunternehmer für Sicherheit«30 war das MfS im Auftrag der SED für die Durchführung der »Häftlingsaktionen« zuständig. Erich Mielke, seit 1957 Minister für Staatssicherheit, delegierte die unmittelbaren Verhandlungen an Heinz Volpert, der bis 1969 als stellvertretender Leiter der Hauptabteilung XX, seit 1969 im Büro der Leitung und schließlich ab 1972 im Sekretariat des Ministers ein eigenes Büro unterhielt. Ein gesonderter Aktenbestand aus dem Büro Volpert existiert im Archiv des BStU jedoch nicht, sodass es folglich keinen entsprechenden Klassifikationspunkt in den behördeninternen Findmitteln gibt. Laut Zeugenaussagen von Mitarbeitern in der Berliner MfS-Zentrale wurde der größte Teil des Schriftgutes nach Volperts Tod im Frühjahr 1986 an das Büro seines Nachfolgers Gerhard Niebling sowie an das Sekretariat des Ministers übergeben und fiel im Herbst 1989 weitgehend der Vernichtung anheim.31 Theoretisch besteht immerhin die Möglichkeit, dass ein Teil der Unterlagen außer Landes geschafft wurde oder Kopien in russischen Archiven existieren.32 Durch einen Zufall blieb jedoch ein Teil der Akten des Büros Volpert erhalten. Wenige Wochen nach Volperts Ableben übernahm der Leiter des »Büros für Sonderaufgaben« (BfS) der Hauptabteilung IX des MfS einige der Akten aus dem Vorzimmer Volperts und verbrachte sie an seinen Dienstsitz in der 29 BArch-B, DL 2. Siehe dazu auch Seiffert, Wolfgang; Treutwein, Norbert: Die SchalckPapiere. DDR-Mafia zwischen Ost und West. Die Beweise. Wien 1991. Laut telefonischer Auskunft von Herrn Treutwein vom 2.2.2011 wurden die Papiere nach Fertigstellung des Buches vom Bundesnachrichtendienst übernommen, von diesem danach offensichtlich an das Bundesarchiv übergeben. Es ist daher möglich, dass der BND einige Vermerke entnahm. 30 Vollnhals, Clemens: Der Schein der Normalität. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Suckut, Siegfried; Süß, Walter (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 213–248, hier 245. 31 Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 54, S. 312; vgl. »Unterlagen, die den Weltfrieden gefährden«. Ost-West-Unterhändler Wolfgang Vogel unter Stasi-Verdacht. In: Der Spiegel v. 23.3.1992, Nr. 13. 32 Der frühere HVA-Chef Markus Wolf schreibt in seinen Erinnerungen, ihm hätten bei der Abfassung seines Buches die Berichte zur Verfügung gestanden, die Vogel über die Gespräche mit seinen Verhandlungspartnern im Westen anfertigte. Seinerzeit wären die Berichte ihm selbst, Mielke und Honecker vorgelegt worden. Zudem hätten die sowjetischen Partner eine »extraredigierte und zensierte Version« dieser Berichte erhalten. Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. 3. Aufl., München 1999, S. 196, 209. Für seine Erinnerungen konnte Wolf demnach die Originale oder Kopien der DDR-seitigen Ursprungsfassungen nutzen oder er hatte Zugriff auf die »zensierten« Versionen für die »Freunde«. Der Wahrheitsgehalt seiner Behauptung lässt sich indes nicht überprüfen.
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zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen.33 Dort überdauerten die Akten die Wendewirren und sind heute im Bestand der HA IX im Archiv des BStU verzeichnet. Inhaltlich handelt es sich dabei hauptsächlich um die Listen der Bundesregierung mit den Namen und Haftdaten der gewünschten Häftlinge, ergänzt um Randnotizen Volperts, ferner Abrechnungsunterlagen, Schriftwechsel zwischen den beiden Anwälten Vogel und Stange sowie wenige, als »streng geheim« eingestufte Berichte Vogels über die Verhandlungen im Westen.34 Gleichfalls in Volperts Büro entstanden, jedoch separat archiviert ist ein Teil einer Berichtsakte aus einem GM-Vorgang unter dem Decknamen »Georg« mit unklarer Beziehung zur Person des Rechtsanwalts Vogel.35 Die Akte reicht bis in die frühen fünfziger Jahre zurück und enthält handschriftliche Berichte Vogels, hauptsächlich jedoch Vermerke Volperts über seine Treffen mit dem Anwalt, den er als Führungs- bzw. Kontaktoffizier regelmäßig in seiner Anwaltspraxis aufsuchte. Die Akte endet im Juni 1964, kurz vor Beginn der ersten großen Entlassungswelle. Lediglich zwei weitere, der »Georg-Akte« zuzuordnende Vermerke Volperts aus den Jahren 1968/69 wurden bisher aufgefunden.36 Ein Manko all dieser Überlieferungssplitter aus dem SED-Parteiapparat und dem Büro Volpert im MfS ist obendrein, dass sie kaum Einblicke in die Parteiund MfS-internen Bewertungsvorgänge, Strategieplanungen und Handlungsdirektiven, Diskussions- sowie Entscheidungsverfahren geben. Hauptsächlich dokumentieren sie Einzelfälle, die Verhandlungsverläufe und zuweilen die 33 Übergabeprotokoll, 5.6.1986; BStU, MfS, HA IX, Nr. 1753, Bl. 5–7. 34 Siehe die Liste der im Büro Volpert entstandenen Akten im Quellenverzeichnis. 35 »Georg-Akte«; BStU, MfS, AIM 5682/69, Bde. 7 u. 8. Soweit nicht ediert, im Folgenden: BStU, GA, Bd.-Nr. Ein Personalaktenteil der 1969 archivierten AIM-Akte »Georg«, die Klar- und Decknamen der Quelle offenlegen würde, ist im BStU-Archiv nicht überliefert. Ein Zeuge im Prozess gegen Vogel behauptete, er habe eine Personalakte eines IM »Georg« im Zuge der Beschlagnahmung von Akten aus dem Sekretariat Mielkes im Dezember 1989 gesichtet, der Klarname des IM sei Rechtsanwalt Prof. Dr. h.c. Wolfgang Vogel gewesen. Die Akte sei jedoch verloren gegangen, Zeugenvernehmung v. 13.3.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 4, S. 15–36. Zweifelsfrei Vogel zuzuordnen ist der im Jahr 1957 archivierte IM-Vorgang »Georg«, AIM 2088/57. Ob das MfS eine (Wieder-)Aufnahme des IM-Vorganges veranlasste, Vogel neuerlich eine Verpflichtungserklärung unterschrieb und daher auch nach 1957 Inoffizieller oder Geheimer Mitarbeiter des MfS war, ist derzeit nicht zu beantworten. Keine Zweifel bestehen daran, dass das MfS in Aktenvermerken, die entweder auf Berichten Volperts von Gesprächen mit Vogel beruhen oder schriftliche Berichte Vogels an Volpert darstellen, noch 1968 und zuletzt 1989 die Bezeichnung »GM Georg« bzw. »Georg« im Kontext mit der Person Vogels benutzte. Für die Beurteilung seines konkreten Handelns und den Charakter seines Verhältnisses zum MfS ist die Frage nach einer formalen IM-Verpflichtung schlichtweg irrelevant, da sich das Phänomen Vogel durch die Kategorie »IM« nicht angemessen erfassen lässt. 36 Liste der Vermerke Volperts und Berichte Vogels im Quellenverzeichnis.
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Informationen samt ihrer Bewertung, die Rechtsanwalt Vogel der Partei- und MfS-Führung überbrachte. Dieser Informationsverlust lässt sich immerhin teilweise durch die Akten anderer Diensteinheiten des MfS kompensieren, da sich die Praxis des Verkaufs politischer Häftlinge auch dort niedergeschlagen hat. Die Vermerke, Protokolle von Dienstkonferenzen und sonstige Niederschriften und Notizen beleuchten die Modalitäten der Abwicklung des Häftlingsgeschäftes und geben Auskunft über die langfristigen, alltäglichen, teils auch psychologischen (Rück)wirkungen der Maßnahmen auf den Repressionsapparat. Die Unterlagen finden sich vor allem in den Beständen der Zentralen Koordinierungsgruppe samt ihren nachgeordneten Bezirkskoordinierungsgruppen (ZKG/BKG), dem »Untersuchungsorgan«, d. h. der HA IX, und der für den Betrieb der Untersuchungsgefängnisse des MfS zuständigen Abteilung XIV. Hinzu kommen Abschlussarbeiten der Juristischen Hochschule des MfS, Kaderakten, auf der Führungs- und Leitungsebene des MfS entstandene Dokumente37 und diverse IM-Vorgänge. Schließlich bleibt hinsichtlich des Archivgutes des BStU anzumerken, dass es einige wenige Akten gibt, die noch heute als Verschlusssache eingestuft und deshalb nicht zugängig sind.38 Aufgrund der Bestimmungen des StasiUnterlagen-Gesetzes gleichfalls nicht verwendbar sind Protokolle von Abhörmaßnahmen des MfS, die u. a. das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen und nachgeordnete Stellen betrafen. Das Privatarchiv des früheren DDR-Rechtsanwaltes Wolfgang Vogel (1925–2008) war dem Autor nicht zugängig. Leider hat die Witwe von Wolfgang Vogel auch der Bitte um ein Zeitzeugengespräch nicht entsprochen. Ergebnislos blieb gleichfalls eine Rechercheanfrage beim Archiv der Außenpolitik der Russischen Föderation, da die Suche nach einschlägigem Material »keine positiven Ergebnisse« erbrachte.39 Relevante Dokumente dürften sich ohnehin nur im Archiv des Russischen Inlandsgeheimdienstes FSB befinden, der die Hinterlassenschaft des sowjetischen KGB verwahrt. Eine auch nur teilweise Öffnung ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass der vierte Band der Editionsreihe zur Westpolitik des Sowjetischen Staats- und Parteichefs Nikita Chruschtschow Einzelheiten über das Zusammenspiel zwischen der SED-Führung in Ost-Berlin und der
37 Hauptsächlich aus dem Sekretariat des Ministers (SdM), der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) und dem Büro der Leitung (BdL). 38 U. a. BStU, ZKG, Nr. 9620, 9621, 9626, 9643. 39 Auskunft des Außenministeriums der Russ. Föderation an den Verfasser v. 28.12.2009.
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KPdSU-Spitze in Moskau bei der Entstehung des Häftlingsgeschäftes 1963/64 zutage fördert.40 Auf westlicher Seite stellt sich die Lage umgekehrt dar, weil die meisten Dokumente zwar noch vorhanden, aber nur eingeschränkt zugängig sind. Die Überlieferung des federführenden Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen/Innerdeutsche Beziehungen ist inzwischen in die Obhut des Geheimarchivs des Bundesarchivs übergegangen und dort der Bestandsgruppe B 137 zugeordnet.41 Aktenvernichtungen gab es offenbar nur in der Amtszeit des Innerdeutschen Ministers Egon Franke (1969–1982), wie nach dem Regierungswechsel 1982 bekannt wurde.42 Im Unterschied zum »normalen« Archivgut sind die Akten der Kernüberlieferung, d. h. die Sachstandsvermerke und Entscheidungsvorlagen der Ministerialbürokratie, der Schriftwechsel zwischen den Rechtsanwälten Stange und Vogel sowie die Listen mit den Namen der freigekauften Häftlinge aber weitgehend noch als Verschlusssachen (VS) der Stufen »Vertraulich« und »Geheim« eingestuft. Da für vor 1994 angelegte VS des Bundes eine Regelschutzfrist von 60 Jahren gilt, stehen die Unterlagen der Forschung noch auf Jahrzehnte nicht zur Verfügung, obwohl der Grund für die damalige Klassifizierung, das Drängen der DDR auf strikte Diskretion, mit der Wiedervereinigung obsolet wurde.43 Das »VS-Problem« ist dabei keinesfalls auf das Sachgebiet der »Besonderen Bemühungen« beschränkt. Selbst vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass sich allein in den Geheimarchiven des Bundes rund 7,5 Millionen Vorgänge (!) aus der Zeit der deutschen Teilung unter Verschluss befinden. Ihre Freigabe ist »in öffentlichem und wissenschaftlichem Interesse, geschichtspolitisch notwendig, politisch inzwischen auch gewollt und […] durch höchstrichterlichen Beschluss angemahnt worden«, wie der Freiburger Historiker Joseph Foschepoth anmerkt.44 Die Offenlegung dieser VS sollte nicht zuletzt deshalb 40 Bisher erschienen ist Wettig, Gerhard; Karner, Stefan: Chruschtschows Westpolitik 1955 bis 1964. Bd. 3: Kulmination der Berlin-Krise (Herbst 1960 bis Herbst 1962). Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen, München 2011. 41 Siehe die Ausführungen von Elke-Ursel Hammer. In: Apelt, Andreas H. (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR. Halle/Saale 2011, S. 101–115, insbes. 112. 42 »Allerlei Merkwürdigkeiten um Franke. Nachforschungen in Barzels Ministerium. Verlust geheimer Akten«. In: FAZ v. 2.2.1983; »Vorwürfe in Bonn gegen Franke. Verschwundene Akten, fragwürdige Kosten. Der frühere Minister wird unkorrekter Amtsführung bezichtigt«. In: FAZ v. 1.2.1983. Ob sich Akten zum Häftlingsfreikauf darunter befanden, ist unklar. 43 Siehe die Ausführungen von Elke-Ursel Hammer. In Apelt (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf, S. 101–115, hier 105. 44 Foschepoth, Joseph: Staatsschutz und Grundrechte in der Adenauerzeit. In: Niederhut, Jens; Zuber, Uwe (Hg.): Geheimschutz transparent? Verschlusssachen in staatlichen Archiven. Essen 2010, S. 27–58, hier 29 f.
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rasch erfolgen, weil es sich im Wesentlichen um Vorgänge handelt, die in ihrer Aktualität überholt und daher »nur« noch von zeitgeschichtlichem Interesse sind. Immerhin hat das Bundeskabinett 2010 die Verschlusssachenanweisung des Bundesinnenministeriums dahingehend geändert, dass bis zum 1. Januar 2025 alle VS-Vorgänge von 1949 bis 1994 zu öffnen sind.45 Die Akten zum Thema Häftlingsfreikauf sind von diesem Verfahren jedoch aus zwei Gründen ausgenommen. Laut Mitteilung des Bundesministeriums des Innern, das als Rechtsnachfolger des Innerdeutschen Ministeriums über die Offenlegung von dessen Akten entscheidet, gibt es zwar keinen materiellen Grund mehr, die Unterlagen zum Häftlingsfreikauf weiterhin geheim zu halten. Eine Freigabe en bloc sei aber angeblich deshalb nicht möglich, weil sie zugleich Vorgänge des Agentenaustausches beinhalten, der Teil der »Besonderen Bemühungen« war. Insbesondere handele es sich um Schriftgut deutscher und ausländischer »befreundeter Nachrichtendienste« mitsamt den Klarnamen ihrer Verbindungspersonen (V-Personen). Derlei Schriftgut sei wegen des fortdauernden Interesses an Geheimhaltung von der Freigabe ausgenommen, was somit eine zeitaufwändige Einzelfallprüfung jeder Akte und Herauslösung der Vorgänge erfordere. Das sei wegen des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes nicht möglich.46 Die Begründung ist in mehrfacher Hinsicht nicht überzeugend. Erstens ist ein fortdauerndes Interesse der Nachrichtendienste am Schutz ihrer Informanten allein deshalb widersinnig, da es sich bei dieser Gruppe schließlich um enttarnte V-Personen handelte, deren Namen sich obendrein aus den Akten des Büros Volpert, aus Haftkarteien verschiedener Gedenkstätten und Parallelüberlieferungen entnehmen lassen. Zweitens sind Akten der deutschen Nachrichtendienste nicht allein schon »wegen ihres Wesens geheimhaltungsbedürftig«, wie das Bundesverwaltungsgericht 2010 festgestellt hat und drittens ist es unwahrscheinlich, dass die Offenlegung der Unterlagen »befreundeter« Nachrichtendienste ohne deren ausdrückliche Einwilligung negative Auswirkungen auf das partnerschaftliche Verhältnis haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass es sich um historisch abgeschlossene und durchweg über 20, größtenteils weit über 30 Jahre zurückliegende Ereignisse handelt, dürfte eine Offenlegung der Akten wohl kaum das Wohl der Bundesrepublik Deutschland
45 Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlusssachen (VS-Anweisung – VSA) v. 31. März 2006 in der Fassung v. 26. April 2010 (GMBl. 2010, S. 846), dort § 9: »Änderung und Aufhebung der VSEinstufung«. 46 Vermerk des Verfassers über ein Gespräch im BMI, 25.3.2009; Vermerk des Verfassers über eine telefonische Auskunft des BMI, 24.9.2009.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
gefährden.47 Wohl eher steckt der von Karl Wilhelm Fricke beklagte »sinnlose Geheimhaltungsfetischismus«48 der Nachrichtendienste dahinter. Immerhin hat das Bundesinnenministerium in den Jahren 2005/06 eine Anregung des Bundesarchivs aufgenommen, im Rahmen der Editionsreihe »Dokumente zur Deutschlandpolitik« (DzD) eine auf zwei Bände angelegte Sonderedition zu den »Besonderen Bemühungen« zu erarbeiten. Der erste, 2012 erschienene Band enthält offengelegte Dokumente aus dem besagten Quellenbestand B 137 aus dem Zeitraum 1963 bis 1969.49 Dankenswerterweise hat das Bundesarchiv dem Autor die Dokumente vorab zur Verfügung gestellt, jedoch darauf hingewiesen, dass die Auswahl der Dokumente nach den Erfordernissen einer Edition getroffen wurde und sie folglich nur einen kleinen Ausschnitt der gesamten Überlieferung abbildet.50 Einen Antrag des Autors beim Bundesminister des Innern auf weitergehende Herabstufungen als für die Edition vorgesehen hat das BMI mit dem Hinweis auf fehlende personelle Kapazitäten abgelehnt.51 Leider verstärkt dies den Eindruck, dass sich Forschung in einem vorgegebenen Rahmen bewegen soll. Der Verweis auf personelle Engpässe sowie die angeblich schützenswerten Interessen der Nachrichtendienste dienen wohl eher als Schlupfloch, um sich vor »Herabstufungen zu drücken«, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Bezug auf das VS-Problem bereits argwöhnte.52 In jedem Falle ist die Ablehnung einer breiten Aktenöffnung unerfreulich und steht einer vorbehaltlosen Aufarbeitung entgegen. Immerhin hat das BMI für das vorliegende Projekt noch drei Bände aus dem Bestand B 137 freigegeben, die bis in die achtziger Jahre reichen und Auskunft über Haftzeiten, statistische Eckdaten sowie die Deliktgruppen der freigekauften Häftlinge geben.53 Schließlich wurden aus dem Bundesarchiv 47 So der Tenor eines Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichtes, in dem es um die Zurückhaltung von Akten des BND betreffend Adolf Eichmann ging. BVerwG 20 F 13.09, Beschluss v. 19.4.2010, http://www.bverwg.de/enid/311?e_view=detail&meta_nr=419, download 26.4.2012. 48 Fricke, Karl Wilhelm: Spionage als antikommunistischer Widerstand. Zur Zusammenarbeit mit westlichen Nachrichtendiensten aus politischer Überzeugung. In: DA 35 (2002), S. 565–578, hier 578. 49 DzD BesBem Bd. 1. Einige der offengelegten Dokumente wurden nicht in die Edition aufgenommen. Sie werden im Folgenden mit der Aktensignatur und dem Zusatz »Auswahl Sonderedition DzD« (AS-DzD) zitiert. Blattnummern in geschweiften Klammern beziehen sich auf eine eigene Nummerierung des Autors. Da die Edition zahlreiche Dokumente aus den auch vom Autor genutzten Archiven ediert hat, sind diese nach dem DzD-Band zitiert. 50 Vermerk des Verfassers über eine Auskunft der DzD-Editionsgruppe im Bundesarchiv, 8.10.2009. 51 Abt.-ltr. G im BMI an Martin Sabrow, 1.4.2010. 52 Blasius, Rainer: Das streng geheime Deutschland. In: FAZ v. 6.9.2010; Ders.: Geschichte unter Verschluß. In: FAZ v. 29.5.2011. 53 BArch-B, B 137/36058, 36059, 36066.
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auch die Nachlässe des früheren Gesamtdeutschen Ministers Rainer Barzel, des Staatssekretärs Franz Thedieck sowie des Leiters der »Rechtsschutzstelle« Kurt Behling herangezogen, die jedoch nur wenig Material zum Freikauf enthalten.54 Weiterhin konnte für die vorliegende Studie Archivmaterial aus dem Landesarchiv Berlin benutzt werden, da der Senat in den sechziger und siebziger Jahren an den Vorgängen beteiligt war. Eine Öffnung der gleichfalls teils klassifizierten Unterlagen war unproblematisch.55 Erfreulich ist ferner, dass auch die evangelische und katholische Kirche erstmals ihre Archive geöffnet haben. Im Einzelnen betrifft dies Akten aus dem Nachlass des früheren Bevollmächtigten der EKD Bischof Hermann Kunst (1950–1977) im Evangelischen Zentralarchiv Berlin56 sowie die Akten zur »Aktion de Redemptionis Captivorum« (lat. »Aktion zur Befreiung der Gefangenen«) aus dem Katholischen Büro Bonn im Archiv des Erzbistums Köln.57 Beide Bestände konzentrieren sich zeitlich auf die Jahre 1964 bis 1975 und enthalten Aufzeichnungen, die eine genauere Beschreibung der Rolle der Kirchen ermöglichen. Für die ökonomische Seite des Häftlingsfreikaufs konnten ferner die Bestände im Archiv des Diakonischen Werkes ausgewertet werden, wobei deren wesentlicher Inhalt seit Anfang der neunziger Jahre bekannt ist.58 Mit freundlicher Genehmigung von Greta Wehner war erstmals auch der Nachlass des früheren Gesamtdeutschen Ministers und SPDFraktionsvorsitzenden Herbert Wehner im Archiv der Sozialen Demokratie in Bonn und der Bibliothek des Herbert-Wehner-Bildungswerks in Dresden zugängig. Er enthält sowohl einige Geheimakten aus der Provenienz des Gesamtdeutschen Ministeriums, Aufzeichnungen Wehners sowie die Korrespondenz, die Wehners Stieftochter und spätere Ehefrau Greta Wehner geb. Burmester mit den Angehörigen, Freunden und Bekannten von Ausreisewilligen und in der DDR Inhaftierten führte. Interessant sind dabei nicht nur die Einzelfälle, sondern auch die handschriftlichen Vermerke Vogels über die Aussichten auf den Freikauf des jeweiligen Inhaftierten, für den sich die Wehners bis zum Regierungswechsel 1982 teils über Jahre hinweg einsetzten.59
54 BArch-K, N 1371 (Nachlass Rainer C. Barzel); BArch-K, N 1174 (Nachlass Franz Thedieck); BArch-K, N 1253 (Nachlass Kurt Behling). 55 Landesarchiv Berlin (LArchB), Bestandsgruppen B Rep. 002, B Rep. 003, B Rep. 091. 56 Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA), Bestandsgruppe 742 (Nachlass Hermann Kunst). 57 Archiv des Erzbistums Köln (AEK), Zug. 683 (Katholisches Büro Bonn). 58 Archiv des Diakonischen Werkes (ADW), Hauptgeschäftsstelle (HGSt). 59 Archiv der Herbert und Greta Wehner-Stiftung Dresden (HGWS), Bestandsgruppe Humanitäre Fragen (HF); Archiv der Sozialen Demokratie Bonn (AdSD), Nachlass Herbert Wehner, Bestandsgruppen BMG, Gesamtdeutscher Ausschuss sowie Allgemeine Korrespondenz – DDR.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt hat der Benutzung seines Depositums im Archiv der Sozialen Demokratie und seines Privatarchivs in Hamburg zugestimmt, wobei jedoch die meisten hier relevanten Unterlagen bereits in der Reihe »Dokumente zur Deutschlandpolitik« ediert wurden.60 Außerdem konnte im Archiv der Sozialen Demokratie das Willy-Brandt-Archiv genutzt werden.61 Nicht benutzbar war hingegen der Nachlass Egon Frankes, da er sich in einem ungeordneten Zustand befindet. Im Archiv für ChristlichDemokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung fanden sich kaum thematisch relevante Dokumente.62 Aus dem Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages wurden neben den bereits erwähnten Unterlagen des »KoKo«Ausschusses des Bundestages die Protokolle des Ausschusses für Gesamtdeutsche Fragen gesichtet.63 Die Überlieferung von staatlicher und kirchlicher Seite wird ergänzt durch Akten des Deutschen Roten Kreuzes, das seit 1964 über einen Mitarbeiterstab im Notaufnahmelager Gießen verfügte, um die freigekauften Häftlinge über noch inhaftierte Haftkameraden zu befragen und statistische Auswertungen der Verurteilungsgründe anzufertigen. Zugleich verfügte das DRK über eine eigene Inhaftiertenkartei und erhielt bis 1982 vom Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministerium die Listen mit den Namen und Haftdaten der freigekauften politischen Häftlinge.64 Quellen und Bilder aus dem Stadtarchiv Gießen,65 Mitschnitte aus den Rundfunkarchiven von ARD und ZDF sowie Artikel aus den mittlerweile online recherchierbaren Archiven des Spiegel, der FAZ und der Zeit sowie der umfangreichen Pressedokumentation des Deutschen Bundestages ergänzen die westliche Überlieferung.66 Ferner genehmigte die Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin einen Antrag auf Einsicht in die Ermittlungsakten des Strafverfahrens gegen Wolfgang Vogel.67 Nicht zugängig waren Akten des Caritasverbandes, was insofern verwundert, da zahlreiche Akten aus dem Caritas-Archiv im DzD-Sonderband abgedruckt wurden.68 Auch der Nachlass von Franz Josef Strauß im Archiv der 60 AdSD, Helmut-Schmidt-Archiv (HSA); Archiv Helmut Schmidt Hamburg (AHSH). 61 AdSD, Willy-Brandt-Archiv (WBA). 62 Vgl. die Fundstücke in DzD BesBem Bd. 1 aus dem Nachlass Gradls und Kiesingers, siehe Anm. 49. 63 Parlamentsarchiv, Protokolle des Ausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen (PA, AGBF). 64 Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Suchdienst München, verschiedene Bestandsgruppen. 65 Stadtarchiv Gießen, verschiedene Bestandsgruppen. 66 Deutscher Bundestag, Pressedokumentation, Bestand 924-1/0, Bestand 924-1/6; Bestand 060-3, Dossier Wolfgang Vogel; Dossier Ludwig Rehlinger. 67 Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91. 68 Der Präsident des Caritasverbandes an den Verfasser, 26.3.2010.
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Hanns-Seidel-Stiftung war wegen der 30-jährigen Schutzfrist nicht benutzbar.69 Einen Antrag auf Akteneinsicht in die Ermittlungsakten des Verfahrens gegen Egon Franke und Edgar Hirt hat die Staatsanwaltschaft Bonn mit Verweis auf die VS-Einstufung der Unterlagen abgelehnt.70 Rechtsanwalt Stange, der im Auftrag der Bundesregierung mit Wolfgang Vogel verhandelte, hat nach eigenen Angaben seine Unterlagen vernichtet, soweit sie sein Mandat betrafen.71 Das Bundesamt für Verfassungsschutz teilte auf Anfrage mit, dass Vorgänge zu den Rechtsanwälten Stange und Vogel »aus Datenschutzgründen« vernichtet worden seien.72 Ebenfalls abgelehnt wurde ein Offenlegungsantrag nach dem Freedom of Information Act bei der Central Intelligence Agency, da die Information über Existenz oder Nichtexistenz einschlägiger Akten selbst eine klassifizierte Information sei.73 An gedruckten Quellen liegen neben der DzD-Sonderedition auf westlicher Seite bislang nur wenige Dokumente des Innerdeutschen Ministeriums aus den siebziger Jahren vor.74 Ferner finden sich einige Dokumente mit Bezug zu den »Besonderen Bemühungen« in der Quellenedition von Heinrich Potthoff zu den deutsch-deutschen Beziehungen zwischen 1969 und 1982,75 für die er hauptsächlich Akten aus den Parteiarchiven der SED sowie der SPD benutzte. Daneben liegen Memoiren aus der Feder westlicher Akteure vor, die unmittelbar an den Verhandlungen beteiligt waren. Die 1991 erstmals veröffentlich69 Dies gilt auch für die Überlieferung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zu den Einzelfällen Inhaftierter und Antragsteller, für die sich Strauß einsetzte. Die Möglichkeit, eine Schutzfristverkürzung zu beantragen, wurde nicht weiter verfolgt, da die Unterlagen im Unterschied zum Teilnachlass Herbert Wehners im AdSD die Verhandlungsebene nicht näher beleuchten. 70 Der Leitende Oberstaatsanwalt in Bonn an den Verfasser, 9.6.2010. Die Staatsanwaltschaft Bonn lehnte den Antrag auf Einsichtnahme nach § 476 StPO am 20.5.2010 mit der Begründung ab, dass das Bundesinnenministerium dem Antrag auf Aufhebung der Geheimhaltung nicht entsprochen habe. Eine Prüfung und Entscheidung des BMI erfolge nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft, doch dafür sei die Durchsicht der kompletten Ermittlungsakte erforderlich. Der damit verbundene Verwaltungsaufwand stelle sich »als unverhältnismäßig dar«. 71 PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133: Zeuge Jürgen Stange, S. 287. Die Eheleute Jürgen und Antonie Stange verstarben kinderlos, einen schriftlichen Nachlass gibt es nicht. 72 Mitteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz an den Verfasser, 21.10.2008. 73 Mitteilung des Information and Privacy Coordinator Washington, DC an den Verfasser, 5.5.2011. 74 Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 2: 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1972; Die Bahr-Kohl-Gespräche 1970–1973 (einschl. Dok.-CD). Bearb. v. Hanns Jürgen Küsters, München 2004; Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 3: 1. Januar 1973 bis 31. Dezember 1974. Bearb. v. Helmut Altrichter, München 2005; Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 4: 1. Januar 1975 bis 31. Dezember 1976. Bearb. v. Helmut Altrichter, München 2007; Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 5: 1. Januar 1977 bis 31. Dezember 1978. Bearb. v. Helmut Altrichter, München 2011. 75 Potthoff, Heinrich: Bonn und Ost-Berlin 1969–1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente. Bonn 1997.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
ten Erinnerungen von Ludwig A. Rehlinger sind nach wie vor die ausführlichste Schilderung. Rehlinger leitete von 1963 bis 1969 das zuständige Fachreferat im Gesamtdeutschen Ministerium (BMG) und war von 1982 bis 1988 Staatssekretär im zwischenzeitlich in Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen (BMB) umbenannten Ressort.76 Zwar liefert Rehlinger manch interessante Einblicke in die internen Analyse- und Entscheidungsvorgänge, vertritt jedoch hauptsächlich eine »gefilterte regierungsamtliche Position«77 und blendet dabei vieles in seinen Erinnerungen aus. Auch die beiden Gesamtdeutschen Minister Rainer Barzel und Erich Mende, der Staatssekretär im Kanzleramt Egon Bahr, der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß sowie der frühere Abteilungsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz Hans Josef Horchem erwähnen die Vorgänge in ihren Memoiren, allerdings nur auf wenigen Seiten.78 Ähnliches gilt für Akteure der evangelischen und katholischen Kirche.79 Rechtsanwalt Diether Posser, der 1964 vonseiten der Bundesregierung mit der Verhandlungsführung beauftragt werden sollte und später verschiedene Ministerämter in Nordrhein-Westfalen bekleidete, berichtet über die Anfänge des Freikaufs in den Jahren 1963/64.80 Schließlich bleiben noch die knappen Ausführungen in den Erinnerungen des CIA-Mitarbeiters Theodore S. Shackley zu erwähnen, der die Vorgänge während seines Aufenthaltes in Berlin 1965/66 beobachtete.81 Es gibt nur wenige gedruckte Quellen aus den Archiven der ehemaligen DDR. Lediglich in der Editionsreihe des Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen (BStU) »Die geheimen Berichte an die SED-Führung« gibt es
76 Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963–1989. Berlin 1991; 2011 erschien im Mitteldeutschen Verlag in Halle/Saale eine inhaltlich unveränderte Neuauflage. 77 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 21. 78 Barzel, Rainer: Es ist noch nicht zu spät. München 1976, S. 31–41; Ders.: Ein gewagtes Leben. Erinnerungen. Stuttgart 2001, S. 167–169; Mende, Erich: Von Wende zu Wende. 1962–1982. München 1986, S. 139–142; Bahr, Egon: Zu meiner Zeit. München 1996, S. 429–447; Strauß, Franz Josef: Die Erinnerungen. 2. Aufl., Berlin 1989, S. 481; Horchem, Hans Josef: Auch Spione werden pensioniert. Herford 1993, S. 52–57. 79 Geißel, Ludwig: Unterhändler der Menschlichkeit. Erinnerungen. Stuttgart 1991, S. 328– 334; Wedel, Reymar von: Als Kirchenanwalt durch die Mauer. Erinnerungen eines Zeitzeugen. Berlin 1994, S. 39–79; Ders.: Als Anwalt zwischen Ost und West. Prozesse, Gefangene, Aktionen. Berlin 2005, S. 23–44; Ders.: Kurt Scharf – Kämpfer und Versöhner. Berlin 2010, S. 77–86; Wissing, Wilhelm; Höller, Karl R.: Gott tut nichts als fügen. Erinnerungen an ein Leben in bewegter Zeit. Mainz 2001, S. 154–158. 80 Posser, Diether: Anwalt im Kalten Krieg. Deutsche Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. Bonn 2000, S. 292–341. 81 Shackley, Theodore; Finney, Richard A.: Spymaster. My life in the CIA. Dulles 2004, S. 100 f.
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Funde zur Thematik.82 Ansonsten sind lediglich die beiden MfS-Anweisungen zur »Übersiedlung von Strafgefangenen« von 1986 und 1989 ediert.83 Autobiografische Erinnerungen liegen ebenfalls nur wenige vor, was angesichts der ethisch-moralischen Brisanz des Vorgangs nicht verwundert. Wolfgang Vogel hat zwar mehrfach Memoiren angekündigt, tatsächlich aber nur einen wenige Seiten umfassenden Beitrag publiziert.84 Alexander Schalck-Golodkowski, Chef des Bereiches »Kommerzielle Koordinierung« (KoKo) und »Offizier im besonderen Einsatz« (OibE) des MfS, geht in seinen Memoiren darauf ein,85 während andere, nur im weiteren Sinne beteiligte Parteifunktionäre der SED, wenige Zeilen darauf verwenden.86 Ehemalige hauptamtliche MfS-Mitarbeiter schweigen sich weitgehend aus.87 HVA-Chef Markus Wolf beschrieb in seinen weithin beachteten, aber kritisch zu bewertenden Erinnerungen die Kontakte Herbert Wehners zu Erich Honecker.88 Schier unerschöpflich ist demgegenüber der Strom der Erinnerungsliteratur ehemaliger politischer Häftlinge. Viele von ihnen schildern ihre Haft, die Rolle des Freikaufs im Strafvollzug, die Abschiebehaft in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), die Busfahrt nach Gießen und den Neubeginn im Westen in Kurzbeiträgen, Monografien oder privaten Aufzeichnungen. Sie stellen eine wichtige Ergänzung zur Perspektive der staatlichen Akteure dar.89 82 Suckut, Siegfried: Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SEDFührung. Göttingen 2009. 83 Lochen, Hans-Hermann (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992, S. 205–208. 84 Vogel, Wolfgang: Erinnerungen an meine anwaltlichen Kontakte zum Deutschen Caritasverband. In: Kösters, Christoph (Hg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945–1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen. Paderborn 2001, S. 137–144. 85 Schalck-Golodkowski, Alexander: Deutsch-deutsche Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 166–168, 293 u. 307. 86 Nitz, Jürgen: Unterhändler zwischen Berlin und Bonn. Nach dem Häber-Prozeß: zur Geschichte der deutsch-deutschen Geheimdiplomatie in den 80er Jahren. Berlin 2001, S. 37–47; Seidel, Karl: Berlin-Bonner Balance. 20 Jahre deutsch-deutsche Beziehungen. Erinnerungen und Erkenntnisse eines Beteiligten. Berlin 2002, S. 171 f.; Mitdank, Jochen: Die Berlin-Politik zwischen 17. Juni 1953, dem Viermächteabkommen und der Grenzöffnung 1989. Erinnerungen eines Diplomaten. Berlin 2003, S. 143–145; Schmalfuß, Karl-Heinz: Innenansichten. Dreißig Jahre im Ministerium des Innern der DDR. Ein General meldet sich zu Wort. Aachen 2009, S. 99. 87 Generalmajor Gerhard Niebling, der seit 1986 im Auftrag Erich Mielkes für die praktische Durchführung und Verhandlungsführung verantwortlich war, erwähnt lediglich, dass es einen »Beauftragten für humanitäre Fragen« sowie »Haftentlassungen in die BRD« gegeben habe, Niebling, Gerhard: Zur Verantwortung der ZKG/BKG. In: Grimmer, Reinhard; Irmler, Werner; Opitz, Willi (Hg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Bd. 2, Berlin 2002, S. 161–245, hier 175, 207, 223 u. 229. 88 Wolf: Spionagechef, S. 195–219. 89 Aus der Fülle der Erinnerungsberichte siehe exemplarisch Neumann, Eva-Maria: Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit. München 2007; zahlreiche Literaturverweise zu einzelnen Fällen sind in der
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Ergänzt wurde die schriftliche Überlieferung durch Zeitzeugengespräche. Aufseiten früherer DDR-Akteure war kein ehemaliger MfS-Mitarbeiter zu einem Gespräch bereit und Wolfgang Vogel bei Projektbeginn aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dazu in der Lage. Allerdings konnten Transkripte von Gesprächen mit anderen Autoren benutzt werden.90 Sonst gab nur der frühere Staatsanwalt in der Generalstaatsanwaltschaft Peter Przybylski telefonisch Auskunft. Auf westlicher Seite standen die Ministerialbeamten a. D. Ludwig A. Rehlinger und Jan Hoesch sowie der langjährige Leiter der »Rechtsschutzstelle«, Rechtsanwalt Wolf-Egbert Näumann für Interviews zur Verfügung. Klaus Plewa, Leiter des Fachreferates im Innerdeutschen Ministerium von 1974 bis 1990, beschied einen Gesprächswunsch abschlägig, da er sich zu seiner damaligen Tätigkeit »grundsätzlich nicht äußere«.91 Anfragen an Rainer Breithaupt, einen der Mitarbeiter Plewas, sowie Hansjürgen Schierbaum blieben unbeantwortet. Heinz Dörr, Leiter des Gießener Notaufnahmelagers sowie Senatsrat Gerhard Kunze waren demgegenüber zu Zeitzeugengesprächen bereit. Schriftliche bzw. telefonische Auskunft erteilten BND-Präsident a. D. Hans-Georg Wieck sowie die Staatssekretäre a. D. Günter Wetzel, Egon Bahr und Horst Grabert. Schließlich gaben seitens der evangelischen Kirche Oberkirchenrat i. R. Hermann E. J. Kalinna sowie Rechtsanwalt Reymar von Wedel Interviews. Gleichfalls erklärten sich zahlreiche ehemalige politisch Inhaftierte zu schriftlichen und telefonischen Auskünften sowie Gesprächen bereit. Ihre Berichte ergänzen die meist nüchtern-geschäftliche Diktion der staatlichen Akten um die emotionale, subjektive Dimension von Haft, Freikauf und vom Neubeginn nach der Entlassung.92
Aufbau Die Arbeit gliedert sich in neun Hauptteile. Sie nehmen die beiden Untersuchungsebenen der handelnden Akteure und der Perspektive der freigekauften politischen Häftlinge in chronologischer sowie systematischer Weise in den Blick. Kapitel I bis VII beziehen sich hauptsächlich auf die Akteursebene, wobei das Unterkapitel III.4 auch die Perspektive der freigekauften Häftlinge Fippel-Literaturdatenbank des Hannah-Ahrendt-Instituts für Totalitarismusforschung Dresden (HAIT) verzeichnet. 90 Busse, Felix: Interview mit Wolfgang Vogel, 12./13.9.2007, Archiv des Deutschen Anwaltvereins; Ast, Jürgen: Die gekaufte Freiheit. Häftlingsfreikauf im geteilten Deutschland. Dokumentation (2 Teile), 6.9.2004, ARD. 91 Klaus Plewa an den Verfasser, 26.3.2008. 92 Liste der Interviewpartner im Quellenverzeichnis.
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berücksichtigt, da sie für den Aspekt der Entlassungen in die DDR eine wichtige Rolle spielte. Kapitel I betrachtet die Entstehungsgeschichte des Freikaufs. In welcher historischen Situation, aus welchen Gründen und auf wessen Initiative entstand der institutionalisierte Häftlingsfreikauf? Wie konnte er überhaupt entstehen, wo es doch bis zum Briefwechsel Kiesinger – Stoph im Jahr 1967 keinen offiziellen Kontakt zwischen beiden Staaten gab? Ging er auf ein Angebot des Westens zurück oder war er eine Offerte der DDR-Seite?93 Kapitel II stellt die rechtlichen und politischen Strukturen dar, in denen sich der Freikauf abspielte, portraitiert die staatlichen, kirchlichen und anwaltlichen Akteure in West und Ost und analysiert das Grundmuster, nach dem der Freikauf ablief. Im Mittelpunkt der Analyse der Kapitel III und IV stehen wiederum chronologisch die grundlegenden Entwicklungslinien des Freikaufs zwischen 1964 und 1972 sowie von 1973 bis 1989. Die Zäsur der Jahre 1972/73 lässt sich bereits an der Zahl der freigekauften Häftlinge ablesen: Bis einschließlich 1973 lag sie von zwei Ausnahmen abgesehen stets unter 1 000 Entlassungen pro Jahr, seit 1974 hingegen stets darüber, abgesehen vom Jahr der Amnestie 1979.94 Dabei konzentrieren sich die beiden Kapitel auf die eingangs formulierte Frage der Kooperationswilligkeit der Bundesregierung, wie weit und zu welchen Bedingungen sie sich auf Verhandlungen mit der kommunistischen Diktatur einzulassen bereit war. Bis zur Unterzeichnung des Grundlagenvertrages 1972 war eine Verstetigung der jährlich vereinbarten »Sonderaktionen« keinesfalls beabsichtigt, vielmehr sollten sie nach westlicher Auffassung Ausnahmen bleiben, die jedoch über die Jahre eine gewisse Regelmäßigkeit erhielten. Seit 1973 entwickelte sich der Häftlingsfreikauf allmählich zu einem institutionalisierten Programm und festen Element sozialliberaler Entspannungspolitik. Auch die christlich-liberale Koalition hielt nach dem Regierungswechsel 1982 an diesem Kurs fest. Jedoch geriet der Freikauf durch die rapide Zunahme der Zahl verhafteter Antragsteller auf ständige Ausreise ins Zwielicht der (ungewollten) Kollaboration, da sich die Anzeichen dafür mehrten, dass die DDR Häftlinge gezielt zum Zwecke ihres Verkaufes »produzierte«. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei für die sechziger und siebziger Jahre hauptsächlich auf den Entwicklungen auf der westlichen Seite, da es nur wenige Quellen aus DDR-Provenienz in diesem Zeitraum gibt. Für die achtziger
93 In Kapitel I flossen Vorarbeiten aus der Examensarbeit des Verfassers zum Thema »Die Freikäufe politisch Inhaftierter in der DDR durch die Bundesrepublik, 1962–1969« ein, die 2005 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereicht wurde. 94 Vgl. Tabelle 1 im Anhang.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Jahre hingegen beruht sie hauptsächlich auf den Schalck-Papieren sowie MfSAkten, da kaum Quellen westlicher Provenienz zugängig waren. Die Kapitel V bis VII nehmen systematisch drei Aspekte des Freikaufs in den Blick. Kapitel V thematisiert seine Rolle in der medialen Berichterstattung, die stets die Gefahr heraufbeschwor, die DDR zur Einstellung des Freikaufs zu veranlassen, da sie durch die öffentliche Behandlung des Vorgangs eine Schädigung ihres internationalen Ansehens befürchtete. Kapitel VI reflektiert die Rückwirkungen des Verkaufsgeschäftes auf den Repressionsapparat selbst, vor allem auf die »Moral« seiner Mitarbeiter. Kapitel VII schließlich stellt die Frage nach der wirtschaftlichen Bedeutung des Freikaufgeschäftes, den erlösten Waren und deren Verwendung durch die DDR. Kapitel VIII konzentriert sich auf die freigekauften Häftlinge, ihr soziales und deliktgruppenspezifisches Profil und darauf, wie sie ihren Freikauf sowie den anschließenden Neubeginn im Westen erlebten, insofern die Entlassung in den Westen erfolgte. Das Schlusskapitel schließlich fasst die Ergebnisse der Studie zusammen und verortet den Freikauf in einen größeren historischen Zusammenhang, unter anderem seiner Rolle in der Geschichte des Kalten Krieges.
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I
Die Entstehung des Freikaufs (1962–1964)
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Politische Justiz und politische Häftlinge in der DDR
Der Zweite Weltkrieg endete auf dem europäischen Kriegsschauplatz am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Die Verbündeten der »Anti-Hitler-Koalition«, die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich, besetzten das Staatsgebiet des Deutschen Reiches. Kriegshandlungen, Besatzungsregime, Holocaust, Flucht und Vertreibung hatten allein in Europa weit über 30 Millionen Menschen das Leben gekostet. Weite Teile des Kontinents lagen in Trümmern. Bereits während des Krieges hatten sich die Alliierten auf eine territoriale Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen verständigt. Obwohl die Reichshauptstadt Berlin inmitten der Sowjetischen Besatzungszone lag, wurde sie nicht zuletzt wegen ihrer symbolischen Bedeutung gleichfalls in vier Zonen aufgeteilt. Die bis zur Elbe vorgedrungenen US-amerikanischen Truppen zogen sich daher im Sommer 1945 nach Westen zurück, die sowjetischen Verbände überließen den Westalliierten die drei Westsektoren.1 Hatte der gemeinsame Kampf gegen das NS-Regime die Alliierten noch zusammengeschweißt, traten die tiefen weltanschaulichen, politischen und wirtschaftlichen Gegensätze zwischen ihnen nach der Kapitulation recht bald zutage. Seit etwa 1946/47 verschärfte sich der Konflikt in der Frage nach der Zukunft Deutschlands und mündete in einen Zustand der dauerhaften Konfrontation unterhalb der Schwelle direkter militärischer Auseinandersetzungen. Ein Mitarbeiter aus der Administration des US-Präsidenten Harry S. Truman erfand dafür den Begriff »Kalter Krieg«, der ein ganzes Zeitalter kennzeichnen sollte, der britische Premierminister Winston Churchill sprach von einem »Eisernen Vorhang«, der den europäischen Kontinent entlang der Linie Lübeck – Triest – Korfu spalte. An der Nahtstelle zwischen den Blöcken, dem besetzten deutschen Staatsgebiet, verfestigte der Kalte Krieg die Teilung des Landes. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) am 23. Mai 1949 auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen und die Gründung der Deutschen Demokra1 Ausführlicher dazu u. a. Dülffer, Jost: Europa im Ost-West-Konflikt. 1945–1991. München 2010.
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tischen Republik (DDR) am 7. Oktober 1949 auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war somit eine Folge des vom NS-Regime begonnenen Zweiten Weltkrieges, des Kalten Krieges zwischen den Supermächten und des Bestrebens der sowjetischen Besatzungsmacht, ihren Einflussbereich nach den eigenen politisch-gesellschaftlichen und ideologischen Vorstellungen umzugestalten. Während in den westlichen Besatzungszonen mit freien Wahlen, marktwirtschaftlichen Reformen und dem Marshall-Plan die Weichen für die Herstellung eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates gestellt waren, übertrug die sowjetische Besatzungsmacht ihr diktatorisches Herrschaftsmodell auf ihre Besatzungszone, »sowjetisierte« ihren Herrschaftsbereich.2 Die Verfassung der DDR garantierte zwar Menschen- und Grundrechte, schrieb eine Gewaltenteilung und eine unabhängige Gerichtsbarkeit fest, doch die Wirklichkeit näherte sich mehr und mehr einer kommunistischen Einparteiendiktatur. Die Macht ging dabei schrittweise in die Hände der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) über. Diese war 1946 aus der Zwangsvereinigung der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands geschmiedet worden und als Kaderpartei nach dem Muster der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) organisiert. Neben dem alle vier bis fünf Jahre stattfindenden Parteitag waren ihre wichtigsten Parteigliederungen das Zentralkomitee (ZK) mit circa 120 bis 220 Mitgliedern und Kandidaten sowie das Politbüro des ZK mit 15 bis 25 stimmberechtigten Parteifunktionären und weiteren etwa zehn Kandidaten ohne Stimmrecht. Den Vorsitz im Politbüro, faktisch das Führungsgremium von SED und Staat, führte der Erste Sekretär bzw. Generalsekretär des ZK. Seit 1950 hatte der aus Leipzig stammende frühere KPD-Funktionär Walter Ulbricht das Amt inne. Ulbricht war 1938 nach Moskau ins Exil gegangen und 1945 auf Weisung des sowjetischen Staats- und Parteichefs Josef Stalin an der Spitze der »Gruppe Ulbricht« nach Berlin zurückgekehrt, um die Kommunistische Partei dort neu aufzubauen. Seine enge Verbindung zur Moskauer Partei- und Staatsführung blieb bis zu seinem Rücktritt 1971 bestehen und sicherte ihm eine starke Stellung gegenüber seinen Konkurrenten und Widersachern innerhalb der SED. Ulbricht strebte danach, den Herrschaftsanspruch der SED rücksichtslos durchzusetzen und die Gesellschaft und Wirtschaft des Landes entsprechend den Ideen des Marxismus-Leninismus radikal umzugestalten, mithin den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden aufzubauen.3
2 Vgl. Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg. 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters. München 2007. 3 Vgl. Weber, Hermann: Die DDR 1945–1990. 3., überarb. und erw. Aufl., München 2000.
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Kerngedanke der marxistisch-leninistischen Staatsideologie war die Annahme, dass die Weltgeschichte nach Gesetzmäßigkeiten ablaufe. Die Geschichte, so die Interpretation, bestehe aus einer Abfolge von Klassenkämpfen, wobei sich der Begriff »Klasse« über den Besitz und den Zugang zu den Produktionsmitteln definiere. Während in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsordnung im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Klasse der Kapitalisten und (Groß-)grundbesitzer über die Produktionsmittel verfügt habe und die Klasse der abhängigen Lohnarbeiterschaft von ihnen zum Zwecke der Profitmaximierung ausgebeutet worden sei, würde sich dieses Herrschaftsverhältnis in der neuen, sozialistischen Gesellschaft umkehren. Im Sozialismus sollte die bislang ausgebeutete Arbeiterklasse in den Besitz der Produktionsmittel gelangen und zur neuen herrschenden Klasse aufrücken. Die führende Rolle in diesem revolutionären Umwälzungsprozess fiel dabei der SED zu, der »Partei der Arbeiterklasse«. Am Ende der Entwicklung, so das Heilsversprechen der Ideologie, stünde die vollkommene Vergemeinschaftung aller Produktionsmittel, mithin die klassenlose oder »kommunistische« Gesellschaft. Dass diese radikale Umgestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft auf den erbitterten Widerstand der bisher herrschenden »bürgerlich-kapitalistischen Klasse« stoßen würde und nur gegen deren Willen durchsetzbar sei, ergab sich zwangsläufig aus dem revolutionären Ansatz. Der Kampf für den Aufbau des Sozialismus beinhaltete daher zugleich den Kampf gegen seine tatsächlichen und vermeintlichen Gegner und ihre Unterstützer in den Ländern des Westens. Zu diesem Zweck schuf sich die SED eine schlagkräftige Geheimpolizei, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das nach dem Vorbild und mit der Unterstützung der Sowjetischen Geheimpolizei aufgebaut wurde. Das MfS sollte dabei den Willen der Partei durchsetzen und sie zugleich schützen, »Schild und Schwert« der Partei sein. Von 1957 bis 1989 wurde das MfS von Erich Mielke geleitet, der seit 1976 auch dem Politbüro der SED angehörte. Das straff militärisch organisierte MfS wuchs rasch an: 1961 verfügte es über rund 20 000, zehn Jahre später bereits über 45 000 und 1989 über 91 000 hauptamtliche Mitarbeiter. Hinzu kam das Netz der »Inoffiziellen« oder »Geheimen« Mitarbeiter, das bis zu 180 000 Informanten zählte. Die SED verlieh dem MfS besondere Befugnisse, beispielsweise unterhielt es insgesamt 17 Untersuchungshaftanstalten in eigener Regie, in denen politische Gegner inhaftiert werden konnten.4 Zugleich brachte die SED die judikative Gewalt unter ihre Kontrolle, um ihre Gegner aburteilen zu können. Durch eine gezielte Personalpolitik verschaffte sich die Partei Zugriff auf den Justizapparat, sodass bereits im April 4
Gieseke, Jens: Die Stasi. 1945–1990. München 2011, S. 71 f. u. 114 f.
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1950 mehr als die Hälfte der Richter und 86 Prozent der Staatsanwälte SEDMitglieder waren.5 Das Parteistatut der SED verpflichtete Richter und Staatsanwälte zur strikten Ergebenheit gegenüber Parteibeschlüssen. Da »die Organe der Justiz Teile des Staatsapparates« seien, würden »alle die Anweisungen, Maßnahmen, Beschlüsse der Partei, die sich auf den Staatsapparat beziehen, unmittelbar auch für die Genossen im Justizapparat« gelten.6 Zu guter Letzt wurde der Repressions- und Justizapparat auf die Grundsätze des »sozialistischen« Rechts verpflichtet. Im Gegensatz zum westlichen Rechtsverständnis, das von absoluten und unveräußerlichen Rechtsnormen ausgeht und sich an einem »allgemeinen, überzeitlichen Recht« orientiert, verstand sich das sozialistische Recht demgegenüber als relativ zur jeweiligen Gesellschaftsordnung, d. h. als variables Instrument in den Händen der jeweils herrschenden Klasse.7 In der DDR, wo die »Partei der Arbeiterklasse« die Macht ausübte, hegte folglich nicht das Recht die Politik ein, sondern die SED benutzte das Recht und setzte es als »Waffe für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft« ein.8 Ausgehend von diesem instrumentellen Rechtsverständnis strebte die SED danach, mittels des Repressionsapparates den Widerstand gegen ihren umfassenden Herrschaftsanspruch zu brechen. Dem Grunde nach galten dabei alle Handlungen als strafwürdig, »in denen das DDR-Regime eine Gefährdung seiner Existenz erblickte«.9 Die größte Bedrohung sah das Regime in den »Überresten« der »bürgerlich-kapitalistischen« Klasse, die im neuen Staatswesen keinen Platz mehr haben sollten. Darunter subsumierte die SED all jene, die sich ihrem Herrschaftsanspruch nicht unterzuordnen bereit waren, sei es »wegen ihrer Gesinnung und ihrem daraus sich ergebenden Verhalten, wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder Klasse oder wegen ihrer politisch oder religiös motivierten Gegnerschaft zur SED«.10 Konkret handelte es sich z. B. um Anhänger der beiden »bürgerlichen« Parteien CDU und LDPD, die mit den »Ostbüros« der West-CDU und WestFDP in Kontakt standen, um Sozialdemokraten, die sich der Zwangsvereinigung mit der KPD widersetzt und mit dem Ostbüro der West-SPD in Verbindung gestanden hatten, um Bürger, die ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nahmen, indem sie ihrem 5 Werkentin: Politische Strafjustiz, S. 310. 6 Zit. nach: ebenda, S. 33. 7 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat. München 1967, S. 20 f. 8 Ebenda, S. 29. 9 Schuller, Wolfgang: Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968. Ebelsbach 1980, S. 7. 10 Fricke: Politik und Justiz, S. 8.
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Unmut über die wachsende persönliche Unfreiheit oder die unzureichenden wirtschaftlichen Verhältnisse Ausdruck verliehen hatten, aber auch um aktive Widerstandskämpfer gegen das Regime, die mit westlichen Organisationen wie der Westberliner »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« oder den westdeutschen Geheimdiensten, vornehmlich dem Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zusammengearbeitet hatten.11 Auch evangelische und katholische Christen und Anhänger anderer Religionsgemeinschaften wie der Zeugen Jehovas gerieten in das Visier des Repressionsapparates. Das MfS, anfangs unterstützt von der sowjetischen Geheimpolizei, ging mit aller Härte gegen die Kritiker der sozialistischen Ordnung vor und lieferte die Verhafteten den Justizbehörden aus. Insgesamt betrug die Zahl politischer Strafgefangener zwischen 1945 und 1989 schätzungsweise zwischen 170 000 und 280 000 Personen.12 Die Abgeurteilten verbüßten die Haftstrafen unter anderem in den Gefängnissen in Brandenburg, Bautzen, Cottbus und Waldheim. Besonders in den vierziger und fünfziger Jahren litten die Inhaftierten unter unsäglichen Haftbedingungen: Überbelegung der Zellen, katastrophale hygienische Zustände, körperliche und psychische Misshandlungen, Mangelernährung und Haftzwangsarbeit kennzeichneten die Zustände in den Untersuchungshaftanstalten und Strafvollzugseinrichtungen. Bis heute ist die Zahl derer unbekannt, die diese Strapazen nicht überlebten.13 Ein besonders hartes Schicksal traf jene, die 1950 in den Waldheimer Prozessen zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Die Prozesse gingen als »größter Justizskandal«14 in die Geschichte der DDR ein, da es sich ausnahmslos um »rechtswidrige Massenaburteilungen in Schnellverfahren« handelte.15 Auch nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 ging der Repressionsapparat mit brachialer Gewalt gegen die Aufständischen vor. 1 526 Personen wurden verurteilt, davon zwei zum Tode, drei zu lebenslangem Zuchthaus und 112 zu Haftstrafen über fünf Jahren; die übrigen 1 370 erhielten
11 Fricke, Karl Wilhelm: Spionage als antikommunistischer Widerstand. Zur Zusammenarbeit mit westlichen Nachrichtendiensten aus politischer Überzeugung. In: DA 35 (2002) 4, S. 565–578. 12 Wilke, Jürgen; Schröder, Wilhelm Heinz: Politische Strafgefangene in der DDR. Versuch einer statistischen Beschreibung. In: Historical Social Research, Bd. 23, Nr. 4 (1998), S. 3–78, hier 37 f. 13 Ansorg: Brandenburg, S. 23–146; vgl. Finn, Gerhard; Fricke, Karl Wilhelm: Politischer Strafvollzug in der DDR. Köln 1981; Müller, Klaus-Dieter: Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen. Berlin 1998. 14 Eisert, Wolfgang: Die Waldheimer Prozesse: Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz. Esslingen 1993, S. 8. 15 Ebenda, S. 7.
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Freiheitsstrafen unter fünf Jahren.16 Bis einschließlich 1955 verurteilten zudem Sowjetische Militärtribunale (SMT) rund 70 000 deutsche Kriegsgefangene und Zivilisten unter dem Vorwurf von Kriegsverbrechen oder Spionage für einen westlichen Geheimdienst. Meist lautete das Urteil auf Todesstrafe oder 25 Jahre Zuchthaus.17 Nach offizieller Lesart hingegen gab es keine politischen Häftlinge. In einer Rundverfügung aus dem Jahr 1951 untersagte das DDR-Justizministerium die Verwendung des Begriffes: »Heute wird niemand seiner Gesinnung wegen inhaftiert. Wer unsere antifaschistische Ordnung angreift, wer den Aufbau unserer Friedenswirtschaft stört, begeht eine strafbare Handlung und wird seiner verbrecherischen Taten wegen bestraft. Die Strafgefangenen dieser Art sind deshalb auch keine ›politischen‹ Gefangenen, sondern kriminelle Verbrecher.«18
Die Straftatbestände, nach denen die angeblich »kriminellen« Vergehen geahndet wurden, waren dabei durchweg unpräzise gefasst und nur durch schlagwortartige Begriffe und Formulierungen umrissen. Als »Gummiparagraphen« waren sie so auf nahezu jedes missliebige Verhalten hin anwendbar. Anfangs bildete Art. 6 der DDR-Verfassung von 1949 häufig die Grundlage der Verurteilung. U. a. stellte er »Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen« sowie »Mordhetze gegen demokratische Politiker« unter Strafe. Mit Inkrafttreten des »Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches« (StEG) im Jahr 1957 kam immer häufiger einer der Paragrafen 13 bis 27 des Gesetzes zur Anwendung. Sie stellen unter anderem »Staatsverrat«, »Spionage«, »Sammlung von Nachrichten«, »Verbindung zu verbrecherischen Organisationen oder Dienststellen«, »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze« oder die »Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik«, d. h. Fluchthilfe, unter Strafe.19 1968 schließlich verabschiedete die DDR-Volkskammer ein neues Strafgesetzbuch, das die Straftatbestände des StEG weitestgehend übernahm und das »unerlaubte Verlassen« der DDR, die sogenannte »Republikflucht«, in den Gesetzestext einfügte, ein Vergehen, das bis zu diesem Zeitpunkt auf der Basis eines Passgesetzes geahndet wurde.20
16 Werkentin: Politische Strafjustiz, S. 162. 17 Zu dem SMT-Verurteilten siehe Kap. VIII.1. 18 Zit. nach: Werkentin: Politische Strafjustiz, S. 381. 19 Abgedruckt. in: Frädrich, Gerd: Die Regelung der Staatsverbrechen in der DDR und ihre Entwicklung. Göttingen 1971, S. 322–330. 20 Mohr, Jürgen: Der Straftatbestand der »Republikflucht« im Recht der DDR. Hamburg 1971, S. 36; Roggemann, Herwig (Hg.): Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung der DDR mit Nebengesetzen. 2., überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1978, insbes. S. 134–140 u. 167–180.
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Während unter der Ägide der sowjetischen Besatzungsmacht erneut eine Diktatur auf deutschem Boden entstand, nahm die politische Entwicklung in den drei westlichen Besatzungszonen einen anderen Verlauf. Mit Unterstützung der Westalliierten wurde im Mai 1949 durch einen Zusammenschluss der westdeutschen Länder die Bundesrepublik Deutschland mit einer föderalen, freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung aus der Taufe gehoben. Ihre Verfassung trug die Bezeichnung »Grundgesetz«, um auf den vorläufigen, provisorischen Charakter des deutschen Teil-Staates hinzuweisen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages repräsentierten schließlich nur die Deutschen in den West-Ländern, da es den Landsleuten in der DDR nicht möglich war, ihren Willen frei zu bekunden. Die Präambel des Grundgesetzes formulierte deshalb den Anspruch, dass der Teil des deutschen Volkes in den westdeutschen Ländern »auch für jene Deutschen gehandelt« habe, »denen mitzuwirken versagt war«. Von ebenso weitreichender Bedeutung war der darauf folgende Satz: »Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.« Daraus ergaben sich drei politische Ziele, die das Selbstverständnis der Bundesrepublik bis 1990 maßgeblich prägen sollten. Erstens das Wiedervereinigungsgebot, das alle Amts- und Mandatsträger dazu verpflichtete, ihr politisches Handeln auf die Überwindung der Teilung Deutschlands hin auszurichten. Im Umkehrschluss schloss dies zugleich eine vollständige völkerrechtliche Anerkennung des anderen deutschen Staates aus, solange seine Regierung nicht demokratisch legitimiert war. In der Praxis bedeutete dies, dass die Bundesregierung zunächst jeglichen Kontakt mit der DDR auf Regierungsebene vermied. Offiziell existierte die DDR nicht, im »politisch korrekten« Sprachgebrauch waren einzig die Bezeichnungen »Sowjetische Besatzungszone« oder lediglich »Zone« zulässig. Eng damit zusammen hing zweitens der Bonner Alleinvertretungsanspruch. Damit war gemeint, dass die Bundesregierung als einzige frei gewählte Regierung in Deutschland auch für die Deutschen in der DDR sprechen und handeln werde, solange der Zustand der Unfreiheit in der DDR anhielt. Hieraus folgte drittens die Verpflichtung zur Fürsorge für die Deutschen in der DDR. Untermauert wurde diese selbstauferlegte »Obhutspflicht« durch Art. 116 des Grundgesetzes. Im Hinblick auf die DDR enthielt er die Feststellung, dass jeder Deutsche auf dem Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 »Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes« sei. Das schloss die Deutschen in der DDR mit ein, die somit keinen Asylantrag stellen mussten, sobald sie nach einer Flucht in den Westen um Aufnahme ersuchten,
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sondern sich ohne grundsätzliche Beschränkungen einen Bundespersonalausweis ausstellen lassen konnten.21 Die Obhutspflicht der Bundesregierung galt im Besonderen für die politisch Verfolgten und Inhaftierten in der DDR. Sie hatten unter den Folgen der Teilung und der SED-Diktatur am schwersten zu leiden. Die Hilfsmöglichkeiten wie beispielsweise politische Initiativen und Verhandlungen um ihre Freilassung waren jedoch begrenzt. Schließlich verbot die Doktrin der Nichtanerkennung jeden direkten, behördlichen Kontakt mit den Machthabern in der »Zone«. Kontakte unterhalb dieser Ebene gab es nur wenige, beispielsweise im Bereich des Handels zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Dort verhandelte ein Vertreter der »Treuhandstelle für den Interzonenhandel« (TSI), die faktisch dem Bundeswirtschaftsministerium unterstand, regelmäßig mit einem Vertreter des DDR-Ministeriums für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (MAI). Die Themengebiete waren jedoch fast ausschließlich wirtschaftlicher und technischer Natur. Die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung beschränkten sich daher im Wesentlichen darauf, Informationen über die politisch Inhaftierten in der DDR zu sammeln, den Betroffenen und Angehörigen auf rechtlichem Wege zu helfen und ihnen karitative Unterstützung zukommen zu lassen. Innerhalb der Bundesregierung oblag die Zuständigkeit für diesen Bereich dem Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (BMG). Es war 1949 in der Absicht errichtet worden, der Ost- und Deutschlandpolitik durch ein eigenes Ressort ein besonderes Gewicht zu verleihen.22 Mit der Wahrnehmung der praktischen Rechtsschutzaufgaben betraute das Ministerium einen Rechtsanwalt in WestBerlin. Seit 1951 war Rechtsanwalt Kurt Behling für das BMG tätig. Behlings Nachfolger, die Rechtsanwälte Winfried Michatz, Werner Commichau sowie Erich-Hermann Hirsch, leiteten die Kanzlei nacheinander in den Jahren 1955 bis 1958. Nach Hirschs plötzlichem Tod fiel die Wahl auf Alfred Musiolik, der bis Ende 1971 in dieser Funktion verblieb.23 Offiziell war die Kanzlei keine »behördenähnliche Institution«, sondern ein freies Rechtsanwaltsbüro. In der alltäglichen Praxis setzte sich hingegen bald die Bezeichnung »Rechtsschutzstelle« durch, zumal das Gesamtdeutsche Ministerium die Kanzlei finanzierte.24 21 Vgl. Morsey, Rudolf: Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969. 5. Aufl., München 2007. Der Zuzug war dabei nur durch das Notaufnahmegesetz beschränkt. Vgl. Kap. VIII.2. 22 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 47 f. 23 Völkel, Claudia: Die besonderen Bemühungen der Bundesregierung um Haftentlassung und Übersiedlung aus der DDR. Aus der Überlieferung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (B 137). Teil 1. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 16 (2008) 1, S. 39–51, hier 41; Rehlinger: Freikauf, S. 12. 24 Musiolik an BMG, 21.1.1965, BArch-K, B 137/15633.
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Die Anwälte der Rechtsschutzstelle waren damit gewissermaßen »Augen und Ohren« des Gesamtdeutschen Ministeriums, insoweit es die politischen Häftlinge in der DDR betraf. Das Herzstück der Rechtsschutzstelle war die in akribischer Sammeltätigkeit angelegte Inhaftiertenkartei. In ihr trugen die Anwälte die Namen und sämtliche bekannte Daten über die politischen Häftlinge in der DDR zusammen. Neben den Personalien gehörten dazu hauptsächlich Angaben über das Datum der Verhaftung und Verurteilung, das Strafmaß, die Strafgründe, das verurteilende Gericht und die zuletzt bekundete Strafanstalt. Oft stammten die Informationen aus Berichten der westlichen Presse, gelegentlich auch aus DDRZeitungen, wenn diese über Schauprozesse gegen westliche »Agenten« und »Diversanten« berichtet hatten. Die Masse der Hinweise erhielten die Anwälte über persönliche Kontakte und Schriftwechsel mit Angehörigen, Freunden, Bekannten und ehemaligen Haftkameraden der Inhaftierten. Meist hatten sie sich mit der Bitte um Hilfe an die Bundesregierung gewandt und waren von dort an die Rechtsschutzstelle verwiesen worden. Insbesondere ehemalige Häftlinge, die nach ihrer Entlassung über die offene Grenze in den Westen geflohen waren, konnten genaue Angaben über bislang unbekannte Schicksale machen. Diese Informationen waren besonders wertvoll, wenn die Betroffenen keine Verwandten oder Freunde im Westen hatten, die sich hätten engagieren können.25 Ergänzend zu diesen Informationsquellen glich die Rechtsschutzstelle ihre Daten regelmäßig mit den Erkenntnissen des Suchdienstes des DRK, der Westberliner »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) sowie dem »Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen« (UfJ) ab und stand mit der evangelischen und katholischen Kirche in Kontakt, wobei sich insbesondere der Deutsche Caritasverband für Inhaftierte in der DDR einsetzte.26 Im Laufe der fünfziger und frühen sechziger Jahre registrierten und dokumentierten die Anwälte der Rechtsschutzstelle auf diesem Weg tausende politische Verurteilungen in der DDR. In manchen Fällen beschränkten sich die verfügbaren Informationen über einen Inhaftierten auf seinen (Nach-)Namen und das ungefähre Alter; bei Häftlingen mit einer besonders hohen Haftstrafe füllten die Vorgänge bisweilen ganze Aktenordner. Wurde der Rechtsschutzstelle das Schicksal eines Inhaftierten bekannt, der bereits verurteilt war und der die Strafe in einem Gefängnis der DDR verbüßte, konnten die Anwälte den Angehörigen meist nur bei der Formulierung von Gnadengesuchen behilf-
25 Rehlinger: Freikauf, S. 12 f. 26 Kösters, Christoph: Staatssicherheit und Caritas 1950–1989. Zur politischen Geschichte der katholischen Kirche in der DDR. Paderborn 2001, S. 101 f.
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lich sein.27 Bessere Betreuungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten bestanden nur, wenn die Rechtsschutzstelle bereits kurz nach der Verhaftung Kenntnis von dem Vorgang erhielt. In diesem Fall vermittelte sie den meist im Westen wohnhaften Angehörigen Kontakte zu Rechtsanwälten in der DDR, die den Angeklagten verteidigten. Nach Abschluss des Strafverfahrens beglich die Rechtsschutzstelle die Honorarforderungen der DDR-Anwälte oder erstattete den Angehörigen die verauslagten Beträge. Die Kosten für die Honorierung »sowjetzonaler Anwälte« stiegen im Laufe der Jahre stetig an, im Rechnungsjahr 1963 betrugen sie über 90 000 D-Mark.28 Zu den Kontaktanwälten, die direkt oder indirekt im Auftrag der Rechtsschutzstelle arbeiteten, gehörte seit 1955 auch der Ostberliner Anwalt Wolfgang Vogel.29 1925 im schlesischen Wilhelmstal geboren, legte Vogel gegen Ende des Zweiten Weltkrieges das Abitur am katholischen Internat in Glatz ab. Nach einem kurzen Kampfeinsatz als Wehrmachtsoldat studierte er von 1945 bis 1949 Rechtswissenschaften an den Universitäten in Jena und Leipzig. Das Referendariat absolvierte er ebenfalls in Leipzig. 1952 trat Vogel als Referent der Strafrechtsabteilung in das DDR-Justizministerium ein, schied jedoch im Herbst 1953 aus und wechselte in den Anwaltsberuf. 1954 trat er in das Kollegium der Rechtsanwälte in Ost-Berlin ein und ließ sich dort als freier Anwalt nieder. Drei Jahre später erhielt Vogel auch die Anwaltszulassung für West-Berlin und wurde in die Rechtsanwaltskammer aufgenommen. Damit konnte er als einer von wenigen DDR-Anwälten grenzüberschreitend in beiden Teilen Berlins vor Gericht auftreten und sich in beiden Systemen bewegen, ein Umstand, der den weiteren Verlauf seiner Karriere maßgeblich beeinflussen sollte.30 Bereits in den frühen fünfziger Jahren hatte Vogel seinerseits Kontakte in die Spitzen des Justizapparates der DDR und zum MfS geknüpft. Seit 1953/54 war er mit Josef Streit bekannt, der seit 1954 einen Sektor in der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des Zentralkomitees der SED leitete und 1962 Generalstaatsanwalt der DDR wurde. Das Verhältnis zwischen Vogel und dem 14 Jahre älteren Streit war das zwischen Mentor und Schüler. Zudem warb das MfS den Anwalt im November 1953 als »Geheimen Informator« an, um ihn unter anderem auf den »Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen« in West-Berlin anzusetzen.31 Zunächst berichtete Vogel unter dem Deck27 Vermerk »Betr. Gnadensachen in der SBZ«, 22.4.1958, Archiv des DRK, Suchdienst München, H 548. 28 Tätigkeitsbericht betr. Honorierung sowjetzonaler Rechtsanwälte v. 31.3.1964, BArch-K, B 137/15633. 29 Rehlinger: Freikauf, S. 13. 30 Whitney: Advocatus Diaboli, S. 25–47. 31 Pötzl: Spione, S. 34 f.
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namen »Eva«, später als »Geheimer Mitarbeiter« (GM) »Georg« über seine Treffen mit dem Leiter der Rechtsschutzstelle in West-Berlin an das MfS.32 Seit Herbst 1956 war MfS-Hauptmann Heinz Volpert der Führungsoffizier Vogels (Abb. 1). Im Alter von nur 23 Jahren hatte er bereits eine beachtliche Karriere im MfS gemacht und war zum Abteilungsleiter innerhalb der Hauptabteilung V aufgestiegen, die im MfS-Jargon für die »Arbeit nach dem Operationsgebiet, speziell Westberlin, schwerpunktmäßig gegen Inspiratoren und Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit und anderer feindlicher Handlungen in der DDR« zuständig war.33 Streit hatte den MfS-Kader Volpert seinem Schützling Vogel unter dem Decknamen »Krügeler« vorgestellt. Dieser offenbarte Vogel wenig später, dass er hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter sei. Seinen tatsächlichen Namen habe er, so Vogels Angabe, erst 1962 erfahren.34 Zugleich pflegte Vogel als praktizierender Katholik enge Kontakte zur katholischen Kirche. Der Leiter der Hauptvertretung Berlin des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Johannes Zinke, war bereits 1956 über den Hinweis einer Krankenhausfürsorgerin auf den »versierten und vertrauenswürdigen Rechtsanwalt in Ostberlin« aufmerksam geworden. In den darauf folgenden persönlichen Begegnungen zwischen Prälat Zinke und Rechtsanwalt Vogel wuchs eine enge Freundschaft zwischen den beiden. Der Anwalt übernahm fortan Mandate im Gnadenverfahren und verteidigte politisch Inhaftierte vor Gericht, die ihm die Caritas nannte.35 Mit Engagement und wachsendem Erfolg setzte er sich für seine Mandanten ein. 1958 bat ihn Zinke darum, die Verteidigung von vier Jesuiten-Patres zu übernehmen, die wegen Fluchtbeihilfe und »unerlaubten Devisenbesitzes« in die Fänge des MfS geraten waren. Aufgrund seiner Kontakte zum MfS gelang es Vogel, eine vorzeitige Entlassung auszuhandeln, sodass sich alle vier Patres Anfang 1961 auf freiem Fuß befanden. Möglicherweise erfolgte die Entlassung in einem Fall gegen ein Lösegeld, jedenfalls kam der Pater »aufgrund einer Sonderregelung« aus der Haft frei.36 In »zwei oder drei« weiteren Fällen konnte Vogel in den fünfziger Jahren im Auftrag der Westberliner Rechtsschutzstelle Mandanten gegen Geld aus der Haft holen.
32 Booß, Christian: Der frühe Schattenmann. Die Rolle des jungen Wolfgang Vogel oder: Wie Wolfgang Harich seinen Anwalt verlor. In: Horch und Guck 20 (2011) 71, S. 60–65, hier 62. 33 Schmidt, Wolfgang: Zur Sicherung der politischen Grundlagen der DDR (HA XX im MfS/Abt. XX der BV). In: Grimmer, Reinhard; Irmler, Werner; Opitz, Willi, et al. (Hg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Bd. 1, Berlin 2002, S. 580–668, hier 584. 34 Pötzl: Spione, S. 50 f. 35 Kösters: Staatssicherheit und Caritas, S. 102 f. 36 Hehl, Ulrich von (Hg.): Akten deutscher Bischöfe seit 1945. DDR, 1957–1961. Paderborn 2006, S. 455, 497, 500–506 u. 858.
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Sein Führungsoffizier Heinz Volpert veranlasste dafür MfS-intern die formaljuristische Abwicklung.37 Wolfgang Vogel war indes nicht der einzige Anwalt, der politische Häftlinge in der DDR verteidigte und sich um ihre vorzeitige Entlassung bemühte. In Ost und West weitaus bekannter als Vogel war Prof. Friedrich Karl Kaul (Spitzname »FKK«),38 der in zahlreichen politischen Verfahren vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe Interessen der DDR vertrat. Kaul hatte seit Mitte der fünfziger Jahre erfolgreich einige vorzeitige Entlassungen vermitteln können, unter anderem die eines Angestellten der MAN, der 1958 wegen Industriespionage und eines angeblichen Devisenvergehens zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war. Ende 1960 leitete Kaul ein Angebot der MAN an Mielke weiter, 50 000 DM zur »Wiedergutmachung« des verursachten »allgemeinen Wirtschaftsschadens« zu zahlen. Nur wenige Monate später schlug Mielke dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht vor, den Vorschlag anzunehmen und eine bedingte Strafaussetzung anzuweisen. Ulbricht stimmte zu, sodass der Inhaftierte am Tag nach der Übergabe des Barbetrages vorzeitig aus der Haft entlassen wurde.39 Der Mauerbau am 13. August 1961 war in mehrfacher Hinsicht ein tiefer Einschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte und der Geschichte der deutsch-deutschen (Nicht-)Beziehungen. Seit Ende der fünfziger Jahre hatte sich immer deutlicher abgezeichnet, dass das Experiment des »Sozialismus auf deutschem Boden« gescheitert war. Trotz mancher beachtlicher Aufbauleistung kam die DDR-Wirtschaft nicht auf die Beine und geriet gegenüber dem »Wirtschaftswunder« in der Bundesrepublik mehr und mehr ins Hintertreffen. Die politische Unfreiheit sowie die Gängelung privatwirtschaftlicher Initiativen lösten eine massive Abwanderungs- und Fluchtwelle aus. Seit Gründung der DDR im Jahr 1949 hatten bis zum Juli 1961 bereits über 2,7 Millionen Menschen die DDR in Richtung Westen verlassen.40 Die Staats- und Parteiführung um Walter Ulbricht erkannte, dass der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch unter diesen Bedingungen unausweichlich war. Seit Ende der fünfziger Jahre drängte Ulbricht den sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow daher, seine Zustimmung zur Abriegelung der Innerdeutschen- und der Sektorengrenze in Berlin zu geben, um die Fluchtbewe-
37 So Pötzl: Spione, S. 142 f. Näheres über diese Fälle ist nicht bekannt. 38 Pötzl: Spione, S. 137. 39 Siehe den Vorgang in: BStU, MfS, SdM, Nr. 1035, Bl. 63–73; Rosskopf, Annette: Friedrich Karl Kaul. Anwalt im geteilten Deutschland (1906–1981). Berlin 2002, S. 169–189. 40 Schumann, Karl F.: Flucht und Ausreise aus der DDR insbesondere im Jahrzehnt ihres Unterganges. In: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. 5/2, S. 2359–2405 u. 2365.
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gung zu unterbinden und das »Schlupfloch« West-Berlin endgültig zu schließen.41 Die Einmauerung der eigenen Bevölkerung um der Rettung des sozialistischen Experimentes willen stellte zwar eine moralische und politische Bankrotterklärung des Regimes dar. Aus der Sicht der Staats- und Parteiführung erfüllte die Gewaltmaßnahme jedoch ihren Zweck, nämlich den Zusammenbruch der DDR und damit ihren eigenen Machtverlust abzuwenden. Dass die Bevölkerung einen hohen menschlichen Preis dafür zahlen musste, spielte dabei keine Rolle. Auch der »Klassenfeind« im Westen war nach dieser Lesart in seinem Streben nach »Einverleibung« der DDR geschwächt. Im Innern ging das Regime nach dem Mauerbau mit großer Härte gegen missliebiges und widerständiges Verhalten vor. Dabei gerieten fortan nicht mehr nur jene in das Visier des Repressionsapparates, die den Aufbau des Sozialismus ablehnten und aktiv bekämpften, sondern jeder, der sich dem staatlichen Zugriff durch Flucht entziehen, anderen zur Flucht verhelfen wollte oder gegen den Mauerbau protestierte. Im zweiten Halbjahr 1961 stieg die Zahl der Aburteilungen von »Staatsverbrechen« auf knapp 18 300 an, während sie im ersten Halbjahr »nur« bei circa 4 400 gelegen hatte.42 Ende 1961 waren die Gefängnisse derart überfüllt, dass Stasi-Chef Mielke auf einer Sitzung des MfS-Kollegiums eingestand, es sei unmöglich, »die gegenwärtig hohe Zahl von Festnahmen länger beizubehalten«.43 Den Westen traf der Mauerbau weitgehend unvorbereitet. Die Bundesregierung wurde von den Ereignissen überrascht und insbesondere die Westberliner befanden sich in einem Schockzustand. Gefühle der Hilflosigkeit, der Wut auf das SED-Regime, aber auch der Verbitterung über die Untätigkeit der Westalliierten bestimmten das Klima in den Wochen und Monaten nach dem 13. August 1961. Das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands war damit in weite Ferne gerückt. Mit der Existenz der DDR war auf unbestimmte Zeit zu rechnen. Folglich würde sich auch das Problem der politischen Häftlinge nicht von selbst erledigen. Im Gegenteil: Die Rechtsschutzbemühungen wurden noch weiter erschwert, denn der Mauerbau unterbrach auch den Informationsfluss aus der DDR in den Westen. Das Regime hatte die Verkehrsverbindungen und Telefonleitungen gekappt, Westberliner konnten nicht mehr in den Ostteil der Stadt fahren und Ostberliner nicht mehr nach West-Berlin, womit 41 So die These von Harrison, Hope Millard: Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach. Berlin 2011. 42 Werkentin: Politische Strafjustiz, S. 268. 43 Zit. nach: Mitter, Armin; Wolle, Stefan: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte. München 1993, S. 360.
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auch entlassenen politischen Häftlingen der Fluchtweg abgeschnitten war. Lediglich Bundesbürger konnten sich noch halbwegs ungehindert in der Stadt bewegen, da sie mit ihrem Bundespersonalausweis zu Tagesbesuchen nach Ost-Berlin einreisen durften.
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Die Anfänge Private Freikäufe
Obwohl der Mauerbau die Bemühungen um Rechtsschutz für die politischen Häftlinge erschwerte, bedeutete er doch keineswegs das Aus für die Tätigkeit Wolfgang Vogels. Im Gegenteil: In den knapp anderthalb Jahren nach dem Mauerbau wuchs der Anwalt in eine Schlüsselposition als Unterhändler zwischen Ost und West hinein, ohne die es den Häftlingsfreikauf und die Familienzusammen- sowie Kinderrückführung möglicherweise gar nicht, zumindest nicht in ihrer späteren Form gegeben hätte. Der eigentliche Beginn von Vogels Tätigkeit als Vermittler war der Abel-Powers-Austausch im Frühjahr 1962. Nach mehrmonatigen Verhandlungen, die auf ostdeutscher Seite Vogel und sein Führungsoffizier Volpert geführt hatten, wurde der KGB-Spion Oberst Rudolf Abel am 10. Februar 1962 gegen den US-amerikanischen Piloten Francis Gary Powers auf der Glienicker Brücke ausgetauscht.44 Diese Übergabe war die erste zwischen den Supermächten und »brach in gewisser Weise das Eis, wenn es um die Frage ging, ob man im Kalten Krieg mit dem Gegner Geschäfte machen kann«, wie sich der damalige CIA-Mitarbeiter John R. Mapother im Jahr 2004 aus der Rückschau erinnerte.45 Gegenüber den US-Amerikanern genoss Vogel fortan den Ruf des zuverlässigen Vermittlers, denn zweifellos verfügte er über beste Kontakte zur DDRRegierung. Die CIA stufte ihn als mutmaßlichen KGB- oder MfS-Spion ein, ohne jedoch eindeutige Beweise für diesen Verdacht zu haben.46 Auf der anderen Seite steigerte der geglückte Austausch Vogels Wert und ließ den Einfluss Heinz Volperts innerhalb des MfS weiter anwachsen. Möglicherweise verschaffte er dem knapp 30-jährigen Offizier sogar einen direkten Zugang zum Minister für Staatssicherheit, über dessen Tisch der Deal lief. Jedenfalls wusste
44 Pötzl: Spione, S. 84–131; Whitney: Advocatus Diaboli, S. 48–72. 45 John Mapother (1922–2009) in: Ast, Jürgen: Die gekaufte Freiheit. Häftlingsfreikauf im geteilten Deutschland, 6.9.2004, ARD. 46 Shackley, Theodore; Finney, Richard A: Spymaster. My life in the CIA. Dulles 2004, S. 101.
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Mielke die Leistungen Volperts zu würdigen und zeichnete ihn mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber aus.47 Durch die Presseberichte über das Geschehen auf der Glienicker Brücke wurde Vogels Name zudem breiteren Kreisen im Westen bekannt.48 Im April 1962, zwei Monate nach dem Abel-Powers-Austausch, erhielt Vogel ein Schreiben von einem Westberliner Anwaltskollegen, der ihn um Hilfe bei der Verteidigung einer Mandantin bat, die wegen eines Fluchtversuchs inhaftiert worden war.49 Bei dem Anwalt handelte es sich um Jürgen Stange, einen drei Jahre jüngeren Kollegen Vogels. Beide waren sich erstmals in den fünfziger Jahren im Kriminalgericht in Moabit begegnet.50 Seit Herbst 1961 führte Stange eine Kanzlei in Westberlin. Als in den Wochen und Monaten nach dem Mauerbau zahlreiche Westberliner Studenten bei Fluchthilfeaktionen für ihre Kommilitonen im Ostteil der Stadt festgenommen und inhaftiert worden waren, hatten sich deren Eltern und Angehörige mit der Bitte um Hilfe an Stange gewandt. Seinerseits stand Stange im engen Kontakt mit der Rechtsschutzstelle. Von Werner Commichau, dem früheren Leiter der Rechtsschutzstelle, hatte Stange den Rat erhalten, sich an Wolfgang Vogel zu wenden, der in derlei Fällen die Verteidigung übernehmen könne. Für Stange war es kein Problem, Vogel in seiner Kanzlei im Ostberliner Stadtteil Alt-Friedrichsfelde aufzusuchen. Durch seinen Zweitwohnsitz in Braunschweig besaß Stange einen Bundespersonalausweis, mit dem er nach Ost-Berlin einreisen konnte.51 Stange und Vogel fanden rasch menschlich Zugang zueinander und waren bald Duzfreunde. Zugleich hatte das Anwaltsduo zwei entscheidende Vorteile gegenüber anderen Kollegen, die auf demselben Gebiet tätig waren: Erstens stellte die Mauer kein unüberwindliches Hindernis für ihre Zusammenarbeit dar und zweitens verfügte Vogel über beste Kontakte zur Generalstaatsanwaltschaft und dem MfS, über die er verlässliche Auskünfte über den jeweiligen Stand des Strafverfahrens erhielt.
47 Kaderakte Heinz Volpert; BStU, MfS, KS I 6/87, Bl. 86. 48 Z. B. »Freilassung eines zweiten Amerikaners erwartet. Der Preis für Moskaus Meisterspion Oberst Abel. Verhandlungsort für den Austausch von Powers war Ost-Berlin«. In: FAZ v. 13.2.1962. 49 Treffbericht Volperts, 24.4.1962, BStU, GA, Bd. 7, Bl. 457. 50 PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133: Zeuge Jürgen Stange, S. 162 u. 181. Laut Aussage Hermann Kreutzers (in: Gursky, André: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR. Frankfurt/M. 2011, S. 254) kannten sich Stange und Vogel bereits aus ihrem Jura-Studium an der Universität Jena. Dies wird bestätigt von Rechtsanwalt Christian Landgraf (Telefonat v. 25.5.2011), der in den sechziger Jahren in Stanges Büro arbeitete. Im Universitätsarchiv Jena ist jedoch nur eine Studentenakte zu Wolfgang Vogel überliefert, keine zu Jürgen Stange. Es gab lediglich einen Jurastudenten gleichen Familiennamens, sodass womöglich eine Verwechslung vorliegt (Auskunft des Universitätsarchivs v. 9.7.2013). 51 Pötzl: Spione, S. 132 f.
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Der Fall der inhaftierten Mandantin, deretwegen Stange Vogel aufgesucht hatte, sollte nicht der einzige bleiben, gab es doch zahlreiche andere Klienten in ähnlicher Lage.52 Dabei suchten die Anwälte auch nach Möglichkeiten, eine vorzeitige Entlassung zu erwirken. Die einzige Methode, die als praktikabel erschien, war der Austausch gegen östliche Spione, die in der Bundesrepublik oder in West-Berlin inhaftiert waren. Um dies zu arrangieren, mussten jedoch »äquivalente« Austauschpartner gefunden und die im Begnadigungsverfahren federführenden Stellen im Westen davon überzeugt werden, den östlichen Spion im Interesse der Freilassung eines politisch Inhaftierten in der DDR zu begnadigen. Ein solcher Austausch gelang Stange und Vogel im Falle Engelbert Nelles, Student aus Köln und Bundesvorsitzender der Katholischen Deutschen Studenten-Einigung. Im Februar 1962 hatte Nelle versucht, sich mit fluchtwilligen Kommilitonen aus Halle in Ost-Berlin zu treffen. Das MfS erhielt jedoch Kenntnis davon und verhaftete Nelle wegen »Verleitung zum Verlassen der DDR«. Kirchenvertreter und Politiker in der Bundesrepublik setzten sich intensiv für seine Entlassung ein. Vogel hatte das Pflichtverteidiger-Mandat erhalten. Sein Führungsoffizier Heinz Volpert schlug ihm vor, Nelle gegen einen Spion der HV A des MfS auszutauschen, der in Düsseldorf eine längere Haftstrafe verbüßte. Vogel besprach die Angelegenheit mit Prälat Zinke, der seinerseits über die Kanäle der katholischen Kirche in Bonn den Bundeskanzler für den Vorschlag gewinnen konnte. Adenauer überzeugte seinerseits den Bundespräsidenten, einer Begnadigung zuzustimmen, sodass Nelle am 10. Juli 1962 durch Vermittlung Vogels und seines Westberliner Partners Jürgen Stange gegen den DDR-Spion am Bahnhof Friedrichstraße ausgetauscht wurde.53 Der Austausch Nelles blieb jedoch ein Einzelfall, da die Bundesregierung eine ständige Austauschpraxis aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnte. In einer Kabinettssitzung im Februar 1962 hatten sich der Bundesjustizminister und der Gesamtdeutsche Minister grundsätzlich gegen den Austausch von »Agenten gegnerischer Geheimdienste« ausgesprochen. Dies könne »im Interesse der Staatssicherheit und des Ansehens der Gerichte und der Abwehrdienste der Bundesrepublik« nicht infrage kommen. Eine ständige Austauschpraxis werde die DDR dazu animieren, sich »Tauschobjekte zu beschaffen, um ihrerseits dafür geschulte und gefährliche eigene Agenten frei zu bekommen«.54 52 Ebenda, S. 133. 53 Ebenda, S. 132–136; Whitney: Advocatus Diaboli, S. 77 f.; BStU, MfS, AS 604/70, Bd. 3, Bl. 95–97. 54 17. Kabinettssitzung am 28. Februar 1962, Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 15: 1962, München 2005, S. 168 f.; vgl. Schütz an Brandt, 29.3.1962, LArchB, B Rep. 003, Nr. 597, Bl. 2 f.
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Demgegenüber befürwortete der Westberliner Senat derartige Austauschverhandlungen. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD), Justizsenator Valentin Kielinger (CDU) und der Leiter der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Dietrich Spangenberg (SPD), sahen darin ein geeignetes Mittel, um den von der Teilung der Stadt besonders hart betroffenen Menschen und Familien zu helfen.55 Die Bereitschaft, überhaupt mit der DDR zu verhandeln und damit die bisherige Politik der Nichtanerkennung und Ablehnung sämtlicher Kontakte zur DDR aufzugeben, war Teil des Konzeptes der »Politik der kleinen Schritte«. Sie sollte die Mauer durch Verhandlungen mit den DDR-Machthabern »durchlässiger machen« und schlicht »für die Menschen etwas erreichen«.56 Im Besonderen sah sich der Senat den inhaftierten Studenten der beiden Westberliner Universitäten verpflichtet, die bei Fluchthilfeaktionen für ihre Kommilitonen aus Ost-Berlin gefasst und inhaftiert worden waren. Aus diesem Grund stand der Senat mit den Anwälten der Rechtsschutzstelle und mit Jürgen Stange in Kontakt, den Angehörige der Studenten eingeschaltet hatten. Dietrich Spangenberg (Abb. 2), der zu Brandts engerem Beraterkreis gehörte und von ihm mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben betraut war, traf sich regelmäßig mit Stange, um über Hilfsmöglichkeiten für die jeweils inhaftierten Fluchthelfer zu beraten.57 Zu diesen Härtefällen gehörte auch Horst L., ein Medizinstudent der Freien Universität, der fünf Tage nach dem Mauerbau wegen Fluchthilfe verhaftet und im Dezember zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden war. Horst L. hatte die Kinder des Regierenden Bürgermeisters unterrichtet, weshalb sich Brandt und besonders seine Ehefrau Rut nachdrücklich um seine Freilassung bemühten.58 Im Juni 1962 berieten Spangenberg und Stange über das weitere Vorgehen. Wolfgang Vogel, der Horst L. vor Gericht verteidigt hatte, deutete die Möglichkeit eines Austausches an, worauf Spangenberg eine Liste mit vier Personen zusammenstellte, die in West-Berlin eine Strafe wegen Spionagetätigkeit verbüßten und als Austauschpartner infrage kamen.59 Volpert, dem die Anwälte das Austauschangebot des Senates übermittelt hatten, lehnte den Vorschlag ab, da die Strafen der Tauschpartner vergleichsweise 55 Siehe z. B. den Austauschvorgang vom Sommer 1962 in: LArchB, B Rep. 002, Nr. 12308. 56 Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. 3. Aufl., München 1995, S. 126–130. 57 Spangenberg war von 1950 bis 1958 Geschäftsführer des Amtes für Gesamtdeutsche Studentenfragen des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) und hatte sich in dieser Funktion auch um politisch verfolgte Studenten in der DDR gekümmert. 58 Pötzl: Spione, S. 146 f.; Brandt, Willy: Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975. Hamburg 1976, S. 102. 59 Vermerk Spangenbergs, Juni 1962; LArchB, B Rep. 002, Nr. 7943, Bl. 17.
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niedrig waren und ihre Entlassung ohnehin in Kürze bevorstand.60 Das Austauschvorhaben erwies sich daher zunächst als nicht praktikabel. In dieser Situation entstand offenbar der Gedanke, politische Häftlinge gegen Geldzahlungen aus der Haft zu holen, beziehungsweise zu entlassen. Erstmals dokumentiert ist die Idee in einem Papier des Berliner Senates: Spangenberg vermerkte auf der Liste mit geeigneten Austauschkandidaten seiner Seite, er habe diesbezüglich mit Rechtsanwalt Stange gesprochen. Hier müssten »neue Wege gefunden« sowie »Geldangebote und [die] Frage einer Koordinierungsbesprechung der beteiligten Stellen beim Gesamtdeutschen Ministerium« geprüft werden.61 Tatsächlich hatte die Idee von Geldzahlungen einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Austauschverfahren, da man sich »nur« noch über die Höhe des jeweiligen Betrages einigen musste. Auch Wolfgang Vogel war dem Gedanken gegenüber aufgeschlossen. Womöglich hatte er die Idee sogar selbst mit dem Argument ins Spiel gebracht, dass die DDRWirtschaft schließlich »nicht in der besten Verfassung« sei.62 Ob Vogel damit seine private Meinung geäußert oder die Möglichkeit nach Rücksprache mit Volpert angedeutet hatte, lässt sich nicht mehr feststellen. Dass sich die wirtschaftliche Situation nach dem Mauerbau keinesfalls verbessert, sondern weiter verschlechtert hatte, war allerdings ein offenes Geheimnis.63 Außerdem lag der Gedanke, politische Gefangene zu entlassen und in den Westen abzuschieben, durchaus im Vorstellungsbereich der Staats- und Parteiführung der SED, wie ein Telefongespräch zwischen SEDGeneralsekretär Walter Ulbricht und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow vom 1. August 1961 belegt. Ulbricht beklagte sich bei Chruschtschow über die erhöhte Zahl angeblicher Sabotageakte, für die »gegnerische Elemente, hauptsächlich Übersiedler aus Westdeutschland« verantwortlich seien, unter ihnen »viele Agenten«. Auf Ulbrichts Ergänzung, teilweise seien es »primitive Menschen, die der Gegner ausnutzt«, fragte Chruschtschow: »Vielleicht sollte man sie lieber nach Westdeutschland abschieben, statt sie im Gefängnis sitzen zu lassen?« Ulbricht entgegnete darauf,
60 Aktenvermerk Volperts, 16.7.1962; BStU, GA, Bd. 8, Bl. 127. 61 Vermerk Spangenbergs, Juni 1962; LArchB, B Rep. 002, Nr. 7943, Bl. 17. 62 Wyden, Peter: Wall. The inside story of divided Berlin. New York 1989, S. 317. Wyden stützte sich auf Interviews mit Spangenberg, Stange und Vogel. In der deutschen Übersetzung (Ders.: Die Mauer war unser Schicksal. Berlin 1995, S. 157) fehlt der zitierte Satz. Aufzeichnungen oder Transkripte der Interviews befinden sich nicht im Besitz der Familie Wyden. Elaine Wyden an den Verfasser, 26.6.2008. 63 Ausführlich zur wirtschaftlichen Lage siehe folgendes Kapitel.
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er habe »diese Frage … auch angesprochen«, doch könne man dies nicht tun: »Unsere Aufgabe ist es zu überzeugen.«64 Zwar war von Gegenleistungen für die Abschiebung noch nicht die Rede. Gedanklich war es aber nur noch ein kleiner Schritt, für die Entlassung von westlichen »Agenten« Leistungen materieller Art zu fordern oder entsprechende (Geld-)Angebote des Westens anzunehmen. Das Gespräch Ulbricht – Chruschtschow offenbarte aber zugleich eines der ideologischen Probleme einer solchen Verfahrensweise, denn damit verzichtete der sozialistische Staat auf seinen Anspruch, »uneinsichtige« Gegner notfalls durch eine Haftstrafe von der »Richtigkeit« des Sozialismus zu »überzeugen«. Dem stand die Idee gegenüber, sich staatsfeindlicher »Westdeutscher« einfach zu entledigen, die nach Verbüßung ihrer Strafe sowieso in den Westen entlassen werden würden. Schließlich zeigt der Wortwechsel, dass der Kreml-Chef dem SED-Chef in dieser Frage weitgehend freie Hand ließ. Zudem fiel der Beginn des Freikaufs in die Phase nach dem XXII. Parteitag der KPdSU vom Oktober 1961, in dessen Ergebnis die zweite Phase der Entstalinisierung einsetzte und die vormalige Repressionswelle in den Monaten unmittelbar nach dem Mauerbau abebbte. Die Auswirkungen erfassten auch die DDR; die »feindliche Tätigkeit« der Gegner der DDR sollte künftig nicht mehr durch harte Repressionsmaßnahmen, sondern durch »neue Methoden in Zusammenarbeit mit der Partei und den gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen« eingedämmt werden.65 Horst L., dessen Inhaftierung der Auslöser für die Idee des Berliner Senates war, der DDR »Geldangebote« für die Entlassung politischer Häftlinge zu machen, gelangte allerdings nicht durch einen Freikauf in Freiheit, sondern wurde im Sommer 1963 gegen drei Personen ausgetauscht.66 Bislang ungeklärt ist hingegen, ob der Senat den ins Auge gefassten Freikauf in anderen Fällen in die Tat umsetzte. Lediglich in mehreren, offenbar auf Interviews mit den damaligen Akteuren beruhenden Publikationen, die über 20 Jahre nach den Ereignissen erschienen, ist davon die Rede. Mal wird davon berichtet, der Senat habe an Weihnachten 1962 die Ausreise von 20 Personen erkauft,67 an anderer Stelle heißt es, Brandt und Spangenberg hätten über Stange und Vogel sechs Gefangene für die »erstaunlich niedrige« Summe von 25 000 DM auslö64 Abschrift des Telefongesprächs unter http://www.welt.de/politik/article3828831/DasGespraech-zwischen-Ulbricht-und-Chruschtschow.html, download am 10.2.2010; vgl. Wettig, Gerhard; Karner, Stefan: Chruschtschows Westpolitik 1955 bis 1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen. München 2011, S. 300 f. 65 Zit. nach: Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 232. 66 Wölbern: Entstehung, S. 858. 67 Bender: Die »Neue Ostpolitik«, S. 130, jedoch ohne Datums- und Quellenangabe. Ähnliches findet sich bei Schmidthammer: Vogel, S. 91 und Posser: Anwalt im Kalten Krieg, S. 345.
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sen können.68 Tatsächlich hielt Volpert in einem Vermerk fest, dass am 18. Dezember 1962 bei der Abteilung Finanzen des MfS 21 000 DM hinterlegt worden seien.69 Der Verwendungszweck geht daraus jedoch ebenso wenig hervor wie die Identität des Geldgebers.70 Wahrscheinlich handelte es sich um das Geld von Angehörigen einiger Inhaftierter aus der Bundesrepublik, für die Stange und Vogel Freikäufe auf privater Basis vermittelten.71 Möglicherweise war der Berliner Senat insoweit daran beteiligt, als dass er den Angehörigen ihre Auslagen aus einem Wohltätigkeitsfonds erstattete, auf den Brandt Zugriff hatte.72 Anzahl und Identität der Personen sowie die genauen Hintergründe sind jedoch bis heute unbekannt.73 Ungeachtet der Frage, ob der Berliner Senat als erste staatliche Institution ein Freikaufsgeschäft in die Wege leitete, verfügte er ohnehin nicht über die erforderlichen Mittel, um daraus einen dauerhaften Mechanismus zu etablieren. Beim zuständigen Gesamtdeutschen Ministerium in Bonn, dessen Einschaltung Spangenberg angeregt hatte, stieß der Gedanke auf Ablehnung. Besonders Staatssekretär Franz Thedieck lehnte das Vorhaben aus grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber einem »derartigen Menschenhandel« ab.74 Thedieck, der dem Ministerium seit dessen Gründung im Jahr 1949 als Staatssekretär vorstand, war von den Denkkategorien und der politischen Mentalität der US-amerikanischen Befreiungspolitik geprägt, die auf antikommunistische Abwehrarbeit und propagandistische Bekämpfung des Gegners setzte. Mit 68 Wyden: Wall, S. 318. 69 BStU, MfS, HA IX, Nr. 368, Bl. 16. Der Vermerk enthält ferner die Auflistung der Beträge, die die Bundesregierung 1963 für den Freikauf der ersten 8 Häftlinge zahlte (siehe folgendes Kapitel). 70 Jürgen Stange sagte 1992 lediglich aus, es habe »auf Berliner Ebene […] bescheidene Bemühungen, also in humanitären Fällen, bei Häftlingen, eben auch bei Kindern vor allen Dingen« gegeben sowie »Austauschfälle auf Berliner Ebene«; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133: Zeuge Jürgen Stange, S. 222 f. 71 Die Rechtsschutzstelle erhielt im Laufe des Jahres 1963 Kenntnis von einigen derartigen Fällen. Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 62; Thedieck an Rehlinger, 21.8.1963, ebenda, S. 59, Anm. 8; Vermerk Rehlingers, 8.1.1965; ebenda, S. 213 f. 72 Shackley: Spymaster, S. 101. Tatsächlich gab es bei der Berliner Bank AG einen »Hilfsfond Bürgermeister Brandt für soziale und kulturelle Zwecke«, AdSD, WBA, A6, Box 81. Das Konto wurde 1963 aufgelöst, die Unterlagen nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist vernichtet. Der Treuhänder des Kontos verstarb 1999. In den erschlossenen Akten der Senatskanzlei im Landesarchiv Berlin sind keine Unterlagen überliefert, die eine Beteiligung des Senates an einem dieser Freikäufe belegen. 73 1964 fertigte Vogel einen Vermerk an, in dem er die Namen der in Zusammenarbeit mit Stange »bisher im Austauschwege oder durch wirtschaftliche Gegenleistungen« gelösten Fälle auflistete. Der Vermerk, der Gegenstand einer Kontroverse zwischen dem Autor und Norbert F. Pötzl war (vgl. Anm. 221), ist abgedruckt in: DzD BesBem Bd. 1, S. 144–147. Für Freikäufe im fraglichen Zeitraum 1962–1963 kommen 12 der dort genannten infrage, die übrigen Häftlinge wurden erst 1964 (teils für Geldleistungen) entlassen. Allerdings ist die Liste »nicht vollständig«. Aufschluss könnten nur Unterlagen aus Vogels Privatarchiv bzw. Nachlass geben (vgl. Einleitung). 74 Rehlinger: Freikauf, S. 15; Wyden: Wall, S. 317.
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»den Kommunisten« plötzlich Geschäfte zu machen, wäre für ihn ein politischer Sündenfall gewesen.75
Kreditverhandlungen und erster Freikauf durch die Bundesregierung Warum und auf wessen Initiative kam es 1963 dennoch zur ersten Freikaufsvereinbarung zwischen dem SED-Regime auf der einen und der Bundesregierung auf der anderen Seite? Zweifellos markierte der erste Freikauf durch die Bundesregierung den Übergang auf die offizielle, staatliche Ebene, mithin den eigentlichen Beginn des Häftlingsfreikaufs. Die Quellen zeigen, dass der Gedanke der Freilassung politischer Häftlinge für materielle Gegenleistungen bereits 1962 öffentlich und auch innerhalb der Bundesregierung diskutiert wurde, eine Initiative in dieser Richtung jedoch als unrealistisch verworfen wurde. Der konkrete Vorschlag wurde indes seitens der DDR an die Bundesregierung herangetragen, die sich nur zögerlich zu Verhandlungen bereit erklärte. Vermittelt durch die beiden Anwälte Stange und Vogel näherten sich beide Seiten einander Schritt für Schritt an. Der Ausgangspunkt war die anhaltend schlechte wirtschaftliche Lage der DDR. Obwohl die Abriegelung der Grenzen die Fluchtwelle gestoppt und den wirtschaftlichen Kollaps abgewendet hatte, blieb die erhoffte ökonomische Konsolidierung aus. Auch die Versorgungslage für die Bevölkerung verbesserte sich nicht, im Gegenteil: 1961 brachen die Produktionsziffern für Grundnahrungsmittel ein, im Sommer 1962 berichtete der Spiegel in einer Titelgeschichte zur Versorgungskrise unter der Überschrift »Ex oriente nix«, dass die Behörden erstmals seit Jahren wieder Bezugsscheine für Kartoffeln ausgegeben hätten.76 In einem Gespräch mit SED-Chef Ulbricht im Februar 1962 in Moskau gab der sowjetische Staats- und Parteichef Chruschtschow seiner Verärgerung darüber Ausdruck, dass die DDR ihre wirtschaftlichen Probleme nicht in den Griff bekomme und gegenüber der Bundesrepublik »keine ökonomische Standfestigkeit« gewinne. Die DDR möge deshalb »ihren Handel mit der BRD ankurbeln«, um ihre Wirtschaft wieder »in Ordnung zu bringen«.77 Die Ausweitung des innerdeutschen Handels sei aus sowjetischer Sicht selbst dann unproblematisch, wenn dies auf Schuldenbasis erfolge.78 75 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 65–75. 76 »Sowjetzone – Wirtschaftskrise: Ex oriente nix«. In: Der Spiegel v. 25.7.1962, Nr. 30. 77 Gespräch Ulbricht – Chruschtschow, 27.2.1962, Wettig; Karner: Chruschtschows Westpolitik, S. 27 f. u. 538. 78 Fäßler, Peter E.: Durch den »Eisernen Vorhang«. Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen 1949–1969. Köln 2006, S. 270.
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Maßnahmen für eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik waren zu diesem Zeitpunkt bereits in die Wege geleitet. Ende Januar 1962 hatte das Politbüro der SED den Minister für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (MAI) beauftragt, mit den westdeutschen Behörden über eine Erhöhung der Steinkohlelieferungen aus der Bundesrepublik zu verhandeln. Die Bezahlung sollte zeitversetzt ab 1967 in Form zusätzlicher Warenlieferungen erfolgen, u. a. in Form von Öl- und Diesellieferungen. Da für die Finanzierung dieses Geschäftes eine Bundesbürgschaft notwendig war, handelte es sich faktisch um ein Kreditersuchen an die Bundesregierung in der Größenordnung von rund 2,25 Milliarden DM. Die Verhandlungen sollten streng vertraulich »ohne öffentliche Agitation« geführt und das Politbüro laufend unterrichtet werden.79 Die Gespräche fanden dabei auf der bereits erwähnten Kontaktschiene zwischen dem Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (MAI) einerseits und der westdeutschen »Treuhandstelle für den Interzonenhandel« (TSI) andererseits statt. Die TSI unterstand zwar dem Bundeswirtschaftsministerium, trat gegenüber dem MAI jedoch nicht als Bundesbehörde auf, um nicht gegen das Bonner Kontaktverbot zu DDR-Behörden zu verstoßen. Die regelmäßigen Treffen zwischen dem Leiter der TSI, Kurt Leopold, und dem MAI-Vertreter, Heinz Behrendt, stellten den einzigen Kommunikationskanal zwischen der Bundesregierung und der SED-Spitze dar. Am Rande einer Routinebesprechung am 13. Februar 1962 übermittelte Behrendt den Kreditwunsch der DDR an Leopold.80 Bei der Bundesregierung stieß die DDR-Offerte auf großes Interesse. Zum einen eröffnete sich damit ein neuer Absatzmarkt für westdeutsche Steinkohle, zum anderen bot sich damit die willkommene Gelegenheit, die Gewährung des Kredites mit politischen Gegenforderungen zu verbinden, die gleiche Strategie, die der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß rund 20 Jahre später bei der Vermittlung des »Milliardenkredits« verfolgte.81 Da die Forderung nach einer Amnestie für die »etwa 8 000 politischen Häftlinge«, die seit dem 13. August 1961 inhaftiert worden waren, ein »reine[r] Propagandavorschlag« gewesen und daher von der DDR rundweg abgelehnt worden wäre,82 erarbeitete ein Kreis von Staatssekretären aus den beteiligten Ressorts eine Liste mit »plausiblen und vernünftigen Gegenbedingun79 Verhandlungen mit den westdeutschen Behörden über den Interzonenhandel, VVS 4/62, 30.1.1962; BArch-B, SAPMO, DY 30, Nr. 4649, Bl. 157–160, hier 157. 80 Fäßler: Wirtschaftsbeziehungen, S. 277. 81 Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 15: 1962, S. 168, 195, 261, 277–279, 507 u. 535. 82 Vermerk betr. »Mögliche rechtspolitische Bedingungen als Gegenforderungen […] an die SBZ«, 29.5.1962; BArch-K, B 137/16247; vgl. Fäßler: Wirtschaftsbeziehungen, S. 279 f.
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gen«, die nicht von vornherein ein Scheitern der Verhandlungen provozieren sollten. Das Bundeskabinett wies den Leiter der TSI im Oktober 1962 an, unter anderem auch die »Freilassung der im Zusammenhang mit der Errichtung der Mauer verhafteten Studenten«, d. h. der studentischen Fluchthelfer zu fordern.83 Das Gesamtdeutsche Ministerium hatte indes »stärkste Bedenken«, der DDR eine Liste mit den gewünschten Namen zukommen zu lassen. Ende November erhielt Leopold die Instruktion, er solle »die Frage der Freilassung der […] Studenten beiläufig in dem Sinne« ansprechen, dass »zur Verbesserung des politischen Klimas die von der SBZ ohnehin beabsichtigte Abschiebung dieser jungen Leute nach dem Westen so bald wie möglich erfolgt«.84 Die DDR reagierte zunächst ablehnend. Ulbricht beklagte sich gegenüber Chruschtschow, Adenauer erhöhe andauernd »seine politischen Forderungen«. Der Vertreter der Bundesrepublik bei den Kreditverhandlungen stelle »jedes Mal die Forderung, das Grenzregime zu ändern«.85 Erst unter dem ständig wachsenden ökonomischen Druck erklärte sich Ulbricht im September 1962 bereit, auch über »ein Minimum an politischen Fragen« zu verhandeln.86 Die Bedeutung der Kreditverhandlungen für die Entstehung des Häftlingsfreikaufs lag darin, dass hier erstmals überhaupt zwischen den politischen Entscheidungsträgern der DDR und der Bundesrepublik über die Entlassung politischer Häftlinge gegen wirtschaftliche bzw. finanzielle Gegenleistungen verhandelt wurde, wenn auch nur als Teil eines größeren Gesamtpaketes aus Leistungen und Gegenleistungen. Eine gedankliche Verbindung zwischen der Entlassung politischer Häftlinge einerseits und ökonomischen Gegenleistungen andererseits war damit hergestellt. Die Kreditverhandlungen stellten gewissermaßen die Geburtsstunde der ostpolitischen Strategie »Kredit versus humanitäre Konzessionen«87 oder »Menschlichkeit gegen Kasse« dar, wie die Formel in den siebziger und achtziger Jahren oft in polemischer Absicht gebraucht wurde.88 Zudem zeigte die Verhandlungsbereitschaft Bonns, dass es Aufweichungstendenzen in der bisherigen starren Haltung der grundsätzlichen Nichtbeachtung und Nichtanerkennung der DDR gab. Nach dem Mauerbau, der die Existenz des anderen deutschen Staates im wahrsten Sinne des Wortes auf absehbare Zeit hin zementierte, gewannen auch in der unionsgeführten Bun83 Vermerk über eine StS-Besprechung am 2.10. u. 5.10.1962; BArch-K, B 137/16611. 84 Direktive für Leopold v. 20.11.1962; BArch-K, B 102/600238. 85 Gespräch Ulbricht – Chruschtschow, 4.6.1962; Wettig: Chruschtschows Westpolitik, S. 551. 86 Sonderbericht Nr. 5 v. 18.9.1962; BArch-K, B 137/16611. 87 Zit. nach: Fäßler: Wirtschaftsbeziehungen, S. 281. 88 »Wir können der DDR nichts diktieren«. Staatssekretär Klaus Bölling über seine Erfahrungen als Ständiger Vertreter in Ost-Berlin. In: Der Spiegel v. 17.5.1982, Nr. 20.
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desregierung Überlegungen an Gewicht, über Kontakte zu den Machthabern in Ost-Berlin unterhalb der Schwelle offizieller Gespräche nach Möglichkeiten zu suchen, um die größten Härten der Teilung zu lindern. Bundeskanzler Adenauer bekundete dies auch öffentlich. In der Regierungserklärung vom 9. Oktober 1962 formulierte er ein »Wort an die Sowjetunion«, das indirekt auch an die DDR gerichtet war und von vielen Beobachtern als Kurskorrektur gedeutet wurde: »Ich erkläre erneut, dass die Bundesregierung bereit ist, über vieles mit sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder und Schwestern in der Zone ihr Leben so einrichten können, wie sie es wollen. Überlegungen der Menschlichkeit spielen hier für uns eine noch größere Rolle als nationale Überlegungen.«89
Der Kanzler befand sich damit in Übereinstimmung mit US-Präsident Kennedy, dem er Mitte November 1962 im Verlauf seines Besuches in den USA über die laufenden Kreditverhandlungen berichtete.90 Seit der Kubakrise im Oktober 1962, die die Welt an den Rand eines Atomkrieges geführt hatte, setzte die US-Administration auf Entspannung und Deeskalation der Beziehungen zur Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Verkündung der »Strategie des Friedens«, die Kennedy im Juni 1963 in einer Ansprache in Washington der Weltöffentlichkeit präsentierte. Das Pendant zum sowjetischen Konzept der »friedlichen Koexistenz« beinhaltete ein Bekenntnis zur Sicherung des Friedens vorrangig durch politische Lösungen sowie durch »vermehrte Kontakte und Verbindungen« zur anderen Seite.91 Ende 1962, inmitten der heißen Phase der geheimen Kreditverhandlungen, wurde der Gedanke, politische Häftlinge für wirtschaftliche Gegenleistungen aus der Haft zu holen, auch öffentlich diskutiert. Auslöser für die Debatte war eine Vereinbarung zum Gefangenenaustausch zwischen den USA und dem Kubanischen Castro-Regime. Die Freilassung von insgesamt 1 189 Exilkubanern, die sich seit dem gescheiterten Invasionsversuch in der Schweinebucht im April 1961 in den Händen des »Máximo Líder« befanden, gegen Traktoren und Arzneimittel im Wert von 62 Millionen Dollar beflügelte die Gedanken mancher Hilfswilligen in der Bundesrepublik.92 Ende Dezember 1962 berichtete der Westberliner Tagesspiegel über eine Bitte des »Vereins ehemaliger 89 Regierungserklärung Adenauers v. 9.10.1962, Bulletin des BPA v. 10.10.1962, Nr. 188, S. 1594; vgl. Plück, Kurt: Der schwarz-rot-goldene Faden. Vier Jahrzehnte erlebter Deutschlandpolitik. Bonn 1996, S. 117. 90 Fäßler: Wirtschaftsbeziehungen, S. 281. 91 Rede Kennedys, 10.6.1963; DzD, IV/9, S. 382–388, zit. nach: Stöver: Kalter Krieg, S. 388. 92 »Kuba/Lösegeld: Handel bei Berta«. In: Der Spiegel v. 24.10.1962, Nr. 43; Pötzl: Spione, S. 144; »Kennedy empfängt Kuba-Invasoren«. In: FAZ v. 28.12.1962.
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politischer Häftlinge« an die Bundesregierung, mit einem Angebot zur Lieferung von Medikamenten und Lebensmitteln an die »Zone« heranzutreten und damit die Entlassung der circa 14 000 politischen Häftlinge zu erreichen.93 Sogar die Bild-Zeitung, die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung aus dem Hause Springer, bekundete ihre unverhohlene Sympathie für eine derartige Initiative. Als das Oberste Gericht der DDR den jugendlichen Westberliner Fluchthelfer Harry Seidel, der unter großem persönlichen Einsatz über 140 Menschen zur Flucht verholfen hatte, am 29. Dezember 1962 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilte, titelte Bild tags darauf: »Nach dem ›Lebenslänglich‹ für Harry Seidel fordert BILD: Kauft Freiheit!« An die Adresse der Bundesregierung war der nachfolgende Appell gerichtet: »Was die Amerikaner in Havanna schafften, sollten wir in Pankow versuchen. […] Zusätzlichen Kredit für Ulbricht und sein Verbrecher-Regime? Mehr Interzonenhandel und Kredit nur gegen die Freiheit von politischen Häftlingen. […] BILD appelliert an alle: Tauscht ›Ware gegen Menschen‹. Kauft Freiheit! Versucht es!«94
Im Gesamtdeutschen Ministerium stieß diese Idee hingegen nach wie vor auf Ablehnung. Insbesondere Staatssekretär Franz Thedieck, der sich im Gegensatz zum Bundeskanzler nicht nur intern, sondern auch öffentlich gegen den Kredit an Ost-Berlin ausgesprochen hatte, blockte sämtliche Vorschläge dieser Art ab.95 Hilfswillige, die sich in den Tagen nach dem Bild-Appell an das Ministerium gewandt hatten und ihre Dienste als Vermittler anboten, beschied Thedieck mit der Antwort, dass Austauschverhandlungen »nach kubanischem Muster« nicht durchführbar seien. Im Falle Kubas habe es sich schließlich um einen souveränen Staat gehandelt, bei der »Zone« sei dies hingegen nicht der Fall.96 In einem internen Vermerk für den erst kürzlich ins Amt berufenen Gesamtdeutschen Minister Rainer Barzel vertrat ein Ministerialbeamter zwar die Auffassung, dass die Idee ein »nicht so ohne weiteres abzulehnender Verhandlungsgegenstand sein könnte«. Sein Dienstvorgesetzter versah das Papier jedoch mit der Randbemerkung, dass Hilfslieferungen für die Bevölkerung »von drüben bisher immer abgelehnt worden« seien. Als Gegenleistung für Häftlingsentlassungen kämen sie »nach der Auffassung der Machthaber der 93 »Initiative zur Freilassung politischer Häftlinge gefordert«. In: Der Tagesspiegel v. 28.12.1962; Weiland an Adenauer, 24.12.1962; DzD BesBem Bd. 1, S. 5 f. 94 »Nach dem ›Lebenslänglich‹ für Harry Seidel fordert Bild: Kauft Freiheit!«. In: Bild (Berliner Ausg.) v. 31.12.1962. 95 Doherr, Annamarie: Das falsche Spiel. In: Frankfurter Rundschau v. 3.1.1963; EI 1962/0467 über eine Besprechung im Bundesministerium für »gesamtdeutsche Fragen«; BStU, MfS, HVA, Nr. 196, Bl. 141. 96 Thedieck an Behling, 10.1.1963, BArch-K, N 1253/50; Thedieck an Sinzig, 31.1.1963, BArch-K, B 137/1651.
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Zone schon gar nicht in Frage«. Ein solches Vorhaben sei daher »leider nicht realisierbar«.97 Allerdings war dies mehr eine Voraussage des Verhaltens der DDR, beruhend auf den bisherigen, ausnahmslos negativen Erfahrungen mit Angeboten zur Lieferung von Hilfsgütern.98 Was sich auf der »offiziellen« Verhandlungsebene zwischen der TSI und dem MAI abspielte, wurde den Anwälten wenige Tage nach der BildSchlagzeile bekannt. Anfang 1963 tauchte in Vogels Anwaltspraxis in OstBerlin ein Mann namens Otto Dinse auf, Prokurist des Hamburger Industriebetriebes »Pintsch-Öl« GmbH. Dinse war mit Rechtsanwalt Stange bekannt und hatte die in Hamburg ansässige karitative Organisation »Hilfswerk der helfenden Hände« mitgegründet. Sie kümmerte sich seit den fünfziger Jahren um ehemalige politische Häftlinge aus der DDR und erhielt zu diesem Zweck Fördermittel aus einem Fond des Gesamtdeutschen Ministeriums.99 Wahrscheinlich hatte er durch diese Verbindung Kenntnis davon erhalten, dass während der Kreditverhandlungen unter anderem über die Freilassung politischer Häftlinge verhandelt worden war. Inspiriert von den Presseberichten erklärte er Vogel, dass das Bonner Bundeswirtschaftsministerium daran interessiert sei, »mit der DDR ähnliche Vereinbarungen und Geschäfte abzuschließen, wie es die Kubanische Regierung bei der jüngsten Entlassung von den Konterrevolutionären praktiziert« habe. Als Vogel entgegnete, dass es doch sinnlos sei, 50 Fluchthelfer zu entlassen, wenn binnen Kurzem »wiederum 50 eingesperrt« würden, entgegnete Dinse, dass man in der Bundesregierung bereits erwogen habe, »mit den verantwortlichen Herren der Universitäten in Westberlin ernste Worte zu sprechen«. Auch wolle das Wirtschaftsministerium diese Sache angeblich nicht in die Kreditverhandlungen einbeziehen, sondern »von Anwalt zu Anwalt« klären.100 Dass Dinse, wie er selbst angab, im Auftrag des Gesamtdeutschen Ministeriums kam, um der DDR einen solchen Tauschhandel anzubieten, ist höchst unwahrscheinlich. Schließlich war die Idee dort abgelehnt worden; Staatssekretär Thedieck hatte sogar dem früheren Leiter der Rechtsschutzstelle Kurt Behling, der sich als anwaltlicher Vermittler zur Verfügung stellen wollte, derartige Initiativen untersagt. Außerdem gab Dinse unumwunden zu, dass er »weniger wegen den Häftlingen« zu Vogel gekommen sei, sondern vielmehr
97 Vermerk Thats, 4.1.1963; BArch-K, B 137/1649. In: DzD BesBem Bd. 1, S. 6 f. ist der Vermerk unvollständig. 98 »Das Kabinett bietet der Zone Hilfe an«. In: FAZ v. 29.6.1961; »Die Sowjetzone bietet Bonn Impfstoff an. Nach dem westlichen Lebensmittelangebot/Lemmer ruft zum Päckchenversand auf«. In: FAZ v. 1.7.1961. 99 Pötzl: Spione, S. 143 f. 100 Op. Inf. der HA V, 12.1.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 8.
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»Geschäfte mit der DDR machen« wolle.101 Vogel, der von Dinse erfuhr, dass in den Kreditgesprächen auch über die Freilassung politischer Häftlinge verhandelt worden war, berichtete Volpert pflichtgemäß über den Vorfall, der eine Operative Information darüber anfertigte. Welchen Weg sie innerhalb des MfS nahm, ist nicht zu rekonstruieren, vor allem hinsichtlich der Frage, ob Volpert sie dem Minister persönlich vorlegte und dieser Rücksprache mit Ulbricht nahm.102 Ungeachtet der zweifelhaften Autorisierung des Überbringers der Nachricht und der Frage, welchen Weg sie nahm, gibt es Anhaltspunkte, dass der Gehalt der Botschaft aus Sicht des MfS als glaubwürdig eingestuft wurde. Erstens bezogen sich Dinses Ausführungen, wie unschwer zu erkennen war, auf die noch laufenden Kreditverhandlungen und die öffentliche Debatte über eine Austauschvereinbarung nach »kubanischem Muster«. Zweitens deckte sich der Inhalt von Dinses Angaben mit jenen, die dem MfS aus anderen Informationsquellen zur Verfügung standen. Über die Kreditverhandlungen war es durch seine »Hauptverwaltung Aufklärung« umfassend informiert.103 Im Bereich des Möglichen ist ferner, dass das MfS vom Leiter der DDR-Delegation Heinz Behrendt eine Information erhielt, die er seinerseits aus Kreisen der TSI-Delegation erhalten hatte. Der Gesprächsvermerk belegte das besondere Interesse des Bundeskanzlers an der Entlassung politischer Häftlinge im Zuge des geplanten Kreditgeschäftes. Angeblich habe Adenauer seit der Erschießung Peter Fechters im August 1962 an der Mauer »sehr auf eine positive« und »energische« Verhandlungsführung »mit dem Ziel der Erreichung eines Übereinkommens« gedrungen, »auch wenn es Geld koste«. Für Adenauer sei es »entscheidend, dass […] wegen bestimmter Gefangener der DDR eine zufriedenstellende Einigung erzielt« werde. Gemeint seien »vornehmlich die jungen Leute«, die deswegen inhaftiert worden seien, »weil sie unbesonnene Dinge gegen die Mauer unternommen hätten«.104 Die Kreditverhandlungen, die den Referenzrahmen von Dinses Ausführungen bildeten, scheiterten jedoch noch im Januar 1963 an den überzogenen politischen Zielen beider Seiten. Auf Weisung Ulbrichts hatte der MAI101 Ebenda. Womöglich bezog sich dies auf das Angebot der DDR, die gewünschten Steinkohleimporte aus der Bundesrepublik mit Öllieferungen zu bezahlen, was Dinse, Prokurist einer Ölhandelsfirma, als Geschäftsmöglichkeit sah. Vgl. Wölbern: Entstehung des Häftlingsfreikaufs, S. 859 f. 102 Von der Op. Inf. wurden 3 Exemplare gefertigt, von denen sich 2 in der »Georg-Akte« befinden. 103 Über die Kreditverhandlungen im hier relevanten Zeitraum von Februar 1962 bis März 1963 verfasste die HV A 22 Einzel-Informationen. BStU, MfS, Ausgangsinformationen der HV A, EI 1962/243, 272, 344, 359, 370, 428, 433, 472, 479, 542, 555, 567, 568, 570, 572, 640, 707 u. 761; EI 1963/14, 50, 113 u. 134. 104 Vermerk Behrendts, 15.1.1963; BArch-B, DL 2 VA/6383, Bl. 511.
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Vertreter Behrendt darauf bestanden, die Verhandlungen über die politischen Gegenleistungen auf der Ebene von Staatssekretären zu führen, um der Anerkennung der DDR dadurch einen Schritt näher zu kommen. Dies jedoch lehnte der Vertreter der TSI ab. Ihrerseits war die DDR nicht bereit, auf die politischen Gegenforderungen Bonns einzugehen. Ferner waren indiskrete Presseberichte erschienen, die die Geheimhaltung verletzten. Öffentlich mit »humanitären Geschäften« in Verbindung gebracht zu werden, bedeutete einen empfindlichen Gesichtsverlust für die DDR-Führung.105 Ulbricht trat auf dem VI. Parteitag der SED am 15. Januar 1963 daher die Flucht nach vorne an und bezeichnete die Forderungen nach politischen Gegenleistungen für den Kredit als »unsittliches Geschäft«, auf das die Regierung der DDR »selbstverständlich« nicht eingehen könne.106 Ulbrichts Rede, die in voller Länge im Neuen Deutschland abgedruckt wurde, löste im Westen Verärgerung aus. In der Kabinettssitzung vom 16. Januar 1963 ließ Adenauer seiner Empörung freien Lauf. Staatssekretär Thedieck kabelte nach Berlin, der Kanzler sei »nach der unverschämten Ulbricht-Rede« nunmehr »strikte gegen jede weitere Aufrechterhaltung des Kreditangebotes«.107 Eine Quelle der DDR-Auslandsspionage bestätigte die »äußerst heftige« Reaktion des Kanzlers, der es als »äußerste Indiskretion« bezeichnet habe, den Inhalt der geheimen Verhandlungen an die Öffentlichkeit zu bringen.108 Aus westlicher Sicht schien die Möglichkeit, durch wirtschaftliche Hilfen humanitäre Zugeständnisse der DDR zu erreichen, nach Ulbrichts Parteitagsrede in weite Ferne gerückt. Der Widerstand des Staats- und Parteichefs änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sich die wirtschaftliche Lage der DDR weiter zuspitzte. Der harte Winter 1962/63 führte dazu, dass zeitweise sogar Strom, Wasser und Gas rationiert werden mussten.109 Gemessen an der öffentlichen Verlautbarung Ulbrichts war es daher ein Widerspruch, dass der Gedanke eines Tauschs von Häftlingen gegen wirtschaftliche Leistungen doch nicht zu den Akten gelegt wurde, sondern losgelöst von den Kreditverhandlungen weiter verfolgt wurde. Die Gefängnisse waren schließlich nach wie vor 105 Alisch, Steffen: Berlin – Berlin. Die Verhandlungen zwischen Beauftragten des Berliner Senats und Vertretern der DDR-Regierung zu Reise- und humanitären Fragen, 1961–1972. Berlin 2000, S. 43 f. 106 Rede Ulbrichts am 15.1.1963; BArch-B, SAPMO, DY 30, IV/1/VI/1, S. 32. 107 Thedieck an Barzel, 16.1.1963; BArch-K, N 174/145, Bl. 230. 108 So Adenauer laut der EI 1963/0050 der HV A des MfS über »Westdeutsche und Westberliner Ansichten über die Erweiterung der Handelsbeziehungen mit der DDR und zur Regelung der Passierscheinfrage nach den Ausführungen Walter Ulbrichts auf dem VI. Parteitag«; BStU, MfS, HVA, Nr. 195, Bl. 201. 109 Geißel: Unterhändler der Menschlichkeit, S. 313; vgl. Fäßler: Wirtschaftsbeziehungen, S. 269 f.
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überfüllt, wie Mielke noch vor einem Jahr auf einer Dienstkonferenz festgestellt hatte.110 Angesichts der Tatsache, dass das MfS mit Zustimmung Ulbrichts bereits Häftlinge gegen Geldzahlungen freigelassen hatte111 und mehrere verlässliche Informationen dafür sprachen, dass der Bonner Regierungschef zwar verärgert, ansonsten aber daran interessiert war, politisch Inhaftierte aus der Haft zu holen, lag der Gedanke nahe, sich über die tatsächliche Bereitschaft Bonns zu einer solchen Übereinkunft Klarheit zu verschaffen. Zumindest zeigt der Fortgang der Dinge im Frühjahr 1963, dass das MfS über Vogel diesbezügliche Sondierungen in der Bundesrepublik veranlasste und ihm einen gewissen Spielraum einräumte. Zwar ist es nicht zweifelsfrei zu belegen, aber kaum anders vorstellbar, als dass Volpert mit Wissen und Billigung Mielkes vorging und dieser mit Rückendeckung Ulbrichts handelte.112 Jedenfalls erhielt Vogel einen Passierschein, mit dem er für einen Tagesbesuch nach West-Berlin ausreisen konnte. Anfang Februar 1963, einen Monat nach dem Besuch des Hamburger Kaufmanns Dinse in Vogels Büro, trafen sich Vogel, Stange und Dinse in Stanges Kanzlei in West-Berlin. Bei der Unterredung war zudem Helmut Sehrig zugegen, einer der Rechtsanwälte aus der Rechtsschutzstelle, mit der Stange regelmäßig in Kontakt stand. Sehrig versuchte von Vogel zu erkunden, »welche Möglichkeiten des Austausches von Häftlingen und der Wiedergutmachung« bestünden. Er erkundigte sich, was Vogel von dem öffentlich diskutierten »Paket-Geschäft« halte, d. h. der Entlassung von »100 oder 1 000 Häftlingen« gegen ein »Darlehen oder andere Leistungen«. Da die Kreditverhandlungen zum Zeitpunkt des Treffens bereits gescheitert waren, wies Sehrig darauf hin, dass hinsichtlich der Gegenleistungen wohl nur noch Barzahlungen infrage kämen, da die Kreditfrage »politisch zu hoch gespielt« worden sei. Es bleibe zu klären, ob es angesichts dieser Entwicklung überhaupt sinnvoll sei, sich noch »ernsthaft damit zu beschäftigen«.113 Vogels Antwort war diplomatisch und vage, erlaubte jedoch die Deutung, dass eine solche Übereinkunft im Bereich des Möglichen lag, vorausgesetzt zwei Bedingungen wären erfüllt: Erstens setze dies »außerordentliche Diskretition [sic!]« voraus und zweitens müsse die Frage beantwortet werden, ob sich die Bundesregierung überhaupt darauf einlassen wolle. Sei dies der Fall, würde er, Vogel, »mit den entsprechenden Stellen [in der DDR, JPW] sachlich über 110 Vgl. Anm. 43. 111 Siehe das vorige Kapitel und Anm. 39. 112 Mielkes Paraphe findet sich erstmals auf einer Op. Inf. Volperts v. 16.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 18 f. Da von den Papieren in der »Georg-Akte« mit Bezug zum Häftlingsgeschäft jeweils 2 bis 3 Exemplare gefertigt wurden, von denen sich meist nur zwei in der Akte befinden, ging eine Ausfertigung daher möglicherweise an Mielke. 113 Op. Inf., 9.2.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 9–12.
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ein solches Projekt« sprechen, wobei er sich »noch nicht für einen positiven Ausgang der Sache verbürgen« könne. Entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge sei es, dass Stange mit einer entsprechenden Autorisierung zu ihm komme.114 Das Treffen hinterließ bei Sehrig den deutlichen Eindruck, dass Vogel ein solches Tauschgeschäft zwar nicht expressis verbis, aber doch indirekt anbot, es zumindest für eine realistische Möglichkeit hielt. Aufgrund seiner Kontakte in den DDR-Justizapparat und entsprechenden Verhandlungserfolgen in Einzelfällen war davon auszugehen, dass er damit nicht bloß seine private Meinung äußerte. Sehrig übernahm es, die Nachricht an die Bundesregierung weiterzuleiten. Er besprach die Angelegenheit mit Alfred Musiolik, dem Leiter der Rechtsschutzstelle. Gemeinsam setzten sich beide mit dem für ihre Belange zuständigen Referenten im Gesamtdeutschen Ministerium in Verbindung, der seinerseits Staatssekretär Thedieck und den Gesamtdeutschen Minister Rainer Barzel die Nachricht übermittelte, »sowjetzonale Stellen« hätten ihre »Bereitschaft geäußert, politische Häftlinge gegen Geld vorzeitig freizulassen«.115 Barzel hatte das Amt erst wenige Wochen zuvor, im Dezember 1962, im Zuge der Kabinettsumbildung nach der Spiegel-Affäre übernommen. Barzel war mit 38 Jahren das mit Abstand jüngste Kabinettsmitglied und galt als aufstrebender Nachwuchspolitiker und Parteigänger Adenauers. Dessen »einsame Personalentscheidung« hatte innerhalb der Berliner CDU zu vernehmlichem Murren geführt, da Barzel aus ihrer Sicht weder die Fachkompetenz noch eine entsprechende Sozialisation für das Amt mit sich brachte. Die anfänglichen Bedenken verflüchtigten sich jedoch allmählich, auch die Zusammenarbeit zwischen Barzel und dem altgedienten Staatssekretär Thedieck funktionierte allen Unkenrufen zum Trotz erstaunlich gut, zumal Barzel auf Thediecks Sachverstand bauen musste.116 Barzel und Thedieck erörterten die Angelegenheit eingehend.117 Der Minister reagierte »ungläubig und skeptisch« ob dieses Vorschlags, wie er zehn Jahre später berichtete.118 Wie realistisch war es denn, dass Ulbricht die politischen Gegenforderungen der Bundesregierung im Rahmen der Kreditverhandlungen gerade noch öffentlich als »unsittliches Geschäft« bezeichnet hatte, plötzlich jedoch ein ganz ähnlicher Vorschlag abseits der bisherigen Verhandlungsschiene an die Bundesregierung herangetragen wurde? Wer stand dahinter, einzelne Funktionärskreise oder war dieser Vorstoß von höchster Stelle aus gedeckt? 114 Ebenda. 115 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 62; Vermerk Wagners über eine Besprechung mit Rechtsanwalt Musiolik, 24.4.1967; Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1421. 116 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 87 f. 117 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 62. 118 Barzel: Es ist noch nicht zu spät, S. 34.
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Handelte es sich um ein ernsthaftes Angebot? Falls ja, sollte man darauf eingehen oder nicht? Schließlich bestand das Risiko, dass die Sache »mehr erfunden als fundiert« war, womöglich sogar eine Finte Ost-Berlins, um den Minister als Dilettanten öffentlich vorzuführen.119 Es brauchte nicht viel Phantasie, um sich die Schlagzeilen der DDR-Presse vorzustellen, die Barzel als »Kapitalisten und Imperialisten« verhöhnen würden, der sich das Recht mit Geld erkaufen wolle. Andererseits bot sich hier vielleicht die einzigartige Möglichkeit, einem wichtigen Ziel der Deutschlandpolitik unverhofft einen Schritt näher zu kommen. Erstmals seit dem Mauerbau konnte den Opfern des Unrechtsregimes womöglich mit pragmatischer Politik geholfen werden. Das entsprach auch dem, was Barzel kurz nach seiner Amtseinführung in einer Radioansprache im RIAS als Leitlinien seines politischen Programms skizziert hatte, nämlich »Festigkeit in der Sache« bei gleichzeitigem »Einfallsreichtum und Wendigkeit in der Methode«.120 Staatssekretär Thedieck, der ähnliche Überlegungen seitens des Berliner Senates bereits zuvor brüsk zurückgewiesen, sich außerdem gegen den Kredit ausgesprochen und davor gewarnt hatte, die »Zone« durch Verhandlungen jedweder Art politisch aufzuwerten, riet Barzel davon ab. Das alles widersprach den bisherigen Bonner Leitlinien und trug obendrein »den Stempel des Unmoralischen«.121 Barzel verließ sich auf Thediecks Erfahrung und entschied sich nach Abwägung der Vor- und Nachteile, das Risiko nicht einzugehen und die Sache vorerst nicht weiter zu verfolgen.122 Für Stange und die Anwälte der Rechtsschutzstelle war dies ein herber Rückschlag. Es blieb noch die Möglichkeit, einen Weg zu finden, auf dem man den Beamtenapparat des Gesamtdeutschen Ministeriums umgehen und Barzel über einen vertrauenswürdigen und einflussreichen Mittler gleichsam auf »Augenhöhe« persönlich darauf ansprechen konnte. Dieser Fürsprecher musste selbst von der Idee überzeugt sein, einen direkten Zugang zu Barzel haben und zudem die nötige Überzeugungskraft und Autorität besitzen, um ihn auch gegen den Widerstand der Bürokratie für den Vorschlag zu gewinnen. 119 Rehlinger: Freikauf, S. 22. 120 Zit. nach: Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 90. 121 Rehlinger: Freikauf, S. 15. 122 So Rehlingers Ausführungen in einem Gespräch mit Wehners Büroleiter Jürgen Weichert im Jahr 1967. Vermerk Weicherts, 15.3.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 369. Im (erwähnten) zeitnah, noch zu Barzels Ministerzeit entstandenen Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 62, ist die anfängliche Ablehnung Barzels nicht erwähnt. Barzel sei »in gleicher Sache« von Axel Springer darauf angesprochen worden. In seinen Erinnerungen schreibt Rehlinger hingegen, dass die Anwälte der Rechtsschutzstelle im Ministerium, d. h. auch bei Barzel, zunächst »auf Ablehnung gestoßen« seien (Rehlinger: Freikauf, S. 16 f.), was sich mit der Version des Weichert-Vermerks deckt.
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Bei der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit kamen die Anwälte auf den Gedanken, an den Verleger Axel Springer heranzutreten. Springer verfügte in geradezu idealer Weise über die notwendigen Voraussetzungen: Schließlich hatte die Bild-Zeitung, das Flagschiff seines Medienimperiums, erst selbst vor wenigen Wochen unter der Schlagzeile »Kauft Freiheit!« ein solches Vorgehen gefordert, außerdem waren sich Springer und Barzel bereits mehrfach begegnet, zuletzt auf Springers Neujahrsempfang in West-Berlin (Abb. 3),123 und drittens standen Springers antikommunistische Grundeinstellung sowie sein leidenschaftliches Eintreten für die Deutsche Einheit »außer jedem Zweifel«, nicht zuletzt in den CDU/CSU-Kreisen.124 Rechtsanwalt Sehrig von der Rechtsschutzstelle arrangierte daraufhin ein Treffen zwischen Stange und Springer. Ein Parteifreund Sehrigs aus der Berliner CDU, der seit Kurzem in einer leitenden Position im Springer-Konzern tätig war, konnte den Verleger jederzeit persönlich sprechen und bat ihn, Rechtsanwalt Stange zu einem Gespräch zu empfangen.125 Ende März 1963 fuhr Stange nach Hamburg. Er berichtete Vogel, Springer habe »großes Interesse« bekundet, in das »Häftlingsgeschäft einzusteigen«. Obwohl er im Grunde den Kredit an die DDR ablehne, sei er doch »menschlich daran interessiert, das Problem der Häftlinge […] lindern zu helfen«. Allerdings brauche er »unbedingt eine Rückendeckung« von der Bundesregierung. Der Kanzler, so die Einschätzung des Pressemagnaten, könne sich damit womöglich »einen sehr guten Abgang aus seiner aktiven Laufbahn schaffen«. Nach der Spiegel-Affäre und dem bevorstehenden Rücktritt zur Mitte der Legislaturperiode sei dies »außerordentlich notwendig«.126 Stange überzeugte Springer außerdem, den Überbringer der Nachricht persönlich zu treffen, um sich einen Eindruck von ihm zu verschaffen. Springer empfing Rechtsanwalt Vogel daher Ende März/Anfang April 1963 in seiner Privatwohnung in West-Berlin. Springer erklärte sich nach dem Treffen bereit, den »Verbindungsmann zur Bundesregierung« zu spielen und Barzel persönlich auf den Vorgang anzusprechen.127 123 Barzel, Rainer: Ein Patriot. In: Springer, Friede (Hg.): Axel Springer. Die Freunde dem Freund. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1986, S. 55–57, hier 56. 124 Rehlinger: Freikauf, S. 17. 125 Ebenda. 126 Treffbericht Volperts, 3.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 13. 127 In einem Interview berichtete Springer 1972 erstmals über die Treffen mit Stange und Vogel: »Kopfgeld für DDR-Häftlinge. ›Rundschau‹-Interview mit Verleger Axel Springer«. In: Kölnische Rundschau v. 17.11.1972, abgedr. in: Diekmann: Freigekauft, S. 18 f. In einem Schriftwechsel zwischen Springer und Stange aus dem Jahr 1975 ist sogar von zwei Treffen zwischen Springer und Vogel die Rede, allerdings ohne eine Datierung. Siehe Stange an Springer, 7.10.1975 sowie Springer an Stange, 8.10.1975, HGWS, HF 74; vgl. Schwarz, Hans-Peter: Axel Springer. Die Biographie. Berlin 2008, S. 380. In einem Schreiben an den Bundeskanzler schrieb Springer 1980: »Als 1962
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Springer setzte sich mit Rainer Barzel in Verbindung und informierte ihn über den »Anwalt, der Gefangene aus der DDR gegen Geld herausholen wolle«.128 Die Intervention des Pressemagnaten veranlasste Barzel, den ihm bereits bekannten Vorschlag neu zu bewerten. Sollte mehr dahinter stehen, wenn sich nunmehr sogar Axel Springer dafür einsetzte, der zudem persönlich mit dem Emissär des Ostens gesprochen hatte? Aus Barzels Sicht war die Sache entweder »gaunerhaft oder realistisch«, wobei er Letzteres nicht länger ausschließen wollte.129 Trotz anhaltender Skepsis willigte Barzel in Springers Vorschlag ein, sich einmal persönlich mit Stange zu treffen. Springer machte Stange Anfang April 1963 in seinem Hamburger Verlagshaus mit dem Minister bekannt.130 Stange hinterließ einen vertrauenswürdigen Eindruck bei dem Minister. Ein »Hasardeur« oder »Wichtigtuer« war er augenscheinlich nicht.131 Vorab eingezogene Erkundigungen über Stange hatten ergeben, dass er der Rechtsschutzstelle als Kontaktmann zu Rechtsanwalt Vogel gut bekannt war und die ihm übertragenen Aufgaben stets »zur Befriedigung aller Parteien bewerkstelligt« hatte.132 Barzel erklärte sich zu einem weiteren Gespräch mit Stange am Beginn der darauf folgenden Karwoche in München bereit. An dem vertraulichen Gespräch nahm außerdem Ludwig Rehlinger teil, der Leiter von Barzels Ministerbüro in West-Berlin.133 Rehlinger war nach dem Studium der Rechtswissenschaften und einer kurzzeitigen Anwaltstätigkeit 1957 in das Gesamtdeutsche Ministerium eingetreten. Barzel, der zudem mit Rehlingers Bruder in eine Klasse gegangen war, besaß in seinem drei Jahre jüngeren Büroleiter einen diskreten, »tatkräftigen und klugen« Mitarbeiter, der sein Vertrauen genoss.134 Stange unterbreitete Barzel erneut das Angebot, dass die DDR zu Häftlingsentlassungen gegen Geld bereit sei, wobei Stange eine Zahl von »1 000 und mehr« Häftlingen nannte. Im Verlauf des Gespräches signalisierte Barzel dem Anwalt, weiter über die Angelegenheit reden zu wollen.135 Das grundsätzliche »Ob« und die Dimension einer solchen Vereinbarung würden aber von [richtig: 1963] Rechtsanwalt Vogel aus Ostberlin den Gefangenenfreikauf anbot, kam er zuerst zu mir, der dann alles weiterleitete und Schweigen bewahrte«, Springer an Schmidt, 17.7.1980; AdSD, 1/HSA, Mappe 6899. Das Treffen zwischen Vogel und Springer in West-Berlin ist in der »GeorgAkte« nicht erwähnt. 128 Barzel: Es ist noch nicht zu spät, S. 34. 129 Barzel an Springer, 30.8.1964; Axel Springer Unternehmensarchiv. 130 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 62. Die Reisekostenabrechnung Barzels vermerkt für den 6.4.1963 eine »Besprechung in Hamburg«, 20.5.1963; BArch-K, B 137/3289. 131 Rehlinger: Freikauf, S. 22. 132 Vermerk zu Rechtsanwalt Stange (Autor womöglich Rehlinger), o. D. [1963], BArch-K, B 137/20083, Bl. {3} (AS-DzD); Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 62. 133 Rehlinger: Freikauf, S. 22. 134 Barzel: Es ist noch nicht zu spät, S. 37. 135 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 62.
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der Zustimmung des Bundeskanzlers abhängen. Wenn es zutraf, dass die DDR zur Entlassung von über 1 000 politischen Häftlingen bereit war, dann müssten enorme Summen aus dem Bundeshaushalt dafür bereitgestellt werden. Falls dies nur der Auftakt zur Entlassung aller politischen Häftlinge sein sollte, deren Gesamtzahl der Westen auf über 10 000 Personen schätzte,136 konnte die benötigte Gesamtsumme die 100 Millionen DM-Grenze überschreiten,137 wie sich anhand einer Beispielrechnung von 10 000 Häftlingen mal 10 000 DM leicht abschätzen ließ. Nur einen Tag später flog Barzel nach Cadenabbia am Comer See in Italien, wo Adenauer seit 1957 regelmäßig seinen Urlaub verbrachte.138 Der Minister erläuterte dem Kanzler das Angebot der DDR und bat ihn um seine Zustimmung, in konkrete Verhandlungen einzutreten (Abb. 4). Barzel, der sich damit zugleich von Staatssekretär Thedieck emanzipierte, hatte sich entschieden, das politische Risiko einzugehen, wenn Aussicht darauf bestand, einen »Erfolg für die Menschlichkeit« zu erzielen und »eine Schwächung des diktatorischen Unterdrückungsapparates in der DDR« zu erreichen.139 Adenauer willigte ein, schließlich hatte er die Formel »Geld gegen Humanität« schon in den Kreditverhandlungen befürwortet. Nicht zuletzt wusste er aus seinen eigenen Verhandlungen mit der sowjetischen Staats- und Parteiführung über die Rückkehr der deutschen Kriegsgefangenen während seiner Moskaureise 1955, dass selbst mit dem ideologischen Gegner im Osten Abmachungen dieser Art grundsätzlich möglich waren. Die Sowjets hätten ihre Versprechen seinerzeit jedenfalls »außerordentlich korrekt und gewissenhaft« eingehalten, wie er später in einem Interview betonte.140 Barzel informierte daraufhin den CDU-Fraktionsvorsitzenden Heinrich von Brentano, Bundesfinanzminister Rolf Dahlgrün (FDP) und den Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für
136 Rehlinger; Freikauf, S. 17. 137 Hs. Notiz Rehlingers, o. D.; BArch-K, B 137/20083, Bl. {3} (AS-DzD). Auch Springer berichtete 1972 in seinem Interview mit der Kölnischen Rundschau von dieser Überschlagsrechnung (vgl. Anm. 127): »Es war auszurechnen, daß sie [die benötigten Beträge, JPW] weit über 100 Millionen DM hinausgehen konnten«. Da für vier der später freigekauften Häftlinge je 15 000 DM gezahlt wurden, ist der Betrag von 10 000 DM realistisch, nicht zuletzt aufgrund der Optik des Rechenbeispiels 10 000 mal 10 000. Die gleiche Summe nannte Vogel gegenüber seinem MfS-Kontaktmann Volpert: Die Bundesregierung habe als »Mindestbetrag […] die Summe von 100 Millionen angegeben, wo maximal keine Grenzen« festgelegt worden seien, Op. Inf. Volperts, 16.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 18 f. 138 Op. Inf. Volperts v. 16.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 18; so auch Springer im Interview mit der »Kölner Rundschau« 1972 (vgl. Anm. 127). 139 Barzel: Es ist noch nicht zu spät, S. 36. 140 Günter Gaus im Gespräch mit Konrad Adenauer, Sendung v. 29.12.1965, http://www.rbbonline.de/zurperson/interview_archiv/adenauer_konrad.html.
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gesamtdeutsche und Berliner Fragen, Herbert Wehner (SPD), über den Vorgang.141 Nach Klärung dieser grundsätzlichen Frage auf westlicher Seite ging es darum, die konkreten Bedingungen auszuloten. Wie viele Häftlinge sollten für welche Summe und zu welchen Rahmenbedingungen entlassen bzw. ausgelöst werden? Unstrittig war, die folgenden Verhandlungen über die beiden Anwälte Stange und Vogel zu führen. Aus westlicher Sicht hatte dies den Vorteil, dass man die DDR nicht durch Kontakte zwischen offiziellen Regierungsvertretern politisch aufwerten musste, sogar eine Beteiligung der Bundesregierung überhaupt abgestritten werden konnte, falls es sich tatsächlich um eine Falle handelte. Barzel »legitimierte« Stange jedoch dadurch, indem er einen Spaziergang auf dem Kurfürstendamm mit ihm unternahm, was zweifellos von den »allgegenwärtigen Beobachtern« aus der DDR registriert werden würde.142 Ein weiterer Vorteil des Anwaltskontaktes bestand darin, dass er insbesondere das Interesse der DDR nach größtmöglicher Diskretion befriedigte.143 Sowohl Vogel als auch Stange verfügten über eine Anwaltszulassung in West-Berlin und unterlagen damit der anwaltlichen Schweigepflicht, nachweisliche Indiskretionen gegenüber der Presse hätten den Entzug ihrer Zulassung nach sich ziehen können. Was die Anzahl der Häftlinge und die Höhe der Gegenleistungen betraf, so hatte Stange der Bundesregierung gegenüber bisher die Zahl von 1 000 Häftlingen genannt,144 in jedem Falle »eine größere Zahl von Personen gegen ein ›entsprechendes Entgelt‹ Zug um Zug in einer Aktion«.145 Das entsprach der Größenordnung, die im Februar des Jahres im Gespräch zwischen den Anwälten Vogel, Stange und Sehrig sowie Dinse im Raum gestanden hatte. Auf Nachfrage hatte Vogel diese Zahl seinerzeit nicht als illusorisch eingeschätzt.146 Nachdem Barzel der DDR über Rechtsanwalt Stange die grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft des Westens signalisiert hatte, äußerte sich Vogel jedoch wieder zurückhaltender. Man solle nicht »mit einer großen Entlassungsaktion […] rechnen«.147 141 Barzel: Es ist noch nicht zu spät, S. 36 f.; Meyer: Wehner, S. 317. 142 Ebenda, S. 38 f. 143 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 63. 144 Ebenda. 145 Vermerk Rehlingers, 3.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 59 f. 146 Horster: Trade in Prisoners, S. 408 f., dem seinerzeit weder die vollständige »Georg-Akte« noch der Wortlaut des Interviews mit Axel Springer vorlagen, kam zu dem Schluss, Stange habe beiden Seiten erzählt, »was sie hören wollten«, d. h. dem Westen, die DDR werde 1 000 Häftlinge entlassen, dem Osten, die Bundesregierung wolle 100 Mio. DM zur Verfügung stellen. Im Lichte der neuen Quellen entsprachen Stanges Informationen jedoch den tatsächlichen Überlegungen auf beiden Seiten. 147 Op. Inf. Volperts v. 16.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 18 f.
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Was lag dieser Abschwächung und Zurückhaltung zugrunde? Hatte sich Vogel zu weit vorgewagt? Gab es gar kein Angebot, 1 000 Häftlinge freizulassen? Oder hatte sich innerhalb des Partei- und Staatsapparates der DDR Widerstand gegen das »beabsichtigte Geschäft ›Kredit-Häftlinge‹« geregt, wie Volpert den Vorgang in seinen Treffberichten mit Vogel bezeichnete?148 Die Quellen geben darüber keine überzeugende Auskunft. Bis zum Sommer 1964, als es zur Entlassung von über 800 Häftlingen kam, ist in den MfS-Unterlagen jedenfalls nicht mehr von einer »großen Entlassungsaktion« die Rede. Ein möglicher Grund dafür ist, dass sich innerhalb des MfS – und höchstwahrscheinlich auch innerhalb des ZK-Apparates – umso mehr Widerstände gegen eine Breitenentlassung regten, je konkreter die Verhandlungen wurden. Unter anderem lief der Verkauf von Inhaftierten den Interessen der HV A zuwider. Wenn der Westen seine eigenen »Spione« künftig mit Geld freikaufen können würde, werde er nicht mehr dazu gezwungen sein, im Gegenzug »Kundschafter« des MfS zu entlassen, die im Westen enttarnt und zu Haftstrafen verurteilt worden waren. Die Freilassung von Häftlingen gegen westliche Devisen erschwerte damit potenziell die Bemühungen der HV A, ihre eigenen »Kundschafter« vorzeitig aus der Haft zu holen. Ein Zeuge im Prozess gegen Wolfgang Vogel erinnerte sich 1992, dass Vogels Verbindungsoffizier Volpert wegen der Aktivitäten Vogels »Streit mit Markus Wolf«, dem Leiter der HV A, gehabt habe. Im Ergebnis habe Volpert den Minister von seiner Sicht der Dinge überzeugen und die Auseinandersetzung für sich entscheiden können. Danach sei Vogel »wie der Phönix aus der Asche aufgestiegen«.149 Möglicherweise war dieser Grundsatzstreit zwischen Volpert und Wolf – wahrscheinlich auch zwischen gegensätzlichen Strömungen innerhalb der SED – der Grund dafür, dass die Entscheidungsträger in der DDR zunächst nur dazu bereit waren, über die Entlassung einer kleineren Zahl von Häftlingen gegen Geld zu verhandeln, zumal erst ein Testlauf im kleineren Maßstab die »Ernsthaftigkeit […] dieses Projektes« von westlicher Seite aus bestätigen konnte.150 Vogel signalisierte nunmehr dem Westen via Stange, dass seine Seite zunächst über einen kleineren Kreis von 20 Häftlingen als »Modell für die weiteren Fälle« verhandeln wolle.151 Barzels Büroleiter Rehlinger suchte daraufhin in enger Abstimmung mit den Anwälten der Rechtsschutzstelle 15 Häftlinge aus den Einzelfallakten heraus. Bei den Betroffenen handelte es sich ausschließlich 148 Ebenda. 149 Zeugenaussage v. 27.5.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 10, Bl. 79. 150 Op. Inf. Volperts v. 27.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 19. 151 Thedieck an Rehlinger, 21.8.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 59, Anm. 8.
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um besonders schwere Fälle, d. h. politische Häftlinge, die zu hohen Zuchthausstrafen zwischen sieben und 25 Jahren verurteilt worden waren. In der Mehrzahl befanden sie sich seit Mitte/Ende der fünfziger Jahre in Haft, einige waren noch von einem Sowjetischen Militärtribunal (SMT) verurteilt worden, drei wegen ihrer Teilnahme am Volksaufstand am 17. Juni 1953.152 Ende April 1963 übergab Stange die Namensliste an Vogel, der sie an Volpert weiterleitete.153 Das MfS begann mit der Prüfung der Liste. Volpert übergab sie an die Hauptabteilung IX des MfS, das »Untersuchungsorgan«, das in politischen Strafsachen die Ermittlungsverfahren führte und über die Ermittlungsakten des Strafverfahrens verfügte. Ihrerseits forderte die HA IX Führungsberichte der Strafanstalten an, in denen die Häftlinge ihre Strafe verbüßten, verbunden mit der Anweisung, die Möglichkeiten für eine vorzeitige Entlassung durch eine Strafaussetzung auf Bewährung zu prüfen. In einer Besprechung zwischen Volpert und dem Vertreter der HA IX am 13. August 1963, ausgerechnet am Jahrestag des Mauerbaus, fiel die Auswahl auf Häftlinge, die »reichlich zwei Drittel ihrer Strafe bereits verbüßt« hatten bzw. deren Führungsberichte »eine Reihe positiver Merkmale« aufwiesen.154 Noch am selben Tag bestätigte Mielke die Vorschläge mit dem handschriftlichen Randvermerk »einverstanden«. Insgesamt sollten zwei Häftlinge für je 50 000 DM und zwei weitere für insgesamt 60 000 DM entlassen werden, was einer durchschnittlichen Gegenleistung von 40 000 DM entsprach.155 Der Vorschlag aus Ost-Berlin, der erstmals eine konkrete finanzielle Größenordnung enthielt, stieß in Bonn auf brüske Ablehnung. Staatssekretär Thedieck, der dem ganzen Projekt »nach wie vor nicht zugeneigt war«,156 übermittelte Rehlinger die Nachricht, der Minister sei von diesem Angebot »im höchsten Maße enttäuscht«. Die Höhe der Forderungen sei derart »grotesk«, dass man »nicht ernsthaft« darüber sprechen könne. Wenn Stange »nicht mit einem sinnvolleren Angebot« komme, seien weitere Verhandlungen aussichtslos.157 Stange verhandelte erneut mit Vogel. Schließlich schlug Volpert nach Genehmigung Mielkes die Entlassung weiterer vier Häftlinge vor, für die je 15 000 DM gefordert wurden. Damit belief sich der Gesamtbetrag für acht Häftlinge auf 220 000 DM, durchschnittlich 27 500 DM.158 Rehlinger, der 152 Bl. 29. 153 154 155 156 157 158
Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 63 f.; BStU, MfS, HA IX, Nr. 1789, Op. Inf. Volperts v. 27.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 20. Vermerk Volperts, 13.8.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 36 f. BStU, MfS, HA IX, Nr. 1789, Bl. 2 u. 10. Rehlinger: Freikauf, S. 32. Thedieck an Rehlinger, 21.8.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 59, Anm. 8. Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; ebenda, S. 63 f.
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die Verhandlungsgespräche mit Rechtsanwalt Stange geführt hatte, befürwortete die Annahme des Angebotes. Wenn es bei dieser einmaligen Entlassungsaktion bleiben sollte, hätte die Bundesregierung zwar »zuviel bezahlt«, doch falls der Vorgang »den Auftakt für weitere Möglichkeiten« darstellen sollte, sei die Summe akzeptabel.159 Nach der Einigung auf den Personenkreis und die Höhe der Gegenleistung standen die Entlassung der Häftlinge und die Geldübergabe bevor. Da vier der Entlassenen in der DDR beheimatet waren, wurden sie direkt aus dem Strafvollzug an ihren vormaligen Wohnort bzw. zu ihren Eltern in der DDR entlassen. Die anderen vier wurden in eine der Untersuchungshaftanstalten des MfS nach Ost-Berlin verlegt. Stange nahm sie gemeinsam mit Vogel in Ost-Berlin in Empfang und brachte sie über den Bahnhof Friedrichstraße mit der S-Bahn nach West-Berlin in die Büroräume der Rechtsschutzstelle. Für die Häftlinge, die vom Anstaltspersonal nicht auf ihre Entlassung, geschweige denn eine Ausreise nach West-Berlin vorbereitet worden waren, war der Vorgang ein zutiefst emotionales, teils verstörendes Erlebnis. Kurt Schulz, einer der vier in den Westen Entlassenen, brach zusammen, als er nach über zehnjähriger Haft unvermittelt entlassen wurde und sich innerhalb weniger Stunden plötzlich in West-Berlin wiederfand.160 Geschäftsmäßig kühl, aber nicht weniger konspirativ erfolgte die Übergabe des Lösegeldes. Barzel hatte Rehlinger ermächtigt, sich den Betrag in bar aus der Haushaltsmittelreserve des Ministeriums zwecks »Durchführung von besonderen Hilfsmaßnahmen« auszahlen zu lassen.161 Gemeinsam mit Stange fuhr Rehlinger zum Lehrter Stadtbahnhof, dem Vorgänger des heutigen Berliner Hauptbahnhofs. Stange bestieg die S-Bahn in Richtung Friedrichstraße und kurz bevor sich die Türen schlossen, reichte ihm Rehlinger den Umschlag mit den DM-Scheinen in den Waggon hinein.162 Der Zug setzte sich in Bewegung, passierte die Sektorengrenze, Stange stieg am Bahnhof Friedrichstraße aus und übergab das Geld an seinen dort wartenden Kollegen Vogel, der es seinerseits an Volpert aushändigte. Dieser zahlte es auf ein Konto des MfS ein, möglicherweise dasselbe Konto, über welches das MfS andere Devisen- und Transfergeschäfte mit westlichen Privatpersonen und den Kirchen abwickel-
159 160 161 162
Vermerk Rehlingers, 3.9.1963; ebenda, S. 59 f. Rehlinger; Freikauf, S. 31 f. Vermerk Barzels, 23.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 61. Rehlinger; Freikauf, S. 34 f.
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te.163 Bis Jahresende 1963 wurden acht Inhaftierte entlassen, die Gegenleistung belief sich auf insgesamt 205 000 DM.164 Die erste Freikaufsvereinbarung auf staatlicher Ebene war zugleich ein Meilenstein in den deutsch-deutschen Beziehungen, der Beginn eines Paradigmenwechsels. Abgesehen von dem Kontakt zwischen der Treuhandstelle für den Interzonenhandel und dem DDR-Außenhandelsministerium war ein geheimer und deshalb von politisch-protokollarischen Fragen unbelasteter Kommunikationsdraht zwischen den verfeindeten Lagern entstanden. Der Kontakt zwischen den beauftragten Anwälten, die zugleich die Funktion eines Puffers erfüllten, ermöglichte eine differenziertere Wahrnehmung des jeweiligen Gegners als noch bisher. Wie die erfolgreichen Verhandlungen gezeigt hatten, ließen sich auf der Basis gegenseitigen Vertrauens bei gleichzeitiger Verschwiegenheit gegenüber der Öffentlichkeit pragmatische Vereinbarungen arrangieren.
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Die erste Hilfsaktion »großen Stils« und die Kirchen
Während die letzten der acht freigekauften Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen wurden, kam es in Bonn zum ersten Kanzlerwechsel seit Gründung der Bundesrepublik. Mit der Wahl Ludwig Erhards (CDU) zum Bundeskanzler am 18. Oktober 1963 musste Rainer Barzel aus Gründen der Koalitionsarithmetik das prestigeträchtige Amt des Gesamtdeutschen Ministers an den FDP-Vorsitzenden Erich Mende übergeben. Das Ressort galt dem neuen Vizekanzler als ein ideales Feld für die Profilierungsbestrebungen seiner Partei.165 Mendes Amtsantritt zog innerhalb des Ministeriums zwei wichtige personelle Veränderungen nach sich. Staatssekretär Thedieck legte sein Amt nieder, da er die Übernahme des Ministeriums durch die Liberalen nicht mittragen wollte.166 Mende ernannte Carl Krautwig zu seinem Nachfolger, der zuvor als Abteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium tätig gewesen war (Abb. 5). Krautwig besaß einen engen Kontakt zum neuen Kanzleramtsminister Ludger Westrick und sollte »quasi als Aufpasser des Ministers« ein Gegengewicht zu 163 BStU, MfS, HA IX, Nr. 368, Bl. 16; Treffbericht Volperts, 12.10.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 70 f. 164 Vermerk Rehlingers, 12.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 118. Von der ursprünglich veranschlagten Gesamtsumme von 220 000 DM wurden 15 000 DM nicht benötigt, da ein Häftling durch einen Gnadenerweis frei kam. 165 Vgl. Jansen, Hans-Heinrich: Erich Mende. Skizzen für eine Biographie und eine biographische Skizze. In: Jahrbuch zur Liberalismusforschung (1999) 11, S. 158–167. 166 Rehlinger: Freikauf, S. 39.
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allzu forschen ostpolitischen Initiativen Mendes bilden.167 Ludwig Rehlinger, ehedem noch parteiloser Leiter des Ministerbüros in West-Berlin, trat in die CDU ein und übernahm das Referat »politische Angelegenheiten Berlins« in der Berliner Abteilung des Ministeriums.168 Trotz der Eingliederung in die Ministeriumshierarchie sollte Rehlinger weiterhin für die humanitären Fragen zuständig sein (Abb. 6).169
Agentenaustausch: Bedingung für den Häftlingsfreikauf Hinsichtlich des deutschlandpolitischen Kurses war auch die neue Bundesregierung bestrebt, dem SED-Regime »menschliche Erleichterungen« abzuringen. Bundeskanzler Ludwig Erhard bekräftigte in einer Ansprache im Deutschlandfunk »an die Bevölkerung in Mitteldeutschland« die Ankündigung aus seiner Regierungserklärung, sich nicht mit »den jetzigen Verhältnissen, die ein Unrecht sind«, abfinden zu wollen. »Meine Regierung«, versprach Erhard, »wird jede sich bietende Möglichkeit zur Erleichterung Ihres schweren Schicksals nutzen«.170 Erich Mende billigte daher die Abwicklung der noch laufenden Vereinbarung über den Freikauf der ersten acht Häftlinge.171 Die Initiative zu einer Folgevereinbarung müsse aber von der DDR ausgehen. Dementsprechend zeigte Staatssekretär Krautwig auch »in keiner Weise […] eine Neigung, von sich aus aktiv zu werden, auf eine Fortsetzung oder eine Anschlußaktion zu drängen«.172 Mende griff zunächst auf die Idee aus dem Vorjahr zurück, der DDR einen Kredit gegen politische und humanitäre Gegenleistungen zu gewähren. Zwar solle der Kredit nicht unmittelbar an die Erfüllung von Vorbedingungen geknüpft sein, doch fordere der Grundsatz »do ut des – ich gebe, damit auch Du gibst«, einige »Zeichen des guten Willens der anderen Seite«. Diese sollten sich unter anderem »auf Menschlichkeit für die politischen Häftlinge in Mitteldeutschland« beziehen.173 Staatssekretär Krautwig präzisierte die 167 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 348 f. 168 Referat III-2, vgl. Geschäftsverteilungsplan des BMG v. 1. Januar 1967; AdSD, Nachlaß Herbert Wehner, BMG, 1/HWAA 00, Mappe 3846. 169 Rehlinger: Freikauf, S. 37 f. 170 Ansprache v. 19. Oktober 1963, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Jahrgang 1963, 2. Halbjahr, Nr. 187/S. 1633. 171 Rehlinger: Freikauf, S. 38; Vermerk des Abt.-leiters, 17.10.1963, BArch-K, B 137/20083, Bl. {14} (AS-DzD): »Trotz des Ministerwechsels« sei »die eingeleitete Aktion abzuwickeln«. 172 Rehlinger: Freikauf, S. 39; in diesem Sinne auch Mende, Erich: Von Wende zu Wende. 1962–1982. München 1986, S. 140. 173 Text der Ansprache in: AdSD, Nachlaß Herber Wehner, Gesamtdeutscher Ausschuß, Mappe 3234.
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Erwartungen in einem RIAS-Interview am 7. Dezember 1963. Nach Auffassung der Bundesregierung müssten »der Gewährung eines Kredites […] einige sehr sichtbare Gesten, die die SBZ autonom vornehmen« könne, »vorausgehen oder zumindest gleichzeitig erfolgen, Gesten, die wenigstens das unsagbare menschliche Leid etwas lindern«.174 Aus westlicher Sicht lag der Vorteil einer solchen »autonom vorgenommenen Geste« – faktisch eine umfassende Amnestie – klar auf der Hand, da die Bundesregierung so die ethisch fragwürdige Zahlung von individuellen »Kopfgeldern« hätte vermeiden können. Außerdem wären für eine Amnestie weder direkte noch indirekte Verhandlungen nötig gewesen und hätten es der Bundesregierung ermöglicht, das Einlenken der DDR als Erfolg der eigenen Regierungspolitik und zugleich als Schwächeeingeständnis des SED-Regimes darzustellen. Aus Sicht der SED-Führung war dieses Angebot daher wenig attraktiv, da der Gewinn zu gering erschien. Ulbricht lehnte den Vorschlag in einem Artikel im Neuen Deutschland in polemischer Form ab.175 Nach diesem neuerlichen Scheitern der Idee eines Kredits verblieb nur noch die Option einer Fortsetzung der diskreten Transaktion nach dem Muster »Häftlinge gegen Geld«. Doch auch hier taten sich Schwierigkeiten auf. Vogel machte Stange unmissverständlich klar, es werde nur dann weitere Häftlingsentlassungen gegen Geld geben – genannt wurde eine Zahl von zunächst 50 Häftlingen –, »wenn dafür Zug um Zug auch die eigenen Genossen, die in der Bundesrepublik wegen ihrer kommunistischen Aktivität einsitzen«, freigelassen würden.176 Auf östlicher Seite gebe es eine »starke Fraktion«,177 die nicht »das Odium auf sich nehmen« wolle, sie habe »für ihre ›treuen Kämpfer‹ nichts getan«.178 Wahrscheinlich verbarg sich hinter dieser »starken Fraktion« die HV A des MfS, die damit ihre Forderung nach der parallelen Entlassung ihrer inhaftierten »Kundschafter« durchsetzen wollte.179 Aufseiten der Bundesregierung hingegen stieß diese Forderung auf Ablehnung. Der neue Minister Erich Mende blieb in diesem Punkt unnachgiebig: Die Austauschverhandlungen müssten »getrennt gehen« und dürften nicht mit dem Freikauf gekoppelt 174 Ebenda. 175 Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 16: 1963, München 2006, S. 446, Anm. 10; Text des ND-Artikels in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. IV. Reihe. Bd. 9: 1. Januar bis 31. Dezember 1963. 2. Halbbd.: 1. Juli bis 31. Dezember 1963. Bearb. von Gisela Biewer und Werner John, Frankfurt/M. 1978, S. 986 f. 176 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 64 f. 177 Ebenda. 178 Vermerk Rehlingers, 20.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 139 f. 179 Die Personen auf der »Liste der Entlassungen aus Gefängnissen der Bundesrepublik«, 9.5.1974, HGWS, HF 38, waren von wenigen Fällen abgesehen meist IM der HV A. Rehlinger bemerkte zudem, die andere Seite habe bisher »kein Interesse an den in der Bundesrepublik einsitzenden Kommunisten« gezeigt. Vermerk Rehlingers, 2.10.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 65.
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werden.180 Schließlich besaß der Kabinettsbeschluss, gegnerische Agenten nicht freizulassen, auch nach dem Kanzlerwechsel unverändert Gültigkeit.181 Der konkrete Fall, der einer Fortführung des Freikaufs im Wege stand, war der von der DDR vorgeschlagene Austausch Günter Hofés gegen drei in der DDR inhaftierte Fluchthelfer.182 Hofé, Schriftsteller und Direktor des »Verlags der Nation«, war im September 1963 auf dem Weg zur Buchmesse in Frankfurt am Main wegen Spionageverdachts festgenommen worden.183 Die Bundesanwaltschaft beim BGH in Karlsruhe warf Hofé vor, »im Dienste mehrerer Nachrichtenorganisationen« gestanden zu haben und »ein besonders wichtiger Agent« zu sein.184 Diesen wollte die DDR gegen Benedikt Graf von und zu Hoensbroech und das mit ihm verhaftete Ehepaar tauschen. Hoensbroech und seine Begleiter waren im September 1963 auf der Transitstrecke zwischen West-Berlin und Hamburg bei dem Versuch verhaftet worden, mehreren Personen in einem präparierten Möbelwagen zur Flucht zu verhelfen.185 Seitdem saß das Fluchthelfer-Trio in Untersuchungshaft, allen dreien drohte eine mehrjährige Gefängnisstrafe.186 Seit Hoensbroechs Festnahme hatten seine Angehörigen in der Bundesrepublik alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn aus der Haft zu holen. Die Beziehungen seiner Familie zu einflussreichen Persönlichkeiten im Bonner Regierungsapparat machten die Angelegenheit besonders brisant: Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Heinrich von Brentano war Hoensbroechs Cousin, Bundespräsident Heinrich Lübke ein Kriegskamerad seines Vaters.187 Vogel übernahm zwar den Auftrag der Westberliner Rechtsschutzstelle, die beiden Mitangeklagten Hoensbroechs zu verteidigen, doch mit der Verteidigung Hoensbroechs selbst hatte die Familie den bereits erwähnten Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul beauftragt, der seit den fünfziger Jahren in derartigen Fällen als Vermittler tätig war und auch mindestens einen Freikauf arrangiert hatte.188 Anders als Vogel, der gleichsam exklusiv mit Stange verhandelte, arbeitete Kaul mit gleich mehreren Partnern im Westen zusammen, die ihrerseits über gute Kontakte in die Regierungsspitzen in Bonn verfügten. Aufgrund seines konfrontativen und polemischen Stils galt Kaul im Westen je180 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; ebenda. 181 Vgl. Schütz an Brandt, 29.3.1962; LArchB, B Rep. 003, Nr. 597, Bl. 2 f. 182 Vermerk Vogels, 4.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 115. 183 Pötzl: Spione, S. 149. 184 Vermerk Krautwigs, 15.4.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 110. 185 Abschrift des Urteils in Meyer, Michel: Freikauf. Menschenhandel in Deutschland. Wien 1978, S. 139 f. 186 Rehlinger: Freikauf, S. 65 f.; Pötzl: Spione, S. 148 f.; Whitney: Advocatus Diaboli, S. 122 f. 187 Pötzl: Spione, S. 148; Treffbericht Volperts, 12.10.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 71 f. 188 Vgl. Anm. 39.
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doch als »Propagandist in Anwaltsrobe«189 und »konsequente[r] Vertreter des Pankower Systems«.190 Außerdem sahen ihn die Bonner und Berliner Regierungsstellen als »Vertrauensmann des MfS«191 an und hatten ihn in einem konkreten Fall sogar verdächtigt, dem MfS einen Informanten zugeführt zu haben – was zwar nicht zutraf, aber seinen Ruf dauerhaft schädigte.192 Allein schon aufgrund dieser Vorbehalte standen Kauls Bemühungen unter keinem guten Stern. Im Frühjahr 1964 deutete Kaul gegenüber der Bundesregierung an, dass ein Austausch Hofés gegen Hoensbroech und seine beiden Mitangeklagten im Bereich des Möglichen liege, eventuell ergänzt um einige weitere, wegen Fluchthilfe inhaftierte Studenten. Erich Mende unterrichtete das Bundeskabinett am 1. April 1964 darüber, dass in wenigen Tagen ein Schauprozess gegen Hoensbroech durchgeführt werden solle.193 In der anschließenden Diskussion herrschte »einmütig die Auffassung«, dass »alle vertretbaren Möglichkeiten ausgeschöpft« werden müssten, um möglichst viele der inhaftierten jugendlichen Fluchthelfer freizutauschen.194 Die Bundesregierung sei hier besonders zur Hilfe verpflichtet, ihnen müsse die »vordringlichste Sorge« gelten.195 Zwar bestätigten die Verhandlungen über Kaul das Angebot Ost-Berlins, insgesamt vier bis fünf Personen gegen Hofé auszutauschen, doch erschien der Bundesregierung dieses recht dürftige Angebot »nicht befriedigend«.196 Einer Entlassung Hofés standen aus westlicher Sicht zudem gewichtige sicherheitspolitische und rechtliche Bedenken entgegen. In einer Besprechung beim Bundeskanzler am 15. April 1964 erörterten der für Austauschfragen zuständige Gesamtdeutsche Minister Erich Mende, sein Staatssekretär Carl Krautwig, der Bundesjustizminister, der frühere Generalbundesanwalt Max Güde und dessen Nachfolger Ludwig Martin sowie BND-Präsident Reinhard Gehlen die Lage. GBA Martin und BND-Chef Gehlen erklärten, dass Hofés Entlassung und 189 Rosskopf: Kaul, S. 345. 190 Aufzeichnung Kurt Wagners über eine Besprechung im BMG mit MD Müller und MR That betr. »Einschaltung von Juristen zugunsten Zurückgehaltener in der SBZ« v. 20.11.1963; Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Suchdienst München, B 14, S. 1. 191 Vermerk Kunzes betr. Rechtsanwalt Dr. jur. Achim von Winterfeld, 31.3.1965; LArchB, B Rep. 002, Nr. 12150, Bl. 168. 192 Rosskopf: Kaul, S. 185 f.; vgl. den Vermerk Güdes, 9.12.1963 über ein Gespräch mit Kaul am 7.12.1963: Er, Güde, habe »bei dem Gesamtgespräch den Eindruck gehabt, dass Dr. K[aul] sich zumindest mit Mielke, dem Chef des Staatssicherheitsdienstes, besprochen haben muß«. Kaul habe »auch den Namen Mielke an einzelnen Punkten des Gespräches erwähnt«. DzD BesBem Bd. 1, S. 84–86. 193 116. Sitzung am 1. April 1964; Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 17: 1964, München 2007, S. 214. 194 Ebenda. 195 Vermerk Krautwigs, 15.4.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 109. 196 Ebenda.
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Rückkehr in die DDR »aus Sicherheitsgründen im augenblicklichen Zeitpunkt nicht verantwortet werden könne«. Mit dem Urteilsspruch sei aber erst in einem Jahr zu rechnen. Martin wies ferner darauf hin, dass in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik die Staatsanwaltschaften jede Straftat ohne Ansehen der Person verfolgen müssten. Es bestehe somit ein Anklagezwang, der die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz nach Art. 3 GG sicherstellt und dafür sorgt, dass Anklagen – z. B. aus politischen Motiven – nicht fallengelassen werden können.197 Günter Hofé noch vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens auf freien Fuß zu setzen, sei nur in einem Ausnahmefall möglich, und zwar dann, wenn ein »übergesetzlicher Notstand« vorliege, da beispielsweise die »Vollstreckung eines Todesurteils in der SBZ« verhindert werden müsse.198 Das war zwar im Falle von Hofés potenziellen Austauschpartnern nicht der Fall, doch musste das Bundeskabinett eine Abwägung vornehmen. War die Verpflichtung, den Fluchthelfern hohe Haftstrafen zu ersparen, schwerer zu gewichten als das Sicherheitsinteresse an der fortdauernden Inhaftierung Hofés? Lag damit ein »übergesetzlicher Notstand vor«, der dem Generalbundesanwalt die Entlassung Hofés noch vor Prozessbeginn ermöglichte? Eine Woche nach dieser Besprechung befasste sich wiederum das Bundeskabinett mit dem Austauschangebot, kam jedoch zu keiner Einigung. Mende schlug vor, die Beschlussfassung bis zur nächsten Sitzung zurückzustellen, unter anderem weil der Bundeskanzler verhindert war.199 Überhaupt war die angebotene Gegenleistung für Hofé von einigen wenigen Fluchthelfern aus Bonner Sicht zu gering.200 Hinzu kam, dass Kaul in einem weiteren, von ihm vermittelten Austauschprojekt dem Westen die Zusage zur Entlassung eines BND-Agenten gemacht hatte, die vonseiten Mielkes, seines unmittelbaren Ansprechpartners im MfS, nicht gedeckt war. Dieser Fehler, ferner Kauls schlechter Leumund im Westen und die Tatsache, dass das von ihm vorgeschlagene Austauschverhältnis in Bonn als zu gering eingeschätzt wurde, veranlassten die Bundesregierung, Kauls Austauschbemühungen vorerst als gescheitert anzusehen.201 Nach Kauls Scheitern schlug Vogels Stunde als Vermittler. Ende April 1964 unterrichtete ihn Volpert, »die Gesamtsituation« erfordere es, die Verhandlungen zusammen mit Prof. Kaul »zu einem positiven Ergebnis zu bringen«.202 197 Ebenda. 198 Ebenda. 199 119. Sitzung am 22. April 1964, Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 17: 1964, München 2007, S. 237. Die Angelegenheit wurde danach nicht mehr im Kabinett behandelt. 200 Vermerk Rehlingers, 6.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 117. 201 Ebenda. 202 Treffbericht Volperts, 22.4.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 111.
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Dabei solle Vogel darauf hinwirken, dass »auf alle Fälle« Günter Hofé in die DDR entlassen werde.203 Vogel erklärte sich bereit, weil er »im Interesse seiner Mandanten«, d. h. den beiden Mitangeklagten Hoensbroechs, »an der Klärung dieses Falles interessiert« sei.204 Diese Direktive lag ganz im Interesse des Anwaltsduos Vogel – Stange.205 Faktisch lief es darauf hinaus, dass Vogel allmählich in die Rolle des einzigen anwaltlichen Vermittlers, auch für Austauschangelegenheiten hineinwuchs, Kaul hingegen vom Osten und vom Westen »übergangen und ausgebootet« wurde.206 Im Vergleich zu Kaul war Vogel ein geradezu idealer Vermittler: Von bisherigen Fehlschlägen war er unbelastet, und öffentliche Polemik widersprach seinem Naturell. Vor allem jedoch trat Vogel gegenüber dem Westen wesentlich vertrauenerweckender auf als Kaul. Bereits sein äußeres Erscheinungsbild trug dazu bei: Durch seine Kleidung im westlichen Schnitt, tadellose Manieren und eine unideologisch-pragmatische Ausdrucksweise glich Vogel eher einem »britischen Diplomaten« denn einem überzeugten Marxisten.207 Außerdem hatte Vogel kein SED-Parteibuch und bewahrte über seine Verbindung zum MfS Stillschweigen. Offiziell war Generalstaatsanwalt Josef Streit sein Auftraggeber.208 Der einzige Nachteil Vogels gegenüber Kaul bestand darin, dass er seit dem Mauerbau von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht mehr nach Westdeutschland und West-Berlin ausreisen durfte. Daher hegten die Bonner Regierungsstellen Zweifel daran, dass Vogel überhaupt eine Verhandlungsvollmacht für die DDR-Seite besaß. Zudem stammten die Informationen immer nur aus zweiter Hand, d. h. aus den Mitteilungen Rechtsanwalt Stanges. Dieser fragte Vogel daher, ob er nicht »eine Reihe von direkten Verhandlungen in WestBerlin bzw. Westdeutschland« führen könne.209 Dann hätte er Gelegenheit, die Argumente seiner Seite der Regierung in Bonn direkt vorzutragen. Zugleich würde sein persönliches Erscheinen im Westen als Verhandlungsvollmacht angesehen werden.210 Vogel, so Volperts Direktive, solle seine Kontakte zur evangelischen Kirche, »besonders zu Rechtsanwalt von Wedel benutzen, um
203 Ebenda, S. 114. 204 Ebenda, S. 112. 205 Treffbericht Volperts, 2.4.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 105–108. 206 Rosskopf: Kaul, S. 181 u. 184. 207 Mende: von Wende zu Wende, S. 140; Pötzl: Spione, S. 158. 208 Treffbericht Volperts, 22.4.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 113; Vermerk Rehlingers, 20.5.1964; ebenda, S. 139. 209 Treffbericht Volperts, 22.4.1964; ebenda, S. 115. 210 Vermerk Vogels, 4.5.1964; ebenda.
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alle die Personen, die hinter von Wedel stehen, für die Durchführung unseres Vorhabens zu gewinnen«.211
Rückblende: Die Initiative des Ratsvorsitzenden der EKD Tatsächlich spielte die evangelische Kirche eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen des Häftlingsaustausches und damit der Fortsetzung des daran gekoppelten Häftlingsfreikaufs im größeren Maßstab. Die maßgeblichen Akteure von kirchlicher Seite waren dabei der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Kurt Scharf, sein persönlicher Referent, Rechtsanwalt Reymar von Wedel, sowie Bischof Hermann Kunst, der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesregierung in Bonn (Abb. 7). Das Verhältnis zwischen der evangelischen und katholischen Kirche in der DDR und dem SED-Regime war stets spannungsgeladen. Der Grundkonflikt bestand darin, dass sich die Kirchen auf die in der DDR-Verfassung garantierte Freiheit der Religionsausübung beriefen, die SED demgegenüber ihren Anspruch auf vollständige Durchdringung der Gesellschaft propagierte. Die Partei warf insbesondere der evangelischen Kirche vor, sie stehe dem Ziel der Verwirklichung des Sozialismus in der DDR entgegen.212 Vor allem in den fünfziger Jahren zog Ulbrichts Kurs der »harschen Konfrontation« systematische Benachteiligungs- und Repressionsmaßnahmen nach sich.213 Das Spektrum der Methoden reichte dabei von verbalen Attacken bis hin zur Inhaftierung von Pfarrern, kirchlichen Mitarbeitern und einfachen Kirchenmitgliedern. Der Mauerbau verschärfte die Spannungen, da der Fortbestand der bis dahin »gesamtdeutschen« evangelischen Kirche bedroht war. Die Repräsentanten der Gliedkirchen der EKD konnten nicht mehr zu gemeinsamen Tagungen zusammentreten. Für den Ratsvorsitzenden Präses Scharf bedeutete der Mauerbau gar die faktische Ausbürgerung, weil ihm die SED-Führung fortan die Einreise nach Ost-Berlin und in die DDR verweigerte. Trotz oder gerade wegen der Trennung war die Solidarität der EKD-Gliedkirchen in der Bundesrepublik mit ihren Glaubensgeschwistern in der DDR bis zur Wiedervereinigung ungebrochen. Die menschliche Not infolge des Mauerbaus zeigte sich unter anderem auch am Anstieg der Zahl der verhafteten kirchlichen Mitarbeiter und Gemeindemitglieder. 1963/64 befanden sich mit rund 100 Personen so viele Angehörige 211 Treffbericht Volperts, 22.4.1964; ebenda, S. 111. 212 Greschat, Martin: Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963. Paderborn 2010, S. 207. 213 Ebenda, S. 195–249.
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der Kirche in Haft wie nie zuvor.214 Präses Scharf ließ ihre Namen auf Fürbittenlisten setzen und »hielt eisern daran fest«, sie im sonntäglichen Gottesdienst verlesen zu lassen.215 Darüber hinausgehende Hilfen, möglicherweise sogar eine Befreiung aus der Haft, waren jedoch äußerst schwierig. Die Katholiken hatten über Prälat Zinke, den Leiter der Caritas-Hauptverwaltung in Ost-Berlin, und seine Kontakte zu Wolfgang Vogel lediglich in wenigen Fällen die Entlassung kirchlicher Mitarbeiter erreichen können.216 Parallel zu den Verhandlungen Vogels und Stanges über den Freikauf der ersten acht Häftlinge durch die Bundesregierung wurde die evangelische Kirche in einem Einzelfall aktiv und bot Geld für die Entlassung eines kirchlichen Mitarbeiters. Im Sommer 1963 wandte sich Bischof Kunst, der EKDBevollmächtigte bei der Bundesregierung, an den Essener Rechtsanwalt Diether Posser, der seit Längerem mit Rechtsanwalt Kaul in Kontakt stand. Kunst bat Posser, sich für den Theologiestudenten Martin Ahlbory einzusetzen, der wegen Fluchtbeihilfe zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Kunst teilte Posser mit, dass ihm für Ahlborys Auslösung eine hohe Summe zur Verfügung stünde und seine Freunde bereit wären, »etwas Exzeptionelles« zu tun. Man könne sogar »ziemlich weit« über die bisher ins Auge gefasste Summe hinausgehen; die »absolute Diskretion, soweit es den Westen angeht«, sei gesichert.217 Noch während Posser mit Kaul in der Sache verhandelte, wurde Bischof Kunsts Amtsbruder Scharf aktiv, um eine größere Gruppe inhaftierter Gemeindemitglieder aus der Haft zu holen. Da sich unter den insgesamt acht von der Bundesregierung freigekauften Häftlingen auch zwei Mitglieder der »Jungen Gemeinde« befunden hatten, für deren Freilassung sich Scharf seit ihrer Verhaftung 1961 bei der Bundesregierung eingesetzt hatte, war den Kirchen der staatliche Freikauf »nicht verborgen geblieben«.218 Scharf beauftragte seinen persönlichen Referenten und Kirchenjustiziar Rechtsanwalt Reymar von Wedel, nach Hilfsmöglichkeiten für die inhaftierten kirchlichen Mitarbeiter zu suchen.219 Wie auch im Falle des Theologie-Studenten Ahlbory war der konkrete Anlass für Scharfs Auftrag an von Wedel die Inhaftierung eines kirchlichen Mit214 Übersicht des BMG zu den Gruppen der politischen Häftlinge, darunter auch »aus Glaubensgründen« inhaftierte Protestanten, Katholiken und Zeugen Jehovas, Vermerk Rehlingers, 4.2.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 97–99. 215 Wedel: Kirchenanwalt, S. 40; Exemplar einer Fürbittenliste in: EZA, 742/274. 216 Vgl. Anm. 36. 217 Posser: Anwalt im Kalten Krieg, S. 342–344, hier 343. 218 Rehlinger: Freikauf, S. 49; Henneberg, Hellmuth: Meuterei vor Rügen – was geschah auf der SEEBAD BINZ? Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock. Rostock 2002, S. 136. 219 Wedel: Kirchenanwalt, S. 40.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
arbeiters wegen Fluchthilfetätigkeit. Pastor Werner Arnold, Pfarrer an der Marienkirche in Ost-Berlin, war am 21. Oktober 1963 wegen des Vorwurfs des »staatsfeindlichen Menschenhandels« verhaftet worden.220 Drei Tage später machte sich von Wedel auf den Weg zu Vogels Kanzlei in Ost-Berlin, um herauszufinden, ob der Anwalt hier helfen könne. Ein langjähriger Vertrauensanwalt der Kirche hatte ihm Vogel empfohlen.221 Von Wedel, der in WestBerlin wohnte, hatte sich zu diesem Zweck über einen Untermietvertrag bei einem Freund aus Stuttgart einen Bundespersonalausweis besorgt, mit dem er wie Stange in die DDR einreisen konnte. Über den Inhalt des Gesprächs notierte Volpert wenige Tage später, von Wedel habe angegeben, »im Auftrage von einflussreichen kirchlichen Kreisen zu kommen« und habe deren Interesse bekundet, »Fragen zu erörtern, die sich auf folgende Komplexe beziehen sollen: Austausch von Häftlingen, Wiedergutmachung bei Entlassung von Häftlingen und Bereitstellung von Waren im Innerdeutschen Handel, die wir dringend benötigen«. Ein konkretes Anliegen habe der Besucher zwar nicht genannt, aber Vogel um seine Einschätzung gebeten, ob der Boden für einen Ausbau der Verhandlungskontakte zwischen DDR und Bundesrepublik der220 Brief Werner Arnolds an den Verfasser v. 23.8.2007; Meldung der BZ v. 31.10.1963 in: BArch-B, B 285/verh. Arnold, Werner; Wedel: Kirchenanwalt, S. 42. 221 Vermerk Volperts, 1.11.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 74–77. Zur Kontroverse über die Datierung des Treffens und die Rolle der Kirchen beim Beginn des Häftlingsfreikaufs siehe Wölbern, Jan Philipp: Die Entstehung des »Häftlingsfreikaufs« aus der DDR, 1962–1964. In: DA 41 (2008) 5, S. 856–867, insbes. 863; Replik von Pötzl, Norbert F.: Ein abstruser Stasi-Vermerk und eine spekulative These. In: DA 41 (2008) 6, S. 1032–1035 und Wedel, Reymar von: Stellungnahme. In: DA 41 (2008) 6, S. 1035 f.; Antwort auf Pötzl und von Wedel in: Wölbern, Jan Philipp: Problematische Argumentation. In: DA 42 (2009) 1, S. 82–86; die Argumentation Pötzls wiederholend jüngst Koch, Alexander: Die Rolle der Kirchen im deutsch-deutschen Häftlingsfreikauf. In: MKiZ 7 (2013), S. 169–180, dort 173. Ein Briefwechsel aus dem Nachlass Kunsts bestätigt meine These, dass die Kirche erst nach der Bundesregierung Häftlinge freikaufte. In einem Brief an Scharf stellte Kunst 1975 fest: »Außer jeder Diskussion ist, dass Herr Barzel der Erste gewesen ist, der als Gesamtdeutscher Minister den Freikauf von Häftlingen begonnen hat. Er und kein anderer hat die Tür aufgemacht. […] Kurzum, Herr Barzel hat in dieser Sache Kopf und Kragen riskiert. So verdienstvoll und hilfreich sich dann später eine Summe von Leuten in der Regierung verhalten haben, – nichts kann dies ändern an dem Verdienst, das Herr Barzel sich in dieser Sache erworben hat.«, Kunst an Scharf, 2.10.1975; EZA, 742/297. In Scharfs Antwortschreiben heißt es über die von der Kirche freigekauften Häftlinge: »Es handelt sich um diejenigen Häftlinge, die in der allerersten Phase auf alleinige kirchliche Initiative ausgelöst worden sind. Die über diese Fälle aufgestellten 3 Listen […] sind hier noch vorhanden«. Rainer Barzel, so Scharf, habe mit den Initiativen der Kirchen, »nichts zu tun« gehabt. Weiter heißt es: »Uns ist bekannt, dass vor unserer Zeit Herr Barzel als damaliger gesamtdeutscher Minister Einzelfälle geklärt hat. Dies Verdienst soll auch unbestritten bleiben«, Scharf an Kunst, 8.10.1975; EZA, 742/297. Dessen ungeachtet lobte Bischof Kunst Rechtsanwalt von Wedel, dass dieser maßgeblich an der Entstehung der ersten großen Entlassungsaktion im Jahr 1964 beteiligt war: »Ich vergesse nicht, daß Sie geholfen haben, im vergangenen Jahre die Türe aufzumachen. Ich vergesse auch nicht das ungewöhnliche Maß von Tatkraft und Opfer, was Sie in die ganze Unternehmung gesteckt haben«, Kunst an von Wedel, 27.3.1965; EZA, 742/297.
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zeit »günstig sei«. Vogel habe von Wedel empfohlen, sich zunächst mit Stange in Verbindung zu setzen und bot ihm an, jederzeit mit konkreten Anliegen zu ihm kommen zu können.222 Wie von Vogel angeregt, traf sich von Wedel darauf mit Stange, der ihm möglicherweise über die gerade erfolgreich abgeschlossene Freikaufsvereinbarung zwischen der Bundesregierung und der DDR informierte.223 Einige Tage später fuhren von Wedel und Stange erneut zu Vogel. Als von Wedel wissen wollte, welche Waren die DDR gerade benötige, »um davon ein bestimmtes Angebot abhängig zu machen,« entgegnete ihm Vogel, dass er schon »konkrete Vorschläge« machen müsse, »was er haben will und was man dafür bietet«.224 Nach Rücksprache mit Scharf, der ihm mitteilte, dass für die Auslösung der Gemeindemitglieder Geld zur Verfügung stünde,225 übergab von Wedel im November 1963 eine Liste mit zwölf Namen, über welche die Kirche hinsichtlich »Austausch, Wiedergutmachung oder andere Leistungen« verhandeln wollte. An erster Stelle der Liste standen die beiden Fluchthelfer Martin Ahlbory und Pfarrer Werner Arnold. Vogel nahm die Liste entgegen und gab sie an Volpert weiter, der sie dem zugehörigen Treffbericht beifügte, aber zunächst nichts weiter veranlasste.226
Die Freikäufe der Kirche und die Entlassungswelle im Sommer 1964 Nachdem Rechtsanwalt Kaul Ende April 1964 mit seinem Versuch gescheitert war, den unter Spionageverdacht verhafteten Ostberliner Verlagsdirektor Günter Hofé in der Bundesrepublik gegen das Fluchthelfertrio Graf Hoensbroech und seine beiden Mitangeklagten in der DDR auszutauschen, übernahmen Vogel und sein Führungsoffizier Volpert die Initiative und griffen auf den Vorschlag der Kirche zurück. Eines Abends stieß Volpert zu einer der regelmäßigen Besprechungen der drei in etwa gleichaltrigen Anwälte von Wedel, Stange und Vogel in Vogels Kanzlei hinzu und stellte sich von Wedel unter dem Namen »Heinz Krügeler« vor. Volpert gab an, er sei »Verbindungsmann zum Zentralkomitee« und für den Ost-West-Handel zuständig. Volpert erläuterte von Wedel die Situation, unter anderem, dass eine Entlassung der von 222 Vermerk Volperts, 1.11.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 74–77. Der Inhalt der Treffberichte stimmt wesentlich mit den Angaben von Wedels in Ders.: Kirchenanwalt, S. 41–47 überein, in der Rückschau zog von Wedel lediglich mehrere Treffen mit Vogel zu einem zusammen. 223 Wedel: Kirchenanwalt, S. 45. 224 Vermerk Volperts, 1.11.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 74 f. 225 Wedel: Kirchenanwalt, S. 45. 226 Ebenda, S. 42; Aktennotiz Volperts, 14.11.1963, DzD BesBem Bd. 1, S. 75 f., Anm. 6; Treffbericht Volperts, 29.11.1963; ebenda, S. 81 f.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
der Kirche gewünschten Häftlinge nur dann möglich sei, wenn sich Bonn zur Freilassung Hofés durchringe. Da der Schlüssel für ein Fortkommen in Sachen Austausch und Freikauf in Bonn lag, begann von Wedel, seine Kontaktleute in Bonn »zu bearbeiten«, um die Entscheidungsträger zum Einlenken zu bewegen.227 In einem Brief an den EKD-Bevollmächtigen Bischof Kunst schrieb er, Ost-Berlin habe mitgeteilt, dass »die derzeitig völlig negative Haltung in Bonn« bezüglich des Austausches das »Zurückziehen aller Angebote zur Folge« haben werde, »wenn nicht sehr bald« etwas geschehe. Die DDR verlange »eine Erklärung …, ob eine reale Aussicht auf Verwirklichung der Vorschläge« bestehe. Für diesen Fall seien die zuständigen Stellen in Ost-Berlin bereit, Vogel »nach Bonn zu schicken und ihr Angebot erheblich zu erweitern«. Mit anderen Worten: Ein Entgegenkommen der Bundesregierung in Bezug auf den Austausch Hofés gegen Hoensbroech und seine beiden Mitinhaftierten würde sich positiv auf die Frage der Häftlingsentlassungen auswirken. Von Wedel bat Kunst, in Bonn zu sondieren, ob es für ein Gespräch Vogels mit einem Vertreter der Bundesregierung im Westen eine Gesprächsgrundlage gebe.228 Kunst verfügte über großen Einfluss in Bonn, nicht zuletzt über einen direkten Zugang zum Bundeskanzler. Gemeinsam mit Scharf hatte Kunst erst im Februar 1964 dem Bundeskanzler die Bitte vorgetragen, etwas für die Inhaftierten in der DDR zu tun. Kunst empfahl Rechtsanwalt Vogel als Vertrauensanwalt, er halte ihn für »absolut loyal und zuverlässig« und glaube, »dass er für diese Art Verhandlungen der geeignete Mann ist«.229 Mende erhielt daraufhin von Bundeskanzler Erhard die Vollmacht, in der Austausch- und Freikaufangelegenheit mit Vogel zu verhandeln.230 Über Bischof Kunst ließ Mende den Anwälten ausrichten, dass er bereit sei, Vogel am 15. Mai zu einem Gespräch in West-Berlin zu empfangen.231 In den darauf folgenden beiden Wochen bis zu dem Gespräch pendelte Stange in seiner Funktion als Vogels Verbindungsmann emsig zwischen Rehlinger im Westberliner Bundeshaus und Vogels Praxis in Alt-Friedrichsfelde hin und her, um die Verhandlungsgrundlage für das Gespräch auszuloten. Anhand der jeweiligen Aufzeichnungen Volperts und Rehlingers lässt sich 227 Wedel: Kirchenanwalt, S. 60. 228 Von Wedel an Kunst, 1.5.1964; EZA, 742/274. 229 Kunst an Mende, 23.5.1964; EZA, 742/274; zum Treffen mit dem Bundeskanzler siehe 112. Kabinettssitzung am 26. Februar 1964. In: Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 17: 1964, München 2007, S. 151, sowie Wedel: Kirchenanwalt, S. 60. 230 Bericht Sommers, 6.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 116; Treffbericht Volperts, 15.5.1964; ebenda, S. 120. 231 Vermerk Rehlingers, 6.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 117. Zur Rolle Kunsts vgl. Rehlinger: Freikauf, S. 49 f.
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verfolgen, wie sich beide Seiten Schritt für Schritt einander annäherten. Interessanterweise erscheinen in beiden Niederschriften die Fortschritte in den Verhandlungen immer als neuerliche »Angebote« der jeweiligen Gegenseite. Schließlich bestand die Aufgabe Vogels und Stanges darin, die Motive und Verhandlungsspielräume ihres Gegenübers einzuschätzen, zu beurteilen und der eigenen Seite zu überbringen. Rehlinger stellte in einem ersten Gespräch mit Stange daher fest, dass die Bundesregierung das Austauschangebot Hofé gegen Hoensbroech und seine beiden Mitinhaftierten nach wie vor für nicht ausreichend halte. Für Hofé »müsse erheblich mehr geboten werden«.232 Stange fuhr zu Vogel, der das Ergebnis der Unterredung in einem Vermerk für Volpert festhielt. Der Westen wolle wissen, ob außer dem Austausch »gleichzeitig ein großes Arrangement möglich« sei. Es habe eine »weitgehende Annäherung der Standpunkte« zwischen Stange und ihm gegeben mit der Maßgabe, dass der Westen eine Wunschliste übergeben, der Osten hingegen die Gegenleistungen benennen solle. Ein »positives Ergebnis in der ganzen Sache« erscheine ihm möglich.233 Stange fuhr zurück zu Rehlinger. Dieser notierte, Stange habe im Auftrag Vogels einen »neuen östlichen Vorschlag« unterbreitet: Neben der Erledigung der Austauschpakete stelle die DDR-Seite »weitere 50 von uns zu benennende Fälle zur Entlassung gegen Geld« in Aussicht.234 Damit knüpfe die DDR wieder an ihren Vorschlag vom Herbst 1963 an, eine Namensliste entgegennehmen zu wollen.235 Nach mehreren weiteren Treffen zwischen den Anwälten vermerkte Rehlinger am 12. Mai, »Herren des sowjetzonalen Justizministeriums bzw. der Generalstaatsanwaltschaft« hätten Rechtsanwalt Stange in Vogels Praxis angedeutet, »dass von höchster sowjetzonaler Stelle«, also von Staatsund Parteichef Ulbricht, »die Entscheidung gefallen sei, eine größere Zahl von Häftlingen – genannt wurden 500 – gegen wirtschaftliche Hilfen des Westens freizulassen«. Über Einzelheiten des Umfangs und der Art der Gegenleistungen sei nicht gesprochen worden, doch hätten sich besagte Herren »ausdrücklich bereit erklärt, alle auf diesem Gebiet denkbaren Möglichkeiten zu prüfen«.236 In Ost-Berlin vermerkte Volpert zum gleichen Sachverhalt, der Westen versuche das Interesse der DDR an der Entlassung Hofés »dafür auszunutzen, um mit uns in anderen Dingen ins Geschäft zu kommen«.237 Die Bundesregierung habe ihr Interesse signalisiert, »dass im Zusammenhang mit dem Austauschkomplex […] eine größere Sache zustande kommt, von der sie sich einiges 232 233 234 235 236 237
Vermerk Rehlingers, 6.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 117. Vermerk Vogels, 4.5.1964; ebenda, S. 115. Vermerk Rehlingers, 6.5.1964; ebenda, S. 117. Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; ebenda, S. 64. Vermerk Rehlingers, 12.5.1964; ebenda, S. 119; vgl. Wedel, Kirchenanwalt, S. 49 f. Treffbericht Volperts, 15.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 122.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
erhoffen«. Der Westen meine damit die Übergabe einer Namensliste von Häftlingen, die »auf der Grundlage entsprechender Gegenleistung[en] […] entlassen werden sollen«. Es läge »das Angebot vor, nicht nur […] Häftlinge gegen Geld, sondern auch andere Angebote, wie [die] gegenwärtig blockierte Stickstofflieferung oder Engpaßmaterialien« dafür zu geben.238 »Nach Konsultierung« – gemeint war Mielke bzw. Ulbricht – sei schließlich vereinbart worden, Häftlinge von der Wunschliste zu entlassen, wenn Bonn dazu bereit sei, »die noch offen stehenden 60 000 t Stickstoff freizugeben«.239 Bei dem Stickstoff handelte es sich um Kunstdünger, den die DDR in der Bundesrepublik hatte kaufen wollen.240 Im Februar 1964 hatte die DDR mit der Westdeutschen Ruhr-Stickstoff AG einen vierjährigen Liefervertrag über insgesamt 400 000 t Stickstoff im Wert von 90 Millionen Verrechnungseinheiten pro Jahr abgeschlossen.241 Da dieses Geschäft jedoch das erlaubte Volumen für diese Warensorte im Interzonenhandel überstieg, war dafür eine Ausfuhrgenehmigung des Bundeswirtschaftsministeriums notwendig. Dort erkannte man richtig, dass die DDR »aus Gründen der Versorgung ihrer Bevölkerung an dem Zustandekommen des Geschäftes auf das höchste interessiert« war, und versuchte wie schon bei der Kreditfrage, die Genehmigung der Ausfuhr von politischen Zugeständnissen der DDR abhängig zu machen. Zunächst wurde daher nur ein kleiner Teil der vorgesehenen 1. Tranche von 100 000 t genehmigt.242 Auf der Basis dieser Vorverhandlungen fand am 15. Mai das Gespräch zwischen Vogel und Mende im Beisein von dessen persönlichem Referenten KarlFriedrich Brodeßer sowie Ludwig Rehlinger in Mendes Ministerbüro in WestBerlin statt.243 Das Zusammentreffen war eine denkwürdige Premiere: Erstmals traf ein Gesamtdeutscher Minister mit einem Emissär der »Zone« zusammen, 238 Ebenda, S. 121 f. 239 Ebenda, S. 122. Auch wenn der Zusammenhang ein anderer war, so entsprach der damalige Marktpreis von 60 000 t Stickstoff in etwa dem »Wert« der in Rehlingers Vermerk genannten Größenordnung von 500 Häftlingen: 60 000 t Stickstoff hatten im Sommer 1964 einen Marktwert von ca. 12 Mio. DM. Teilt man diesen Betrag durch die 1963 gezahlte Durchschnittssumme (205 000 DM : 8 ≈ 25 000 DM) pro Häftling, so ergibt dies eine Anzahl von ca. 480 Häftlingen, Berechnung auf Basis der »Übersicht zum Stand der Sondergeschäfte« in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4341, Bl. 6. 240 »Zone will westdeutschen Kunstdünger«. In: FAZ v. 14.3.1963; »Mehr Kunstdünger aus der Bundesrepublik? Die Zone muß ihre Hektarerträge verbessern«. In: FAZ v. 16.3.1964. 241 Vermerk Woratz betr. Lieferung von Stickstoffdüngemitteln, 9.3.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 121, Anm. 4. 242 Vermerk d. Staatssekretärs, 9.3.1964; BArch-K, B 137/20162, Bl. {19} (AS-DzD); »Jetzt Stickstoff für die Zone«. In: FAZ v. 29.4.1964. 243 Treffbericht Volperts, 17.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 126–136; Vermerk Rehlingers, 20.5.1964; ebenda, S. 139 f.
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wenngleich dieser nicht als Regierungsvertreter auftrat. Zugleich wertete Mende Vogels Ausreise nach West-Berlin als Beweis dafür, dass der Anwalt tatsächlich über Kontakte zu einflussreichen Funktionärskreisen der DDR verfügte. Nach dem gegenseitigen Austausch von Höflichkeiten erklärte Vogel, dass er im Auftrag von Generalstaatsanwalt Josef Streit komme und er allein von ihm zu Verhandlungen bevollmächtigt sei.244 Mende seinerseits eröffnete seinem Gast, dass er im Ergebnis einer »streng geheimen« Kabinettsitzung »begrenzte Vollmachten zu Verhandlungen in dieser Sache« von Bundeskanzler Erhard erhalten habe und ihm persönlich »rechenschaftspflichtig« sei.245 Zudem versicherte Mende, dass die »Konkurrenz«, d. h. Kaul samt seiner Partner im Westen, von dem Gespräch nichts erfahren würden. Vogel könne ganz offen reden, da kein Tonband mitlaufe.246 Vogel trug dem Minister seine Sorge vor, »dass man in den Verhandlungen mit der Westseite nicht recht voran« komme.247 Das Gespräch wandte sich in der Folge den einzelnen Verhandlungsbereichen zu, ohne dass bei der Erörterung unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten zutage traten. Bezüglich des Austauschs bestand rasch Einvernehmen, diesen im vorgesehenen Personenverhältnis zu lösen. Auch hinsichtlich des »großen Arrangements« wurden sich Mende und Vogel einig: Laut Volperts Bericht gab Mende Vogel zu verstehen, dass der Austausch »sofort realisiert« werden könne, wenn die DDR einwillige, »eine größere Sache in Angriff zu nehmen«. Als »Skala der Gegenleistungen« habe der Minister »Häftlinge gegen einsitzende Personen in der Bundesrepublik, gegen Geld« oder für »Gegenleistungen im innerdeutschen Handel« angeboten.248 Rehlinger seinerseits notierte, die SBZ verknüpfe den Austausch und Freikauf miteinander, da sie Austausch und »die Entlassung einer größeren Zahl – gedacht ist an 500 – […] politische Häftlinge gegen wirtschaftliche Hilfen« als Einheit ansehe, deren Bestandteile »miteinander erledigt werden« sollten.249 Vogel berichtete Volpert noch in der Nacht nach seiner Rückkehr aus West-Berlin ausführlich über das Gespräch. Zufrieden stellte Volpert fest, Vogel habe »eine gute Wirkung hinterlassen« und durch sein Erscheinen im Westen sei »eine unmittelbare Aufwertung seiner Person erfolgt«.250 Zwar habe
244 Treffbericht Volperts, 17.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 127 f.; Vermerk Rehlingers, 20.5.1964; ebenda, S. 139. 245 Treffbericht Volperts, 17.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 129 u. 131. 246 Ebenda, S. 127. 247 Ebenda, S. 128. 248 Ebenda, S. 130. 249 Vermerk Rehlingers, 20.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 139. 250 Treffbericht Volperts, 17.5.1964; ebenda, S. 127.
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Mende »menschlich nicht den besten Eindruck«251 auf ihn gemacht und Vogel schätze das Gespräch »vom Ergebnis […] nicht so ein, dass alle Türen der Realisierung offen sind«, doch könne man davon ausgehen, dass die Bundesregierung »im Prinzip mit unseren vorgeschlagenen Fragen einverstanden« sei.252 Allerdings wollte Vogel im Verlauf des Gesprächs »ernsthafte Meinungsverschiedenheiten« zwischen Mende und Rehlinger festgestellt haben. Dieser hätte versucht, einige der Aussagen Mendes »abzuschwächen, anders darzulegen oder dagegen zu sprechen«.253 Volpert gewann daraus den Eindruck, dass sich darin ein grundlegender Konflikt im Gesamtdeutschen Ministerium widerspiegelte, der seit dem Ministerwechsel zur FDP aufgebrochen war. Auf der einen Seite standen die noch in den fünfziger Jahren sozialisierten Beamten der Ministerialbürokratie, auf der anderen Seite der ehrgeizige und hinsichtlich des Ausbaus der Kontakte zur DDR entscheidungsfreudige FDP-Minister und seine Vertrauten.254 Angeblich ging der Konflikt zwischen Rehlinger und Mende sogar so weit, dass Rehlinger am Ende des Gespräches trotz Mendes Anweisung die zugesagte Wunschliste mit den Namen von 50 Häftlingen nicht übergab.255 Die Liste sollte als Signal für die Bereitschaft der Bundesregierung, »den Komplex anzugehen«, an Vogel übergeben werden.256 Wörtlich habe Rehlinger zu Vogel gesagt, es sei ihm gelungen, den Minister »so einzuwickeln, dass [d]er seine Vollmachten überschritten« habe. Die Übergabe der Liste sei ja »nicht so eilig«, Vogel würde sie erst in der nächsten Woche erhalten.257 Volpert schlussfolgerte daraus, dass im Westen »Kräfte vorhanden sind, die an einer fairen Vereinbarung zur Zeit noch nicht interessiert« seien. Insbesondere hinter Rehlinger stünden »die Personen, die alle etwaigen Vereinbarungen sabotieren« wollten. Es erscheine daher »zweckmäßig, besonders die Kräfte, die hinter dem RA von Wedel stehen, durch bestimmte Maßnahmen zu stärken, damit sich letzten Endes diese Kräfte durchsetzen« würden.258 Damit war die taktische Entscheidung gemeint, auf das seit Monaten vorliegende Freikaufsangebot der evangelischen Kirche einzugehen. Durch die Freilassung der von ihr gewünschten Häftlinge konnte sie als Befürworter eines Freikaufs argumentativ in die Offensive gelangen, denn Entlassungen wären der beste Beweis dafür, dass sich Verhandlungen mit der DDR in praktischen Ergebnissen zum beiderseitigen Vorteil niederschlagen würden. 251 252 253 254 255 256 257 258
Ebenda. Ebenda, S. 133. Ebenda, S. 132. Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 347–355. Treffbericht Volperts, 17.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 132. Vermerk Rehlingers, 20.5.1964; ebenda, S. 139. Treffbericht Volperts, 17.5.1964; ebenda, S. 132. Ebenda, S. 135 f.
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Volpert teilte von Wedel wenige Tage nach dem Gespräch zwischen Vogel und Mende mit, dass fünf Personen von der Liste der Kirche sofort freigelassen werden könnten.259 Von Wedel wählte daraufhin fünf Inhaftierte von seiner Wunschliste aus. Sie stammten aus Kirchengemeinden in Berlin und Brandenburg und waren wegen Fluchthilfedelikten bzw. wegen »Staatshetze« zu Haftstrafen von zwei bis vier Jahren verurteilt worden. Der Wert der Gegenleistungen summierte sich dabei auf einen Betrag von 60 000 DM, durchschnittlich 12 000 DM pro Person, jedoch individuell verschieden. Die Summe stellte Bischof Kunst in Bonn bereit, wobei das Geld höchstwahrscheinlich aus dem Haushalt der EKD stammte.260 Dass die Gegenleistungen auf Wunsch der DDR in Form des dringend benötigten Stickstoffdüngers erfolgen sollten, hatten Volpert und von Wedel bereits vereinbart. Woher sollte von Wedel jedoch den geforderten Stickstoff beschaffen? Von Wedel wandte sich an Ludwig Geißel, den Direktor der Wirtschaftsabteilung des Diakonischen Werkes der EKD in Stuttgart. Die Diakonie war seit Mitte der fünfziger Jahre für die Durchführung des »Kirchengeschäftes A« zuständig. Das Konstrukt beruhte auf einer Abmachung der EKD mit der Bundesregierung einerseits und dem vom SED-Politbüro beauftragten DDR-Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (MAI) andererseits. Die Vereinbarung sah vor, dass das Diakonische Werk der EKD Waren wie z. B. Kohle, Eisen und Stahl in die DDR lieferte, die Gliedkirchen der DDR im Gegenzug den Warenwert in Mark der DDR gutgeschrieben bekamen. Die westlichen Gliedkirchen der EKD finanzierten mit diesem Waren-Transfersystem maßgeblich die östlichen Gliedkirchen und sicherten damit die Existenz der evangelischen Volkskirche in der DDR.261 Logistisch gesehen stellte die Lieferung von Kalidüngemittel kein Problem für die Kirchen dar. Geißel hatte jedoch moralische Bedenken. Was von Wedel da vorschlug, war nach seiner Auffassung Menschenhandel, darauf dürfe sich die Kirche nicht einlassen. Von Wedel gelang es dennoch, Geißel mit einem bestechenden Argument zu überzeugen: Das bestehende »Kirchengeschäft A« sei doch »im Kern das gleiche« wie der Freikauf inhaftierter Gemeindemitglieder, denn es existiere doch kein wesentlicher Unterschied dazwischen, »ob man die Leute satt mache […] oder ob man ihnen die Freiheit verschaf259 Treffbericht Volperts, 20.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 137. Der Treffbericht vom 20. Mai 1964 ist der letzte in der »Georg-Akte« erhaltene Bericht, der sich auf den Häftlingsaustausch und -freikauf bezieht. 260 Vermerk Geißels, 20.7.1964, Liste I; ADW, HGSt, Nr. 7814; Interview mit Hermann E. J. Kalinna, 25.7.2010. 261 Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. München 1993, S. 240–247; Geißel, Ludwig: Unterhändler der Menschlichkeit. Erinnerungen. Stuttgart 1991, S. 248–297.
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fe«.262 Außerdem kam von Wedel mit Scharfs und Kunsts Rückendeckung, sodass Geißel seine Bedenken vorerst zurückstellte. Ende Mai 1964 wurden die vereinbarten Entlassungen gegen die Stickstofflieferung in einem Brief fixiert.263 Vogel bestätigte Stanges Schreiben und sagte die Entlassungen verbindlich bis zum 10. Juni zu.264 Offiziell liefen die Entlassungen dieser »Kirchenliste I« über Rechtsanwalt Stange, nicht über von Wedel, obwohl die Kirche die Gegenleistungen aufbrachte. In der Woche darauf wurde der Vertrag über die wirtschaftlichen Gegenleistungen geschlossen: Für 60 000 DM erhielt die DDR-Seite 300 t Stickstoffdüngemittel.265 Ludwig Geißel beauftragte eine seiner Vertrauensfirmen mit der Abwicklung und besorgte außerdem die erforderliche Ausfuhrgenehmigung des Bundeswirtschaftsministeriums. Innerhalb der ersten Juni-Woche 1964 wurden die Häftlinge entlassen und kehrten an ihre früheren Wohnorte zurück.266 Wenige Tage nach Abschluss dieser ersten Vereinbarung setzte Bischof Kunst die Bundesregierung über den Vorgang in Kenntnis, indem er die Liste mit den Namen der fünf Häftlinge an Erich Mende übergab.267 Nach der erfolgreichen Abwicklung handelten die Anwälte eine zweite Liste mit 30 Namen aus. Die Gesamtsumme belief sich dabei auf genau eine Million DM, im Durchschnitt also circa 33 000 DM pro Häftling, fast das Dreifache der durchschnittlichen Gegenleistung der ersten Liste. Erneut musste der jeweilige Betrag für jeden Inhaftierten individuell ausgehandelt werden, wobei die Spanne von 25 000 DM bis zu 250 000 DM reichte. Dabei bestimmte sich die Höhe der Gegenleistung u. a. nach der
262 Wedel: Kirchenanwalt, S. 51; Geißel: Unterhändler, S. 329 f. 263 Stange an Vogel, 22.5.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 141; Doppel in: EZA, 742/274. 264 Vogel an Stange, 29.5.1964; EZA, 742/274. 265 Wedel: Kirchenanwalt, S. 50; »Übersicht zum Stand der Sondergeschäfte«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 4341, Bl. 6; Geißel: Unterhändler, S. 330. 266 BStU, MfS, HA IX, Nr. 368, Bl. 11–15. Der »schwerste Fall« war Eberhard Grauer, Kaufmann aus Potsdam und Leiter der dortigen »Jungen Gemeinde«. Die ihm zur Last gelegte »Hetze« bestand unter anderem in Kritik am Mauerbau und politischen Witzen, wie beispielsweise die Scherzfrage was denn ein »Ulb« sei – »Ein Zeitmaß, kleiner als eine Sekunde, nämlich die Zeitspanne, die zwischen dem Ertönen der Ankündigung einer Ulbricht-Rede aus dem Radio und dem Ausdrehen des Apparats liegt«, Liste I; ADW, HGSt, Nr. 7814; Röder, Hendrik: Die Knarre haben wir! Ein Schauprozeß gegen die Evangelische Studentengemeinde. In: Grabner, Sigrid (Hg.): Potsdam 1945–1989. Zwischen Anpassung und Aufbegehren. Potsdam 1999, S. 51–58, hier 58; Berg, Guido: Liste von Verhafteten im Kuppelkreuz. St.-Nikolai-Gemeinde öffnet Kapsel aus der Zeit nach dem Mauerbau und erinnert sich an Eberhard Grauer. In: Potsdamer Neueste Nachrichten v. 24.8.2006. 267 Vermerk von Brodeßer, 16.6.1964; BArch-K, B 137/1709; Vermerk Rehlingers, 26.6.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 149. Die Bundesregierung war demzufolge über die Maßnahmen der Kirche informiert. Wedel: Stellungnahme, S. 1035 f.
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Höhe des Strafrestes, dem »Gewicht des Verurteilungsgrundes« und der »politischen Bedeutung«.268 Für 17 dieser 30 Personen wurde ein Pauschalbetrag von 200 000 DM vereinbart, da die Gegenleistung nicht in einer Verkürzung der Strafverbüßung, sondern in der Einstellung des Ermittlungsverfahrens bestand. Unter ihnen befand sich auch ein »Prominenter«, der Bischof der Pommerschen Landeskirche und Vorsitzende der »Konferenz der Kirchenleitungen« in der DDR Friedrich-Wilhelm Krummacher (*1901, †1974). Ihm und weiteren 16 Gemeindemitgliedern blieb dadurch ein Prozess erspart.269 Ansonsten handelte es sich um Gemeindemitglieder, die wegen Fluchthilfe, »Staatshetze« und in zwei Fällen angeblicher »Spionage« zu Haftstrafen von einem Jahr bis zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt worden waren. Neun von ihnen wurden unmittelbar in die Bundesrepublik entlassen, die übrigen an ihren früheren Wohnort in die DDR.270 Im Zuge der Entlassungen kam auch Pastor Werner Arnold frei, für den sich von Wedel gleich zu Beginn intensiv eingesetzt hatte. Am 3. Juli holte von Wedel ihn mit seinem Privatwagen in der U-Haftanstalt des MfS ab und brachte ihn in die Bundesrepublik.271 Insgesamt lieferte das Diakonische Werk für die Inhaftierten auf der zweiten Kirchenliste Butter im Wert von 800 000 DM und rund 460 Tonnen australischen Rutilsandes für 200 000 DM.272 Auch an diese Liste schloss sich eine weitere an, die als »Kirchenliste III« insgesamt 23 Namen umfasste und eine Gegenleistung in Höhe von 1,27 Millionen DM vorsah. Im Durchschnitt waren es nunmehr schon über 55 000 DM pro Häftling, ein erneuter »Preisanstieg« um rund 66 Prozent. Allerdings umfasste die dritte Liste nicht mehr allein Mitglieder der evangelischen, sondern auch zehn der katholischen Kirche. Auf Wunsch Prälat Zinkes, dem Leiter der Hauptvertretung des Deutschen Caritasverbandes in Berlin und Vertrauten Vogels, waren sie auf die Liste gesetzt worden. Die Gegenleistung von 580 000 DM brachte die katholische Kirche auf.273 Auch musste der 268 Vermerk Rehlingers, 26.6.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 149. 269 Nr. 30 auf der Liste II; ADW, HGSt, Nr. 7814. Die Niederschlagung des Verfahrens erfolgte im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren gegen einen der freigelassenen Fluchthelfer auf der Liste. Zu Krummacher siehe Winter, Friedrich: Friedrich-Wilhelm Krummacher (1901–1974). Ein Pommerscher Bischof in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. In: Baltische Studien. Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte, Bd. 90 (2004), S. 237–249. 270 Liste II; ADW, HGSt, Nr. 7814. 271 Brief Werner Arnolds an den Verfasser v. 23.8.2007; Wedel: Anwalt zwischen Ost und West, S. 25. 272 Liste II; ADW, HGSt, Nr. 7814. 273 Liste III; ADW, HGSt, Nr. 7814. In weiteren 4 Fällen übernahm offenbar der Berliner Senat die Finanzierung der Forderungen der DDR und zahlte mit insgesamt 300 000 DM den höchsten Durchschnittspreis von 75 000 DM pro Häftling. Näheres zur Rolle des Senates nicht ermittelbar.
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Betrag nach wie vor individuell ausgehandelt werden. Erneut handelte es sich um kirchliche Mitarbeiter, die wegen Fluchthilfe oder Fluchtversuchen mehrjährige Haftstrafen verbüßten.274 Bei der Abwicklung der Gegenleistungen der dritten Kirchenliste erklärte Ludwig Geißel Rechtsanwalt von Wedel und Bischof Kunst jedoch, dass von ihm »keine weitere Mitarbeit zu erwarten« sei, »wenn die zuständigen Bundesbehörden nicht umgehend informiert« würden. Die Gespräche, die die Anwälte u. a. mit Erich Mende geführt hätten, seien für ihn »keine ausreichende Basis« für die Vereinbarungen mit der DDR in einer »solch hochpolitischen Angelegenheit«.275 Bischof Kunst pflichtete Geißel bei, zumal er die ›Preisinflation‹ bei der Bemessung der Gegenleistungen für zu hoch hielt und absehbar war, dass die Mittel der Kirche bald erschöpft sein würden.276 Abhilfe konnte nur die Bundesregierung schaffen. Kunst setzte sich daraufhin mit dem Kanzleramt in Verbindung, informierte Kanzleramtsminister Ludger Westrick und Bundeskanzler Erhard über die Details der Vereinbarungen der Kirche und vereinbarte Gesprächstermine. Die Modalitäten der kirchlichen Freikäufe waren in Bonn nicht ausschließlich wohlwollend aufgenommen worden. Nach den ersten Gesprächen in Bonn schrieb Kunst an von Wedel, »bei allen Bonner Stellen« habe »helles Entsetzen über die Preise der Liste 2 und 3« geherrscht. Seine Gesprächspartner in der Bundesregierung hätten Aussagen der Art, dass die Höhe der Preise ja »nicht so schlimm« sei, da »die Regierung […] schon zahlen« würde, entschieden zurückgewiesen. Auch habe man sich »auf das bestimmteste dagegen gewandt, dass jeweils die ›Jahre‹ bezahlt würden«. Insbesondere einen Häftling auf der zweiten Liste, für dessen Entlassung 250 000 DM bezahlt worden waren, habe man ihm gegenüber »mehrmals als einen ›glatten Wahnsinn‹ bezeichnet«. Es habe die »allgemeine Überzeugung« vorgeherrscht, dass hier »nicht hart genug verhandelt« worden sei.277 Kunst zog den gesamten Vorgang daher als Chefsache zu seiner Dienststelle nach Bonn.278 Kunsts Initiative verhalf zugleich den Verhandlungen zwischen den Anwälten und der Bundesregierung über Austausch und den Freikauf von mehreren hundert Häftlingen zum Durchbruch. Tatsächlich gingen sie seit dem Gespräch zwischen Vogel und Mende nur schleppend voran, denn vor allem in der Ministerialbürokratie des Gesamtdeutschen Ministeriums »saß das Miss274 hannes: 350. 275 276 277 278
Vgl. Fricke, Karl Wilhelm: Carsten Mohr. In: Fricke, Karl W.; Steinbach, Peter; Tuchel, JoOpposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder. München 2002, S. 345– Vermerk Geißels, 20.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 159. Vermerk Rehlingers, 16.7.1964; ebenda, S. 157. Kunst an von Wedel, 6.7.1964; ebenda, S. 152; vgl. Posser: Anwalt, S. 344. Vermerk Rehlingers, 16.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 157.
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trauen gegenüber der DDR tief«.279 Über ein Monat war verstrichen, bis Rehlinger Ende Juni die von Mende bereits für Mitte Mai zugesagte Liste mit 50 Namen an Stange übergeben hatte. Stange hatte mehrfach darauf hingewiesen, dass Vogels Auftraggeber »ungehalten« seien und darauf drängten, dass die Bundesregierung endlich ihre Bereitschaft signalisieren möge, »in Verhandlungen über die angesprochenen Komplexe einzutreten«. Betreffs des Austauschs von Hofé gegen Hoensbroech hatte das Ministerium Stange noch mit der Begründung hingehalten, dass der Fall Hofé »jetzt noch nicht beantwortet werden könne«. Außerdem bestünden noch keine klaren Vorstellungen über die technische Abwicklung der Warenlieferungen. Zwar hatte Stange die Idee der Abwicklung über das Diakonische Werk vorgebracht, doch war sie als »reines Denkspiel« abgetan worden.280 Auf Kunsts Initiative hin fanden daher Anfang Juli 1964 mehrere Besprechungen in Bonn statt. An den Sitzungen unter dem Vorsitz von Staatssekretär Krautwig nahmen neben den Kirchenvertretern Bischof Kunst und Direktor Geißel unter anderem der Generalbundesanwalt a. D. Max Güde, Ludwig Rehlinger, ein Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums sowie die Anwälte Stange und von Wedel teil. Kunst erreichte, dass grundsätzlich »Einigkeit darüber erzielt« wurde, dass »die begonnenen Maßnahmen fortgeführt« würden. Die Zuständigkeit der Kirche für »Auswahl, Finanzierung und Abwicklung« hingegen sollte mit der dritten Kirchenliste enden.281 Die daran anschließende Liste IIIa würde »in der Verantwortung der Bundesregierung – wenngleich namens der Kirche« abgewickelt.282 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die evangelische Kirche genau 1,45 Millionen DM für die Freilassung von 45 Häftlingen gezahlt, hinzu kamen noch 14 Häftlinge, für deren Entlassung die katholische Kirche und der Berliner Senat gezahlt hatten.283 Kunsts Angebot, die Güter wie bei den kirchlichen Freikäufen über das Diakonische Werk der EKD zu liefern und Ludwig Geißel mit dieser Aufgabe zu betrauen, löste zugleich das Problem, dass Bonn keine Barzahlungen mehr leisten wollte wie im Falle des Freikaufs der ersten acht Häftlinge. Die Waren sollten der Wirtschaft, womöglich sogar direkt der Bevölkerung zugute kommen. Zudem wies die Einschaltung des Diakonischen Werkes der EKD auf »den humanitären Charakter des Vorgangs« hin und erschien nach außen lediglich als eine Erweiterung des bereits bestehenden »Kirchengeschäftes A«. Damit war, so Rehlinger, »der Knoten gelöst«, ein »Riesenschritt« nach vorne 279 280 281 282 283
Rehlinger: Freikauf, S. 49. Vermerk Rehlingers, 26.6.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 151. Vermerk Geißels, 20.7.1964; ebenda, S. 159 f. Vermerk Hoeschs, 9.7.1964; ebenda, S. 154. S. o. sowie die hs. Abrechungsunterlagen zu den Listen I–III in: EZA, 742/274.
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getan.284 Das galt zugleich für das Problem der Freilassung Hofés, die seitens der DDR Voraussetzung für eine Übereinkunft war. Die Bundesregierung zeigte sich nunmehr bereit, seine Entlassung aufgrund der Feststellung eines übergesetzlichen Notstandes« anzuordnen.285 Kunst hatte hinter den Kulissen beharrliche Überzeugungsarbeit geleistet. Der Weg war somit frei, um über das vorliegende Angebot der DDR im Detail zu verhandeln. Die von der Bundesregierung benannten 50 Häftlinge sollten für eine Butterlieferung im Wert von 5 Millionen DM freigelassen werden. Der Durchschnittsbetrag lag damit bei 100 000 DM, was die westlichen Verhandlungsführer als »unrealistisch« bewerteten. Die horrende Forderung war erkennbar taktischer Natur, um den »Preis« erneut nach oben zu treiben. Im Ergebnis der Beratungen wurde festgelegt, über Stange ein »Gegenangebot« zu übermitteln. Grundlage war die Festlegung, keinesfalls über »Kopfquoten« wie noch im Vorjahr und bei den Freikäufen der Kirchen zu verhandeln, sondern eine Globalsumme zu vereinbaren. Inhaltlich bot die Bundesregierung an, der DDR zwei Listen mit den Namen der insgesamt circa 150 jugendlichen Fluchthelfer und weiteren 500 Häftlingen zuzuleiten. Für diese 650 Häftlinge könnten Waren im Wert von 15 Millionen DM geliefert werden; maximal sei eine Obergrenze von 20 Millionen DM denkbar. Conditio sine qua non, d. h. unverzichtbare Bedingung, sollte die Entlassung der jugendlichen Fluchthelfer und die Vereinbarung der Aktion als »Gesamtentlassung« sein.286 Nach Rücksprache mit Vogel berichtete Stange, dass das Gegenangebot der Bundesregierung von der anderen Seite »mit Befremden« entgegengenommen worden sei, die Summe wäre »angesichts der in vergleichbaren Fällen bisher gezahlten Beträge« völlig »indiskutabel«. Der Durchschnittsbetrag von 23 000 DM habe bei der Gegenseite sogar den Eindruck hervorgerufen, der Westen wolle damit »jede Vereinbarung unmöglich machen«.287 Die in die Höhe geschnellten Preise der Kirchenlisten II und III hatten offenbar Präzedenzfälle geschaffen. Die Befürchtung Bischof Kunsts, dass man von den Preisen wohl nicht mehr so leicht »herunterkomme«, bewahrheitete sich.288 Zwischenzeitlich setzte Stange die Verhandlungen über die Kirchenliste IIIa fort.289 Alles zusammengenommen hatten die Kirchen 87 Häftlinge freigekauft, die
284 285 286 287 288 289
Rehlinger: Freikauf, S. 51. Vermerk Hoeschs, 9.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 153 f. Ebenda. Vermerk Rehlingers, 15.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 155. Vermerk Rehlingers, 16.7.1964; ebenda, S. 157. Vermerk Rehlingers, 15.7.1964; ebenda, S. 155.
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eingestellten Ermittlungsverfahren hinzugerechnet waren es 106 Personen.290 Ende Juli überbrachte Stange schließlich einen Kompromissvorschlag der DDR: Sie sei bereit, 750 Häftlinge für 30 Millionen, d. h. für einen Durchschnittspreis von 40 000 DM zu entlassen. Zufrieden notierte Rehlinger, das Angebot sei nun »wesentlich günstiger«.291 In Abstimmung mit der evangelischen Kirche, dem BND, dem Verfassungsschutz und Vertretern der drei Bundestagsfraktionen stellte Rehlinger im Laufe des Juli 1964 Wunschlisten mit den Namen von insgesamt 966 Häftlingen zusammen.292 111 Namen fielen während der Verhandlungen weg, weil die Betroffenen verstorben oder bereits entlassen waren. Aufgrund einer Vereinbarung konnte die DDR 20 Namen von der Liste streichen, sodass sich die Zahl der zu Entlassenden auf 835 reduzierte.293 Zusammen mit der Kirchenliste IIIa, die von der Bundesregierung bezahlt wurde, waren es somit 883 Häftlinge, die durch Gegenleistungen der Bundesregierung entlassen wurden; die von den Kirchen und dem Senat ausgehandelten und finanzierten insgesamt 87 Freikäufe hinzugerechnet sogar 941 bzw. 942 Häftlinge.294 Die Angaben über die Inhaftierten beruhten dabei im Wesentlichen auf den Informationen der Rechtsschutzstelle. Rehlinger musste die Auswahl »nach bestem Wissen und Gewissen« treffen, da viele Kriterien zu berücksichtigen waren, darunter der »Grund der Verurteilung, Bedeutung und Art der politischen Widerstandshandlung, Alter und Gesundheitszustand, bereits verbüßte Haftzeit, Parteizugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Motive des Handelns, die zur Verurteilung geführt haben, etc«. Im Endergebnis waren es vor allem Inhaftierte, die der Rechtsschutzstelle »als besonders schwerwiegend« bekannt waren, unter ihnen etliche Schwerstbestrafte.295 Auch der Agentenaustausch wurde in diesem Zusammenhang vereinbart. Im August hob der Untersuchungsrichter am Bundesgerichtshof auf Antrag des Generalbundesanwaltes den Haftbefehl gegen Günter Hofé auf. Hofé wurde am 24. August 1964 an der Innerdeutschen Grenze an Rechtsanwalt Vogel übergeben.296 Im Gegenzug wurden Hoensbroech und seine beiden 290 Vermerk Geißels, 20.7.1964; ADW, HGSt, Nr. 7814, Listen 1–3a; Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 83b; Vermerk Rehlingers, November 1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 578; Wedel: Kirchenanwalt, S. 55. 291 Vermerk Rehlingers, 20.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 158. 292 Vermerk Rehlingers, 16.7.1964; ebenda, S. 156 f. 293 Vermerk Rehlingers, 20.11.1964; ebenda, S. 197 f. 294 Der Bericht Hoeschs an Wetzel v. 2.10.1969, DzD BesBem Bd. 1, S. 659 nennt 884 Häftlinge, 888 waren es lt. den Akten, auf denen Tabelle 1 im Anhang beruht. 295 Vermerk Rehlingers, 8.4.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 109. 296 Vermerk Rehlingers, 18.8.1964; ebenda, S. 173. Zur Vorbereitung des Austauschs hatte sich Vogel u. a. mit Hans Josef Horchem alias »Dr. Horn«, Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, in einer »konspirativen Wohnung in Köln« getroffen; Horchem: Spione, S. 55; vgl. die Zeu-
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Mitinhaftierten entlassen. Jedoch musste Hoensbroechs Familie eine weitere Zahlung aus eigener Tasche leisten. Die DDR hatte zunächst einen Betrag von 2 Millionen DM für seine Freilassung gefordert und war schließlich noch auf 450 000 DM heruntergegangen. Die Bundesregierung aber lehnte Sonderzahlungen jeglicher Art ab. Schließlich sollten »reiche« Häftlinge nicht bevorzugt und dadurch parallele »Bargeschäfte« verhindert werden. Hoensbroechs Vater sah sich damit vor die Wahl gestellt, seinen Sohn weiter im Gefängnis zu wissen oder den Differenzbetrag in Höhe von 410 000 DM aus eigener Tasche zu zahlen. Er entschied sich für letzteres und überwies die geforderte Summe auf ein Konto in der Schweiz.297 Mit der erfolgreichen Durchführung des Austausches war ein bis 1989 grundlegendes Funktionsprinzip etabliert: Die Entlassung von DDR-Agenten aus Gefängnissen in der Bundesrepublik und der Freikauf politischer Häftlinge in der DDR bedingten sich stets gegenseitig. Ende der siebziger Jahre, als die Verhandlungen über den Austausch des Kanzlerspions Günter Guillaume stockten, erinnerte Vogel Stange daran, dass der Häftlingsfreikauf und Familienzusammenführungen »ohne vorzeitige Haftentlassungen auch auf Ihrer Seite nicht zustande« kämen.298 Am 14. August 1964, einen Tag nach dem dritten Jahrestag des Mauerbaus, begannen die Entlassungen. Jene Häftlinge unter den Freigekauften, deren Entlassung in den Westen genehmigt war, wurden aus den Strafvollzugsanstalgenaussage im Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 45, Bl. 104 sowie die Aussage von Wedels; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 97, S. 19. 297 So laut Rehlinger: Freikauf, S. 66; vgl. Posser: Anwalt, S. 350 f. Hoensbroech Senior beschwerte sich Anfang 1965 bei Posser, er habe mit Vogel »die übelsten Erfahrungen« gemacht; Hoensbroech an Posser, 8.1.1965; EZA, 742/274. Von Wedel berichtet hingegen, dass für Hoensbroech eine Million Ost-Mark aus der Kasse des Stadtsynodalverbandes in West-Berlin in die DDR transferiert worden seien. Dafür habe er eine Million D-Mark an Vogel übergeben. Wedel: Kirchenanwalt, S. 67–70. Eine Notiz Volperts legt die Vermutung nahe, dass das Geld tatsächlich über Vogel an das MfS gelangte: Unter dem Datum des 27.10.1964 vermerkte Volpert, er habe »vom GM ›Georg‹ 400 000 DM (West)« entgegengenommen. BStU, MfS, HA IX, Nr. 368, Bl. 4. Falls es sich um das von Hoensbroech Senior gezahlte Geld handelt, bleibt indes ungeklärt, wo die restlichen 10 000 DM verblieben und warum das Geld erst 2 Monate nach Hoensbroechs Entlassung an das MfS gelangte. 298 »Es wird seit geraumer Zeit immer sichtbarer, dass man bei Ihnen [in der Bundesrepublik] von der seit 1964 vereinbarten und geübten Praxis weg will, im humanitären Bereich unter bestimmten Konditionen auch Inhaftierte auf Ihrer Seite vorzeitig zu entlassen. […] Diese Handhabung wird hier nicht hingenommen. Sie läuft letztendlich auf eine Aufkündigung der humanitären Vereinbarungen über Inhaftierte und Familienzusammenführungen hinaus, die ohne vorzeitige Haftentlassungen auch auf Ihrer Seite nicht zustande kommen und demzufolge auch nicht aufrechtzuerhalten wären.« Vogel an Stange, 16.4.1980; HGWS, HF 22; »Es hat also immer wieder auch Fälle gegeben, in denen der Agentenaustausch verknüpft worden ist mit […] Häftlingsfreilassungen, und umgekehrt haben sich Schwierigkeiten beim Agentenaustausch ausgewirkt auf den Häftlingsbereich.« Interview mit Jan Hoesch v. 22.5.2008.
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ten der DDR in die Untersuchungshaftanstalt (UHA) des MfS in der Magdalenenstraße in Berlin gebracht. Eine Entlassung von mehreren hundert Häftlingen über die Berliner Grenzübergänge in das Notaufnahmelager in BerlinMarienfelde hätte aber sofort Aufsehen erregt. Um eine diskretere Abwicklung sicherzustellen, bestimmte die Bundesregierung daher das Notaufnahmelager in der hessischen Universitätsstadt Gießen als zentralen Sammelpunkt im Westen. Von der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Ost-Berlin aus wurden die Häftlinge zwischen dem 14. August und 24. September 1964 in mehreren Bustransporten bis zum Grenzübergang Wartha/Herleshausen zwischen Thüringen und Hessen gebracht, stiegen dort in Reisebusse aus dem Westen um und gelangten schließlich nach Gießen bzw. in die Außenstelle des Lagers in Büdesheim nahe Bad Homburg.299 Die einzige schriftlich fixierte Vereinbarung in dem gesamten Vorgang stellten die Verträge dar, die Ludwig Geißel im Juli und August 1964 mit dem Vertreter des Ministeriums für Außen- und Innerdeutschen Handel über die Lieferung von Mais, Butter, pflanzliches Öl, Kadmium, Kaffee, Kautschuk und Aktivruß schloss.300 Auf Weisung des 1. stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph, hatte die Hauptabteilung Planung des MAI eine entsprechende Wunschliste mit dieser Warenspezifikation zusammengestellt. An ihnen bestünde »dringender Sofortbedarf« für die Volkswirtschaft der DDR.301 Wenige Tage nachdem der letzte Bus in Gießen eingetroffen war, informierte Mende den Bundestagsausschuss für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen, dass es sich bei den entlassenen Häftlingen schwerpunktmäßig um solche »mit lebenslangem, 15 Jahren, 12 Jahren, 10 Jahren, meistens 8 Jahren Zuchthaus« gehandelt habe, d. h. Inhaftierte, »die in keiner Weise mit einer Amnestie oder Bewährung in nächster Zeit zu rechnen hatten«. Außerdem wären noch circa 200 jugendliche Fluchthelfer darunter gewesen, »bei denen sich die Bundesregierung verpflichtet fühlte, besonders aktiv zu werden«.302 Tatsächlich waren unter den freigekauften Häftlingen mindestens 67 mit einer lebenslangen, sieben mit einer Haftstrafe von 25 Jahren und mehr als 150 Personen, die eine Zuchthausstrafe zwischen zehn und 15 Jahren erhalten hatten.303 Viele befanden sich in einem bedenklichen Gesundheitszustand. Der 299 Vermerk Rehlingers, 23.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 161 f. 300 »Listen der geforderten Warenlieferungen und abgeschlossenen Verträge«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 4341. 301 Schreiben an Mielke; BStU, MfS, HA IX, Nr. 4341, Bl. 7. 302 PA, AGBF, 4. WP, 42. Sitzung am 5.10.1964, S. 75. 303 Vom Referat III 2 des BMG angefertigte »Liste aller bisher (einschließlich 13.2.1969) entlassenen ehemaligen Häftlinge«, 26.6.1969; Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 1–178 (im Folgenden abgek. Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067).
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Bundesminister für Vertriebene und Flüchtlinge unterrichtete das Kabinett davon, dass bislang »noch kein Transport ohne Tbc-Kranke« eingetroffen sei.304
Skandalisierung durch die Medien, Übernahme der Trägerschaft durch die Kirchen Von Beginn der Verhandlungen an hatte die DDR die Entlassungen von »allerstrengste[r] Diskretion« abhängig gemacht.305 Stange wies nachdrücklich darauf hin, dass jedwede Veröffentlichung »die Durchführung sofort in Frage stellen« würde.306 Zwar sei der DDR bekannt, dass die Tatsache der Entlassungen an sich nicht unbemerkt bleiben könne, jedoch dürfe das Faktum der wirtschaftlichen Gegenleistungen nicht an die Öffentlichkeit gelangen.307 Erwartungsgemäß erschienen seit Ende August in zahlreichen Tageszeitungen der Bundesrepublik und des westlichen Auslandes Meldungen über die vorzeitige Freilassung einer großen Anzahl politischer Häftlinge aus der DDR. Auch Radio und Fernsehen berichteten, dass Häftlinge mit Bussen über die Grenzübergangsstelle in das Sammellager in Gießen gebracht würden.308 Einigen Journalisten war es trotz der Geheimhaltung sogar gelungen, mit Freigelassenen zu sprechen. Auf diesem Weg erfuhr die Öffentlichkeit, dass die Entlassungen bereits seit längerer Zeit im Gange waren und sowohl in die Bundesrepublik als auch in die DDR erfolgten.309 Bonn gab zu allen diesen Vorgängen vereinbarungsgemäß keine Stellungnahme ab. Die Presse registrierte mit einem gewissen Erstaunen, dass auch in den Publikationsorganen der DDR nicht die geringsten Andeutungen über die Entlassungen gemacht wurden. Das widersprach der sonstigen Gewohnheit der SED, jede Amnestie mit ausgiebigen Lobeshymnen über den Siegeszug der sozialistischen Gesetzlichkeit zu untermalen. Das beharrliche Schweigen beider Seiten heizte die Spekulationen über die Hintergründe der Geschehnisse an. 304 134. Sitzung am 9. September; Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 17: 1964, München 2007, S. 398 f. 305 Vermerk Rehlingers, 26.6.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 149. 306 Stange an Krautwig, 29.7.1964; ebenda, S. 165. 307 Vermerk Rehlingers, 26.6.1964; ebenda, S. 149. 308 Fricke, Karl Wilhelm: Rundfunkkommentar. In: NDR 2 v. 27.8.1964, Abschrift in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 366, Bl. 13a. Vgl. »Bisher 1 200 Entlassungen aus Zonenhaft«. In: FAZ v. 28.8.1964. 309 Dittrich, Georg: »Häftlinge werden frei«. In: Westdeutsche Allgemeine v. 27.8.1964; »Pankow entlässt Tausende politischer Häftlinge in die Bundesrepublik«. In: Münchner Merkur v. 28.8.1964; vgl. »Hier spricht Berlin«. In: SFB 1 v. 27.8.1964, 19:30 Uhr, Text der Sendung in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 366, Bl. 15.
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Die Debatte kreiste dabei um drei Fragen: Worum handelte es sich genau bei diesem Vorgang? Wie war die Sache eingefädelt worden – etwa durch einen festen Kontakt zwischen beiden Regierungen, was von Bonn ansonsten stets bestritten wurde? Was waren die Motive, die die DDR-Führung zu diesen Freilassungen veranlasst hatten? Dass es sich um keine gewöhnliche Amnestie handeln konnte, lag angesichts der konspirativen Umstände auf der Hand, genauso wie die begründete Vermutung, dass die Entlassungen das Ergebnis geheimer Kontakte zwischen Bonn und Ost-Berlin waren, von deren Existenz die Öffentlichkeit bisher nichts wusste. Was die Motive Ost-Berlins betraf, so waren sich alle Berichterstatter darin einig, dass humanitäre Gründe für Ost-Berlin nicht maßgeblich gewesen waren. Der ZDF-Reporter Hans-Jürgen Wiesner kommentierte in der heute-Sendung vom 27. August: »Jeder von uns kann sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, daß Ulbricht diese Menschen nicht umsonst freiläßt. […] Ostberlin läßt sich das alles bezahlen. Stahl, Kunstdünger, Tabak und harte D-Mark sind ihm im geeigneten Moment schon einige hundert politische Häftlinge wert, wenn er damit seine Wirtschaft aufmöbeln und seinen Ruf etwas aufpolieren kann.«310
Einige Kommentatoren vermuteten einen Zusammenhang mit der Entlassung Günter Hofés aus westdeutscher Haft. Tatsächlich hatte die DDRNachrichtenagentur ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst) entgegen der Abmachungen eine Meldung über die Entlassung Hofés gebracht. Staatssekretär Krautwig, verärgert über diese Indiskretion, bat Generalbundesanwalt Martin, gegenüber der Presse vorzugeben, er sei über die Hintergründe nicht informiert.311 Die meisten Zeitungen waren gewillt, im Interesse der ungestörten Fortführung der Entlassungen von allzu hartnäckigen Nachforschungen abzusehen und sich selbst eine zurückhaltende, wohlwollende Berichterstattung aufzuerlegen: »Ihre Freilassung [d. h. der Häftlinge] sollte uns ein einsichtsvolles Schweigen wert sein […] Welche politischen Hintergründe die Entlassungen auch immer haben mögen, ist letzten Endes nicht so wichtig wie der menschliche Gesichtspunkt«312 – »Wir kennen Ulbrichts Beweggründe nicht [….] Sei’s drum. Die Heimkehr der Häftlinge ist wichtiger«313 – »Jedenfalls bleibt zu wünschen, daß noch ausstehende Entlassungen 310 Bl. 17 f. 311 312 Bl. 17 f. 313
Heute-Sendung v. 27.8.1964, ZDF, 19:30 Uhr, Abschrift in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 366, Vermerk Rehlingers, 25.8.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 174. heute-Sendung v. 27.8.1964, ZDF, 19:30 Uhr, Abschrift in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 366, »Heimkehr«. In: Rheinische Post v. 27.8.1964.
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nicht durch vorzeitige Presseberichte gestört werden«314 – »Man sollte nicht […] Vokabeln wie Menschen-Schacher oder ähnlichen Unsinn aus den Abfallkübeln des Kalten Krieges ausgraben«315 – »Der Effekt ist und bleibt erfreulich. Er beweist: verhandeln ist besser als schimpfen, oder – nichts tun.«316
Unterdessen hatte die DDR der Bundesregierung Anfang September angeboten, eine Folgevereinbarung zu schließen: Weitere 1 600 Häftlinge könnten zu den gleichen Konditionen freigelassen werden. In Bonn waren die zuständigen Stellen der Ansicht, dass die Aktion an sich fortgeführt werden sollte. Schon die gebotene Gleichbehandlung der soeben freigekauften, schwerstbestraften Häftlinge mit den noch in Haft befindlichen rund 300 Personen mit ähnlich hohen Strafen ließ eine weitere Hilfsmaßnahme notwendig erscheinen.317 Stange, die Gunst der Stunde nutzend, drängte auf eine rasche Fortsetzung der Verhandlungen.318 Die Gegenseite werde ansonsten zu der Auffassung gelangen, dass die Bundesregierung die Maßnahme nicht fortsetzen wolle. Generalstaatsanwalt Streit würde daraufhin das Angebot zurückziehen. Eine Verschleppung der Verhandlungen würde »eine grundlegende Verhärtung« in der Verhandlungsbereitschaft der DDR bewirken.319 Die Verhandlungspause, die dennoch nach dem letzten Bustransport nach Gießen Ende September 1964 eintrat, lag vor allem an den Amnestiegerüchten im Vorfeld des 15. Jahrestages der DDR-Gründung. Schon seit Jahresbeginn war in der Westpresse vereinzelt darüber spekuliert worden.320 Einen Tag vor der offiziellen Verkündung der Amnestie kündigte Vogel seinem Kollegen Stange an, er würde in Kürze eine Zusammenstellung der Namen aller amnestierten (politischen) Häftlinge erhalten. In Kenntnis dieses Materials könne er seine Wunschliste für die zweite Freikaufsvereinbarung aktualisieren.321 Die mittlerweile vierte Amnestie seit 1949 war bereits am 2. Oktober vom SEDPolitbüro beschlossen worden; am 6. Oktober wurde sie vom Staatsrat offiziell verkündet. Sie betraf insgesamt über 77 000 Personen und sollte sich ausdrücklich auch auf vormalige politische Gegner beziehen, rund 1 500 Häftlinge, die wegen »Verbrechen gegen den Staat« verurteilt worden waren.322 Sie 314 Beitrag v. Fricke, Karl Wilhelm. In: NDR 2 v. 27.8.1964, 17:40 Uhr, Abschrift in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 366, Bl. 13a. 315 »Beckmesser«. In: Kölner Stadtanzeiger v. 27.8.1964. 316 »Häftlinge kehren heim«. In: Süddeutsche Zeitung v. 29.8.1964. 317 Vermerk Rehlingers, 14.9.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 184–186. 318 Vermerk Spangenbergs, 21.9.1964; LArchB, B Rep. 002, Nr. 10756, Bl. 38. 319 Vermerk Stanges, 18.9.1964; ebenda, Bl. 40 f. 320 »Polit-Amnestie«. In: Der Spiegel v. 5.2.1964, Nr. 6. 321 Vogel an Stange, 5.10.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 187 f. 322 Werkentin: Strafjustiz, S. 387; vgl. Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers. Köln 2000, S. 58.
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war jedoch nicht nur als großzügige Geste gedacht, sondern zugleich eine »notwendige Folge« der Häftlingsaktion:323 Mit ihr sollten die Hintergründe der Entlassungswelle der beiden Vormonate verschleiert werden, da die Justizbehörden auf den Strafakten zahlreicher freigekaufter Häftlinge vermerkten, dass ihre Entlassung aufgrund des Amnestiebeschlusses erfolgt sei – obwohl die Betroffenen zu diesem Zeitpunkt längst entlassen und teils sogar im Westen waren.324 Eine ernsthafte Gefährdung für die weiteren Verhandlungen stellten hingegen Presseberichte Anfang Oktober dar. Nicht lange nach der Ankunft der letzten Busse mit freigekauften Häftlingen Ende September in Gießen war in Bonn die Tatsache der wirtschaftlichen Gegenleistungen durchgesickert. Was vorher im Bereich der Spekulation lag, wurde zur Gewissheit und löste eine breite, teils kontroverse Debatte aus. Der Westberliner Tagesspiegel, die New York Times und die Neue Zürcher Zeitung berichteten, die Bundesregierung habe politische Gefangene von den »Zonenbehörden« freigekauft, für jeden Entlassenen sei dabei ein »Kopfgeld« gewährt worden.325 Der Tagesspiegel präzisierte diese Angaben dahingehend, die Bundesregierung habe »pro Häftling jeweils eine große Wertsumme zur Verfügung gestellt«, für welche die DDR »zum Teil hochwertige Konsumgüter außerhalb des Interzonenhandels bezogen« habe. Dies sei dem Tagesspiegel schon länger bekannt gewesen, man habe aber mit Rücksicht auf die noch laufenden Entlassungen bisher geschwiegen.326 Im Leitartikel vom Tage zuvor hatte der Autor Joachim Bölke die Entlassungsaktion als »Menschenhandel« gegeißelt. Wenig später titelte die Bild-Zeitung »Butter gegen Gefangene« und listete die Gegenleistungen der Bundesregierung im Einzelnen auf. Zudem setzte sie die Öffentlichkeit darüber in Kenntnis, dass die Verhandlungen darüber schon unter Adenauer und Barzel begonnen hätten.327 Mitte Oktober brachte der Spiegel eine Geschichte unter der Schlagzeile »Häftlings-Auslösung. Gegen Südfrüchte«. Der Beitrag enthielt »zum Teil Insider-Wissen«, was den Verdacht nahelegte, dass die Informationen aus dem Ministerium selbst an die Presse lanciert worden waren.328 323 Sachstandsvermerk (o. A.), 5.10.1964; AEK, Zug. 683, Nr. 341. 324 Siehe z. B. den Stempelaufdruck auf der Strafnachricht eines Häftlings, der mit dem ersten Bustransport am 14.8.1964 nach Gießen kam: »Durch Amnestieerlaß des Staatsrates der DDR vom 3.10.1964 entlassen« BStU, MfS, SKA 24533. 325 New York Times v. 1.10.1964, zit. nach: »Freigekauft«. In: Der Mittag v. 1.10.1964; vgl. Neue Zürcher Zeitung v. 1.10.1964; zit. nach: »Nochmals betont: Kein Ultimatum. DDR spricht von normalen Handelsberatungen. Hat Bonn bezahlt?« In: Frankfurter Rundschau v. 3.10.1964. 326 Böllke, Joachim: »Eine Begnadigungsaktion«. In: Der Tagesspiegel v. 7.10.1964. 327 »Butter gegen Gefangene«. In: Bild v. 9.10.1964. 328 »Häftlingsauslösung. Gegen Südfrüchte«. In: Der Spiegel v. 14.10.1964, Nr. 42; Rehlinger: Freikauf, S. 62. Womöglich war Erich Mende selbst die Quelle dieser Indiskretion; Interview mit Ludwig A. Rehlinger v. 17.5.2011.
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Die Reaktion der DDR folgte umgehend: Sie brach die Verhandlungen ab.329 Die Befürchtungen, dass das Bekanntwerden der Gegenleistungen den »Auftakt für gegenseitige Propagandafeldzüge« darstellte, bewahrheiteten sich jedoch nicht.330 Die DDR-Presse blieb stumm und die Bundesregierung bemühte sich um Schadensbegrenzung. Das Bundeskabinett wies Regierungssprecher Karl-Günther von Hase an, in der Bundespressekonferenz den Vorwurf des »Menschenhandels« entschieden zurückzuweisen. Von Hase bestätigte zwar, dass es »Leistungen und Gegenleistungen« gegeben habe, jedoch sei »definitiv kein individuelles Kopfgeld« gezahlt worden.331 Zugleich setzte Mende das zuständige parlamentarische Kontrollorgan, den Bundestagsausschuss für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen, darüber in Kenntnis, dass die Gegenseite die Begriffe »Kopfquote« und »Menschenhandel« als Gesichtsverlust empfunden und daher die Verhandlungen abgebrochen habe. Rechtsanwalt Stange sei zu Vogel geschickt worden, um zu erklären, dass sich eine solche Aktion nun einmal nicht geheim halten lasse.332 Zeitgleich setzte sich Mende mit den Chefredakteuren der großen Tageszeitungen in Verbindung und bat diese, im Interesse einer Fortführung der Hilfsmaßnahmen von weiteren Berichten abzusehen.333 Während die öffentliche Debatte im Verlauf des Novembers 1964 allmählich abflaute, versuchten die Anwälte, den Faden wieder aufzugreifen. Von Wedel gelang es, im Auftrag der evangelischen Kirche die Entlassung weiterer 18 Häftlinge auszuhandeln und damit den Kontakt aufrechtzuerhalten.334 Gleichzeitig bemühte sich Walter Adolph, Generalvikar des Berliner Erzbischofs Kardinal Alfred Bengsch, in Gesprächen mit Ludger Westrick, dem Chef des Bundeskanzleramtes, um eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Ende November baten die Kirchen die Bundesregierung »sehr herzlich« um eine baldige Fortführung im Interesse der Inhaftierten. Trotz des Bruchs der vereinbarten Diskretion hätte die Gegenseite ihre Bereitschaft für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen signalisiert.335 Die Kirchen verbanden ihre Initiative mit dem Vorschlag, die Zuständigkeiten für die weitere Hilfsaktion neu zu regeln. Die wesentliche Änderung bestand darin, dass die Verhandlungen ausschließlich im Namen der beiden Kirchen durchgeführt werden sollten. Als Träger der Hilfsmaßnahme sollten 329 Rehlinger: Freikauf, S. 62. 330 Sachstandsvermerk, 5.10.1964; AEK, Zug. 683, Nr. 341. 331 »Leistungen für die Freilassung politischer Gefangener«. In: FAZ v. 8.10.1964. 332 PA, AGBF, 4. Wahlperiode, Protokoll der 47. Sitzung am 5.11.1964, S. 5. 333 Rehlinger: Freikauf, S. 62. 334 Notiz von Wedels für Scharf, 6.12.1964; EZA, 742/274. 335 Memorandum Adolphs, 24.11.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 199; Notiz von Wedels für Scharf, 6.12.1964; EZA, 742/274.
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Bischof Kunst und Prälat Wilhelm Wissing einspringen. Bischof Kunst, EKDBevollmächtigter, und Prälat Wissing, Leiter des Katholischen Büros in Bonn, würden ihrerseits einen Anwalt mit der Verhandlungsführung beauftragen. Die Bundesregierung sollte sich im Hintergrund halten, aber das Geld zur Verfügung stellen und laufend unterrichtet werden.336 Der Zweck dieser Konstruktion lag darin, dass mit der Zwischenschaltung der beiden Kirchen die Verärgerung der DDR über die Indiskretionen seitens der Bundesregierung »überspielt« werden konnte.337 Ferner versprach die Vermittlung der Kirchen, das Vertrauen der DDR in die Verlässlichkeit und Verschwiegenheit des Verhandlungspartners auf westlicher Seite wiederherzustellen. Gegenüber der Bundesregierung sollten Kunst und Wissing nur mit dem Kanzler, dem Gesamtdeutschen Minister und seinem Staatssekretär, dessen persönlichen Referenten sowie dem Fachreferenten Ludwig Rehlinger in Kontakt stehen, sodass der Kreis der Eingeweihten noch enger gezogen wurde. Im Gesamtdeutschen Ausschuss sollte nur der Vorsitzende über die Vorgänge in Kenntnis gesetzt werden. Schließlich lag diese Lösung auch im Interesse der Bundesregierung, denn auf diesem Wege war zu erwarten, dass »keinerlei politische Belastungen« für die Bundesregierung entstehen würden, die nach wie vor den Kontakt zu Ost-Berlin auf politischer Ebene ablehnte.338 Außerdem unterstrich die Lösung erneut den humanitär-christlichen Charakter der Hilfe. In der Frage der Beauftragung des Anwalts entbrannte indes ein Streit. Die Bundesregierung machte ihre Zustimmung zu dem Vorschlag der Beauftragung der Kirchen davon abhängig, dass künftig Rechtsanwalt Diether Posser, einer der Korrespondenzanwälte Kauls, mit der Verhandlungsführung beauftragt werden müsse.339 Vogel machte aber unmissverständlich klar, dass sich die Verhandlungsvollmacht von Generalstaatsanwalt Streit ausschließlich auf Stange beziehe. Wenn dieser ausscheide, dann auch er. Überhaupt störe dieser erneute »Kompetenzkonflikt« seine Verhandlungen empfindlich.340 Von Wedel pflichtete ihm darin bei: Für einen Anwaltswechsel gebe es »keinen triftigen Grund« und die Auswechslung Stanges gegen den Anwalt von Vogels Konkurrenten Diether Posser könnte zu einem erneuten Abbruch der Verhandlungen führen.341
336 Ebenda (beide Dokumente): Memorandum Adolphs v. 24.11.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 199; Notiz von Wedels für Scharf, 6.12.1964; EZA, 742/274. 337 Notiz von Wedels für Scharf, 6.12.1964; EZA, 742/274. 338 Wissing an Krautwig, 14.12.1965; EZA, 742/277. 339 Von Wedel an Kunst, 4.12.1964; EZA, 742/274. 340 Vogel an Stange, 4.12.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 200 f. 341 Notiz von Wedels für Scharf, 6.12.1964; EZA, 742/274.
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Die Bundesregierung, vor die Alternative eines Abbruchs der Verhandlungen oder der erneuten Beauftragung Rechtsanwalt Stanges gestellt, entschied sich dafür, diese Bedingung zu akzeptieren und im Interesse der raschen Entlassung weiterer 500 Inhaftierter erneut Stange zu beauftragen.342 Im Ergebnis einer Beratung zwischen Erhard, Mende, ihren Staatssekretären sowie dem Innen- und Justizminister akzeptierte die Bundesregierung Ende 1964 den vorgeschlagenen Verfahrensweg.343 Der Weg für eine Fortsetzung der Verhandlungen war damit geebnet.
342 Bericht Possers, 18.12.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 207–209. 343 Vermerk Krautwigs, 15.12.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 204 f.; Vermerk betr. Gefangenenloskauf, 15.12.1964; AEK, Zug. 683, Nr. 341.
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II
Strukturen, Akteure und Mechanismen
Die Freikaufsverhandlungen waren in dem Vierteljahrhundert zwischen 1964 und 1989 von einem Wandel in den Zielen beider Seiten, den Modalitäten, Methoden und dem Verhandlungsklima geprägt. Demgegenüber blieben die Strukturen, innerhalb derer sich die Akteure bewegten, und die Mechanismen, nach denen sich der Freikauf abspielte, im Wesentlichen unverändert. Zuvorderst galt dies für die 1963/64 entstandene Konstruktion, die Verhandlungen unterhalb der Ebene amtlicher Kontakte über zwei bevollmächtigte Rechtsanwälte zu führen. Selbst nachdem die Bundesrepublik die Doktrin der Nichtanerkennung aufgab und die Beziehungen zur DDR im Grundlagenvertrag von 1972 auf eine offizielle Ebene hob, verblieben die Verhandlungen über den Häftlingsfreikauf und die Familienzusammenführungen auf der inoffiziellen Anwaltsebene. Im Wesentlichen war die Zwischenschaltung von Anwälten die logische Konsequenz aus der Bedingung der DDR, dass Vereinbarungen dieser Art nur unter größter Diskretion möglich seien und Regelungen ausschließlich in Gestalt informeller Absprachen in einem quasi (völker-)rechtsfreien Raum erfolgen müssten. Das schloss direkte Verhandlungen zwischen zwei Behörden von vornherein aus. Auch die Binnenstrukturen auf beiden Seiten waren von Kontinuität gekennzeichnet. In der DDR bestand sie sowohl in struktureller als auch in personeller Hinsicht: Zwischen 1963 und 1989 trafen lediglich die beiden SED-Generalsekretäre Walter Ulbricht (1950–1971) und Erich Honecker (1971–1989) die Grundsatzentscheidungen in den Freikaufsverhandlungen, die der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (1957–1989) ausführte. Innerhalb des MfS blieb Vogels Führungsoffizier Heinz Volpert bis zu seinem überraschend frühen Tod im Februar 1986 Mielkes Beauftragter für das Häftlingsgeschäft. Generalmajor Gerhard Niebling, der Chef der »Zentralen Koordinierungsgruppe« (ZKG) im MfS, übernahm danach die Rolle Volperts. Aufseiten der Bundesrepublik bestand die Stabilität der Strukturen hauptsächlich darin, dass innerhalb der Bundesregierung das Gesamtdeutsche bzw. Innerdeutsche Ministerium bis 1989 die alleinige Zuständigkeit für die »Humanitären Bemühungen« behielt, während die Federführung in der operativen Deutschlandpolitik seit Anfang der siebziger Jahre mehr und mehr auf das Bundeskanzleramt überging. In personeller Hinsicht wechselten sich dagegen zwischen 1963 und 1989 vier Koalitionen, sechs Bundeskanzler und acht Gesamt- bzw. Innerdeutsche Minister in der Regierungsverantwortung ab.
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Allerdings gab es auch hier zwei einflussreiche Persönlichkeiten, die eine gewisse personelle Kontinuität garantierten. Zum einen Ludwig A. Rehlinger (CDU), der von 1963 bis 1969 das zuständige Fachreferat im Gesamtdeutschen Ministerium leitete und dem Ressort von 1982 bis 1988 als Staatssekretär vorstand; zum anderen Herbert Wehner (SPD), der in der Großen Koalition das Amt des Gesamtdeutschen Ministers bekleidete und von 1973 bis zum Regierungswechsel 1982 wegen seines direkten Kommunikationsdrahtes zu Erich Honecker zum »heimlichen Innerdeutschen Minister« wurde, sofern Häftlingsfreikauf und Familienzusammenführung betroffen waren. Schließlich engagierten sich die evangelische und katholische Kirche von 1964 bis 1989 als Vermittler und waren der Bundesregierung bei der Bereitstellung und Lieferung der wirtschaftlichen Gegenleistungen behilflich. Während sie in den ersten Jahren eine starke Rolle einnahmen, zogen sie sich im Laufe der sechziger Jahre allmählich aus der unmittelbaren Verhandlungsführung zurück. Dies umso mehr, je weiter die Bundesregierung seit den entspannungspolitischen Gehversuchen der Großen Koalition und der »Neuen Ostpolitik« der sozialliberalen Koalition von der Politik der Nichtanerkennung der DDR abrückte und sich die Bedenken gegen Verhandlungen mit der DDR auf politischer Ebene allmählich verflüchtigten.
1
Bundesrepublik
Die Hauptakteure Kirche, Bundesregierung und Berliner Senat sowie Rechtsanwalt Stange sollen in den folgenden Kapiteln in ihren Rollen und ihrem Verhältnis zueinander näher erläutert werden.
Evangelische und katholische Kirche Infolge der Vereinbarung mit der Bundesregierung vom Spätherbst 1964 übernahmen die Kirchen die Federführung in den bevorstehenden Verhandlungen über den Freikauf weiterer politischer Häftlinge, womit sie gegenüber der DDR als Träger der Hilfsmaßnahme auftraten. Auf Beschluss des Rates der EKD sowie des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz sollten Bischof Hermann Kunst, der »Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am Sitz der Bundesrepublik Deutschland«, und Prälat Wilhelm Wissing, der Leiter des Katholischen Büros Bonn, gemeinsam die
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II Strukturen, Akteure und Mechanismen
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Kontakte zur Bundesregierung halten und auf der anderen Seite über Rechtsanwalt Stange die Verhandlungen mit der DDR führen.1 Zweifellos war das Gewicht der evangelischen Kirche dabei größer als das der katholischen. Dies ergab sich bereits aus dem Umstand, dass der Großteil der Bevölkerung in der DDR evangelischer Konfession war, da es sich um die »protestantischen Kernlande« handelte. Obwohl die Mitgliederzahl der Gliedkirchen der EKD in der DDR wegen der Anfeindungen und systematischen Behinderung durch das atheistische SED-Regime stetig schrumpfte, war ihr Einfluss Anfang der sechziger Jahre nach wie vor beträchtlich.2 Zudem wurden die finanziellen und wirtschaftlichen Transaktionen, die Gegenleistungen für die entlassenen Häftlinge, über das Konto des EKDBevollmächtigten in Bonn sowie das Diakonische Werk der EKD in Stuttgart abgewickelt.3 Die Beauftragung der Kirchen bewies das große Vertrauen der Bundesregierung, sowohl in die Ämter als auch in Kunst und Wissings persönliche Integrität; Vertrauen, dass sich beide Kirchenmänner in langjähriger, beharrlicher Arbeit erworben hatten. Der Rat der EKD hatte das Amt des Bevollmächtigten 1949 geschaffen, um »vor dem Hintergrund der Erfahrungen im NS-Staat und im Bewusstsein der Fehler und Abgründe der eigenen Geschichte« die Mitverantwortung der Kirche für das Gedeihen der soeben gegründeten Bundesrepublik wahrzunehmen.4 Ausgehend von der im Grundgesetz verankerten Trennung von Staat und Kirche (Art. 140 GG) sah die EKD ihre Aufgabe darin, einerseits die gebotene Distanz zu wahren, zugleich aber dort die Kooperation zu suchen, wo Gesetzgebung und Regierungshandeln sich mit dem biblischen Auftrag überschnitten, »der Stadt Bestes« zu suchen.5 Dies betraf unter anderem Fragen der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit, das Ehe- und Fami1 Kunst an Scharf, 7.10.1975; EZA, 742/297. 2 1950 gehörten noch mehr als 90 % der ostdeutschen Bevölkerung einer christlichen Kirche an, 80,5 % davon einer evangelischen Landeskirche. Greschat: Protestantismus, S. 127. Der Anteil der Kirchenmitglieder sank bis 1964 auf ca. 68 %. Zu den Ursachen siehe Pollack, Detlef: Von der Volkskirche zur Minderheitskirche. Zur Entwicklung von Religiösität und Kirchlichkeit in der DDR. In: Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Hartmut (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 271–294, hier 272. Zur Ev. Kirche vgl. Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. 1. Aufl., München 1993; Dähn, Horst; Heise, Joachim: Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt/M. 2003; Lepp, Claudia; Nowak, Kurt: Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945– 1989/90). Göttingen 2001; Hanke, Christian: Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 bis 1990. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Demokratie-, Gesellschafts- und Staatsverständnisses. Berlin 1999. 3 Zum finanziellen Aspekt siehe ausführlich Kap. VII. 4 http://www.ekd.de/bevollmaechtigter/geschichte.html, download 3.1.2012. 5 Jeremia 29,7.
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lienrecht und nicht zuletzt auch die Hilfe für in Not geratene (Glaubens)geschwister in der DDR. Der Bevollmächtigte fungierte dabei als Verbindungsstelle zwischen den politischen Institutionen der Bundesrepublik und dem Rat, dem 15-köpfigen Leitungsgremium der EKD. Dem Bevollmächtigten oblagen dabei zwei Hauptaufgaben: Erstens sollte er als »Kirchendiplomat« die »ständige Fühlung« mit den leitenden politischen Stellen der Bundesrepublik halten und den Rat regelmäßig über die politische Lage, die Ansichten und Absichten der politischen Entscheidungsträger in Bonn informieren. Zu diesem Zweck hatte er ein dauerhaftes Vortragsrecht auf den monatlichen Ratssitzungen und war umgekehrt allein an die Weisungen des Rates gebunden. Die zweite, im vorliegenden Zusammenhang wichtigere Aufgabe bestand in einem seelsorgerlichen Dienst an den Bonner Politikern, nicht nur an jenen evangelischer Konfession. Der Bevollmächtigte sollte dabei im Sinne der Anliegen der Kirche auf die handelnden Politiker einwirken und dadurch an der politischen Willensbildung mitwirken. Damit stand das Amt ganz in der lutherischen Tradition eines »Beraters der Obrigkeit«,6 eines Geistlichen, der den Politikern in sozialethischen Fragen beistand, besonders wenn es »um die gewissenhafte Verwaltung der politischen Macht für ein ganzes Volk« ging.7 Der erste Bevollmächtigte, Bischof Hermann Kunst (*1907, †1999), prägte das Amt maßgeblich (Abb. 7). 1907 in Ottersberg bei Bremen geboren, studierte er nach dem Abitur und einer Lehre bei der Deutschen Bank Evangelische Theologie an den Universitäten Marburg, Berlin und Münster. Auf das Vikariat und die erste Pfarrstelle in Herford folgte 1940 die Ernennung zum Superintendenten des Kirchenkreises Herford. Während des Zweiten Weltkrieges diente Kunst als Kriegspfarrer der Wehrmacht in Polen, Frankreich und Russland; eine Erfahrung, die sein späteres Eintreten für den Abschluss des Militärseelsorgevertrages und die Einrichtung des Amtes des Militärbischofs der Bundeswehr maßgeblich beeinflusste.8 Kunst, der dem »pietistischen Luthertum« entstammte und dem gemäßigten Flügel der Bekennenden Kirche angehört hatte, wurde 1949 auf den neu geschaffenen Posten des Bevollmächtigten berufen. Er sollte das Amt bis 1977 ausüben und zu einer »Institution« im politischen Leben der Bonner Republik werden.9 6 Klein, Michael: Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-ParteienMentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963. Tübingen 2005, S. 442. 7 Kalinna, Hermann E. J.: Verbindungsstellen zwischen Staat und Kirchen im Bereich der evangelischen Kirche. In: Listl, Joseph (Hg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland. 2., grundl. neubearb. Aufl., Berlin 1995, S. 181–195, hier 187–189. 8 Ev. Kirchenamt für die Bundeswehr (Hg.): Bischof D. Dr. Hermann Kunst D D In Dankbarkeit, Trauerfeierlichkeiten am 15.11.1999 in Herford, Red. Peter H. Blaschke, S. 5. 9 Klein: Protestantismus, S. 441.
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Körperlich nicht groß, beeindruckte Kunst durch sein Auftreten und einen scharfen Intellekt. Erhard Eppler, von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, beschrieb Kunst wie folgt: »Nie ließ er sich gehen. Er hatte, was sonst eher das Privileg katholischer Bischöfe ist, Formen, Umgangsformen, sogar eingespielte Formen des Kontakts«, war »zuverlässig und diskret, […] preußisch pflichtbewusst«.10 Der »Diplomat im Lutherrock« hegte zwar Sympathien für die Union als interkonfessionelle Sammlungspartei, trat ihr jedoch nie bei, denn Kunst sah sich »als eine Art Brückenbauer« zwischen der EKD und den politischen Parteien, was eine »größtmögliche Überparteilichkeit« voraussetzte.11 Hermann E. J. Kalinna, seit 1966 als Theologischer Referent im Büro des Bevollmächtigten tätig, sah Kunsts Talent darin, den richtigen Ton »in diplomatischer Grandezza« zu treffen, verbunden »mit der Fähigkeit, Tacheles zu reden«.12 In der Praxis beruhte Kunsts Einfluss und Ansehen in Bonn auf einem Netz von Kontakten zum Kanzleramt, den Ministerien und den Abgeordneten. Durch die regelmäßigen Frühstücksrunden für Parlamentarier und Ministeriale, aber auch durch Einzelgespräche wurde er zum intimen Kenner des politischen Milieus der Bundeshauptstadt, hörte zu, fand dadurch umgekehrt Gehör und erfuhr manches, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. »Das Entscheidende«, schilderte Kunst seine Tätigkeit aus der Rückschau, »geschah […] unter vier Augen. Darüber gibt es auf kirchlicher Seite keine Aktennotizen«.13 Getreu seinem Motto »Was zwei Leute wissen ist unsicher, was drei Leute wissen, weiß die ganze Welt«, legte Kunst größten Wert auf Diskretion und Verschwiegenheit, was sich insbesondere für eine politisch brisante Angelegenheit wie den Häftlingsfreikauf als vorteilhaft erwies. Unterstützt wurde Kunst von den Angestellten seines Büros, das seit 1966 in der Löwenburgstraße in Bonn lag. Im höheren Dienst bestand die Dienststelle aus zwei Theologen, zwei Juristen, sowie Kunsts Büroleiterin, Oberkirchenrätin Else Gräfin von Rittberg.14 Das Erfolgsmodell einer Verbindungsstelle zwischen der Kirchenleitung und der Bundesregierung inspirierte die katholische Kirche, sich eine ähnliche Einrichtung zu schaffen. Bereits 1950 wurde daher das »Katholische Büro 10 Eppler, Erhard: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Frankfurt/M. 2001, S. 241. 11 Buchna, Kristian: »Diplomat im Lutherrock«. Anmerkungen zu Leben und Wirken des Stiftsberger Pfarrers Hermann Kunst als EKD-Bevollmächtigter in Bonn. In: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford, Bielefeld (2011) 19, S. 36–54, hier 49. 12 Interview mit Hermann E. J. Kalinna v. 25.7.2010. 13 Kunst, Hermann: Redebeitrag. In: Schwarz, Hans-Peter: Konrad Adenauers Regierungsstil. Bonn 1991, S. 94–99, hier 99. 14 Interview mit Hermann E. J. Kalinna v. 25.7.2010.
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Bonn – Kommissariat der deutschen Bischöfe« gegründet. Die Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz wählte den Leiter des Büros, der an die Weisungen der Bischofskonferenz gebunden und deren Vorsitzendem berichtspflichtig war. Ferner war er zu einer engen Abstimmung mit dem päpstlichen Nuntius in Bonn angehalten. Dies sollte die Bedenken Roms zerstreuen, das Büro könne die Alleinzuständigkeit des Heiligen Stuhls für diplomatische Verhandlungen mit der Bundesregierung infrage stellen.15 Die Aufgaben des Katholischen Büros glichen jenen des Bevollmächtigten der EKD. Auf der einen Seite stand die Beobachtung der politischen Entwicklungen, auf der anderen die sachkundige und seelsorgerliche Begleitung der politischen Entscheidungsträger, hauptsächlich in Form von Stellungnahmen zu Gesetzgebungsvorhaben. Das Büro sollte vertrauensvoll, ja partnerschaftlich mit dem Staat »zum Wohl seiner Bürger« kooperieren und dabei dennoch seine Unabhängigkeit bewahren.16 Auf Wilhelm Böhler, den ersten Leiter des Katholischen Büros, folgte 1958 der 1916 im münsterländischen Vreden geborene und dort als Bundeskurat der Katholischen Landjugendbewegung tätige Prälat Wilhelm Wissing (Abb. 8). Nach dem Studium der Katholischen Theologie hatte er 1946 die Priesterweihe empfangen und war danach in der Pfarrseelsorge eingesetzt. »Robust, herzhaft, westfälisch«17 verschaffte sich Wissing rasch Ansehen und Vertrauen im politischen Bonn, was nicht zuletzt auf seiner Verschwiegenheit gründete. Als er Ende 1966 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt ausschied, übernahm ein weiterer Münsteraner das Büro. Weihbischof Heinrich Tenhumberg (Abb. 9), der nur drei Jahre auf diesem Posten blieb, gehörte derselben Generation wie Wissing an. 1939 zum Priester geweiht, hatte Tenhumberg im Krieg als Sanitäter gedient. Danach war er zur »rechten Hand des Bischofs« von Münster aufgestiegen und 1958 zum Weihbischof ernannt worden. Tenhumbergs Amtsübernahme fiel mit dem Beginn der Großen Koalition in Bonn zusammen, sodass er verstärkt das Gespräch mit den Sozialdemokraten suchte.18 Ein weiterer Akteur auf katholischer Seite sei noch genannt. Um einen bevollmächtigten Vertreter vor Ort in Berlin zu haben, der sich gegebenenfalls 15 Turowski, Leopold: Verbindungsstellen zwischen Staat und Kirchen im Bereich der Katholischen Kirche. In: Listl, Joseph (Hg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland. 2., grundl. neubearb. Aufl., Berlin 1995, S. 197–216, hier 202 f. 16 Wissing, Wilhelm; Höller, Karl R.: Gott tut nichts als fügen. Erinnerungen an ein Leben in bewegter Zeit. Mainz 2001, S. 129 u. 217 f. 17 Wissing: Erinnerungen, S. 128. 18 Damberg, Wilhelm: Heinrich Tenhumberg (1915–1969). In: Aretz, Jürgen; Morsey, Rudolf; Rauscher, Anton (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Münster 1999, S. 135–148, v.a. 145.
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direkt in die Verhandlungen der beiden Anwälte einschalten konnte, beauftragte Prälat Wissing den Berliner Generalvikar Walter Adolph mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe.19 Adolph, eine »Berliner Schnauze mit Herz und Humor« und überzeugter Antikommunist, war 1961 vom Bischof von Berlin und späteren Kardinal Alfred Bengsch zum Generalvikar ernannt worden. Da Bengsch seinen Amtssitz in Ost-Berlin hatte, berief er Adolph zu seinem »ständigen Vertreter« in West-Berlin. Bengsch und Adolph konnten nach dem Mauerbau jedoch nicht mehr ohne Weiteres die Grenze passieren, sodass ihre Kommunikation meist schriftlich oder mündlich über Boten erfolgte. Prälat Johannes Zinke, der Leiter der Caritas-Hauptverwaltung in Ost-Berlin und enger Vertrauter Rechtsanwalt Vogels, versah fortan diese Botendienste.20 Zwischen dem Büro des EKD-Bevollmächtigten und dem Katholischen Büro bestand von Beginn an eine »herzliche Freundschaft«.21 Die »hervorragende Zusammenarbeit«22 in ökumenischer Eintracht in den Verhandlungen über die »Aktion de Redemptionis Captivorum«,23 so die Bezeichnung des Freikaufs auf katholischer Seite, war umso bemerkenswerter, da die Ökumene erst 1960 durch die Gründung des »Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen« institutionalisiert worden war. Am deutlichsten kam das Zusammenspiel im »Doppelkopf« zum Ausdruck, einem gemeinsamen Briefkopf, mit dem die Kirchen ihren Anliegen größeren Nachdruck verliehen, frei nach dem Motto von Kunsts Mitarbeiter Kalinna: »Wenn wir zusammenhalten, verhauen wir das ganze Dorf.«24 Für die reibungslose Zusammenarbeit spielte auch die landsmannschaftliche Verbundenheit eine Rolle, denn Kunst, Wissing und Tenhumberg stammten aus Westfalen und konnten sich »notfalls auf Plattdeutsch unterhalten«.25 Ihr hohes Ansehen und ihre Einmütigkeit verschaffte den beiden Kirchenvertretern in Bonn ein Privileg, das in seiner Bedeutung für die Freikaufsverhandlungen kaum zu überschätzen ist: Sie erhielten kurzfristigen und unmittelbaren Zugang zu den Entscheidungsträgern, sogar zum Bundeskanzler. Die beiden Kirchenvertreter konnten »verhältnismäßig schnell die Spitzen der Ministerien … erreichen und hatten … keine Probleme, Termine zu vereinba19 Memorandum Adolphs v. 24.11.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 199; siehe z. B. Stange an Adolph, 2.3.1965; AEK, Zug. 683, Nr. 341. 20 Hehl, Ulrich von: Walter Adolph (1902–1975). In: Aretz, Jürgen; Morsey, Rudolf; Rauscher, Anton (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Münster 1999, S. 169–181, hier 169, 172 u. 178. 21 Interview mit Hermann E. J. Kalinna v. 25.7.2010. 22 Wissing: Erinnerungen, S. 130 u. 223. 23 Lat. »Aktion zur Befreiung der Gefangenen«, siehe Quellenverzeichnis. 24 Interview mit Hermann E. J. Kalinna v. 25.7.2010; Wissing: Erinnerungen, S. 218. 25 Wissing: Erinnerungen, S. 224.
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ren«.26 Dieser Vorzug, den selbst mancher Bundesminister nicht genoss, verschaffte ihnen einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Kritikern und Gegnern des Freikaufs innerhalb der Bundesregierung (Abb. 10). Die Motivation der Kirchen, sich als Verhandlungsführer und somit als Vermittler zwischen der Bundesregierung und der DDR zur Verfügung zu stellen, war zuvorderst humanitärer Natur. Die Kirchen sahen darin eine christliche Aufgabe, unschuldig Inhaftierten und ihren Familien zur Freiheit zu verhelfen, selbst wenn die Gegenleistungen in die Kassen einer atheistischen Diktatur flossen. Zugleich verstanden sie es als ein nationales, gesamtdeutsches Anliegen, inhaftierten Landsleuten zu helfen und somit die Idee des Fortbestandes einer unteilbaren Nation wach zu halten.27 Besonders im Hinblick auf die EKD blieb die Leitidee der »besonderen Gemeinschaft« mit den evangelischen Gliedkirchen in der DDR bis 1989 lebendig.28 Bis zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Jahr 1969 war die EKD schließlich »die einzige Großorganisation in Deutschland«, die noch »in einem rechtlich geordneten, beide Teile Deutschlands umfassenden Verband lebte und eine Vielzahl gemeinsamer Aufgaben […] wahrnahm«.29 Dadurch hatte das Engagement zugleich einen kirchenpolitischen Aspekt, denn die Kirchen erhofften sich von einer auf Ausgleich bedachten Haltung gegenüber der DDR in den Freikaufsverhandlungen im Gegenzug eine allgemeine »Besserung der kirchlichen Situation« in der DDR.30 Das zweite handlungsleitende Motiv der Kirchen war es, als Dienstleister jegliche »politischen Belastungen« von der Bundesregierung fernzuhalten.31 Schließlich konnte die Bundesregierung dadurch Verhandlungen auf einer politischen Ebene vermeiden. Die Bedenken, die DDR als Verhandlungspartner aufzuwerten, wurden so obsolet. Dabei versuchten die Kirchen, den tiefen Graben zwischen Ost und West zumindest auf menschlicher Ebene zu überwinden.32 Insbesondere Bischof Kunst suchte trotz der unüberbrückbaren politischen Differenzen den persönlichen Kontakt zu Gesprächspartnern aus der DDR. Spätestens seit 1965 traf er sich mit Rechtsanwalt Vogel in Ost26 Ebenda, S. 217; vgl. Vermerk Krautwigs, 23.6.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 254; Wissing an Krautwig und Westrick, 15.9.1965; ebenda, S. 275, Anm. 1. 27 Wissing an Krautwig, 14.12.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 290, Anm. 1; Interview mit Hermann E. J. Kalinna v. 25.7.2010; Wissing: Erinnerungen, S. 141 u. 155. 28 Binder, Heinz-Georg: »Die Beziehungen der EKD zum BEK und ihre Bedeutung für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen«. In: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. 6/1, S. 253–259; vgl. Lepp, Claudia: Tabu der Einheit. Göttingen 2005; Dies.; Nowak, Kurt (Hg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. Göttingen 2001. 29 Kalinna: Verbindungsstellen, S. 183. 30 Vermerk Weicherts, 15.3.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 370. 31 Wissing an Krautwig, 14.12.1965; ebenda, S. 290, Anm. 1. 32 Kunst an G.H., 31.3.1966; EZA, 742/278.
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Berlin33 und führte seit circa 1966 regelmäßig Gespräche mit Hans Ludwig, Oberst des MfS, der von 1958 bis 1969 die für die Überwachung der Kirchen zuständige Abteilung im MfS leitete, eine Abteilung in der Hauptabteilung, der auch Volpert bis 1969 angehörte.34 Zudem betätigte sich Kunst als geschickter Eisbrecher, indem er beispielsweise Rechtsanwalt Vogel und Hansjürgen Schierbaum, den persönlichen Referenten des Staatssekretärs im BMG, gleichzeitig in sein Büro einlud, ohne dass beide von der Einladung des jeweils anderen wussten. Kunst, so Schierbaums Erinnerung, habe beide auf dem »neutralen« Territorium seines Büros mit den Worten miteinander bekannt gemacht: »Sie sehen, das ist auch nur ein Mensch. Nun geben Sie sich erst einmal die Hand!«35 Ein willkommener Nebeneffekt dieser Mittlerdienste bestand für die Kirchen in der Möglichkeit, die von den Gemeinden in der DDR benannten Inhaftierten auf die zentral erstellten Wunschlisten zu setzen oder die Namen direkt über Stange an Vogel weiterzugeben. Beide Anwälte versicherten Kunst, es sei ihnen »eine Selbstverständlichkeit«, Kunsts Wünsche »als besonders eilbedürftig zu behandeln«.36 Indes hatte die Beauftragung der beiden Kirchen mit der Verhandlungsführung auch Nachteile, denn zugleich erweiterte sich der Kreis der Akteure, die am Verhandlungs- und Entscheidungsprozess beteiligt waren. Schließlich musste die Bundesregierung dem von den Kirchen erzielten Verhandlungsergebnis zustimmen, da sie die erforderlichen Haushaltsmittel zur Verfügung stellte. Mitunter divergierten die Auffassung der Kirchen und jene der Bundesregierung, denn für die Kirchen war der humanitäre Gesichtspunkt ausschlaggebend, für die Bundesregierung hingegen spielten politische Überlegungen eine mindestens ebenso große Rolle. Um gegenüber der DDR eine gemeinsame Linie zu vertreten, war daher eine enge Abstimmung vonnöten. In der Praxis stellte sich bald heraus, dass dies teils mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Die DDR verstand es, diese Schwachstelle auszunutzen und durch geschickte Verhandlungsführung die »Auseinandersetzungen unter den beteiligten Stellen [im Westen zu] fördern«.37 Schwerer noch als die Ausdehnung des Kreises der Mitspracheberechtigten wog der Umstand, dass die Kirchen zwar gesamtdeutsche Organisationen waren, dadurch aber eine Angriffsfläche für Erpressungsmanöver der DDR boten. Mehrfach drohte sie offen mit Nachteilen für die Kirchengemeinden in der DDR, wenn die Kirchen bestimmte Forderungen nicht akzeptieren wür33 34 35 36 37
Kunst an Krautwig, 18.6.1966; ebenda. »Bischof im Objekt«. In: Der Spiegel v. 30.5.1994, Nr. 22. Schmidthammer: Vogel, S. 92 f. u. 213. Vogel an Kunst, 11.4.1967; EZA, 742/292. Vermerk Rehlingers, 22.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 455, Anm. 3.
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den. Derart unter Druck gesetzt strebten die Kirchen danach, ein Stocken oder gar den Abbruch der Verhandlungen durch eine nachgiebigere Haltung gegenüber der DDR unter allen Umständen abzuwenden, damit ihre Gemeinden in der DDR nicht »die Zeche« für das Scheitern der Verhandlungen zahlen müssten.38 Während der Großen Koalition in Bonn von 1966 bis 1969 änderte sich eine wichtige Rahmenbedingung, die für die Einschaltung der Kirchen ausschlaggebend gewesen war. Mit dem Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Kiesinger und DDR-Ministerpräsident Stoph im Frühsommer 1967 rückte die Bundesregierung allmählich von ihrem vormaligen Grundsatz ab, nicht mit Amtsträgern der DDR zu verhandeln. Fortan gab es keinen politischen Grund mehr, die Kirchen als Vermittler einzuschalten und mit der unmittelbaren Verhandlungsführung zu beauftragen. In der Praxis bedeutet dies, dass die Kirchen formell zwar weiterhin als Mandatgeber Rechtsanwalt Stanges auftraten und auch die finanziellen Transaktionen weiterhin über den EKDBevollmächtigten und das Diakonische Werk in Stuttgart abgewickelt wurden. Rechtsanwalt Stange erhielt seine Weisungen jedoch fortan unmittelbar vom Gesamtdeutschen Ministerium, dort vom jeweiligen Leiter des zuständigen Fachreferates.39 Die Kirchen akzeptierten diese Veränderung »stillschweigend«, zumal sie ihre Aufgabe als Starthelfer erfüllt hatten.40 Dessen ungeachtet unterrichtete Stange seinen offiziellen Mandatgeber Bischof Kunst und dessen Nachfolger Bischof Heinz-Georg Binder (1977–1992) sowie die Leiter des Katholischen Büros Prälat Wilhelm Wöste (1969–1976) und Prälat Paul Bocklet (1977–2000) weiterhin teils schriftlich, meist jedoch mündlich über den Fortgang der Verhandlungen. Auch setzte sich Stange unverändert mit besonderem Nachdruck für die Inhaftierten ein, die ihm von kirchlicher Seite benannt wurden.41 Die kirchlichen Bemühungen bezogen sich fortan hauptsächlich darauf, in den regierungsinternen Auseinandersetzungen über den Agentenaustausch eine positive Entscheidung zu erwirken, da sich dies automatisch auf den Freikauf auswirkte.42 Außerdem engagierte sich die EKD für Härtefälle, die nicht in die »Besonderen Bemühungen« der Bundesregierung einbezogen wurden, etwa weil es sich um Verkehrsdelikte handelte oder der Betreffende eine kriminelle
38 Vermerk Rittbergs, 8.6.1966; EZA, 742/278; vgl. Vermerk Krautwigs, 23.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 457; Vermerk Rehlingers, 7.11.1967; ebenda, S. 467. 39 Vermerk Rehlingers, 17.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 450; Vermerk Krautwigs, 23.8.1967; ebenda, S. 457. 40 Vermerk Rehlingers, 30.6.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 629 f., Anm. 8. 41 Stange an Rittberg, 9.3.1971; EZA, 742/284; Stange an Kunst, 28.10.1971; ebenda. 42 Siehe ausführlich Kap. III.
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Vorstrafe hatte. Meist gelang es Rechtsanwalt von Wedel, die Betroffenen mit Geld aus einem »Sozialfonds« des Bevollmächtigten über Vogel auszulösen.43
Bundesregierung, Berliner Senat und Westalliierte Das in Art. 65 GG verankerte Ressortprinzip bestimmt, dass jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich »selbständig und unter eigener Verantwortung« leitet. Daher lag die Zuständigkeit für die »Besonderen Bemühungen« beim Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministerium und seinen nachgeordneten Einrichtungen. Begrenzt wurde sie lediglich durch die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Die Bundesministerien der Justiz und der Finanzen sowie der Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und der Militärischer Abschirmdienst (MAD) wurden dann hinzugezogen, wenn sich Zuständigkeiten überschnitten oder die Zusammenarbeit wegen des Sachzusammenhangs notwendig war. Innerhalb der Hierarchie des Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministeriums übernahm das Fachreferat »politische Angelegenheiten Berlins« die neu hinzugekommenen Sachgebiete Häftlingsfreikauf, Familienzusammen- und Kinderrückführung zusätzlich zu seinen sonstigen Aufgaben. Da die Strukturen auch im Westen soweit als möglich geheim bleiben sollten und es noch bis zum Inkrafttreten des Grundlagenvertrages 1973 nicht beabsichtigt war, den Freikauf dauerhaft fortzuführen, blieb es bis Mitte der siebziger Jahre dabei, dass die eigentliche Tätigkeit des »Freikauf-Referates« nicht aus seiner offiziellen Bezeichnung ersichtlich war. Erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erhielt das Referat die Benennung »Besondere Bemühungen«.44 1981 schließlich, als sich die Freikaufspraxis längst etabliert hatte, wurde das gesamte Sachgebiet der Häftlingsbetreuung in eine eigene Unterabteilung für »Humanitäre Aufgaben« mit drei zugehörigen Referaten ausgegliedert. Eines davon trug weiterhin die Bezeichnung »Besondere Bemühungen« und wurde Mitte der achtziger Jahre in zwei Referate »Häftlingsangelegenheiten« und »Familienangelegenheiten« geteilt.45
43 Kunst an Scharf, 22.7.1974; EZA, 742/302; siehe die Fälle in: EZA, 742/300, 302, 304, 307, 308 u. 310. 44 Organisationsplan des BMB, Stand 20.3.1979; AdSD, 1/HSA 00, Mappe 9072. 45 Organisationspläne des BMG/BMB in: AdSD, NL Wehner, BMG, 1/HWAA 00, Mappe 3846 (Stand 1.1.1967); Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989. Stuttgart 1998, S. 674 f. (Stand: 7.12.1982); Hamacher, Heinz Peter: DDR-Forschung und Politikberatung 1949–1990. Ein Wissenschaftszweig zwischen Selbstbehauptung und Anpassungszwang. Köln 1991, S. 148 f. (Stand 17.4.1989).
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Verwaltungstechnisch war das »Freikauf-Referat« der in Berlin ansässigen Abteilung des Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministeriums zugeordnet und räumlich im Bundeshaus Berlin in der Bundesallee untergebracht. Der wilhelminische Backsteinbau, einen Kilometer südlich des Bahnhofs Zoologischer Garten gelegen, beherbergte die Berliner Vertretungen mehrerer Bundesministerien. Mit der Zunahme der Zahl an Freikäufen und Familienzusammenführungen wuchs auch das Referat. Zu dem anfangs dreiköpfigen Mitarbeiterstab kamen 1969 drei weitere Angestellte hinzu.46 1987 schließlich waren allein im Unterbereich »Häftlinge« mindestens vier Mitarbeiter tätig.47 Mit dem allmählichen Rückzug der beiden Kirchen auf eine begleitende Rolle in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wuchs die Bedeutung des Referates. Fortan bestand seine Aufgabe nicht mehr nur in der Koordinierung, sondern der unmittelbaren Verhandlungsführung.48 Dementsprechend führte der Referatsleiter die Grundakten mit den Sachstandsberichten und Entscheidungsvorlagen für die Ministeriumsspitze; Papiere, die sämtlich als »Geheim« oder »Vertraulich« eingestuft waren und im Panzerschrank im Vorzimmer des Referatsleiters verwahrt wurden. Schließlich hätte das Bekanntwerden ihres Inhaltes den Interessen der Bundesrepublik Schaden zufügen, schlimmstenfalls den Abbruch der Verhandlungen durch die DDR provozieren können.49 Ferner korrespondierten die Mitarbeiter des Referates mit den Angehörigen der Inhaftierten und Ausreisewilligen, was manch »seelisch sehr bedrückende Gespräche« mit sich brachte.50 Außerdem stellten sie die namentlichen Wunschlisten zusammen, die an die DDR übergeben wurden und fertigten die Abrechnungen sowie »Transportanalysen« mit der inhaltlichen Auswertung der Häftlingstransporte an. Dem Referatsleiter oblag zudem die Aufgabe, Rechtsanwalt Stange für die Verhandlungen mit Rechtsanwalt Vogel zu instruieren.51 In den rund 25 Jahren seines Bestehens leiteten drei Verwaltungsjuristen das »Freikauf-Referat«, die aufgrund ihrer Fachkompetenz, Verschwiegenheit und Integrität für einen weitgehend geräuschlosen und effizienten Arbeitsablauf sorgten. Der erste Referatsleiter, Ludwig A. Rehlinger (1963–1969) (Abb. 6 und 23), wurde am 23. September 1927 als Ludwig Schulz in Berlin geboren, geriet als »Schülersoldat« und kurzem Kriegseinsatz in britische Gefangen-
46 Vermerk Rehlingers, 30.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 627; Vermerk Reichenbachs, 2.6.1969; DRK, Archiv Suchdienst München, H 1047. 47 Siehe den Verteiler auf der Vorlage Plewas für Rehlinger, 5.11.1987; BArch-B, B 137/36066. 48 Vermerk Rehlingers, 17.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 450. 49 Interview mit Jan Hoesch v. 22.5.2008. 50 Rehlinger: Freikauf, S. 87. 51 Interview mit Jan Hoesch v. 22.5.2008.
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schaft.52 Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft und dem Abitur studierte er seit 1947 Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft an der HumboldtUniversität in Ost-Berlin und erlebte dort den Terror des SED-Regimes, als Kommilitonen, die sich für eine freiheitliche Demokratie engagiert hatten, plötzlich »spurlos verschwanden«.53 Nach dem Examen und Referendariat legte Rehlinger 1952 den »Allerweltsnamen« Schulz ab und nahm den »eher unverwechselbaren« Familiennamen seiner Großmutter an.54 1957 trat Rehlinger in die Berliner Abteilung des Gesamtdeutschen Ministeriums ein, wurde zunächst Referent im politischen Referat, danach Barzels Büroleiter und seit 1963 schließlich Leiter des politischen Referates, das für die »Besonderen Bemühungen« zuständig war. 1969 von Herbert Wehner zum Präsidenten des neu gegründeten »Gesamtdeutschen Instituts« ernannt, diente er kurzzeitig Rainer Barzel als Bürochef, schied jedoch 1973 aus der Ministerialbürokratie aus.55 Ein politisches Comeback gelang ihm mit dem Regierungswechsel im Herbst 1982. Rainer Barzel, von Helmut Kohl zum Innerdeutschen Minister berufen, holte Rehlinger als beamteten Staatssekretär ins Ministerium, das er im Mai 1988 mit dem Wechsel in das Amt des Berliner Justizsenators verließ.56 Rehlinger verkörpert den Prototyp des preußisch-pflichtbewussten, loyalen und verschwiegenen Beamten, indes gänzlich ohne dessen »sprichwörtliche Steifheit und Förmlichkeit«.57 Im persönlichen Umgang von »gleichbleibender Freundlichkeit«,58 selbst gegenüber den »hartgesottenen Genossen«59 in OstBerlin, lag ihm schulterklopfende Kameraderie dabei jedoch fern. Vielmehr verstand er es, die notwendige Zähigkeit und Härte zur Durchsetzung der eigenen Ziele in die Verhandlungen einzubringen. Das Ziel der Wiedervereinigung blieb für ihn dabei nicht nur ein Lippenbekenntnis. Exemplarisch mag eine Äußerung aus dem Jahr 1988 stehen: »Realitäten muß man nehmen, wie sie sind. Aber es ist Aufgabe der Politik, dazu beizutragen, daß es morgen andere Realitäten gibt. Ich bin fest davon überzeugt, daß die 52 Vgl. Bude, Heinz: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation. Frankfurt/M. 1987. 53 Rehlinger: Freikauf, S. 20; Internationales Biographisches Archiv 40/1991 vom 23. September 1991 (lm). 54 »Fast nichts bleibt vertraulich …«. In: Der Tagesspiegel v. 4.6.1988. 55 Internationales Biographisches Archiv 40/1991, 23. September 1991 (lm); Rehlinger: Freikauf. 56 Ebenda. 57 Stoltenberg, Jochim: »Im Blickpunkt: Bonns Unterhändler Rehlinger. Der Mann mit dem Koffer«. In: Hamburger Abendblatt v. 7.7.1984. 58 Graf Nayhauß, Meinhardt: »Kohls Mann für drüben: Häftlinge in U-Bahn freigekauft«. In: Bild v. 29.11.1984. 59 Interview mit Hermann E. J. Kalinna v. 25.7.2010.
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Geschichte ein einheitliches Deutschland bringen wird, in welcher Form auch immer, eingebettet in die Wertegemeinschaft des Westens.«60
Auf Ludwig A. Rehlinger folgte im Jahr 1969 Jan Hoesch (Abb. 11). 1932 in Hagen geboren und aufgewachsen, hatte er in Heidelberg und München Rechtswissenschaften studiert und war 1964 in das Gesamtdeutsche Ministerium eingetreten. Als persönlicher Referent des Staatssekretärs war er bereits 1964 mit dem Häftlingsfreikauf in Berührung gekommen.61 1969 betraute ihn Wehner zusammen mit seinem bisherigen vorgesetzten Abteilungsleiter Hermann Kreutzer (SPD) mit dem Fachgebiet der »Besonderen Bemühungen«.62 Hoesch, parteilos, verstand es wie sein Vorgänger, durch zähe Beharrlichkeit, Sorgfalt und Verlässlichkeit die Weisungen Wehners und seines Nachfolgers Egon Franke (SPD) umzusetzen. Nach knapp fünf Jahren wechselte Hoesch 1974 in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und übernahm die Rechtsabteilung der neu gegründeten Einrichtung. Mit Hoeschs Wechsel in die Ständige Vertretung rückte sein bisheriger Mitarbeiter Klaus Plewa (SPD) in die Position des Referatsleiters. Vor seinem Eintritt als Regierungsassessor in das »Freikauf-Referat« im Jahr 1972 war Plewa in der Senatskanzlei Berlin tätig gewesen und hatte sich schon dort mit humanitären Fragen befasst.63 1981 stieg er im Zuge der Gründung der Unterabteilung »Humanitäre Fragen« zum Unterabteilungsleiter auf. Im persönlichen Umgang eher distanziert64 erwies er sich als »sehr gewissenhafter Beamter, der peinlich genau darauf achtete, daß die Abreden mit der DDR strikt eingehalten wurden«.65 Die hervorgehobene Position des Referates in der Hierarchie des Ministeriums beruhte nicht nur darauf, dass es über Mittel im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich entschied, sondern auch auf der unmittelbaren Anbindung an die Ministeriumsspitze. Seine Berichte gingen direkt an den Minister und den beamteten Staatssekretär, die sich den Vorgang als »Chefsache« zur persönlichen Entscheidung vorbehielten und die Referatsleiter regelmäßig zum mündlichen Vortrag einbestellten.66 Alle anderen Abteilungen waren von diesem Informationsfluss ausgeschlossen. Einzig Bundesminister Egon Franke (SPD) wich von dieser straffen Organisationsstruktur ab, als er seit Mitte der siebziger Jahre dem Leiter seines Ministerbüros, Edgar Hirt, mehr und mehr 60 Nawrocki, Joachim: »Geduldig an den Problemen dröseln«. In: Die Zeit v. 15.7.1988. 61 Vermerk Hoeschs, 9.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 153 f. 62 Interview mit Jan Hoesch, 22.5.2008. 63 Vermerk über das Gespräch Kunze/Stange/Plewa am 1.11.1971, LArchB, B Rep. 002, Nr. 15779. 64 Interview mit Heinz Dörr, 30.12.2009. 65 Rehlinger: Freikauf, S. 86. 66 Interview mit Jan Hoesch, 22.5.2008.
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die alleinige Zuständigkeit für die Verhandlungsführung überließ. Hirt entschied fortan in eigener Regie, ohne Staatssekretär Dietrich Spangenberg (SPD, 1977–1982) und den Leiter des Fachreferates zu konsultieren und sie über Vereinbarungen mit den Anwälten zu unterrichten. Möglich war dies nur, weil Franke seinem Staatssekretär Spangenberg die Zuständigkeit für die »Besonderen Bemühungen« von Beginn an entzogen hatte, eine »unmögliche Situation«, da sie Hirt außerhalb der Dienst- und Fachaufsicht des obersten Verwaltungsbeamten des Ministeriums stellte.67 Nach dem Regierungswechsel 1982 stellte sich heraus, dass Hirt seine Sonderstellung zur Veruntreuung von rund 5 Millionen DM missbraucht hatte.68 Der neue Staatssekretär Rehlinger stellte daher den hergebrachten Instanzenzug unverzüglich wieder her. Besonders eng arbeitete das »Freikauf-Referat« mit der Rechtsschutzstelle zusammen, die seit Anfang der fünfziger Jahre im Auftrag des Gesamtdeutschen Ministeriums den Rechtsschutz für politische Häftlinge in der DDR organisierte. Die Büroräume der Anwaltskanzlei lagen keine 800 Meter vom Bundeshaus entfernt in der Uhlandstraße/Ecke Hohenzollerndamm. Nach dem altersbedingten Abschied des langjährigen Leiters, Rechtsanwalt Alfred Musiolik, übernahm sein Mitarbeiter, Rechtsanwalt Wolf-Egbert Näumann, gemeinsam mit Rechtsanwalt Ülo Salm zum 1. Januar 1972 die Kanzlei.69 Ihre Tätigkeit, alle verfügbaren Informationen über politisch Inhaftierte in der DDR in einer zentralen Kartei zu sammeln, DDR-Anwälte mit der Strafverteidigung zu beauftragen sowie Angehörige und Bekannte der Inhaftierten unentgeltlich über den Fortgang des Verfahrens zu informieren und zu beraten, stellte auch weiterhin die Hauptaufgabe der Kanzlei dar.70 Bis Anfang der siebziger Jahre hatte die Rechtsschutzstelle zeitweise über 140 Anwälte aus der DDR unter Vertrag, ein knappes Viertel der gesamten DDRRechtsanwaltschaft.71 Mit dem Beginn und der allmählichen Verstetigung der »Häftlingsaktionen« seit 1963/64 gewann die Informationssammlung und -auswertung mehr und mehr an Bedeutung, da sie die Entscheidungsgrundlage für die Einbeziehung oder den Ausschluss Inhaftierter von den Freikaufsverhandlungen bildete. Letzteres war besonders dann der Fall, wenn die Ermittlungen der Anwälte »negative Gesichtspunkte« wie beispielsweise Vorstrafen gewöhnlicher Krimi67 Rehlinger: Freikauf, S. 85 f. 68 Vgl. Kap. IV.2. 69 Näumann und Salm an das DRK, März 1972; Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1047. 70 Siehe z. B. Merkblatt der Kanzlei Näumann und Salm, o. D.; BStU, MfS, HA IX, Nr. 502, Bd. 1, Bl. 229–231. 71 Busse, Felix: Deutsche Anwälte. Geschichte der deutschen Anwaltschaft 1945–2009. Entwicklungen in West und Ost. Berlin 2010, S. 479.
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nalität ergaben.72 Neu hinzu kam die Aufgabe, das Ministerium bei der Zusammenstellung der Wunschlisten mit den Namen der angeforderten politischen Häftlinge zu unterstützen, die das Ministerium über Stange an Vogel weiterleitete. Außerdem befragten die Anwälte die in den Westen entlassenen Häftlinge im Notaufnahmelager in Gießen über ihre persönlichen Daten, die Gründe für die Inhaftierung und den Verlauf der Haft sowie über die Schicksale zurückgebliebener Haftkameraden. Die so gewonnenen Erkenntnisse nutzten die Anwälte, um ihre Kartei zu aktualisieren und die Informationen dem Ministerium zur Verfügung zu stellen.73 Für ihre Tätigkeit erhielten sie eine jährliche Pauschale aus dem Haushalt des BMB. Die Kosten für Personalund Sachausgaben des Büros mit zehn Mitarbeitern stiegen im Laufe der Jahre stetig an, 1971 lagen sie bei knapp 320 000 DM jährlich.74 Das Gesamt- bzw. Innerdeutsche Ministerium arbeitete ferner mit zwei weiteren Ressorts der Bundesregierung zusammen. Da die Gelder für die »Besonderen Bemühungen« bis 1984 nicht aus seinem eigenen Haushalt stammten, sondern vom Bundesfinanzministerium überplanmäßig zur Verfügung gestellt wurden, war vor dem Beginn der Verhandlungen eine Genehmigung des Bundesfinanzministers zur Bereitstellung der voraussichtlich benötigten Summe einzuholen.75 Nach Abschluss der »Sonderaktionen« am Ende des jeweiligen Rechnungsjahres musste die Abrechnung erstellt und ein gegebenenfalls angefallener Fehlbetrag nachgeschossen werden. Zähe Auseinandersetzungen über die Mittelzuteilung, wie sie zwischen dem Finanzministerium und den Ressorts ansonsten üblich sind, gab es indes »zu keiner Zeit«.76 Demgegenüber gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Bundesjustizministerium weitaus schwieriger. Wie der Fall Hofé gezeigt hatte, knüpfte die DDR den Freikauf an die Bedingung, dass auch einige ihrer im Westen inhaftierten Agenten freikommen müssten. In der Regel handelte es sich dabei um IM der Auslandsspionage des MfS oder der Geheimdienste anderer sozialistischer Staaten. Die Freilassung eines Häftlings, der in einem rechtsstaatlichen Verfahren verurteilt worden war, konnte in der Bundesrepublik jedoch nur durch einen Gnadenerweis der zuständigen Gnadeninstanzen erfolgen. Eine 72 Vermerk Näumann und Salm, 15.8.1972; BArch-K, B 137/15727. 73 Zu den Verfahrensdetails siehe Völkel, Claudia: Die Besonderen Bemühungen der Bundesregierung um Haftentlassung und Übersiedlung aus der DDR. Aus der Überlieferung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (B 137). Teil 1. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 16 (2008) 1, S. 39–51; ferner Vermerk Hoeschs, 27.9.1971; BArch-K, B 137/9948; Vertrag BMBNäumann/Salm, 15.3.1972; ebenda. 74 Fernschreiben Ref. III/2 an Ref. I/11 v. 28.2.1972; BArch-K, B 137/9948. 75 Brief v. 8.7.1995, Verfahren der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel wegen Erpressung; 2 Js 353/91, Bd. 90c, Bl. 113. 76 Rehlinger: Freikauf, S. 52.
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Entlassung noch vor der Verurteilung ließ sich sogar nur über die Feststellung eines »übergesetzlichen Notstandes« erwirken. Die Federführung in Begnadigungsverfahren oblag dabei dem Bundesjustizministerium. Zwischen dem Gesamtdeutschen und dem Justizministerium brach dabei ein Grundsatzkonflikt auf: Während das Justizressort rechtsstaatliche und rechtspolitische Einwände, beispielsweise eine absehbare Verminderung des Abschreckungseffektes, gegen die Entlassungswünsche der DDR geltend machte, wies das Gesamtdeutsche Ministerium auf den humanitären Aspekt hin, dass auf diese Weise zahlreichen unschuldig Inhaftierten zur Freiheit verholfen werden könne. Zwischen beiden Ressorts entbrannten regelmäßig Streitigkeiten, die nur »in umständlichen Konsultationsprozessen« und teils sogar erst nach Intervention der Ressortchefs oder sogar des Bundeskanzlers beigelegt werden konnten. Erst als der Bundestag 1968 den § 153 c in die Strafprozessordnung einfügte, wurde es wesentlich einfacher, ein Ermittlungsverfahren noch vor der Hauptverhandlung einzustellen, insofern »überwiegend öffentliche Interessen« dafür sprachen. Beide Ministerien einigten sich Ende 1969 schließlich auf ein regelmäßiges Konsultationsverfahren auf Ebene der Fachreferenten.77 Ziel der Absprache war es, der DDR keine Gelegenheit zu geben, beide Ministerien mit der Drohung einer Einstellung des Freikaufs gegeneinander auszuspielen und den Streit zu ihrem Vorteil auszunutzen. Ferner stand das »Freikauf-Referat« mit den drei Geheimdiensten der Bundesrepublik, dem Bundesnachrichtendienst (BND), dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) in Verbindung. Grundsätzlich brachten die Dienste ihre Wünsche jedoch über den zuständigen Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt in die Verhandlungen mit ein.78 Vor allem erhielt das Referat die Listen mit den Namen der enttarnten und inhaftierten V-Leute der Dienste, die es auf die Häftlingslisten setzte. Spätestens Mitte der siebziger Jahre gab es eine ständig aktualisierte »Dringlichkeitsliste« des BND, auf der die erledigten Fälle gestrichen und neue nachgetragen wurden.79 Parallel zum »Freikauf-Referat« in der Berliner Abteilung des Gesamtdeutschen Ministeriums und der »Rechtsschutzstelle« bemühte sich auch der Berliner Senat um die politischen Häftlinge in der DDR. Wie im Kapitel über die Entstehung des Freikaufs geschildert, waren der Regierende Bürgermeister Willy Brandt und der Chef der Senatskanzlei, Dietrich Spangenberg, möglicherweise sogar die ersten Amtsträger gewesen, die politisch Inhaftierte durch Vermittlung der beiden Anwälte Stange und Vogel freikauften. Die fachliche 77 78 79
Vermerk Hoeschs, 20.11.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 680–683. Hans-Georg Wieck (Präsident des BND von 1985 bis 1990) an den Verfasser, 19.4.2010. Hirt an Wehner, 29.11.1978; HGWS, HF 66.
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Zuständigkeit innerhalb der Senatsverwaltung lag dabei beim Büro für Gesamtberliner Fragen/Gesamtberliner Büro. 1951 durch Beschluss des Abgeordnetenhauses gegründet war es bis 1963 direkt dem Regierenden Bürgermeister, danach der Arbeitsgruppe B des Senates unterstellt und entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer Art »Zentralstelle« für fast alle Probleme der geteilten Stadt. Als Pendant des BMG auf Berliner Ebene umfasste sein Aufgabengebiet auch die Betreuung politisch Repressierter sowie die Auszahlung finanzieller Hilfen an Betroffene und Angehörige.80 Zu diesem Zweck führte das Büro eine Kartei über politisch Inhaftierte in der DDR, beschränkt auf die Berliner Fälle.81 Für die Durchführung seiner Arbeit standen dem Büro jährlich Mittel von circa einer Million DM zur Verfügung. 1959 übernahm Johannes Völckers (*1924, †2002) die Leitung (Abb. 12). Wie Senatschef Spangenberg hatte er an der Freien Universität studiert und war über die SPD zur Senatsverwaltung gekommen.82 Seit Herbert Wehners Amtsantritt 1966 versuchte der SPD-geführte Senat, über den neuen Minister Einfluss auf die Verhandlungen über den Häftlingsfreikauf zu nehmen. Nach Auffassung des Senats waren die bisherigen Verhandlungsführer im Ministerium noch den Denkkategorien der fünfziger Jahre verhaftet. In den darauf folgenden harten Auseinandersetzungen zwischen dem Senat und dem Gesamtdeutschen Ministerium wurde deutlich, dass im Interesse einer einheitlichen Haltung gegenüber der DDR dringend eine enge Koordinierung der Aktivitäten aller drei Beteiligten – Kirchen, Bundesregierung und Senat – geboten war. Fortan stimmten sich die Kirchen, das Gesamtberliner Büro im Rathaus Schöneberg und das »Freikauf-Referat« enger über das gemeinsame Vorgehen ab.83 In Einzelfällen beauftragte Völckers jedoch noch bis 1970 die beiden Anwälte damit, politische Häftlinge gegen Barzahlungen aus der Haft zu holen, ohne die Bundesregierung davon zu informieren.84 Ende 1970 trat der Senat seine Zuständigkeit für Inhaftierte, Anfang der achtziger Jahre auch jene für die Familienzusammen- und Kinder-
80 Lemke, Michael: Vor der Mauer. Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961. Köln 2011, S. 107–113; Kunze, Gerhard: Grenzerfahrungen. Kontakte und Verhandlungen zwischen dem Land Berlin und der DDR 1949–1989. Berlin 1999, S. 19 u. 104. 81 Betreuungskartei Politische Häftlinge; LArchB, B Rep. 002 (Karteien), Nr. 8–9; Interview mit Gerhard Kunze v. 13.11.2009. 82 Geb. 1924, Nachruf Johannes Völckers. In: Der Tagesspiegel v. 24.5.2002. 83 Vermerk Rehlingers, 27.1.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 367, Anm. 6; vgl. Kap. III.2. 84 Siehe z. B. den Fall der beiden Hamburger Abiturienten aus dem Jahr 1967 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13662, Bl. 36 sowie die Fälle in: LArchB, B Rep. 002, Nr. 11785 u. 11787.
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rückführung an die Bundesregierung ab, womit die behördliche Zweigleisigkeit endgültig beseitigt war.85 Eine offene Frage ist, wie weit die drei West-Alliierten, insbesondere die US-amerikanischen Verbündeten, über die Vorgänge informiert und in sie einbezogen waren. Laut einem Vermerk Volperts konsultierte die Bundesregierung vor Beginn der Verhandlungen Washington, London und Paris, die »keinerlei Bedenken […] angemeldet« hätten.86 Tatsächlich gab es zumindest immer dann eine Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und westalliierten Dienststellen, sobald über Häftlinge verhandelt wurde, die für westliche Geheimdienste gearbeitet hatten.87 Trotzdem blieb der Berliner CIAStützpunkt darauf bedacht, seine Informationen über das Freikaufsprogramm nicht nur aus offiziellen Auskünften, sondern auch mittels einschlägiger Methoden geheimdienstlicher Informationsbeschaffung zu gewinnen. Manche Politiker in Washington registrierten argwöhnisch, dass die Westdeutschen bereit waren, den Bedürfnissen und Wünschen der Ostdeutschen allmählich entgegenzukommen, was eine Überwachung der eigenen Partner gerechtfertigt erscheinen ließ.88
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Die Rechtsanwälte
Jan Hoesch, der von 1969 bis 1974 das »Freikauf-Referat« im Innerdeutschen Ministerium leitete, merkte aus der Rückschau des Jahres 1975 mit spürbar kritischem Unterton an, die Anwaltskontakte seien als »Notbehelf« zu einer Zeit entstanden, »in der es amtliche Beziehungen nicht gab«.89 Die Konstruktion habe es einerseits zwar ermöglicht, unterhalb der Schwelle politischer Kontakte mit der »Zone« zu verhandeln, andererseits jedoch dazu geführt, dass die zwischen den Anwälten getroffenen Absprachen »zumeist vage, häufig unzulänglich belegbar und jederzeit widerrufbar« seien.90 Hoeschs Vorgänger Ludwig Rehlinger vermerkte kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Ministerium 1969, dass ein »behördlicher Apparat« allein aufgrund »der vielfältigen 85 Vermerk über die Besprechung Hoesch – Kunze, 8.12.1970; LArchB, B Rep. 002, Nr. 15779; Interview mit Gerhard Kunze v. 13.11.2009. 86 Op. Inf. Volperts, 27.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 20. 87 Siehe Einleitung. 88 Shackley: Spymaster, S. 101: »Also on the list was the Berlin office of the All-German Affairs Ministry. We blanketed these targets with sources both human and technical … [and] we did stay abreast of the scope and direction of the ransom payments […]. Washington policy makers therefore experienced no surprises on these issues«. 89 Vermerk Hoeschs, o. D. [1975] DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 51, S. 201. 90 Ebenda.
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technischen Probleme« die bessere Alternative zur Zwischenschaltung von zwei Anwälten gewesen wäre.91 Der Preis für die Distanz zur DDR und Aufrechterhaltung der Nichtanerkennungsdoktrin war demnach der höhere Grad an Unverbindlichkeit, der diesem informellen Modell zwangsläufig innewohnte. Hinzu kam eine Skepsis der Bundesregierung gegenüber den beiden Anwälten. Sie bezog sich sowohl auf Wolfgang Vogel, dessen Mandatierung allerdings von DDR-Seite erfolgte und somit dem westlichen Einfluss entzogen war, noch mehr jedoch auf seinen Westberliner Partner Jürgen Stange.
Jürgen Stange (West) Bereits Ende 1964 hatte die Bundesregierung darauf gedrängt, Stange durch Rechtsanwalt Diether Posser zu ersetzen. Vogel lehnte diese Forderung jedoch mit dem Hinweis ab, dass er ausschließlich mit Stange verhandeln werde.92 Notgedrungen akzeptierte die Bundesregierung diese Forderung, um nicht den Anwaltskontakt als Ganzes aufs Spiel zu setzen.93 Zugleich bedeutete dies, dass auch Reymar von Wedel, der Anwalt der Evangelischen Kirche, als Vermittler ausschied. Staatssekretär Krautwig hatte Bischof Kunst dazu gedrängt, auf von Wedels Beteiligung künftig zu verzichten.94 Kunst teilte von Wedel Anfang 1965 mit, er sehe leider »keine Möglichkeit« mehr, ihn »offiziell in die Schiene einzuschalten«95 und bedauerte, dass von Wedel sich vorkommen müsse, als stünde er »neben der ganzen Aktion«, obwohl er sie mit aus der Taufe gehoben hatte.96 Jürgen Stange (*1928, †2001) (Abb. 13), dem Bischof Kunst und Prälat Wissing Ende 1964 das Verhandlungsmandat übertrugen, war am 24. Juli 1928 in Landsberg/Warthe in der Nähe von Küstrin zur Welt gekommen und entstammte einer alten brandenburgisch-pommerschen Familie. Wie Rehlinger gehörte er der Generation der »Schülersoldaten« an und war kurz vor Kriegsende in britische Gefangenschaft geraten. Nach der Entlassung holte er in Braunschweig das Abitur nach und studierte zunächst Volkswirtschaft, danach Rechtswissenschaft. Das Referendariat absolvierte Stange in Braunschweig und Berlin, wo er zeitweise als Staatsanwalt in der politischen Abteilung am Kammergericht tätig war.97 Nach einer kurzzeitigen Anstellung beim 91 92 93 94 95 96 97
Vermerk Rehlingers, 30.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 625. Siehe Kap. I.3. Vermerk Rehlingers, 30.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 626. Vermerk Kunzes, 15.3.1965; LArchB, B Rep. 002, Nr. 12150, Bl. 164. Kunst an von Wedel, 8.4.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 231, Anm. 3. Kunst an von Wedel, 27.3.1965, ebenda, S. 231; vgl. Wedel: Kirchenanwalt, S. 65 f. PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133: Zeuge Jürgen Stange, S. 180.
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Deutschen Studentenwerk ließ er sich im Herbst 1961 als freier Anwalt in West-Berlin nieder. Der Journalist Jürgen Engert beschrieb Stange 1967 mit den Worten: »Herz auf der Zunge, nüchternes Temperament, gestenreich in der dialektgefärbten Rede, begabt mit Mutterwitz, Distanzen schnell überspringend«.98 Stange blieb bis Mitte der siebziger Jahre freier Anwalt, der nur durch die mündliche Vollmacht beider Kirchenvertreter und des Berliner Senates für die Verhandlungen legitimiert war. Eine Berichtspflicht bestand seit Ende 1964 nur gegenüber den Kirchen.99 Das Gesamtdeutsche Ministerium blieb auf »private Informationen« Stanges angewiesen, obwohl es die Hilfsmaßnahme finanzierte.100 Erst mit dem schrittweisen Rückzug der Kirchen aus der Rolle der unmittelbaren Verhandlungsführer wurde Stange 1968 dazu verpflichtet, die Verhandlungen mit dem Leiter des »Freikauf-Referates« zu führen und Weisungen von ihm entgegenzunehmen, während die Kirchen gegenüber der DDR formell weiterhin als Auftraggeber in Erscheinung traten.101 Nach dem Regierungswechsel 1969 und dem Amtsantritt Egon Frankes (SPD) zog das Innerdeutsche Ministerium eine Neuregelung des Mandatsverhältnisses in Betracht. Bischof Kunst erklärte sich bereit, einen förmlichen Vertrag mit Stange zu schließen.102 Da die von Franke angeordnete Prüfung jedoch ergab, dass sich die bisherige Regelung in der Vergangenheit »praktisch bewährt« hatte, wurde die Idee zu den Akten gelegt.103 Erst 1975 bzw. 1976 schlossen der Berliner Senat und das Innerdeutsche Ministerium förmliche (Arbeits-)Verträge mit Stange.104 Stanges Büro, das er sich zunächst mit einem Kollegen teilte, befand sich bis 1969 in der Schlüterstraße/Ecke Kurfürstendamm, danach in der Bundesallee, beide nur wenige Minuten Fußweg vom Bundeshaus Berlin entfernt. Da er anfangs sämtliche Büro- und Schreibarbeiten selbst erledigen oder auf die Hilfskräfte seines Kollegen zurückgreifen musste, gewährte ihm das Gesamtdeutsche Ministerium seit Mitte 1967 einen Zuschuss, aus dem er einen Bürovorsteher und eine Schreibkraft einstellen konnte.105 Bis zum Abschluss der 98 Engert, Jürgen: Anwalt zwischen den Fronten. Jürgen Stange hilft politischen Gefangenen. In: Christ und Welt v. 14.2.1967; vgl. Wedel: Kirchenanwalt, S. 45. 99 Z. B. Stange an Kunst, 12.4.1965 u. 7.5.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 232 u. 235–237. 100 Vermerk von Zahns, 27.10.1967; ebenda, S. 464. 101 Vermerk Rehlingers, 17.8.1967; ebenda, S. 450. 102 Rittberg an Hoesch, 10.2.1970; EZA, 742/284. 103 Hoesch an Rittberg, 19.3.1970; EZA, 742/282. 104 Zeugenvernehmung v. 22.7.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel wegen Erpressung; 2 Js 353/91, Bd. 24, Bl. 72 f.; LArchB, B Rep. 002, Nr. 15782; LArchB, B Rep. 091, Rechnungshof von Berlin, Nr. 10. 105 Vermerk Rehlingers, 19.1.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 363 f.; Stange an Rittberg, 23.3.1967; EZA, 742/280; Anlage 5 zum Brief Stange an Rehlinger und Kunst, 15. bzw. 20.6.1967;
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Verträge mit dem Senat und dem BMB 1975/76 erhielt Stange ein Honorar, das in Abschlägen ausgezahlt und zum Jahresende abgerechnet wurde. Wegen »des besonderen Charakters« seiner Tätigkeit gab es keine »exakte Bemessungsgrundlage« für die Höhe der Vergütung,106 sodass das Ministerium die Summe entsprechend seiner »zeitlichen Inanspruchnahme« durch das Mandat festlegte. Mit der allmählichen Verstetigung der humanitären Bemühungen wurde es mehr und mehr zu Stanges einziger Einnahmequelle, brachte ihn zugleich in die wirtschaftliche Abhängigkeit von dieser Tätigkeit. Von 1964 bis 1969 erhielt er insgesamt knapp 1,5 Millionen DM außer den Unkosten, wovon er die Hälfte an Rechtsanwalt Vogel abtrat und zudem die Personalsowie Sachkosten seines Büros begleichen musste.107 Die 1975/76 mit dem Senat und dem Innerdeutschen Ministerium geschlossenen Verträge sprachen ihm schließlich eine jährliche Pauschalvergütung zu.108 Zweifellos verdankte Stange seine Rolle als Unterhändler der Westseite hauptsächlich dem Umstand, dass sich Vogel und seine Mandatgeber auf ihn als einzigen Verhandlungspartner festgelegt hatten, nicht zuletzt deshalb, weil das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen den beiden Anwälten nicht zu übersehen war. »Vogel war der Klügere, der Geschicktere, und auch der Mann mit der besseren Selbstkontrolle. Stange war der Weichere, der weniger Intelligente und auch nicht so gut selbst Kontrollierte wie Vogel«, erinnert sich Jan Hoesch.109 Tatsächlich nahm es Stange mit der Pflicht zur Verschwiegenheit offenbar nicht immer genau, was der Verhandlungsposition seiner Auftraggeber kaum zuträglich gewesen sein dürfte.110 Das bezog sich nicht nur auf seine Vertrauensseligkeit gegenüber Vogel, sondern auch gegenüber dem Verfassungsschutz. Angeblich wurde Stange vom Kölner Bundesamt als Informant unter dem Decknamen »Straubing« geführt und überließ dem Amt gegen Geld Kopien seines Schriftwechsels; Vogel sei unter dem Decknamen »Fürst« abgeschöpft worden.111 Dies in Verbindung mit einer fortschreitenden Alkoholkrankheit brachten Stange gegen Ende der sechziger Jahre den Vorwurf seitens der Bundesregieebenda; Vermerk Ohlsens über eine Besprechung mit Stange, 17.11.1964; DRK, Suchdienst München, H 1535. 106 Vermerk Rehlingers, 11.6.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 629. 107 Vermerk Hoeschs, 12.12.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 690. 108 LArchB, B Rep. 091, Rechnungshof von Berlin, Nr. 10. Genaue Höhe nicht ermittelt. 109 Interview mit Jan Hoesch am 22.5.2008. 110 Horster: Trade, S. 409. Volpert notierte im Herbst 1963, Stange habe »durch vielerlei Dinge bewiesen […], daß er dem GM [Vogel] gegenüber großes Vertrauen hat und dort Dinge aussagt, die er wahrscheinlich nicht sagen dürfte«; Treffbericht Volperts, 12.10.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 72. 111 So Wolfgang Vogel im Interview mit Felix Busse am 12./13.9.2007, S. 31, Archiv des Deutschen Anwaltvereins.
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rung und der Kirchen ein, er verhandle »nicht hart genug« mit der Gegenseite und gebe ihren Forderungen voreilig nach.112 Insbesondere der Staatssekretär im Gesamtdeutschen Ministerium, Carl Krautwig, machte keinen Hehl daraus, dass er Stange und Vogel misstraute. In einem Beschwerdebrief an seinen Amtsnachfolger Günter Wetzel warf er ihnen 1968 sogar vor, ihre »Praktiken« seien »mit dem Standesrecht der Anwaltschaft nicht vereinbar«.113 Gemeint waren damit wahrscheinlich »Barfälle«, d. h. Freikäufe durch Barzahlungen Angehöriger, Geschäfte, die die Anwälte angeblich hinter dem Rücken der Bundesregierung tätigen würden. Rehlinger hatte stets versucht, derartige Nebengeschäfte zu verhindern, denn »reiche« Häftlinge würden dadurch bevorzugt, das »Preisgefüge« könne »ins Rutschen« kommen und schließlich könne es die Betroffenen in den finanziellen Ruin treiben.114 Da sich die Vorwürfe jedoch nicht erhärten ließen, hielt der neue Gesamtdeutsche Minister Herbert Wehner an Stange fest, der nach seiner Auffassung gute Arbeit leistete. Was in der Vergangenheit »gut und zweckmäßig« funktioniert habe, so Wehner, »sollte man auch 1968 beibehalten«.115 Auch nach dem Machtwechsel 1969 blieb Stange Beauftragter der Bundesregierung und erhielt 1976 schließlich einen festen Vertrag mit dem Ministerium. Nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages 1973 und dem Aufstieg Edgar Hirts, dem Leiter des Ministerbüros, der die Verhandlungen mehr und mehr an sich zog, verlor Stange allmählich seine bisherige starke Position. Der Höhepunkt seiner Laufbahn war zweifellos die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse im Juli 1978 im Rathaus Schöneberg.116 Fünf Jahre später folgte jedoch das abrupte Ende seiner Karriere als anwaltlicher Vermittler: Im Zuge des Regierungswechsels im Oktober 1982 und staatsanwaltschaftlichen Vorermittlungen im Zusammenhang mit dem Franke-Hirt-Skandal wurden seine Verträge mit dem Ministerium und dem Berliner Senat zum 1. August 1983 »in beiderseitigem Einvernehmen« aufgelöst.117 Ohnehin gab es keinen triftigen politischen Grund mehr gegen direkte Verhandlungen zwischen dem Ministerium und dem DDR-Beauftragten Rechtsanwalt Vogel. 112 Vermerk Volperts, 14.6.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 536; Wissing: Erinnerungen, S. 155. Siehe auch den indirekten Hinweis in: PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1992, Protokoll Nr. 90: Zeuge Wolfgang Vogel, S. 102 sowie Brinkschulte, Wolfgang; Gerlach, Hans Jörgen; Heise, Thomas: Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen. Frankfurt/M. 1993, S. 27. 113 Krautwig an Wetzel, 1.8.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 551. 114 Vermerk Rehlingers, 16.9.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 564 f. 115 Vermerk Volperts, 14.6.1968; ebenda, S. 536. Im Original »beibelassen«. 116 Siehe das Programm der Zeremonie in: LArchB, B Rep. 002, Nr. 15781. 117 Zeugenvernehmung v. 22.7.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel wegen Erpressung; 2 Js 353/91, Bd. 24, Bl. 72 f.; LArchB, B Rep. 002, Nr. 15782; LArchB, B Rep. 091, Rechnungshof von Berlin, Nr. 10.
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Wolfgang Vogel (Ost) Wolfgang Vogel (*1925, †2008) gehörte zweifellos zu den außergewöhnlichen Persönlichkeiten der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte (Abb. 14 und 23). Drei Biografien sind über ihn erschienen, etliche Berichte und Portraits wurden in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht oder im Rundfunk gesendet, seitdem 1962 mit dem Abel-Powers-Austausch auf der Glienicker Brücke seine einzigartige Karriere begonnnen hatte. Sie führte ihn in die Rolle des Chefunterhändlers der DDR in allen Fragen des Agentenaustausches, des Häftlingsfreikaufs, der Familienzusammen- und Kinderrückführung sowie der Vermittlung in besonderen Situationen wie den Botschaftsbesetzungen der Jahre 1984 und 1989. Vogels Verhandlungsgeschick, Diskretion und Loyalität sowie die Tatsache, dass der DDR erhebliche Deviseneinkünfte aus seiner Tätigkeit erwuchsen, vergalt ihm die Partei- und Staatsführung mit Privilegien, Orden und Ehrenbezeugungen. Auf die Verleihung des »Dr. jur. h. c.« durch die »Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Walter Ulbricht« in Potsdam im Jahr 1969 folgte 1985 die Berufung zum Honorarprofessor für Strafprozessrecht durch den Minister für Hoch- und Fachschulwesen. 1975 erhielt Vogel den Vaterländischen Verdienstorden in Gold, 1983 aus den Händen Erich Honeckers den »Großen Stern der Völkerfreundschaft«.118 In Bezug auf den Häftlingsfreikauf erfüllte Vogel eine Doppelrolle: Zum einen war er als Anwalt im Strafverfahren bis zur Rechtskraft des Urteils tätig, auch für jene Mandate, die er seit den fünfziger Jahren von der Westberliner Rechtsschutzstelle erhielt. Sein zweiter Tätigkeitsbereich betraf die Bemühungen um eine vorzeitige Haftentlassung und ggf. Ausreise im Rahmen der Freikaufsverhandlungen sowie Rechtsvertretungen im Gnadenverfahren. Während Vogel in den fünfziger und noch in den sechziger Jahren viele Mandate selbst übernahm, war er mit der wachsenden Inanspruchnahme durch die Freikaufsverhandlungen immer weniger dazu in der Lage. Hinzu kam, dass die Generalstaatsanwaltschaft der DDR die direkte Mandatierung von DDR-Anwälten durch die Westberliner Rechtsschutzstelle seit 1973 unterband. Die beiden Leiter der Rechtsschutzstelle, Wolf-Egbert Näumann und Ülo Salm, galten fortan als feindliche »Agenten«, von denen keine Mandate mehr angenommen werden durften. Zweck dieser Maßnahme war es, alle Verteidigermandate im Büro Vogel zu bündeln. Seinerseits beauftragte Vogel
118 Pötzl: Spione, S. 217 f.; Schmidthammer: Vogel, S. 208 f.
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Rechtsanwälte in den 15 Bezirken der DDR als Unterbevollmächtigte.119 Mit Stand August 1988 waren neben seinen beiden Sozien Klaus Hartmann und Dieter Starkulla insgesamt 27 Anwälte in Untervollmacht tätig.120 Zwar wählte Vogel die Anwälte aus,121 konnte dies jedoch nicht ohne die Zustimmung des MfS tun. Schied ein Untervertreter beispielsweise mit Erreichen der Altersgrenze aus, besetzte die Stasi die vakante Stelle »mit Anwälten ihres Vertrauens«.122 Im Bezirk Dresden etwa ging der Berufung der beiden Rechtsanwälte Reinhard Maiwald und Heidemarie Achilles im Jahr 1983 eine Überprüfung durch die zuständige Abteilung der örtlichen MfS-Dienststelle voraus. »Beide Rechtsanwälte«, stellte das MfS fest, besäßen »eine positive Einstellung zur DDR« und hätten wiederholt Mandate in Verfahren übernommen, die vom »Untersuchungsorgan«, der Hauptabteilung IX des MfS, bearbeitet worden waren. Dabei sei »ein korrektes Auftreten der genannten Rechtsanwälte festzustellen« gewesen.123 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass 1988 fast die Hälfte der 27 Untervertreter, 13 an der Zahl, als IM erfasst waren.124 Sie bearbeiteten hauptsächlich »Vogelsachen«125 und besprachen die Fälle mit ihren Führungsoffizieren, welche ihrerseits mit Vogels Verbindungsoffizier Oberst Volpert in der Berliner MfS-Zentrale in Kontakt standen.126 Der zweite Bereich der Tätigkeit Vogels betraf die Rechtsvertretung im Rahmen der Freikaufsverhandlungen. Dafür war es nicht von Belang, ob er selbst oder einer seiner Untervertreter den Freizukaufenden zuvor im Strafverfahren vertreten hatte. Besonders in den sechziger Jahren war es häufig der Fall, dass Vogel den Häftling, über dessen Freikauf er verhandelte, persönlich nicht kannte und umgekehrt auch der Inhaftierte nichts davon wusste.127 119 Busse: Rechtsanwälte, S. 479; vgl. »Mündliche Information (vom Gen. Häusler vorgetragen) zur mündlichen Weitergabe an alle Rechtsanwälte« v. 22.10.1977; BStU, MfS, HA IX, Nr. 8315, Bl. 210 f. 120 Übersicht über in Untervollmacht Büro Vogel tätige Rechtsanwälte v. 19.8.1988; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2468, Bl. 1. 121 Busse: Rechtsanwälte, S. 479. 122 Lange, Roland J.: Einbindung und Behinderung der Rechtsanwälte. In. Materialien der Enquete-Kommission, Bd. 4, S. 605–654, hier 637. 123 Zit. nach: Weinke; Hacke: U-Haft am Elbhang, S. 120. 124 Eisenfeld: Freikauf, S. 17 (sämtl. BStU, MfS) Ddn., AIM 2772/90; Erft., 897/77; Ffo., AIM 814/69; Hle., KD Roßlau, VIII 2265/81; Chem., XIV 31/76; Hle., AIM 1500/86; Pdm., Abt. II 61, 1573/78; Rst., AIM 4062/90; Rst., AIM 299/91. 125 BStU, MfS, BV Halle, KD Roßlau, VIII 2265/81, Bd. 2, Bl. 267. 126 Ltr. BV KMS an Volpert, 29.11.1982; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Leiter 117, Bd. 1– 2, Bl. 174. 127 PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 90: Zeuge Wolfgang Vogel, S. 22; vgl. Kap. III.4.
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Mit der steten Zunahme der Mandate in Haft- und Ausreiseangelegenheiten wuchs Vogels Büro in Ost-Berlin. Seit 1968 lag es in der Reiler Straße 4, ein unscheinbares Einfamilienhaus nahe der S-Bahnstation FriedrichsfeldeOst.128 Bereits 1967 beklagte Vogel, dass im Rahmen der gegenwärtigen Kapazitäten noch mehr Fälle »verwaltungstechnisch nicht zu bewältigen« seien und ihm deshalb nichts anderes übrig bleibe, als Material »für später zu sammeln«.129 Bis Anfang der achtziger Jahre wuchs das Büro einschließlich Vogel und seiner beiden Sozien auf 17 Mitarbeiter an.130 Seine Einkünfte bezog Vogel zum einen aus dem Rechtsschutz im Strafverfahren, zum anderen aus der Vertretung des Mandanten im Rahmen des Gnadenverfahrens. Die Liquidierung der Verteidigerhonorare für sich selbst oder seine Untervertreter erfolgte für jeden Fall einzeln über die Rechtsschutzstelle, die das Geld ihrerseits aus dem Haushalt des Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministeriums erhielt.131 Für die nachfolgende Vertretung der Mandanten im Gnadenverfahren erhielt Vogel die Hälfte des Honorars, das die Bundesregierung an Rechtsanwalt Stange zahlte.132 Mit dem Ausscheiden Stanges 1983 erhielt Vogel schließlich ein Pauschalhonorar aus Mitteln des BMB in Höhe von 360 000 DM pro Jahr, das die »Mandate im Zusammenhang mit erfolgten Haftentlassungen (Beratungen und Regelungen namentlich in verwaltungs- und familienrechtlichen Angelegenheiten)« sowie weitere Mandate vergütete.133 Zusätzlich nahm Vogel spätestens seit März 1983 jährliche Pauschalbeträge von seinem Verbindungsoffizier Heinz Volpert in Höhe von 100 000 Ost- und 50 000 Westmark entgegen.134 Weit mehr noch als sein Kollege Jürgen Stange verstand es Vogel, sich einerseits gegenüber der Öffentlichkeit geschickt in Szene zu setzen, zugleich aber von den genauen Inhalten seiner diskreten Vermittlertätigkeit kaum etwas preiszugeben. Im demonstrativen Gestus »öffentlicher« Verschwiegenheit sagte Vogel im Frühjahr 1989 zu einem Journalisten des Spiegel: »Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich Ihnen sage, daß ich nichts sage.«135 Überhaupt waren Vogel 128 Zuvor befand sich das Büro in der Straße Alt-Friedrichsfelde 113. 129 Vogel an Stange, 14.4.1967; BArch-K, B 137/19977, Bl. {216} (AS-DzD). 130 Namensliste in: BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Leiter, Nr. 117, Bd. 1, Bl. 5. 131 PA, Deutscher Bundestag, 12. WP, Drucksache 12/7600, S. 320–322. 132 S. o. Unterkapitel zu Rechtsanwalt Stange. 133 PA, Deutscher Bundestag, 12. WP, Drucksache 12/7600, S. 320–322. 134 Zit. nach: Eisenfeld, Freikauf, S. 16; vgl. die Bestätigungen Mielkes, dass »einem IM für geleistete Arbeit eine Prämie in Höhe von 100 000 M und 50 000 DM gewährt« werde, sowie Zahlungsanweisungen an Volpert oder dessen Sekretärin für die Jahre 1983, 1984, 1985, 1987 u. 1988, teils sogar mit dem Vermerk »IM Georg« in: BStU, MfS, Abt. Finanzen, Nrn. 283, Bl. 643; 580, Bl. 29; 241, Bl. 177; 550, Bl. 166; 580, Bl. 12; 241, Bl. 61; 559, Bl. 280; 522, Bl. 720; 390, Bl. 168. Für die Jahre 1985, 1987 und 1988 sind jeweils nur Zahlungen über 100 000 M belegt. 135 Zitate. In: Der Spiegel v. 16.1.1989, Nr. 3.
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und das Bild, das er von sich selbst zeichnete, von Widersprüchen geprägt. Bereits äußerlich bestand ein Spannungsverhältnis zwischen dem Habitus des großbürgerlichen Anwaltes mit westlichen Maßanzügen und einem Mercedes in gold-metallic, ein Auftreten, das sich krass vom ansonsten kleinbürgerlichbiederen Image der Parteifunktionäre des »Arbeiter-und-Bauern-Staates« abhob. Katholik und Marxist zugleich wollte Vogel sein, ein »ehrlicher Makler« zwischen den Fronten und dabei ein loyaler Diener seines Staates, in dessen führende Partei er allerdings erst 1981 auf sanften Druck Honeckers eintrat. Außerdem sah er sich als Jurist auf dem Boden der »sozialistischen Gesetzlichkeit«, der dabei das »Kunststück« vollbrachte, »gleichzeitig seine zumeist antikommunistischen Mandanten loyal zu vertreten«,136 wie es der Stern 1980 formulierte. So facettenreich und widersprüchlich Vogels Rolle war, so weit auseinander lagen auch die Urteile Dritter über ihn. Die Staatsanwaltschaft am Kammergericht Berlin, die 1992 Anklage wegen Erpressung Ausreisewilliger gegen ihn erhob, bezeichnete Vogel als »größten Menschenhändler des Jahrhunderts«,137 während die Richter eher ein »hochrangiges Werkzeug« der Staatssicherheit in ihm erkennen wollten.138 Demgegenüber lobten ihn seine westdeutschen Verhandlungspartner stets als diskreten Vermittler, der »das Maul nicht zu voll« genommen habe und auf dessen einmal gegebene Zusagen immer Verlass gewesen sei.139 Auch viele ehemalige Häftlinge fühlten sich Vogel als ihrem Retter zu großem Dank verpflichtet, wovon hunderte Dankesbriefe an ihn zeugen.140 Hinter all diesen Wertungen steht letztlich die Frage, wessen Interessen Vogel tatsächlich vertrat: Die seiner Mandanten und damit die der Bundesregierung? Oder jene von SED und MfS? Falls Letzteres zutrifft: War Vogel ein bloßer Vermittler oder in der Position, selbst Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen? Wohl kaum lässt sich Vogels Rolle auf einen der vorgenannten Aspekte reduzieren, im Grunde vertrat er bis zu einem gewissen Grade die Interessen aller Parteien. Die treffendste Beschreibung seiner Rolle hat er wahrscheinlich selbst gegeben: »Meine Wege waren nicht weiß, nicht schwarz, sie waren grau. Anders ging es wohl nicht.«141 Dabei war, bildlich gesprochen, der
136 »Und dann mussten sie wieder in die Zelle zurück«. In: Stern v. 3.7.1980. 137 Wesel, Uwe: Zwei Jahre für eine Mausgeburt. In: Die Zeit v. 6.12.1996. 138 Friedrichsen, Gisela: Ein hochrangiges Werkzeug. In: Der Spiegel v. 14.11.1994, Nr. 46. 139 »Freikauf – Das Geschäft der DDR mit politisch Verfolgten«. Spitzengespräch zwischen Ludwig A. Rehlinger und Jürgen Engert. In: Apelt, Andreas H. (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR. Halle/ Saale 2011, S. 85–100, hier 100. 140 Pötzl, Norbert F.: Schmähungen gegen den einstigen Helfer. In: FAZ v. 23.9.2008. 141 Friedrichsen, Gisela: Ein hochrangiges Werkzeug. In: Der Spiegel v. 14.11.1994, Nr. 46.
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Grauton wohl heller, als von seinen Kritikern zugestanden, allerdings auch dunkler, als es Vogel nach 1990 zugeben wollte. Zu den hellen Seiten gehört, dass er zweifelsohne »ehrlich helfen wollte« und sich zum »Brückenbau zwischen den Systemen« berufen sah.142 Selbst in den meist emotionsfreien Akten der westlichen Ministerialbürokratie finden sich Einschätzungen wie jene, dass für Vogel »die rein menschliche Seite eine nicht unbeachtliche Rolle« spiele.143 Auch die meisten ehemaligen Häftlinge, die Vogel vor Gericht vertrat oder um deren Freikauf respektive Ausreise er sich bemühte, sind voll des Lobes über den Anwalt. Ellen Thiemann, 1972 wegen Fluchtvorbereitungen inhaftiert, schildert ihren Eindruck von Vogel bei einem seiner Besuche in der U-Haft: »Er ist sehr freundlich, ich fühle mich wohl, mit ihm allein zu sein. Er wirkt ausgesprochen menschlich.«144 Auch danach habe ihr Vogel »Mut zugesprochen, Hoffnung gemacht«. »Keine Frage«, urteilt Thiemann, »diesem Mann verdanke ich – so wie Zehntausende auch – unendlich viel«.145 Wolfgang Welsch, der in den sechziger Jahren wegen eines Fluchtversuches und »staatsgefährdender Hetze und Propaganda« zweimal inhaftiert war, schöpfte aus Vogels Besuchen neue Kraft: »Vogel hat mir meine Würde zurückgegeben, denn er sprach mich mit meinem Namen an und nicht als Nummer.«146 Demgegenüber steht die dunkle Seite des Anwaltes, die hauptsächlich sein schon oft thematisiertes Verhältnis zur Staatssicherheit berührt. Anfangs trat er gegenüber dem Westen mit einer mündlichen Vollmacht des Generalstaatsanwalts der DDR auf. Im Dezember 1964 führte er in einem Gespräch mit Stange und Beamten des Berliner Senates aus, dass Generalstaatsanwalt Josef Streit als einziger »unumschränkte Vollmacht habe, über Häftlingsentlassungen im Einzelfall zu entscheiden«. Die Staatsanwaltschaft habe »auf Kosten des Staatssicherheitsdienstes stärkere Befugnisse erhalten«.147 1969 hinterlegte Vogel eine schriftliche Vollmacht des Generalstaatsanwaltes im Bundeskanzleramt. Die Regierung der DDR bestellte ihn damit zum »ständigen Rechtsberater und in besonderen Fällen als Rechtsvertreter«, besonders bei der »Wahr-
142 Puschmann, Hellmut: Ein Mensch, der für viele die einzige Hoffnung war. In: Wedel, Reymar von (Hg.): Wolfgang Vogel. Eine Festgabe. Berlin 2005, S. 73–77, hier 74 u. 76. 143 Vermerk Korbers, 10.12.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 204. 144 Thiemann, Ellen: Stell dich mit den Schergen gut. Erinnerungen an die DDR. Meine Wiederbegegnung mit dem Zuchthaus Hoheneck. München 1990, S. 96 f. 145 Thiemann, Ellen: Der Feind an meiner Seite. Die Spitzelkarriere eines Fußballers. München 2005, S. 20. 146 Interview mit Wolfgang Welsch, 14.11.2009. 147 Vermerk Korbers, 10.12.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 202.
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nehmung der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland«.148 Tatsächlich stand jedoch das MfS hinter dieser Vollmacht. Bereits Anfang Mai 1964 notierte Volpert, dass man »nunmehr offiziell über den Generalstaatsanwalt Streit dem GM eine bestimmte Legalisierung gegeben habe, die es ihm besser ermöglicht, im Westen aufzutreten«.149 Die federführende Rolle des MfS lässt sich bereits an der Tatsache festmachen, dass Vogel stets zuerst Volpert berichtete.150 Nach dem Besuch von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner bei SED-Chef Erich Honecker in der DDR im Mai 1973 ernannte Honecker den Anwalt schließlich zu seinem »Beauftragten für das Humanitäre und auch für politische Vermittlungen in Einzelfällen«, ohne dies jedoch durch eine Urkunde zu formalisieren.151 Entscheidend war, dass Vogel nachweislich über eine Legitimation von höchster Stelle verfügte. Den Vorwurf der Zusammenarbeit mit dem MfS hat Vogel vor 1990 vehement zurückgewiesen. Im Prozess gegen die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) 1980 bestritt er, im Auftrag des MfS tätig zu sein, auch habe er »keinerlei Funktion in dieser Einrichtung«.152 Nachdem 1992 Teile seiner GM-Akte im Archiv des BStU aufgefunden wurden, gab er an, er sei kein Mann und erst recht kein »Spitzenmann« des MfS gewesen, sondern habe lediglich »unabdingbare Arbeitskontakte« unterhalten, ohne die er seine Aufgabe nicht hätte erfüllen können. Um für die Ohnmächtigen etwas zu erreichen, habe er mit den Mächtigen reden müssen. Mit seinen Kontaktleuten im MfS habe er deshalb stets offen kommuniziert: »Konspiration gab es für mich nicht«. Für den Schriftverkehr habe er den Kopfbogen seiner Kanzlei genutzt, Entscheidungsbefugnisse habe er sowieso keine gehabt.153 Die mittlerweile breiter erschlossene Überlieferung des MfS zeigt indes, dass die Angaben in dieser Form nicht zutreffen. Zwar war Vogel kein hauptamtlicher Offizier des MfS, wie gelegentlich behauptet worden ist,154 doch wurde er seit 1953 als »Geheimer Mitarbeiter (GM)« unter dem Decknamen »Eva«, später »Georg« geführt. Ein Arbeitspapier des MfS vom 1. Oktober 1989, in 148 Rehlinger: Freikauf, S. 48; vgl. das Dokument in HGWS, HF 77. 149 Treffbericht Volperts, 15.5.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 122. 150 Siehe z. B. den Treffbericht Volperts, 17.5.1964; ebenda, S.126: Vogel berichtete Volpert noch in der Nacht nach seinem Gespräch mit Bundesminister Mende in West-Berlin. 151 Siehe Kap. IV.1. 152 Löwenthal; Kamphausen; Clausen: Feindzentrale, S. 59; vgl. »Der erste Schritt zum Fall«. In: Der Spiegel v. 20.1.1992, Nr. 4: Eine Stasi-Tätigkeit sei, so Vogel, »schon deshalb ausgeschlossen, weil ich ein Regierungsmandat hatte, weil ich persönlicher Beauftragter von Erich Honecker war«. 153 Aussage v. 13.5.1996, Verfahren der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel wegen Erpressung; 2 Js 353/91, Bd. 90a, S. 1; ebenda, Bd. 45, Bl. 95, 139 f. 154 Gesellschaft für Menschenrechte (Hg.): Menschenrechte als Opfer »Innerdeutscher Beziehungen«. Dokumentation. Frankfurt/M. 1980, S. 24.
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dem von einem »über 30 Jahren bewährten vielschichtigen Zusammenwirken […] (›Georg‹, RA, Wolfgang)« sowie »bewährten kameradschaftlichen Arbeitskontakten« die Rede ist, legt eine bis 1989 andauernde Tätigkeit nahe.155 Eine handschriftliche Karte Vogels mit »Kampfesgrüße[n]« an den »liebe[n] Siegfried [Gehlert]«, den Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, zeigt, dass es sich dabei nicht bloß um eine einseitige Zuschreibung des MfS handelt.156 Auch in punkto Konspiration sagte Vogel die Unwahrheit: Zwar finden sich Vermerke auf seinem Kanzleipapier in den Akten des MfS,157 doch noch aus den achtziger Jahren sind mindestens sechs als »streng geheim!« gekennzeichnete Berichte ohne den Briefkopf seiner Kanzlei überliefert, was eindeutig konspirativen Verhaltensregeln entspricht.158 Demnach trifft die Zeugenaussage im Prozess gegen Vogel zu, dass Vogel für seine Berichte den Apparat des Sekretariats des Ministers nutzte, um die Korrespondenz mit dem MfS gegenüber den Mitarbeitern seiner Kanzlei abzuschirmen. Die handschriftlichen Berichte über die Verhandlungen mit dem Westen übergab er Heinz Volpert, dessen Sekretärin die Berichte abtippte und Mielke vorlegte. Dieser leitete sie an den SED-Generalsekretär weiter.159 Obwohl Vogels Aussagen den Quellen widersprechen, wäre es dennoch irreführend, aus der Tatsache der konspirativen MfS-Kontakte Entscheidungsbefugnisse abzuleiten. Da Erich Honecker das MfS mit der Durchführung der »Häftlingsaktionen« beauftragt hatte, war Vogel als persönlicher Emissär Ho155 Hinweise für ein Gespräch mit »Georg« zum Brief v. 1.10.1989; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9634, Bl. 2; vgl. auch BStU, MfS, HA IX, Nr. 2137, Bl. 106. Ein Personalaktenteil einer 1969 archivierten AIM-Akte »Georg« (»Georg-Akte«; BStU, MfS, AIM 5682/69, Bde. 7 u. 8), die Klar- und Decknamen der Quelle offenlegen würde, ist im BStU-Archiv nicht überliefert. Ein Zeuge im Prozess gegen Vogel behauptete, er habe eine Personalakte eines IM »Georg« im Zuge der Beschlagnahmung von Akten aus dem Sekretariat Mielkes im Dezember 1989 gesichtet, der Klarname des IM sei Rechtsanwalt Prof. Dr. h.c. Wolfgang Vogel gewesen. Die Akte sei jedoch verloren gegangen, Zeugenvernehmung v. 13.3.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 4, S. 15–36. Zweifelsfrei Vogel zuzuordnen ist der im Jahr 1957 archivierte IM-Vorgang »Georg«, AIM 2088/57. Ob das MfS eine (Wieder-)Aufnahme des IM-Vorganges veranlasste, Vogel neuerlich eine Verpflichtungserklärung unterschrieb und daher auch nach 1957 Inoffizieller oder Geheimer Mitarbeiter des MfS war, ist derzeit nicht zu beantworten. Keine Zweifel bestehen daran, dass das MfS in Aktenvermerken, die entweder auf Berichten Volperts von Gesprächen mit Vogel beruhen oder schriftliche Berichte Vogels an Volpert darstellen, noch 1968 und zuletzt 1989 die Bezeichnung »GM Georg« bzw. »Georg« im Kontext mit der Person Vogels benutzte. Für die Beurteilung seines konkreten Handelns und den Charakter seines Verhältnisses zum MfS ist die Frage nach einer formalen IM-Verpflichtung schlichtweg irrelevant, da sich das Phänomen Vogel durch die Kategorie »IM« nicht angemessen erfassen lässt. 156 Hs. Karte Vogels; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Leiter, Nr. 117, Bd. 2, Bl. 3. 157 Z. B. Vermerk Vogels, 3.9.1986; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9640, Bl. 76. 158 Siehe die Liste der Akten aus dem Büro Volpert im Quellenverzeichnis. 159 Vernehmungsprotokoll v. 11.6.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 10, Bl. 24, 26 u. 31 f.
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neckers selbstverständlich dazu angehalten, mit dem MfS zusammenzuarbeiten, sei es nun offen oder konspirativ. Im Nachhinein eine künstliche Trennlinie zwischen dem »unverdächtigen« Mandat des Generalsekretärs und dem »anrüchigen« MfS-Kontakt zu ziehen, wäre demnach unhistorisch. Inhaltlich lassen die überlieferten Berichte allerdings den Schluss zu, dass Vogel einerseits zwar sachlich Bericht erstattete, aber andererseits eigene Vorschläge mit dem Ziel machte, die westlichen Kritiker des (Haft-)Regimes der DDR zum Schweigen zu bringen.160 Entscheidungsbefugnisse hatte Vogel trotzdem nicht. Vogels Rolle lässt sich mit der Formel beschreiben, dass er selbst keinen Einfluss auf die Verhältnisse hatte, aber einen bedeutenden Einfluss in ihnen ausübte. Dass die DDR bereit war, Menschen zu verkaufen, war ihm nicht anzulasten. Dennoch nutzte er seine Möglichkeiten, um das »Geschäft« am Laufen zu halten, das zugleich Tausenden Menschen zur Freiheit verhalf. In der Tat wäre seine Karriere ohne die Förderung des MfS nicht möglich gewesen. Besonders das Verhältnis zu Heinz Volpert war geradezu symbiotischer Natur, eine »win-win-Situation«. Durch die enge Beziehung zu Volpert gelangte Vogel zu seiner Rolle als Chefunterhändler in allen humanitären Fragen, umgekehrt erhöhte »Georg« das Gewicht und den Einfluss Volperts im MfS. Dabei war die Zusammenarbeit zwischen Vogel und Volpert nicht von Befehl und Gehorsam gekennzeichnet. Vielmehr spielte Volpert die Rolle eines Verbindungsoffiziers Vogels, von dem umgekehrt erwartet wurde, seine Aufgabe »eigenverantwortlich und kreativ« wahrzunehmen.161 Trotz seiner engen Anbindung an das MfS blieb Vogels Handeln eine permanente Gratwanderung. Hätte er nicht nach Kompromissen zwischen den beteiligten Parteien gesucht, wäre die Fortführung des Freikaufs in Gefahr gewesen, was auch seinen eigenen Interessen geschadet hätte. Für Ludwig Rehlinger, seinen langjährigen Verhandlungspartner im Westen, war es »ein Phänomen«, dass sich Vogel bis 1989 in seiner Position halten konnte. Ohne Konkurrenten und ohne Ambitionen auf ein öffentliches Amt sei er im Grunde »ein Außenseiter im Gefüge« geblieben.162 Im Übrigen war die Frage, ob Vogel für das MfS arbeitete, aus westlicher Sicht vor 1990 zweitrangig. Sie spielte in der Praxis schlichtweg keine Rolle, solange es nicht allzu offensichtlich war wie etwa im Falle von Rechtsanwalt Kaul. Dass das MfS am Entscheidungsprozess beteiligt war, wusste man ohnehin von Beginn an.163 Anhaltspunkte für eine inoffizielle Tätigkeit gab es je160 Siehe Kap. V.3. 161 Vernehmungsprotokoll v. 11.6.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 10, S. 15 f. 162 Rehlinger: Freikauf, S. 45 f. 163 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963, DzD BesBem Bd. 1, S. 63: »Der SSD wurde eingeschaltet«; Schmidthammer: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, S. 43.
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denfalls schon 1963.164 Der deutlichste Hinweis dafür, dass Vogel eng mit dem MfS in Verbindung stand, war der plötzliche Namenswechsel seines Verbindungsmannes Heinz Volpert. Dieser trat anfangs unter dem Decknamen »Krügeler« als »Beauftragter der Generalstaatsanwaltschaft« gegenüber dem Westen auf. Spätestens 1972 wird in Akten des Innerdeutschen Ministeriums jedoch sein Klarname »Dr. Volpert« genannt.165 Die vorherige Verwendung eines Decknamens legte eine Tätigkeit für den DDR-Geheimdienst nahe. Vielleicht wollten es Vogels Verhandlungspartner im Westen gar nicht allzu genau wissen, mit wem Vogel verhandelte. Wäre Vogels enge Beziehung zum »verhaßten Staatssicherheitsdienst« allzu offensichtlich gewesen, hätte dies womöglich den Kontakt an sich gefährdet.166 Maßgeblich war allein, dass Vogel das Vertrauen der Staats- und Parteiführung hatte und verbindliche Zusagen machen konnte.167 Im Westen gab man sich deshalb mit seinen offiziellen Angaben zufrieden, denn Vogel erschien unverzichtbar. Herbert Wehner wird der Ausspruch zugeschrieben: »Wenn es einen Mann wie Vogel nicht gäbe, müssten wir uns einen wie ihn backen.«168
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Anders als im Westen waren die Zuständigkeiten, handelnden Akteure und Mechanismen, die dem Häftlingsfreikauf aufseiten der DDR zugrunde lagen, nicht aus verschriftlichten Rechtsnormen ersichtlich. Selbst die führende Rolle der SED wurde erst 1968 in Artikel 1 der neuen DDR-Verfassung verankert, wonach die DDR »ein sozialistischer Staat […] unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei« sei. Jene Paragrafen der Verfassung, des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung, die das offizielle Verfahren über vorzeitige Haftentlassungen regelten, legten die Entscheidungsgewalt ausschließlich in die Hände der Staatsanwaltschaften und Gerich-
164 Shackley: Spymaster, S. 100 f.; Schmidt an Wehner, 23.5.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 50, S. 199; Leyendecker, Hans und Mascolo, Georg: Falsche Bärte, falsche Freunde. Der BND zweifelt an seinem Selbstverständnis. In: Der Spiegel-Special v. 1.1.1996; siehe demgegenüber Pötzl: Spione, S. 493. 165 Vermerk Hoeschs, 6.12.1972; BArch-K, B 137/015772; vgl. »Unterlagen, die den Weltfrieden gefährden«. Ost-West-Unterhändler Wolfgang Vogel unter Stasi-Verdacht. In: Der Spiegel v. 23.3.1992, Nr. 13, S. 114–116. 166 Rehlinger: Freikauf, S. 47. 167 Ebenda, S. 26. 168 Bölling, Klaus: Der Mann, der aus der Kälte kam. In: Wedel, Reymar von (Hg.): Wolfgang Vogel. Eine Festgabe zum 80. Geburtstag. Berlin 2005, S. 9–13, hier 13.
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te bzw. des Staatsrates.169 Die tatsächlichen Zuständigkeits- und Machtverhältnisse hingegen lassen sich in der Form eines »Machtdreiecks« beschreiben. An seiner Spitze stand die SED als Auftraggeber des Geschäftes mit politischen Häftlingen. Das Ministerium für Staatssicherheit, das sich in der Tradition der sowjetischen Geheimpolizei als »Schild und Schwert der Partei« sah, führte die Maßnahmen im Auftrag der SED aus und kooperierte dabei mit den »Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens«. Dahinter verbargen sich die Staatsanwaltschaften, Gerichte, das Justizministerium sowie das Ministerium des Innern (MdI) und der Bereich »Kommerzielle Koordinierung« im Ministerium für Außenhandel (MAH).170 An dieser Grundkonstellation änderte sich zwischen 1963 und 1989 nichts, lediglich im Binnenverhältnis zwischen den drei Apparaten SED, MfS und »Partner des Zusammenwirkens« verschoben sich Gewichte und wechselten einige Akteure. Faktisch verlief der Häftlingsfreikauf somit in denselben Strukturen wie die Verfolgung und Inhaftierung politischer Gegner und stellte damit gewissermaßen den »Rückwärtsgang« der Repressions-Maschinerie dar.171 Schließlich verfügten jene Akteure und Stellen, die im Auftrag der Partei für die »Anleitung« der Justizorgane und die Instrumentalisierung des Rechtes verantwortlich waren, auch über die Macht, Entlassungen anzuweisen, wenn die Partei dies wollte.
Die Spitze des Machtdreiecks: Entscheidungen und Anweisungen durch die SED Vom Beginn des Häftlingsgeschäftes im Jahr 1963 bis zu seinem Ende 1989 lag die politische Verantwortung in den Händen des Generalsekretärs bzw. Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED, der zugleich den Vorsitz im Politbüro führte. Allein er entschied über Einleitung, Führung oder Abbruch der Verhandlungen. Obwohl sich die führende Rolle der Partei aus dem Selbstverständnis der Parteidiktatur ergab, so sind doch zu den Entscheidungs169 Die Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung aus der Haft (»Bedingte Strafaussetzung« bzw. »Strafaussetzung auf Bewährung«) war im § 346 StPO-DDR v. 2.10.1952, den §§ 349, 350 u. 350a StPO-DDR v. 12.1.1968 sowie in § 45 StGB-DDR v. 12.1.1968 geregelt. Art. 106 des Gesetzes über die Bildung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik v. 12. September 1960 sowie Art. 74 Abs. 2 der Verfassung v. 6. April 1968 wiesen dem Staatsrat das Amnestie- und Begnadigungsrecht zu. 170 Siehe Kap. VII. 171 Die Forschung hat die Strukturen und Mechanismen der Repression genau herausgearbeitet. Siehe exemplarisch Vollnhals, Clemens: Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz. Berlin 1998.
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vorgängen innerhalb der SED lediglich bruchstückhafte Informationen überliefert. Fest steht, dass das Thema zu keinem Zeitpunkt auf der Tagesordnung einer Sitzung des Politbüros oder einer Tagung des Zentralkomitees stand.172 Dieser Befund stützt die These, dass sich nur ein kleiner Kreis von Mitgliedern des Politbüros oder im Apparat des ZK abseits der offiziellen Agenda mit dem Vorgang befasste. Das entsprach der Taktik Erich Honeckers und wohl auch seines Vorgängers Walter Ulbricht, in besonders heiklen Angelegenheiten wie auch dem Häftlingsgeschäft die Entscheidungen auf einen kleineren Kreis von Funktionären zu verlagern, da er diese »heiße Frage« nicht auf dem »Tisch des großen Politbüros« haben wollte.173 Maximal fünf bis zehn Personen wirkten an den Entscheidungsvorgängen mit oder waren in groben Zügen darüber informiert. Neben dem jeweils amtierenden Generalsekretär handelte es sich ausnahmslos um Mitglieder des Zentralkomitees, teils sogar Mitglieder des Politbüros: Günter Mittag, ZKSekretär für Wirtschaft (1962–1973, 1976–1989),174 Erich Honecker, zu seiner Zeit als Sekretär für Sicherheitsfragen im ZK (1958–1971), sowie Erich Mielke, der zwar erst 1971 Kandidat, 1976 schließlich Mitglied des Politbüros wurde, jedoch als Minister für Staatssicherheit von Beginn an den Verhandlungskanal über Wolfgang Vogel kontrollierte und im Auftrag der SED die Maßnahmen durchführte. Ferner sind Willi Stoph in seiner Funktion als Vorsitzender des Ministerrates und die ZK-Mitglieder Generalstaatsanwalt Josef Streit (1962–1986), Innenminister Friedrich Dickel (1963–1989) und Justizministerin Hilde Benjamin (1953–1967) diesem engeren Zirkel zuzurechnen. Die Grundsatzentscheidungen traf indes allein der SED-Chef. Seriell abgelegte Dokumente über sein Handeln sind allerdings weder in den Büros von Ulbricht noch Honecker überliefert.175 Trotzdem war die Zustimmung des Generalsekretärs bereits 1963 schon aus formalen Gründen unumgänglich: Nur Walter Ulbricht, der zugleich Staatsratsvorsitzender war und damit das Begnadigungsrecht ausübte, konnte den zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilten und freigekauften »Waldheim«-Häftling Walter Nuthmann begnadi-
172 BArch-SAPMO, Protokolle des Politbüros. 173 Hertle, Hans-Hermann: Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft. Das Scheitern der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« am Beispiel der Schürer/Mittag-Kontroverse im Politbüro 1988. In: DA 25 (1992) 2, S. 127–145, S. 133. Zur Geschichte der SED vgl. jüngst Gieseke, Jens; Wentker, Hermann (Hg.): Die Geschichte der SED. Eine Bestandsaufnahme. Berlin 2011. 174 Seit 1963 Kandidat und ab 1966 Mitglied des Politbüros, von 1962–1973 und erneut ab 1976 verantwortlicher Sekretär des ZK für Wirtschaft. 175 BArch-SAPMO, DY 30, Büro Honecker und Büro Ulbricht.
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gen.176 In einem Vermerk aus dem Jahr 1964, der im Sekretariat Erich Mielkes angefertigt wurde, findet sich zudem der Hinweis, Minister Mielke habe Dokumente zu den Freikaufsverhandlungen »an höchster Stelle vorgelegt«.177 Möglich ist ferner, dass Ulbricht schon vor seinem unfreiwilligen Rücktritt 1971 die unmittelbare Verantwortung an Erich Honecker delegiert hatte. Die Anleitung und Kontrolle des MfS lag schließlich in seinem Aufgabenbereich als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen. Bereits vor dem Machtwechsel im Mai 1971 intervenierte Honecker in Einzelfällen, wie das Beispiel Wolfgang Welschs zeigt, der in den sechziger Jahren zweimal aus politischen Gründen inhaftiert war. In zwei Telefongesprächen am 24. Oktober 1970, die Honecker mit MfS-Chef Mielke und dem Vorsitzenden des Ministerrats Willi Stoph betreffs der Entlassung Welschs führte, kritisierte Honecker »sozialismusfeindliche Kräfte« im Westen, die angeblich »mit Berichten über einen verurteilten Staatsfeind in der DDR [d. h. Welsch] eine negative Berichterstattung über die DDR provozierten«. Einvernehmlich sei »vereinbart worden, den Staatsfeind Welsch bei passender Gelegenheit in den Westen abzuschieben, jedoch erst dann, wenn diese Aktion nicht mehr in Zusammenhang mit den Pressionsversuchen interessierter Kreise im Westen gebracht werden« könne.178 Deutlicher ist die Führungsrolle des Generalsekretärs erst nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker im Jahr 1971 in den Quellen fassbar. Seit dem Treffen Honeckers mit SPD-Fraktionschef Wehner in der DDR im Mai 1973 zog der Generalsekretär alle Fragen betreffend Häftlinge, Ausreisen und Kinderrückführungen als »Chefsache« an sich. Die Listen mit den Namen der Ausreisenden ließ sich Honecker fortan sogar persönlich zur Abzeichnung vorlegen.179 Kurz nach dem Treffen mit Wehner bestellte Honecker Vogel und Mielke zu sich ins Haus des ZK und teilte ihnen mit, dass er sich die »grundsätzlichen Entscheidungen« persönlich vorbehalte und Vogel ab sofort sein »Beauftragter für das Humanitäre und auch für politische Vermittlungen in Einzelfällen« sei. Grundsätzlich gelte die Regel: »Der Apparat ist nicht eingeweiht«. Mielke sollte weiterhin die alleinige Verantwortung für die Entscheidungen über Agentenaustausch, Freikauf und Familienzusammenführung tragen.180 In der Praxis sah dies so aus, dass sich Honecker und Mielke in Vier176 Art. 106 des Gesetzes über die Bildung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. September 1960. 177 Telefonische Mitteilung Mielkes für Kaul v. 28.5.1964; BStU, MfS, SdM, Nr. 1237, Bl. 324; vgl. Kap. I, Anm. 39. 178 Zit. nach: Welsch, Wolfgang: Ich war Staatsfeind Nr. 1. Fluchthelfer auf der Todesliste der Stasi. Frankfurt/M. 2001, S. 178 f. Welsch wurde am 24.3.1971 in die Bundesrepublik entlassen. 179 Siehe z. B. die persönlich abgezeichneten Listen in: BArch-SAPMO, Büro Honecker, Nr. 2506. 180 Pötzl: Basar, S. 232 f.
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augengesprächen über die jeweils aktuellen Fragen berieten und die notwendigen Entscheidungen trafen (Abb. 15). Seit Mielkes Aufnahme in das Politbüro 1976 fanden die Gespräche jeweils im Anschluss an dessen wöchentliche Sitzungen am Dienstagvormittag statt. Beide zogen sich dazu in Honeckers Büro zurück.181 Seinerseits ließ Mielke gegenüber den leitenden Offizieren im MfS keinen Zweifel daran aufkommen, dass die »Übersiedlungen aus dem Strafvollzug«, so die Bezeichnung für das Häftlingsgeschäft, ausschließlich »auf Grund zentraler Entscheidungen«, d. h. auf Anweisungen des Generalsekretärs hin durchgeführt würden.182 Anlässlich einer Dienstbesprechung im Mai 1984, auf der Mielke unter anderem auch über das Häftlingsgeschäft sprach, fügte er in Anspielung auf die Vieraugengespräche mit Honecker wörtlich hinzu: »Übrigens werden alle diese Fragen von mir zentral geklärt, Genossen.«183 Analog zum Einfluss der Westalliierten auf die Entscheidungen der Bundesregierung stellt sich die Frage nach dem Einfluss der Sowjetunion auf die DDR. Da sie existenziell von ihrer östlichen Garantiemacht abhing, ist davon auszugehen, dass die SED-Führung das Einverständnis der sowjetischen Staatsund Parteiführung vor Beginn des Häftlingsgeschäftes einholte. Werner Arnold, der im Juni 1964 von der Evangelischen Kirche freigekauft wurde, erinnert sich an eine Äußerung seines Vernehmers, derzufolge die Entscheidung über seine Entlassung »beim sowjetischen Außenminister« gelegen habe und »der Zuständigkeit der DDR entnommen sei«.184 Tatsächlich nutzten Chruschtschow und Ulbricht die Sowjetische Botschaft in Berlin als Kommunikationskanal. Wie das bereits erwähnte Telefongespräch zwischen ihnen vom Sommer 1961 belegt, war Chruschtschow dem Gedanken durchaus zugeneigt, westliche »Agenten« lieber »abzuschieben«, als sie zu inhaftierten oder weiter im Gefängnis zu behalten.185 Dort, wo es sich um Häftlinge handelte, die in den fünfziger Jahren von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) verurteilt worden waren, stimmten die »Freunde« einer Entlassung vorbehaltlos zu. In einem Vermerk des MfS vom Juni 1964 über eine Anfrage bei den Sowjets bezüglich der Entlassung eines SMT-Verurteilten heißt es: »Operative Bedenken vonseiten der Freunde liegen nicht vor, wenn dem E. entsprechend der 181 Herrmann, Frank-Joachim; Zimmermann, Brigitte; Oschmann, Reiner: Der Sekretär des Generalsekretärs. Honeckers persönlicher Mitarbeiter über seinen Chef. Ein Gespräch. Berlin 1996, S. 80; Behlert: Generalstaatsanwaltschaft, S. 311. Protokolle oder Gesprächsnotizen sind nicht überliefert. 182 Referat Mielkes auf der Dienstbesprechung v. 11.5.1984; BStU, MfS, ZAIG, Bl. 8694, Bl. 53. 183 Tonmitschnitt der Dienstbesprechung v. 11.5.1984; BStU, MfS, SdM, Tb 53. 184 Werner Arnold an den Verfasser, 23.8.2007. 185 Siehe Kap. I.2.
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deutschen Gesetze bedingte Strafaussetzung gewährt wird.«186 Auch in den Folgejahren waren die sowjetischen Partner offenbar gut über die Vorgänge informiert, da zahlreiche sowjetische Spione in den florierenden Agentenaustausch miteinbezogen wurden. Es verwundert daher nicht, dass Vogels Verbindungsoffizier Volpert laut seiner Kaderakte »bei der Lösung spezifischer Aufgaben« einen »hohen persönlichen Anteil am Gelingen gemeinsamer Aktionen der Sicherheitsorgane der DDR und der UdSSR« hatte, für die er mit hohen sowjetischen Orden ausgezeichnet wurde.187 Laut den Erinnerungen des früheren Leiters der HV A des MfS, Markus Wolf, erhielten die sowjetischen Partner seit 1973 zudem »eine extraredigierte und zensierte Version« der Berichte, die Rechtsanwalt Vogel über seine Gespräche mit den Verhandlungspartnern im Westen anfertigte und über Volpert, Mielke und Wolf an Honecker weiterleitete.188 Dies könnte der Grund dafür sein, dass das Thema in den bislang bekannten Konsultationen zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew nur eine untergeordnete Rolle spielte, weil der Kreml-Chef ohnehin über die Vorgänge informiert war.189 In einem Gespräch mit Breschnew im Juni 1974 in Moskau streifte Honecker das Thema jedenfalls nur am Rande: »Im Zusammenhang mit der Familienzusammenführung«, erläuterte Honecker seinem Gastgeber, »schieben wir […] manche kriminelle Elemente in die BRD ab. Sie werden in der BRD zwar als politische Fälle betrachtet, aber in Wirklichkeit handelt es sich um kriminelle Elemente«.190 Breschnew nahm Honeckers Ausführungen unkommentiert entgegen. In dieser Angelegenheit ließen er und seine Nachfolger dem SED-Chef offensichtlich weitgehend freie Hand.
Durchführung im Auftrag der Partei: MfS Die Durchführung der »Übersiedlungen aus dem Strafvollzug« oder auch »Häftlingsaktionen«, wie der Häftlingsverkauf MfS-intern genannt wurde, lag 186 Aktenvermerk der HA IX/3, 17.6.1964; BStU, MfS, AS 604/70, Bd. 1 u. 3, Bl. 289 f. 187 Vorschlag zur Auszeichnung, 12.5.1972, Kaderakte Heinz Volpert; BStU, MfS, KS I 6/87, Bl. 120. Zum Staatsfeiertag am 7. Oktober 1968 erhielt er das Jubiläumsabzeichen »50 Jahre WTschk – KGB«, ein Jahr später die Medaille »Ehrenmitarbeiter der Staatssicherheit der UdSSR« und am 26. Juni 1973 den »Orden des Roten Sterns durch Beschluß […] des Präsidenten des Obersten Sowjets der UdSSR«; ebenda, Bl. 9. 188 Wolf: Spionagechef, S. 209. 189 Jarausch, Konrad; Hertle, Hans-Hermann (Hg.): Risse im Bruderbund. Die Krim-Gespräche Honecker – Breshnew 1974 bis 1982. Berlin 2006. 190 Gespräch Honecker – Breschnew v. 18.6.1974; DzD VI/3, Dok. Nr. 178, S. 621–630, hier 629.
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von Beginn an beim MfS, das damit die zweite Ecke des eingangs skizzierten Machtdreiecks bildete. An der Staatssicherheit führte schon allein deswegen kein Weg vorbei, weil sich das MfS spätestens seit Ende der fünfziger Jahre als »Generalunternehmer für Sicherheit« verstand und daher »eine dominante Stellung im Herrschaftssystem der DDR« besaß. Als Geheimpolizei war das MfS für die Identifizierung, Bekämpfung, Inhaftnahme und Deliktuntersuchung politischer Gegner zuständig; hinsichtlich der Entlassung »gefährlicher Staatsfeinde« konnte kein anderes Staatsorgan etwas gegen seinen Willen durchsetzen, außer durch einen Beschluss der Partei.191 Generell akzeptierte Erich Mielke »als Kontrollberechtigten und Weisungsbefugten« schon in den sechziger Jahren »vermutlich nur den Ersten Sekretär des ZK, Walter Ulbricht«. Umgekehrt ließ die Parteispitze dem MfS »erheblichen eigenverantwortlich zu nutzenden Handlungsspielraum« und erwartete dafür die loyale Durchführung politischer Beschlüsse.192 Außerdem kontrollierte das MfS mit Rechtsanwalt Vogel den Kommunikationskanal zum Westen, was der Staatssicherheit den entscheidenden Einfluss auf die Steuerung der Verhandlungen verschaffte. Die operative Leitung behielt sich Erich Mielke persönlich vor. Seine MfSinterne Dienstanweisung zur »Übersiedlung von Strafgefangenen« vom Mai 1986, mit der das Verfahren erstmals schriftlich fixiert wurde, erklärte den Vorgang zur »Chefsache«, wie aus Punkt 1 des Schreibens hervorgeht: »Übersiedlungen Strafgefangener erfolgen ausschließlich auf der Grundlage meiner Entscheidungen.«193 Dies betraf nicht nur die besonders schweren Fälle, meist hoch bestrafte Häftlinge, über die in den Verhandlungen besonders hartnäckig gerungen wurde, sondern alle Freigekauften. Etliche überlieferte DIN-A-4Beurteilungsbögen mit den persönlichen Daten des jeweils freigekauften Häftlings und einer Schilderung seines »Vergehens« tragen von 1963 bis in die späten achtziger Jahre hinein Mielkes Unterschrift.194 Um den Kreis der Eingeweihten möglichst eng zu ziehen, unterlagen sowohl die oben genannte Anweisung als auch alle anderen sachlich zugehörigen 191 Vollnhals: Schein der Normalität, S. 245. 192 Suckut, Siegfried: Generalkontrollbeauftragter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? Probleme der Funktionsbestimmung des MfS in den sechziger Jahren. In: Ders. (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 151–168, hier 166 f. 193 GVS –o008 Nr. 43/86, 5.5.1986, »Anweisung zur […] Entlassung Strafgefangener aus der Staatsbürgerschaft der DDR und der Entlassung aus dem Strafvollzug in die BRD«; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 8273, Bl. 1–3, abgedr. in: Lochen, Hans-Hermann (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992, S. 205–208. 194 Die Beurteilungsbögen sind alphabetisch im Bestand BStU, MfS, HA IX abgelegt, jedoch nicht in fortlaufender Nummerierung, siehe z. B. die Nrn. 1656, 1781, 1853, 18868 etc.
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Vorgänge der formal zweithöchsten Schutzstufe »Geheime Verschlußsache (GVS)«. Gemäß dem »need-to-know-« und »need-to-share-Prinzip« aller Geheimdienste sollte jeder Beteiligte nur das wissen, was er zur Erfüllung seiner jeweiligen (Teil-)Aufgabe wissen musste. Laut HVA-Chef Markus Wolf habe Mielke Rechtsanwalt Vogel spätestens seit 1973 auch persönlich und gemeinsam mit Heinz Volpert »instruiert«.195 Vogels Berichte waren spätestens seit 1973 deshalb als »streng geheim« gekennzeichnet, nicht zuletzt deshalb, weil sie letztlich für den Generalsekretär bestimmt waren. Mit der praktischen Durchführung der »Häftlingsaktionen« beauftragte Mielke von Beginn an Heinz Volpert. Obwohl er bis 1969 formal stellvertretender Leiter der Hauptabteilung XX blieb (1964 aus HA V in HA XX umbenannt), war er nur Mielke gegenüber rechenschaftspflichtig. Volpert blieb dadurch eine Ausnahmeerscheinung im MfS, seine Position am östlichen Ende der Verhandlungsschiene Rehlinger – Stange – Vogel machte ihn gleichsam zum Gegenspieler des jeweiligen Leiters des »Freikauf-Referats« im Gesamtbzw. Innerdeutschen Ministerium. Volpert war 1932 in der thüringischen Kleinstadt Rastenberg nahe Weimar in einer Arbeiterfamilie geboren worden und begann 1947 nach dem Abschluss der Volksschule eine Lehre als Landwirt auf einem SED-Schulgut im benachbarten Buttelstädt. 1947 trat er im Alter von nur 15 Jahren in die FDJ, ein Jahr später in die SED ein. Seine Gesellenzeit als landwirtschaftlicher Gehilfe war nur von kurzer Dauer, denn Volpert bewarb sich bei der Volkspolizei in Weimar und wurde zum 1. Oktober 1950 bei der motorisierten Schutzpolizei eingestellt. Keine sechs Monate danach wechselte er als Kraftfahrer zum MfS in Weimar und wurde ein Jahr später in die Kreisdienststelle Rudolstadt versetzt. Volpert trat damit in die Fußstapfen seines Vaters, der vor 1933 und seit 1945 Mitglied der KPD/SED und gleichfalls Mitarbeiter des MfS war. 1957 schied Volpert senior auf eigenen Wunsch hin aus dem MfS aus, angeblich weil er »nicht das notwendige Vertrauen zu den leitenden Funktionären des MfS« fand.196 Sein Sohn hingegen machte eine steile Karriere. Rasch arbeitete er sich vom Kraftfahrer zum stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung V der Kreisdienststelle Rudolstadt, später in der Bezirksverwaltung Gera im Rang eines Oberleutnants empor. Laut einer Beurteilung vom 6. Februar 1952 zeichnete er sich »besonders durch einen gesunden Ehrgeiz aus«,197 in einer Einschätzung von 1954 bescheinigte ihm sein Vorgesetzter ein Leistungsver195 Wolf: Spionagechef, S. 190 f. Siehe die Liste mit den Berichten Vogels im Quellenverzeichnis. 196 Kaderakte Heinz Volpert, Vermerk, 11.3.1963; BStU, MfS, KS I 6/87. 197 Ebenda, Bl. 43
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mögen, das »weit über dem Durchschnitt« liege.198 1954 wurde Volpert nach Berlin versetzt und übernahm zwei Jahre später die Leitung der HA V/5. 1958 bekleidete er bereits den Rang eines Majors, fünf Jahre später wurde er im Alter von nur 31 Jahren zum Oberstleutnant befördert.199 Sein kometenhafter Aufstieg beruhte hauptsächlich auf den Erfolgen bei der Bekämpfung der Westberliner »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) in den fünfziger Jahren. Das MfS im Allgemeinen und Volpert im Besonderen bedienten sich dabei der Methode, Mitarbeiter bzw. Agenten der KgU als Geheime Mitarbeiter (GM) für das MfS anzuwerben und sie durch die Zahlung hoher Geldbeträge dazu zu bewegen, zahlreiche V-Leute der KgU zu verraten. Bei einigen der Treffen Volperts mit KgU-Überläufern in OstBerlin war auch MfS-Generalmajor Hans Fruck anwesend, der zu den »legendären Gründungspersönlichkeiten« des MfS gehörte.200 Damit empfahl sich Volpert für besondere Aufgaben und hatte bereits zu einem frühen Zeitpunkt seiner Karriere persönliche Kontakte zu führenden Kadern der Leitungsebene des MfS geknüpft. Nach der Durchführung der ersten großen Entlassungsaktion im Sommer 1964 hieß es in einer Beurteilung seines Vorgesetzten, Volpert sei »beauftragt, bestimmte politisch-operative Aufgaben selbst durchzuführen«.201 Dabei waren seine Aufgaben offenbar nicht schriftlich fixiert, sondern beruhten auf einer mündlichen Weisung Mielkes. Dabei blieb es bis zu Volperts Tod 1986. Parallel zu seiner neuen Aufgabe absolvierte er von 1960 bis 1965 ein juristisches Studium an der Juristischen Hochschule des MfS (JHS) in Potsdam, das er mit der Note »Sehr gut« abschloss. Interessanter als die Diplomarbeit ist die kollektive Dissertation, die Volpert gemeinsam mit Alexander SchalckGolodkowski im Mai 1970 an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam einreichte. Das knapp 200 Schreibmaschinenseiten starke Konvolut mit dem Titel »Zur Vermeidung ökonomischer Verluste und zur Erwirtschaftung zusätzlicher Devisen im Bereich Kommerzielle Koordinierung des Ministeriums für Außenwirtschaft der DDR« enthält zwar keinen expliziten Bezug auf das Häftlingsgeschäft, beschrieb jedoch dessen gedanklichen Rahmen. Mittels eines umfangreichen Maßnahmenkataloges sollten zur »Realisierung von Schuldenforderungen der DDR an Westdeutschland und Westberlin« über 120 Milliarden DM eingetrieben werden. Mielke persönlich fungierte als Gutachter und Betreuer der Arbeit, obwohl er selbst keinen Hochschulab198 Ebenda, Bl. 50. 199 Ebenda, Bl. 5. 200 Siehe den GM-Vorgang »Karl«; BStU, MfS, AIM 2703/58 und die MfS-Ausarbeitung, Hauptabteilung V/5, Die Methoden des MfS bei der Zerschlagung der sogen. »KgU« v. 1.6.1959; BStU, MfS, ZMA XX 1524, Bl. 12–14. Mein Dank gilt Enrico Heitzer für diesen Hinweis. 201 Kaderakte Heinz Volpert; BStU, MfS, KS I 6/87, Bl. 105.
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schluss besaß. Die Verteidigung fand im Beisein von fünf Personen »beim Minister« statt. Volpert und Schalck-Golodkowski führten künftig den Titel eines Dr. jur.202 Als sie im Mai 1970 ihr Werk einreichten, war Volpert bereits seit einigen Monaten »zur Durchführung von Sonderaufgaben« beim Büro der Leitung tätig. Zwei Jahre später holte ihn Mielke zu sich ins Sekretariat des Ministers und beförderte ihn kurz darauf zum Oberst. Die verbleibenden 15 Jahre seines Lebens sollte er in der Dienststellung eines »Offiziers für Sonderaufgaben« als enger Vertrauter Mielkes die Durchführung des Häftlingsgeschäftes und der Agentenaustauschvorgänge übernehmen. Wie eng das Arbeitsverhältnis war, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Volperts Büro und das Vorzimmer mit seiner Sekretärin im fünften Stock von Haus 1 der MfS-Zentrale in BerlinLichtenberg befand und er jederzeit Zugang zum Minister hatte.203 Auch sein äußeres Erscheinungsbild war für einen Stasi-Offizier außergewöhnlich und machte ihn zu einer Ausnahmeerscheinung (Abb. 16): Volpert trug Anzüge westlicher Herstellung, rauchte Zigaretten der Marke »Gauloises«, war sportlich, meist braungebrannt und fuhr als Statussymbol einen Fiat, den er inmitten des Stasi-Komplexes auf dem Ministerparkplatz abstellen durfte, ein Privileg, das zu Beschwerden anderer Mitarbeiter führte.204 Der Neid seiner MfS-internen Gegner richtete sich zweifelsohne auch auf die Auszeichnungen und Belobigungen, die in seiner Kaderakte ein ganzes Blatt füllen, darunter der »Vaterländische Verdienstorden in Gold« (1975) und ein »Ehrengeschenk des Generalsekretärs« Erich Honecker (1985).205 Anlass zu Spekulationen geben bis heute die Umstände seines Todes, der ihn vier Tage nach dem spektakulären Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke am 15. Februar 1986 in der Sauna seines Privathauses ereilte. Ein von der Hauptabteilung IX angefertigter Untersuchungsbericht stellte als Todesursache Herzversagen fest. Nach 1990 tauchen Gerüchte auf, er sei im Auftrag Mielkes ermordet worden, doch gibt es dafür keinerlei Anhaltspunkte.206 Bei der Begehung seines Hauses fand die MfS-Abteilung Kader und Schulung einen »Berg von Westprodukten«, darunter 180 Flaschen mit Spirituosen, 202 Erster Teilbericht des 1. Untersuchungsausschusses Kommerzielle Koordinierung (BTDrucksache 12/3462, S. 123–330). Vgl. Volze, Armin; Kuppe, Johannes L.: Doktor Schalck. Analyse einer Geheimdokumentation. In: DA 26 (1993) 6, S. 99–105. 203 Zeugenaussage v. 24.6.1991, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 21, Bl. 27; Kaderakte der Sekretärin Volperts in: BStU, MfS, KS 13406/90. 204 Zeugenaussage im Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 32, Bl. 37 f. 205 Kaderakte Heinz Volpert; BStU, MfS, KS I 6/87, Bl. 9. 206 Vgl. das Interview mit Ludwig A. Rehlinger in der Zeitschrift SUPERillu v. 8.11.2007.
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mehrere Kilo Kaffee, 250 Packungen verschiedener Parfüms, sowie Kosmetika und Medikamente.207 Volperts Nachfolge als Vogels Verbindungsoffizier und Beauftragtem für die Durchführung des Häftlingsverkaufs trat Generalmajor Gerhard Niebling an, der seit 1983 die »Zentrale Koordinierungsgruppe« (ZKG) leitete (Abb. 17).208 Diese war 1975 in Reaktion auf den deutsch-deutschen Annäherungsprozess gegründet worden. Anfangs bestand die Aufgabe der ZKG darin, die Anstrengungen des MfS zur Unterbindung von Flucht und Fluchthilfe zu koordinieren. Zu Beginn der achtziger Jahre wandelte sich ihre Aufgabe: Künftig sollte sie vor allem die Ausreisebewegung niederhalten und Ausnahmefälle steuern, die Ausreisen im Rahmen der Familienzusammenführung (FZ, sog. »Listenfälle«) eingeschlossen.209 Der ZKG waren die »Bezirkskoordinierungsgruppen« (BKG) in den 15 Bezirksverwaltungen des MfS nachgeordnet. Zwischen 1976 und 1989 vervierfachte sich der gesamte Personalbestand von 104 auf 446 Mitarbeiter, was zugleich den wachsenden Druck der Ausreisebewegung widerspiegelte. Der ZKG und den BKG oblag außerdem die Entscheidung über jene Ausreisebegehren, denen aus »politisch-operativen« oder anderen Gründen stattgegeben werden sollte.210 Da der Freikauf seit Mitte der siebziger Jahre im Regelfall die Ausreise in die Bundesrepublik einschloss, berührte die Entscheidung über den Verkauf auch den Zuständigkeitsbereich der ZKG. Die ZKG arbeitete seit circa 1982/83 mit Volpert zusammen, wobei sich die Kooperation hauptsächlich auf das routinemäßige Prüfungsverfahren zu jedem einzelnen Häftling bezog. Es war daher folgerichtig, dass der mit der Materie vertraute ZKG-Leiter Gerhard Niebling die Aufgabe Volperts nach dessen Tod übernahm. Der äußerliche Kontrast zu seinem Vorgänger konnte indes kaum größer sein: Im Gegensatz zum »Playboy« Volpert entsprach Niebling dem »Prototyp des Apparatschiks«.211 Zudem leitete er zugleich eine Diensteinheit, was der Einzelkämpfer Volpert stets abgelehnt hatte. Für die Vorbereitung und Durchführung der Häftlingsaktionen bestand ferner eine enge Arbeitsbeziehung zwischen Volpert bzw. seinem Nachfolger Niebling und der Hauptabteilung IX, dem »Untersuchungsorgan« des MfS, das wie auch Volpert unmittelbar dem Minister unterstellt war. Während Volperts bzw. Nieblings Tätigkeit nach außen gerichtet war, bestand die Aufgabe der HA IX in der Vorbereitung und Umsetzung der Entscheidungen 207 Zit. nach: Eisenfeld: Freikauf, S. 16, Anm. 15. 208 Gieseke, Jens: Gerhard Niebling. In: Müller-Enbergs, Helmut; Wielgohs, Jan; Hoffmann, Dieter (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Berlin 2000, S. 623 f. 209 Eisenfeld, Bernd: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung. Berlin 1996, S. 3. 210 Ebenda, S. 6. 211 Pötzl: Spione, S. 441.
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innerhalb des Apparates und dem »Zusammenwirken« mit den übrigen Justizorganen. Innerhalb der HA IX übernahm der später bis zum Oberst beförderte Manfred Enke diese Aufgabe (Abb. 18). 1930 in Schmölln bei Gera geboren, war Enke nahezu gleichaltriger Landsmann Volperts. Bald nach Gründung der DDR trat er im November 1953 in das MfS ein und wurde 1955 zur HA IX nach Berlin versetzt. Dort arbeitete er sich bis zum Hauptmann empor und leitete ein Referat in der Abteilung 4 der HA IX. 1964 übernahm Enke zunächst kommissarisch den Posten des stellvertretenden, schließlich den des Leiters der Abteilung IX/4. Als »Instrukteurabteilung« oblag ihr die »Anleitung und Kontrolle verschiedener Untersuchungsabteilungen in den Bezirksverwaltungen«,212 da es in den Bezirksverwaltungen oftmals an der Allgemeinbildung und Fachkompetenz der Mitarbeiter mangelte.213 Bereits 1964 kooperierte Enke eng mit Volpert, wie seine charakteristische Handschrift auf HäftlingsBeurteilungsbögen belegt.214 Eine Beurteilung vom Mai 1967 vermerkt, dass er »seit 1965 mit der Lösung einer wichtigen politisch-operativen Sonderaufgabe betraut« sei.215 1967 erfolgte ein erster Schritt in Richtung Spezialisierung und personeller Erweiterung des Apparates. Der Leiter der HA IX machte den Vorschlag, Enke zum »Beauftragten für Sonderaufgaben der HA IX« in der Dienststellung eines Abteilungsleiters und dem Rang eines Oberstleutnants zu ernennen. Enke sei bereits mit der Durchführung von Sonderaufgaben betraut gewesen.216 Dies erfordere, dass er sich »voll auf diese [Aufgabe] konzentrieren« könne. Durch die Einrichtung der Stelle des Sonderbeauftragten könne sichergestellt werden, dass die Durchführung der Sondermaßnahmen »im vollen Interesse der allseitigen Stärkung und Sicherung der DDR« gewährleistet sei. Außerdem könnten die Sonderaufgaben künftig »durch einen leitenden Kader« gelöst werden.217 Das »Büro für Sonderaufgaben« (BfS), das in den siebziger Jahren in »Arbeitsgruppe-« (AGS) und 1989 in »Selbständiges Referat für Sonderaufgaben« (SR S) umbenannt wurde, agierte fortan unter der Leitung Enkes »im Zu-
212 Kaderakte Manfred Enke; BStU, MfS, KS 13425/90, Bl. 60. 213 Sélitrenny, Rita: Doppelte Überwachung. Geheimdienstliche Ermittlungsmethoden in den DDR-Untersuchungshaftanstalten. Berlin 2003, S. 208. 214 Siehe z. B. BStU, MfS, HA IX, Nr. 16570, Bl. 359 u. Nr. 17553, Bl. 4. 215 Beurteilung der HA IX, 23.5.1967, Kaderakte Manfred Enke; BStU, MfS, KS 13425/90, Bl. 85. 216 Die Bedeutung der darin genannten »Aktion Schwarz-Rot« nicht ermittelbar. 217 Kaderakte Manfred Enke; BStU, MfS, KS 13425/90, S. 87 f., Hervorheb. i. O. Zum Diversifizierungstrend im MfS in den sechziger Jahren siehe Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 239–242.
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sammenwirken mit Oberst Dr. Volpert«218 und hatte damit »maßgeblichen Anteil an der Erfüllung eines Kampfauftrages des Genossen Minister«.219 Das Büro für Sonderaufgaben wuchs bis 1989 auf insgesamt acht Planstellen an.220 Neben Enke, seinem Stellvertreter Rudi Brömme und einer Sekretärin verfügte es über fünf weitere Sachbearbeiter, die an der Humboldt-Universität Berlin oder der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam einen Abschluss in Rechtswissenschaften oder Jura erworben hatten und zuvor längere Zeit als Vernehmer tätig gewesen waren.221 Untergebracht war das Büro wie die gesamte Hauptabteilung IX auf dem Gelände der zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen und somit im gleichen Gebäude wie die »normalen« Untersuchungsabteilungen. Abschließend sind drei weitere Diensteinheiten des MfS im vorliegenden Zusammenhang zu nennen. Erstens die Abteilung XIV, die für den Betrieb der Untersuchungshaftanstalten des MfS zuständig war. Zu ihren praktischen Aufgaben gehörten dabei auch die Verlegung von Häftlingen, ihre erkennungsdienstliche Behandlung und medizinische Betreuung. Generell sahen die Mitarbeiter der Linie IX in der Abteilung XIV eine »Dienstleistungseinrichtung«, was dazu führte, dass sie von allen Diensteinheiten des MfS das geringste Ansehen hatte.222 Zweitens die »Hauptverwaltung Aufklärung« (HV A), die Auslandsspionage des MfS. Da sie 1989/90 fast ihren gesamten Aktenbestand vernichten konnte, ist nur wenig über ihre Rolle im Rahmen des Freikaufs bekannt. Sie war insofern an den Vorgängen beteiligt, als dass sie den Agentenaustausch zur Vorbedingung des Häftlingsfreikaufs hatte machen können, um ihre im Westen enttarnten und inhaftierten »Kundschafter« auch weiterhin zurückholen zu können. Schließlich hätte der Westen seine eigenen Mitarbeiter sonst freikaufen können, ohne dafür »Kundschafter« der DDR freigeben zu müssen. Auf die Verhandlungen selbst konnte die HV A nur insofern einwirken, als dass sie ihre Wunschlisten an Mielke weiterleitete, der sich diesen 218 Leiter HA IX an Leiter ZAIG Irmler, 14.8.1981 betr. Strukturplan der HA IX; MfS, HA IX, Nr. 18963, Bl. 38 f. 219 Kaderakte Manfred Enke; BStU, MfS, KS 13425/90, S. 112. 220 BStU, MfS, HA IX, Nr. 13323, S. 341, Januar 1987. Ob es weitere Mitarbeiter gab, ist nicht erkennbar. 221 Planstellennormative vom Februar 1987; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13323, Bl. 115; vgl. Sélitrenny: Doppelte Überwachung, S. 253 f. Die Mitarbeiter des Referates waren Werner Mackrodt (seit 1969; BStU, MfS, KS II 329/87), Wolf-Dieter Bethge (seit 1971; BStU, MfS, KS 12880/90), Harald Heintze (seit 1972; BStU, MfS DOS 3221/92), Heide Kaiser (1976; BStU, MfS, KS 13527/90), Gerd Marlewski (seit 1977; BStU, MfS, KS 12167/90), Rudi Brömme (seit 1980; BStU, MfS, KS 13300/90), Hinrich Wohlrab (seit 1986 als Ersatz für Mackrodt; BStU, MfS, KS 10158/90) sowie Jürgen Dernier (seit 1987; BStU, MfS, DOS 3407/92). 222 Beleites, Johannes: Abteilung XIV: Haftvollzug (MfS-Handbuch, III/9). Hg. BStU. Berlin 2004, S. 4.
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Bereich selbst vorbehielt und bei mehrseitigen Austauschvorgängen mit den sozialistischen »Bruderorganen« in Verbindung trat.223 Zudem gelang es der HV A, mehrere Quellen im Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministerium zu platzieren, deren Klarnamen nicht mehr alle zu entschlüsseln sind.224 Gesichert ist die IM-Tätigkeit Knut Gröndahls, der 1972 seine Laufbahn als Hilfsreferent im BMB begann und bis zu seinem Wechsel in die ständige Vertretung 1986 Berichte an das MfS lieferte.225 Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Gröndahl Zugang zu Akten hatten, die die »Besonderen Bemühungen« betrafen. Da dieser Komplex nicht zu seinem Aufgabenbereich gehörte, galt die Anweisung an die Registratur, die Unterlagen nicht herauszugeben.226 Die Behauptung des früheren Abteilungsleiters im BMB, Hermann Kreutzer, dass Staatssekretär Dietrich Spangenberg (1977–1982) und sogar der Innerdeutsche Minister Egon Franke (1969–1982) IM des MfS gewesen seien, liegt wohl im Bereich des Spekulativen.227 Angeblich habe der BND 1990 von einem MfS-Überläufer eine »brisante Geheimdienstakte« erhalten, die den ehemaligen Innerdeutschen Minister »als Mitarbeiter des
223 Müller-Enbergs, Helmut: Hauptverwaltung A (HV A). Aufgaben – Strukturen – Quellen (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2011. http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:029297839421301580, S. 261. 224 Die früheste Erwähnung eines IM im BMG stammt aus dem Jahr 1962. Eine »zuverlässige Quelle« habe über eine kurz zuvor stattgefundene Besprechung unter Leitung von Staatssekretär Thedieck berichtet, EI 1962/467, 11.7.1962. BStU, MfS, HVA, Nr. 196, Bl. 140–142. Dass der Staatssekretär an der Besprechung teilnahm, könnte auf einen Kreis hochrangiger Teilnehmer hindeuten. In diesem Falle könnte es sich nicht um den bereits mehrfach der IM-Tätigkeit verdächtigten Lothar Weirauch handeln, der erst 1964 als Abteilungsleiter ins BMG kam und seit 1948 für die SED-Parteiaufklärung und die HV A als IM erfasst war. Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 105 u. 113; Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1998, S. 113 u. 187; Kühn, Detlef: Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit. 2., überarb. Aufl., Berlin 2008, S. 72–80, hier 80 stellt zu Weirauchs IM-Tätigkeit fest: »Es spricht nichts dafür, dass Weirauch nach 1952 zu irgendeinem Zeitpunkt für die HV A des MfS tätig gewesen ist«. So auch Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen 2005, S. 284–292, hier 291, Anm. 97: Die SIRATeildatenbank 21 der HV A des MfS verzeichne keine Informationseingänge unter der Signatur des im Dezember 1966 eingerichteten IM-Vorgangs Weirauchs. Weirauch war indes über interna informiert. Siehe Geißel an Weirauch, 6.11.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 579. 225 Marxen, Klaus; Schäfer, Petra: Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Bd. 4, Teilbd. 1: Spionage. Berlin 2004, S. 45–47. 226 Interview mit Ludwig A. Rehlinger v. 17.5.2011. 227 Interview mit Hermann Kreutzer in: Gursky, André: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR. Frankfurt/M. 2011, S. 255 f. In Bezug auf Spangenberg hat die Aussage insofern einen wahren Kern, als dass Spangenberg wahrscheinlich von einem Ostberliner Gesprächspartner abgeschöpft wurde. Marxen; Schäfer: Strafjustiz. Bd. 4, Teilbd. 1: Spionage, S. 508–518, inbes. 512.
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ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes« auswies.228 Belegbar ist demgegenüber, dass die Funkaufklärung der Staatssicherheit Telefongespräche im BMB abhörte und Zusammenfassungen der Gesprächsinhalte der ZKG zur Verfügung stellte.229 Drittens und letztens spielte mit Sicherheit auch die für die Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II des MfS eine Rolle, vor allem dann, wenn auf den Wunschlisten der Bundesregierung Inhaftierte standen, die für einen westlichen Nachrichtendienst tätig gewesen waren.230 Näheres entzieht sich mangels schriftlicher Unterlagen der genaueren Analyse.
Die »Partner des Zusammenwirkens«: Staatsanwaltschaften, Gerichte, MdI, MdJ, Staatsrat Bei der Durchführung des Häftlingsgeschäftes arbeitete das MfS eng mit den Staatsanwaltschaften, dem Justiz- und Innenministerium sowie dem Staatsrat der DDR zusammen. Sie bildeten die dritte Ecke des Machtdreiecks. Notwendig war dies hauptsächlich deswegen, weil die Entlassungen formaljuristisch korrekt abgewickelt werden mussten, um nach außen den Anschein der Rechtsförmigkeit zu wahren. Schließlich war die Staatsanwaltschaft gemäß § 346 bzw. § 349 StPO befugt, beim verurteilenden Gericht Anträge auf eine Strafaussetzung auf Bewährung zu stellen.231 Bei Inhaftierten, die zu einer lebenslangen oder besonders hohen Freiheitsstrafe verurteilt waren, musste das Urteil zuvor in eine zeitliche Strafe umgewandelt oder eine Strafminderung ausgesprochen werden, was laut Art. 106 bzw. 77 der Verfassung von 1949 bzw. 1968 zu den Befugnissen des Staatsrats gehörte. Da das Justizministerium die Gerichte beaufsichtigte und das Gnadenverfahren seine Anhörung vorsah, gehörte es ebenfalls zum Kreis der Beteiligten.232 Das Ministerium des Innern schließlich war deshalb in die Vorgänge einbezogen, weil es die Strafvollzugseinrichtungen verwaltete und die Urkunden über die Entlassung aus der 228 Ebenda. Auf eine diesbezügliche Anfrage an den früheren BND-Präsidenten Dr. Hans-Georg Wieck (1985–1990) äußerte sich dieser wie folgt: »Zu der Aussage von Herrn Kreutzer kann ich Ihnen nichts sagen«, Hans-Georg Wieck an den Verfasser, 19.4.2011. 229 Vgl. Pötzl: Spione, S. 502–505. 230 Labrenz-Weiß, Hanna: Die Hauptabteilung II: Spionageabwehr (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 1998. http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421300593. 231 StPO-DDR v. 12.1.1968 i.d.F. v. 7.4.1977, abgedruckt in: Roggemann, Herwig: Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung der DDR mit Nebengesetzen. 2., überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1978, S. 374; Ministerium der Justiz der DDR (Hg.): Strafprozeßordnung vom 2. Oktober 1952. Berlin 1952, S. 129. 232 Entwurf der Gnadenordnung v. 1961; BStU, MfS, SdM 1035, Bl. 102–114, hier 108.
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Staatsbürgerschaft ausfertigen musste, insofern die Entlassung in den Westen erfolgte. Im MfS-Jargon trug die Zusammenarbeit mit den vorgenannten Justiz- und Staatsorganen die Bezeichnung »einheitliches und abgestimmtes Vorgehen« mit den »Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens«. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass das »Zusammenwirken« nicht auf Basis der Gleichberechtigung stattfand. Das MfS befand sich gegenüber den »Partnern« schon deshalb im Vorteil, weil sämtliche Ermittlungs- und Verfahrensakten in seinem Archiv lagerten. Die Staatsanwaltschaften mussten diese nach dem Abschluss der Gerichtsverfahren an das MfS übergeben.233 Die »Abstimmung« bestand deshalb meist darin, dass das MfS die Entscheidungen traf und die »Partner« diese ausführten. In jedem Falle konnten sie keine Entscheidungen gegen den Willen des MfS treffen. Das Unterordnungsverhältnis galt insbesondere für die Staatsanwaltschaften. Obwohl formal kein Weisungsrecht bestand, dominierte das MfS faktisch die Staatsanwaltschaften.234 Höchstens Generalstaatsanwalt Streit und MfSChef Mielke begegneten sich anfangs noch auf Augenhöhe, da Streit sein politisches Gewicht einbringen konnte und Vogel gegenüber dem Westen offiziell mit seiner Vollmacht verhandelte. Schließlich musste Streit über die Verhandlungsposition des federführenden MfS informiert sein, zumal Rechtsanwalt Stange zu Verhandlungen hin und wieder in das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft in Ost-Berlin kam. Zwar sind über die Zusammenarbeit zwischen Mielke und Streit hinsichtlich des Häftlingsgeschäftes keine Dokumente überliefert, doch aus anderen Zusammenhängen geht hervor, dass sich beide in wichtigen Fällen abstimmten. 1981 erhielt Streit den nur selten verliehenen Titel eines »Verdienten Mitarbeiters der Staatssicherheit«, was sicherlich auch die reibungslose Kooperation im Hinblick auf das Häftlingsgeschäft honorieren sollte.235 Ständige, enge Arbeitsbeziehungen zur Generalstaatsanwaltschaft und zu den anderen »Partnern des Zusammenwirkens« unterhielt das MfS ansonsten auf der mittleren Hierarchieebene über das »Büro für Sonderaufgaben« der HA IX unter der Leitung Oberst Enkes. Der Kontakt zwischen Enke und der Abt. Ia der Generalstaatsanwaltschaft wurde stets dann aktiviert, wenn die Entlassung der Häftlinge eingeleitet werden sollte.236 Die Abteilung Ia war ausschließlich für die Bearbeitung von »Staatsverbrechen« zuständig, d. h. für 233 Vollnhals: Schein der Normalität, S. 227; vgl. die Aussage einer ehem. Staatsanwältin in: Furian, Gilbert; Forck, Gottfried: Der Richter und sein Lenker. Politische Justiz in der DDR. Berichte und Dokumente. Berlin 1992, S. 222. 234 Vollnhals: Fall Havemann, S. 29. 235 Ebenda, S. 36. 236 Funktionsplan HA IX/SRS; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3344, Bl. 42.
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politische Delikte, dabei weisungsbefugt gegenüber den nachgeordneten IaAbteilungen in den Bezirks- und Kreisstaatsanwaltschaften.237 Hauptansprechpartner Enkes war dort die »rechte Hand« von Generalstaatsanwalt Streit, Abteilungsleiter Staatsanwalt Gernot Windisch.238 Nach dessen Ausscheiden im Jahr 1979 rückte Eleonore Heyer in Windischs Position. Seit 1968 war auch der Stellvertretende Generalstaatsanwalt Karl-Heinrich Borchert ein wichtiger Ansprechparter, da er bis 1964 als GI »Esche« für das MfS gearbeitet hatte.239 Borchert war generell »der Mann, bei dem das MfS anrief, wenn es etwas bestimmtes erreichen wollte«.240 Posteingangs- und Postausgangsbücher des Enke-Referates belegen weiteren Schriftwechsel mit Staatsanwälten der IaAbteilung.241 Das gleiche Dominanzverhältnis charakterisierte die Arbeitsbeziehungen des Enke-Referates zum Ministerium des Inneren. 1965 stellte der Leiter der HA IX fest, Enke habe »bei der Durchführung spezieller Maßnahmen wiederholt eine eigenverantwortliche und wirksame Arbeit zur Koordinierung mit den zuständigen Organen des MdI geleistet«.242 Im MdI betraf dies vor allem die Verwaltung Strafvollzug.243 Sie stand zuletzt unter der Leitung von Oberst bzw. Generalmajor Wilfried Lustik (*1931, †2009) und verfügte über die zentrale Gefangenenkartei aller Inhaftierten, die in den Strafvollzugseinrichtungen des MdI ihre Haftstrafe verbüßten.244 Außerdem fertigte die MdIHauptabteilung »Innere Angelegenheiten« spätestens seit dem Inkrafttreten des Staatsbürgerschaftsgesetzes der DDR vom 20. Februar 1967 die Urkunden über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR aus.245 Die Inhaftierten bekamen sie am Tag der Ausreise von der MfS-Untersuchungshaftanstalt in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) nach Gießen zusammen mit dem Entlassungsschein ausgehändigt. An der Entscheidung über die Ausreise selbst hatte das MdI hingegen keinen Anteil, wie Mielke hervorhob: »Klar muß sein: Übersiedlungen aus politisch-operativen Gründen oder anderem staatlichen Interesse – das ist alleinige Sache der Staatssicherheit. Sie liegen ausschließlich in 237 § 19 StAG von 1963 u. § 8 StAG von 1977. 238 Vermerk Gespräch Stange – Kunze, 26.6.73; LArchB, B Rep. 002, Nr. 7989/1. 239 Vollnhals, Clemens: »Die Macht ist das Allererste«. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000, S. 227–272, hier 243; Kahl, Werner: Ost-Berlins Austausch-Spezialist tot. In: Die Welt v. 14.2.1981. 240 Behlert: Generalstaatsanwaltschaft, S. 335. 241 BStU, MfS, HA IX, Nrn. 19378 bis 19383, darunter die Staatsanwälte Ebert und Erben. 242 Kaderakte Manfred Enke; BStU, MfS, KS 13425/90, S. 76. 243 Vgl. Das »Organ Strafvollzug« im Ministerium des Innern der DDR. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR – Politik und Ideologie als Instrument. Berlin 1999, S. 498–505. 244 BArch-B, DO 1 Ministerium des Innern, zentrale Gefangenenkartei. 245 Vgl. http://www.verfassungen.de/de/ddr/staatsbuergerschaft67.htm, download 5.3.2010.
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unserer Verantwortung – damit hat das MdI nichts zu tun.«246 Trotz dieser Unterordnung belastete dies keinesfalls das »kameradschaftliche Zusammenwirken«: Angeblich brachten »die Genossen des MdI (Verw. Strafvollzug) bis hin zum General Lustik für das MfS viel Verständnis« für die oft dringlichen Aufträge des Enke-Referates auf.247 Zu den Arbeitskontakten des Enke-Referates gehörte auch die »Zusammenarbeit mit dem Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen bei der Dienststelle des Staatsrates«.248 Sie fertigte Gnadenentscheidungen des Staatsratsvorsitzenden aus, des formalen Staatsoberhauptes der DDR. Abgesehen von der kurzen Amtszeit Willi Stophs zwischen 1973 und 1976 bekleideten die beiden SED-Generalsekretäre Ulbricht und Honecker das Amt. Die Gnadenerweise waren insbesondere in Fällen von Inhaftierten mit einer lebenslangen Haftstrafe notwendig, um die Strafe in eine zeitlich befristete Freiheitsstrafe umzuwandeln. Der zuständige Mitarbeiter in der Abteilung Staats- und Rechtsfragen bearbeitete sämtliche Eingaben, die an den Staatsrat oder an Ausschüsse der Volkskammer gerichtet wurden und die »MfS-Verfahren, Gnadensachen« und »Angelegenheiten nach Abschluß des Strafverfahrens« betrafen. Eine Vereinbarung zwischen dem MfS und dem Staatsrat vom 12. Dezember 1969 bestimmte, dass der Mitarbeiter »unmittelbar mit dem Genossen [Gernot] Windisch« aus der Generalstaatsanwaltschaft und dem MfS Kontakt aufnehmen möge. Damit landeten alle Eingaben an den Staatsrat letztlich auf dem Schreibtisch des Leiters des »Büros für Sonderaufgaben« im MfS: »Wenn ersichtlich ist, dass die Eingaben das [sic!] Interessenbereich des Genossen Enke berühren«, solle sich der Mitarbeiter »unmittelbar an Genossen Enke« wenden.249 Der letzte in diesem Zusammenhang relevante »Partner des Zusammenwirkens« war das Ministerium der Justiz. Justizministerin Hilde Benjamin (1953– 1967) versuchte offenbar, sich ein Mitbestimmungsrecht bei der Entscheidung über die Entlassung der Inhaftierten zu sichern, scheiterte jedoch am Einfluss Streits.250 Ansonsten bestand die Funktion des Justizministeriums hauptsächlich in der »Anleitung der Bezirks- und Kreisgerichte« (§ 21 GVG), die über die Anträge der Staatsanwaltschaften auf bedingte Strafaussetzungen entschieden.251 Nach dem Text der Verfassung sollte die Richterschaft zwar unabhän246 Dienstkonferenz v. 11.5.1984; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8694, Bl. 42. 247 Ausarbeitung der Abt. XIV; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1890, Bl. 8. 248 BStU, MfS, HA IX, Nr. 3344, Bl. 25. 249 Memo »Eingabenbearbeitung beim Staatsrat«, 12.12.1969; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2137, Bl. 4 f. 250 Pötzl: Basar, S. 163 f. 251 Rottleuthner, Hubert: Zum Aufbau und zur Funktionsweise der Justiz in der DDR. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000, S. 25–42, hier 29.
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gig sein. Durch den hohen Anteil von SED-Mitgliedern, die Überprüfung der Kader durch das MfS sowie die Praxis der »Urteil nach Antrag-Verfahren«252 war in der Praxis eine wirksame Kontrolle der Richter gesichert.
Der Bereich »Kommerzielle Koordinierung« Die wirtschaftliche Dimension des Häftlingsgeschäftes fiel seit seinem Beginn in den Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Außenhandel (MAH). Dem MAH unterstanden die Außenhandelsbetriebe, allen voran die »Intrac Handelsgesellschaft mbH«, die mit den Vertrauensfirmen des Diakonischen Werkes in der Bundesrepublik jeweils nach Abschluss der Globalvereinbarungen zwischen dem Diakonie-Vizepräsidenten Ludwig Geißel und dessen jeweiligem Verhandlungspartner im MAH die detaillierten Liefervereinbarungen über die gewünschten Warenspezifikationen schlossen.253 Geißels Ansprechpartner im MAH war anfangs Horst Roigk, ein »strammer SED-Mann«254 und »Offizier im besonderen Einsatz« (OibE) des MfS. Zur Schlüsselfigur sollte jedoch Alexander Schalck-Golodkowski werden, der seit 1952 auf dem Sektor Außenhandel des Ministeriums tätig war.255 SchalckGolodkowski, wie Heinz Volpert Jahrgang 1932, war als Sohn eines russischen Emigranten und einer deutschen Mutter in Berlin geboren und hatte sich nach einer Feinmechanikerlehre und einem Studium der Ökonomie durch Fleiß und Organisationstalent emporgearbeitet. 1962 wurde Schalck-Golodkowski in die Position des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Außenhandel berufen, eine Schaltstelle, die ihn »zum bestinformierten Mann auf dem Sektor Außenhandel« machte. In den Jahren dieser Tätigkeit, in denen auch das Häftlingsgeschäft seinen Anfang nahm, lernte Schalck-Golodkowski am Rande der Leipziger Frühjahrsmesse 1962 den stellvertretenden Leiter der HV A des MfS, Generalmajor Hans Fruck, Heinz Volpert sowie Günter Mittag kennen, der später als ZKSekretär für Wirtschaft und Mitglied des Politbüros faktisch zum Wirtschaftslenker der DDR aufsteigen sollte. In diesem »Triumvirat« Fruck – Volpert – 252 Werkentin: Strafjustiz, S. 304 u. 313; siehe auch die Literaturverweise in: Vollnhals: Fall Havemann, S. 25. Damit war die stillschweigende Erwartung an die Richterschaft gemeint, den Anträgen der Staatsanwaltschaft stets in der Annahme stattzugeben, diese exekutierten den Parteiwillen. 253 Vgl. Judt, Matthias: Schalcks KoKo. Mythos und Realität des Bereichs Kommerzielle Koordinierung. In: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. München 2009, S. 307–315. 254 Geißel: Unterhändler, S. 336. 255 Für das Folgende siehe Dt. Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600, S. 87–126; Schalck-Golodkowski: Deutsch-deutsche Erinnerungen, S. 123–182.
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Mittag wurde in dieser Zeit die Idee geboren, einen besonderen, von den Zwängen der Planwirtschaft unabhängigen Arbeitsbereich innerhalb des Außenhandelsministeriums zu schaffen. Ihm sollte die Aufgabe obliegen, in großem Stil Devisen neben dem zentralen Planvorgaben der staatlich gelenkten Ökonomie zu erwirtschaften. Zum 1. April 1966 wurde daher der Bereich »Kommerzielle Koordinierung« (im folgenden KoKo) im MAH gebildet. Heinz Volpert, der sich privat mit Schalck-Golodkowski angefreundet hatte, schlug Schalck-Golodkowski zum Leiter des Bereiches vor. Die Berliner Zentrale der KoKo residierte in einem äußerlich unscheinbaren Zweckbau in der Wallstraße in Ost-Berlin, direkt gegenüber dem Südende der Spreeinsel. Formal bekleidete Schalck-Golodkowski den Posten eines »Stellvertreters des Ministers für den Bereich Kommerzielle Koordinierung«, seit 1975 im Range eines Staatssekretärs. Indes war er »Diener dreier Herren« (Hans-Hermann Hertle): Faktisch war er nicht dem Außenhandelsminister, sondern direkt dem ZK-Sekretär für Wirtschaft Günter Mittag unterstellt. Gleichzeitig war Schalck-Golodkowski seit 1966 als »Offizier im besonderen Einsatz« (OibE) des MfS im Dienstgrad eines Oberstleutnants aktiv, nachdem er bereits seit 1960 als IM für das MfS tätig gewesen war. Schalck-Golodkowski empfing damit Weisungen von Erich Mielke, war damit ähnlich wie Rechtsanwalt Vogel ein »Ziehkind des MfS«, das ohnehin zu den maßgeblichen Initiatoren der Gründung und Steuerung der KoKo gehörte. Auf der Arbeitsebene bestand das engste Verhältnis zu Mielkes Sonderbeauftragtem Heinz Volpert, mit dem Schalck-Golodkowski zwecks Steuerung des Häftlingsgeschäftes in ständigem Kontakt stand (Abb. 19). Last but not least führte SchalckGolodkowski in den siebziger und achtziger Jahren mit der Vollmacht Erich Honeckers vertrauliche Verhandlungen mit Politikern der Bundesrepublik, darunter die Gespräche mit dem Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Wie eng die Zusammenarbeit zwischen Volpert und Schalck-Golodkowski war, zeigt der bereits erwähnte Umstand, dass sie 1970 an der Juristischen Hochschule des MfS eine gemeinsam verfasste Dissertationsschrift vorlegten, für die sie ihr Doktorvater Erich Mielke zum »Dr. jur.« promovierte.256 1975 erhielt SchalckGolodkowski die Beförderung zum Oberst, bekleidete damit den gleichen militärischen Rang wie Heinz Volpert. Zweifellos gehörte Schalck-Golodkowski zu den wenigen Personen in der DDR, die einen Überblick über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des »Arbeiter-undBauern-Staates« hatten. Zwar saß er nicht im Politbüro, nahm aber an den Sitzungen der 1982 eingesetzten Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz des Politbüros teil, die organisatorisch beim Leiter der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, angesiedelt und in ihrer täglichen Arbeit mit dem sich stetig verschärfenden Problem der Überschuldung der DDR konfrontiert war. 256 Vgl. Anm. 202 in diesem Kapitel.
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Funktionsmechanismen und ihre Konspiration
Wie funktionierte der Frei- bzw. Verkauf politischer Häftlinge in der Praxis? Das Prozedere folgte einem Grundmuster aus vier Schritten: Erstens die Zusammenstellung der Wunschlisten im Westen, zweitens die Übergabe an die DDR und Prüfung der Listen durch das MfS sowie drittens die Entscheidung Volperts und Mielkes, welche der gewünschten Häftlinge verkauft werden sollten. Jene, die das MfS nicht freigeben wollte, wurden für die nächste Verhandlungsrunde zurückgestellt, außer es gelang dem Westen, sich in dem anschließenden Verhandlungspoker doch noch durchzusetzen. Viertens und letztens veranlasste das MfS über die »Partner des Zusammenwirkens« die vereinbarten Entlassungen, an deren Ende meist auch die Ausreise in die Bundesrepublik stand. Der erste Schritt, die Zusammenstellung der Wunschlisten, auch »Häftlingslisten« oder lediglich »H-Listen« genannt, erfolgte im Zusammenspiel der bereits beschriebenen Stellen im Westen. Dabei drängte das Gesamt- bzw. Innerdeutsche Ministerium darauf, sämtliche Daten über die Häftlinge vor der Übergabe an die DDR zentral zu sammeln und abzugleichen. Damit sollte der unbeabsichtigten Benennung krimineller Häftlinge vorgebeugt werden, denn diese waren ausdrücklich von den Hilfsmaßnahmen ausgeschlossen.257 Gleiches galt für Inhaftierte, die wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit (VgM)«, d. h. Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges verurteilt worden waren.258 Schließlich wollte sich die Bundesregierung weder von der DDR noch von anderer Seite vorwerfen lassen, sie setze sich für »NS-Verbrecher« ein.259 Ebenfalls nicht einbezogen wurden Inhaftierte, wenn sie die Gründe für ihre Inhaftierung zumindest teilweise selbst zu vertreten hatten. Das bezog sich auf jene, die nach Freikauf, Entlassung in die Bundesrepublik und damit einhergehend der Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft trotz Belehrung durch die amtlichen Stellen im Westen in die DDR zurückgingen und beim »widerrechtlichen Eindringen« oder mehrfachen Abweichen von der Transitstrecke aufgegriffen und erneut inhaftiert wurden.260 Ferner sollte die Sammlung der Daten an zentraler Stelle ermöglichen, dringliche von weniger dringlichen Fällen zu unterscheiden und zugleich die Übermittlung einzelner Na-
257 Rehlinger an Weichert, 26.5.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 395 f. 258 Vermerk Rehlingers, 20.11.1964; ebenda, S. 197. 259 Notiz Kurt Wagners über eine Besprechung mit Rechtsanwalt Musiolik, 24.4.1967; Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1421, S. 2. 260 Siehe exemplarisch die Ausschlußgründe in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13649, Bl. 89, den Fall in: BStU, MfS, BV Suhl, AU 34/89, Bd. 1, sowie das Fernschreiben an das Referat II 3 v. 24.2.1967; BArch-K, B 137/15684.
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men von verschiedenen Seiten an Vogel zu unterbinden.261 Allerdings blieb dies oft Wunschdenken, noch 1987 beschwerte sich Vogel über die »Sitte«, dass »auf allen möglichen Wegen« Listen an ihn herangetragen würden.262 Ansonsten war es maßgeblich von den politischen Richtlinien abhängig, wer am Ende tatsächlich auf die Wunschliste gesetzt wurde.263 Nachdem das Innerdeutsche Ministerium die »H-Listen« über Stange an Vogel übergeben hatte, leitete Vogel sie an seinen Verbindungsoffizier Heinz Volpert weiter.264 Auch die Wünsche hochrangiger Bundespolitiker, beispielsweise die Listen von Franz Josef Strauß, landeten auf Volperts Schreibtisch.265 Im Auftrag Mielkes veranlasste Volpert die Identifizierung der Häftlinge sowie die Prüfung der ihnen zur Last gelegten Vergehen. Die Prüfung erfolgte dabei unter dem Gesichtspunkt, ob es aus Sicht des MfS oder anderer Stellen Einwände gegen eine Entlassung gab. Zuständig war das »Büro für Sonderaufgaben« der HA IX unter Leitung Oberst Enkes, das diese Prüfung in Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften vornahm. Die Mitarbeiter zogen dazu die Untersuchungsvorgänge heran und forderten Beurteilungen der Strafvollzugseinrichtung an, in der die Inhaftierten einsaßen.266 Grundsätzlich kamen nur solche Häftlinge für den Freikauf infrage, die bereits rechtskräftig verurteilt waren. Lediglich in Ausnahmefällen und beim Agentenaustausch wurde hiervon abgewichen. Die einzelnen Schritte des Verfahrens wurden erstmals 1986, kurz nach Volperts Tod, in einer Dienstanweisung der Sicherungsstufe »Geheime Verschlusssache« (GVS) niedergelegt, die an alle Leiter der Bezirksverwaltungen des MfS herausging.267 Mit der Einbeziehung der ZKG in das Prüfverfahren ab circa 1983/84 spielte sich folgender Ablauf ein: Volpert übergab die Listen an den ZKG-Chef,268 der über die Abteilung 1 seiner Diensteinheit die nachge261 Notiz Kurt Wagners über eine Besprechung mit Rechtsanwalt Musiolik, 24.4.1967; Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1421, S. 3. 262 Vermerk Vogels über eine Unterredung mit Rehlinger, 19.2.1987; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9649, Bl. 2. 263 Siehe hierzu die Kap. III u. IV. 264 Die Originale der H-Listen befinden sich in den Akten des Büro Volpert, siehe Quellenverzeichnis. 265 Notiz Schalcks v. 8.3.1984; BArch-B, DL 2, Nr. 7692, Bl. 89; ebenda, Nr. 7742, Bl. 84. 266 Vgl. Anm. 194 in diesem Kapitel. 267 »Schreiben betr. Übersiedlung von Strafgefangenen in die BRD«; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 8273, Bl. 1–3, abgedr. in: Lochen, Hans-Hermann (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992, S. 206–208; für die Bezirksverwaltungen siehe exemplarisch BStU, MfS, BV Halle, BKG, Nr. 170, Bl. 7–9. 268 Hs. Notiz Volperts »erhalten 21.3.1985 und weitergeleitet an ZKG«; BArch, DL 2, Nr. 7742, Bl. 78.
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ordneten »Bezirkskoordinierungsgruppen« (BKG) im Territorium via Fernschreiben anwies, die »Ausschließungs- bzw. Versagungsgründe« zu jedem einzelnen angeforderten Häftling innerhalb einer vorgegebenen Frist zu prüfen. Ihrerseits gaben die BKG den Auftrag an die Kreisdienststellen des MfS weiter, denn schließlich verfügten sie über die genauesten Informationen zu den von ihnen »bearbeiteten« Personen.269 Geprüft wurde anhand eines Fragenkataloges, der in der Ordnung 0118/77 des MdI270 und seit 1983 in der Dienstanweisung Nr. 2/83 des MfS niedergelegt war.271 Er umfasste folgende Gesichtspunkte: die vollständigen Personalien, die Namen und persönlichen Daten der Angehörigen, denen ebenfalls die Ausreise gestattet werden sollte, ob der Inhaftierte jemals den »Schutz- und Sicherheitsorganen der DDR (MfS, DVP, NVA, Zoll)« angehört hatte und dies auch auf Verwandte 1. Grades zutraf, ob der Betreffende Schulden hatte, »Geheimnisträger« gewesen war – also eine VS-Verpflichtung bestand – und ob es »operativ zu beachtende Hinweise« gab. Der letzte Punkt war dabei ein Sammelbecken für alle denkbaren Einwände gegen eine Entlassung, beispielsweise wenn der Inhaftierte durch seine vormalige »berufliche und gesellschaftliche Stellung« einen Prominentenstatus hatte,272 weil es den »Verdacht von westlichen Veröffentlichungen oder Provokationen« während oder nach der Entlassung gab, oder die Entlassung in den Westen eine Sogwirkung auf andere Personen ausüben könnte.273 Das Ergebnis der Prüfung wurde auf dem gleichen Weg über die BKG und die ZKG zurück an Oberst Volpert bzw. später an Generalmajor Niebling geleitet.274 In Abstimmung mit Mielke trafen sie daraufhin die Entscheidung. Neben dem Ergebnis des Prüfungsverfahrens beeinflussten noch andere Kriterien die Entscheidung. Dazu gehörte die Höhe des Strafrestes, denn in der Regel mussten die Hälfte bis zwei Drittel der Strafe verbüßt sein, bevor eine Entlassung infrage kam. Ferner war der Delikttyp von Bedeutung. Insbesondere bei Häftlingen mit hohen Strafen, beispielsweise Fluchthelfern oder VLeuten eines westlichen Nachrichtendienstes, lehnten Volpert und Mielke die 269 Zahlreiche dieser Prüfungsaufforderungen sind überliefert. Muster in: BStU, MfS, ZKG, Nr. 9895, Bl. 1. 270 Ordnung Nr. 0118/77 des MdI und Chef der DVP, 8.3.1977; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 9772. 271 Punkt 6.1. der Dienstanweisung 2/83 (DA 2/83) »Zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen«; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 7770. 272 Ltr. BV KMS an Ltr. BKG KMS, 14.1.1986; BStU, MfS, BV Chemnitz, AKG, Nr. 3071, Bl. 4. 273 »Prüfung von Versagungsgründen«, BV Leipzig an BKG, 1.8.1985; BStU, MfS, BVfS Leipzig, KDfS Geithain, Nr. 00087/01, Bl. 16 f. 274 Siehe exemplarisch die Fernschreiben in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 2570, Bl. 14–18.
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Entlassung meist ab. Schließlich spielten verhandlungstaktische Überlegungen eine Rolle, sowie die Frage, ob sich hochgestellte Persönlichkeiten im Westen besonders nachdrücklich für einen Inhaftierten eingesetzt hatten (sog. »Repräsentantenfälle«). Letztlich war die Entscheidung vom konkreten Einzelfall, der jeweiligen politischen Lage und der Verhandlungssituation abhängig.275 Hatte Mielke den Verkauf eines Inhaftierten im Rahmen »zentraler Maßnahmen« durch seine Unterschrift genehmigt, wiesen Volpert bzw. Niebling das Enke-Referat der HA IX an, abschließend »die strafprozessualen Voraussetzungen für die Entlassung aus dem Strafvollzug« zu klären.276 Enke setzte sich dazu mit der Abt. Ia der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin in Verbindung und übermittelte ihr die Namen der Inhaftierten. Im Rahmen des »politisch-operativen Zusammenwirkens« mit dem MfS wies die Generalstaatsanwaltschaft die Staatsanwaltschaften in den Bezirken und Kreisen dienstlich an, bei den verurteilenden Gerichten die Strafaussetzung auf Bewährung nach § 349 StPO zu beantragen. Der Gerichtsbeschluss selbst stellte lediglich eine Formalie dar: »Auf Grund einer entsprechenden Orientierung«, heißt es in einem Papier des MfS, würden »in diesen Fällen ausnahmslos antragsgemäße Beschlüsse zur Strafaussetzung erlassen«.277 Demnach war die »Strafaussetzung auf Antrag« die Umkehrung des »Urteil nach Antrag«-Verfahrens im Strafprozess und illustriert eindrücklich die Statistenrolle der Gerichte in derlei politischen Verfahren. Die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, die stets dann notwendig war, wenn der Inhaftierte auch in den Westen entlassen wurde, war ebenfalls nur Formsache. Oft übergab die zuständige Abteilung »Innere Angelegenheiten« des MdI Blanko-Urkunden an die ZKG, die lediglich die Namen einsetzen musste.278 Parallel zu diesem Vorgang übermittelte das »Büro für Sonderaufgaben« der HA IX die Namen der Inhaftierten an die Abt. XIV des MfS und teilte ihr den vorgesehenen Entlassungstermin mit. Die Mitarbeiter der Abteilung »Verwaltung Strafvollzug« im Ministerium des Inneren suchten die Inhaftierten aus der zentralen Gefangenenkartei heraus und stellten die erforderlichen Entlassungspapiere aus. Die Verlegung der geforderten Häftlinge aus den jeweiligen Strafvollzugseinrichtungen des MdI übernahmen Mitarbeiter der Linie XIV
275 Siehe Kap. III u. IV. 276 »Schreiben betr. Übersiedlung von Strafgefangenen in die BRD« v. 5.5.1986; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 8273, Bl. 3. 277 Ltr. Abt. IX an Ltr. BV KMS, 14.12.1985; BStU, MfS, BV Chemnitz, AKG, Nr. 3071, Bl. 2 f. 278 Zeugenaussage v. 14.8.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 24, Bl. 15; vgl. BStU, MfS, ZKG, Nr. 9894, Bl. 13.
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der Bezirksverwaltungen »auf Sonderdokument« in die Untersuchungshaftanstalt des MfS nach Karl-Marx-Stadt.279 Während des gesamten Prüfungs- und Entlassungsvorgangs war das MfS auf größtmögliche Geheimhaltung bedacht. Wie eingangs gezeigt, sollte sie durch die Beteiligung eines möglichst kleinen Kreises an Entscheidungs- und Verantwortungsträgern sichergestellt werden, zum anderen durch die üblichen konspirativen Verhaltensvorschriften. Vor allem die Funktionsmechanismen sollten geheim bleiben, damit sie nach außen nicht berechenbar erschienen. Eine nach 1977 entstandene Dienstanweisung Mielkes enthielt strenge diesbezügliche Vorschriften. Sie wies die HA IX und die anderen eingeweihten Diensteinheiten an, »bei beabsichtigten Entlassungen von Strafgefangenen nach nichtsozialistischen Staaten oder nach W[est-]B[erlin]« besonders sorgfältig zu prüfen, ob die Betreffenden »Kenntnis von Staatsgeheimnissen« hätten. Im Verlauf der Überprüfung dürfe »gegenüber anderen Organen in keinem Falle die beabsichtigte und noch zu entscheidende Maßnahme einer möglichen Entlassung nach nichtsozialistischen Staaten oder Westberlin dekonspiriert werden«.280 Je mehr sich der Häftlingsverkauf zu einer Dauereinrichtung entwickelte, umso erfolgloser waren jedoch diese Bemühungen. Ende 1988 stellte die Abt. XIV zur soeben abgeschlossenen Entlassungsaktion fest, die »Sonderaufgabe« habe zwar »insgesamt ohne Vorkommnisse zufrieden stellend gelöst werden« können, doch »die unbedingte Wahrung der Geheimhaltung und Konspiration« in den eigenen Reihen sei problematisch gewesen.281 Auch klagten die Genossen wiederholt über den Zeitdruck: Häufig gebe es »erhebliche Schwierigkeiten«, die »vorgegebenen Anlieferungstermine [sic!]« einzuhalten, da das Enke-Referat der HA IX die Entlassungsbeschlüsse zu kurzfristig bei den Staatsanwaltschaften beantragt habe. Aus diesem Grund sei es 1986 mehrfach vorgekommen, dass »bei durchgeführten Bustransporten am Entlassungstag in der Regel 10–30 Gerichtsbeschlüsse« gefehlt hätten. Diese würden jedoch »die rechtlich geforderte Grundlage zur vorzeitigen Entlassung« bilden. Dies habe dazu geführt, dass es für die jeweiligen Gerichte und Staatsanwaltschaften »schon längst zu einem offenen Geheimnis geworden« sei, »daß das MfS auch ohne Vorliegen der erforderlichen rechtlichen Dokumente Entlassungen vor-
279 Analyse »Aktion« 1970; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 244 f.; vgl. Ausarbeitung der Abt. XIV »Zu einigen Problemen im Rahmen der Realisierung der politisch-operativen Sonderaufgabe – Übersiedlung von Strafgefangenen in die BRD/WB« v. 29.5.1986; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1890, Bl. 1–3. 280 BStU, MfS, HA IX, Nr. 16335, Bl. 16–20, hier 20. 281 BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1890, Bl. 24.
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nimmt«.282 Das Zitat fasst pointiert zusammen, was der Freikauf aus systemischer Perspektive war: Eine von der SED angeordnete und vom MfS durchgeführte Sondermaßnahme innerhalb der vorgegebenen Strukturen und Rechtsnormen, die deren materiellen Gehalt jedoch aushöhlten.
282 Konzeption für Beratung über Probleme im Rahmen der »Sonderaktion« Karl-Marx-Stadt, 1986; ebenda, Bl. 12 f.
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Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen« (1964–1972)
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Begrenzung der Hilfen auf »Langstrafer«, Fluchthelfer und Sonderfälle
Anfang September 1964 hatte die DDR die Fortsetzung der Verhandlungen und den Abschluss einer Folgevereinbarung über die Freilassung weiterer 1 600 Häftlinge für wirtschaftliche Gegenleistungen angeboten. Ludwig Rehlinger, Leiter des »Freikauf-Referates« im Gesamtdeutschen Ministerium, schlug dem Gesamtdeutschen Minister Erich Mende vor, den Vorgang »grundsätzlich neu zu durchdenken«. Die Bundesregierung müsse zunächst eine Grundsatzentscheidung über Umfang und Dauer der Hilfe treffen. Nach seiner Ansicht könne man das Angebot nur unter der Bedingung annehmen, die Aktion von vornherein auf eine bestimmte Kategorie von Häftlingen zu begrenzen und die »Sondermaßnahme« danach zu beenden.1 Diesem Vorschlag lagen sorgfältige Überlegungen zugrunde. Sie ergaben sich zwangsläufig aus dem ethischen Dilemma, in dem sich die Akteure im Westen von Beginn an befanden: Wie weit konnte man den Inhaftierten helfen, ohne das kommunistische System selbst damit zu stützen? Die DDR, so Rehlingers Urteil, wolle die Aktion ohne Einschränkungen fortführen und beabsichtige, das für ihr internationales Ansehen nachteilige Problem der schwerbestraften politischen Häftlinge »gegen einen guten Verdienst zu lösen«. Für ihn stand daher fest, dass man ohne eine qualitative und zeitliche Begrenzung »für die Freilassung von unschuldig Verurteilten dem kommunistischen Regime fast unbegrenzt hohe Summen zur Verfügung« stellen würde, denn Verurteilungen aus politischen Gründen lägen schließlich in der Natur der kommunistischen Diktatur.2 Würde sich die Bundesregierung ausnahmslos für alle politischen Häftlinge einsetzen, so beschreite sie damit einen Weg, »von dem es wohl keine Umkehr mehr gibt«. Es wäre der Einstieg in eine dauerhafte Alimentierung des SED-Regimes.3
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Vermerk Rehlingers, 14.9.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 184 f. Ebenda. Vermerk Rehlingers, 7.9.1964; BArch-K, N 1371/167, Bl. 158.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Dass dies nicht Sinn und Zweck der Maßnahme sein konnte, war auch die Auffassung Erich Mendes, der noch einen Schritt weiter ging. Ohne eine vorab festgelegte Beendigung der Hilfsmaßnahme bestand nach seiner Ansicht die Gefahr, »dass die andere Seite sich Häftlinge verschafft, um im Geschäft zu bleiben«. Ein kontinuierlich fortgesetzter Freikauf werde es der DDR ermöglichen, Personen allein zum Zweck des Verkaufs zu verhaften und zu vergleichsweise geringen Strafen zu verurteilen, um sie dem Westen wenig später zum Kauf anzubieten. Mende befürchtete, dass die Hilfsmaßnahmen bei Einbeziehung vor allem von Häftlingen mit »kurzen« Strafen das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken könnten. Schließlich sei der »kommunistische Zwangsstaat« durch nichts an einer solchen Praxis gehindert, da er sich »jede Eskapade ohne Rücksicht auf Menschlichkeit leisten« könne.4 Staatssekretär Krautwig pflichtete Mende bei: Nach seiner Auffassung sollte sich dieser »Handel« mit Häftlingen »auf ein Minimum beschränken«.5 Eine zeitliche und qualitative Begrenzung des Freikaufs entsprach zudem den Grundsätzen der Deutschlandpolitik der CDU/CSU-FDP Koalition. Bundeskanzler Ludwig Erhard unterstützte Mendes »Politik der kleinen Schritte« gegenüber der DDR, doch weder der Kanzler noch sein Vize beabsichtigten eine weitergehende Annäherung.6 Eine Verstetigung barg außerdem die Gefahr einer schleichenden Anerkennung der DDR. Fortlaufend Häftlinge freizukaufen, hätte bedeutet, sich mit der dauerhaften Existenz politischer Verurteilungen, damit einem Wesensmerkmal der DDR und im Resultat mit dem System selbst zu arrangieren. Rehlinger schlug daher vor, die Häftlinge in vier Kategorien einzuteilen: erstens »Langstrafer«, d. h. Häftlinge mit Haftstrafen von fünf Jahren und mehr, zweitens »Kurzstrafer« mit einem Strafmaß unter fünf Jahren, drittens die meist jugendlichen, oft studentischen Fluchthelfer, die ihren Mitmenschen aus ideellen Motiven zur Flucht verholfen hatten, sowie viertens und letztens »Agenten-Fälle«, d. h. Mitarbeiter westlicher Nachrichtendienste. Letztere seien gesondert zu sehen, da es sie immer geben würde, ebenso wie die »Kurzstrafer«. Zielgruppe der insgesamt dritten Hilfsaktion sollten ausschließlich die »Langstrafer«, jugendliche Fluchthelfer und besonders gelagerte Fälle sein, all jene, die aus Gründen der Gleichbehandlung mit den soeben entlassenen Häftlingen und wegen der besonderen Tragik ihres Schicksals befreit werden 4 Erich Mende im Interview mit dem ARD-Magazin »Report« am 1.9.1975, BArch-K, B 137/15780, o. Pg., Abdruck in: Stern, Joachim R.: Und der Westen schweigt. Erlebnisse, Berichte, Dokumente über Mitteldeutschland, 1945–1975. Pr. Oldendorf 1976, S. 313–315. Mende war 1970 von der FDP- zur CDU-Fraktion übergetreten. 5 Interview des Journalisten Michel Meyer mit Carl Krautwig; Meyer, Michel: Freikauf. Menschenhandel in Deutschland. Wien 1978, S. 162 f. 6 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 374.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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müssten.7 Bei den »Langstrafern« handelte es sich im Wesentlichen um Oppositionelle oder Widerständige im weitesten Sinne, die sich in den fünfziger Jahren und nach dem 13. August 1961 meist gewaltlos gegen das System aufgelehnt oder anderen zur Flucht verholfen hatten. Ein erneuter, breiter Zuwachs in dieser Gruppe war nicht zu erwarten, denn der breite Widerstand gegen die Errichtung der Diktatur in der ersten Dekade nach der Gründung der DDR war im Großen und Ganzen mit brutaler Härte niedergeschlagen worden. Auch die Hochphase der meist studentischen Fluchthilfe in den ersten Jahren nach dem Mauerbau neigte sich dem Ende entgegen. Die Fokussierung auf »Langstrafer« war daher als Korrektur der teils maßlosen Strafpolitik und Linderung der schlimmsten Exzesse der DDR-Justiz seit 1949 gedacht, keinesfalls als Auftakt zur permanenten »Neutralisierung« politischer Unrechtsurteile in der DDR. Dabei war sich Rehlinger bewusst, dass die Trennlinie zwischen den Kategorien »Langstrafer« und »Kurzstrafer« nicht gänzlich ohne Willkür zu ziehen war. Ein grober Anhaltspunkt fand sich in den Rechtsvorschriften der DDR und der Praxis der DDR-Gerichte, Fluchtdelikte in der Regel mit Strafen unter fünf Jahren zu ahnden, außer es lagen »besondere Umstände« wie z. B. tatsächliche oder vermeintliche Gewaltanwendung bei der Flucht vor. Die Grenze von fünf Jahren sollte zuvorderst jedoch als Bollwerk gegen eine Verstetigung der Freikaufspraxis und eine absichtliche »Produktion« von Häftlingen zum Zwecke ihres Verkaufs dienen. Nach Abwägung des Für- und Wider gelangte Rehlinger zu dem nüchternen Resümee: »Maßstäbe, gegen die Einwendungen nicht erhoben werden können, gibt es nicht. Die Begrenzung muss aus menschlichen und politischen Gründen gefunden werden.«8 Außerdem sollten Mittäter der gewünschten Häftlinge einbezogen werden. Der Begriff bezeichnete Inhaftierte, die im selben Prozess wie die freizukaufenden »Langstrafer« und Fluchthelfer verurteilt worden waren.9 Ihr Schicksal war dem Westen wegen der unterbrochenen Kommunikationswege in die DDR und der lückenhaften Informationen oft unbekannt. Erst durch die Befragung der in die Bundesrepublik entlassenen Häftlinge erhielten die zuständigen Stellen Kenntnis von ihnen. Da der Personenkreis überschaubar war und auch hier das Gebot der Gleichbehandlung gelten musste, sollten auch sie auf die Wunschlisten gesetzt werden, vorausgesetzt, die Strafe lag über der formalen Grenze von fünf Jahren.10 7 Vermerk Rehlingers, 14.9.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 184–186; Vermerk Rehlingers, 30.5.1969; ebenda, S. 625 f. 8 Vermerk Rehlingers, 14.9.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 186. 9 Da der Begriff »Mittäter« auch heute gängig ist, wird er im folgenden Text ohne Anführungszeichen verwendet. 10 Vermerk Rehlingers, 14.9.1964, DzD BesBem Bd. 1, S. 184–186.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Verhandlungen unter Vorbehalt Ein kleiner Kabinettsausschuss, bestehend aus dem Bundeskanzler, dem Gesamtdeutschen-, Innen- und Justizminister sowie ihren Staatssekretären fasste am 15. Dezember 1964 den formalen Beschluss zur Fortsetzung des Freikaufs und legte eine Größenordnung von 1 000 Häftlingen fest, deren Entlassung erwirkt werden sollte. Die Gegenleistungen dafür dürften maximal 15 bis 20 Millionen DM betragen, weniger als die Hälfte des noch im Sommer 1964 gezahlten »Durchschnittspreises« pro Häftling. Barzahlungen sollten wiederum ausgeschlossen sein, sondern Waren geliefert werden. Hinsichtlich der Häftlinge in Gefängnissen der Bundesrepublik, an denen die DDR interessiert war, sollten die Kirchenvertreter als offizieller Verhandlungsführer der Gegenseite mitteilen, dass die Begnadigung und der anschließende Austausch von drei bis fünf Häftlingen »im Bereich des Möglichen« liege.11 Stange begann mit der Arbeit und übergab Vogel im Frühjahr 1965 zwei Listen mit den Namen von über 1 700 politischen Häftlingen.12 Dieser händigte sie Volpert aus, der in Zusammenarbeit mit den Dienststellen des MfS und den »Partnern des Zusammenwirkens« jeden Häftling identifizieren und überprüfen ließ, ob eine Entlassung möglich war.13 Ende Februar 1965 leitete Vogel das Ergebnis der Überprüfungen an Stange zurück. Dieser informierte Bischof Kunst, dass Vogels Seite unter zwei Bedingungen bereit sei, Häftlinge für wirtschaftliche Gegenleistungen zu entlassen: »Absolute Conditio« sei es, zuvor eine Einigung über 20 von der DDR gewünschte, im Westen inhaftierte Personen zu erzielen. Zweitens müssten rund 150 Mittäter in den Freikauf einbezogen werden.14 Ost-Berlins Austauschwünsche zu erfüllen war jedoch mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden. Eine der angeforderten Personen lehnte das Bundesjustizministerium nach der ersten Prüfung rundweg ab, weitere drei Häftlinge waren erst vor Kurzem verurteilt worden, und in einem weiteren Fall stand das Urteil noch aus.15 Ausgerechnet diesen Fall des hochrangigen SEDFunktionärs Adolf Baier erklärte die DDR für unverzichtbar.16 Bischof Kunst bereitete dies große Sorgen. Anfang April 1965 schrieb er an Rechtsanwalt von Wedel, er selbst und auch Prälat Wissing hätten nach den »jammervollen Erfahrungen« im Falle Hofés, dessen Entlassung die DDR zur Bedingung für 11 Vermerk Krautwigs, 15.12.1964, ebenda, S. 204 f. 12 Stange an Adolph, 19.1.1965; ebenda, S. 215. 13 Listen der Aktion 1965 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3356 u. Nr. 13658. 14 Vogel an Stange, 19.2.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 223; Stange an Kunst, 2.3.1965; ebenda, S. 224 f. 15 Von Wedel an Kunst, 26.2.1965; EZA, 742/274. 16 Stange an Kunst, 23.4.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 233 f.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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die große Entlassungsaktion im Sommer 1964 gemacht hatte, nur wenig Hoffnung, dass man hier erneut mit dem Hilfskonstrukt des »übergesetzlichen Notstandes« eine Freilassung vor Prozessbeginn erwirken könne.17 Stange versicherte Bischof Kunst, dass die Verhandlungen ohne die Entlassung Baiers von vornherein aussichtslos wären. Die zuständigen Stellen in der Bundesrepublik müssten »im Interesse der Gesamtaktion« die Entlassung der von der DDR gewünschten Häftlinge in Aussicht stellen. Außerdem könne man durch ein Entgegenkommen die Kritiker der Aktion in Ost-Berlin schwächen; anders formuliert müssten die Befürworter neben den wirtschaftlichen Leistungen auch einen ideologischen Erfolg vorweisen können.18 Stange gelang es, Vogel bis auf zehn Fälle herunterzuhandeln.19 Auch Kunst und Wissing konnten mit ihren Bemühungen in Bonn schließlich durchdringen. Heinrich Lübke, nach dem Protestanten Theodor Heuss der erste katholische Bundespräsident, sicherte Prälat Wissing Anfang Mai 1965 in einem vertraulichen Gespräch zu, dass er die Gnadenanträge des Bundesjustizministers unverzüglich unterzeichnen würde. »Bei ihm«, versprach Lübke, »würde es keine Schwierigkeiten« geben.20 Weniger problematisch war die zweite Bedingung der DDR, die Einbeziehung der Mittäter. Oberregierungsrat Hansjürgen Schierbaum, der persönliche Referent Staatssekretär Krautwigs und während Rehlingers Abordnung nach Bonn 1965 der Ansprechpartner für die Kirchen, hatte die grundsätzliche Zustimmung der Bundesregierung bereits signalisiert.21 Da die Mittäter teils sogar höhere Strafen als die angeforderten Häftlinge hatten, stellte ihre Einbeziehung in die Freikaufsverhandlungen kein grundsätzliches Problem dar.22 Dass Vogels Auftraggeber auf die Einbeziehung der Mittäter drängten, war eine Folge der Bestrebungen der beteiligten Stellen seitens der DDR, den wahren Grund der Entlassungsverfügungen gegenüber Staatsanwälten, Richtern und Angehörigen der Inhaftierten in der DDR zu konspirieren. Eine formale Begründung für die vorzeitige Entlassung, so wenig sie auch dem wahren Grund entsprach, wurde den Staatsanwälten und gelegentlich auch den Angehörigen immerhin gegeben. Wenn der vom Westen angeforderte Häftling z. B. eine Strafe von acht Jahren, die Mittäter aber nur jeweils fünf Jahre erhalten hatten, konnte die HA IX des MfS gegenüber Staatsanwälten, 17 Kunst an von Wedel, 8.4.1965; EZA, 742/274. 18 Stange an Kunst, 2.3.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 225; Vermerk Korbers, 10.12.1964; ebenda, S. 203. 19 Stange an Kunst, 23.4.1965; ebenda, S. 233. 20 Vermerk Wissings betr. Gefangene, 3.5.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 235. 21 Vermerk Weicherts, 15.3.1967; ebenda, S. 370; Vermerk Rehlingers, 4.8.1966; ebenda, S. 327. 22 Stange an Kunst, 2.3.1965; ebenda, S. 224 f.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Richtern und auch den Angehörigen nur schwer begründen, warum ausgerechnet der am schwersten bestrafte Häftling, nicht aber seine Mittäter entlassen werden sollten. Zudem wäre es auffällig gewesen und hätte Argwohn erregt, wenn nur ein Verurteilter aus einem Gruppenprozess vorzeitig freikommen sollte, obwohl sich in der Haft alle gleichermaßen »renitent« verhalten hatten. Durch den Verkauf aller in einem Gruppenprozess Verurteilten ließen sich die Entlassungen leichter als großzügiger Gnadenakt bemänteln. Anfang Mai 1965 waren die Verhandlungen so weit fortgeschritten, dass die Anwälte eine namentliche Gesamtvereinbarung anstrebten. Stange legte seinen Auftraggebern die Eckpunkte der geplanten Übereinkunft dar. Vorbedingung sei das Stillschweigen gegenüber Dritten: Die Abmachung sei »hinfällig, sofern der Stand der bisherigen Verhandlungen publiziert oder indiskret behandelt« werde – insbesondere von »behördlicher Seite«. Eine ähnliche Situation wie im Falle des Spiegel-Artikels im Herbst 1964 sollte sich nicht wiederholen. Die Entlassungen könnten umgehend beginnen, bis Ende Mai sei eine namentliche Einigung über alle einzubeziehenden rund 1 200 Häftlinge zu erzielen und eine Entscheidung über die »Preisfrage« zu treffen.23 Stange resümierte, das Paket stelle alles in allem eine annehmbare Lösung dar. Mehr sei nicht zu erreichen, ohne die Gesamtaktion infrage zu stellen.24 Staatssekretär Krautwig gab seine Zustimmung für eine erste Gutschrift in Höhe von 10 Millionen DM, wies jedoch ausdrücklich darauf hin, dass »Vorleistungen nicht stattfinden« und deshalb erst nach der Entlassung einer Gruppe von Häftlingen Waren geliefert werden dürften.25 Vereinbarungsgemäß begannen die Entlassungen nach Gießen und in die DDR am 25. Mai und wurden im wöchentlichen Rhythmus fortgesetzt.26 Recht bald zeigte sich jedoch, dass die beabsichtigte Einigung auf alle einzubeziehenden Häftlinge als Voraussetzung für die Gesamtvereinbarung aus technischen Gründen nicht bis zum vorgesehenen Zeitpunkt zu erzielen war. Offensichtlich waren die Informationen auf den Wunschlisten des Westens in vielen Fällen veraltet und die Listen teils ohne die notwendige Sorgfalt erstellt worden: Von den insgesamt über 1 700 Namen blieben nach Prüfung der Listen durch Volpert knapp 1 000 übrig, z. B. weil die Gesuchten bereits entlassen worden waren oder die Angaben für eine zweifelsfreie Identifizierung nicht ausreichten. Zudem beschwerte sich Vogel über die »oberflächliche«
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Stange an Kunst, Wissing und Adolph, 7.5.1965; ebenda, S. 236 f. Ebenda, S. 237. Krautwig an Kunst, 12.5.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 238. Vogel an Stange, 11.5.1965; ebenda, S. 236 f., Anm. 9.
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Bearbeitung der Listen: Es gebe darauf zahlreiche Dubletten, und schon im Vorjahr entlassene Personen seien erneut benannt worden.27 Mitte Juni 1965 stellte Vogel fest, man befände sich in einem irritierenden Schwebezustand, denn die Gesamteinigung sei »längst fällig«. Ausschließlich das mangelhafte Listenmaterial führe dazu, dass man vorerst mit monatlichen »Zwischengutschriften« arbeiten müsse, damit die Entlassungen kontinuierlich weiterlaufen könnten. Seine Seite biete außerdem an, 300 Häftlinge mehr zu entlassen als ursprünglich vereinbart, insgesamt also 1 500. Die Gegenleistung solle sich auf 65 Millionen DM belaufen, rechnerisch also ein »Durchschnittspreis« von 50 000 DM. Außerdem dürften die Ehefrauen und Kinder der in den Westen entlassenen Häftlinge ohne Gegenleistung ausreisen.28 Stange bat Bischof Kunst, die Bundesregierung um die Genehmigung des geforderten Betrages zu ersuchen.29 Kunst sah sich dabei plötzlich ungeahnten Hindernissen gegenüber. Staatssekretär Krautwig teilte ihm in einem vertraulichen Gespräch mit, die Forderungen seien »utopisch« und »weit übersetzt«, obwohl die DDR zwischenzeitlich wieder auf den »Durchschnittspreis« der Vorjahresvereinbarung von 40 000 DM zurückgegangen war.30 Absolut gesehen waren die geforderten 60 Millionen DM für 1 500 Häftlinge jedoch mehr als das Dreifache der Summe, die der Kabinettsausschuss im Dezember 1964 eingeplant hatte. Hauptursache für Krautwigs abweisende Haltung waren jedoch aktuelle politische Ereignisse. Gespräche zwischen Unterhändlern der DDR und des Berliner Senats über ein zweites Passierscheinabkommen waren ergebnislos abgebrochen worden, im Interzonenhandel stellte sich die DDR quer und eine Woche vor dem Gespräch zwischen Bischof Kunst und Staatssekretär Krautwig hatte die Mauer ein weiteres Todesopfer gefordert. Am 15. Juni 1965 war der Westberliner Geschäftsmann Hermann Döbler in seinem Sportboot bei einer Ausflugsfahrt auf dem Teltowkanal versehentlich über die Demarkationslinie gefahren und von DDR-Grenzsoldaten ohne Vorwarnung erschossen worden. Seine Begleiterin entkam nur schwer verletzt. Der Vorfall erregte großes öffentliches Aufsehen. An der Beerdigung Döblers, die am gleichen Tag wie das Gespräch zwischen Kunst und Krautwig stattfand, nahmen über 1 000 Menschen teil.31 All dies, resümierte Krautwig, lasse eine entgegenkommende Haltung gegenüber der DDR derzeit nicht zu. Man könne die Häftlingsaktion schließlich »nicht ohne Zusammenhang der sonstigen Geschehnisse« sehen. Insgesamt erscheine es ihm daher geboten, die Akti27 Vermerke Stanges, 22.5.1965; EZA, 742/275; Vogel an Stange, 17.6.1965; ebenda. 28 Vogel an Stange, 13.6.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 244. 29 Stange an Kunst, 10.6.1965; ebenda, S. 244, Anm. 2. 30 Vermerk Krautwigs, 22.6.1965; ebenda, S. 252. 31 Hertle, Hans-Hermann; Nooke, Maria: Die Todesopfer an der Berliner Mauer, 1961–1989. Ein biographisches Handbuch. 2., durchges. Aufl., Berlin 2009, S. 192–194.
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on »zwar nicht abzubrechen, aber zu unterbrechen«, da die Auffassungen zu gegensätzlich seien.32 Aus einem rein politischen Betrachtungswinkel war die Haltung des Staatssekretärs begründet, da es ihm notwendig erschien, eine einheitliche Haltung gegenüber der DDR auf allen verhandelten Sachgebieten zu wahren. Alles andere hätte der DDR signalisiert, dass die Bundesregierung in humanitären Fragen erpressbar war. Allerdings fußte Krautwigs Argumentation auch auf seiner grundsätzlich negativen Einstellung zu der Hilfsaktion für politische Häftlinge, der er »krass ablehnend gegenüber stand und die auch nicht sein Interesse fand«.33 Bischof Kunst hielt Krautwig entgegen, man müsse die humanitäre Bedeutung des Angebots der Gegenseite berücksichtigen, dass die Angehörigen der Häftlinge nun auch ohne Gegenleistung ausreisen dürften. Darüber hinaus seien die Aktionen »für beide Kirchen von Bedeutung«.34 Krautwig empfahl Kunst, in dieser Frage die Entscheidung des Kanzlers einzuholen. Erhard empfing Kunst noch am selben Tag zu einem Gespräch. Dass Kunst trotz der belasteten politischen Atmosphäre mit seiner Bitte um Bereitstellung der Mittel bei Erhard durchdringen und sich gegen Krautwig durchsetzen konnte, lag unter anderem an seinem Argument, »dass diese Aktion einen Abschluss bringe und […] mit weiteren Aktionen dieser Art kaum zu rechnen sei«. Der Kanzler zeigte sich auf Kunsts Vortrag hin »geneigt, die Aktion durchzuführen«.35 Auch Kanzleramtschef Westrick sprach sich für eine Fortsetzung aus, denn im Vergleich zu den Ausgaben der Bundesregierung auf anderen Gebieten müsse man die hier benötigte Summe als »notwendig und berechtigt« anerkennen. FDP-Finanzminister Dahlgrün schloss sich diesem Votum an.36 Zu einer verbindlichen Bereitstellung des Gesamtbetrages konnte sich Erhard jedoch nicht durchringen, sondern nur zur Genehmigung eines weiteren Teilbetrages von 10 Millionen DM.37 Die Bundesregierung wollte sich die Option nicht aus der Hand nehmen lassen, die Maßnahme jederzeit abbrechen zu können. Das wirkte sich erschwerend auf die Verhandlungen der Kirchen aus, denn Kunst und Wissing waren gezwungen, wegen jedes weiteren Teilbetrages bei der Bundesregierung vorzusprechen. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis es erneut zu einer Auseinandersetzung zwischen den Kirchen und Staatssekretär Krautwig als Vertreter der Bundesregierung kommen würde. Ende Juli übermittelte Stange seinen Auftraggebern Kunst und Wissing, dass die Gegen32 33 34 35 36 37
Vermerk Krautwigs, 22.6.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 252 f. Interview mit Ludwig A. Rehlinger, 17.5.2011. Vermerk Krautwigs, 22.6.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 253. Bericht Krautwigs an Mende, 23.6.1965, ebenda, S. 254. Vermerk Krautwigs, 30.6.1965; ebenda, S. 254 f. Anlage 3 zum Brief Geißels an Krautwig, 2.12.1966; ADW, HGSt, Nr. 7816.
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seite in Vorleistung getreten sei und auf einer weiteren Gutschrift bestehe.38 Als die Zahlung des Betrages Anfang August immer noch ausstand, wies Stange besorgt auf die Folgen dieser Verzögerung für die Betroffenen hin, die wieder in die Gefängnisse zurückgebracht würden. »Was das an menschlicher Tragik und Verzweiflung mit sich bringt«, schrieb er an Kunst, »werden gerade Sie, hochwürdiger Herr Bischof, am besten wissen«. Die Gegenseite laste die Verzögerungen in erster Linie den Kirchen an.39 Kunst und Wissing wandten sich erneut an Staatssekretär Krautwig und baten ihn um eine rasche Genehmigung der Mittel. Verärgert stellte Krautwig fest, dass Stanges Bitte hart an eine Erpressung grenze. Stange vermische »humanitäre Anliegen in einer schwer erträglichen Weise mit kommerziellen Interessen«. »Dass die SBZ Geschäfte mit Menschen macht«, argumentierte der Staatssekretär, »ist schlimm genug. Es würde aber nach meinem Gefühl der Sache dienen, wenn der von uns bevollmächtigte Anwalt sich hier etwas mehr Zurückhaltung auferlegen würde«.40 Schließlich, so der unausgesprochene Vorwurf, habe die Gegenseite durch ihr Verhalten in anderen Fragen die Zurückhaltung der Bundesregierung in punkto Häftlingen ja erst provoziert. Kunst und Wissing wiesen Krautwig darauf hin, dass ihre humanitäre Verpflichtung eine zügige Fortsetzung »dringend wünschenswert« erscheinen lasse. Krautwig führte erneut die Verbindung zwischen der Häftlingsaktion und der schwierigen allgemeinen politischen Lage ins Feld, so beispielsweise »andauernde Störmaßnahmen des Zonenregimes« im Interzonenhandel. Die Situation »nötige« die Regierung geradewegs »zu einer festen Haltung gegenüber der SBZ«. Die Bundesregierung müsse vorerst eine »retardierende Haltung« einnehmen.41 Immerhin unterbreitete Krautwig den Kirchen einen Kompromissvorschlag: Sie könnten die Hilfsaktion bis zur vorgesehenen Obergrenze von 60 Millionen DM durchführen, doch seien lediglich zwei weitere Zwischengutschriften á 10 Millionen DM zu erteilen. Der Rest könne erst nach Überprüfung der Liste aller einbezogenen Häftlinge freigegeben werden, dies vorbehaltlich anders lautender Entscheidungen nach einem eventuellen Regierungswechsel nach der Bundestagswahl, die im September 1965 bevorstand. Im Übrigen seien die Häftlinge nach strengen Kriterien auszuwählen. Den Anwälten solle nur mitgeteilt werden, dass die Maßnahme prinzipiell fortgesetzt werden könne und im August und September je eine weitere Gutschrift erfolge. Damit
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Stange an Kunst, Adolph und Wissing, 23.7.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 261. Stange an Kunst, 1.8.1965; ebenda, S. 262. Krautwig an Wissing, 11.8.1965; ebenda, S. 265. Vermerk Krautwigs, 4.8.1965; ebenda, S. 263 f.
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wahrte die Bundesregierung nach außen hin den Anschein der »festen Haltung«, bekannte sich in der Sache jedoch zu der Aktion.42 Während die Bereitstellung der Mittel nach zähem Ringen vorerst gesichert war, bereitete die Einigung auf die Gesamtliste erneut Schwierigkeiten. Hatte die DDR im Vorjahr vereinbarungsgemäß noch 20 Namen von den Listen streichen können, so ließ Volpert über Vogel mitteilen, dass rund 200 der angeforderten Häftlinge nicht entlassen werden könnten. Entweder liege den Verurteilungen angeblich ein krimineller Tatbestand zugrunde oder das Urteil sei gerade erst ergangen und eine Entlassung daher erst 1966 möglich. Weitere 31 Häftlinge könnten erst zu einem späteren Zeitpunkt entlassen werden.43 Krautwigs persönlicher Referent Schierbaum war indes nicht bereit, dies widerspruchslos hinzunehmen. Nach einer erneuten Überprüfung akzeptierte er zwar die Streichung der meisten als kriminell bezeichneten Fälle, stellte jedoch fest, dass die anderen Zurückstellungen nicht hinnehmbar seien. Die andere Seite versuche, die Verhandlungen über das Jahresende hinaus auszudehnen und damit »Ansatzpunkte für eine laufende Transaktion«, d. h. ein Dauergeschäft zu gewinnen – eben das, was Bonn zu vermeiden suchte. Hinsichtlich der 31 nur auf lange Sicht lösbaren Fälle versuche die »Zone« erstmals, eine neue Kategorie von »Z-Fällen«, d. h. zurückgestellten Fällen einzuführen. Das, so Schierbaum, sei »natürlich keinesfalls geeignet, der Aktion zu nützen«.44 Der Grund für die Zurückstellung dieser 31 Häftlinge lag in der Höhe ihrer Bestrafung und der Art ihres Vergehens. In keinem Fall betrug das Strafmaß weniger als sieben Jahre, die Hälfte von ihnen verbüßte gar eine lebenslange Haftstrafe. Mindestens sieben von ihnen waren wegen Spionage für den BND, den Verfassungsschutz oder Geheimdienste anderer westlicher Staaten zu lebenslanger Haft, in zwei Fällen zu 15 Jahren verurteilt worden. Bei der Prüfung der Wunschlisten der Bundesregierung hatte die Spionageabwehr des MfS offensichtlich ihr Veto gegen eine vorzeitige Entlassung eingelegt.45 Am Ende der Verhandlungen konnte die Bundesregierung immerhin einen Teilerfolg erzielen: Die meisten der 200 zunächst zurückgestellten Häftlinge wurden einbezogen, sie verließen die Haftanstalten noch vor Weihnachten 1965. Obwohl acht der 31 »Z-Fälle« teils im Austausch gegen in der Bundesrepublik 42 Ebenda. 43 Stange an Kunst und Wissing, 31.8.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 269 f.; Vermerk Stanges, 12.9.1965; ebenda, S. 273 f. 44 Vermerk Schierbaums, 8.9.1965; ebenda, S. 271, Anm. 10. 45 Eigene Zusammenstellung aus der Liste der 31 Z-Fälle in der Anlage zum Brief Stanges an Kunst, 12.9.1965; EZA, 742/277; der Liste der Z-Fälle von 1966, beigefügt dem Schreiben Vogel an Stange, 27.7.1966; EZA, 742/278 sowie der Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067.
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Inhaftierte entlassen wurden, blieb der weitaus größte Teil dieser »Z-Fälle« weiterhin in Haft.46 Am Ende umfasste die Vereinbarung 1 555 Häftlinge, von denen nur die vereinbarten 1 500 honoriert werden mussten.47 Dabei war es gelungen, etliche »Langstrafer« aus den Gefängnissen zu holen: Bei fast 60 Prozent der Inhaftierten lag das Strafmaß über fünf Jahren, allein 42 Häftlinge waren »Lebenslängliche«. Die übrigen 40 Prozent waren somit »Kurzstrafer« mit einem Strafmaß unter fünf Jahren, darunter jedoch zahlreiche Fluchthelfer und Häftlinge mit besonders tragischen Begleitumständen wie eine Erkrankung oder die Trennung von ihren Angehörigen im Westen.48 Ein Beispiel hierfür war Jürgen Wiechert, der 1963 zu den ersten freigekauften Häftlingen gehört hatte und seinerzeit zu seiner Familie in die DDR entlassen worden war. 1965 geriet er wegen seines Engagements für eine Fluchthelfergruppe erneut in die Fänge des MfS, kam jedoch auf eine Wunschliste der Kirche und wurde, ohne die zweieinhalbjährige Haftstrafe antreten zu müssen, über den Checkpoint Charlie ausgewiesen.49
»Appendix« des Häftlingsfreikaufs: Familienzusammenführungen Im Zuge der Verhandlungen im Sommer 1964 trafen Stange und Vogel die Abmachung, dass die freigekauften Häftlinge an den Wohnort ihres Ehepartners bzw. der Angehörigen ersten Grades entlassen werden sollten. Im Vergleich zu der ansonst maßgeblichen Vorschrift des DDR-Strafvollzugs, die Häftlinge stets an den Ort zu entlassen, an dem Sie zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung gewohnt hatten, stellte diese Vereinbarung eine Verbesserung dar. Immerhin konnten die Freigekauften nunmehr in den Westen ausreisen, insofern ihre Angehörigen in der Zwischenzeit dorthin geflohen waren. So erfreulich diese Verbesserung für die freigekauften Häftlinge war, so bedeutet es zugleich eine Benachteiligung all jener ehemaligen Häftlinge, die vor Beginn der Entlassungen im Sommer 1964 ohne Zutun der Bundesregierung an ihren früheren Wohnort entlassen worden waren. Da ihre Familien oft bereits vor dem Mauerbau in den Westen geflohen waren, waren sie von ihren engsten Angehörigen getrennt und die DDR-Behörden verweigerten ihnen die Ausreise. 46 Vermerk Schierbaums, 15.11.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 285 f.; Vermerk Schierbaums, 14.12.1965; ebenda, S. 290 f. 47 Vermerk Stanges, 31.1.1966; ebenda, S. 293 f.; Vermerk Schierbaums, 14.12.1965; ebenda, S. 290 f. 48 Stange an Kunst, 18.8.1965; EZA, 742/276. 49 Henneberg: Meuterei vor Rügen, S. 138 f.
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Im September 1964 stellte Rehlinger fest, dass dieses Problem von hohem »menschlichen und politischen Gewicht« sei und der Kreis der Betroffenen etwa 400 Personen umfasse.50 Aus Gründen der Gleichbehandlung mit den soeben freigekauften und zu ihren Angehörigen in die Bundesrepublik ausgereisten Häftlingen müsse die Bundesregierung hier Abhilfe schaffen. Nach dem Beschluss über die Fortsetzung der Hilfsmaßnahmen unter Ägide der Kirchen fühlte Stange bei Vogel vor, ob seine Seite zu Verhandlungen über diese Frage bereit sei. Gegen Jahresbeginn 1965 informierte Stange seine Auftraggeber, dass die Gegenseite zugestimmt habe, 26 ehemalige Häftlinge für eine Gegenleistung von 300 000 DM ausreisen zu lassen, womit der »Durchschnittspreis« mit rund 11 538 DM pro Fall gut ein Viertel der Summe betrug, welche die DDR für Häftlinge forderte. Die Vereinbarung sei als »Auftakt für die Erledigung des ganzen Komplexes« gedacht und »ein bisher einmaliger Vorgang«.51 Mit Zustimmung Staatssekretär Krautwigs begann Stange mit den Verhandlungen. Die Maßnahme trug die Bezeichnung »Familienzusammenführung entlassener politischer Häftlinge« und war eng mit den Bemühungen um die noch inhaftierten Häftlinge verbunden.52 Nach der Abwicklung von insgesamt sechs Listen á 26 Personen hatten 156 ehemalige Häftlinge von den zuständigen Abteilungen Inneres in den Räten des Kreises die Ausreisegenehmigung erhalten. Die Gegenleistung dafür belief sich auf Warenlieferungen im Wert von 1,8 Millionen DM. Anfang Juli 1965 meldete Vogel, dass die Fälle bis auf wenige Ausnahmen abgearbeitet seien.53 Das Problem getrennter Familien beschränkte sich aber keineswegs auf diesen Kreis. Es betraf weitaus mehr Familien, die durch die Ereignisse des 13. August 1961 auseinander gerissen worden waren, ohne dass ein Familienmitglied zuvor im Gefängnis gesessen hatte. Häufig kam es vor, dass ein Ehepartner vor dem Mauerbau im Westen eine Existenz aufzubauen begonnen hatte, die Angehörigen aber in der DDR geblieben waren und nachkommen sollten, sobald der Neuanfang im Westen geglückt war. Da sich die Betroffenen, das DRK und die Kirchen mit der Bitte um Hilfe direkt an Vogel gewandt hatten, traten die Anwälte auch über diesen Komplex in Verhandlungen ein. Bereits vor dem Beginn der zweiten Hilfsaktion hatte Scharfs persönlicher Referent Reymar von Wedel mit Wissen und Zustimmung der Bundesregierung über Familienzusammenführungen verhandelt und diese aus kirchlichen 50 Vermerk Rehlingers, 14.9.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 186. 51 Vermerke Rehlingers, 1.2. u. 15.2.1965; ebenda, S. 215, Anm. 2, S. 221; Stange an Kunst, 2. u. 24.2.1965; ebenda, S. 217 u. 223 f.; Liste I–III über Familienzusammenführung entlassener politischer Häftlinge; EZA, 742/274. 52 Vermerk Krautwigs, 20.5.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 240. 53 Vogel an Stange, 6.7.1965; ebenda, S. 256 f.
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Mitteln finanziert.54 Auch auf der offiziellen »Schiene« wurde das Problem nunmehr aufgegriffen: Anfang April 1965 teilte Stange mit, dass eine erste Liste getrennter Eheleute zusammengestellt werden könne.55 Als Gegenleistung sei an den gleichen Betrag wie im Falle der Maßnahme zur »Familienzusammenführung entlassener Häftlinge« gedacht. Die Bundesregierung signalisierte ihr Einverständnis, zumal gegen die Gleichbehandlung von getrennten Eheleuten ohne vorherige Haft mit jenen, die eine Haftstrafe verbüßt hatten, »grundsätzliche Einwendungen nicht zu erheben« seien.56 Schließlich ergebe sich die Familienzusammenführung – gleich, ob mit oder ohne eine vorangegangene Inhaftierung – aus den Bemühungen um politische Häftlinge und sei gewissermaßen ihr »Appendix«.57 Was für die Hilfsaktion für politische Häftlinge galt, traf auch auf die Familienzusammenführung zu: Ein günstiges politisches Klima wirkte sich positiv, ein schlechtes negativ auf die Verhandlungen aus. Als die ersten acht Namenslisten Mitte September 1965 fertiggestellt waren, traten die Kirchen mit der Bitte an Staatssekretär Krautwig heran, 2,4 Millionen DM bereitzustellen; notfalls würden sie die Summe auslegen. Der Staatssekretär zog sich auch hier auf die Position zurück, dass die Hilfen »Teil des politischen Geschehens« seien und daher »laufend den politischen Gegebenheiten angepasst« werden müssten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, d. h. mitten im Bundestagswahlkampf 1965, sei die Lage für den Wunsch der Kirchen ungünstig, eine Entscheidung könne er momentan nicht fällen und empfehle, sie bis nach der Regierungsbildung zurückzustellen. Kunst war jedoch fest entschlossen, die Aktion »notfalls auch gegen den Willen« der Bundesregierung durchzusetzen. Das humanitäre Anliegen sei ihm zu wichtig, als dass er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, hier untätig zu bleiben. Auf die Frage, ob die Kirche überhaupt noch mit Unterstützung der Bundesregierung rechnen könne, antwortete Krautwig ausweichend, dass man sich engagieren werde, insoweit »die politische Lage eine Aktivität zulasse«.58 Die Bundestagswahl im September 1965 bestätigte die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP und ließ auch die erlahmten Aktivitäten auf diesem Sektor wiederaufleben. Im Oktober stellte die Bundesregierung die angeforderten Gelder zur Verfügung. Die einzige Auflage für die Kirchen bestand darin, dass die Aktion erst nach weitgehendem Abschluss der Häftlingsentlassungen in Gang gesetzt werden dürfe, damit die Gegenseite beides nicht gegeneinan54 55 56 57 58
Siehe z. B. von Wedel an Kunst, 4. u. 8.12.1964 sowie 16.3.1965; EZA, 742/274. Stange an Kunst, 12.4.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. S. 232. Vermerk Krautwigs, 20.5.1965; ebenda, S. 240. Vermerk Krautwigs, 15.9.1965; ebenda, S. S. 275. Ebenda, S. 275 f.
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der ausspielen könne.59 Die Befürchtungen waren jedoch unbegründet, denn bis Ende Januar 1966 erteilte das Ministerium des Innern der DDR 728 Personen die Ausreisegenehmigung.60 Eine Sonderform der Familienzusammenführung stellten die Bemühungen um die Ausreise von Kindern dar, die durch den Mauerbau von ihren Eltern getrennt waren. Mitte 1965 signalisierte Vogel, er könne versuchen, diese Fälle bei seinen Verhandlungen »vereinzelt« anzusprechen.61 Tatsächlich gelang es den Anwälten bis Jahresende, insgesamt 338 Kindern zur Ausreise zu ihren Eltern zu verhelfen, insofern die Sorgerechtsverhältnisse unstrittig waren.62 Die DDR verzichtete auf die Forderung nach einer Gegenleistung, wohl auch deswegen, weil dies für ihr Ansehen »vernichtende Auswirkungen« gehabt hätte, wie Krautwigs persönlicher Referent Schierbaum vermerkte.63 Nach Entlassung der vereinbarten 1 555 Häftlinge und der Zusicherung Vogels, dass die noch offenen Fälle von Familienzusammenführung korrekt abgewickelt würden, erklärte der Gesamtdeutsche Minister Erich Mende zum Jahresende 1965 die »Sondermaßnahme« für die schwerstbestraften politischen Häftlinge für abgeschlossen, ganz wie es von Beginn an vorgesehen war. Mende teilte Bischof Kunst mit, dass die Bemühungen der Kirchen zum gewünschten Erfolg geführt hätten und damit »die dringendste Seite eines Problems seiner menschlichen Lösung nähergebracht worden« sei. »Die Bundesregierung«, stellte Mende fest, »beabsichtigt nicht, die Aktion fortzusetzen.«64
Fortsetzung und Streit um die »Mittäter« Mendes Entscheidung war politisch gesehen konsequent, ließ jedoch unberücksichtigt, dass das Problem der inhaftierten »Langstrafer« nach wie vor nicht gelöst war. Zum einen waren über 20 der zurückgestellten Häftlinge (»ZFälle«) nach wie vor in Haft, zum anderen erhielt die Rechtsschutzstelle durch die Befragung der in Gießen eingetroffenen Freigekauften Kenntnis von weiteren Inhaftiertenschicksalen. Hinzu kamen Verhaftungen und Urteile jüngeren Datums, die nach Strafmaß und Tragik der Begleitumstände der Zielgruppe 59 Vermerk Schierbaums, 15.11.1965, DzD BesBem Bd. 1, S. 285 f. 60 Vermerk Stanges, 31.1.1966; ebenda, S. 294; die o. g. 6 Listen der Aktion »Familienzusammenführung entlassener politischer Häftlinge« sind in diese insgesamt 28 Listen mit eingerechnet, da Stange und Vogel die Unterscheidung im Juli 1965 aufgaben: Vogel an Stange, 6.7.1965; ebenda, S. 257. 61 Vogel an Stange, 21.7.1965; ebenda, S. 258. Hervorheb. i. O. 62 Vermerk Stanges, 31.1.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 294. 63 Vermerk Schierbaums, 15.11.1965; ebenda, S. 286. 64 Mende an Güde und Kunst, 23.12.1965; ebenda, S. 289, Anm. 3.
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der »Langstrafer« zuzurechnen waren. Außerdem waren einige der besonders schweren Fälle nicht in die Vereinbarungen der Jahre 1964 und 1965 einbezogen worden, da sie die DDR als nicht verhandelbare »Prestige-Fälle« einstufte, beispielsweise den Fall des 1962 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilten Fluchthelfers Harry Seidel.65 Rehlinger, der inzwischen von einer Abordnung nach Bonn ins Bundeshaus in West-Berlin zurückgekehrt war und die Rolle als Ansprechpartner für die Kirchen von Staatssekretär Krautwigs persönlichem Referenten Schierbaum übernommen hatte, vermerkte Mitte Februar 1966, dass schätzungsweise 400 »Langstrafer« oder Inhaftierte mit einem besonders tragischen Schicksal noch inhaftiert seien. Größtenteils handele es sich um Mitarbeiter von Nachrichtendiensten oder um Personen, die »›schwere Vergehen‹ gegen die Mauer« begangen hätten. Jedoch könne man davon ausgehen, dass im Falle einer erfolgreichen Auslösung dieser noch verbliebenen Häftlinge »keine sogenannten Langstrafer mehr einsitzen« würden. Die Kirchen, stellte Rehlinger fest, beabsichtigten daher, in Kürze mit der Bitte um die Aufnahme weiterer Verhandlungen an die Bundesregierung heranzutreten.66 Vogels Auftraggeber waren dazu nur allzu gerne bereit. Vogel hatte Stange schon im Dezember 1965 signalisiert, über einige noch offene Fälle verhandeln zu können.67 Mitte Februar 1966 wiederholte er die Bereitschaft seiner Vollmachtgeber, die Mehrzahl der infrage stehenden Häftlinge für wirtschaftliche Gegenleistungen zu entlassen. Auch die unentgeltliche Ausreise von Kindern sei unter der Voraussetzung möglich, dass eine neuerliche Häftlingsaktion vereinbart oder die Familienzusammenführungen fortgeführt würden.68 Zudem sollten wiederum zwei von seiner Seite gewünschte Häftlinge entlassen werden.69 Kurz nach Ostern 1966 nahmen die Vorbereitungen Gestalt an. Prälat Wissing und Johannes Zinke von der Berliner Caritas-Hauptverwaltung sowie die beiden Anwälte einigten sich darauf, dass Gefangene mit einer Reststrafe von fünf Jahren sowie Fluchthelfer unabhängig von der Höhe ihrer Strafe einbezogen werden sollten.70 Finanziell war an eine Größenordnung von 16 Millionen DM für die Entlassung politischer Häftlinge und 9 Millionen DM für Famili-
65 Vermerk Krautwigs, 9.5.1966; ebenda, S. 304. 66 Vermerk Rehlingers, 18.2.1966; ebenda, S. 294 f.; Vermerk Stanges, 8.3.1966; ebenda, S. 296. 67 Vogel an Stange, 21.12.1965; ebenda, S. 292. 68 Vermerk Rehlingers, 18.2.1966; ebenda, S. 294 f. 69 Kunst an G. H., 31.3.1966; EZA, 742/278; Vermerk Rehlingers, 20.5.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 312 f. 70 Vermerk Wissings, 19.4.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 300.
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enzusammenführungen gedacht.71 Aufgrund ihrer Erfahrungen aus dem Vorjahr forderten Stange und Bischof Kunsts Büroleiterin, Gräfin von Rittberg, zwei Verfahrensänderungen: Erstens müsse der Kreis der zu entlassenden Häftlinge vor Beginn der Entlassungen feststehen und zweitens müsse die Bundesregierung einmalig die Genehmigung für das »Gesamtgeschäft« erteilen. Die Verhandlungen über die Teilgutschriften und die dadurch verursachten, teils wochenlangen Verzögerungen während der zurückliegenden Aktion hätten den Ruf der Kirche als verlässlicher Vertragspartner »gefährdet und geschädigt«.72 Nach dieser Vorabstimmung baten Kunst und Wissing den Staatssekretär um ein Gespräch über ihr Anliegen.73 Auf Sympathie stießen sie bei Krautwig damit nicht. Als er Kenntnis von dem Plan einer neuerlichen Hilfsaktion erhielt, konnte er die Bemerkung nicht unterlassen, dass an sich doch Einvernehmen bestanden hätte, die Maßnahmen nicht fortzusetzen.74 Nach mehreren Gesprächen Kunsts und Wissings in Bonn, u. a. mit dem Chef des Bundeskanzleramtes, erklärte sich die Bundesregierung jedoch bereit, die Mittel im Haushalt einzuplanen.75 Bedingung sei jedoch, dass sämtliche Einzelwünsche zuvor zentral im Gesamtdeutschen Ministerium gesammelt, abgestimmt und nur diese Fälle zur Verhandlung stehen dürften.76 Damit sollte eine feste Kontrolle über die Zusammenstellung der Listen und die Einhaltung der »strengen Maßstäbe« sichergestellt werden. Mitte Juni erhielten die Kirchen die Zusage, dass sie mit der Bereitstellung von 25 Millionen DM rechnen könnten. Die im Gesamtdeutschen Ministerium endredigierte Liste mit knapp 500 Namen wurde daraufhin über Stange an Vogel übergeben.77 Volpert veranlasste die Prüfung der Liste und ließ der Bundesregierung nach nur zwei Wochen eine erste Stellungnahme zukommen: Die überwiegende Mehrheit der Fälle sei lösbar, bei 121 Häftlingen hingegen handele es sich um »Z-Fälle«. Zudem müssten 200 Mittäter in die Aktion einbezogen werden.78 Für Rehlinger war dieses Angebot alles andere als zufriedenstellend. Die Gegenseite habe »Forderungen und Wünsche angemeldet, die nicht zugestan71 Vermerk Krautwigs, 9.5.1966; ebenda, S. 304. 72 Vermerk Stanges, 8.3.1966; ebenda, S. 296; Notiz Rittbergs, 8.6.1966; EZA, 742/278. Hervorheb. i. O. 73 Vermerk Rehlingers, 27.5.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 316, Anm. 1. 74 Vermerk Krautwigs, 9.5.1966; ebenda, S. 304. 75 Vermerk Rehlingers, 27.5.1966; ebenda, S. 316, Anm. 1.; Kunst an Krautwig, 18.6.1966; ebenda, S. 317, Anm. 3; Vermerk Wissings, 7.6.1966; ebenda. 76 Vermerk Rehlingers, 11.5.1966; BArch-K, B 137/19976, Bl. 159 (As-DzD). 77 Zinke an Wissing, 16.6.1966; AEK, Zug. 683, Nr. 341. Liste mit Volperts hs. Anmerkungen in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13659. 78 Vermerk Rehlingers, 1.7.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 317 f.
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den werden« könnten.79 In den folgenden Wochen begann ein zähes Ringen zwischen Rehlinger und seinem Kontrahenten Volpert um jeden einzelnen Häftling. Das Verhandlungsklima wurde durch Manipulationsversuche seitens Volperts schwer belastet: Rehlinger warf Vogels Auftraggebern vor, sie hätten in mehreren Fällen »unter dem Deckmantel ›Namensverwechslungen‹« den angeforderten Häftling durch einen anderen ersetzen wollen,80 z. B. im Fall »Sommer, der angeblich Sommerberg heißen sollte«. Das müsse man »doch als einen Versuch einer Täuschung« auffassen.81 Als Vogel wenig später Rehlinger indirekt beschuldigte, die Bundesregierung verzögere die Verhandlungen, verlor dieser die Fassung. In ungewöhnlich scharfen Worten stellte er fest, das sei »schlechthin eine Unverschämtheit«, denn die Verzögerung liege ausschließlich daran, dass Vogels Auftraggeber hinsichtlich der angeblichen »Namensverwechslungen« nach wie vor »eine Antwort schuldig« seien.82 Vor allem jedoch prallten die entgegengesetzten Interessen in der Frage der besonders hart bestraften, zurückgestellten Häftlinge und der Einbeziehung der Mittäter ungebremst aufeinander. Rehlinger war hier fest entschlossen, nicht nachzugeben. Es könne nicht angehen, dass die Gegenseite die Häftlinge mit niedrigeren Strafen aus der Liste heraussuche und zur Entlassung anbiete, die Schwerbestraften aber streichen wolle.83 Als Vogel Ende Juli 1966 darauf drängte, endlich mit den Entlassungen zu beginnen, wies Rehlinger das als Versuch, seine Seite »zu überfahren«, entschieden zurück. Gegenwärtig könne »keine Rede davon sein«, dass man insgesamt 64 Zurückstellungen und die Streichung von 38 angeblich kriminellen Häftlingen akzeptieren werde.84 Hier müsse die Gegenseite zuerst ein Entgegenkommen zeigen und auf höchstens 40 Zurückstellungen heruntergehen.85 Der Streit über die zurückgestellten Häftlinge wurde mit besonderer Erbitterung geführt, weil es sich fast ausnahmslos um Inhaftierte handelte, die für »deutsche oder ausländische Geheimdienststellen« gearbeitet hatten. Schwerpunktmäßig waren es V-Leute des Bundesnachrichtendienstes, deren Entlassung die DDR schon im Vorjahr verweigert hatte. Knapp die Hälfte war zu Gefängnisstrafen zwischen 10 und 15 Jahren verurteilt worden, ein Drittel von ihnen verbüßte sogar eine lebenslange Haftstrafe. Allein 17 von ihnen wurden
79 80 81 82 83 84 85
Vermerk Rehlingers, 27.7.1966; ebenda, S. 320. Ebenda, S. 321; Vermerk Rehlingers, 1.7.1966; ebenda, S. 317 f. Rehlinger an Stange, 29.7.1966; ebenda, S. 323. Name geändert. Vermerk Rehlingers, 28.7.1966; ebenda, S. 322. Rehlinger an Stange, 29.7.1966; ebenda, S. 322 f. Vermerk Rehlingers, 28.7.1966; ebenda, S. 321. Vogel an Stange, 3.8.1966; ebenda, S. 326.
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in Bautzen II gefangen gehalten, der Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle in der malerischen sächsischen Kleinstadt.86 Staatssekretär Krautwig hatte in diesem Punkt prinzipielle Bedenken. Er hielt die Einbeziehung von nachrichtendienstlichen Fällen für riskant. Auf der Entlassung von Häftlingen auch aus dieser Deliktgruppe zu bestehen, könnte womöglich zum Scheitern der gesamten Verhandlungen führen. Rehlinger vertrat demgegenüber den Standpunkt, dass sich das Gesamtdeutsche Ministerium hier engagieren müsse, denn »nach den Erfahrungen der letzten Jahre nehme sich weder die verantwortliche noch eine andere Dienststelle« dieser Menschen an.87 Mit anderen Worten: In der Regel überließ der BND seine enttarnten V-Leute ihrem Schicksal. Der zweite Streitpunkt in den Verhandlungen betraf die Frage der Mittäter. Anders als Krautwigs persönlicher Referent Schierbaum, der im Vorjahr den Wünschen der DDR entgegengekommen war, zeigte sich Rehlinger hier weitaus weniger kompromissbereit. Da die meisten der vorgeschlagenen Mittäter zur Kategorie der »Kurzstrafer« gehörten, fielen sie nicht unter die politische Rahmenrichtlinie, derzufolge nur langbestrafte Häftlinge einbezogen werden sollten.88 Wenn man nur die Fälle mit Haftstrafen von über vier Jahren zählte, schmolz die von der DDR übergebene Mittäterliste mit 245 Namen sogar auf ein Viertel ihres ursprünglichen Umfangs zusammen,89 einige Häftlinge standen sogar kurz vor der Entlassung.90 Pikanterweise ergab ein Datenabgleich der Liste mit den Akten der Rechtsschutzstelle, dass zahlreiche der angebotenen Mittäter in keinerlei Zusammenhang zu den angeforderten Häftlingen stehen konnten. Rehlinger hegte die Befürchtung, dass es sich um gewöhnliche Kriminelle handelte, die dem Westen untergeschoben werden sollen.91 Misstrauisch geworden argumentierte er, dass nur solche Mittäter einbezogen werden könnten, »die den hiesigen sachkundigen Stellen bekannt« seien. Wegen des erwiesenen Betrugsversuchs müsse man auf dieser Bedingung bestehen.92 Überhaupt könne die Gegenseite die Mittäter doch »freiwillig« entlassen. Ausgehend vom Gleichheitsgrundsatz sei es aus seiner Sicht nicht vertretbar, 86 Liste der Z-Fälle, anbei dem Schreiben Vogels an Stange, 27.7.1966; EZA, 742/278; Vermerk Rehlingers, 4.8.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 327; Haftkartei der Gedenkstätte Bautzen II, Auskunft v. 1.2.2011. 87 Vermerk Weicherts, 15.3.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 370 f.; Ausarbeitung Krautwigs »Aktuelle Themen des BMG für das Jahr 1967«, Dez. 1966; AdSD, NL Wehner, BMG 1/HWAA 00, Mappe 3843. 88 Vermerk Rehlingers, 5.8.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 331 f. 89 Hs. Randbemerkung von Rittbergs auf der Liste der Mittäter; EZA, 742/278. 90 Vermerk Rehlingers, 1.8.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 323, Anm. 5. 91 Vermerk Rehlingers, 27.7.1966; ebenda, S. 321. 92 Vermerk Rehlingers, 2.8.1966; ebenda, S. 323 Anm. 5.
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dass die gering bestraften Mittäter den »Langstrafern« vorgezogen werden sollten.93 Selbst bei großzügiger Auslegung der Richtlinien wären bestenfalls 80 Mittäter akzeptabel.94 Ein Beweggrund für diese feste Haltung war sicherlich der Widerwille, der die Bonner Ministerialbürokratie und Politiker bei dem Gedanken befiel, durch die Zahlungen für die Mittäter auch noch für die ideologischen Folgen der Entlassungen aufzukommen. Vielmehr sollte die DDR die negativen strafpolitischen Auswirkungen ihres Geschäftes mit Menschen selbst zu spüren bekommen. Das sah Vogels Auftraggeber Volpert natürlich anders: Auf seine Anweisung hin machte Vogel deutlich, dass es seiner Seite »nicht zumutbar« sei, »aus Gruppenprozessen nur einen Verurteilten herauszugreifen«.95 Stichhaltiger als das Argument der Zumutbarkeit war Vogels Hinweis darauf, dass es für seine Vollmachtgeber »nicht einzusehen« wäre, »daß 1966 unmöglich sein soll, was 1964 und 1965 möglich war«.96 Tatsächlich waren im Vorjahr auch Mittäter einbezogen worden, deren Strafe unter zweieinhalb Jahren Haft lag, wie Stange auf Nachfrage einräumte.97 Krautwig, der von Bonn aus keinen Einblick in die Einzelfallakten der Westberliner Rechtsschutzstelle nehmen konnte, war verärgert, als er Kenntnis von dieser »sehr großzügigen« Anwendung der Richtlinien durch Stange erhielt und ordnete die Erstellung einer Gesamtliste aller bisherigen Entlassungen an.98 Nicht ohne Grund befürchtete er, dass damit Präzedenzfälle geschaffen waren, auf die sich die Gegenseite im Falle zukünftiger Verhandlungen berufen würde. Anfang August 1966 spitzte sich die Lage bedrohlich zu. Beide Seiten beharrten auf ihrem Standpunkt und waren zu keinem Entgegenkommen bereit. Auf Volperts »strenge Anweisung« hin setzte Vogel der Bundesregierung schließlich ein Ultimatum: »Bleibt Ihre Seite bei den bekannten Forderungen (40 Z-Fälle, allenfalls 75 Mittäter), so sieht meine Seite die Verhandlungen über eine Aktion 66 und auch darüber hinausgehend ab 6.08.1966, als beendet an.«99 Rehlinger interpretierte Vogels Schreiben als taktisches Manöver und wertete es als Versuch, »in erpresserischer Form einen Druck auszuüben«.100 Die Kirchen und die Bundesregierung mussten in dieser Lage eine Entscheidung treffen, was höher zu gewichten sei: In einer grundsätzlichen Frage 93 S. 370. 94 95 96 97 98 99 100
Rehlinger an Stange, 29.7.1966; ebenda, S. 322; Vermerk Weicherts, 15.3.1967; ebenda, Vermerk Rehlingers, 4.8.1966; ebenda, S. 328. Vogel an Stange, 27.7.1966; ebenda, S. 320. Vogel an Stange, 3.8.1966; ebenda, S. 326. Vermerk Stanges, 7.8.1966; ebenda, S. 333. Vermerk Krautwigs, 11.8.1966; ebenda, S. 337, Anm. 1. Vogel an Stange, 3.8.1966; ebenda, S. 326. Vermerk Rehlingers, 4.8.1966; ebenda, S. 328.
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nachzugeben und damit einen Präzedenzfall zu schaffen oder auf dem eigenen Standpunkt zu beharren und damit zu riskieren, dass eine nicht unerhebliche Zahl von politischen Häftlingen in den Gefängnissen verblieb. Stange bat Rehlinger einzulenken. Das Ergebnis lasse zwar manches zu wünschen übrig, doch müsse man die Folgen eines Verhandlungsabbruchs bedenken: Häftlingsentlassungen wären dann für »absehbare Zeit« ausgeschlossen.101 Auch Generalvikar Walter Adolph, Prälat Wissings Vertreter in Berlin, machte sich diesen Standpunkt zu eigen. Nach reiflicher Überlegung erscheine ihm der humanitäre Gewinn »doch für so gewichtig, um sich den Forderungen zu beugen«.102 Nachzugeben war für Rehlinger indes ausgeschlossen. Auch wenn seine Strategie nicht ohne Risiko war, schlimmstenfalls sogar zum Scheitern der Verhandlungen hätte führen können, lag er mit seiner Einschätzung richtig, dass die Verhandlungsmacht der Bundesregierung größer war als von Stange und den Kirchen angenommen. Rehlinger war nicht gewillt, sich allen Forderungen zu beugen und vertraute darauf, dass sich die Gegenseite das »Geschäft« nicht entgehen lassen würde. Tatsächlich liefen im Sommer 1966 bereits die Vorbereitungen für die Gründung des Bereiches KoKo, der große Devisensummen neben dem Plan erwirtschaften sollte.103 Einen Tag vor dem Verstreichen des Ultimatums meldete Stange, dass die Frist um zwei Tage auf den 8. August verlängert worden sei.104 Auch führe die Gegenseite die Verhandlungen »mit ungewöhnlichem Eifer« fort und habe in den letzten Tagen die Verlegung von Häftlingen angeordnet, was gegen einen beabsichtigten Abbruch der Verhandlungen spreche. Nach seiner Überzeugung könne man annehmen, dass die Gegenseite nach wie vor an einer Vereinbarung interessiert sei.105 Wie erwartet kam die DDR der Bundesregierung in der Frage der Z-Fälle und der Mittäter schrittweise entgegen: Hatte sie am 4. August noch 78 Streichungen verlangt, so reduzierte sie ihre Forderungen zunächst auf 67 und am Tag des Ultimatums schließlich auf 56 Fälle. Bezüglich der Mittäter bestand sie nur noch auf der Einbeziehung von 159 Fällen.106 Mithin stellte das Angebot einen Kompromissvorschlag auf Basis der Gleichberechtigung dar, denn die beiden Größen lagen jeweils genau in der Mitte zwischen den ursprünglichen Forderungen der DDR und den Angeboten der Bundesregierung (78 vs. 40 »Z-Fälle«; 245 vs. 72 Mittäter). 101 Stange an Kunst, 4.8.1966; ebenda, S. 326 f., Anm. 4. 102 Vermerk Rehlingers, 4.8.1966; ebenda, S. 329. 103 Siehe Kap. VII. 104 Vermerk Rehlingers, 5.8.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 332. 105 Vermerk Stanges, 7.8.1966; ebenda, S. 334. 106 Vermerk Rehlingers, 4.8.1966; ebenda, S. 327 f.; Vermerk Rehlingers, 5.8.1966; ebenda, S. 330–332; Vermerk Krautwigs, 8.8.1966; ebenda, S. 335.
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Staatssekretär Krautwig beriet mit Kanzleramtschef Westrick, dem Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium und Generalvikar Adolph über den Kompromissvorschlag. Einmütig traf die Runde die Entscheidung, dass das neue Angebot hinsichtlich der noch zurückgestellten Häftlinge annehmbar sei. In Bezug auf die Mittäter müsse es jedoch bei der Zahl von 72 Personen bleiben. Weitere Zugeständnisse seien hier »nicht akzeptabel«. Stange fuhr mit diesen Informationen nach Ost-Berlin, um sie Vogel zu übermitteln.107 Auch physisch stießen die Unterhändler an ihre Grenzen, denn die ganze Nacht über wurde verhandelt. Erst am frühen Morgen gelang der Durchbruch, die DDR erklärte sich mit dem Vorschlag einverstanden. Bezüglich der Mittäter gab Vogel jedoch zu Protokoll, seine Auftraggeber erwarteten, dass die Bundesregierung bis zu 100 Mittäter akzeptiere, insofern die Schicksale dieser Häftlinge denen von bereits einbezogenen glichen.108 Offenbar versuchte Volpert zudem, die Frage der Mittäter von Ausreisegenehmigungen für Kinder abhängig zu machen. Generalvikar Adolph bat Minister Mende Ende August in einem persönlichen Gespräch, der DDR hier entgegenzukommen. Mende entschied, dass die Namen der Mittäter »sorgfältig geprüft« und »menschlich schwerwiegende« Fälle miteinbezogen werden könnten – auch wenn sie zu geringeren Strafen verurteilt worden waren.109 Nachdem die Bundesregierung die Einbeziehung von 100 Mittätern genehmigt hatte, schrieb Vogel wie beiläufig an Stange, er wolle »bei dieser Gelegenheit« die Mitteilung machen, dass die Ausreise von 60 Kindern gestattet worden sei.110 Im Rahmen des Gesamtpaketes und der darin enthaltenen Überstellung von drei in der Bundesrepublik inhaftierten Personen war die DDR nach »zähen Verhandlungen« sogar bereit, einen ihrer prominentesten politischen Häftlinge freizugeben, den früheren Bahnradfahrer und Fluchthelfer Harry Seidel. Seidel hatte zwischen 1961 und Herbst 1962 zunächst im Alleingang, später mit Gleichgesinnten mindestens 146 Personen zur Flucht verholfen, unter anderem durch zwei Tunnelprojekte unter der Berliner Mauer. Von einem Spitzel des MfS verraten, wurde Seidel im November 1962 beim Durchbruch eines Tunnels in Kleinmachnow verhaftet und noch im Dezember in einem Schauprozess vor dem Obersten Gericht der DDR zu lebenslanger Haft verurteilt.111 Das Urteil hatte im Westen großes Aufsehen erregt, die Bild-Zeitung kom107 Vermerk Stanges, 9.8.1966; ebenda, S. 336. 108 Vermerk Rehlingers, 9.8.1966; ebenda, S. 335 f., Anm. 3. 109 Vermerk Rehlingers, 30.8.1966; ebenda, S. 338 f. 110 Vogel an Stange, 2.9.1966; ebenda, S. 340; Vermerk Weicherts, 15.3.1967; ebenda, S. 371. 111 Detjen: Fluchthilfe, S. 133–143; Detjen, Marion: Die Mauer überwinden: Harry Seidel. In: Fricke, Karl W.; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes: Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder. München 2002, S. 340–344.
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mentierte es mit der Schlagzeile »Terror-Urteil: … Diese Richter sind Barbaren«.112 Auch später hatte es regelmäßige, öffentliche Protestaktionen für die Freilassung Harry Seidels gegeben. Rehlinger frohlockte ob seiner bevorstehenden Freilassung, denn der Fall habe »ein hohes menschliches und politisches Gewicht«. Schließlich sei Seidel der »›prominenteste‹ Häftling«, weshalb sein Freikauf zugleich einen politischen Gewinn für die Bundesregierung darstellte: »Die Bemühungen der Bundesregierung um menschliche Erleichterungen würden dadurch weithin offenbar.«113 Seidel wurde am 13. September 1966 nach Berlin entlassen.114 Zu Komplikationen kam es hingegen im Fall des zweiten Häftlings, der im Rahmen des Austausches vorgesehen war: Carl-Wolfgang Holzapfel war 1965 wegen einer Demonstration am Checkpoint Charlie verhaftet und zu einer Strafe von acht Jahren verurteilt worden. Vogel hatte seine Freilassung verbindlich für den 10. Oktober zugesagt, zog sie jedoch kurz vor dem Entlassungstermin zurück.115 Rehlinger stellte einen Bruch der Vereinbarung fest und fuhr sein »gröbstes Geschütz« auf: Wenn die DDR Holzapfel nicht wie zugesagt freilasse, würde er »ein Schiff anhalten«, d. h. die Warenlieferungen unverzüglich einstellen.116 Da Rehlinger und Krautwig darauf achteten, keine Vorleistungen zu erbringen, sondern erst nach Entlassung der Häftlinge zu zahlen, hatte die Drohung den gewünschten Effekt: Holzapfel kam Anfang November in die Bundesrepublik. Wie auch im Vorjahr konnten die Bemühungen über Familienzusammenführungen fortgesetzt werden. Ende 1966 hatten 546 Personen die Genehmigung zur Ausreise erhalten. Jedoch forderte die DDR für die Ausreisen der Angehörigen entlassener Häftlinge nunmehr eine Gegenleistung in Höhe von rund 11 000 DM. Zudem kamen die 60 Kinder und einige weitere ohne Gegenleistung in die Bundesrepublik.117 Die Bilanz der mittlerweile vierten »Sonderaktion« war beachtlich: Zwei Drittel der insgesamt 407 freigekauften Häftlinge gehörten zur Kategorie der »Langstrafer«, darunter waren allein 19 »Lebenslängliche« und 87 Inhaftierte mit einer zeitlichen Freiheitsstrafe zwischen zehn und 15 Jahren.118 Besonders erfreulich war aus der Sicht der Bundesregierung, dass sich unter den Entlassenen auch 41 ehemalige Mitarbei112 »Terror-Urteil: … Diese Richter sind Barbaren«, BamS v. 30.12.1962. 113 Vermerk Rehlingers, 6.9.1966; BArch-K, B 137/19976, Bl. 21 f. (AS-DzD). 114 Vogel an Stange, 2.9.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 339. 115 Ebenda, S. 340. 116 Vermerk Rehlingers, 13.10.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 343, Anm. 2; Rehlinger: Freikauf, S. 63 f., dort fälschlicherweise auf Harry Seidel bezogen. 117 Vermerk Rehlingers, 15.11.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 345 f. 118 Eigene Zusammenstellung auf Basis der Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067.
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ter des BND befanden. BND-Präsident Reinhard Gehlen zeigte sich von diesem Ergebnis »befriedigt«.119 Allerdings befanden sich noch weitere 50 V-Leute des Dienstes in Haft.120 Ingesamt waren die Verhandlungsführer ihrem Ziel, die meisten »Langstrafer« zu befreien, schon recht nahe gekommen. Doch der politische Wille der Bundesregierung, die Hilfen fortzuführen, war merklich erlahmt. Der Streit über die Haushalts- und Steuerpolitik führte Ende Oktober 1966 zum Zerwürfnis zwischen den Koalitionsparteien und endete mit dem Austritt der FDP-Minister aus dem Bundeskabinett. Vorübergehend übernahm Johann Baptist Gradl (CDU), der Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, das Amt des Gesamtdeutschen Ministers, übte es jedoch nur für wenige Wochen aus. Ohne handlungsfähige Regierung waren keine Entscheidungen möglich. Als Bischof Kunst den Staatssekretär im November 1966 darum bat, weitere 700 000 DM für Familienzusammenführungen bereitzustellen, winkte dieser ab. Eine Erhöhung der veranschlagten Summe erscheine ihm »ausgeschlossen«. Womöglich wäre es »das Beste, es – jedenfalls zunächst – bei dem bisher Erreichten bewenden zu lassen«.121
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Neue Marschrichtung in der Großen Koalition
Am 10. November 1966 wählte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion BadenWürttembergs Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger zu ihrem Kanzlerkandidaten. Kiesinger verhandelte sowohl mit der FDP als auch mit der SPD über eine Regierungsbildung. Am Ende der Verhandlungen stand die erste Große Koalition auf Bundesebene zwischen den Unionsparteien und den Sozialdemokraten. Ludwig Erhard trat Ende November zurück; am 1. Dezember wählte der Bundestag Kiesinger zum Bundeskanzler.
Regierungsbildung Der Architekt der Großen Koalition war dabei zweifelsohne der amtierende SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner (Abb. 20). Obwohl Willy Brandt als SPD-Parteivorsitzender größere inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der FDP sah, konnte sich Wehner mit seinem Wunsch nach einem Bündnis mit der 119 Vermerk Rehlingers, 8.9.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 340. 120 Vgl. Liste der Z-Fälle 1966, Anm. 86. 121 Vermerk Rehlingers, 15.11.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 345 f.; Krautwig an Rehlinger, 15.11.1966; BArch-K, B 137/19976, Bl. 259 (AS-DzD).
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Union durchsetzen. Eine Große Koalition verfügte über eine breite Mehrheit im Bundestag und eröffnete der SPD die Möglichkeit, nach 17 Jahren in der Opposition ihre Regierungsfähigkeit in der Rolle des Juniorpartners unter Beweis stellen zu können. Wehner hatte spätestens seit 1962 auf dieses Ziel hingearbeitet. Es zahlte sich nun aus, dass er anstelle eines scharfen Konfrontationskurses einen »kooperativen Oppositionsstil«122 gepflegt und die Kontakte zu befreundeten Unionspolitikern wie Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CSU) nie hatte abreißen lassen.123 Während Kiesingers Verhältnis zum Außenminister und Vizekanzler Brandt distanziert blieb, war die Beziehung zwischen ihm und Herbert Wehner, der Minister für Gesamtdeutsche Fragen wurde, von gegenseitigem Respekt geprägt. Der bürgerliche Schwabe Kiesinger verstand sich mit dem sächsischen Sozialdemokraten, der gleichfalls eine bürgerlich-bescheidene Lebensweise bevorzugte. Zudem verband beide die Erfahrung, vor 1945 einem politischen Irrweg gefolgt zu sein, wenn auch unter jeweils anderem Vorzeichen: Kiesinger war NSDAP-Mitglied, Wehner KPD-Funktionär gewesen. Beiden wurde ihre Vergangenheit zeitlebens vorgehalten, was nicht unerheblich dazu beitrug, dass beide Verständnis füreinander aufbringen konnten. Der enge Draht Wehners zum Kanzler sowie sein überzeugtes Eintreten für eine große Koalition machten ihn zum tragenden Pfeiler der Koalition. Das Gesamtdeutsche Ressort erfuhr dadurch eine Aufwertung, wodurch Wehner über einen breiteren eigenen Handlungsspielraum und größeren Einfluss auf den Kanzler als seine Amtsvorgänger verfügte. Augenfälliges Zeichen für die Schlüsselrolle des Duos Kiesinger – Wehner war ihre Sitzposition im Bundestag: Der Kanzler saß am rechten, Wehner am linken Ende der Regierungsbank, sodass sie in den kommenden drei Jahren auch optisch »die Klammer des Kabinetts« bildeten.124 Mit der Beteiligung der SPD an der Regierungsverantwortung zeichneten sich signifikante Veränderungen in der künftigen Deutschlandpolitik ab. Wehner hatte die Vorstellungen der Sozialdemokraten mit den Worten umrissen, sie seien nicht darauf angelegt, »Ulbricht eine Tür zur Bundesrepublik zu öffnen«, sondern sie würden »den Menschen das Leben im gespaltenen Deutschland erleichtern […] helfen«. Ein Abschied von der Politik der grundsätzlichen Nichtanerkennung der DDR sollte die neue Beweglichkeit jedoch
122 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 383. 123 Guttenberg, Karl Theodor zu: Fußnoten. Frankfurt/M. 1972, S. 82 u. 89; Meyer: Wehner, S. 286–290; Eichhorn, Joachim Samuel: Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg. Die Regierungspraxis der ersten Großen Koalition (1966–1969). München 2009, S. 35–41. 124 Meyer: Wehner, S. 286–300, hier 298; Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 382– 394.
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nicht beinhalten.125 Ähnlich hatte sich auch Kiesinger geäußert: die künftige Regierung müsse mit den »Wiedervereinigungssonntagsreden« Schluss machen und mit der »Wiedervereinigungswerktagsarbeit« beginnen.126 In der Regierungserklärung des Kanzlers am 13. Dezember 1966 stand der Abschnitt zur künftigen Deutschlandpolitik ganz im Zeichen dieser neuen politischen Marschrichtung. Verglichen mit den vorherigen Regierungserklärungen, die stets die Begriffe »Zone« und »Unrecht« enthielten, stellte die Wortwahl Kiesingers eine merkliche Veränderung dar. Im Balanceakt zwischen dem Festhalten an der Nichtanerkennung der DDR einerseits und Pragmatismus andererseits verschob sich das Gewicht zugunsten des Pragmatismus: »Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten, Gräben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern. Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen im anderen Teil Deutschlands notwendig ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates.«
Der Leitsatz des künftigen Kurses lautete: »Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, was notwendig ist, möglich machen.«127
Ein Sozialdemokrat an der Spitze des Gesamtdeutschen Ministeriums Obwohl es Vorbehalte im Unionslager gegen den ehemaligen Kommunisten Wehner gegeben hatte, war seine Ernennung zum Gesamtdeutschen Minister die am wenigsten strittige Personalentscheidung.128 Aus der Gleichrangigkeit der Koalitionspartner folgte, dass der SPD zwei prominente Ressorts zustanden. Parteiintern galt es als selbstverständlich, dass Wehner dieser Posten gebühre. Als Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses war er wie kein anderer mit der Thematik vertraut und neben Brandt der profilierteste Deutschlandpolitiker der SPD. Zudem vermittelte er als gebürtiger Dresdner glaubwürdig die Botschaft, dass ihm das Schicksal der Menschen in der DDR
125 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 385. 126 Gassert, Philipp: Kurt Georg Kiesinger. 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten. München 2006, S. 500. 127 Behn, Hans Ulrich: Die Regierungserklärungen der Bundesrepublik Deutschland. München 1971, S. 202 f. 128 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 386 u. 394.
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ein Herzensanliegen war und er das Amt nicht bloß als eine Sprosse auf der Karriereleiter betrachtete. Wehner gehörte ohne Zweifel zu den bedeutendsten Politikern der alten Bundesrepublik. 1906 in Dresden geboren hatte er in seiner Jugend zunächst dem Anarchismus nahegestanden, war 1927 aber in die KPD eingetreten.129 In den folgenden Jahren stieg er in den engeren Führungszirkel der Partei auf: 1930 wurde er in den sächsischen Landtag gewählt, 1931 ins Karl-LiebknechtHaus nach Berlin beordert und zum technischen Sekretär des Politbüros der KPD ernannt.130 In der Reichshauptstadt lernte er auch Walter Ulbricht kennen, den späteren SED-Generalsekretär. Nach Hitlers Machtübernahme musste Wehner seine Arbeit für die KPD illegal fortsetzen und emigrierte 1935 nach Moskau. Während des »Großen Terrors« in den Jahren 1936/37 wurde Wehner mehrfach in die Lubjanka, die Zentrale der sowjetischen Geheimpolizei (NKWD), einbestellt. Seine schriftlichen und mündlichen Aussagen trugen »zur Verfertigung eines NKWD-Befehls bei, der zur Verhaftung und Erschießung zahlreicher deutscher Emigranten führte«.131 Wehner verwickelte sich damit »schuldhaft in die Machenschaften der stalinistischen Diktatur«, wie sein Biograf Christoph Meyer resümiert, »weil er überleben wollte und […] musste«.132 Noch vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion entsandte ihn die Parteiführung 1941 nach Schweden. Wehner sollte von dort aus den weitgehend zerschlagenen Parteiapparat in Deutschland neu aufbauen, doch wurde er im Februar 1942 von der schwedischen Polizei verhaftet und wegen Spionage zu einem Jahr Zwangsarbeit verurteilt. Sein Bruch mit dem Kommunismus und die Wandlung zum Demokraten begannen noch während seiner Haftzeit. Der Abnabelungsprozess erstreckte sich über mehrere Jahre und mündete in die Erkenntnis, einem schrecklichen Irrtum angehangen zu haben. Nach dem Ende des Krieges kehrte Wehner 1946 nach Deutschland zurück, die schwer kriegsbeschädigte Hansestadt Hamburg wurde fortan zu seiner Wahlheimat. Noch im gleichen Jahr trat Wehner der SPD bei. Kurt Schumacher gehörte zu seinen bedeutendsten Vorbildern.133 1949 zog Wehner über ein Direktmandat in den Deutschen Bundestag ein. Seine parlamentarische Karriere endete erst 1983, nach 33 Jahren ununterbrochener Zugehörigkeit zum Bundestag. Wehner, die »größte parlamentarische 129 Meyer: Wehner, S. 39. 130 Ebenda, S. 44. 131 Müller, Reinhard: Herbert Wehner, Moskau 1937. Hamburg 2004, inbes. S. 9–21, Zitat S. 20. »Dies impliziert jedoch nicht«, schreibt Müller, »daß deren Verhaftung ausschließlich auf die Meldungen und Berichte Herbert Wehners zurückzuführen sind«; ebenda, S. 20, Anm. 53. 132 Meyer: Wehner, S. 84. 133 Ebenda, S. 94–100.
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Haubitze aller Zeiten« (Heiner Geißler), focht in seinen Reden, Wortbeiträgen und Zwischenrufen mit teils beißender Ironie und Schlagfertigkeit für seine politischen Ziele. Mitunter war er dabei grob und verletzend, beschimpfte die politische Konkurrenz aber zuweilen mit kreativen Wortneuschöpfungen.134 Sein vulkanisches Temperament war jedoch nur eine Seite seines im wahrsten Sinne merkwürdigen Charakters. Hinter den rauen Umgangsformen verbarg sich ein sensibler Mensch. Bei seiner Amtseinführung waren die Mitarbeiter des Gesamtdeutschen Ministeriums angenehm überrascht von der Umgänglichkeit des Mannes, dem sonst der Ruf des Bürgerschrecks vorauseilte.135 Die Fähigkeit zur Empathie zeigte sich besonders in Bezug auf die humanitären Fragen, denen sich Wehner mit wachsendem Engagement widmete. Als erster Minister »kniete er sich persönlich in diese Dinge hinein«.136 Ohne Zweifel war seine eigene Hafterfahrung dafür ausschlaggebend. Jan Hoesch, der 1969 das »Freikauf-Referat« in Berlin übernahm, erinnert sich an ein Erlebnis kurz nach seinem Dienstbeginn: »Da hat mich mit am Meisten beeindruckt ein Ordner, in dem Briefe waren von Häftlingen, die sich persönlich bei Wehner bedankt hatten. Solche Briefe bekommt ein Minister in der Regel gar nicht zu sehen, die beantwortet sein persönlicher Referent oder das Fachreferat. Der Minister wird im Allgemeinen mit solchen Dingen nicht behelligt. Aber dieser Ordner enthielt lauter Briefe, die Wehner nicht nur gelesen, sondern in denen er mit seinem grünen Ministerkugelschreiber an den Rand Anweisungen für die Beantwortung gegeben hatte. Das war für mich etwas völlig Neues, dass sich ein Minister eigenhändig um die Beantwortung von Dankesbriefen kümmert, wo an sich der Fall ja abgeschlossen war. Für Wehner war das trotzdem ein Grund, diesen menschlichen Kontakt persönlich fortzusetzen. Das war für mich ein Schlüsseleindruck, auch zur Beurteilung und zum Verständnis der Persönlichkeit Wehners.«137
Im Bewusstsein, dass die »Besonderen Bemühungen« nicht bloß eine Verwaltungsmaßnahme waren, mahnte Wehner gelegentlich: »Wir handeln doch nicht mit Tomaten, wir haben es mit Menschen zu tun.«138 In Ost-Berlin stießen weder die Große Koalition noch die Amtsübernahme Wehners auf wohlwollende Reaktionen. Ulbricht reagierte mit scharfer Abgrenzungsrhetorik. Mit der neuen Regierung schlage die Bundesrepublik einen 134 Ebenda, S. 460; vgl. Roth, Jürgen; Freitag, Thomas; Gremliza, Hermann: Sie Düffeldoffel da! Herbert Wehner, ein komischer Heiliger. Ein Jahrhundertleben in Originaltönen. München 2010 (CD-Rom); Pursch, Günter; Hasselfeldt, Gerda: Das parlamentarische Schimpfbuch. Stilblüten und Geistesblitze unserer Volksvertreter in 60 Jahren Bundestag. München 2009. 135 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 394; Meyer: Wehner, S. 302. 136 Interview mit Ludwig Rehlinger, 17.5.2011. 137 Interview mit Jan Hoesch, 22.5.2008. 138 Pötzl: Spione, S. 192.
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»Rechtskurs« ein, die Koalition stelle gar eine »Front der reaktionären Kräfte« dar. Auch Wehner selbst wurde zur Zielscheibe der verbalen Ausfälle des SEDChefs: Auf der Politbürositzung am 24. Januar 1967 polterte er, Wehner sei ein Opportunist und ruchloser Verräter, da er seit dem 17. Juni 1953 mit Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß paktiert habe: »Wehner war niemals Kommunist, er war auch kein Sozialdemokrat, er ist ein politischer Hochstapler, der jetzt sein Ziel, einen Ministerposten, erreicht hat. Und damit sind alle Fragen für ihn erledigt.«139 Gleich nach Wehners Amtseinführung im Dezember 1966 konfrontierte die DDR den neuen Ressortchef mit der Drohung, sämtliche Verhandlungen über Häftlingsentlassungen und Familienzusammenführungen abzubrechen, wenn die Bundesregierung nicht auf ihre Austauschforderung eingehe.140 Vogels Auftraggeber forderten die Begnadigung Alfred Frenzels, eines früheren Bundestagsabgeordneten der SPD, der dem tschechischen Geheimdienst seit 1956 Unterlagen über militärische Geheimnisse der Bundeswehr und der NATO zugespielt hatte. 1960 war Frenzel enttarnt und vom Bundesgerichtshof zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt worden. Im Gegenzug für ihn wollten Ost-Berlin und Moskau lediglich zwei bisher zurückgestellte BNDMitarbeiter und Martina Kischke, eine Korrespondentin der Frankfurter Rundschau, aus der Haft entlassen. Der sowjetische KGB hatte die Journalistin im August 1966 unter einem konstruierten Spionagevorwurf in Kasachstan festgenommen, um sich ein Druckmittel für Frenzel zu verschaffen.141 Das Angebot aus Ost-Berlin war für Bonn jedoch unannehmbar. Erst nach zähen Verhandlungen gab Vogels Seite nach und erweiterte die Offerte um zehn vom Berliner Senat benannte Häftlinge, die Freigabe eines weiteren Gefangenen für eine Einmalzahlung von 500 000 DM sowie Ausreisegenehmigungen für zehn Kinder. Wenn der Westen das Angebot annehme, so deutete Vogel an, könne auch die Verhandlungssperre auf dem humanitären Sektor aufgehoben werden. Im Gestus der Erschöpfung kommentierte er das Gebot mit den Worten: »Nun bin ich aber wirklich am Ende.« Die Bundesregierung, allen voran Wehner und der neue SPD-Justizminister Gustav Heinemann stimmten dem Vorschlag zu, sodass der Austausch Frenzels nach der Begnadigung durch Bundespräsident Lübke reibungslos vonstatten ging.142 Das Tor zu
139 Zit. nach: Staadt, Jochen: Die geheime Westpolitik der SED, 1960–1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation. Berlin 1993, S. 225 u. 234. 140 Rehlinger an Krautwig, 15.12.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 354, Anm. 1. 141 Vogel an Stange, 11.12.1966; LArchB, B Rep. 003, Nr. 597. 142 Bahr an Brandt, Heinemann und Wehner, 20.12.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 354 f.; vgl. Pötzl: Spione, S. 173–179; »Spionage Kischke/Frenzel: Kochkurs für Kasachstan«. In: Der Spiegel v. 2.1.1967.
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einer Wiederaufnahme der Verhandlungen auf dem humanitären Gebiet stand damit offen.
Ausdehnung der Hilfen auf »Kurzstrafer« Nach diesem turbulenten Einstand bat Wehner Staatssekretär Krautwig um einen Sachstandsbericht zu den humanitären Bemühungen. Mehr aus taktischen Erwägungen denn aus Überzeugung hatte sich Wehner dafür entschieden, den parteilosen Krautwig vorerst im Amt zu belassen, obwohl dieser inzwischen mehr der FDP zuneigte.143 Da Krautwig ein Verfechter der »strengen Maßstäbe« bei der Auswahl der Häftlinge war, empfahl er Wehner die Beendigung der Hilfsmaßnahmen: Gemessen an der nach wie vor gültigen Richtlinie, nur »Langstrafer«, jugendliche Fluchthelfer und Fälle von besonderer Tragik einzubeziehen, hätten die Aktionen »einen gewissen Abschluss erreicht«. Die »negoziablen« Fälle seien gelöst und für die bisher unbekannten sowie neu hinzukommenden könne man eine Reserve im Haushalt bilden.144 Auch Rehlinger empfahl in einer ersten Referentenvorlage Zurückhaltung. Ungeachtet Rehlingers CDU-Mitgliedschaft hatte ihn Wehner weiterhin mit der Verantwortung für den humanitären Bereich betraut. Rehlinger wies darauf hin, dass sich nur noch 100 bis 200 »Langstrafer« in Haft befänden. Meist handele es sich um nachrichtendienstliche Fälle, ideelle und gewerbliche Fluchthelfer sowie Menschen, die schon mehrfach wegen Fluchtversuchen verurteilt worden waren. Gerade bei der letzteren Deliktgruppe läge »viel menschliches Leid«. Allerdings äußerte Rehlinger seine Befürchtung, dass die DDR »aus politischen und wirtschaftlichen Gründen bemüht« sei, »aus den Häftlingsentlassungen ein ›Dauergeschäft‹ zu machen«. Er zog daraus den Schluss, dass »ein uneingeschränktes Eingehen auf diese Wünsche […] eine uferlose Ausweitung bedeuten« würde. Das aber könne nicht im Interesse der Bundesregierung liegen: »So sehr die Bundesregierung aus humanitären Gründen verpflichtet ist, sich für die politischen Häftlinge in der SBZ einzusetzen, kann dies doch nicht dazu führen, dass alle Angebote der SBZ angenommen werden müssen. Der Willkür der sowjetzonalen Behörden wäre damit Tür und Tor geöffnet.«145
Die Ereignisse der folgenden Monate bestätigten Rehlingers Einschätzung, dass die DDR an einer Verstetigung des Häftlingsgeschäftes stark interessiert 143 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 405. 144 Ausarbeitung Krautwigs »Aktuelle Themen des BMG für 1967«, Dez. 1966; AdSD, NL Wehner, BMG, 1/HWAA 00, Mappe 3843. 145 Vermerk Rehlingers, 6.1.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 357.
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war. Mochte im Anfangsstadium das Motiv, westliche »Agenten« und »Provokateure« aus den Gefängnissen in den Westen abzuschieben, noch eine gewichtige Rolle gespielt haben, so rückte das wirtschaftliche Interesse mehr und mehr in den Vordergrund. Eingebettet war es in den wirtschaftlichen Reformkurs, den die SED nach dem 13. August 1961 eingeschlagen hatte. Die DDR, so erkannte Ulbricht, konnte auf Dauer nur existieren, wenn sich die sozialistische Planwirtschaft in der Konkurrenz mit der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik als das stärkere System erwies. Nachdem der Mauerbau die Abwanderungsbewegung gestoppt und das »Ausbluten« des Landes abgewendet hatte, sollten die Leistungen der Volkswirtschaft und damit die Attraktivität des Sozialismus gesteigert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, bedurfte es einer gründlichen Modernisierung. Ein neues Lenkungssystem, das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung«, sowie gezielte Investitionen in die Industriezweige der Zukunft, z. B. die chemische Industrie, Maschinenbau, Elektronik nebst der Automatisierung veralteter Produktionsanlagen, sollten die Wirtschaft produktiver und insgesamt konkurrenzfähiger machen.146 Auf der 13. Tagung des Zentralkomitees am 15. September 1966 referierte der für Wirtschaft verantwortliche ZK-Sekretär Günter Mittag, es sei nun die Aufgabe, »gezielt und nach Schwerpunkten den Kampf um […] den effektivsten Einsatz der Investitionsmittel zu führen«.147 Viele dringend benötigte Investitionsgüter ließen sich aber nur im Westen, dem »nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet«, beschaffen. Da diese Waren in westlicher Währung zu bezahlen waren, musste man sich das dafür nötige Geld, die »freien Devisen«, entweder bei westlichen Kreditgebern leihen oder durch den Export eigener Erzeugnisse im Westen erwirtschaften. Folgerichtig strebte die DDR-Führung seit 1962 nach einer Ausweitung des innerdeutschen Handels und versuchte, auf diesem Weg ihr »Devisenliquiditätsproblem« in den Griff zu bekommen.148 Die Gründung des Bereiches »Kommerzielle Koordinierung« im September 1966 im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel stand in diesem Zusammenhang. Dessen Aufgabe bestand darin, neben dem offiziellen Plan dringend benötigte Summen in fremder Währung, vor allem D-Mark, zu erwirtschaften. Das »Exportgeschäft« mit politischen Häftlingen war Bestandteil dieser Aufgabe.149 Um den Häftlingsverkauf zu einer dauerhaften Einnahmequelle zu machen – zumindest so lange, wie die Gegenleistungen für die wirtschaftliche Aufhol146 Steiner, André: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Berlin 2007, S. 123 f. u. 147. 147 Zit. nach: Staadt: Westpolitik, S. 210. 148 Fäßler: Wirtschaftsbeziehungen, S. 270. 149 Siehe die Unterlagen in: BArch-B, DL 2, Nr. 7766; zu den Gegenleistungen siehe Kap. VII.
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jagd benötigt wurden – gab es aus Sicht der DDR zwei Möglichkeiten. Entweder musste man durch eine Verschärfung der Strafpolitik die Zahl der »Langstrafer« erneut in die Höhe treiben oder versuchen, künftig die Einbeziehung von Häftlingen mit Strafen unter fünf Jahren durchzusetzen. Die erste Variante schied schon aus objektiven Gründen aus: Für härtere Strafen fehlten die Voraussetzungen und außerdem hätte es der Propaganda widersprochen, die mit den zunehmenden Erfolgen beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft einen Rückgang der Kriminalität vorhersagte. Demnach bot es sich an, die Ausdehnung des Geschäftes auf die bisher nur ausnahmsweise einbezogenen »Kurzstrafer« zu betreiben. Mitte Januar 1967 unterbreitete Vogel ein Angebot für eine weitere Häftlingsaktion. Die Anzahl der noch inhaftierten Personen mit Strafen ab fünf Jahren bezifferte er auf schätzungsweise 300. Neu an Vogels Schreiben war der Vorschlag, eine separate Kategorie mit der sperrigen Bezeichnung »HFZ-Fälle« (»Häftlings-Familienzusammenführungen«) einzuführen. Dabei handele es sich um Häftlinge, die eine vergleichsweise geringe Strafe erhalten hatten, meist wegen eines Fluchtdeliktes. Zweitens seien es DDR-Bürger, deren engste Angehörige im Westen lebten und drittens weise ihr Fall »besonders tragische Begleitumstände« auf wie z. B. »Niederkunft während der Haft, Schußverletzungen, Todesfall in der Familie, wirtschaftliche Notlage der Angehörigen, Krankheit«. Der Kreis umfasse circa 400 bis 500 Personen. Der Vorteil an dieser neuen Kategorie bestünde für die Betroffenen darin, dass sie nach voller Verbüßung ihrer Strafe unmittelbar aus der Haft zu ihren Angehörigen entlassen werden könnten, ohne zuvor noch einmal an ihren Wohnort in der DDR zurückkehren zu müssen. Bis zu diesem Punkt war die neue Kategorie lediglich ein Angebot zur beschleunigten Ausreise von getrennten Familienangehörigen nach einer vollständig verbüßten Haftstrafe. Die entscheidende Neuerung stellte indes Vogels Hinweis dar, dass auch bei diesen Häftlingen eine Entlassung »vor voller Verbüßung erwirkt werden« könne. »Dann allerdings«, ergänzte Vogel das Angebot, »müsste jeder Vorgang […] zweimal gezählt«, d. h. mit dem doppelten Gegenwert für eine Familienzusammenführung honoriert werden. Damit lag die Forderung bei rund 23 000 DM pro Häftling (26 Personen für 600 000 DM).150 Faktisch war die von Vogel angebotene neue »HFZ-Kategorie« das Angebot, künftig auch »Kurzstrafer« für etwas mehr als die Hälfte des sonst üblichen Betrages von 40 000 DM pro Fall zu entlassen. Zweifellos machte Vogel diesen Vorschlag im Auftrag von Volpert und Streit, die darin einen Hebel für den Einstieg in das »Dauergeschäft« sahen. Doch gab es auch einen humanitä150 Vogel an Stange, 17.1.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 358–360. Hervorheb. i. O.
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ren Grund für die Ausdehnung, denn Vogel sah sich immer häufiger mit Bitten konfrontiert, Häftlingen zu helfen, die wegen ihrer »zu kurzen« Strafe nicht in die Bemühungen der Bundesregierung einbezogen werden konnten. Eine vorzeitige Entlassung war in derlei Fällen nur mittels »Bargeschäften« möglich, die aber laut Vereinbarung mit der Bundesregierung ausgeschlossen sein sollten, da sie das Prinzip der Gleichbehandlung verletzten. So hatte sich z. B. der Vater einer jungen Frau, die wegen eines Fluchtversuchs inhaftiert war, mit der Bitte um Hilfe an das Gesamtdeutsche Ministerium gewandt, von dort aber die Auskunft erhalten, dass die Aktion abgeschlossen sei und die Strafe für eine Einbeziehung in die Aktion überhaupt »zu niedrig« wäre. Der Vater trat daraufhin an Vogel heran, der nach Rücksprache mit Volpert die vorzeitige Entlassung und Ausreise der Frau für einen Bar-Betrag von 20 000 DM zuzüglich 1 000 DM Anwaltshonorar arrangierte, Geld, das der Vater der Inhaftierten aus eigener Tasche bezahlte. Zufällig wurde der Bundesregierung der Vorgang bekannt, worauf Stange seinen Kollegen zu einer Erklärung aufforderte. Vogel verteidigte sich mit seiner Verpflichtung gegenüber dem Klienten: »Ich konnte es nicht verantworten, dem Vater abzusagen angesichts der Tatsache, dass ich den Schlüssel für die Lösung dieses tragischen Falles in der Hand hatte.«151 Die neue »HFZ-« oder »Kurzstrafer-Kategorie« sollte künftig derartige Bargeschäfte überflüssig machen.152 Das BMG war nicht abgeneigt, auf das Angebot zur Einrichtung dieser neuen, »billigeren« Kategorie einzugehen. Dem »Freikauf-Referat« war nicht entgangen, dass die Zahl der einschlägigen Fälle in den zurückliegenden Monaten merklich angestiegen war und Angehörige immer häufiger mit der Bitte um Hilfe an die Bundesregierung herantraten, da sich die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung allmählich herumgesprochen hatten.153 Eine vergünstigte Kategorie für die bisher nur bei Vorliegen besonderer Gründe berücksichtigten »Kurzstrafer« hatte durchaus Vorteile. Erstens konnte die Bundesregierung ihrer humanitären Verpflichtung gegenüber den Betroffenen genügen und damit die leidigen »Barfälle« weitgehend vermeiden und zweitens ließ sich durch die finanzielle Abstufung des Gegenwertes die politisch begründete Unterscheidung zwischen »Lang-« und »Kurzstrafern« aufrechterhalten. Obendrein entsprach die Einbeziehung von Häftlingen mit niedrigeren Strafen dem Leitgedanken der Regierungserklärung Kiesingers, das Notwendige zu ermöglichen.154 151 Vogel an Stange, 11.2.1967; LArchB, B Rep. 002, Nr. 11785. 152 Vgl. BStU, MfS, HA IX, Nr. 13662, Bl. 82 und die Vermerke Rehlingers, 2., 6. u. 20.12.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 352 f. u. 355 f. Ähnlich gelagert war der Fall in Vogel an Stange, 13.2.1967; LArchB, B Rep. 002, Nr. 11785. 153 Vermerk Rehlingers, 19.1.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 362. 154 Vgl. Kap. III.2. Regierungsbildung.
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Befürworter einer weiteren Hilfsaktion unter Einbeziehung von Häftlingen mit niedrigeren Strafen war auch der Senat von Berlin. Nachdem der Regierende Bürgermeister und SPD-Vorsitzende Willy Brandt im Dezember 1966 als Außenminister der Großen Koalition nach Bonn gewechselt war, wählte das Westberliner Abgeordnetenhaus mit den Stimmen der SPD-FDPRegierungskoalition Heinrich Albertz (SPD) zu seinem Nachfolger. Chef der Senatskanzlei blieb weiterhin Dietrich Spangenberg (SPD), der schon vor dem ersten Freikauf durch die Bundesregierung für das Beschreiten »neue[r] Wege« plädiert hatte.155 Bis zum Regierungswechsel in Bonn hatte der SPD-Senat eher eine untergeordnete Rolle in den humanitären Bemühungen gespielt, vor allem weil die Sozialdemokraten keine nennenswerten Einflussmöglichkeiten im Gesamtdeutschen Ministerium besaßen. Mit dem Amtsantritt Wehners änderte sich dies. Noch an dem Tag, an dem der Austausch des Spions Alfred Frenzel beschlossen wurde, hatte Senatskanzlei-Chef Spangenberg Rechtsanwalt Vogel signalisiert, es sei der Wunsch des Senates, dass eine neue Häftlingsaktion »möglichst bald anläuft«.156 Der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz, Spangenberg und der Leiter des Gesamtberliner Büros, Johannes Völckers, vertraten die Ansicht, dass der Anwaltskontakt Stange – Vogel verstetigt und auch weiterhin für die Befreiung von politischen Häftlingen genutzt werden müsse, ohne dabei künftig noch zwischen »Kurzstrafern« und »Langstrafern« zu unterscheiden. Um eine längere Pause in den Verhandlungen und damit die Gefahr des »Abreißens des Kontaktes« zu vermeiden, beauftragte der Senat Ende 1966 Stange, mit Vogel eine Aktion eigens für einige Häftlinge mit »kurzen« Strafen zu vereinbaren. Die Anwälte einigten sich auf eine Liste von 78 Häftlingen, die in den ersten Monaten des Jahres 1967 über Berlin entlassen wurden. Diese vom Senat in Auftrag gegebene Hilfsmaßnahme sollte den Auftakt für die neue große Häftlingsaktion unter Federführung der Bundesregierung bilden. Allerdings zahlte der Senat nur die entstandenen Kosten für Unterkunft und Verpflegung der Häftlinge nach ihrer Ankunft in WestBerlin.157 Das Gesamtdeutsche Ministerium, namentlich Staatssekretär Krautwig, wurde von dieser Sonderaktion nicht informiert. Nur Rehlinger erhielt von Stange eher beiläufig Kenntnis von dem Vorgang, worauf er Stange einschärfte, dass die Bundesregierung nicht verpflichtet werden könne, für die Entlassungen zu zahlen.158 155 Vgl. Kap. I.2. 156 Vermerk Rehlingers, 23.2.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 367. 157 Vermerk Rehlingers, 25.7.1967; ebenda, S. 435–437; Vermerk Völckers, 26.7.1967; ebenda, S. 440 f. 158 Vermerk Rehlingers, 25.7.1967; ebenda, S. 435–437.
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Der Grund für das unabgestimmte Vorpreschen des Senats lag vor allem darin, dass man dort nicht damit rechnete, dass das Gesamtdeutsche Ministerium der Maßnahme zustimmen würde.159 Die Senatsbeamten hatten insbesondere Staatssekretär Krautwig als notorischen »Bremser« ausgemacht. Krautwig, so Völckers im Kern zutreffende Einschätzung, habe sich schon in der Vergangenheit »sehr zurückhaltend, ja feindlich gezeigt«. Die Anwälte Stange und Vogel besäßen nicht sein Vertrauen, da er ihnen vorwerfe, neben der offiziellen Aktion auch »Privatgeschäfte« durch Barzahlungen abzuschließen – was ja tatsächlich in mindestens zwei Fällen (s. o.) zutraf. Zudem hätten Krautwig und einflussreiche Kreise der CDU auf Rehlinger in Berlin eingewirkt, in den Verhandlungen eine »harte Linie« zu vertreten.160
Am Scheideweg: Abbruch oder Fortsetzung der Verhandlungen? Ende Februar 1967 bat Rehlinger den Minister um Weisung, wie er auf das Angebot Vogels für eine neue Häftlingsaktion und das Angebot einer neuen »Kurzstrafer-Kategorie« reagieren solle. Auch die Kirchen, nach wie vor die offiziellen Auftraggeber, drängten auf eine Fortsetzung der Bemühungen.161 Wehner entschied im Sinne der Kirchen und legte auch dem parlamentarischen Kontrollgremium, dem Ausschuss für Gesamtdeutsche Fragen, die Fortsetzung der Hilfen ans Herz: »Ich meine, wir sollten auch im Jahre 1967 noch einmal eine Aktion durchführen, die uns weitere Häftlinge bringt.« Das Funktionieren des Anwaltskontaktes sei »ein kleines Wunder« und könne in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden.162 Die unmittelbare Verantwortung für die Verhandlungen überließ Wehner in den folgenden Wochen und Monaten jedoch im Wesentlichen Staatssekretär Krautwig.163 Dafür gab es einen politischen Grund: Am 10. Mai 1967 nahm Bundeskanzler Kiesinger erstmals einen Brief aus Ost-Berlin, namentlich von DDR-Ministerpräsident Willi Stoph entgegen und beantwortete ihn einen Monat später. Der Briefwechsel Kiesinger – Stoph war eine deutschlandpolitische Premiere, denn erstmals traten die beiden Regierungen in einen offiziellen Dialog ein. Wehner war an der Beratung über den Wortlaut des Antwortschreibens maßgeblich beteiligt. In dieser Situation hätte es beim CDU-Koalitionspartner Argwohn über geheime Nebenabsprachen mit der 159 160 161 162 163
Vermerk Krautwigs, 28.6.1967; ebenda, S. 408–410. Vermerk der Senatskanzlei, April 1967; ebenda, S. 376 f. Notiz Weicherts für Wehner, 3.2.1967; ebenda, S. 367, Anm. 8. Ausführungen Wehners; PA, AGBF, 5. WP, 16. Sitzung am 8.3.1967, S. 11. Vermerk Völckers, 21.6.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 403.
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DDR erregt, wenn sich Wehner parallel zu der neuen, offiziellen Kontaktebene verstärkt den inoffiziellen Verhandlungen über die Anwälte zugewandt hätte. Nachdem Finanzminister und CSU-Chef Franz Josef Strauß zugesagt hatte, 20 bis 30 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt bereitzustellen,164 gab Krautwig Anfang April 1967 grünes Licht für den Beginn der Verhandlungen und die Übergabe der Wunschliste. Sie enthielt u. a. auch die ungelösten Fälle aus dem Vorjahr.165 Zudem ließ die Bundesregierung die DDR wissen, dass die Entlassung von Häftlingen aus Gefängnissen der Bundesrepublik diesmal nicht infrage komme.166 Wenige Wochen später übermittelte Stange eine erste Reaktion aus Ost-Berlin. Vogels Auftraggeber seien bereit, zunächst einige Häftlinge aus der neuen »HFZ-Kategorie« zu entlassen, darunter auch von Ost-Berlin vorgeschlagene Personen. Vogel habe ihn außerdem nachdrücklich darauf hingewiesen, dass dies nötig sei, »um keinen Stillstand in den Aktionen eintreten zu lassen«. Andernfalls sei ihre Fortführung gefährdet.167 Wehner und Rehlinger stimmten dem Vorschlag unter der Voraussetzung zu, dass die Häftlinge »den […] aufgestellten Kriterien entsprechen«.168 Das war jedoch nicht immer der Fall: Die Überprüfung der Transportliste ergab, dass sich mindestens ein Häftling mit kriminellen Vorstrafen darunter befand und mehrere Bundesbürger, die im Herbst des Jahres nach Verbüßung ihrer Strafe ohnehin in den Westen entlassen worden wären. Rehlinger wies Stange an, dass eine Einbeziehung »für die wenigen Monate Strafaufschub« nicht vertretbar sei. Die DDR müsse schon einen wesentlich größeren Strafnachlass gewähren. Wenn man auch solche Fälle akzeptiere, würde das zu der befürchteten »uferlosen Ausdehnung«169 führen und darin enden, dass die DDR die Bundesregierung »unter dem Deckmantel des Humanitären […] ohne Grenze […] erpressen« könne.170 Ende Mai übermittelte Vogel schließlich ein Angebot seiner Seite. Von den knapp 600 Häftlingen einschließlich der Mittäter könnten rund zwei Drittel entlassen werden. 110 Inhaftierte müsse seine Seite jedoch zurückstellen, weil es sich um Mitarbeiter von Nachrichtendiensten, Fluchthelfer oder aus anderen Gründen nicht verhandelbare Fälle handele. Vogel erklärte die hohe Zahl 164 Vermerk Krautwigs, 21.3.1967; ebenda, S. 374. 165 Vermerk Rehlingers, 5.4.1967; ebenda, S. 377 f.; Hs. Vermerk Kunsts und Rittbergs, 6.4.1967; EZA, 742/280; H-Listen I bis III der Aktion 1967 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3355. 166 Kunst an Stange, 21.12.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 473 f., Anm. 5. 167 Vermerk Rehlingers, 3.5.1967; ebenda, S. 383. 168 Stange an Kunst und Tenhumberg, 11.5.1967; ebenda, S. 386 f.; Vermerk Rehlingers, 11.5.1967; ebenda, S. 385, Anm. 5. 169 Vermerk Rehlingers, 18.5.1967; BArch-K, B 137/19977, Bl. {227} (AS-DzD). 170 Vermerk Rehlingers, 19.5.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 388.
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an Zurückstellungen damit, dass die Bundesregierung ihrerseits die Freigabe von inhaftierten DDR-Spionen verweigere. Beiläufig bemerkte er schließlich zu der neuen »Kurzstrafer-Kategorie«, dass seine Seite für die »Fälle mit Strafende noch im Jahre 1967« nur die Hälfte der sonst üblichen Gegenleistung fordere, also 20 000 DM pro Häftling. Ansonsten werde seine Seite eine finanzielle »Schlechterstellung gegenüber den Vorjahren« nicht akzeptieren.171 Rehlinger war über das Schreiben Vogels alarmiert. Bei genauerem Hinsehen hatte das Angebot nämlich einen Pferdefuß: Die Beschränkung der neuen, »billigeren« »Kurzstrafer«-Kategorie auf jene Häftlinge, deren reguläre Entlassung bis Ende 1967 anstand, bedeutete im Umkehrschluss, dass für alle anderen »Kurzstrafer« der »Normaltarif« von 40 000 DM gezahlt werden sollte. Demzufolge würde sich die Gegenleistung künftig nicht mehr nach dem Strafmaß, sondern nach der Höhe des erlassenen Strafrestes bemessen. Praktisch forderte die DDR damit, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen »Kurz-« und »Langstrafern« aufzugeben, mithin das Häftlingsgeschäft zu verstetigen – eben das, was Rehlinger bisher zu verhindern versucht hatte. Rehlinger beauftragte Stange, der DDR mitzuteilen, dass dies eine fundamentale Abweichung von Vogels Angebot zu Jahresbeginn sei und eine »wesentliche Änderung« der Geschäftsgrundlage darstelle. Die Sache müsse vollkommen neu verhandelt werden.172 Eine widerspruchslose Annahme des Angebotes der DDR wäre nichts anderes als der Einstieg in ein »Dauergeschäft« mit den – systembedingt immer vorhandenen – »Kurzstrafern«, wobei die »Langstrafer« hingegen weiterhin in Haft verbleiben würden. Künftig werde sich die DDR auf diesen Präzedenzfall berufen und jeder politische Häftling einen Rechtsanspruch auf Freikauf geltend machen können. »Bei einer Annahme dieses Angebots«, resümierte Rehlinger, kann »eine unterschiedliche Behandlung in Bezug auf Langstrafer und Kurzstrafer in der Zukunft nicht mehr aufrechterhalten werden. […] Die Bundesregierung steht unter der Verpflichtung, jedermann gleich zu behandeln. […] In Zukunft kann sich deshalb streng genommen jeder politische Häftling darauf berufen und von der Bundesrepublik […] verlangen, dass auch er, unabhängig von der Höhe der Strafe, in den Kreis der Begünstigten mit einbezogen wird.«173
Staatssekretär Krautwig beriet mit Bischof Kunst und dem Nachfolger Prälat Wissings, Weihbischof Tenhumberg, über das vorliegende Angebot. Die Bischöfe enthielten sich einer Stellungnahme, da die Entscheidung wegen ihrer Tragweite »eine rein politische« sei. Damit kam es nun allein auf die Haltung 171 Vogel an Stange, 22.5.1967; ebenda, S. 390. 172 Vogel an Stange, 22.5.1967; ebenda, S. 390, Anm. 3; Rehlinger an Stange, 16.6.1967; ebenda, S. 401. 173 Vermerk Rehlingers, 23.6.1967; ebenda, S. 406 f.
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der Bundesregierung und des Berliner Senates an. Krautwig sprach sich dafür aus, die Verhandlungen solange fortzusetzen, bis ein akzeptables Ergebnis erreicht war, da die Aufgabe der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Kurz- und »Langstrafern« für ihn nicht infrage kam. Er schlug Wehner vor, dass der Bundeskanzler entscheiden müsse. Die Bundesregierung sollte sich von der Forderung der Gegenseite, dass das Angebot nur in der vorliegenden Form angenommen oder abgelehnt werden könne, nicht in die Defensive drängen lassen. Stattdessen erscheine ihm ein Gegenvorschlag zweckmäßig: Erst müsse über die »Langstrafer« verhandelt werden, dann könne man über die übrigen Häftlinge und die Höhe der Gegenleistung sprechen. Die Gefahr eines Scheiterns der Verhandlungen schätzte Krautwig eher gering ein. Die Gegenseite habe in der Vergangenheit schon öfter mit Abbruch der Verhandlungen gedroht, doch habe sie ihre Drohung nie verwirklicht.174 Wehner schloss sich dem Vorschlag Krautwigs an und bat den Bundeskanzler darum, die Angelegenheit beschleunigt zu prüfen.175 Kiesinger gab seine Zustimmung, in diesem Sinne zu verfahren. Die DDR lehnte den Gegenvorschlag, zunächst über die »Langstrafer« zu verhandeln, jedoch rundweg ab. Vogel wollte punktuelle Verbesserungen zwar nicht ausschließen, machte Stange aber unmissverständlich klar, dass seine Auftraggeber eine finanzielle »Schlechterstellung« gegenüber den Vorjahren nicht hinnehmen würden.176 Das Argument war nicht völlig abwegig, aber eben nur der kleinere Teil der Wahrheit. Zwar traf es zu, dass die Bundesregierung bisher für jeden Häftling einheitlich 40 000 DM gezahlt und sich unter den Freigekauften immer auch »Kurzstrafer« befunden hatten, Häftlinge, die aus besonderen Gründen einbezogen worden waren. Dabei blieb jedoch unerwähnt, dass Vogels Seite zu Jahresbeginn eine neue, »billigere« Kategorie eigens für die »Kurzstrafer« angeboten hatte. Wie schon im Vorjahr standen die drei Akteure im Westen – Kirchen, Bundesregierung und Berliner Senat – erneut vor einer schwierigen Entscheidung: Sollten sie die hart an eine Erpressung grenzenden Bedingungen akzeptieren? Oder sollte ein Verhandlungsabbruch riskiert und gegebenenfalls mit allen nachteiligen Folgen für die betroffenen Inhaftierten in Kauf genommen werden? Die Entscheidungsfindung wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass zwischen den Kirchen, der Bundesregierung und dem Senat keinesfalls Einigkeit über die gemeinsame Haltung bestand. Unter dem wachsenden zeitlichen Druck und der Drohung der DDR mit dem Verhandlungsabbruch traten die unterschiedlichen Interessen zutage. Auch der Ton wurde zunehmend gereizter 174 Vermerk Krautwigs, 28.6.1967; ebenda, S. 408–410. 175 Krautwig an Kiesinger, 3.7.1967; ebenda, S. 412, Anm. 1. 176 Vermerk Rehlingers, 10.7.1967; ebenda, S. 415, Anm. 1.
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– nicht nur zwischen Ost und West, sondern vor allem auch zwischen dem Senat und den Kirchen auf der einen und Staatssekretär Krautwig auf der anderen Seite. Der Berliner Senat und die Kirchen befürchteten, dass die Gegenseite die Verhandlungen abbrechen würde. Unmittelbar nachdem Vogel das Angebot seiner Seite präsentiert hatte, sprach sich der Senat dafür aus, es zu akzeptieren.177 Senator Spangenberg bemühte sich, Krautwig zur Annahme der Forderungen der DDR zu bewegen und versuchte ihn davon zu überzeugen, dass die bisherige Einteilung der Häftlinge in »Lang-« und »Kurzstrafer« doch überholt sei. Schließlich lasse sie die persönliche Notlage der Betroffenen außer Acht. Spangenberg sprach sich vehement dafür aus, die Hilfen künftig mehr an humanitären als an politischen Kriterien auszurichten: »Maßstab unserer Bemühungen sollte doch nicht allein ein bestimmtes Strafmaß, sondern vielmehr das individuelle Schicksal des einzelnen Häftlings sein.«178 Tatsächlich war das Argument stichhaltig, wenn man – wie es auch die DDR tat – nur den Strafrest betrachtete, der dem Häftling durch den Freikauf erlassen werden sollte. So waren in die bisherigen Aktionen auch »Langstrafer« einbezogen worden, denen der Freikauf »nur« ein bis anderthalb Jahre ihrer Reststrafe erspart hatte. Bei den jetzt zur Diskussion stehenden Fällen von »Kurzstrafern« lagen die zu erlassenden Strafreste in ähnlicher Höhe, teils sogar darüber.179 Schließlich gab Spangenberg zu bedenken, dass die Zurückweisung der Forderungen der DDR alle humanitären Bemühungen zunichte machen werde.180 Krautwig lehnte den Wunsch des Senates rundweg ab. Falls die Verhandlungen tatsächlich scheitern sollten, wäre nicht die Bundesregierung, sondern die DDR dafür verantwortlich. Schließlich sei die Forderung der »Zone« »nicht das Ergebnis einer Verhandlung, sondern der Versuch eines Diktats«. Würde sich die Bundesregierung dieser Erpressung beugen, müsste sie außerdem wesentlich mehr Geld für Häftlingsentlassungen und Familienzusammenführungen aufwenden als geplant. Eine Initiative hierfür wolle er nicht ergreifen.181 Obendrein war Krautwig über das unabgestimmte Vorpreschen des Senates verärgert, der ihn über seine eigenmächtig begonnene Hilfsaktion zu Jahresbeginn nicht informiert hatte. Krautwig erhielt erst davon Kenntnis, als die DDR von der Bundesregierung die ausstehenden Gegenleistungen forderte.182 Er war sichtlich erbost, dass seinem Haus die Rechnung präsentiert wurde, ohne dass es an der Entscheidung, geschweige denn an der Auswahl der 177 178 179 180 181 182
Vermerk Völckers, 20.6.1967; ebenda, S. 402. Spangenberg an Krautwig, 14.7.1967; ebenda, S. 420. Vermerk Völckers, 11.7.1967; ebenda, S. 415–417. Spangenberg an Krautwig, 14.7.1967; ebenda, S. 421. Krautwig an Spangenberg, 14.7.1967; ebenda, S. 421, Anm. 2. Krautwig an Kunst und Tenhumberg, 16.8.1967; ebenda, S. 449.
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Häftlinge beteiligt worden war. Die Antwort an Spangenberg fiel denn auch ungewöhnlich scharf aus: Der Senat habe hier »Aktivitäten entfaltet«, »über die die Bundesregierung – wohl in Verkennung gegebener Zuständigkeiten – nicht unterrichtet worden« sei.183 Angesichts des drohenden Scheiterns der Verhandlungen gaben auch die Kirchen ihre anfängliche Zurückhaltung auf und baten Krautwig um eine Annahme der DDR-Forderungen. Stange hatte Bischof Kunst dargelegt, dass sich die Gegenseite auf keinen Kompromissvorschlag einlassen werde. Er sei »in großer Sorge«, zumal die Gefahr bestünde, dass die betroffenen Inhaftierten wieder in den Strafvollzug zurückgebracht würden.184 Zudem hatte Stange den Bischöfen mitgeteilt, dass sich der Abbruch der Verhandlungen nachteilig auf die Lage ihrer Gemeinden in der DDR auswirken werde, schlimmstenfalls Repressionsmaßnahmen zu befürchten seien.185 Faktisch handelte es sich um ein skrupelloses Erpressungsmanöver, mit dem die DDR ihre Forderung durchzudrücken versuchte. Krautwig, der nun auch von Bischof Kunst und Weihbischof Tenhumberg um die Annahme des Angebotes bedrängt wurde, war über den »Kursschwenk« der Kirchen alles andere als erfreut. Aus seiner Sicht lag die Bedeutung der Hilfsmaßnahmen für die Kirchen »vorwiegend in der Erhaltung des Wohlwollens der Machthaber des Regimes«, weshalb ihn die unvermittelte Kehrtwende nicht überraschte.186 Da die Kirchen von Beginn an gefürchtet hätten, eine zu harte Verhandlungsführung könne die Machthaber in der DDR veranlassen, sie im Gegenzug mit der Androhung von Repressionen unter Druck zu setzten, würden sie nun »äußerste Anstrengungen« unternehmen, um die Bundesregierung zur Annahme der DDR-Forderung zu bewegen. Dies sei eine »bedingungslose Kapitulation« gegenüber den Forderungen der »Zone«. Säuerlich bemerkte Krautwig, die Kirchen möchten sich doch daran erinnern, dass sie »ihre größten Erfolge in den Jahren härtester Bedrängnis errungen« hätten und dies »durch constantia und nicht durch appeasement«.187 Als Ende Juli 1967 eine Einigung nach wie vor nicht in Sicht war, trat ein, was der Senat und die Kirchen befürchtet hatten: Die DDR drohte unverhohlen mit dem Abbruch der Verhandlungen. Vogel warf Stanges Auftraggebern 183 Krautwig an Spangenberg, 26.7.1967; ebenda, S. 439. 184 Stange an Kunst, 12.7.1967; ebenda, S. 418. 185 So der Vermerk Krautwigs, 13.7.1967, ebenda, S. 419 f. 186 Ebenda. 187 Vermerk Krautwigs, 21.7.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 431. Constantia = »Beständigkeit«, appeasement = »Beschwichtigung(-spolitik)«. Krautwig spielte mit der Wortwahl auf die »Appeasement«-Politik des britischen Premierministers Neville Chamberlain gegen Hitler an. Chamberlain hoffte, mit dem Eingehen auf zentrale Forderungen Hitlers den Frieden in Europa bewahren zu können.
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vor, dass ihnen offenbar »an der anwaltlichen Begegnung – der einzigen erfolgreichen Begegnung auf dem Gebiete der Humanität – nicht mehr gelegen« sei. Es werde nunmehr »seit ca. 7 Monaten (!!) ergebnislos verhandelt«, wovon sechs Monate vom Westen zu verantworten seien. »Von mir aus«, warnte Vogel, »darf ich abschließend bemerken, dass die Situation wirklich so ernst ist wie noch nie. Ich muß mir gestatten, davor zu warnen, das möglicherweise zu unterschätzen oder gar zu verkennen«.188 Da keine Seite zum Nachgeben bereit war, bemühten sich die Kirchen, das Scheitern der Verhandlungen in letzter Minute abzuwenden. In einem persönlichen Gespräch zwischen Generalvikar Adolph, den beiden Anwälten Vogel und Stange sowie Rehlinger sollte versucht werden, einen Durchbruch zu erzielen. Wie schon der Briefwechsel Kiesinger – Stoph im Mai des Jahres stellte das Treffen eine Neuerung dar: Erstmals seit Vogels Gespräch mit Erich Mende saßen sich mit Rehlinger und Vogel ein Vertreter der Bundesregierung und ein Emissär der DDR am Verhandlungstisch gegenüber. Rehlingers Anmerkung, dass er lediglich »in beratender Funktion« teilnehme, da schließlich die Kirchen offizieller Auftraggeber seien, war lediglich eine der üblichen Bonner Spitzfindigkeiten. Zuvorderst war sein Erscheinen das entscheidende Signal an die Gegenseite: Wenn sogar ein Beamter des Gesamtdeutschen Ministeriums anwesend war, so mussten die Verhandlungen »an einem gewissen Endpunkt« angelangt sein.189 Eingangs wiederholten beide Seiten ihre Forderungen: Abgesehen von den Häftlingen mit Strafende im Jahr 1967 forderte Vogel die Gleichbehandlung von »Lang-« und »Kurzstrafern«, während Rehlinger auf der Beibehaltung der grundsätzlichen Unterscheidung bestand. Da hier kein Übereinkommen möglich war, schlug Rehlinger einen Kompromiss vor: Könne man nicht diesen unüberbrückbaren Gegensatz ausklammern und zu einer pauschalen Berechnung kommen? Das hätte zudem den Vorteil, dass man »von der leidigen Rechnung nach Kopfquoten herunterkäme«.190 Vogel versprach, den Vorschlag mit seinen Auftraggebern zu besprechen. Nach einigem Hin und Her, möglicherweise aufgrund einer abschließenden Entscheidung Ulbrichts am Rande der SED-Politbürositzung am 1. August 1967,191 signalisierte Vogel Kompromissbereitschaft: Die Gegenleistung für die Häftlingsentlassungen solle pauschal 16,5 Millionen DM betragen. Das war etwas weniger als die Hälfte der Differenz zwischen der DDR-Forderung (18,3 Mio. DM) und dem Angebot 188 Vogel an Stange, 24.7.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 432 f. Hervorheb. i. O. 189 Vermerk Rehlingers, 28.7.1967; ebenda, S. 442 f.; Stange an Kunst, 28.7.1967; ebenda, S. 443 f. 190 Ebenda. 191 Vermerk Stanges, 28.7.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 443 f.; zum Termin der Sitzung des Politbüros siehe BArch-B, DY 30/J IV 2/2/1128.
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der Bundesregierung (15 Mio. DM). Stange und auch Rehlinger schlossen sich dem Votum an: Es sei nicht mehr zu erreichen, ohne das Scheitern der Verhandlungen zu riskieren.192 Obwohl damit auf der Verhandlungsebene ein Kompromiss erzielt war, verweigerte Staatssekretär Krautwig seine Zustimmung. Mindestens die Sonderaktion des Senates aus dem Frühjahr müsse »eliminiert« werden. Doch die Kirchen setzten sich durch: Da sie weitere Verhandlungen für aussichtslos hielten, ersuchten sie Krautwig, den Bundeskanzler um die Bereitstellung des Geldes für Häftlinge und Familienzusammenführungen zu bitten.193 Missmutig informierte Krautwig den Kanzler, der seine Zustimmung zur Annahme des Kompromissvorschlages gab.194 Damit war die Entscheidung gefallen.195 Mit dieser Einigung führte eine Verhandlungsstrategie, die erstmals in den Passierscheinverhandlungen 1963 angewendet worden war, auch in der Frage der politischen Häftlinge zum Erfolg: Kompromiss in der Sache bei Ausklammerung der grundsätzlichen unterschiedlichen Auffassungen, mithin eine Einigung, die »beiden Seiten genügend interpretatorische Freiheiten ließ, um die erzielten Verhandlungsergebnisse als politischen Erfolg verbuchen zu können«.196 Als Einziger vermochte Staatssekretär Krautwig keinen Erfolg in der Einigung zu erkennen. Resigniert bemerkte er, die Gegenseite habe es »über die Kirchen durchgesetzt, dass Langstrafler und Kurzstrafler gleich behandelt werden«. Hätten die Kirchen nicht aus Angst um die Stellung ihrer Gemeinden in der DDR nachgegeben, wäre mehr zu erreichen gewesen. Was man der Gegenseite jetzt zugestanden habe, sei künftig ihre »Minimalforderung«. Vogel selbst habe schließlich ganz ungeniert zugegeben, dass seine Seite fortan mit Leistungen in derselben Höhe wie bisher rechne.197 Die Erlöse aus dem Verkauf politischer Häftlinge seien im Staatshaushalt der DDR demnach wohl schon »eingeplant«.198 Auch Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß, nie um eine markige Formulierung verlegen, bemerkte ernüchtert, »dass es offenbar die früher so erfolgreiche ›Ecclesia militans‹ [lat. »streitende/kämpferische 192 Vermerk Stanges, 3.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 445 f.; Rehlinger an Krautwig, 3.8.1967; BArch-K, B 137/19978, Bl. 23 u. 26 (AS-DzD). 193 Vermerk Krautwigs, 9.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 447 f.; Vermerk Rehlingers, 9.8.1967; ebenda, S. 447 f., Anm. 4. 194 Vermerk Rehlingers, 11.8.1967; ebenda, S. 448. 195 Stange an Kunst, 17.8.1967; EZA, 742/280; Vermerk Rehlingers, 29.1.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 495–497. 196 Staadt: Westpolitik, S. 84; vgl. zur Methodik des »Ausklammerns« strittiger Fragen auch Brandt: Begegnungen und Einsichten, S. 121. 197 Vermerk Krautwigs, 23.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 456 f. 198 Vermerk Krautwigs, 21.7.1967; ebenda, S. 432.
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Kirche«, d. Verfasser] nicht mehr gebe«. Staatssekretär Krautwig plädierte dafür, dass die Kirchen gegenüber der DDR weiterhin als offizieller Auftraggeber der Hilfsmaßnahmen auftreten, die praktische Verhandlungsführung aber an die Bundesregierung abgeben sollten. Da es seit dem Briefwechsel zwischen Kiesinger und Stoph im Frühjahr 1967 ohnehin Kontakte auf politischer Ebene gebe, sei der Hauptgrund für ihre Einschaltung weggefallen.199 Mit seinem kompromisslosen Verhalten war Krautwig seinen Überzeugungen zwar treu geblieben, hatte sich aber selbst ins politische Abseits manövriert. Seine negative Einstellung gegenüber Verhandlungen mit der DDR, die gänzlich den deutschlandpolitischen Konzepten der Vergangenheit verhaftet schien, entsprach zudem immer weniger den Vorstellungen Wehners. Mit zunehmender Entfremdung zwischen den beiden war Krautwigs Ablösung nur noch eine Frage der Zeit. In den letzten Monaten seiner Amtszeit kommunizierte er überwiegend über schriftliche Memoranden statt in VieraugenGesprächen mit Wehner, der ihn im April 1968 schließlich entließ. An Krautwigs Stelle trat der hessische Sozialdemokrat Günter Wetzel, der einen Ruf als kundiger Verwaltungsfachmann besaß.200 Abseits von Personalfragen hatte der Ausgang der Verhandlungen weitreichende inhaltliche Folgen: Die bisher maßgebliche Begrenzung der Hilfen auf »Langstrafer« war damit aufgegeben worden, teils auf Druck der DDR, teils aufgrund des geänderten deutschlandpolitischen Kurses der Bundesregierung.201 Das individuelle Schicksal des einzelnen Häftlings, unabhängig von der Höhe seiner Strafe, schob sich in den Vordergrund, politisch motivierte Begrenzungen der Maßnahmen einschließlich der Furcht vor gezielt »produzierten« Häftlingen traten mehr und mehr dahinter zurück. Mit dem ersten Schritt in Richtung eines »Dauergeschäftes« war zugleich die Differenzierung der Gegenleistungen verbunden. Obwohl sich die Verhandlungsparteien auf eine Pauschalsumme geeinigt hatten, gab es erstmals seit 1963 wieder unterschiedlich hohe »Preise«: 40 000 DM im Normalfall, 20 000 DM, wenn der erlassene Rest der Strafe unter sechs Monaten lag.
Der Fall des KGB-Spions Heinz Felfe – Bremsschuh und Hebel für den Freikauf Die Entlassungen waren nahezu abgeschlossen, als Anfang Dezember 1967 in Stanges Kanzlei ein Brief Vogels mit der knappen Betreffzeile »Fall Felfe« 199 Vermerk Krautwigs, 23.8.1967; ebenda, S. 457. 200 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 405. 201 Vermerk von Zahns, 27.10.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 464.
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einging. In vorwurfsvollem Ton beschwerte sich Vogel darüber, dass seine Seite schon seit Jahresbeginn auf eine verbindliche Entscheidung in der Angelegenheit dränge. Wenn bis Weihnachten keine Entscheidung falle, sehe man sich genötigt, »auf neue Vereinbarungen – jedweder Art – … zu verzichten«. Auf diese neuerliche Drohung mit dem Abbruch sämtlicher Verhandlungen folgte unmittelbar eine lockende Offerte: »Umgekehrt«, ergänzte Vogel sein Schreiben, »würde eine Verständigung spürbar honoriert werden«.202 Mit dem hartnäckigen Drängen auf die Lösung des Falles Felfe trafen Vogels Auftraggeber einen Nerv. Bei dem früheren hauptamtlichen BNDMitarbeiter und KGB-Spion Heinz Felfe handelte es sich nämlich nicht um einen »kleinen Fisch«, sondern um den wohl spektakulärsten Landesverrat in der damaligen Geschichte der Bundesrepublik. Lediglich die Enttarnung des Kanzlerspions Günter Guillaume 1974 sollte einen noch größeren Skandal nach sich ziehen. Für den BND war die Causa Felfe überaus peinlich: Der von Felfe angerichtete Schaden war immens und obendrein warf die Affäre ein fahles Licht auf die braunen Wurzeln des BND. Schließlich war Felfe in eine leitende Funktion in Pullach aufgestiegen, obwohl er vor 1945 als Referatsleiter im Range eines SS-Obersturmführers im Reichssicherheitshauptamt, dem zentralen Organ des NS-Terrorapparates, tätig gewesen war. Nach Kriegsende und britischer Gefangenschaft wurde Felfe vom ehemaligen Dresdner SD-Chef Hans Clemens, der circa seit 1949/50 für den KGB spionierte, als Mitarbeiter für den sowjetischen Geheimdienst angeworben. Seilschaften ehemaliger Gestapo- und SD-Männer verschafften Felfe 1950 einen Posten in der »Organisation Gehlen«, der Vorläuferorganisation des BND. 1953 schließlich kam Felfe nach Pullach und übernahm nach kurzer Zeit die Leitung des Referates »Gegenspionage Sowjetunion«. Da ihn der KGB mit – wahrscheinlich gefälschten – Dokumenten aus der DDR-Regierung versorgt hatte, gewann er rasch das Vertrauen von BND-Präsident Reinhard Gehlen.203 Felfe wurde 1961 durch einen KGB-Überläufer enttarnt.204 Der nachfolgende Prozess vor dem Bundesgerichtshof geriet zum Fiasko für den BND, denn Felfes Karriere beim BND warf die Frage auf, wie viele weitere NS-Belastete in Pullach untergekommen waren.205 Außerdem enthüllte der Prozess das ganze Ausmaß 202 Vogel an Stange, 8.12.1967; ebenda, S. 472 f. 203 Pohl, Dieter: Diener vieler Herren. Die Geheimdienstkarrieren des Heinz Felfe. In: Bauer, Theresia (Hg.): Gesichter der Zeitgeschichte. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert. München 2009, S. 165–177. 204 Ebenda. 205 Eine BND-interne Kommission befragte daraufhin 146 Mitarbeiter, von denen 71 wegen ihrer nachweislichen Beteiligung an NS-Verbrechen nicht mehr tragbar erschienen und den Dienst verlassen mussten. Offiziell wurde die Zahl der Belasteten mit einem Prozent angegeben, tatsächlich
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des Verrates: Felfe war für die Enttarnung von mindestens 100 CIA-Zuträgern und fast ebenso vieler V-Leute des BND verantwortlich, von denen vermutlich eine große Zahl über die ersten Freikaufsaktionen in Freiheit gelangten. Darüber hinaus hatte er tausende Fotos, Tonbänder und Lageberichte an den KGB weitergegeben.206 Dementsprechend hart fiel die Strafe aus, der Bundesgerichtshof verurteilte Felfe im Sommer 1963 zu 14 Jahren Haft und blieb damit nur ein Jahr unter der Höchststrafe.207 Der KGB bemühte sich frühzeitig, seinen »Kundschafter« im Rahmen eines Austausches freizubekommen. Felfe stand auf der ersten Wunschliste der DDR, die Vogel 1965 an Stange übergeben hatte. Zu diesem Zeitpunkt stand eine Entlassung jedoch außer Frage. Erst nachdem 1965/66 zahlreiche Spione der DDR entlassen und im Dezember 1966 auch Alfred Frenzel nach Verbüßung von zwei Fünfteln seiner Strafe begnadigt und ausgetauscht worden war, gewann der Fall Felfe an Aktualität. Im Frühjahr 1968 würde Felfe wie Frenzel zwei Fünftel, im November 1968 schließlich die Hälfte seiner Strafe verbüßt haben. Dies war offenbar das Minimum an Strafverbüßung, bevor sich Bonn überhaupt erst mit der Angelegenheit befassen wollte. Vogels Seite machte sich auch deswegen Hoffnung auf eine baldige Lösung, weil der Bundespräsident im Sommer 1967 Felfes Mittäter Hans Clemens begnadigt hatte, um damit einen jugendlichen ideellen Fluchthelfer, Volker Heinz, und 15 seiner Mittäter im Austausch aus dem Gefängnis zu holen.208 Vogel wollte dieses »Arrangement« gar als Vorbedingung der Bundesregierung für die Freilassung Felfes verstanden wissen. Mit dieser Interpretation stieß er im Westen aber nur auf Kopfschütteln.209 Rehlinger bemerkte, es sei »schlankweg erfunden«, dass die Bundesregierung den Austausch des jungen Fluchthelfers Heinz gegen Felfes Komplizen Clemens als Vorbedingung für die Freigabe Felfes bezeichnet habe.210 Kunst und Stange sekundierten Rehlinger einmütig: Eine Begnadigung Felfes sei niemals »auch nur angedeutet worden«.211
war es jedoch die zehnfache Anzahl. Siehe Carstens, Peter: Die Arbeit für Org. 85. In: FAZ v. 18.3.2010. 206 Pohl: Felfe, S. 165–177; Spionage/Felfe: Fiffi in III F. In: Der Spiegel v. 24.2.1969, Nr. 9. 207 Pohl: Felfe, S. 172. 208 Rittberg an Rehlinger, 9.5.1967; EZA, 742/294; Vermerk Rehlingers, 14.6.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 398 f.; Vermerk Völckers, 13.6.1967; LArchB, B Rep. 002, Nr. 11786/2; Vogel an Stange, 20.6.1967; EZA, 742/294. 209 Vogel an Stange, 8.12.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 473. 210 Vermerk Rehlingers, 11.12.1967, ebenda, S. 475. 211 Stange an Kunst und Tenhumberg, 13.12.1967; ebenda, S. 473 f., Anm. 5; Kunst an Stange, 21.12.1967; ebenda.
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Als der Versuch, die Bundesregierung unter Druck zu setzen, fehlgeschlagen war, schwächte Vogel seine Forderung ab. Sein Schreiben sei »in der Formulierung etwas polemisch« gewesen. Seine Seite werde die Entlassung Felfes jedoch als »conditio sine qua non« einer weiteren Freikaufsvereinbarung betrachten. Über die möglichen Gegenleistungen für Felfe äußerte sich Vogel nur vage: Drei in der Sowjetunion inhaftierte Studenten, um deren Freilassung sich das Auswärtige Amt seit Jahren bemühte, eine unbestimmte Anzahl der noch inhaftierten BND-Mitarbeiter und ein Entgegenkommen in der Frage der Kinderrückführungen kämen dafür infrage.212 Im Westen musste man der Tatsache ins Auge sehen, dass die Begnadigung Felfes »die zentrale, alles bewegende Frage« in den Gesprächen über eine eventuelle neue Vereinbarung mit der DDR werden würde.213 Rehlinger beschlich ein ungutes Gefühl, das er gegenüber Weihbischof Tenhumberg zum Ausdruck brachte: »Wenn ich an 1968 denke, sehe ich im Augenblick noch dunklere Wolken heraufziehen.«214 Der Grund für seine Besorgnis war, dass sich die in Austauschfragen federführenden Stellen der Bundesregierung beharrlich gegen eine Freilassung Felfes sträubten. Sowohl der BND als auch das von Gustav Heinemann (SPD) geführte Justizministerium hatten noch im November 1967 eine vorzeitige Entlassung aus sicherheits- und strafpolitischen Gründen strikt abgelehnt.215 Rehlinger nahm dagegen die potenziellen Gegenleistungen der DDR für Felfe in den Blick: Wenn der vorzeitigen Entlassung des Verräters lediglich Überlegungen entgegenstünden, »die in der Eigenart von Nachrichtendiensten« lägen, dann solle man doch versuchen, den KGBSpion als »Hebel« für die Freilassung der inhaftierten Mitarbeiter des BND zu nutzen.216 Dietrich Spangenberg, seit Bildung der Großen Koalition Senator für Bundesangelegenheiten in Bonn, bot Rehlinger an, bei seinem Parteifreund und Staatssekretär im Bundesjustizministerium Horst Ehmke (SPD) zu sondieren, ob die Entlassung Felfes angesichts der neuen politischen Konstellation nicht doch möglich sei.217 Auch Bischof Kurt Scharf, der Mitinitiator des Häftlingsfreikaufs, ließ seine Kontakte spielen. Scharf und Heinemann hatten während der NS-Zeit der Bekennenden Kirche angehört und bis 1967 gemeinsam im Rat der EKD gewirkt. Scharf bat den Bundesjustizminister »mit herzlichen, brüderlichen Grüßen«, seine Zustimmung zur Begnadigung Felfes zu geben, ohne die der Fortgang des Freikaufs gefährdet sei. Dass Felfe noch ein Sicher212 213 214 215 216 217
Vermerk Stanges, 14.12.1967; ebenda, S. 485 f. Ebenda, S. 485. Rehlinger an Tenhumberg, 19.12.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 490, Anm. 3. Vermerk Rehlingers, 11.12.1967; ebenda, S. 474 f. Vermerk Rehlingers, 16.2.1968; ebenda, S. 499 f. Vermerk Rehlingers, 14.12.1967; ebenda, S. 487.
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heitsrisiko darstelle, glaube er nicht, vielmehr seien wohl »Gründe der Taktik und des politischen Prestiges« maßgeblich.218 Bischof Scharf vermittelte zudem ein vertrauliches Gespräch zwischen Vogel und Heinemann in Bonn. Der Anwalt verdeutlichte dem Minister, dass die DDR ein eindeutiges Signal benötige, dass bezüglich Felfe eine »positive Verhandlungsbereitschaft« im Westen bestehe. Dann könnten auch die noch offenen Zusagen aus der Vereinbarung des Jahres 1967 zur Ausreise getrennter Familien eingelöst werden, die seit der Jahreswende ins Stocken geraten waren.219 Heinemann versprach Vogel, sich persönlich um die Sache zu kümmern. Unter Bezugnahme auf das Gespräch mit Heinemann eröffnete Vogel daher wenig später die Verhandlungen. Seine Seite gehe davon aus, dass der Fall Felfe »einer baldmöglichen Klärung zugeführt« werde. »Unabhängig davon« bestehe Bereitschaft, über eine neue Häftlingsaktion zu verhandeln. Neben Felfe müssten noch einige andere DDR-Wünsche berücksichtigt werden.220 Die Akteure im Westen einigten sich auf eine gemeinsame Reaktion. Der Gegenseite solle »eine gewisse Zeit-Toleranz« bezüglich der Erfüllung der Ausreisezusagen gegeben und der besagte »Spezialfall« in die Verhandlungen miteinbezogen werden. Zu diesem Zweck würden in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesjustizministerium die notwendigen Maßnahmen für eine Klärung des Falles Felfe eingeleitet.221 Wehner gab zudem die Weisung an Rehlinger, dass die bisherige Einteilung der Häftlinge in die Kategorien »Lang-« und »Kurzstrafer« entfallen solle. Seit dem Verhandlungsergebnis des Vorjahres war sie ohnehin nicht mehr aufrechtzuerhalten. Für eine Einbeziehung sollten jedoch »besondere Gründe« hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse und des Verurteilungsgrundes sowie »eine gewisse Mindestverurteilung« vorliegen. In der Praxis lag diese Grenze aus technischen Gründen bei etwa einem Jahr, nur selten darunter.222 Stange übermittelte Vogel die Stellungnahme. Voraussetzung für eine neue Vereinbarung über Häftlingsentlassungen sei, dass die DDR ihrer Verpflichtung bezüglich der zugesagten Ausreisegenehmigungen nachkomme.223 Außerdem erhielt Vogel die Liste mit den Namen der gewünschten Häftlinge, da218 Scharf an Heinemann und Scharf an Kunst, 30.1.1968; EZA, 742/294. 219 Vermerk Heinemanns, 19.2.1968; EZA, 742/294; vgl. den Vermerk für Tenhumberg, 23.1.1968; AEK, Zug. 683, Nr. 341: »Gräfin R[ittberg] war in Berlin. Die F-Fälle sind nur zu 1/5 erfüllt. Lage miserabel. Pression wegen Fall F[elfe]«. 220 Vogel an Stange, 28.2.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 501 f. 221 Vermerk Rehlingers, 26.2.1968; ebenda, S. 500; Vermerk Wehners, 1.3.1968; ebenda, S. 502 f. 222 Rehlinger an Kreutzer, 1.3.1968; ebenda, S. 503. 223 Stange an Vogel, 21.3.1968; ebenda, S. 505.
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runter wiederum zahlreiche Mitarbeiter des BND und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Gesondert übergab Stange eine Liste mit »FH«-Fällen, d. h. solchen Inhaftierten, deren Strafende im Jahr 1968 lag. Wie die »Kurzstrafer«Fälle aus dem Vorjahr sollten sie für 20 000 DM ausgelöst und unmittelbar aus der Haft in die Bundesrepublik entlassen werden.224 Obwohl die Bundesregierung Verhandlungsbereitschaft signalisiert hatte, hielt die DDR den Druck auf den Westen aufrecht. Hinter dieser Hartnäckigkeit stand nicht zuletzt der KGB, der Felfe endlich in Freiheit sehen wollte. Anfang April 1968 meldete Stange, dass die Gegenseite unaufhörlich auf eine Antwort dränge, ohne die eine Entlassung der als »Z-Fälle« behandelten BNDMitarbeiter nicht möglich sei.225 Außerdem erteilte die DDR die zugesagten Ausreisegenehmigungen nur zögerlich. Bis Mitte April waren von den vereinbarten 1 000 Personen erst 180 in der Bundesrepublik eingetroffen.226 Offensichtlich sollten die Ausreisen weiterhin als Druckmittel genutzt werden. Dagegen halfen auch Mahnungen Stanges wenig, dass dieser Zustand »unhaltbar« sei und die DDR zunächst ihre »Verbindlichkeiten« aus dem Vorjahr erfüllen müsse, bevor eine Lösung des Falles Felfe Aussicht auf Erfolg habe.227 Während zwischen den Kirchen, dem Senat und dem Gesamtdeutschen Ministerium anders als im Jahr zuvor diesmal Einigkeit über das gemeinsame Vorgehen bestand, erschwerten die gegensätzlichen Interessen der übrigen beteiligten Ressorts die Entscheidungsfindung im Fall Felfe. Insbesondere der BND wehrte sich hartnäckig gegen eine Begnadigung. Justizminister Heinemann hatte BND-Präsident Reinhard Gehlen darum gebeten, ihm »unter Aufführung von konkreten Beispielen« die Gründe zu nennen, die aus Sicht des BND gegen eine vorzeitige Entlassung Felfes sprächen. Gehlen, ganz in der Diktion des Kalten Kriegs, wies auf das Gefährdungspotenzial Felfes auch nach einer Entlassung hin: Er könne »als Berater der psychologischen Kriegführung gegen die Bundesrepublik« tätig werden, zu ihrer »politischen Diffamierung« beitragen, den Beziehungen des BND zu »befreundeten Diensten« schaden und Information über die Arbeitsweise des Dienstes an die Sowjets weitergeben.228
224 Vermerk Rehlingers, 14.3.1968; ebenda, S. 504 f.; Vermerk Rehlingers, 22.3.1968; ebenda, S. 505 f., Anm. 4. Listen der Aktion 1968 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3354. 225 Vermerk Rehlingers, 10.4.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 508. 226 Kunst an Heinemann, 10.4.1968; ebenda, S. 509. 227 Vermerk Gespräch Stange – Tenhumberg, Stange an Völckers, 4.6.1968; LArchB, B Rep. 002, Nr. 12295; Vermerk Stanges, 7.5.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 522 f.; Rehlinger an Stange, 8.5.1968; ebenda, S. 524. 228 Gehlen an Heinemann, 8.4.1968; EZA, 742/294; Vermerk Gehlens, 17.4.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 512 f.
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Aus der Rückschau erscheint es wenig glaubhaft, dass Felfes Kenntnisse acht Jahre nach seiner Enttarnung noch eine Gefahr für die Arbeit des BND und die Sicherheit der Bundesrepublik darstellten. Wohl eher dürfte der Wunsch nach einer möglichst langen Sühnezeit für den Verräter und das Unbehagen vor einer möglichen Pressekampagne ausschlaggebend für die Haltung des BND gewesen sein. Der Konflikt zwischen dem Staatsschutzinteresse auf der einen und dem möglichen humanitären Gewinn auf der anderen Seite war daher zugleich eine Machtprobe: Hier die konservativen politischen Kräfte, die noch den Denkkategorien der fünfziger Jahre verhaftet waren, dort die Anhänger neuer politischer Konzepte, die in der DDR durchaus einen vertrauenswürdigen Verhandlungspartner sahen. Die Verzögerungstaktik des BND blieb nicht ohne Folgen. Günter Wetzel, Krautwigs Nachfolger auf dem Posten des Staatssekretärs im Gesamtdeutschen Ministerium, hatte Anfang April 1968 gegenüber Stange angedeutet, dass eventuell bis Mitte Mai eine Entscheidung fallen könnte. Der Termin verstrich jedoch, ohne dass es zu einer Entscheidung gekommen wäre. Aufseiten der DDR schürte dies die Zweifel daran, dass es der Bundesregierung mit ihrer Zusage einer Klärung des Falles Felfe ernst war, zumal das Misstrauen gegenüber dem Renegaten Wehner nach wie vor groß war. Erneut zogen Vogels Auftraggeber die diplomatischen Daumenschrauben an: Anfang Juni drohte Vogel in »schroffer Weise« den Abbruch aller Verhandlungen an, wenn es nicht endlich eine verbindliche Äußerung in Sachen Felfe gebe.229 Dass es nicht dazu kam, war einem Vier-Augen-Gespräch zwischen Herbert Wehner und Wolfgang Vogel am Abend des 11. Juni 1968 in Wehners Wohnung auf dem Bonner Heiderhof zu verdanken.230 Der Ostberliner Anwalt und der Gesamtdeutsche Minister trafen sich nicht zum ersten Mal insgeheim unter Umgehung der Ministerialbürokratie. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt im Dezember 1966 waren sich Wehner und Vogel begegnet. Das Treffen hatte im »Haus Victoria« im Grunewald in Berlin stattgefunden, das von dem Schweden Carl-Gustav Svingel, einem Vertrauten Wehners, geleitet wurde. Vogel war Rechtsbeistand des schwedischen Generalkonsulats in West-Berlin, 229 Stange an Tenhumberg, 13.6.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 533, Anm. 1. 230 Vermerk Volperts, 14.6.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 535–537. Vgl. den Vermerk Volperts vom 20.7.1971 über die Daten der 16 Treffen zwischen Wehner und Vogel vom 11.6.1968 bis zum 5.6.1971 in: BStU, MfS, SdM, Nr. 1423, Bl. 161 f. Knapp einen Monat nach dem Treffen bestätigte Vogel gegenüber Bischof Kunst die beiden Treffen mit Wehner: »Da ich im Regierungsmandat bin, muss ich bestimmte Weisungen befolgen. Einwendungen zählen selten. So und nicht anders erklären sich die beiden Ministergespräche. Nur allzu gerne hätte ich Sie sofort verständigt. Ich durfte nicht, ohne meinem Mandat und damit der Gesamtsache untreu zu werden«. Vogel an Kunst, 10.7.1968; EZA, 742/309 (Hervorheb. d. A.). Nach 1990 bestritt Vogel, der Gesprächspartner Wehners gewesen zu sein. Pötzl: Spione, S. 201 f.
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sodass es Svingel ein Leichtes war, Wehner und Vogel persönlich miteinander bekannt zu machen.231 Die »Chemie« stimmte auf Anhieb, nicht zuletzt deswegen, weil beide die »stillen Wege« für ihr Wirken bevorzugten und sich »aufs Haar« darin glichen, »sich immer herausreden zu können«.232 Im Laufe der nächsten rund anderthalb Jahrzehnte, in denen Wehner in der Regierung und in der SPD-Fraktion Verantwortung für die Deutschlandpolitik trug, entstand ein enges Vertrauensverhältnis. Über den direkten Draht konnten wichtige Botschaften schnell und diskret ausgetauscht, Probleme erörtert und Missverständnisse bereinigt werden, die auf dem »Dienstweg« über das BMG aufgetreten waren. Zudem war der Kontakt zwischen Vogel und Wehner der erste direkte und dauerhafte Kommunikationskanal zwischen einem Bonner Spitzenpolitiker und der Führungsspitze der DDR. Alleine zwischen 1968 und Sommer 1971 trafen Wehner und Vogel mindestens 16mal zusammen, danach wohl mindestens ebenso häufig.233 Erst mit dem Ausscheiden Wehners aus der aktiven Politik nach dem Regierungswechsel 1982 verlor der Draht seine politische Bedeutung. Anfangs fanden die Treffen in unregelmäßigen Abständen statt. Je mehr die Forderungen der DDR in Sachen Felfe jedoch die Verhandlungen über Freikauf, Familienzusammenführung und Kinderausreisen beeinträchtigten, intensivierte Wehner den Draht zu Vogel. Der Anwaltskontakt war nach seiner Ansicht »der einzigste [sic] Kanal«, »bei dem hin und wieder etwas vernünftiges herauskäme«, wie Volpert in seinem Bericht über das Gespräch zwischen Vogel und Wehner festhielt.234 Im Verlauf ihres Gespräches am 11. Juni 1968 versicherte Wehner, dass er nach wie vor zu seiner »grundsätzlichen Zusage« stehe, den Fall Felfe zu klären. »Sodann«, heißt es in Volperts Protokoll, »gab Wehner die gesamte Akte, die sich im Besitz bei ihm befand, dem GM [d. h. Vogel], damit er sich davon überzeugen könne, was er bis dato alles unternommen habe«. Angeblich enthielt die Akte die schriftlichen Stellungnahmen des Innenministers, Generalbundesanwaltes und des BND-Präsidenten zur Frage einer möglichen Entlassung Felfes. Bundesinnenminister Benda habe sich wie Justizminister Heinemann für eine Begnadigung ausgesprochen. Auch BND-Präsident Gehlen habe seinen Widerstand aufgegeben. Gehlen, so Volperts Bericht, habe dazu sinngemäß formuliert: »Man könne von seinem Hause nicht verlangen, dass er einer Begnadigung Felfes freudig zustimme, aber er sei nicht dagegen.« Nur Generalbundesanwalt Ludwig Martin habe die Begnadigung im Hinblick auf 231 Pötzl: Basar, S. 191; Meyer: Wehner, S. 317; Der heimliche Botschafter. In: Der Spiegel v. 23.3.1992, Nr. 13, S. 88–106. 232 So Pötzl: Spione, S. 190 in Bezug auf das Urteil Arnulf Barings über Wehner in: Baring, Arnulf; Görtemaker, Manfred: Machtwechsel. Die Ära Brandt – Scheel. Stuttgart 1982, S. 750. 233 Vermerk Volperts, 20.7.1971; BStU, MfS, SdM, Nr. 1423, Bl. 161 f. 234 Vermerk Volperts, 14.6.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 536.
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das »Gleichheitsprinzip vor den Gesetzen« abgelehnt. Die Entscheidung müsse der Bundeskanzler treffen, der Termin für die Beratung Wehners mit dem Kanzler und Justizminister Heinemann sei auf den 16. Juni anberaumt. Wehner halte es für möglich, dass sich Kiesinger für eine Begnadigung aussprechen werde.235 Ob die Akte tatsächlich die im Bericht Volperts genannten Texte enthielt, sei dahingestellt. Entscheidend ist vielmehr der auffällig freizügige Umgang Wehners mit den Papieren. Dass er den als »geheim« eingestuften Schriftwechsel dem Anwalt aus Ost-Berlin in die Hand gab, zeugte von seinem Vertrauen in Vogel. Natürlich diente der absichtliche Verstoß gegen die Geheimschutzvorschriften einem politischen Kalkül: Wehner demonstrierte damit, dass es ihm mit den Bemühungen um Felfes Begnadigung ernst war und die jüngsten Verzögerungen nicht von ihm zu verantworten waren. Wehner konnte davon ausgehen, dass Vogel dies den zuständigen Stellen in der DDR berichten würde. Der Schachzug hatte denn auch den gewünschten Effekt: Gegen Ende des Gesprächs erklärte Vogel, dass seine Seite nunmehr bereit sei, mit den Häftlingsentlassungen zu beginnen. Im Gegenzug signalisierte Wehner Verständnis bezüglich der stockenden Ausreisen im Rahmen der Familienzusammenführungen. Die generelle Bereitschaft von Vogels Auftraggebern sei entscheidend. »In welchem Zeitraum wir sie durchführen«, so Volpert, »überließe er ganz uns«.236 Am Tag nach dem geheimen Treffen zwischen Wehner und Vogel wurde Vogel bei Stange vorstellig und teilte seinem überraschten Kollegen mit, dass die Verhandlungen entgegen der Ankündigung nicht abgebrochen würden. Er schlage zunächst einen »›Waffenstillstand‹« vor. Die Häftlingsaktion in der Größenordnung von 800 Personen könne unverzüglich beginnen, auch die Familienzusammenführungen würden auf der Basis einer Dringlichkeitsliste aufgenommen.237 Mit diesem plötzlichen Einlenken war die Gefahr des Scheiterns der Verhandlungen vorerst abgewendet. Nach dem ersten Listenabgleich 235 Volperts Ausführungen sind widersprüchlich: Gehlens Vermerk für Wehner (vgl. Anm. 228) enthält keine derartige Aussage. Außerdem schied Gehlen bereits am 30. April aus dem Amt und hatte den Vorgang an seinen Nachfolger Gerhard Wessel übergeben. Zudem überrascht es, dass Wessel einer Begnadigung Felfes zugestimmt haben soll, obwohl er doch als »Ziehsohn Gehlens« galt. Vgl. Krüger, Dieter: Gerhard Wessel (1913–2002). Der Ziehsohn Gehlens an der Spitze des BND. In: Krüger, Dieter; Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 264–283. Auch bliebe dann erklärungsbedürftig, warum weitere sechs Monate bis zu der Begnadigung Felfes vergingen, wenn der BND bereits im Juni 1968 seinen Widerstand aufgab. War das angebliche Schreiben Gehlens also gar ein Bluff Wehners, um Vogel zu beruhigen und die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen? Auch das ist wenig wahrscheinlich, denn es hätte Wehner im Falle einer endgültigen Ablehnung in Erklärungsnot gebracht. 236 Vermerk Volperts, 14.6.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 537. 237 Vermerk Stanges, 13.6.1968; ebenda, S. 533 f.
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stellte sich heraus, dass die DDR bereit war, zunächst rund 300 Häftlinge für eine Warenlieferung im Wert von 15 Millionen DM zu entlassen. In Bezug auf die in der Vergangenheit zurückgestellten Häftlinge mit besonders hohen Strafen wartete Vogel außerdem mit einem neuen Vorschlag auf: Seine Seite sei bereit, das Strafmaß der besonders hoch oder gar mit lebenslangem Freiheitsentzug Bestraften bis Ende des Jahres für die normale Gegenleistung in eine niedrigere bzw. zeitlich befristete Strafe umzuwandeln und die Betroffenen dann im nächsten Jahr zu entlassen. Stange erschien dieses Angebot auf den ersten Blick »sehr nützlich«. Die DDR-Behörden könnten diesen Schritt nicht mehr rückgängig machen und die Betroffenen hätten damit Aussicht auf eine Entlassung.238 Wehner begrüßte den Vorschlag, wollte sich aber nicht von einer Entlassung auf die bloße Herabsetzung »abdrängen« lassen.239 Das Maximalziel müsse lauten: »Sobald wie möglich Entlassung«.240 Notfalls war er auch bereit, dafür einen höheren Preis zu akzeptieren, denn bei diesen Schwerstbestraften sollte »so großzügig vorgegangen werden, wie […] nur irgend möglich«.241 Stange wies Wehner darauf hin, dass die Gegenseite für die Entlassung der Schwerbestraften das Doppelte des sonst üblichen Preises fordern würde. Für die Entlassung der infrage stehenden circa 70 Häftlinge wären dann 80 000 DM anstelle von 40 000 DM pro Person zu zahlen.242 Anders als Stange sprach sich Rehlinger dagegen aus, eine derartige »Preiserhöhung« einfach zu akzeptieren. Als Wehner davon Kenntnis erhielt, bestellte er Rehlinger zu sich, der sodann »einen der in Bonn sattsam bekannten typisch Wehnerschen Ausbrüche« erlebte. Rehlinger schildert das Gespräch in seinen Erinnerungen: »Lautstark […] fuhr er [Wehner] mich an, ob ich ihm seine Politik kaputtmachen, ob ich die Freilassung politischer Häftlinge in der DDR […] gerade unter seinem Zepter als Minister sabotieren wollte?« Rehlinger, aufgebracht über diese aus seiner Sicht ungerechtfertigte Maßregelung, erwiderte, dass er nicht bereit sei, »jede Forderung von drüben einfach zu schlucken«. Je eher man dagegenhalte, umso mehr werde die andere Seite einsehen müssen, dass sich die Bundesregierung keinesfalls »lustvoll geruhsam knebeln« lasse. Wehners Wutausbruch, so Rehlinger, »endete so abrupt, wie er elementar begonnen hatte«.243 Denn in der Sache war auch Wehner dafür, sich nicht die Bedingungen diktieren zu lassen: Man müsse die Betroffenen aus den Gefängnissen herausholen, »ohne sich das Geld aus der Nase ziehen zu lassen« 238 Vermerk Stanges, 1.7.1968; ebenda, S. 539–541. 239 Vermerk Gefaellers, 12.7.1968, ebenda, S. 546. 240 Hs. Notiz Wehners auf dem Vermerk Wetzels, 4.7.1968; ebenda, S. 542, Anm. 1. 241 Vermerk Stanges, 6.7.1968; ebenda, S. 543 f. 242 Vermerk Gefaellers, 12.7.1968; ebenda, S. 546. 243 Rehlinger: Freikauf, S. 75; vgl. Wehners Weisung an Rehlinger, 10.9.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 561 f.
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– wobei die Betonung auf dem »Herausholen« liege.244 Hier müssten alle Möglichkeiten erwogen werden, »um menschliche Erleichterungen zu erreichen«. In diesen Fragen sollte man »möglichst nicht zu formell verfahren«.245 Mitte August 1968 begannen die Entlassungen, zunächst waren es vor allem Häftlinge mit kürzeren Strafen, deren Strafende noch 1968 anstand und die für die Hälfte des üblichen Gegenwertes entlassen wurden. Indes schwebte der Fall Felfe weiterhin wie ein Damoklesschwert über den Verhandlungen: Wehners Treffen mit Vogel hatte zwar für eine kurzzeitige atmosphärische Entspannung gesorgt, doch war die geplante Beratung mit Justizminister Heinemann beim Kanzler aus Terminschwierigkeiten nicht zustande gekommen. Wehner hatte Kiesinger aber in einem Schreiben empfohlen, Felfe nach Verbüßung der Hälfte seiner Strafe durch Gnadenakt zu entlassen.246 Wehner ließ Vogel über Stange ausrichten, er bleibe weiterhin bemüht und sei optimistisch, dass die Entscheidung nicht negativ ausfallen werde. Allerdings rechne er nicht vor dem Herbst damit.247 Ohne eine klare Zusage im Fall Felfe hielt die DDR zudem den Stopp der Ausreisen getrennter Familien aufrecht. Stange musste zu seinem Missfallen feststellen, dass sich außer der mündlichen Ankündigung Vogels nichts bewegt hatte.248 Anfang September 1968 drängte Vogel erneut: Ohne einen konkreten Termin für die Begnadigung Felfes sehe er »ernste Konsequenzen für den Fortgang der laufenden Aktion«.249 Wehner entgegnete mit der subtilen Warnung, Vogels Auftraggeber sollten die Sache Felfe »nicht auf die Spitze treiben«. Angesichts der jüngsten weltpolitischen Ereignisse – am 21. August 1968 waren Truppen des Warschauer Paktes in Prag einmarschiert und hatten den »Prager Frühling« mit Waffengewalt niedergeschlagen – würde eine Abstimmung im Bundeskabinett zu seinen Ungunsten ausfallen. Wenn die DDR weiterhin dränge, könnte sich diese Haltung womöglich noch verhärten.250 Wahrscheinlich war dieser Sachstand auch Gegenstand eines weiteren Gespräches zwischen Wehner und Vogel.251
244 Vermerk Gefaellers, 12.7.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 546. 245 Vermerk Stanges, 6.7.1968; ebenda, S. 544. 246 Wehner an Kiesinger, 2.7.1968; ebenda, S. 541 f. 247 Vermerk Gefaellers, 12.7.1968; ebenda, S. 546; Vermerk Stanges, 17.7.1968; BArch-K, B 137/19980, Bl. 169 (AS-DzD). 248 Stange an Vogel, 7.8.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 553; Vermerk Rehlingers, 20.8.1968; ebenda, S. 558. 249 Vogel an Stange, 4.9.1968; ebenda, S. 560. 250 Vermerk über das Gespräch Schalck – Kaiser am 13.9.1968, 14.9.1968; BArch-B, DL 2, Nr. 7694, Bl. 41. 251 Das nächste Treffen fand am 16.9.1968 statt. Vgl. Anm. 230.
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Vogels Auftraggeber ließen sich aber nicht mehr länger hinhalten.252 Insbesondere der KGB verschärfte den Druck auf das MfS, Felfe endlich freizubekommen. Einen Tag bevor Felfe die Hälfte seiner Strafe verbüßt hatte, stellte Vogel dem Westen ein Ultimatum: Die laufenden Entlassungen würden binnen zehn Tagen gestoppt, Familienzusammenführungen, Kinderrückführungen und der Austausch würden ebenfalls eingestellt, wenn die Bundesregierung keinen Termin für die Entlassung Felfes nenne.253 Seine Seite wäre »zu weiteren Konzessionen nicht mehr bereit«.254 Vogel suchte erneut den direkten Kontakt zu Wehner und beklagte sich, »er komme n[icht] weiter«. Mitte November wurde die Angelegenheit ein weiteres Mal beim Bundeskanzler verhandelt.255 In einer Besprechungsvorlage für Wehner zog Rehlinger eine Zwischenbilanz. Bisher seien 459 Häftlinge entlassen, etliche der Hochbestraften jedoch nicht darunter. Hinsichtlich Felfe stellte Rehlinger fest, die Gegenseite glaube, »die besseren Trümpfe« in der Hand zu haben, weil die Bundesregierung »großen Wert auf die Fortführung der Sonderaktion« lege. Ohne die Entlassung Felfes werde die Gegenseite die laufenden Entlassungen wohl tatsächlich stoppen. Rehlinger gab zu bedenken, dass die Gegenseite für Felfe jetzt bestenfalls noch zehn Häftlinge freigeben werde, weniger als noch vor einem Jahr. Ungeachtet der gegenwärtig schwierigen Lage wäre die andere Seite auch in Zukunft an dem Anwaltskontakt interessiert, denn schließlich sei es »eine seit Jahren erprobte und bewährte Verbindung, die unter[halb] der ›Schwelle der großen Politik‹ für beide Seiten nützlich und hilfreich« gewesen sei.256 Auch die Kirchen bedrängten den Bundeskanzler. Der Berliner Erzbischof Kardinal Alfred Bengsch bat Weihbischof Tenhumberg, er möge sich in Bonn dafür einsetzen, dass Felfe freigelassen werde. Seinerseits würde er das »wärmstens befürworten«.257 Ebenso bearbeitete Bischof Kunst den Kanzler, indem er ihm über Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) einen Brief zukommen ließ. Wehners Freund Freiherr zu Guttenberg gehörte als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeskanzleramt zum engeren Gesprächskreis Kiesingers und spielte durch seine Verbindungsfunktion zu den Regierungsfraktionen »eine
252 Stange an Vogel, 14.10.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 574. 253 Vermerk Stanges, 4.11.1968; ebenda, S. 578 f. 254 Vogel an Stange, 8.11.1968; ebenda, S. 581. 255 Hs. Notiz Rehlingers auf Vermerk Stanges, 4.11.1968; ebenda, S. 578, Anm. 1. Wehner unterrichtete Vogel noch am gleichen Tag über das Ergebnis. Vermerk Volperts, 20.7.1971; BStU, MfS, SdM, Nr. 1423, Bl. 161. 256 Rehlinger an Wetzel, 14.11.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 584. 257 Bengsch an Tenhumberg, 30.11.1968; ebenda, S. 588.
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der wichtigsten Rollen« in der Regierungszentrale.258 Kunst bat den Kanzler, wenigstens über den Tauschpreis für Felfe verhandeln zu lassen. Vogel habe ihm versichert, dass die Gegenseite nicht beabsichtige, den Fall publizistisch auszuschlachten. Auch würden die Gliedkirchen der EKD in der DDR wie schon im Vorjahr wegen Felfe unter Druck gesetzt: »Bestimmte Beschränkungen« seien ausdrücklich in Bezug auf den Fall Felfe angeordnet worden. Gegen diese Erpressungsstrategie wären die Kirchen machtlos: »Wir … sitzen am schwächeren Hebel«. Abschließend bat er Kiesinger inständig, »die Humana, die an der Regelung dieses Falles hängen, als ein außerordentliches Gewicht in der Waagschale zu empfinden«.259 Durch das unablässige Drängen von allen Seiten und dem Umstand, dass Felfe inzwischen die Hälfte seiner Strafe verbüßt hatte, kam schließlich Bewegung in die Verhandlungen. Kiesinger gab den Bitten Wehners und der Kirchen nach, über den Tauschpreis für Felfe zu verhandeln. Mitte Dezember 1968 übergab Stange eine Liste mit 29 Personen, darunter die drei in der Sowjetunion inhaftierten Studenten, besonders hart bestrafte BNDMitarbeiter sowie einige Ausreisefälle. Am Tag vor Heiligabend 1968 übermittelte Vogel die Stellungnahme seiner Seite: Nach der Begnadigung Felfes könnten die drei Studenten in der Sowjetunion sowie 20 BND-Mitarbeiter entlassen und die Entlassungen fortgesetzt werden.260 Kurz nach Neujahr 1969 benannte Vogel die Namen und erhöhte das Angebot auf 22 BNDMitarbeiter.261 Zu diesem Gesamtpaket gehörte auch ein Entgegenkommen in den übrigen strittigen Fragen. Vogel kündigte gegenüber Stange an, dass die Ausreisen im Rahmen der Familienzusammenführungen nunmehr genehmigt würden.262 Zudem äußerte sich die DDR erstmals bezüglich des Vorschlags, besonders schwer bestrafte und deshalb zurückgestellte Häftlinge für die doppelte Gegenleistung zu entlassen. Von den insgesamt rund 140 zurückgestellten Häftlingen könnten etwa die Hälfte daraufhin überprüft werden.263 Da es offensichtlich keine Alternative gab, blieb der Bundesregierung wenig anderes übrig, als diese »Preiserhöhung« grundsätzlich zu akzeptieren. Obwohl ein insgesamt annehmbares Paket auf dem Tisch lag, zögerte Kiesinger mit seiner Entscheidung.264 In einer Lagebesprechung im Bundeskanz258 Knoll, Thomas: Das Bonner Bundeskanzleramt. Organisation und Funktionen von 1949– 1999. Wiesbaden 2004, S. 163 f. 259 Kunst an Kiesinger, 16.12.1968; EZA, 742/283. 260 Vogel an Stange, 23.12.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 594. 261 Vermerk Stanges, 3.1.1969; LArchB, B Rep. 002, Nr. 12295; Vermerk Stanges, 22.9.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 658. 262 Vermerk Stanges, 3.1.1969; LArchB, B Rep. 002, Nr. 12295. 263 Vermerk Stanges, 9.1.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 594–596. 264 Notiz v. 24.1.1969; AEK, Zug. 683, Nr. 341.
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leramt wurde das Thema nochmals hin und her gewendet. BND-Präsident Gerhard Wessel machte weiterhin Sicherheitsbedenken geltend.265 Wehner hielt dieser Besorgnis den humanitären Gewinn entgegen, von dem schließlich auch die inhaftierten V-Leute des BND profitieren würden. Schließlich konnte sich Wehner gegen Wessel durchsetzen.266 Kiesinger bat den Präsidenten des Bundesrates, in Vertretung für Bundespräsident Heinrich Lübke die Begnadigungsurkunde für Felfe zu unterzeichnen.267 Vogel erhielt umgehend Nachricht von der bevorstehenden Entlassung Felfes. Einvernehmlich wurde der 13. Februar 1969 als Termin für die Wiederaufnahme der Entlassungen und Überstellung der BND-Mitarbeiter vereinbart; Felfe sollte einen Tag später am Grenzübergang Wartha/Herleshausen gegen die drei Studenten aus der Sowjetunion ausgetauscht werden.268 Der Austausch klappte reibungslos. Auf den ersten Häftlingsbus seit dem Entlassungsstopp im November des Vorjahres folgte im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit der zweite Bus mit den Mitarbeitern des BND. Er steuerte jedoch nicht Gießen an, sondern die Kaserne des Bundesgrenzschutzes in Bad Hersfeld, wo ihn Mitarbeiter des Dienstes in Empfang nahmen.269 Die Passagiere gehörten zu den schwerstbestraften Häftlingen: Alle waren zwischen 1959 und 1966 wegen (Militär-)Spionage verhaftet und zu Strafen von 15 Jahren oder zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt worden.270 Nur zwei der BND-Mitarbeiter wurden in die DDR entlassen. Tags darauf wurde Felfe aus seiner Zelle im Straubinger Gefängnis geholt und zum Grenzübergang Wartha/Herleshausen gebracht. Ein Beamter des Bundesjustizministeriums verlas die Begnadigungsschrift, danach wurde Felfe von Vogel und Stange über die Grenze geleitet und dort von Volpert und einem KGB-Offizier in Empfang genommen.271
Bilanz des Freikaufs in der Amtszeit Herbert Wehners Nach dem Austausch Felfes herrschte allenthalben Erleichterung über den geglückten Ausgang der Angelegenheit, die den Fortgang des Freikaufs seit 265 Spionage/Felfe: Fiffi in III F. In: Der Spiegel v. 24.2.1969, Nr. 9. 266 Der heimliche Botschafter. In: Der Spiegel v. 23.3.1992, Nr. 13, S. 99. 267 Spionage/Felfe: Fiffi in III F. In: Der Spiegel v. 24.2.1969, Nr. 9. 268 Stange an Wetzel, 13.1.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 597 f. 269 Vermerk Rehlingers, 12.2.1969; ebenda, S. 605, Anm. 2. 270 Vermerk Stanges, 3.1.1969; LArchB, B Rep. 002, Nr. 12295; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067; Haftkartei der Gedenkstätte Bautzen II, Auskunft v. 29.3.2011; vgl. den Fall Werner Gruhn in: Ansorg: Brandenburg, S. 206–209. 271 Vermerk Rehlingers, 12.2.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 605, Anm. 2; Pötzl: Spione, S. 206–209.
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über einem Jahr beeinträchtigt hatte. Kunst dankte Freiherrn zu Guttenberg, dass er »in der schwierigsten Häftlingsfrage, die wir bisher hatten«, so tatkräftig geholfen habe.272 Vogel bemerkte in einem Brief an Wehner, dass »die bekannten Barrieren« seit dem Austausch »spürbar weggeräumt« seien. Generalstaatsanwalt Streit habe den Anwaltskontakt als »sehr nützlich bezeichnet« und dafür gesorgt, dass in die nächste Häftlingsaktion viele bisher »unlösbare Fälle« einbezogen würden. Vogel sprach Wehner mit unverhohlener Bewunderung seinen Dank dafür aus, wie er sein Amt zum Wohle der in Not geratenen Mitmenschen ausübe: »Sie werden mir immer Vorbild sein«.273 Tatsächlich wirkte sich die Begnadigung und Entlassung Felfes beschleunigend auf die Verhandlungen aus. Wenige Tage nach dem Austausch berichtete Stange, die Gegenseite sei bereit, unverzüglich über weitere Entlassungen zu verhandeln. Man habe ihm zugesagt, alle bisher zurückgestellten Inhaftiertenfälle auf die Möglichkeit einer Entlassung zu überprüfen. Innerhalb weniger Wochen könne eine Einigung über die Gesamtliste erzielt werden.274 Im Gegensatz zu den Vorjahren verliefen die Verhandlungen wesentlich rascher. Wenige Wochen nach Übergabe der Wunschlisten erteilte Wehner Anfang Mai 1969 die Zustimmung für die erste Gutschrift von 15 bis 20 Millionen DM, kurz darauf begannen die Entlassungen.275 Erneut traf sich Wehner insgeheim mit Vogel und bestätigte die Änderungen der künftigen Skala der Gegenleistungen. Vogel solle mit Stange eine entsprechende Übereinkunft erarbeiten und ausschließlich ihn informieren, falls es Probleme gebe. Stange, so Wehner, »habe nun eben mal die Pflicht über die Details mit untergeordneten Bürokraten zu verhandeln«.276 Im Sommer erstattete Stange einen Zwischenbericht und meldete, dass über 550 Häftlinge bereits entlassen seien;277 wenige Tage vor der Bundestagswahl im September 1969 waren es bereits 647, davon allein 120, welche die DDR zuvor wegen Fluchthilfe oder wegen eines nachrichtendienstlichen Hintergrundes als »Z-Fälle« eingestuft hatte. Zufrieden resümierte Stange: »Schon heute lässt sich eindeutig erkennen, dass die Bemühungen um menschliche Erleichterungen im Jahre 1969 sich ungleich erfolgreicher gestaltet haben, als die in den vorangegangenen Jahren«. Das war auch an der Gesamtzahl der Entlassungen ablesbar, die bis Jahresende auf 880 anstieg.278 272 273 274 275 276 277 Bl. 17. 278
Kunst an Guttenberg, 17.2.1969; EZA, 742/283. Vogel an Wehner, 7.3.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 609. Vermerk Stanges, 20.2.1969; ebenda, S. 608 f. Listen der Aktion 1969 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 18026, Bl. 27–149. Vermerk Vogels, 1.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 622. Stange an Rehlinger, 27.6.1969; ebenda, S. 631 f.; vgl. BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Stange an Wehner, 23.9.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 655; vgl. Tabelle 1 im Anhang.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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Mit der Bildung der sozialliberalen Koalition nach der Bundestagswahl im September 1969 endete die Amtszeit Herbert Wehners als Gesamtdeutscher Minister. In den knapp drei Jahren an der Spitze des Ministeriums hatte er die humanitären Bemühungen in mehrfacher Hinsicht entscheidend geprägt. Erstens hinsichtlich der grundsätzlichen Stoßrichtung der »Sondermaßnahmen«: Während es Wehners Vorgänger Erich Mende abgelehnt hatte, auch Häftlinge mit Strafen unter fünf Jahren grundsätzlich in die Bemühungen einzubeziehen und die Hilfsmaßnahme nach Auslösung der meisten Hochbestraften beenden wollte, schlug Wehner einen anderen Kurs ein. Für ihn waren die Verhandlungen über den Anwaltskontakt das einzige wirksame Mittel, dauerhaft die erhofften »menschliche[n] Erleichterungen« zu erreichen, einerlei, ob es sich um »Lang-« oder »Kurzstrafer« handelte. Mit der Ablösung Staatssekretär Krautwigs schied zudem der letzte vehemente Gegner einer Verstetigung und Ausweitung der Hilfen aus dem engeren Kreis der Verantwortlichen aus. Rehlinger, der den neuen Kurs ebenfalls skeptisch beurteilte, war zwar als Leiter des zuständigen Fachreferates in Berlin in einer Schlüsselposition, doch wollte und konnte er sich der neuen politischen Marschrichtung nicht grundsätzlich entgegenstellen. Seine und wohl auch Krautwigs Befürchtungen, dass sich die DDR Häftlinge zum Zwecke ihres Verkaufs beschaffen könnte, schienen jedenfalls unbegründet. Relativ gesehen registrierte die Rechtsschutzstelle 1968/69 nicht mehr Verurteilungen als zuvor.279 Zweitens gab es am Ende von Wehners Amtszeit neben dem anfänglichen »Einheitspreis« von 40 000 DM künftig unterschiedliche »Kopfquoten«. Dies war die Kehrseite der Ausdehnung der Hilfen auf geringer bestrafte Häftlinge einerseits und den unablässigen Bemühungen um die »Z-Fälle«, d. h. meist hoch bestraften Häftlinge andererseits. Mit dem Abschluss der Hilfsaktion 1968 hatte sich eine vierstufige Bewertungsskala herausgebildet: Für Häftlinge, die nach voller Verbüßung ihrer Strafe in die Bundesrepublik entlassen wurden, waren rund 10 000 DM aufzuwenden, 20 000 DM für jene, deren Strafrest unter einem halben Jahr lag, 40 000 DM für »Normalfälle« und schließlich 80 000 DM für besonders schwer Bestrafte, die meist wegen Fluchthilfedelikten oder nachrichtendienstlicher Tätigkeit verurteilt worden waren.280 Diese Preisdifferenzierung war eine Abkehr von dem ursprünglichen Gedanken, alle Häftlinge gleich zu behandeln und keinen Unterschied in ihrer »Wertigkeit« zu machen. Die Nachteile dieses Systems lagen indes auf der Hand: Gab es unterschiedliche Auffassungen über die jeweils geforderte Höhe der Gegenleistung, waren Streitigkeiten im Abrechnungsverfahren unausweichlich. 279 Vermerk Rehlingers, 15.7.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 547, Anm. 8. 280 Vgl. exemplarisch den Vermerk Rehlingers »Abrechnung Sonderaktion 1968«, 3.4.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 615–617.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Drittens stieg die Gesamtzahl der jährlich freigekauften Häftlinge: Waren es auf dem Tiefpunkt im Jahr 1966 nur noch rund 400, so hatte sich deren Zahl am Ende der Amtszeit Wehners unter anderem wegen der Einbeziehung der »Kurzstrafer« auf fast 900 gut verdoppelt.281 Am wirkmächtigsten waren jedoch die atmosphärischen Veränderungen. Schon in der Wortwahl machten sich die Vorboten der Entspannungspolitik bemerkbar: Seit 1967/68 verschwand die Bezeichnung »Zone« aus den Akten und wurde durch die diplomatisch-neutrale Formel von »der anderen Seite« oder der »Gegenseite« abgelöst. Die persönlichen Interventionen Wehners und seine geheimen Treffen mit Vogel bewirkten eine Festigung der Vertrauensbasis: Wehner wusste, dass er sich auf den Anwalt als diskretem Mittler zur DDR-Führung verlassen konnte. Umgekehrt schwanden die Vorbehalte gegenüber Wehner in Ost-Berlin. Laut HVA-Chef Markus Wolf, dessen Aussagen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes zwar stets kritisch zu bewerten sind, aber, dessen ungeachtet, die Sicht der DDR widerspiegeln, wurde der einstmals »›gefährliche Renegat‹ und ›ideologische Diversant‹« Wehner nach dem Austausch Felfes angeblich zu Erich Mielkes »beste[r] Adresse in Bonn«,282 in jedem Falle zu einer vertrauenswürdigen Anlaufstelle für derartige Fragen.
3
Häftlingshilfen im Zeichen der »Neuen Ostpolitik«
Im September 1969 fand in der Bundesrepublik die Wahl zum sechsten Deutschen Bundestag statt. Obwohl die Unionsparteien einen geringfügigen Stimmenverlust hinnehmen mussten, stellten sie erneut die stärkste Fraktion. Die Sozialdemokraten waren mit einem Plus von 3,4 Prozent gestärkt aus der Großen Koalition hervorgegangen. Seit 1957 hatte die SPD bei jeder Wahl zwischen drei und vier Prozentpunkte hinzugewonnen. Ein Desaster war das Ergebnis hingegen für die Liberalen, die 1968 nach Erich Mendes Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz Walter Scheel zu seinem Nachfolger gewählt hatten. Acht Jahre nach ihrem eindrucksvollen Wahlerfolg von 1961, als die Partei 12,8 Prozent der Stimmen erhalten hatte, konnte die FDP mit 5,8 Prozent die Fünfprozenthürde nur knapp überwinden.283
281 Vgl. Tabelle 1 im Anhang. 282 Wolf: Spionagechef, S. 236. 283 Wolfrum: Geglückte Demokratie, S. 290 f.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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Die sozialliberale Koalition und das Konzept der »Neuen Ostpolitik« Das Wahlergebnis ermöglichte jedes der drei potenziellen Koalitionsmodelle des Drei-Parteien-Systems: Die Fortführung der Großen Koalition, eine Neuauflage des Bündnisses zwischen CDU/CSU und FDP oder eine SPD-FDPKoalition. Noch während die ersten Hochrechnungen am Wahlabend einliefen, begann der Kampf um die Deutungshoheit, welcher Wählerwille aus dem Ergebnis spreche. Willy Brandt, Kanzlerkandidat und Vorsitzender der SPD, erkannte die Gunst der Stunde und bot der FDP noch in der Wahlnacht Koalitionsverhandlungen an. Ohne die (nicht stimmberechtigten) Vertreter Berlins verfügten SPD und FDP über 254 Sitze im Bundestag, fünf Stimmen über der »Kanzlermehrheit« von 249 Mandaten. Die Freien Demokraten sprachen sich gleichfalls für einen Regierungswechsel aus, zumal sie bereits im Wahlkampf eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD getroffen hatten.284 Neben den Mehrheitsverhältnissen war der Wille zur Zusammenarbeit die entscheidende Grundlage für das neue Bündnis. SPD und FDP gingen die Koalition vor allem wegen ihrer weitgehend deckungsgleichen Vorstellungen über die künftige Außen-, Ost- und Deutschlandpolitik ein.285 Auffälligstes Zeichen dieses programmatischen Gleichklangs war das rasche Tempo der Koalitionsverhandlungen. Keine vier Wochen nach der Bundestagswahl waren sich die Partner über das Regierungsprogramm und die Ressortverteilung einig. Am 21. Oktober 1969 wählte der Bundestag Willy Brandt zum Bundeskanzler. In der Deutschland- und Ostpolitik schickte sich die sozialliberale Bundesregierung an, forscher als die Große Koalition voranzugehen. Das SPDKonzept der »Neuen Ostpolitik« ging im Wesentlichen auf die Überlegungen Brandts und seines Mitarbeiters Egon Bahr zurück und ruhte auf zwei Säulen. Die eine bestand darin, die bisherige Politik der Nichtanerkennung der DDR aufzugeben und durch eine Vertragspolitik zu ersetzen.286 Getreu dem Satz Kurt Schumachers, dass Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginne, ging man davon aus, dass die deutsche Teilung »Realität auf unbestimmte
284 Baring, Arnulf; Görtemaker, Manfred: Machtwechsel. Die Ära Brandt – Scheel. Stuttgart 1982, S. 148–152; Hofmann, Daniel: »Verdächtige Eile«. Der Weg zur Koalition aus SPD und F.D.P. nach der Bundestagswahl vom 28. September 1969. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000) 3, S. 515–566, hier 520; Gassert: Kiesinger, S. 718. 285 Wolfrum: Geglückte Demokratie, S. 287. 286 Siehe für das Folgende Niedhart, Gottfried; Bange, Oliver: Die »Relikte der Nachkriegszeit« beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415–448.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Zeit«287 war und folglich alle Versuche aussichtslos seien, das Regime zu stürzen. Egon Bahr hatte bereits in seiner programmatischen Rede am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie im bayerischen Tutzing festgestellt, dass die Schlussfolgerung aus dieser Feststellung »rasend unbequem«, aber logisch sei: »Sie bedeutet, dass Änderungen und Veränderungen nur ausgehend von dem zur Zeit dort herrschenden verhaßten Regime erreichbar sind«. Der Status quo, so Bahrs dialektische Argumentation, könne nur überwunden werden, indem man ihn zunächst anerkenne.288 Bahr brachte das Konzept auf die griffige Formel »Wandel durch Annäherung«, Willy Brandt sprach in seinem Konferenzbeitrag in Tutzing von »Transformation der anderen Seite durch Kooperation mit ihr«.289 Die andere Säule der Ostpolitik bestand in einer »aktiven Anpassung der deutschen Politik an die Détente [dt. ›Entspannungspolitik‹], die Haupttendenz der internationalen Politik«. Wenn die westliche Supermacht USA nach dem Mauerbau und der Kubakrise von dem Konzept der Konfrontation abgerückt war und fortan auf Verständigung und Zusammenarbeit mit der UdSSR setzte, so konnte sich die Bundesrepublik diesem Trend auf lange Sicht nicht entziehen, wenn sie nicht in außenpolitische Isolation geraten wollte.290 In der Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 bot Brandt der DDR daher Verhandlungen auf Regierungsebene an, die zu einer »vertraglich vereinbarten Zusammenarbeit« führen sollten. Kernstück der Rede war ein Satz, der Beifall bei den Regierungsparteien, hingegen Unmutsbekundungen seitens der CDU/CSU-Opposition hervorrief: »Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein«.
Damit hatte Brandt der DDR erstmals eine begrenzte eigene Staatlichkeit zugestanden und den Grundsatz des Alleinvertretungsanspruches der Bundesregierung offiziell aufgegeben – nicht jedoch die »Obhutspflicht« der Bundesregierung für die Deutschen in der DDR. Die Politik seiner Regierung, kündigte Brandt an, werde darauf ausgerichtet sein, »das Verhältnis zwischen den
287 Rödder: Bundesrepublik, S. 35. 288 DzD IV/9.2 (1963), S. 572–575. 289 DzD IV/9.2 (1963), S. 567 f. Zur Ostpolitik ausführlich Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. 3. Aufl., München 1995. 290 Link, Werner: Die Entstehung des Moskauer Vertrages im Lichte neuer Archivalien. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001) 2, S. 295–315, hier 311 u. 313, zit. nach: Rödder, Andreas: Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990. München 2010, S. 137.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung« zu lösen.291 Für dieses Vorhaben wusste die Regierungskoalition die Stimmung der Bevölkerungsmehrheit hinter sich: Meinungsumfragen zeigten, dass der überwiegende Teil der Bundesbürger den neuen Kurs befürwortete.292 Die beabsichtigte Anerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat und die damit verbundene Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches wurde zudem an der Umbenennung des »Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen« (BMG) in »Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen« (BMB) deutlich. Neuer Innerdeutscher Minister wurde der Hannoveraner SPDAbgeordnete Egon Franke, der den Typus des Sozialdemokraten »von altem Schrot und Korn« verkörperte.293 Im Alter von 16 Jahren war er 1929 in die SPD eingetreten und hatte während der NS-Zeit wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zweieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen. Nach einem Einsatz im berüchtigten Strafbataillon »999« der Wehrmacht, Verwundung und amerikanischer Kriegsgefangenschaft kehrte er 1945 nach Hannover zurück.294 Als enger Mitarbeiter Kurt Schumachers war er 1951 erstmals in den Bundestag eingezogen. Frankes Stärke lag zum einen in seiner loyalen Haltung gegenüber der Partei, zum anderen in seiner Rolle als Wortführer einer Gruppe sozialdemokratischer Abgeordneter, die sich mit »proletarische[r] Koketterie« als »Kanalarbeiter« bezeichneten und den konservativ-pragmatischen, »rechten« Flügel der SPD repräsentierten. Wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse besaßen sie einen nicht unerheblichen Einfluss in der SPD-Fraktion.295 Im Innerdeutschen Ministerium vollzog sich ebenfalls ein Wechsel. Hermann Kreutzer (SPD), den Herbert Wehner 1967 ins Gesamtdeutsche Ministerium geholt hatte, wurde neuer Leiter der Berliner Abteilung III des Innerdeutschen Ministeriums, in dem das »Freikauf-Referat« angesiedelt war.296 Kreutzer galt als umgänglicher und sympathischer »Schumacher-Sozialdemokrat«. Er war von 1949 bis 1956 wegen seiner politischen Betätigung für die SPD in Bautzen inhaftiert gewesen.297 Ferner war Ludwig Rehlinger bereits vor dem Regierungswechsel im Sommer 1969 aus dem Gesamtdeutschen Ministerium ausgeschieden und zum Präsidenten des neu gegründeten Gesamtdeut291 Behn, Hans Ulrich: Die Regierungserklärungen der Bundesrepublik Deutschland. München 1971, S. 205–235, hier 207 f. 292 Wolfrum: Die geglückte Demokratie, S. 286. 293 Gestorben: Egon Franke. In: Der Spiegel v. 1.5.1995, Nr. 18. 294 Munzinger: Internationales Biographisches Archiv 27/1995, 26. Juni 1995 (lm). 295 Bundestag/Abgeordnete: Qualität gesucht. In: Der Spiegel v. 13.1.1965, Nr. 3. 296 Vgl. Organisationsplan des BMB, Stand Februar 1970, DRK, Suchdienst München, H 1877. 297 Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 401 f.; Boll, Friedhelm: Paul, Hermann und Dorothee Kreutzer. In: Fricke; Steinbach; Tuchel: Opposition und Widerstand, S. 102–109.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
schen Instituts ernannt worden.298 Seine Nachfolge in der Leitung des »Freikauf-Referates« trat Jan Hoesch an, der seine berufliche Laufbahn 1964 im Gesamtdeutschen Ministerium begonnen hatte.299 Ein Element der Kontinuität blieb das Engagement Herbert Wehners. Obwohl er das Amt des Gesamtdeutschen Ministers an Egon Franke übergab und wegen der nur knappen Bundestagsmehrheit der Regierung den Fraktionsvorsitz übernahm, spielte er in den Bemühungen um Häftlinge, getrennte Familien und Kinder »wie selbstverständlich« weiterhin eine gewichtige Rolle.300 Regelmäßig erhielt er Sachstandsvermerke der Ministerialbürokratie und traf sich weiterhin mit Vogel zu vertraulichen Gesprächen.301
Erweiterung der »Preisskala« Im Geist der Entspannungspolitik wurden auch die »Besonderen Bemühungen« einer Neubewertung unterzogen. Ausgangspunkt der Überlegungen war nicht mehr die exakte Zahl der Häftlinge, die »noch« in den Gefängnissen verblieben seien, sondern eine nüchterne Analyse des gegenwärtigen Zustandes. Solange die DDR existierte, sei auf absehbare Zeit mit politischen Urteilen zu rechnen. Eine Vorlage von Rehlingers Nachfolger Jan Hoesch brachte dies prägnant zum Ausdruck: »Das Problem der politischen Häftlinge ist nach wie vor aktuell und wird auch noch für geraume Zeit aktuell bleiben«. Insgesamt, so Hoeschs Resümee, befänden sich schätzungsweise 3 000 bis 4 000 politische Häftlinge in den Gefängnissen der DDR. Die meisten seien zu Strafen zwischen anderthalb und drei Jahren verurteilt worden. »Als Delikte stehen Republikflucht, Staatsverleumdung und Arbeitsverweigerung aus politischen Gründen im Vordergrund.«302 Das Schicksal dieser Inhaftierten zu erleichtern sollte künftig das Ziel der Bundesregierung sein. Diese Rangfolge war schon in Bahrs Tutzinger Rede von 1963 angelegt: »Uns hat es zunächst um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbaren und verantwortbaren Versuchs, die Situation zu erleichtern.«303 Brandt hatte den Gedanken im November 1964 auf dem Karlsruher Parteitag der SPD in die Worte gefasst, dass sich »die ganze Politik zum Teufel scheren solle, wenn sie
298 299 300 301 S. 694. 302 303
Rehlinger: Freikauf, S. 80. Interview mit Jan Hoesch, 22.5.2008; vgl. Kap. II.1. Meyer: Wehner, S. 395 f. Z. B. ging der Vermerk Hoeschs vom 15.12.1969 zugleich an Wehner. DzD BesBem Bd. 1, Bericht Hoeschs, 24.11.1969; BArch-K, B 137/19980, Bl. 409 (AS-DzD). DzD IV/9.2, S. 572–575.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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nicht dazu da sei, den Menschen das Leben leichter statt schwerer zu machen«.304 Egon Franke entschied sich, das bisherige pragmatische Verfahren beizubehalten. In einem ersten Grundsatzvermerk stellte Hoesch dazu fest: »Die Fortsetzung der besonderen Bemühungen zugunsten politischer Häftlinge und auf dem Gebiet der Familienzusammenführung ist notwendig. […] Politische Lösungsmöglichkeiten sind vorläufig nicht in Sicht. Alles deutet vielmehr darauf hin, dass die andere Seite an den Anwaltskontakten als Mittel zur Regelung humanitärer Anliegen festhalten will.«305
Noch vor der Bundestagswahl hatte Stange in einem Brief an Wehner darauf hingewiesen, dass die Gegenseite auch im folgenden Jahr eine Häftlingsaktion durchführen wolle.306 Kurz vor Weihnachten 1969 meldete sich Vogel bei Stange, erklärte die Bereitschaft seiner Seite für eine weitere Vereinbarung und bat um die rasche Übergabe einer Wunschliste.307 Recht bald wurde deutlich, dass es anders als im Jahr 1969 wiederum harte Auseinandersetzungen über die von der DDR zurückgestellten Häftlinge geben würde. Die Zahl der nach Prüfung der Wunschlisten als »Z-Fälle« verweigerten Häftlinge war dabei im Laufe der Jahre kontinuierlich angewachsen: Hatte die DDR 1965 nur 31 Häftlinge zurückgestellt, so gab es zur Jahreswende 1969/1970 bereits 200 solcher »Z-Fälle« mit teils hohen Strafen. Allerdings war ein Teil von ihnen nur deswegen nicht schon 1969 entlassen worden, weil ihre Verurteilung erst kurz zuvor erfolgt war und vor der Entlassung ein Teil der Strafe verbüßt sein musste. Bei der Mehrzahl dieser »Z-Fälle« handelte es sich allerdings um »ehemalige Mitarbeiter von Nachrichtendiensten« sowie »Teilnehmer an organisierten Fluchthilfeunternehmen«, womit sowohl die Fluchthelfer als auch die Flüchtenden gemeint waren. Für die Zurückstellungen, so die Einschätzung Hoeschs, habe die Gegenseite mehrere Gründe: Sie wolle einige Häftlinge als »Reserve« für den Austausch ihrer eigenen Spione zurückbehalten, in Bezug auf die Fluchthelfer Nachahmungstäter abschrecken, bei nachrichtendienstlichen Fällen den Abfluss geheimer Informationen verhindern und schließlich bestünde im Falle von »Verrätern« aus dem Staats- und Parteiapparat schlicht der Wunsch nach Vergeltung.308 Hoesch schlug vor, die Einbeziehung von 50 bis 70 Prozent dieser »Z-Fälle« zum Verhandlungsziel und zur Bedingung für eine neue Vereinbarung mit der DDR zu machen: »Menschlichkeit und Gerechtigkeit erfordern […], daß ein energi304 305 306 307 308
Brandt: Begegnungen und Einsichten, S. 106 f. Vermerk Hoeschs, 15.1.1970; HGWS, HF 50. Stange an Wehner, 23.9.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 656. Vogel an Stange, 22.12.1969; ebenda, S. 700 f. Anlage zum Vermerk Hoeschs, 15.1.1970; HGWS, HF 50.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
scher Versuch unternommen wird, auch diesen Menschen im Rahmen einer neuen Aktion zu helfen.«309 Anders als bei den Verhandlungen in den Jahren 1968 und 1969 war diesmal kein Spion vom Schlage Heinz Felfes als Druckmittel vorhanden: »Ein ähnlicher Anreiz steht für das Jahr 1970 nicht zu erwarten.«310 Nach Übergabe und Prüfung der Wunschlisten waren die Verhandlungen im Frühsommer 1970 an ihrem entscheidenden Punkt angelangt. Insgesamt sollte die Vereinbarung knapp 900 Personen umfassen. Darunter befanden sich über 100 Häftlinge aus der Gruppe der zurückgestellten Fälle, um die stets besonders hartnäckig verhandelt wurde. Hinzu kam, dass die meisten dieser 100 ehemals zurückgestellten Personen nur eine vergleichsweise kurze Strafe erhalten hatten. Die besonders hart Bestraften hielt die DDR weiterhin zurück. Im Ergebnis einer Beratung Anfang Juni 1970 kamen Franke, Hoesch und Stange überein, dass dieses Ergebnis »qualitativ unzureichend« sei und ein »umfassenderes Z-Fall-Arrangement« angestrebt werden müsse. Dafür müsse man der anderen Seite gegebenenfalls über das »›Preisgefüge‹« von 20 000, 40 000 und 80 000 DM hinaus eine »zusätzliche finanzielle Leistung« in Aussicht stellen.311 Eine andere Möglichkeit gab es nicht, um die DDR zur Freigabe dieser Hochbestraften zu bewegen, und in der Erhöhung der Freikaufsumme um einige Millionen DM sahen die Finanzpolitiker der Koalition kein grundsätzliches Problem. Hoeschs Vorgesetzter, Abteilungsleiter Hermann Kreutzer, informierte SPD-Fraktionschef Wehner kurz nach dem Gespräch über die Modalitäten der angestrebten Sondervereinbarung und die Reaktion der DDR auf das Angebot. Die andere Seite habe ihre Bereitschaft bekundet, weitere 90 der zurückgestellten Fälle – darunter sechs »Lebenslängliche« und 13 Häftlinge mit einer Strafe von 15 Jahren – für eine einmalige Gegenleistung von 15 Millionen DM zu entlassen. Die Sondervereinbarung trug die Bezeichnung »Gravierende Aktion« und wurde parallel zu der »normalen« Vereinbarung ausgehandelt. Der durchschnittliche Betrag pro Häftling betrug dabei über 166 000 DM, mehr als das Vierfache der sonst üblichen Gegenleistung.312 Kreutzer war überzeugt, dass sich Egon Franke eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen werde, um das zu Jahresbeginn festgesetzte Verhandlungsziel zu erreichen, über die Hälfte der »Z-Fälle« freizubekommen.313 Dabei fiel nicht ins Gewicht, dass dies für das »Preisgefüge« eine erneute Ausdehnung nach oben bedeutete. 309 Vermerk Hoeschs, 15.1.1970; ebenda. 310 Anlage zum Vermerk Hoeschs, 15.1.1970; ebenda. 311 Vermerk Hoeschs, 11.6.1970; HGWS, HF 53. 312 »Gegenüberstellung der gravierenden Aktionen 1970, 1971 und 1972«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18029, Bl. 82. 313 Hs. Brief Kreutzers an Wehner, Juni 1970; HGWS, HF 53.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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Vogel bestätigte die Übereinkunft wenig später. Nach »recht schwierigen Verhandlungen« habe sich seine Seite zu rund 800 Entlassungen bereitgefunden, darunter die 90 Fälle aus der »Gravierenden Aktion«. Einschließlich einiger hundert Familienzusammenführungen würde sich die Gegenleistung auf Waren im Wert von rund 45 Millionen DM belaufen. Außerdem sollten im Rahmen der Gesamtvereinbarung erneut Häftlinge in die DDR überstellt werden, die in der Bundesrepublik inhaftiert waren.314 Im Sommer 1970 begannen die Entlassungen. Ende September waren auch die Verhandlungen über die »Gravierende Aktion« abgeschlossen. Stange ließ Vogel wissen, dass die Bereitschaft seiner Seite zu diesem besonderen »Arrangement« ein Beitrag zu der von Brandt angekündigten »Entkrampfung« der Beziehungen sein sollte: »Lassen Sie mich, sehr geehrter Herr Kollege, dieses Schreiben damit schließen, dass die Bereinigung der aufgetretenen Schwierigkeiten den Bemühungen beider Seiten dient, denn: ›Schließlich geht es insgesamt nicht nur um die H-Aktion 1970.‹«315 Ähnliche Zeichen der Verständigung kamen auch von Vogel, der an Stange schrieb: »Lassen Sie mich bitte für meine Seite versichern, sehr geehrter Herr Kollege, daß wir bereit sind, zu einer guten Zusammenarbeit beizutragen.«316 Mit der Durchführung einer »Gravierenden Aktion« war ein Präzedenzfall geschaffen, auf den sich die DDR in künftigen Verhandlungen berief. Tatsächlich kam es auch 1971 und 1972 zu derartigen Sondervereinbarungen für besonders hoch bestrafte Häftlinge. Neben dem Wunsch nach einer Verbesserung der Beziehungen zur DDR durch ein Entgegenkommen auf dem Häftlingssektor waren humanitäre Beweggründe ausschlaggebend. Stange legte Vogel anlässlich der »Gravierenden Aktion« 1972 die Motive seiner Auftraggeber dar: »Den Sinn eines Sonderarrangements erblickt meine Seite […] darin, daß in erster Linie die Lösung von schweren und schwersten Fällen ermöglicht wird. Darunter werden aus humanitären Gründen vor allem solche Personen verstanden, die zu hohen und höchsten Freiheitsstrafen verurteilt worden sind und sich schon seit längerer Zeit in Haft befinden. Nur ein repräsentativer Anteil solcher Fälle an der Zusammensetzung des Sonderarrangements rechtfertigt die außerordentlichen Aufwendungen, zu denen sich meine Seite in diesem Zusammenhang bereit finden will.«317
Dabei schwankte die Höhe der Gegenleistung zwischen dem Vier- und dem Fünffachen des »normalen« Satzes von 40 000 DM. Die im Juni 1971 vereinbarte »Gravierende Aktion« betraf 96 schwerstbestrafte Häftlinge, für welche 314 315 316 317
Vermerk Vogels, 24.6.1970; HGWS, HF 51. Stange an Vogel, 25.9.1970; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18437, Bl. 5. Vogel an Stange, 29.8.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 45. Stange an Vogel, 28.4.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 4.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
die Bundesregierung 18 Millionen DM gutschrieb, durchschnittlich 187 500 DM pro Fall. Die dritte Sonderaktion im Jahr 1972 umfasste 121 Häftlinge für 19,36 Millionen DM, durchschnittlich 160 000 DM pro Inhaftiertem.318 Auch bei der Entlassung von Häftlingen, die im Westen inhaftiert waren, kam die Bundesregierung den Wünschen der DDR entgegen. Waren es von 1964 bis 1969 nur wenige Fälle, in denen das Bundesjustizministerium eine Entlassung aus der Untersuchungshaft noch vor Prozessbeginn erwirkt hatte, so kehrte sich das Verhältnis nach dem Regierungswechsel 1969 um. Von den 27 Häftlingen, die von der Wahl Brandts bis zu seinem Rücktritt 1974 im Rahmen von Austauschverhandlungen aus der Haft in der Bundesrepublik kamen, wurden 23 noch vor ihrer Verurteilung entlassen.319 Diese Großzügigkeit bewirkte wiederum ein Entgegenkommen der DDR: Freudig informierte Stange im Herbst 1971 Bischof Kunst, dass die noch laufende Häftlingsaktion schon jetzt ein »gutes Ergebnis« darstelle, vor allem wegen der Entlassung zahlreicher Häftlinge mit hohen Strafen. »Dieses Ergebnis«, resümierte Stange, »war nur durch geglückte Verhandlungen über einen Austausch einer ganzen Reihe von Fällen möglich«.320
Das Abrechnungssystem Neben den Sondervereinbarungen über »Gravierende Aktionen« war seit 1969 eine vierstufige Skala zur Bestimmung der Gegenleistung für den jeweiligen Häftling in Gebrauch. Intern trugen die Markierungen, mit denen die Anwälte die Höhe des ausgehandelten Betrages kennzeichneten, die Bezeichnung »Symbole«:321
318 Zu den »Gravierenden Aktionen« bzw. »Sonderarrangements« der Jahre 1970–1971 siehe die Abrechnung Stanges für die Sonderaktionen 1971–1973, 4.6.1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 7 und den Vermerk Volperts »Gegenüberstellung der gravierenden Aktionen 1970, 1971 und 1972«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18029, Bl. 82. Zu den einzelnen Aktionen vgl. die Aufstellung Volperts »Laufende Abrechnung 1971«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 16; Vermerk Volperts »Abschluß des 90er Komplexes 1971«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17614, Bl. 1; Stange an Vogel, 28.8.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 47 f.; Abrechnungsunterlagen Volperts für 1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 43. 319 Liste der Entlassungen aus Gefängnissen der Bundesrepublik, 9.5.1974, HGWS, HF 38. 320 Stange an Kunst, 28.10.1971; EZA, 742/284. 321 Stange an Vogel, 4.2.1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 80.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
0
=
Keine Bewertung
F
=
Gegenwert einer Familienzusammenführung
≙ 11 000 DM
=
Halber Satz
≙ 20 000 DM
x
=
Einfacher Satz
≙ 40 000 DM
xx
=
Doppelter Satz
≙ 80 000 DM
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In der alltäglichen Praxis vermerkten die Anwälte auf ihren Listen jeweils links neben dem Namen und den Daten des Häftlings das entsprechende »Symbol«.322 Abgesehen davon, dass sich das System abgestufter Gegenleistungen weit von dem ursprünglichen Grundsatz entfernt hatte, die Häftlinge dürften unter keinen Umständen unterschiedlich »bewertet« werden, besaß das Verfahren eine Reihe schwerwiegender Nachteile. Erstens bestand erst am Ende einer Jahres Klarheit über die Leistungen der DDR und die Gegenleistungen der Bundesregierung, nicht schon zu dem Zeitpunkt, an dem sich Stange und Vogel auf eine namentliche Liste der einbezogenen Häftlinge geeinigt hatten. Das lag daran, dass die drei bis vier jährlichen Gutschriften der Bundesregierung jeweils vor Beginn der Entlassungen als Abschlagszahlungen geleistet wurden. Die Höhe der Gutschriften ergab sich dabei aus einer Überschlagsrechnung: Anzahl der zur Entlassung vereinbarten Häftlinge multipliziert mit dem »einfachen Satz«. Der endgültige Gegenwert, der wegen der Differenzierung der »Preisskala« sowohl deutlich über als auch unter diesem Schätzwert liegen konnte, stand erst am Ende der Verhandlungen fest.323 Zweitens gab es unterschiedliche Auffassungen zwischen den beiden Parteien, ab welchem Zeitpunkt die ausgehandelte Bewertung verbindlich sein sollte. Stange hatte diesbezüglich klare Anweisungen von Hoesch erhalten: In einem Brief an Vogel schlug er vor, sich bereits vor der Entlassung darüber zu verständigen, »welche Bewertung der einzelne Fall erfahren« solle, wobei diese Absprachen aber nur ein »vorläufiger Anhaltswert« seien. »Die Schlussabrechnung«, so Stange, »wird dadurch […] nicht präjudiziert. […] meine Seite muß sich auch weiterhin vorbehalten, nachträglich gewonnene Erkenntnisse bis zum Zeitpunkt der Schlussabrechnung noch geltend machen zu können.«324 Dafür gab es einen nur allzu verständlichen Grund: Wenn sich bei der Befragung des Häftlings in Gießen herausstellte, dass er seine Strafe voll verbüßt 322 Faksimile einer Liste siehe Bildteil. 323 Vermerk Sannes, 24.11.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 132, 132A, S. 480–482. 324 Stange an Vogel, 4.2.1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 80.
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hatte, obwohl die DDR eine vorzeitige Entlassung zugesagt hatte, wollte sich die Bundesregierung eine Minderung des Gegenwertes vorbehalten. Gleiches galt für die Mittäter, die von der DDR benannt wurden: Bei ihrer Befragung in Gießen durch die Anwälte der Rechtsschutzstelle mussten diese des Öfteren feststellen, dass es sich »nachweislich um Einzeltäter«, gelegentlich auch mit kriminellen Vorstrafen handelte.325 Nicht ohne Grund argwöhnte man, dass die DDR versuchen würde, sich auf diesem Wege krimineller Häftlinge gewinnbringend zu entledigen. Aus nahe liegenden Gründen wollte die Bundesregierung in solchen Fällen keine Gegenleistung erbringen. Das sah Vogels Auftraggeber Volpert naturgemäß anders. Vogel bemerkte in einem Schreiben an Stange: »Sie übersehen, sehr geehrter Herr Kollege, dass die vor der Entlassung vereinbarte Berechnung Voraussetzung für die Entlassung ist und darum verbindlich sein muß. ›Nachträglich gewonnene Erkenntnisse‹ können nur akzeptiert werden, wenn sie die Beurteilung des Falles grundlegend und eklatant verändern. Insofern muß darauf bestanden werden, daß die Schlussabrechnung mit der Entlassung auf der Grundlage der vereinbarten Berechnung sehr wohl präjudiziert wird.«326
Der Dissens in einer derart grundlegenden Frage führte zu unterschiedlichen Vorstellungen über die Höhe der Gegenleistungen und folglich zu Streit in den Verhandlungen über die Endabrechnung. Drittens und letztens bestanden teils entgegengesetzte Auffassungen über die Kriterien, die für die Einstufung des Häftlings in die eine oder die andere »Preiskategorie« maßgeblich sein sollten. Für die Bundesregierung war vor allem die Höhe des Strafrestes ausschlaggebend. Hatte der Betreffende die Strafe voll verbüßt und konnte danach direkt in die Bundesrepublik ausreisen, kam der Satz einer Familienzusammenführung zur Anrechnung, lag der Strafrest unter drei Monaten, so bewertete Stange den Betreffenden mit dem Symbol für den »Halben Satz«. Nur in besonderen Fällen, d. h. bei besonders hart bestraften Häftlingen oder besonders hohen Strafresten, war die Bundesregierung zur Zahlung des doppelten Gegenwertes bereit. Ferner war das Vorliegen einer kriminellen Vorstrafe ein Grund, die Gegenleistung gänzlich zu verweigern. Ein weiteres Kriterium konnte sein, ob der Betreffende in die Bundesrepublik oder in die DDR entlassen wurde.327 Aus westlicher Sicht sollten die Ausbildung oder die berufliche Tätigkeit des Betroffenen keinen Einfluss auf die Höhe der Gegenleistung haben.
325 Siehe hierzu beispielsweise Stange an Vogel, 30.9.1970; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18437, Bl. 1. 326 Vogel an Stange, 16.2.1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 73. Hervorheb. i. O. 327 Stange an Kunst, 15.6.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 400.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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Auch hier vertrat Volpert eine gegenteilige Auffassung. Noch am ehesten akzeptierte er die Reduzierung der Gegenleistung auf den halben Satz, wenn der betreffende Häftling einen Strafrest von weniger als drei Monaten hatte.328 Anders sah es bei Häftlingen aus, die zwar kriminelle Vorstrafen hatten, aber zum Verhandlungszeitpunkt wegen eines politischen Deliktes, z. B. eines Fluchtversuches inhaftiert waren. Einige Beispiele aus den Verhandlungen über die Entlassungsaktion 1970 verdeutlichen dies. Während die Bundesregierung wegen der kriminellen Vorbelastung keine Gegenleistung erbringen wollte (»Kriminell vorbestraft in der DDR zu 1 Jahr, 10 Monaten wegen Vergewaltigung«), bestand Volpert auf dem »halben Satz«, da der Betreffende aktuell wegen eines Fluchtversuches inhaftiert war (»festgen. eindeutig § 213 [= Fluchtversuch], ČSSR«).329 Gleiches galt häufig in Bezug auf die Fälle mit doppelter Gegenleistung: Während die Bundesregierung dies ablehnte (»Besondere Umstände, die eine Doppelberechnung rechtfertigen, liegen nicht vor.«), forderte Volpert die erhöhte Gegenleistung, weil der Betreffende z. B. in einer hervorgehobenen beruflichen Stellung tätig war (»Kamera-Assistent DFF«330) oder zur medizinischen oder technischen »Intelligenz« gehörte (»med. Student 9. Semester, Ass.[istenz] Arzt«; »Laborant«; »Student vor Abschluß«; »techn.[ische] Zeichnerin«; »MTA[Medizinisch-Technische Assistentin]«; »Ing.[enieur]«)331. Unausweichliche Folge dieser unterschiedlichen Auffassungen war, dass zwischen der Endabrechnung der DDR auf der einen Seite und der Endabrechnung der Bundesrepublik auf der anderen Seite eine Differenz von mehreren Million DM liegen konnte. 1971 beispielsweise zählte die Bundesregierung 140 Häftlinge gar nicht und wollte 185 Häftlinge mit dem halben Satz vergüten, die DDR akzeptierte hingegen nur 6 Häftlinge ohne Bewertung und stufte 145 in die Kategorie »halber Satz« ein. Besonders deutlich gingen die Auffassungen bei den Einfach- und Doppelbewertungen auseinander: Während die Bundesregierung 806 Häftlinge einfach und 91 doppelt zählte, forderte die DDR in 875 Fällen die einfache Gegenleistung und in 178 Fällen die Zahlung des doppelten Betrages. Summa summarum lag die Abrechnung der DDR knapp 9 Millionen DM über der vom Westen errechneten Summe.332 Das Verfahren und der permanente Streit über die Bewertung belastete das Verhandlungsklima und verzögerte die Endabrechnung um Monate, teilweise 328 Vgl. exemplarisch die hs. Randnotizen Volperts (»stimmt«) zu den strittigen Bewertungen der 1970 entlassenen Häftlinge in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 19013, Bl. 60, 62 u. 64. 329 Hs. Notiz Volperts; ebenda, Bl. 64, weitere Fälle Bl. 60–125. 330 BStU, MfS, HA IX, Nr. 19013, Bl. 72. 331 Ebenda, Bl. 80, 82, 103 u. 107. 332 Vgl. Anlage 7 zum Schreiben Stanges an Vogel, 4.6.1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 9.
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sogar um Jahre. 1971 war die Abrechnung für die Vereinbarung des Jahres 1969 nach wie vor nicht einvernehmlich geklärt,333 sodass Stange seinem Kollegen vorschlug, »zunächst die offensichtlich unrichtigen Zählungen Ihrer Seite zu eliminieren (Doppelzählungen, Entlassungen anderer Jahre, […] Fälle ohne Strafrest)«. Nach dieser Bereinigung der Listen würde sich, so hoffte Stange, die von der DDR geltend gemachte Differenzsumme verringern. Für den verbliebenen Betrag biete seine Seite einen »pauschalen Kompromiß auf der Basis 50 zu 50« an. Andernfalls müsse über die Bewertungen jedes Einzelfalls »detailliert verhandelt« werden.334
Der Grundlagenvertrag – Überlegungen für das Ende des Freikaufs In der DDR kam es rund 20 Jahre nach der Staatsgründung zu einem Machtwechsel: Am 3. Mai 1971 verkündete das Zentralkomitee der SED den Rückzug Walter Ulbrichts von seinem Posten des Ersten Sekretärs des ZK und gab die Wahl Erich Honeckers, bisher ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, zu seinem Nachfolger bekannt. Die Ablösung Ulbrichts war von langer Hand vorbereitet. Seit der Mitte der sechziger Jahre hatte Honecker darauf hingearbeitet und die Mehrheit der Politbüromitglieder auf seine Seite gezogen. Im Januar 1971 schlugen 10 der 14 Politbüromitglieder dem sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew in einem Brief vor, Ulbricht in einem persönlichen Gespräch davon zu »überzeugen«, er möge wegen seines Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit um seine Ablösung bitten. Nachdem Breschnew dem Gesuch der Genossen aus Ost-Berlin zugestimmt hatte, musste sich Ulbricht in sein Schicksal fügen.335 Honecker grenzte sich in mehrfacher Hinsicht vom Kurs seines Vorgängers ab. Während Ulbricht mit seinem selbstherrlichen Verhalten bei der Moskauer Führung des Öfteren angeeckt war, eine größere ideologische Eigenständigkeit der DDR gegenüber der Sowjetunion beanspruchte und die ökonomische Kooperation mit der Bundesrepublik zwecks technologischer Modernisierung der DDR-Wirtschaft vorantrieb, setzte Honecker demgegenüber anfangs auf eine Vertiefung der politischen und ökonomischen Beziehung zur UdSSR. Das Ulbricht’sche Modernisierungsmantra sollte durch die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, faktisch eine »Beschwichtigungspolitik« mit massiven Investitionen in Konsum- und Sozialprogramme wie z. B. dem Woh333 Stange an Vogel, 18.6.1971; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 52. 334 Stange an Vogel, 13.4.1971; ebenda, Bl. 74. 335 Kaiser, Monika: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SEDDiktatur in Konfliktsituationen, 1962 bis 1972. Berlin 1997.
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nungsbau, ersetzt werden.336 Trotz dieser Unterschiede blieben die beiden wichtigsten außenpolitischen Ziele gleich: Volle diplomatische Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik und Aufnahme beider Staaten in die Vereinten Nationen. Was die Fragen des Verkaufs von Häftlingen und die Genehmigung von Ausreisen gegen Bezahlung betraf, war Honecker wahrscheinlich schon vor dem Machtwechsel als verantwortlicher ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen damit befasst.337 Seinem Nachfolger, dem Politbüromitglied Paul Verner, übertrug Honecker offenbar die Oberaufsicht über den Vorgang.338 Bereits vor Honeckers Amtsantritt hatten deutsch-deutsche Gespräche über ein Transitabkommen für den Berlinverkehr und einen Verkehrsvertrag begonnen. Verhandlungsführer für die Bundesrepublik war Egon Bahr, seit dem Regierungswechsel Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Seitens der DDR wurde Michael Kohl (»Rot-Kohl«) beauftragt, der als Staatssekretär für westdeutsche Fragen beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und als Mitglied der Außenpolitischen Kommission beim Politbüro der SED sowohl in den Staats- als auch in den Parteiapparat eingebunden war.339 Voraussetzung für die Aufnahme bilateraler deutsch-deutscher Verhandlungen war die Verständigung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion im Moskauer Vertrag vom August 1970. Der Vertrag beinhaltete ein Bekenntnis zur Erhaltung des Friedens, zu Gewaltverzicht, zur Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und schuf die atmosphärische sowie praktische Grundlage für die Gespräche zwischen Bonn und Ost-Berlin.340 Den Höhepunkt des Annährungsprozesses bildete indes die dritte Verhandlungsrunde zwischen Egon Bahr und Michael Kohl über einen »Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik« (Grundlagenvertrag). Sie begann am 15. Juni 1972 mit einem Meinungsaustausch zwischen beiden Delegationen. Bahr machte bei der Eröffnung deutlich, aus Sicht der Bundesregie336 Steiner: von Plan zu Plan, S. 167; Mählert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR. 6., überarb. Aufl., München 2009, S. 117 f.; Weber: DDR, S. 86. 337 Vgl. Kap. III. 338 Vgl. S. 205 zu den Verhandlungen Bahrs mit Verner im Dezember 1972. 339 Müller-Enbergs, Helmut; Barth, Bernd-Rainer: Michael Kohl. In: Müller-Enbergs, Helmut; Wielgohs, Jan; Hoffmann, Dieter (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Berlin 2000, S. 452. 340 Vgl. Sarotte, Mary Elise: Dealing with the devil. East Germany, détente, and Ostpolitik, 1969–1973. Chapel Hill 2001; Fischer, Frank: Im deutschen Interesse. Die Ostpolitik der SPD von 1969 bis 1989. Husum 2001; Vogtmeier, Andreas: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung. Bonn 1996; Schmid, Günther: Politik des Ausverkaufs? Die Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel. München 1975.
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rung sei es »völlig abnorm, auch zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, das Problem der Familienzusammenführung nicht zu lösen«. Es gebe gegenwärtig rund 7 000 Fälle getrennter Familien, mehrheitlich getrennte Verlobte, sowie über 1 000 Minderjährige, deren Eltern in Westdeutschland wohnten.341 Die Menschen in Deutschland würden kein Verständnis für die Notwendigkeit des angestrebten Vertrages aufbringen können, wenn es hier keine sichtbaren Fortschritte gäbe. »Die Normalisierung auf diesem Gebiet« müsse nach der Unterzeichnung des Dokuments für die Menschen »fühlbar« sein.342 Das Anliegen der Bundesregierung sei »kein theoretisches Problem«, sondern vielmehr »eine vorrangige humanitäre Frage«.343 »Normalisierung« bedeute überdies die Einführung eines Verfahrens, das »die bisherigen Methoden beendet«.344 Kohl reagierte zurückhaltend, zumal er offensichtlich nicht über die entsprechende Sachkenntnis verfügte. Mitte August berichtete er Bahr, dass er mit Honecker gesprochen habe. Es handele sich »um ein sehr schwieriges Problem«, das »sorgfältigst« geprüft werden müsse.345 Ende September 1972 teilte Kohl mit, seine Seite wäre zu einem Briefwechsel über Familienzusammenführungen und Reiseerleichterungen bereit. Das Zugeständnis sei eine »›Morgengabe‹«, für die man »von Herrn Erhard« »noch einige Milliarden bekommen« habe,346 eine Anspielung auf den Altbundeskanzler, in dessen Amtszeit die »Besonderen Bemühungen« im großen Umfang begonnen hatten. Zudem würde man Familienzusammenführungen in dreistelliger Höhe genehmigen.347 Als Geste des guten Willens348 und als Druckmittel, um die Bundesregierung zu einem Entgegenkommen gegenüber Wünschen der DDR zu bewegen, war auch die Amnestie zum 23. Jahrestag der Gründung der DDR gedacht. Unter der Auflage, nur den Bundeskanzler zu unterrichten, informierte Kohl seinen Gesprächspartner Bahr über die geplante Amnestie. Sie werde auch »politische Delikte« [sic!] umfassen, so der Wortlaut in Kohls Vermerk, und 341 Stenografische Niederschrift des Meinungsaustauschs zwischen Staatssekretär Kohl und Staatssekretär Bahr, 15.6.1972; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 298; vgl. Nr. 294. 342 Stenografische Niederschrift des Meinungsaustauschs zwischen Staatssekretär Kohl und Staatssekretär Bahr, 21./22.6.1972; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 307. 343 Protokoll der Delegationssitzung anläßlich der 5. Begegnung der Staatssekretäre Bahr/Kohl, 17.8.1972; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 329. 344 Vermerk Bahrs, 16./17.8.1972; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 330. 345 Ebenda. 346 In Bezug auf Häftlingsfreikauf und Familienzusammenführungen handelte es sich um Millionen-, nicht Milliardenbeträge. Vermerk Bahrs für Brandt und Scheel, 28.9.1972; DzD VI/2 (1971– 1973), CD-Nr. 356. 347 Niederschrift Kohls über eine Unterredung mit Bahr am 25. Oktober 1972, 25.10.1972; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 399. 348 Raschka: Justizpolitik, S. 58.
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könne sich zudem auf Bürger der Bundesrepublik beziehen, was jedoch »allein bei der Regierung der BRD« liege.349 Bahr zeigte sich erfreut und bat Kohl im Gespräch am 12. Oktober, ihm die Zahl der einbezogenen Bundesbürger zu übermitteln, denn dies könne »eine große Unterstützung im Wahlkampf« sein.350 Durch den Übertritt mehrerer FDP-Abgeordneter zur CDU hatte die sozialliberale Koalition im April 1972 ihre Mehrheit verloren, ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Brandt war jedoch gescheitert. Im September stellte der Kanzler die Vertrauensfrage, die wie erwartet negativ ausfiel. Bundespräsident Gustav Heinemann löste den Bundestag daraufhin auf. Für den 19. November 1972 waren Neuwahlen anberaumt. Zwei Tage vor der Paraphierung des Grundlagenvertrages am 8. November vereinbarte Stange mit seinem Kollegen Vogel, dass die Ausreisen der amnestierten Häftlinge mit 20 000 DM pro Fall vergütet würden.351 Insgesamt, so eine wahrscheinlich mündlich getroffene Absprache zwischen Vogel und Stange, sollten 2 700 bis 3 000 Amnestierte in die Bundesrepublik ausreisen dürfen.352 Anlässlich der Paraphierung übergab Kohl zudem eine Liste mit den Namen von 308 Kindern an Bahr, deren Ausreise zu ihren Eltern genehmigt sei.353 Nach dem Abschluss der Zeremonie fragte Bahr seinen Verhandlungspartner Kohl, ob jetzt nicht der passende Zeitpunkt gekommen wäre, »den Häftlingsfreikauf auf eine geordnete, staatliche Basis zu heben«.354 Er habe von der Vereinbarung über die Bezahlung der Ausreisen amnestierter Häftlinge gehört, bei denen angeblich das »Kopfgeld« erhöht worden sei. Es habe im Verlauf der Verhandlungen zwischen ihm und Kohl doch Übereinstimmung darüber bestanden, dass dieses »unwürdige Verfahren aufhören müsse«.355 Schließlich könne es weder für die Bundesrepublik noch für die DDR »angenehm« sein, jedenfalls befinde sich diese Praxis nicht auf dem von der DDR angestrebten »Weltniveau«.356 Kohl versprach Bahr, die Nachricht weiterzuleiten. Bahr informierte seinerseits den Kanzler, der ihm grünes Licht für den Versuch gab, alle humanitären Bemühungen künftig auf offizieller Ebene zu regeln.357 Aus der Sicht Brandts 349 Vermerk Kohls über das Gespräch mit Bahr, 27.9.1972, DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 364. 350 Niederschrift Kohls über die Unterredung mit Bahr am 12.10.1972; DzD VI/2 (1971– 1973), CD-Nr. 380. 351 Stange an Vogel, 6.11.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 14; vgl. Abrechnung Stanges für den Zeitraum 1971 bis 31.1.1973, 4.6.1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 7. 352 Vermerk wahrsch. des BMB; DzD VI/2 (1971–1973), Nr. 214A, S. 709. 353 Vorlage Bahrs für Franke, 9.11.1972; DzD VI/2 (1971–1973), Nr. 209, S. 703. 354 Bahr: Zu meiner Zeit, S. 436. 355 Vermerk Sannes über ein Gespräch Bahrs mit Seidel, 10.11.1972; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 423; vgl. auch CD-Nr. 425. 356 Bahr: Zu meiner Zeit, S. 436. 357 Ebenda.
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und Bahrs war eine Beendigung der Freikaufspraxis eine logische Konsequenz aus dem Grundlagenvertrag: Wenn die beiden Staaten künftig auf quasidiplomatischer Ebene über die Ständigen Vertretungen miteinander verkehren würden, müsste man sich nicht länger der ebenso umständlichen wie konspirativen Verhandlungsschiene über die Anwälte bedienen. Wenn die DDR überdies bereit war, »praktische und humanitäre Fragen zu regeln«, wie es Art. 7 des Vertrages vorsah, dann waren Gegenleistungen nicht länger notwendig.358 Sicher spielte für Bahr auch der Gedanke eine Rolle, durch die Formalisierung der Ausreisemöglichkeiten die »Transformation« der anderen Seite zu beschleunigen, die erklärtes Ziel der Ostpolitik war. Kohl informierte Bahr wenig später, dass er die Mitteilung weitergegeben habe und Bahr diese Frage mit Paul Verner, dem Politbüro-Mitglied und Nachfolger Honeckers als ZKSekretär für Sicherheitsfragen, besprechen könne.359 Unter dem Eindruck des überraschend deutlichen Wahlsieges der Koalition – die SPD gewann mit 45 Prozent die meisten Stimmen – wurde am 21. Dezember 1972 der Grundlagenvertrag unterzeichnet. Im Anschluss an die Pressekonferenz trafen Egon Bahr und Ministerialdirektor Carl-Werner Sanne aus dem Bundeskanzleramt wie vereinbart mit ZK-Sekretär Paul Verner und DDR-Außenminister Otto Winzer zu einem Gespräch zusammen. Im Verlauf der Unterredung kamen Bahr und Verner auf die Frage der Ausreisen der amnestierten Häftlinge und die künftige Handhabung der humanitären Fragen insgesamt zu sprechen. Offensichtlich in Unkenntnis der zwischen Stange und Vogel getroffenen Vereinbarung über die Verrechnung der AmnestieAusreisen behauptete Verner, es werde für die inzwischen über 1 000 ausgereisten amnestierten Häftlinge keine Gegenleistung gefordert. Bahr, der es besser wusste, bemerkte hierzu, »er sei sich mit Staatssekretär Kohl einig, dass der unwürdige Zustand der Zahlung von Kopfgeldern aufhören müsse«. Verner bestätigte, »man müsse mit diesen Sachen aufhören«, worauf Bahr »präzisierte, man müsse mit den Geldzahlungen aufhören«. Verner korrigierte sich dahingehend, dass dieses »überhaupt aufhören« müsse und Otto Winzer bemerkte, auch »mit dem Anwaltskanal könne man aufhören«, da künftig die Fachabteilungen in den Ständigen Vertretungen für derlei Fragen zuständig sein würden.360 Verner bekräftigte, dass nach Auffassung der DDR »keinerlei
358 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 8.11.1972, Nr. 155, S. 1842–1844. 359 Bahr: Zu meiner Zeit, S. 436. Im Büro Verner sind keine diesbezüglichen Unterlagen überliefert. 360 Vermerk Sannes über das Gespräch Bahrs mit Verner und Winzer, 21.12.1972; DzD VI/2 (1971–1973), Dok. 216, S. 716.
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finanzielle Forderungen im Zusammenhang mit der Ausreise von Bürgern aus der DDR zu stellen« seien.361 Bahr war befriedigt und erklärte Verner, er sei »sehr einverstanden, dass das Geschäft über die Anwälte auf ein Maß reduziert werde, wie es zwischen Staaten üblich sei«.362 Auch Michael Kohl bestätigte Bahr in einem anschließenden Gespräch nochmals, dass die Zahlung von Kopfgeldern damit beendet sei und es künftig »keinen Menschenhandel mehr geben« werde. Die Bundesregierung, so Bahrs Aufzeichnung über das Gespräch, könnte dies der DDR »jederzeit vorhalten, wenn es anders sein sollte. Die Praxis werde es bestätigen«.363 Als Bahr das Versprechen in schriftlicher Form haben wollte, beendete Kohl die Diskussion jedoch mit der Bemerkung, das schließlich »das Wort eines Mitglieds des Politbüros […] ausreichend« sei.364 Egon Bahr war über den Ausgang der Verhandlungen »ein wenig stolz, jedenfalls fröhlich«.365 Anscheinend hatte das Konzept der Ostpolitik, die DDR als zweiten deutschen Staat anzuerkennen und sich um eine vertragliche Übereinkunft mit den Machthabern in Ost-Berlin zu bemühen, zum Erfolg geführt. Über die Zusammenführung von Familien, so glaubte Bahr, werde man künftig auf der offiziellen Ebene der Ständigen Vertretungen verhandeln können und die DDR werde gemäß den Bestimmungen des Grundlagenvertrages legale Ausreisen mindestens im bisherigen, womöglich noch größeren Umfang genehmigen. Damit, so die Hoffnung, würde auch der Freikauf politischer Häftlinge auf lange Sicht obsolet werden. Schließlich handelte es sich bei den Inhaftierten seit Ende der sechziger Jahre überwiegend um Menschen, die wegen eines Fluchtversuches verurteilt worden waren.366 Zehn Jahre nach dem Freikauf der ersten acht politischen Häftlinge und acht Jahre nach dem Beginn der Bemühungen um getrennte Familien schien es, als ob mit den Ostverträgen das Kapitel »Freikauf« abgeschlossen sei.
361 Vermerk über das Gespräch Verners und Winzers mit Bahr, 21.12.1972; DzD VI/2 (1971– 1973), Dok. 217, S. 721. 362 Vermerk Sannes über das Gespräch Bahrs mit Verner und Winzer, 21.12.1972; DzD VI/2 (1971–1973), Dok. 216, S. 717. 363 Vermerk Bahrs über das Gespräch mit Kohl am 21.12.1972, 4.1.1973; DzD VI/2 (1971– 1973), CD-Nr. 438. 364 Niederschrift Kohls über Gespräche mit Bahr, 21.12.1972; DzD VI/2 (1971–1973), CDNr. 439. 365 Bahr: Zu meiner Zeit, S. 437. 366 Zur erhofften Liberalisierung des politischen Strafrechts vgl. den Vermerk Hoeschs, 7.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), S. 171–177, hier 174.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
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Entlassungen in die DDR
Das Titelbild dieses Buches zeigt zwei der Omnibusse am Grenzübergang Wartha/Herleshausen, mit denen die freigekauften Häftlinge von Karl-MarxStadt nach Gießen gebracht wurden. Tatsächlich bedeutete die Einbeziehung in den Häftlingsfreikauf seit Mitte der siebziger Jahre in der Regel zweierlei: Erstens die vorzeitige Entlassung aus der Haft und zweitens die Ausreise in die Bundesrepublik. Im Zeitraum bis circa 1972, in dem der Freikauf noch keine institutionalisierte Hilfsmaßnahme darstellte, war dies jedoch nicht zwangsläufig gegeben. Ein Blick auf die zahlenmäßige Entwicklung des Freikaufs, aufgeschlüsselt nach Entlassungen in die Bundesrepublik und Entlassungen in die DDR, zeigt ein anderes Bild (siehe Tabelle 1 im Anhang). Besonders auffällig ist die hohe Zahl der Entlassungen in die DDR in den Anfangsjahren. Betrachtet man nur die sechziger Jahre, so zeigt sich, dass deutlich mehr als 2 100 Häftlinge, rund 43 Prozent aller bis zu diesem Zeitpunkt freigekauften, in die DDR entlassen wurden. Selbst für das gesamte Jahrzehnt von 1963 bis einschließlich 1972 lag die Zahl der in die DDR entlassenen Häftlinge bei knapp 3 000 Personen, ein Anteil von 37 Prozent.367 Tendenziell sank die Zahl der Ostentlassungen: Bis einschließlich 1966 wurden mehr Häftlinge in die DDR als in die Bundesrepublik entlassen (1 434 Ostentlassungen zu 1 427 Westentlassungen), erst mit Abschluss der Freikaufsvereinbarung des Jahres 1967 übertraf die Gesamtzahl der Westentlassungen jene der Ostentlassungen (1 762 West zu 1 630 Ost).368 Da sich vor allem in den ersten Jahren des Freikaufs unter den in den Westen Entlassenen viele Häftlinge befanden, die vor ihrer Verhaftung in der Bundesrepublik gewohnt hatten und daher ohnehin nach Verbüßung ihrer Strafe in den Westen entlassen worden wären, befanden sich unter den in den Westen Entlassenen sogar noch weniger »Ostdeutsche«.369
367 Ohne die 1972/73 amnestierten und ausgereisten Häftlinge. 368 Siehe Tabelle 1 im Anhang. 369 Der Anteil der Bundesbürger an den Freigekauften in diesem Zeitraum war mangels aussagekräftiger Statistiken nicht zu ermitteln. Eine Sichtung der Einzelfallakten war aus datenschutzrechtlichen Gründen sowie wegen des damit verbundenen Aufwandes nicht möglich. In anderen Überlieferungen finden sich nur vereinzelte Hinweise. 1964 bestand das Kontingent der in den Westen entlassenen Häftlinge zur Hälfte aus Bundesbürgern oder Westberlinern. Wölbern: Entstehung, S. 865, Anm. 64. 1965 waren ca. 1/3 der in den Westen entlassenen Freigekauften Bundesbürger oder Westberliner, Angaben des Bundesministers für Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Gradl; PA, AGBF, 5. WP, 9. Sitzung am 23.6.1966, S. 6 f. Noch im September 1967 klagte Weihbischof Tenhumberg darüber, es seien bei einem der Bustransporte in den Vormonaten »nicht einmal 50 % der aus Mitteldeutschland stammenden […] in die Bundesrepublik entlassen« worden. Aktennotiz Tenhumbergs, 29.9.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 460, Anm. 2.
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Dieser Befund überrascht, weil die erstaunlich hohe Zahl der Entlassungen in die DDR bislang nirgends erwähnt wird.370 Vor allem aber steht sie in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse der Häftlinge auf der einen und dem Interesse der DDR auf der anderen Seite. Schließlich ist davon auszugehen, dass viele Haftentlassene den Wunsch hatten, die DDR zu verlassen, da sie sich gegen das System aufgelehnt hatten und deshalb im Falle der Rückkehr an ihren Heimatort in der DDR mit weiterer Überwachung und Schikanierung durch die Behörden rechnen mussten. Folglich war es das Ziel der Bundesregierung, den freigekauften Häftlingen zumindest die Ausreise zu ermöglichen, gleichgültig, ob sie davon Gebrauch machen wollten oder nicht. Das Interesse von SED und MfS war dem entgegengesetzt, da Entlassungen in den Westen ihrem Ziel entgegenstanden, Flucht und Ausreise zu unterbinden. Welche Erklärung gibt es dann für die hohe Zahl der Entlassungen in die DDR? Spiegelt sich in den Zahlen gar der Wunsch vieler Häftlinge wider, in der DDR zu bleiben? Oder stand den Häftlingen die Ausreise anfangs nicht frei? Wie wurde das Entlassungsgebiet festgelegt? Ludwig Rehlinger äußert sich in seinen Memoiren zu der Bestimmung des Entlassungsortes im Jahr 1963: »Mit den Anwälten hatte ich verabredet, dass Stange jeden einzelnen Häftling in Ost-Berlin in Empfang nehmen, ihn nach West-Berlin bringen und den Anwälten in der Rechtsschutzstelle übergeben sollte.«371 Heinz Volpert, Rehlingers Gegenspieler in der DDR, hielt demgegenüber fest, dass der Westen zwar darauf gedrängt habe, dass alle Häftlinge »möglichst nach Westdeutschland zu entlassen« seien, am Ende sei jedoch die Vereinbarung getroffen worden, dass »Personen, die vor ihrer Verhaftung in der DDR gewohnt« hatten, »auch nur in die DDR« entlassen würden, »wobei Westdeutsche und Westberliner natürlich nach dort entlassen werden« sollten.372 Volperts Version scheint näher an der Wahrheit zu liegen: Zwar gelangten drei der acht Freigekauften noch am Tag ihrer Entlassung nach West-Berlin, die anderen fünf Häftlinge wurden jedoch an ihren früheren Wohnort in der DDR entlassen. Drei dieser fünf kamen bis Ende 1966 nachträglich in die Bundesrepublik, die beiden 370 Weder die meist journalistischen Publikationen der neunziger Jahre noch die jüngsten wissenschaftlichen Beiträge behandeln diesen Aspekt. Creuzberger: Gesamtdeutsches Ministerium, S. 371 f., z. B. geht unausgesprochen davon aus, dass »Freikauf« gleichbedeutend mit der Ausreise in die Bundesrepublik war. 371 Rehlinger: Freikauf, S. 29 f. 372 Op. Inf. Volperts, 27.4.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 20. In den Akten der Bundesregierung findet sich dazu nur die Notiz Rehlingers, dass Vogel die Häftlinge an Stange weitergeben würde, »sofern die Entlassung nach dem Westen genehmigt« worden sei. Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; ebenda, S. 64. Rehlinger war dies sechs Jahre später nicht mehr präsent. 1969 schrieb er über den Beginn der Sonderaktionen: »1963 wurden acht Häftlinge Zug um Zug nach Überstellung in WestBerlin gegen Bargeld […] ausgelöst«, Vermerk Rehlingers, 30.5.1969; ebenda, S. 625.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
letzten hingegen verblieben bis 1989 in der DDR. Einer der beiden erfuhr bis zu seinem Tod 1992 nicht, dass seine Entlassung auf einem Freikauf beruhte, der andere erst durch ein Zeitzeugengespräch mit dem Autor.373 Zur Bestimmung des Entlassungsgebietes seit der ersten Breitenentlassung im Jahr 1964 schreibt Rehlinger: »Dass die Entlassung nach dem Westen erfolgen sollte, darüber bestand inzwischen Einvernehmen. Sollte ein Häftling, aus welchen Gründen auch immer, nach der Begnadigung in der DDR verbleiben wollen, so sollte ihm diese Entscheidung selbstverständlich freistehen. Damit nun die Gefahr ausgeschlossen würde, daß ein Häftling – befangen in seiner bedrückenden Umgebung – in seinem Entschluß vielleicht unziemlich beeinflußt werden könnte, wurde verabredet, dass sich Stange persönlich durch ein Gespräch davon überzeugen könnte, daß der Entschluß des Häftlings, nach der Entlassung in der DDR verbleiben zu wollen, aus freien Stücken erfolgt sei.«374
In Prälat Wissings Erinnerungen, der das Katholische Büro von 1959 bis 1967 leitete, findet sich hingegen eine andere Darstellung. Wissing schreibt: »Selbst wenn ein Gefangener losgekauft war, konnte seine Akte nicht immer als abgeschlossen weggelegt werden. Das traf dann zu, wenn die Häftlinge, der Vorschrift entsprechend, zu Verwandten ersten Grades entlassen wurden und diese in der DDR lebten. Damit war eine erneute Konfrontation mit dem System vorprogrammiert. Zusätzliche Verhandlungen wurden dann notwendig, um diesen Personen die Mauer zum Westen hin zu öffnen.«375
Auch diese Darstellungen widersprechen sich. Konnten die aus der Haft Freigekauften ihren Entlassungsort frei wählen? Oder gab es eine Vereinbarung, dass sich der Entlassungsort »automatisch« nach dem Wohnort der engsten Angehörigen richtete? Ersteres hätte jedem Haftentlassenen die Möglichkeit eröffnet, in die Bundesrepublik auszureisen, im letzteren Fall hätten nur jene Häftlinge einen Anspruch auf Entlassung in die Bundesrepublik gehabt, deren Angehörige zum Zeitpunkt der Entlassung auch dort wohnten. »DDR-Bürger« ohne engste Angehörige im Westen hätten demnach keinen Anspruch auf eine Entlassung in die Bundesrepublik gehabt. Die zeitnah entstandenen Quellen geben auf die Frage nach dem »Wie« der Bestimmung des Entlassungsgebietes eine deutliche Antwort. Sie zeigen, dass Wissings und Rehlingers Versionen jeweils den Ausgangs- und Endpunkt einer Entwicklung bilden, die sich über mehrere Jahre erstreckte. Erst in einem allmählichen Prozess konnte die Bundesregierung die freie Wahl des Entlas373 Telefonat mit [Name anonymisiert], 21.7.2009. 374 Rehlinger: Freikauf, S. 57 [Hervorheb. d. A.]. 375 Wissing, Wilhelm; Höller, Karl R.: Gott tut nichts als fügen. Erinnerungen an ein Leben in bewegter Zeit. Mainz 2001, S. 156 [Hervorheb. d. A.].
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sungsortes gegenüber der DDR durchsetzen. Eine grundsätzliche, weil schriftlich niedergelegte und daher verbindliche Absprache zwischen den Anwälten, dass alle freigekauften Häftlinge – abgesehen von wenigen Ausnahmen – ihren Entlassungsort frei wählen konnten, findet sich erstmals für das Jahr 1972. In einem Brief Stanges an Vogel heißt es: »Den zur Entlassung vorgesehenen Personen wird grundsätzlich die Ausreise in die Bundesrepublik freigestellt. Stehen ausnahmsweise einer Entlassung in die Bundesrepublik zwingende Gründe entgegen, die nicht auf dem eigenen Willen der zu entlassenden Personen beruhen, wird Ihre Seite dies mitteilen und die maßgebenden Umstände darlegen. Falls die zu entlassenden Personen selbst eine Entlassung in die DDR wünschen, wird mir im Einzelfall […] Gelegenheit gegeben, die Betreffenden persönlich über ihre Entscheidung zu befragen.«376
Bis zu diesem Zeitpunkt galt lediglich eine Vereinbarung, die anlässlich der Verhandlungen im Sommer 1964 getroffen worden war. Seitens der Bundesregierung und der Kirchen war zunächst als Verhandlungsziel festgelegt worden, dass die Entlassung »nach Wahl des Häftlings« erfolgen müsse.377 Stange machte jedoch klar, dass die Gegenseite eine Entlassung aller Häftlinge in den Westen »aus grundsätzlichen Erwägungen« heraus strikt ablehnen werde.378 Immerhin konnte er folgende Regelung verbindlich aushandeln: All jene Häftlinge, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung bereits in der Bundesrepublik gewohnt hatten, sollten in den Westen entlassen werden. Auch jene Häftlinge, deren Ehepartner, Eltern oder Kinder zum Zeitpunkt der Entlassung im Westen wohnten, sollten ebenfalls in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Dabei war der Wohnort des Ehepartners ausschlaggebend, noch vor dem der Kinder oder Eltern.379 In der Praxis bedeutete dies, dass die Häftlinge zu ihren Familienangehörigen entlassen werden sollten, einerlei, ob diese in der Bundesrepublik oder der DDR wohnten. Noch 1968 bestätigte Rehlinger gegenüber Prälat Zinke, dass diese Grundsatzvereinbarung nach wie vor gelte und »expressis verbis« nie eine freie Wahl des Entlassungsortes beinhaltet habe.380 Die Vereinbarung vom 376 Stange an Vogel, 28.8.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 46 f. Womöglich wurde bereits 1970 und 1971 eine entsprechende Vereinbarung getroffen, da Vogel auf den Brief Stanges antwortete, so sei das »Prinzip der freien Entscheidung bisher auch gehandhabt worden«. Vogel an Stange, 29.8.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 45. 377 Vermerk Hoeschs, 9.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 154. 378 Vermerk Rehlingers, 23.7.1964; ebenda, S. 161. 379 Nur falls die Ehe geschieden oder im Scheidungsverfahren war, sollte der Wohnort der Eltern oder Kinder den Ausschlag geben. Vermerk Rehlingers, 27.7.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 164; Vermerk Rehlingers, 29.7.1964; ebenda, S. 166, Anm. 4. 380 Vermerk Zinkes, 13.2.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 497; Zinke an Tenhumberg, 13.8.1968; AEK, Zug. 683, Nr. 340b.
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Sommer 1964 wurde aber um eine »Kann-Bestimmung« ergänzt: Die Anwälte könnten über jene Häftlinge, deren »Lebensmittelpunkt« – d. h. der Wohnort der Angehörigen381 – zwar in der DDR liege, die aber »gleichwohl nach dem Westen zur Entlassung gelangen sollen«, gesondert verhandeln.382 Die Verhandlungsbereitschaft der DDR an sich präjudizierte indes keinen Erfolg der Bemühungen. 1964 beispielsweise konnten einige Häftlinge gegen die Zahlung von 370 000 DM abweichend von der Grundsatzvereinbarung in die Bundesrepublik ausreisen.383 Obwohl damit das ursprüngliche Ziel, den Häftlingen eine freie Wahl zu ermöglichen, nicht erreicht wurde, so war die Abmachung aus dem Jahr 1964 trotzdem eine Verbesserung gegenüber dem vorherigen Zustand. Wie bereits erwähnt,384 bestimmten die Vorschriften des DDR-Strafvollzuges, dass Bundesbürger in die Bundesrepublik, DDR-Bürger (im Sinne des Wohnortes zum Zeitpunkt der Verhaftung) hingegen an ihren früheren Wohnort in der DDR entlassen werden mussten.385 Dass die Angehörigen in vielen Fällen während der Haft in den Westen geflüchtet waren und die Entlassenen bei ihrer Rückkehr an ihrem früheren Wohnort auf sich allein gestellt waren, spielte für die Entscheidung der DDR-Organe keine Rolle. Durch die Vereinbarung im Rahmen der Freikaufsverhandlungen war immerhin sichergestellt, dass die Entlassenen wenigstens mit ihren engsten Angehörigen vereint waren. 1964 betraf dies allein rund 200 Häftlinge.386 Jürgen Stange sagte 1993 aus, dass die hohe Zahl der DDR-Entlassung in den Anfangsjahren »ein großes Elendskapitel« gewesen sei.387 Tatsächlich war der Verbleib in der DDR für viele ehemalige Häftlinge bloß eine Entlassung aus dem »›Kleinen Knast‹ in den ›großen Knast‹ namens DDR«.388 Selbst jene, die nicht schon einmal wegen eines Fluchtversuches im Gefängnis saßen, sahen oftmals keine Perspektive mehr und wollten die DDR unter allen Umständen verlassen. Besonders die hart bestraften Häftlinge mussten nach ihrer »Wiedereingliederung« häufig mit Schikanen rechnen, darunter die Fortdauer der »moralischen Ächtung« und Bespitzelung, die Benachteiligung bei der Zuteilung von Wohnraum und dem Verbot, den früheren Beruf auszuüben,
381 Definition Rehlingers, 30.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 626. 382 Stange an Krautwig, 29.7.1964; ebenda, S. 165. 383 Stange an Krautwig, 19.11.1964; ebenda, S. 196. 384 Siehe Unterkap. zur Familienzusammenführung in Kap III.1. 385 Musiolik an BMG, 23.1.1964; BArch-K, B 137/15633, S. 14 f. des Jahresberichtes für 1963. 386 Sachstandsvermerk Wissings, 5.10.1964; AEK, Zug. 683, Nr. 341. 387 PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133: Zeuge Jürgen Stange, S. 218 f. 388 Exemplarisch für zahlreiche andere Haftberichte siehe Hampe, Peter: Die DDR – mein Absurdistan. Innenansichten und Dokumente aus einem Überwachungsstaat. Berlin 2013, S. 162.
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schlimmstenfalls sogar eine neuerliche Verhaftung.389 Die Anwälte der Westberliner Rechtsschutzstelle wussten von zahlreichen Fällen, in denen ehemalige Häftlinge nach ihrer Entlassung »unter irgendeinem Vorwand« erneut verhaftet worden waren.390 Tatsächlich traf dies auch für einige der freigekauften Häftlinge zu: In mehreren Fällen wurden freigekaufte und in die DDR entlassene Häftlinge erneut verurteilt und ein zweites Mal freigekauft – oder auch nicht.391 Hinzu kam, dass sich manch ein vorzeitig Entlassener den Verdächtigungen seiner Freunde und Bekannten ausgesetzt sah, er habe sich die Haftzeitverkürzung durch eine Spitzeltätigkeit für das MfS »erkauft«. Perfiderweise war es den Beschuldigten nicht möglich, derartige Gerüchte glaubhaft zu widerlegen, sodass die vorzeitige Entlassung nicht selten zu einer Stigmatisierung führte. Ein drastisches Beispiel für die menschliche Tragik, die sich hinter den unfreiwilligen Entlassungen in die DDR verbarg, ist das Schicksal Paul Othmas, der wegen seiner Beteiligung am Volksaufstand am 17. Juni 1953 inhaftiert worden war.392 Er hatte an einem Demonstrationszug streikender Arbeiter in Bitterfeld teilgenommen, die ihn zu ihrem Sprecher ernannten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde Othma festgenommen und in nächtlichen Verhören unter Schlägen zu Geständnissen gezwungen, die er jedoch vor Gericht widerrief. Seine mäßigende Einwirkung auf die Menge bei der Erstürmung der U-Haft-Anstalt des MfS – er forderte die Demonstranten auf, die Waffen nicht anzurühren und Blutvergießen zu vermeiden – wurde zwar selbst von der Volkspolizei anerkannt, doch das Bezirksgericht Halle statuierte ein Exempel. Im November 1953 verurteilten die Richter Paul Othma zu zwölf Jahren Zuchthaus einschließlich Entzug seines gesamten Vermögens. Bei der Verkündung des Urteils brach er zusammen, gestand jedoch nie eine Schuld ein. Sämtliche Gnadengesuche seiner Frau wurden abgelehnt. Noch im Juni 1964 erhielt sie von der Kanzlei des Staatsrates der DDR die Mitteilung, dass keine Möglichkeit zur bedingten Strafaussetzung zur Bewährung bestünde, weil kein Schuldeingeständnis ihres Mannes vorliege: »Eine solche Entscheidung war leider nicht möglich, weil der notwendige Erziehungserfolg nach wie vor nicht erreicht ist und Ihr Ehemann bisher noch nicht über einen 389 Z. B. den Fall B. in: Posser an Kunst, 16.7.1965; EZA, 742/293; Fricke, Karl Wilhelm: Aus dem Zuchthaus entlassen, aber weiter gefangen. Das Schicksal ehemaliger politischer Häftlinge in der Zone. In: Die Welt v. 20.4.1965. 390 Musiolik an Schulz, 20.9.1963; Privatarchiv Familie Schulz. 391 Vgl. die Entlassungs- und Transportlisten von 1963 bis 1982 in: DRK, Suchdienst München, H 1067–1070, H 1882, H 1883, H 1898 u. H 1899. 392 Ahrberg, Edda; Hertle, Hans-Hermann; Hollitzer, Tobias (Hg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Münster 2004, S. 97–100.
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längeren Zeitraum zu erkennen gab, dass er ernstlich gewillt ist, die entsprechenden Schlussfolgerungen aus seinen verwerflichen Handlungen zu ziehen.«393
Die Bundesregierung setzte Paul Othma 1964 auf ihre Wunschliste.394 Im Widerspruch zu dem wenige Wochen zuvor erteilten Bescheid hieß es im Entlassungsbeschluss des Gerichtes plötzlich: »Der Verurteilte hat in der bisherigen Strafverbüßung durch gute Arbeitsmoral und Disziplin zu erkennen gegeben, dass er entsprechende Lehren aus seinem strafbaren Verhalten gezogen hat. Der Erziehungszweck ist als erreicht anzusehen.«395 Dass diese Kehrtwende der DDR-Behörden auf seinem Freikauf beruhte, ist weder in der Literatur zu Othma erwähnt, noch scheint es ihm selbst bewusst gewesen zu sein.396 Am 1. September 1964 wurde er nach Bitterfeld zu seiner Ehefrau entlassen. Ein halbes Jahr später wandte er sich an die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises Bitterfeld und beschwerte sich über die Schikanen, dass er nicht wieder in seinem alten Betrieb arbeiten konnte, ja nicht einmal seinen Entlassungsschein ausgehändigt bekam. Der Mitarbeiter der Abteilung Inneres vermerkte dazu: »Auf Grund dieser Tatsache erregte sich Othma und brach in Tränen aus und bat darum, ihn nach Westdeutschland auszuweisen, da er keine Lust mehr hat, hier zu bleiben. ›Weist mich aus, ich lasse alles stehen und liegen, ich will nicht hier bleiben, geben sie mich frei, ich will weg von hier. […] Ich traue mich nicht mehr heraus, ich habe Angst, dass ich wieder inhaftiert werde‹. Er behauptete nach wie vor, die 11 Jahre und 3 Monate Haft unschuldig bestraft worden zu sein. ›Ich werde meine Rehabilitierung beantragen, um dadurch meine Unschuld zu beweisen.‹«
Die physischen und psychischen Haftfolgen sowie die Stigmatisierung als Verbrecher durch die staatlichen Organe machten Paul Othma ein normales Leben unmöglich. Trotz Versuchen, die Ausreise des Ehepaars Othma zu erreichen, zeigten die DDR-Behörden kein Entgegenkommen: »Auch unsererseits wurde Herrn Othma erklärt, dass keine Übersiedlung für ihn nach Westdeutschland gewährt wird, da er nach wie vor Bürger der DDR ist.«397 Alle Bemühungen blieben erfolglos. Paul Othma starb 1969 an den Spätfolgen der Haft, erst 2001 wurde er gerichtlich rehabilitiert.398 393 Ahrberg; Hertle: Volksaufstand, S. 97. 394 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 118. 395 Schmidt, Heidemarie; Wagner, Paul Werner: » ... man muss doch mal zu seinem Recht kommen ...«. Paul Othma – Streikführer am 17. Juni 1953 in Bitterfeld. Magdeburg 2002, S. 81–83. 396 Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 77–80. 397 Schmidt; Wagner: Paul Othma, S. 122. 398 Ebenda, S. 8.
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Ähnlich ist die Geschichte von Sigrid und Hartmut Rührdanz.399 Ihr Sohn Torsten hatte bei seiner Geburt im Januar 1961 wegen Fahrlässigkeit des verantwortlichen Arztes schwere gesundheitliche Schäden erlitten. Die dringend notwendige Operation und kontinuierliche medizinische Betreuung war jedoch nur in West-Berlin möglich und erfolgte dort auch bis zum Frühsommer 1961. Der Mauerbau im August brachte die Familie in schwere Not. Um die Papiere für den lebenswichtigen Krankentransport nach West-Berlin zu erhalten, sprach das Ehepaar beim stellvertretenden Gesundheitsminister der DDR vor. Dieser habe jedoch nur bemerkt: »›Ja wissen Sie, wenn er so krank ist, wäre es doch für alle Beteiligten besser, Ihr Torsten stirbt‹«.400 Dank der Zivilcourage eines Arztes in der Charité gelang es, das schwerkranke Kind Ende August 1961 als Herzpatient getarnt nach West-Berlin zu bringen. Ein halbes Jahr lang wurde Sigrid Rührdanz ein Passierschein für die Fahrt zu ihrem Sohn gewährt, die Besuchserlaubnis dann jedoch ohne eine Begründung eingeschränkt. Nach der nunmehr dauerhaften Trennung stand der Entschluss der Eheleute fest, die Flucht zu wagen. Im Zusammenhang mit einer gescheiterten Tunnelflucht wurden sie im Februar 1963 verhaftet und im August wegen »fortgesetzten gemeinschaftlichen Verleitens zum Verlassen der DDR« vom Bezirksgericht Rostock zu vier Jahren Haft verurteilt. Sigrid Rührdanz saß eineinhalb Jahre ihrer Strafe in Hohenschönhausen ab. Die Bundesregierung setzte das Ehepaar Rührdanz auf die 1964 übergebene Wunschliste.401 Die Entlassung am 20. August erfolgte ohne eine Ankündigung. Ein MfS-Kommando fuhr Sigrid Rührdanz in die Haftanstalt Rummelsburg, wo sie in eine Einzelzelle gesperrt wurde. »Am Abend öffnet sich die Zellentür. Ein hoch dekorierter Offizier weist mir einen Weg. Nur wenige Sekunden sind es bis zur Pforte. Sie geben mir meine persönlichen Effekten zurück, wortlos, kommentarlos. Die schwere Tür geht auf. Nur eine Kopfbewegung bedeutet mir hindurchzugehen. Urplötzlich finde ich mich auf der Straße wieder, mit meinem Bündel Habseligkeiten. Ist das meine Entlassung? Nach 18 Monaten Haft? […] Am selben Abend trifft auch mein Mann aus Bautzen ein. Von meiner Mutter erfahre ich Tage später den Grund für unsere rätselhafte Entlassung: Die Bundesregierung im Westen hat uns freigekauft.«402
Mit der Entlassung in die DDR war neben der fortdauernden Trennung von ihrem Sohn eine Reihe von Schikanen verbunden, u. a. der Entzug der Wohner399 Paul, Sigrid: Mauer durchs Herz. Berlin 2008. 400 Sigrid Paul ergänzt: »Seine Bemerkung hat sich mir eingebrannt, so einen Satz vergisst man nicht«. Ebenda, S. 23. 401 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 135. 402 Paul: Mauer durchs Herz, S. 105 f. Die Mutter wusste aus den Berichten in den Westmedien von den Hintergründen. Telefoninterview mit Sigrid Paul, 6.9.2009.
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laubnis und ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot für Berlin. Ein Jahr später konnte ihr Sohn Torsten aus dem Krankenhaus in West-Berlin entlassen werden und kehrte zu den Eltern in die DDR zurück. Das Ehepaar Rührdanz bemühte sich vergeblich um die Ausreise. Erst nach 1989 erfuhren sie von Rechtsanwalt Vogel, dass es »Ausschließungsgründe« für eine Ausreise gegeben habe, die er ihnen aber nicht nennen wollte oder konnte.403 Vermutlich befürchtete die Staatssicherheit, dass die Geschichte von den Westmedien aufgegriffen werden könnte. Die Häftlinge ohne Anspruch auf eine Ausreise in den Westen wurden oft direkt von der Haftanstalt aus entlassen, in der sie inhaftiert waren. In manchen Fällen konnten die Häftlinge aus Andeutungen des Vollzugspersonals schließen, dass ihre Entlassung auf westlichen Bemühungen beruhte. Fritz Krause, der aufgrund seiner Kontakte zum UfJ und zur KgU seit 1953 eine 14-jährige Zuchthausstrafe wegen »Spionage« in Brandenburg verbüßte, schildert seine Entlassung aus der Rückschau des Jahres 1997: »Eines Tages wurde ich herausgeholt, kam zum Anstaltsdirektor und er sagte zu mir, ›Herr Krause‹ – das wollte mir gar nicht in den Kopf – ›sie werden entlassen. Dass sie entlassen werden, das hat seinen bestimmten Grund. Sie werden [von] drüben aus entlassen‹, und daraufhin nahm ich an, dass ich freigekauft worden bin. Ich weiß aber noch nicht bis heute, ob es den Tatsachen entspricht. Ich vermute es aber. [Ich be]kam wieder […] meine Sachen, die ich nicht mehr anziehen konnte, bekam dann von der Anstalt aus einen Anzug, ganz altmodisches Ding, was ich noch bezahlen musste von meinem Geld, was ich damals bei meiner Verhaftung bei mir hatte. […] Und da wurden wir einzeln, nicht zusammen, wahrscheinlich alle zehn Minuten, aus der Haft entlassen. Da bin ich rein nach Brandenburg. Das erste mal sah ich wieder Blumen, Gras, Wiesen, usw., das war für mich wie Neuland.«
Fritz Krause kehrte zu seiner Frau nach Dresden zurück und bekam gegen seinen Wunsch eine Arbeitsstelle als Busfahrer zugewiesen.404 Vorzeitige Haftentlassungen waren an sich nicht gänzlich unüblich, da die Gnadenpraxis »eine Funktionsvoraussetzung der völlig überzogenen Strafpraxis« der DDR-Justiz darstellte.405 Nur wenn die Gefängnisse in regelmäßigen Abständen geleert wurden, war »Platz« für neue Häftlinge. Insbesondere diejenigen, die den größten Teil ihrer Strafe verbüßt hatten und sich durch »gute Führung« ausgezeichnet hatten, mussten die Entlassung nicht zwangsläufig auf einen außergewöhnlichen Grund zurückführen. Daher erfuhren die Betroffenen in manchen Fällen erst im Nachhinein, was dahinter steckte. Ein promi403 Telefoninterview mit Sigrid Paul, 6.9.2009. 404 LStU Sachsen, Interviewprojekt 1997–2002, Transkript des Interviews mit Fritz Krause, S. 2–10; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 88. 405 Werkentin: Strafjustiz, S. 393.
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nentes Beispiel ist Erich Loest. Der Schriftsteller war 1957 verhaftet und im Jahr darauf wegen »konterrevolutionärer Gruppenbildung« zu einer Zuchthausstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt worden. Die Strafe verbüßte er in Bautzen II.406 Nach fast sieben Jahren Haft wurde er Ende September 1964 dem Anstaltsleiter vorgeführt. Dieser eröffnete ihm, dass er noch in der gleichen Woche entlassen würde. Der Wachtmeister füllte seine Entlassungspapiere aus und trug als Entlassungsort »Leipzig« ein, da seine Familie dort wohnte. Im Nachhinein erfuhr er aus Briefen von Haftkameraden, dass die Entlassung auf einem Freikauf beruhte.407 Loest verblieb bis 1979 in der DDR und stand unter ständiger Überwachung durch das MfS. Die permanenten Auseinandersetzungen führten schließlich dazu, dass er 1981 ein Ausreiseangebot annahm und in die Bundesrepublik ausreiste. Allerdings gibt es etliche Fälle, in denen die Betroffenen weder bei der Entlassung noch zu einem späteren Zeitpunkt etwas über den Grund ihrer Entlassung erfuhren. Sie wurden freigekauft, ohne es zu wissen – und wissen es teils bis heute nicht. Insbesondere war dies dann der Fall, wenn Vogel sie nicht verteidigt hatte und sie auch sonst in keinem Kontakt zu ihm standen. Faktisch verhandelte Vogel über diese Fälle, ohne die Betroffenen zu kennen, wie er 1993 anmerkte: »Ich habe manchen vertreten, der hat gar nichts davon gewußt.«408 So geschah es auch im Falle des Ehepaars Erich und Martha Rex, das 1961 wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Spionage für den britischen Geheimdienst zu 15 Jahren bzw. wegen »Mitwisserschaft« zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Bei der Entlassung über die Untersuchungshaftanstalt des MfS in der Berliner Magdalenenstraße im Sommer 1964 wurde Martha Rex nach dem Ausfüllen der Entlassungspapiere »mit dem Margarinekarton mit ihren alten Sachen« auf die Straße gesetzt. Ihr Mann wurde wenige Tage später aus der Haftanstalt Brandenburg entlassen.409 Ähnlich erging es Cäcilie Silberstein, die 1964 freigekauft und in die DDR entlassen wurde, ohne den Grund dafür zu erfahren.410 Es gibt zahlreiche weitere, ähnlich gelagerte Fälle 406 Fricke, Karl Wilhelm; Klewin, Silke: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956 bis 1989. Bericht und Dokumentation. 3., aktualis. Aufl., Dresden 2007, S. 164. 407 Loest, Erich: Durch die Erde ein Riss. Ein Lebenslauf. 2. Aufl., München 1991, S. 411–414; Ders.: Prozesskosten. Bericht. Göttingen 2007, S. 251 f.; vgl. Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 100. 408 PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 90: Zeuge Wolfgang Vogel, S. 22. 409 Widmann, Joachim: »Dich kriegen wir weich«. Berichte aus dem Alltag einer Diktatur. Bonn 1997, S. 122–146; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 129; FippelDB, Fall-Nr. 32850. 410 Boll, Friedhelm: Sprechen als Last und Befreiung. Holocaust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur. Bonn 2001, S. 96,
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
aus dem Jahr 1964, in denen Inhaftierte freigekauft wurden, bis 1989 in der DDR verblieben bzw. verbleiben mussten, ohne jemals Kenntnis von den Hintergründen zu erhalten.411 Für die Berechnung der Gegenleistung machte es 1964 keinen Unterschied, ob die Entlassung in die Bundesrepublik oder die DDR erfolgte, in beiden Fällen wurde die durchschnittliche Gegenleistung von 40 000 DM pro Inhaftiertem gezahlt. Allerdings wurden 1964 auch Häftlinge in die Bundesrepublik entlassen, deren Familie in der DDR wohnte. Dabei handelte es sich um etwa 80 Häftlinge, einem Anteil von weniger als 10 Prozent aller Entlassenen.412 Im Fall von Joachim Müller, der 1952 wegen seiner Tätigkeit für die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, stimmte das MfS seiner Westentlassung nach seinen Angaben deshalb zu, weil er für den Fall einer Entlassung in die DDR einen Sitzstreik vor der Haftanstalt angedroht hatte.413 Zudem wurden einige Häftlinge in den Westen entlassen, weil sie angaben, dass ihre Angehörigen in Westdeutschland wohnhaft seien. Als diese jedoch später bei Vogel vorstellig wurden und die Ausreise forderten, wies Vogel ihr Ansinnen zurück: Gegenüber Stange erklärte er, seine Auftraggeber verträten den Standpunkt, »daß die Ehemänner zur Familie gehören und daher eine Rückkehr in Erwägung ziehen« sollten. Man habe ihn »in einer recht scharfen Form darauf hingewiesen […], daß sich derartige Versehen nicht wiederholen« dürften.414 Nach dem Beschluss zur Fortsetzung des Freikaufs im Jahr 1965 versprach Vogel seinem Verhandlungspartner Stange »eine großzügige Behandlung der einzelnen Fälle, insbesondere der Entlassungsorte«. Die Ehefrauen und Kinder der Häftlinge könnten sogar ohne eine zusätzliche finanzielle Gegenleistung ausreisen.415 Bezüglich der Entlassungen in die DDR habe Stange die Möglichkeit, »auf Wunsch jederzeit … die Betroffenen in meinem [d. h. Vogels] Büro zu sprechen, um sich persönlich zu überzeugen«.416 Sollte sich im Verlauf
Anm. 6; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 139; Fippel-DB, FallNr. 29045. 411 Vgl. Zeitzeugenbörse der Gedenkstätte Hohenschönhausen. 412 Wölbern, Jan Philipp: Die Entstehung des »Häftlingsfreikaufs« aus der DDR, 1962–1964. In: DA 41 (2008) 5, S. 856–867, hier 866. 413 Müller, Joachim: Für die Freiheit Berlins. Erinnerungen eines Widerstandskämpfers der ersten Stunde gegen das SED-Regime. Frankfurt/M. 1991, S. 173; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 111. 414 Vogel an Stange, 7.1.1965; BStU, MfS, HA IX, Nr. 367, Bl. 113 f. 415 Vogel an Stange, 13.6.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 244. 416 Vogel an Stange, 17.6.1965; EZA, 742/275; Vogel an Stange, 24.9.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 278 f., Anm. 4; vgl. Stange an Kunst, Adolph und Wissing, 23.7.1965; ebenda, S. 260.
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des Gespräches herausstellen, dass die Betroffenen ihre Meinung geändert hatten und doch ausreisen wollten, ließe sich dies arrangieren.417 Im Westen interpretierte man dieses Versprechen einer »großzügigen Behandlung« als Zusage, dass die Betroffenen ihren Aufenthaltsort nunmehr »selber … wählen« dürften.418 Mitte August 1965 begann sich die hohe Zahl der in die DDR entlassenen Häftlinge (329 Ost- gegenüber 218 Westentlassungen) bereits abzuzeichnen. Stanges Auftraggeber Kunst und Wissing erklärten sich diese auffällig hohe Zahl damit, dass in der Vorjahresaktion bei der Auswahl der Namen »wohl sehr darauf geachtet« worden sei, dass zunächst viele Häftlinge mit Angehörigen im Westen benannt wurden. Folglich stehe nun eine entsprechend höhere Anzahl von Häftlingen mit Angehörigen in der DDR zur Entlassung an. Bereits 111 Häftlinge hätten sich für eine Ausreise in die Bundesrepublik mitsamt ihrer Familie entschieden. Da die freie Wahl des Entlassungsortes zugesichert sei, läge wohl das »Haupthindernis« darin, dass viele der Gefangenen bei der Befragung über den Entlassungsort angäben, dass sie dort her stammten und auch dort ihr Eigentum hätten. Nach Auskunft von Stange seien die Häftlinge auf die Möglichkeit der Ausreise aufmerksam gemacht worden. Prälat Wissing drängte Stange dennoch, er möge in dieser Angelegenheit gegenüber Vogel »ausdrücklich […] noch einmal zur Sprache bringen«, dass die Häftlinge von der Möglichkeit erfahren müssten, auch ihre Angehörigen mitnehmen zu dürfen. Stange teilte Wissing kurz darauf mit, Vogel habe ihm dies versichert und angeboten, Stichproben in beliebiger Form zu ziehen. Stange versprach Wissing, sich darum zu kümmern und die Bischöfe zu benachrichtigen, »bei wem und in welchem Umfang er diese gemacht« habe.419 Dass die Betroffenen stets »freie Wahl« hatten, entsprach jedoch nicht dem tatsächlichen Ablauf der Dinge. Weder stellte Vogels Zusage einer »großzügigen Behandlung« eine neue Grundsatzvereinbarung zur »freien Wahl« dar, noch waren die Modalitäten der Bestimmung des Entlassungsortes dazu geeignet, den Betroffenen eine freie Entscheidung zu ermöglichen. 1964 und 1965 wickelte das MfS die Entlassungen über die Strafvollzugseinrichtung Berlin I in Rummelsburg und die Untersuchungshaftanstalt des MfS in der Magdalenenstraße ab. Die für Verlegung und Unterbringung der Häftlinge zuständige Hauptabteilung XIV des MfS hielt das Prozedere in einer »Analyse« fest: Nach der Ankunft der Häftlinge hätten »Genossen der HA IX« mit ihnen »einzeln 417 Vogel an Stange, 28.9.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 278 f., Anm. 4. 418 Vermerk Wissings, 16.8.1965; ebenda, S. 267; Stange an Kunst und Adolph, 23.7.1965; ebenda, S. 260; Vermerk, 25.6.1965; BArch-K, B 137/19975, Bl. {69} (AS-DzD). 419 Vermerk Wissings, 16.8.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 267. Angaben über die Stichproben sind in den Akten leider nicht enthalten.
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eine Aussprache durchgeführt«.420 Verantwortlich für die Durchführung der »Aussprachen« seien Mitarbeiter der Abteilung 4 der HA IX des MfS gewesen, insbesondere der Abteilungsleiter Major Enke, der später Leiter des neugegründeten »Büros für Sonderaufgaben« in der HA IX wurde und eng mit Volpert zusammenarbeitete.421 Dass das MfS nicht die Absicht verfolgte, den Inhaftierten eine freie Wahl zu ermöglichen, ergab sich schon aus dem Umstand, dass nicht in allen Fällen eine solche »Aussprache« stattfand. Insgesamt sind 1 277 Kurzprotokolle der »Aussprachen« überliefert, etwas mehr als 80 Prozent aller insgesamt 1 550 entlassenen Häftlinge. Zwar wurden knapp 94 Prozent aller Häftlinge, die in die Bundesrepublik entlassen wurden (596 von insgesamt 635), zu einer »Aussprache« geholt, hingegen nur 71 Prozent derer, die in die DDR entlassen wurden (649 von 906).422 Warum der eine befragt wurde und der andere nicht, geht aus den Akten nicht hervor. Wenn es denn eine Aussprache gab, dann »entschied sich« in deren Verlauf, »ob der Gefangene nach Westdeutschland oder in die DDR entlassen werden sollte«.423 »Sollte«, nicht »wollte«, denn mit den »Aussprachen« verfolgte das MfS nicht das Ziel, den Betroffenen eine Wahl zwischen Ausreise und der Rückkehr an ihren früheren Wohnort in der DDR zu ermöglichen. Vielmehr dienten die Gespräche dazu, erstens zu klären, ob der Betroffene entsprechend des Wohnortes seiner Angehörigen einen Anspruch auf Westentlassung hatte. Zweitens war zu entscheiden, ob die Entlassung in die DDR oder die Abschiebung in die Bundesrepublik den größeren Nutzen für die DDR darstellte. Das entsprach der grundsätzlichen Aufgabenstellung der für die Strafverfolgung zuständigen Hauptabteilung IX, wie es ihr Leiter später einmal explizit formulierte, den »Charakter der Straftat richtig einzuschätzen: ist der Täter ein Feind, oder ist die Tat persönlichkeitsfremd, kann der Täter zurückgewonnen werden?«424 Der Verlauf der »Aussprachen« spiegelt die manipulative Absicht des MfS wider. Um die Hintergründe gegenüber den Häftlingen zu konspirieren, wurde ihnen zum einen nicht eröffnet, dass ihre Entlassung auf Bemühungen des »Klassenfeindes« zurückging, zum anderen unterschied sich der Ablauf der »Aussprache« nicht wesentlich von dem eines normalen Entlassungsgespräches, 420 »Analyse über den Stand der pol.-op. Dienstdurchführung der Aktion 64–67«; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 283 f. 421 Siehe Kap. II.3. 422 BStU, MfS, HA IX, Nr. 370, Bd. 1, Nr. 371. 423 Analyse über den Stand der pol.-op. Dienstdurchführung der Aktion 64–67; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 283 f. 424 So der Leiter der HA IX, Generalmajor Fister, auf dem 17. Plenum des Obersten Gerichtes am 25.9.1980; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2137, Bl. 147 f.
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abgesehen von dem Umstand, dass es in Berlin stattfand. Aus Sicht der Häftlinge musste die vorzeitige Entlassung nicht zwangsläufig Argwohn erregen. Schließlich waren vorfristige Entlassungen nichts Ungewöhnliches, zumal das MfS und die Justizorgane den Inhaftierten häufig eine vorzeitige Entlassung für den Fall in Aussicht stellten, dass er sich zur Inoffiziellen Mitarbeit bereit erklärte, sich in der Haft unauffällig verhielt oder die Arbeitsnormen (über-)erfüllte. Außerdem hatten viele Inhaftierte noch nichts vom »Freikauf« gehört, der für sie gänzlich außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag. Ein Beispiel ist Volker Pilz, der 1962 wegen »Grenzdurchbruchs« zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt wurde, weil er kurz nach dem Mauerbau nach West-Berlin geflohen, aber aus Heimweh zu seiner Familie in die DDR zurückgekehrt war.425 Erst durch ein Zeitzeugengespräch im Jahr 2009 erfuhr er von der Tatsache seines Freikaufs: »Mir ist nichts [davon] bekannt, dass ich Geld gekostet habe.« Das Prozedere der Entlassung schilderte er folgendermaßen: »Die Entlassung selber war ganz einfach, hingekarrt von Torgau nach Berlin, Magdalenenstraße, ohne jegliche Erklärung, Ankündigung, oder Information. Ich bekam meine Sachen von der Inhaftierung von vor vier Jahren und einen Entlassungsschein in die Hand gedrückt. Der einzige Kommentar des uniformierten Türaufschliessers war ›Na, gehn’se‹. Zuvor bin ich allerdings gefragt worden, wo ich hin will. ›Nach Hause‹, war meine Antwort. Was passiert wäre, wenn ich gesagt hätte: ›BRD‹? Das weiss ich nicht. Diese Variante war für mich einfach nicht vorstellbar und insofern gab es scheinbar für mich nur die Alternative, weiter im Knast oder zu meinen Eltern zu kommen. Meine Eltern hatten auch für eine Übersiedlung keine Aktivitäten unternommen, so wie ich im Knast auch nicht, weil es für uns alle undenkbar war, das sowas möglich ist.«
Volker Pilz kehrte zu seinen Eltern zurück. 1972 stellte er einen Ausreiseantrag, zog ihn jedoch aus familiären Gründen zurück. Er blieb bis 1989 in der DDR.426 Ähnlich erging es Helga Hommel, die im September 1959 wegen Spionage für den BND verhaftet und zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Auch sie erfuhr erst durch ein Zeitzeugengespräch von ihrem Freikauf.427 Nach der Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe im Frauengefängnis Hoheneck in der sächsischen Stadt Stollberg/Erzgebirge war sie im 425 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 122 sowie Liste »II. Aktion – Entlassungen in die SBZ«, S. 28, Nr. 552; EZA, 742/290. Volker Pilz stand auf der H-Liste für 1965. BStU, MfS, HA IX, Nr. 13658, Bl. 88. 426 Volker Pilz an den Verfasser, 1.7.2009. 427 »Ich glaube nicht, dass mich jemand freigekauft hat. Es war durchaus in der ehemaligen DDR üblich, Strafgefangene, wenn sie 2/3 ihrer Strafe verbüßt hatten, frei zu lassen. Der Rest der Strafe lief dann auf Bewährung.« Helga Hommel an den Verfasser, 19.6.2009; Telefoninterview mit Helga Hommel, 25.6.2009; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 66; H-Liste 1965; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13658, Bl. 123.
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Juni 1965 nach Berlin verlegt worden. Ohne einen Kommentar brachte man sie in eine Zelle mit vier bis fünf anderen Frauen, die »auch nicht wussten, was sie hier sollten«. Doch vermuteten alle, dass es um die Entlassung ging. Schließlich wurde Helga Hommel einem Mitarbeiter der HA IX/4 vorgeführt. Dieser fragte, ob sie sich vorstellen könne, weshalb man sie nach Berlin gebracht habe. »Ich sah zwei Möglichkeiten und sagte das auch: Entweder ich soll hier arbeiten, oder ich werde entlassen.«428 Der Stasi-Offizier bestätigte ihr Letzteres und vermerkte im Protokoll »Spionage BND, Mutter und Kind hier«, womit die Entlassung zu ihren Angehörigen in der DDR besiegelt war.429 In einigen Fällen schöpften Häftlinge jedoch Verdacht. Ulrich Weißgerber war zweimal wegen eines Fluchtversuchs inhaftiert und wurde 1965 nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner zweiten Strafe von zwei Jahren und acht Monaten freigekauft.430 Er schildert die Umstände seiner Entlassung wie folgt: »Ich erhielt in Bautzen die Nachricht, dass ich für einen Transport nach Berlin vorgesehen sei. Im Stasi-Gefängnis der Magdalenenstraße wurde mir dann gesagt, meine Entlassung würde vorbereitet. Merkwürdig war, dass mir zehn Monate Gefängnis erlassen werden sollten. Merkwürdig auch, dass ich dafür extra nach Berlin gekarrt werde. Doch die größte Merkwürdigkeit war dies: Da fragte mich dann ein Stasi-Major, wohin ich entlassen werden wollte. Da habe ich gesagt, nach Ilmenau, meine Heimatadresse, was auch sonst. Ich habe daraufhin in der Zelle der Magdalenenstraße hin und her gerätselt, woran kann das liegen, dass ich jetzt hier in Berlin entlassen werden soll. Sollte es etwa die Möglichkeit geben, in den Westen entlassen zu werden? Von derartigen Fällen hatte ich aber bis dahin noch nichts gehört. Und wenn es sie gegeben hätte, würde ich es im Knast bestimmt nicht erfahren haben. Ich weiß nicht, was mich da geritten hat, jedenfalls habe ich noch einmal um ein Gespräch mit dem StasiMajor gebeten und ihm gesagt, dass ich in den Westen entlassen werden möchte. […] Und da hat der Stasi-Major so komisch rumgefeixt und gesagt, ›ja ja ja ja, das will mancher, ha ha‹. Von da ab ahnte ich, dass ich damals für eine Entlassung in den Westen vorgesehen war, und dass eine Institution dies eingefädelt hatte und eine andere dies verhindern wollte – Stasi, Generalstaatsanwalt, Innenministerium – wer weiß, wer damals wie taktierte. Nach meiner Entlassung habe ich natürlich alles drangesetzt herauszubekommen, wie ich legal in den Westen gelangen konnte – eine Zukunft in der DDR hatte ich nun erst recht nicht mehr.«431
428 Erlebnisbericht Helga Hommel, Privatarchiv Hommel, S. 28. 429 BStU, MfS, HA IX, Nr. 370, Bd. 1, Bl. 45. 430 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 168; Liste »II. Aktion – Entlassungen in die SBZ«, S. 41, Nr. 817; EZA, 742/290. 431 Interview mit Ulrich Weißgerber, 25.9.1996; Privatarchiv Ulrich Weißgerber. Im hs. Protokoll der »Aussprache« ist vermerkt: »Weissgerber – Eltern in Ilmenau – Vater RA – mit R.-Flucht nicht einverstanden – DDR«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 370, Bd. 1, Bl. 59.
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Viele Häftlinge äußerten in der »Aussprache« zudem nicht ihren tatsächlichen Wunsch, weil sie die Frage, »wohin« sie entlassen werden wollten, als Fangfrage, d. h. einen Gesinnungstest interpretierten. Im Laufe ihrer bisherigen Haft hatten sie gelernt, dass eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung nur möglich war, wenn man durch sein Verhalten in der Haft unter Beweis stellte, die »richtigen Lehren« aus der »Straftat« gezogen zu haben. Wer hingegen eine Entlassung zu den Gegnern des Sozialismus wünschte, dokumentierte damit seine Uneinsichtigkeit. Manch ein Häftling hatte diese bittere Erfahrung machen müssen. Einer der 1964 Freigekauften bemerkt hierzu: »Das Gnadengesuch meiner Mutter von 1963 wurde abgelehnt. Da hatte ich also nur noch ein Jahr vor mir, da schreiben die Ihr: ›Ihr Sohn hat sich geäußert, daß er nach seiner Entlassung aus der Strafhaft seine Freiheit im Westen suchen werde. Daraus ergibt sich, dass für ihn wegen seines Verhaltens, das jede Einsicht vermissen lässt, eine Strafaussetzung nicht möglich ist‹.«432
Die Entscheidung Ulrich Weißgerbers, um ein zweites Gespräch und eine Entlassung in den Westen zu bitten, war daher nicht ohne Risiko. Er erinnert sich: »Logisch wäre gewesen, dass ich nach dieser Äußerung die Reststrafe von zehn Monaten [hätte] absitzen müssen, möglicherweise mit ›Nachschlag‹ [Knastjargon für Zusatzstrafe]. Die Strafe sollte mich doch lehren, wo meine Heimat ist, das habe ich anscheinend immer noch nicht begriffen.«433
Wie das Beispiel von Ulrich Weißgerber ebenfalls zeigt, wurde selbst dann, wenn die Häftlinge ihren Ausreisewunsch unmissverständlich zum Ausdruck brachten, nicht jedem die Ausreise gewährt. So auch im Fall von Theo Jacob, der wegen eines gemeinschaftlichen Fluchtversuches zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden war und ebenfalls 1965 freigekauft wurde:434 Bei der »Aussprache« in der Magdalenenstraße habe ihm der MfS-Offizier eröffnet, dass er entlassen werden solle und ihn nach dem Entlassungsort gefragt. »Ich sagte ihm ohne Umschweife, dass ich nach Frankfurt am Main will. In einem zweiten Gespräch teilte mir dieser Herr meine Entlassung mit. Allerdings nicht nach 432 Schmiedebach, Heinz-Peter: Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR. Der Widerstand gegen die Umwandlung der Greifswalder Medizinischen Fakultät in eine militärmedizinische Ausbildungsstätte im Jahr 1955. Stuttgart 2001, S. 109. 433 Interview mit Ulrich Weißgerber, 25.9.1996; Privatarchiv Ulrich Weißgerber. Görlach, Manfred: Eingemauert. Erinnerungen an Potsdam und Brandenburg, 1961–1964. Erftstadt-Liblar 1991 (Privatdruck), S. 50, berichtet von einer ähnlichen Aussage eines Stasi-Offiziers mit folgendem, sinngemäßem Wortlaut: »Wenn Sie immer noch das Leben im Westen für erstrebenswert halten, zeigt das, dass Sie noch nicht genug gelernt haben und noch etwas bei uns bleiben sollten.« 434 Knechtel, Rüdiger: Stalins DDR. Berichte politisch Verfolgter. 2., überarb. Aufl., Leipzig 1992, S. 31–36; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 69.
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Frankfurt am Main, sondern dorthin, wo ich herkam. Er sagte: ›Sie können dort leben und arbeiten wie zuvor und niemand darf Ihnen ein Haar krümmen‹.«435
Die Kurzprotokolle der »Aussprachen« belegen weitere Fälle dieser Art, in denen Häftlinge trotz Wunsch nach Entlassung in die Bundesrepublik in die DDR entlassen wurden: »Will nach WD [= Westdeutschland], Entlassung in die DDR«.436 Gab es, aus welchen Gründen auch immer, aus Sicht des MfS ein Interesse an einer Westentlassung, so deutete der Mitarbeiter der HA IX/4 diese Möglichkeit indirekt an. Wie einige in den Westen entlassene Häftlinge Rechtsanwalt Helmut Sehrig, Mitarbeiter der Westberliner Rechtsschutzstelle, nach ihrer Ankunft in Gießen über das Schema der »Aussprachen« berichteten, habe der MfS-Offizier zunächst danach gefragt, wohin sie denn entlassen werden wollten. Auf ihre Antwort, dass sie zu ihren Angehörigen in die DDR wollten, habe dieser sinngemäß erwidert: »Ja, ich will Sie ja bloß fragen, denn der eine will nach Amerika, der andere nach Afrika und der Dritte nach Westdeutschland entlassen werden.« Als sie ihre Entscheidung daraufhin »naturgemäß« korrigiert und den Wunsch nach einer Entlassung in die Bundesrepublik geäußert hätten, habe der Stasi-Offizier erklärt: »Gut, dann werden Sie nach Westdeutschland entlassen.« Misstrauisch geworden bemerkte Rechtsanwalt Sehrig, die Angelegenheit bedürfe »einer Überprüfung«.437 Schließlich konnte dies darauf hindeuten, dass den in die DDR entlassenen Häftlingen die Möglichkeit einer Westentlassung nicht angedeutet worden war. Selbst in den Fällen, in denen Enke oder ein anderer Mitarbeiter der HA IX/4 des MfS den Häftlingen ausdrücklich eine Entlassung in den Westen vorschlug, lehnten die Betroffenen die Westentlassung mitunter ab, weil sie dann von ihrer Familie getrennt worden wären. Obwohl deren Ausreise entsprechend der Zusage Vogels ja möglich sein sollte, wurde dies in der Aussprache nicht immer erwähnt. So erhielt Werner Jaeger bei seiner Befragung 1965 das Angebot, »nach dem Westen entlassen zu werden«. Seine Reaktion war von Misstrauen geprägt: »Neben allen Überlegungen, was da wieder für eine Teufelei dahinter steckt - von den inzwischen einsetzenden ›Freikäufen‹ war noch nichts bis in die Haftanstalten gedrungen - habe ich das Anerbieten […] abgelehnt. Dem lag folgende Überlegung zugrunde: […] Ist das nicht eine Finte […]? Habe ich jemals eine Chance, meine Kinder […] oder meine Eltern […] wiederzusehen!? Unter den damaligen Bedingungen waren die Chancen, dass dies möglich wurde, außerordentlich gering einzuschätzen.«
435 Knechtel: Stalins DDR, S. 35. 436 BStU, MfS, HA IX, Nr. 370, Bd. 1, z. B. Bl. 460 u. 465. 437 Vermerk RA Sehrigs, 24.6.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 244, Anm. 1.
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Nach acht Jahren Haft wurde er zu seiner Familie nach Glauchau entlassen und blieb bis 1989 in der DDR.438
Arglosigkeit im Westen Seitens der Bundesregierung glaubte man hingegen, dass alles mit rechten Dingen zugehe. Kurz vor Abschluss der Aktion vermerkte Hansjürgen Schierbaum, der persönliche Referent des Staatssekretärs, die andere Seite habe sich »bis auf wenige nachweisbare Fälle« an ihre Zusage einer freien Wahl des Entlassungsortes gehalten.439 Die Entlassungen in die DDR würden daher dem Wunsch der Häftlinge entsprechen. Selbst nach Stichproben lägen keine Erkenntnisse vor, »dass die andere Seite versucht hat, Zwangsbeeinflussungen vorzunehmen«.440 Auch Vogel bestätigte in seinem Abschlussbericht an Stange nochmals, dass die Häftlinge ihren Entlassungsort frei hätten wählen können. Die Ehepartner und Kinder der Betroffenen, circa 100 Personen, hätten die Genehmigung zur Ausreise erhalten.441 Zweifel an dieser optimistischen Einschätzung müssen der Bundesregierung spätestens im Frühjahr 1966 gekommen sein. Für einen der in die DDR entlassenen Häftlinge hatte der Umstand, dass die Entlassungen keineswegs nach »freier Wahl« erfolgten, fatale Folgen: Willi Block, ein 31-jähriger Bauarbeiter und früheres Mitglied der am Mauerbau beteiligten Kampfgruppen wurde 1965 zu seiner Ehefrau in die DDR entlassen und kam knapp drei Monate später bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer ums Leben. Block war im Januar 1962 das erste Mal nach West-Berlin geflohen, im Februar jedoch in die DDR zurückgekehrt, um seine Frau nachzuholen. Die Flucht hatte außer einer Verurteilung zu einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Arbeitslager keine weiteren Konsequenzen. Das änderte sich, nachdem er im August 1962 erneut geflohen, im Dezember aber wiederum zurückgekehrt war. Da er den westlichen Befragungsstellen seine Anwerbung durch das MfS offenbart hatte, war er wegen Spionage verhaftet und 1963 zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden.442 438 Knechtel: Stalins DDR, S. 164–176, hier 172 f.; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 69. Zahlreiche ähnlich gelagerte Fälle finden sich in den einschlägigen Zeitzeugenbörsen und der Fippel-Datenbank, hier beispielsweise die Fälle Nr. 13237, 37323, 32924, 32292 etc. 439 Vermerk Schierbaums, 15.11.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 285. 440 Vermerk Schierbaums, 14.12.1965; ebenda, S. 291. 441 Vogel an Stange, 21.12.1965; ebenda, S. 292. 442 Hertle, Hans-Hermann; Nooke, Maria: Die Todesopfer an der Berliner Mauer, 1961–1989. Ein biographisches Handbuch. 2., durchges. Aufl., Berlin 2009, S. 220–223.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Die westlichen Stellen hatten Kenntnis von dem Urteil erhalten, sodass Block im Jahr 1965 auf die Wunschliste gesetzt wurde.443 Am 23. November 1965 wurde Block nach Berlin verlegt.444 Ein Mitarbeiter der HA IX vermerkte im Protokoll der »Aussprache« mit Block, er wolle »Mitteilung machen über Zustände in Bautzen«.445 Da Nachrichten über die Haftbedingungen im Strafvollzug der DDR nicht nach außen dringen sollten, wurde Block in die DDR entlassen. Es ist davon auszugehen, dass er wie etliche andere Inhaftierte das Entlassungsgespräch nicht mit den Bemühungen der Bundesregierung in Verbindung brachte, wenn er überhaupt davon gehört hatte. Nach seiner Entlassung wurde ihm in Berlin-Staaken eine Arbeitsstelle zugewiesen. Unter erheblichem Alkoholeinfluss entschloss er sich am Montag, den 7. Februar 1966 zu einem dritten Fluchtversuch. Das Vorhaben misslang jedoch: Bei dem Versuch, die Sperranlagen zwischen Falkensee und BerlinStaaken zu überwinden, blieb er in einer Stacheldrahtrolle hängen, drei Kugeln aus den Waffen mehrerer Grenzsoldaten trafen ihn tödlich. Westberliner Zollbeamte, Polizisten und Fotoreporter wurden Zeuge des Geschehens.446 Wenige Tage später schickte der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen ein Fernschreiben mit dem Betreff »Propagandalügen der SED um Willi Block« an Rehlinger ins Bundeshaus Berlin. Dem Schreiben war zu entnehmen, dass es sich bei dem Getöteten um Willi Block handelte, der erst kürzlich aus politischer Haft in die DDR entlassen worden war.447 Angesichts dieser Informationen muss sich die Frage aufgedrängt haben, ob Block zu den 1965 freigekauften Häftlingen gehört hatte. Die namentliche Liste der Entlassenen lag dem Gesamtdeutschen Ministerium zu diesem Zeitpunkt bereits vor, sodass eine Nachprüfung nur wenige Augenblicke in Anspruch genommen hätte.448 Dass sich Block bei einer Befragung trotz zweier vorheriger Fluchtversuche »freiwillig« für den Verbleib in der DDR entschieden hatte, war zwar nicht auszuschließen, musste aber höchst fragwürdig erscheinen. Zumindest hätte der Vorgang Anlass gegeben, Vogel unverzüglich zu einer Stellungnahme 443 »H-Aktion 1965«, »Liste B«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13658, Bl. 56. Allerdings ist Blocks Name von Volpert hs. über die – offenbar falschen Angaben – auf der Liste der Bundesregierung ergänzt, im Original »Bl[unleserlich]k, Peter«, geb. »ca. 36«. 444 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 16. 445 BStU, MfS, HA IX, Nr. 370, Bd. 2, Bl. 267. 446 Hertle; Nooke: Todesopfer, S. 221. 447 Lediglich die Angabe, dass das Strafmaß 3 Jahre betragen habe, war falsch. BArch-B, B 137/6429, Bl. 23 f., von Rehlinger am 11.2. abgezeichnet. Vgl. das Faksimile des Fernschreibens auf http://www.chronik-der-mauer.de/index.php/de/Media/TextPopup/id/1398718/oldAction/Detail/ oldId/593924/oldModule/Start/page/5, download am 4.3.2011. 448 Deckblatt der Liste, Musiolik an Rehlinger, 25.1.1966; BArch-K, B 137/19976, Bl. 248 (ASDzD), von Rehlinger am 26.1.1966 abgezeichnet; vgl. die Liste »II. Aktion – Entlassungen in die SBZ«. In: EZA, 742/290.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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aufzufordern. In den Akten findet sich kein Hinweis darauf. In jedem Fall dürfte auch das Interesse der Bundesregierung an der Geheimhaltung der Hintergründe gestiegen sein. Hätte die Presse in Erfahrung gebracht, dass der an der Mauer Getötete erst kurz zuvor freigekauft, aber wahrscheinlich gegen seinen Willen in die DDR entlassen worden war, hätte dies womöglich einen Skandal verursacht.
Ostentlassungen 1966 bis 1972 Möglicherweise führte der Tod Blocks dazu, dass die Bundesregierung und die Kirchen energischer darauf drängten, dass die Häftlinge von der Möglichkeit zur Ausreise Kenntnis erhielten. Aus der Rückschau konstatierte Rehlinger im Mai 1969, dass die Bestimmung des Entlassungsortes immer wieder Sorge bereitet habe. »Seit 1966« [sic!] sei aber eine »Lockerung« im Verhalten der Gegenseite festzustellen gewesen, die Häftlinge wären »in der Regel« über das gewünschte Entlassungsgebiet befragt worden. Der Grund dafür liege unter anderem darin, dass es bei der Wiedereingliederung in die DDR »erhebliche Schwierigkeiten« gegeben habe.449 Auch Rechtsanwalt Musiolik, der Leiter der Rechtsschutzstelle, meldete 1966 an Rehlinger, dass nach Gießen entlassene Häftlinge gegenüber seinen Mitarbeitern ausgesagt hätten, sie hätten »eine echte freie Wahl gehabt«. Sätze der Art »Ihr werdet jetzt abgeschoben« wären dabei gefallen.450 Allerdings wurden den westlichen Stellen immer wieder einzelne Fälle bekannt, in denen Häftlinge gegen ihren Willen in die DDR entlassen wurden.451 Noch im April 1972 wies Jan Hoesch, Rehlingers Nachfolger im Innerdeutschen Ministerium, in einer Besprechung mit Stange und den beiden Leitern der Rechtsschutzstelle darauf hin, es sei »zweckmäßig, die Anzahl der Stichproben zur Aufklärung der Umstände bei den unfreiwilligen Ostentlassungen zu erhöhen«.452 Die Protokolle der HA IX des MfS zu den »Aussprachen« bestätigen, dass sie seit 1966 deutlich öfter durchgeführt wurden als zuvor.453 Wegen Baumaßnahmen in der Strafanstalt Berlin-Rummelsburg begann das MfS in diesem Jahr, die Abwicklung der Entlassungsprozedur in die MfS-Untersuchungs-
449 Bericht Rehlingers an Wehner, 30.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 626. 450 Vermerk Rehlingers, 14.9.1966; ebenda, S. 342, Anm. 1. 451 Bericht Rehlingers an Wehner, 30.5.1969; ebenda, S. 626; Vermerk Rehlingers, 16.9.1968; ebenda, S. 562 f. 452 Protokoll Plewas über die Besprechung am 6.4.1972, 11.4.1972; BArch-K, B 137/15813. 453 Protokolle der »Aussprachen« in den Jahren 1966–1970 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 370, Bd. 2, Nrn. 18166, 18167, 18168, 18169.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
haftanstalt in Karl-Marx-Stadt zu verlegen.454 An der manipulativen Form der »Aussprachen« änderte sich indes zunächst wenig. Im September 1967 schrieb Weihbischof Tenhumberg an Prälat Zinke, es gäbe Beschwerden darüber, dass die Häftlinge nicht über die Ausreisemöglichkeit informiert würden: »Im Gegenteil, es werde Ihnen auf die Frage, wohin sie entlassen werden wollten, die Antworten [sic] in den Mund gelegt: Zu den Angehörigen (die natürlich in der Regel in Mitteldeutschland wohnen).« Beim letzten Bustransport nach Gießen seien daher weniger als die Hälfte der in Mitteldeutschland beheimateten Häftlinge in den Westen entlassen worden.455 Zinke besprach die Angelegenheit mit Rehlinger, der dazu anmerkte, dass dies womöglich »durch unterschiedliche Verfahrungsweise [sic] des bei der Entlassung beteiligten Personals zu erklären« sei.456 Eine allmähliche Verbesserung setzte jedoch voraus, dass sich die Freikäufe und die Rolle, die Rechtsanwalt Vogel bei ihnen spielte, unter den Häftlingen herumsprachen. Selbst nach den ersten beiden Entlassungswellen 1964 und 1965 verbreitete sich das Wissen darüber nur langsam. Vielen Inhaftierten war bereits der Gedanke fremd, dass sich die Bundesregierung und nicht bloß private Geldgeber dahinter verbargen und nicht nur Bundes-, sondern auch »DDR-Bürger« in seinen Genuss kommen könnten. Marietta Jablonski, die 1971 verhaftet wurde, schreibt dazu: »Zum ersten mal hatte ich in der Zelle von Dr. Wolfgang Vogel, einem Anwalt in Berlin gehört, der dafür sorgen könne, daß Menschen in den Westen kommen. Sicher, so glaubte ich, falls die Verwandten es sich leisten konnten, sie mit Westgeld freizukaufen. Wir hatten niemanden, der uns hätte freikaufen können. Zwar wohnten alle Verwandten meines Mannes in der Bundesrepublik und in Holland. Aber entweder waren sie zu geizig oder nicht reich genug, um uns freizukaufen.«457
Anderen erschien bereits die Idee absurd, dass SED und MfS Aktivitäten eines Rechtsanwaltes dulden würden, der Häftlingen bzw. Ausreisewilligen half. Manch ein Inhaftierter hielt die Ausreisemöglichkeit bloß für eines der zahllosen Knastgerüchte, bei denen der Wunsch der Vater des Gedankens war. Der im November 1965 inhaftierte Peter Hampe erinnert sich:
454 Analyse über den Stand der pol.-op. Dienstdurchführung der Aktion 64–67; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 287. 1966 fanden die Aussprachen in einigen Fällen noch in Berlin statt. 455 Vermerk Tenhumbergs, 29.9.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 460, Anm. 2; vgl. Tenhumberg an Zinke, 18.1.1968; AEK, Zug. 683, Nr. 340b. 456 Zinke an Tenhumberg, 13.8.1968; AEK, Zug. 683, Nr. 340b; Vermerk Zinkes, 13.2.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 497. 457 Jablonski, Marietta: »Verhören bis zum Geständnis«: Der Operativ-Vorgang »Optima«. Magdeburg 1997, S. 151 f.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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»Von Häftlingsfreikäufen durch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Vermittlung durch Dr. Vogel hatte ich noch nie gehört. Deshalb stufte ich diese Mitteilung als eine Illusion aus dem Reich der Wunschträume ein. Ich hatte eher die Befürchtung, dass ich mit dem Anliegen des Verlassens der DDR bei einem Rechtsanwalt den Straftatbestand der versuchten Republikflucht erfüllen würde. Das gesamte Rechtssystem der DDR, einschließlich aller Anwälte, bestand für mich ausschließlich aus Lakaien der SED. Die würden unverzüglich, so vermutete ich, für mein erneutes ›Einfahren‹ sorgen und ich säße dann wieder im ›Kahn‹.«458
In manchen Fällen operierte das MfS nicht bloß mit Verschleierungstaktik, sondern führte »Staatsgründe« gegen eine Entlassung in den Westen ins Feld, z. B. wenn ehemalige »Geheimnisträger« oder wegen »Spionage« verurteilte Häftlinge in den Westen entlassen werden sollten. Ein Beispiel hierfür ist Alfred Ganzer, der 1964 in die Bundesrepublik flüchtete, dort jedoch nicht Fuß fassen konnte, zurückkehrte und daraufhin im Februar 1965 festgenommen wurde.459 Zum Zeitpunkt seiner Flucht hatte er bereits den Einberufungsbefehl für die NVA erhalten und galt somit als Wehrpflichtiger, sodass er vor das Militärobergericht Berlin gestellt wurde. Weil er im Notaufnahmelager Friedland im Rahmen der Routinebefragung durch westliche Geheimdienste in einem »als belanglos empfundenen Gespräch« Angaben über den russischen Militärflugplatz Altengrabow gemacht hatte, verurteilte ihn das Gericht wegen Republikflucht und »Militärspionage« zu einer neunjährigen Zuchthausstrafe, die er in Bautzen II antrat. Im November 1968 wurde er nach Karl-MarxStadt verlegt.460 In Karl-Marx-Stadt war ihm klar, dass seine Entlassung bevorstand, doch nicht, dass sie auf einen Freikauf durch die Bundesregierung zurückging. Davon hatte er zwar gehört, dachte jedoch, dass der Westen »nur seine eigenen Leute, z. B. Fluchthelfer« heraushole. In Karl-Marx-Stadt teilte ihm ein Stasi-Offizier lediglich mit, dass seine Entlassung bevorstünde, er jedoch in die DDR entlassen würde.461 Da Alfred Ganzer nicht vor die Wahl gestellt wurde, kehrte er in die DDR zurück. Wegen eines erneuten Fluchtversuches ein knappes Jahr später wurde er erneut verhaftet und verurteilt. Erst 1972 kam er durch die Amnestie frei, verblieb aber auch danach bis 1989 in der DDR.462
458 Hampe: Absurdistan, S. 160 f. 459 Reusch, Christiane: »Man war kein Mensch mehr«. Alfred Ganzer – wegen Republikflucht verurteilt. In: Schute, Claudia: Schicksal Bautzen. Politische Häftlinge der SBZ/DDR erzählen – junge Journalisten porträtieren. Sankt Augustin 1999, S. 46–50. 460 Reusch: Alfred Ganzer, S. 48; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 46. 461 Telefoninterview mit Alfred Ganzer, 20.8.2009. 462 Reusch: Alfred Ganzer, S. 46–50.
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Zu scharfen Auseinandersetzungen um die Bestimmung des Entlassungsgebietes kam es dann, wenn das MfS aus Verärgerung über Presseberichte oder wegen des Berufs des Inhaftierten und seiner Angehörigen eine Entlassung in die Bundesrepublik ablehnte. Die folgenden beiden Fälle aus dem Jahr 1967 illustrieren dies anschaulich: Im September gab Vogel gegenüber Stange die Entlassung einer Mandantin in die DDR bekannt, da der Tagesspiegel kurz zuvor einen Artikel über ihren Fall abgedruckt hatte. »Solche Veröffentlichungen«, eröffnete Vogel seinem Kollegen, seien der Erfüllung des Wunsches nach Entlassung in den Westen höchst abträglich, denn sie brächten »immer die Gefahr mit sich, dass bei …[Entscheidungen] über den Entlassungsort strengere Maßstäbe angelegt werden.« Da die Verwandtschaft der Mandantin zudem in der DDR wohne, stelle die Entlassung in die DDR keinen Verstoß gegen die Grundsatzabmachung dar.463 Ein ähnlicher Streit entbrannte um die Jahreswende 1966/67 wegen der Entlassung eines Ärzteehepaares in die Bundesrepublik. Vogels Auftraggeber vertraten den Standpunkt, dass die Entlassung in die DDR eine reine Gefälligkeit darstellte, Kunst und Stange beharrten jedoch auf einer Westentlassung: Der Arzt Volker Müller hatte bei den »Aussprachen« in der MfS-Untersuchungshaftanstalt in der Magdalenenstraße mehrfach erklärt, dass er in den Westen ausreisen wolle.464 Währenddessen forderte Vogel die Ehefrau des Inhaftierten auf, ihren Mann schriftlich darum zu bitten, einer Entlassung in die DDR zuzustimmen. Andernfalls werde er die Strafe voll verbüßen müssen. Derart massiv unter Druck gesetzt, willigte Müller ein und wurde daraufhin in die DDR entlassen. Seine Angehörigen im Westen baten Bischof Kunst, sich um eine nachträgliche Ausreise zu bemühen, da der Verbleib der Eheleute in der DDR zu einer »fortdauernden, schweren psychologischen Belastung« führen würde.465 Stange wurde daraufhin bei Vogel vorstellig und forderte die Ausreise von Volker Müller und seiner Ehefrau, die ebenfalls als Ärztin tätig war. Vogel wies den Vorwurf zurück: Es wäre nur eine Entlassung in die DDR möglich gewesen, da sein Mandant als Gefängnisarzt »Geheimnisträger« gewesen sei und seine Frau »als angesehene Ärztin in städtischer Stellung« tätig war. Hätte er auf der Entlassung in den Westen bestanden, wäre der Fall als »Z-Fall« unlösbar gewesen. Verwandtschaft im Westen gebe es ohnehin nicht.466 In Absprache mit Kunst und Rittberg protestierte Stange »nachdrücklich und schriftlich gegen dieses Verfahren«: Von einem Junktim ›Entlassung nur bei Verbleib in 463 Vogel an Stange, 21.9.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 460. 464 Name geändert. 465 O. N. an Kunst, 28.12.1966; EZA, 742/293. 466 Vogel an Stange, 12.1.1967; EZA, 742/293.
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der DDR‹ sei nie die Rede gewesen, vielmehr habe Vogel die Entlassung »ohne Einschränkung« verbindlich zugesagt.467 Dieser sah sich daraufhin veranlasst, gegenüber Stange nochmals klarzustellen, dass sich die Zusage der Haftentlassung »naturgemäß« nicht auf den Ort hätte beziehen können. Die Verweigerung der Ausreise stelle daher auch keinen »Vertragsbruch« dar. »Im Übrigen«, so ergänzte Vogel, »ist zu keiner Zeit und Stunde eine Vereinbarung dergestalt getroffen worden, daß die Betroffenen ›freie Wahl‹ hätten, den Entlassungsort zu wählen.« Die Grundsatzvereinbarung vom Sommer 1964, dass die Entlassungen zu den Angehörigen ersten Grades zu erfolgen haben, sei nach wie vor gültig. Unmissverständlich fügte der Anwalt hinzu: »In den folgenden Aktionen ist diese Handhabung sehr großzügig vorgenommen worden, ohne daß, was ich wiederholen möchte, diesbezüglich neue Festlegungen getroffen worden sind. Es muß immer davon ausgegangen werden, daß bei allem, was im Rahmen der Aktion geschieht, meine Seite nicht überfordert werden darf.«468
Um Streit über die Auslegung der Grundsatzvereinbarung bezüglich des Entlassungsgebietes zu vermeiden, gab es nicht selten erfolgreiche Versuche des MfS, eine Entlassung in den Westen durch eine gezielte Einflussnahme auf die Angehörigen zu verhindern. Ein prägnantes Beispiel hierfür sind die Erlebnisse Manfred Bahras.469 Sie zeigen, welche entscheidende Rolle die Informationen spielten, über die der Betroffene verfügte. Bahra war 1968 verhaftet und im Februar 1969 wegen der »Nichtanzeige« der Fluchtvorbereitungen eines Freundes sowie aufgrund »staatsfeindlicher Hetze« gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt worden. An seine Entlassung erinnert er sich wie folgt: »Während meiner Haft in Cottbus wurde meine Frau von der Stasi befragt, ob sie möchte, dass ich entlassen werde und nach Hause komme. Das hat sie natürlich bejaht, … zwei Kinder warteten auf ihren Vater. Von der Möglichkeit der Übersiedelung wurde nicht gesprochen, außerdem hatte ich kein Flucht-Delikt und damit meine Frau kein Motiv zu einer entsprechenden Nachfrage. Ohne Vorankündigung wurde ich im Juli oder Anfang August 1969 von Cottbus … nach Karl-Marx-Stadt gebracht. […] Auf dem Freigang lernten wir Gefangene aus anderen Haftanstalten kennen. So erzählte uns ein Bautzener, dass er schon einmal in diesem Entlassungscamp war und auf die Frage, wohin er entlassen werden sollte, geantwortet hatte: in den Westen. Daraufhin sei er für ein weiteres Jahr zurück nach Bautzen gekommen. Ähnliches berichteten andere. Nach einigen Tagen wurde ich zu einem Gespräch geholt. Mindestens zwei StasiMänner empfingen mich freundlich und richteten Grüße meiner Frau aus. Sie wäre 467 Stange an Vogel, 16.1.1967; ebenda. 468 Vogel an Stange, 15.2.1967; ebenda. 469 BMB-Entlassungsliste »Ost 1969«, DRK, Suchdienst München, H 1068, o. Pg.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
gefragt worden, ob sie möchte, dass ich wieder zu ihr und den Kindern zurückkommen soll. Das hätte sie bejaht und schriftlich bestätigt. Jetzt also die Hoffnung auf Entlassung – nach nur einem Jahr! Natürlich habe ich auf die Frage, ob ich dem Wunsch meiner Frau entsprechen möchte, ›Ja‹ gesagt.«470
Manfred Bahra wurde in die DDR entlassen, seine Ehe zerbrach jedoch an den Belastungen. Er verblieb bis 1989 in der DDR.471 Bis Anfang 1967 hatte die Bundesregierung offenbar keine Schritte unternommen, um eine Änderung der Grundsatzvereinbarung von 1964 herbeizuführen. Fälle wie die hier dargestellten gaben Anlass genug, auf eine andere Verfahrenweise zu drängen, insofern die »unziemliche Beeinflussung« eines Häftlings im Westen bekanntgeworden war. Im Zuge der Erörterungen über die Einführung der »HFZ-Kategorie« (»Kurzstrafer«) Anfang 1967 forderte Rehlinger, es müsse in diesen Fällen verbindlich vereinbart werden, dass die Häftlinge »unmittelbar – ohne vorherige Befragung wie bei der Häftlingsaktion« – in die Bundesrepublik entlassen würden.472 Stange schloss sich dieser Forderung an und konnte sie bei den Verhandlungen in Ost-Berlin offensichtlich durchsetzen.473 Was mit dieser Sondervereinbarung für die »Kurzstrafer« begann, wurde Anfang der siebziger Jahre auf sämtliche Häftlinge ausgedehnt: Von wenigen Einzelfällen abgesehen, sollte die Entlassung automatisch in die Bundesrepublik erfolgen. Wenn ein Häftling die Entlassung in die DDR wünschte, erhielt Stange die Möglichkeit, den Betroffenen persönlich zu sprechen.474
Nachträgliche Ausreisen Trotz der Forderung der DDR, dass die Häftlinge zu den Angehörigen ersten Grades entlassen werden sollten, konnten manche Häftlinge durch Einbeziehung in die Verhandlungen über Familienzusammenführungen nachträglich ausreisen, selbst wenn sie keine Verwandten im Westen hatten. Eigene Bemühungen der Häftlinge waren in der Regel erfolglos, da die Behörden z. B. bei Spionagedelikten, wegen der Vorstrafe oder der noch laufenden Bewährung 470 Manfred Bahra an den Verfasser, 15.3.2011; vgl. auch den Fall [Name anonymisiert] (BMBEntlassungsliste »Ost 1969«, DRK, Suchdienst München, H 1068, o. Pg.): Er hatte einen Ausreiseantrag gestellt, doch der vom MfS genehmigte »Sprecher« mit seinen emotional aufgewühlten Eltern »untergrub seine Standfestigkeit«, sodass er den Antrag zurückzog: »Man hat mich da weichgeklopft«; Telefoninterview mit [Name anonymisiert], 26.11.2009. 471 Dieckmann: Freigekauft, S. 54 f. 472 Vermerk Rehlingers, 19.1.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 362. 473 Stange an Kunst, 18.1.1967; ebenda, S. 360. 474 Rehlinger: Freikauf, S. 57.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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die Ausreise ablehnten. Zudem mussten sich die Betroffenen selbst oder ihre Bekannten und Verwandten im Westen darum kümmern, denn aufgrund »der besonderen Vertraulichkeit der Maßnahme,« so Rehlinger, sei es nicht möglich, die Betroffenen anzuschreiben.475 Ulrich Weißgerber, der wegen der »sehr merkwürdigen« Umstände seiner Entlassung 1965 hellhörig geworden war, hatte nach seiner Haftentlassung von einer ehemaligen Haftkameradin, mit der er im Gefängnis in Hohenschönhausen intensiv mittels Klopfzeichen kommuniziert hatte, von dem Anwalt erfahren, »der mit Übersiedlungen in die Bundesrepublik befasst war«. Daraufhin fuhr er mehrmals zu Vogel nach Berlin und bedrängte ihn, sich für seine Ausreise einzusetzen. Zunächst erklärte ihm Vogel, er könne nichts für ihn tun, da er [Ulrich Weißgerber] keine Angehörigen im Westen habe. Nach einiger Zeit versprach Vogel jedoch zu helfen. Ulrich Weißgerber erinnert sich lebhaft an das Gespräch: »Auf einmal guckt er mich ganz lange an, […] holt einen Zettel ‘raus, schreibt meinen Namen drauf: ›Geboren‹? – ›Wohin wollen Sie entlassen werden?‹ – ›Ich versuch’s jetzt‹, sagte er. Und dann: ›Arbeitsstelle?‹ Ich sagte: ›Technische Hochschule Ilmenau‹. Er darauf: ›Arbeitsplatzwechsel, sonst denken die noch, sie verlieren einen wichtigen Menschen‹. Das war so etwa seine Sprache. Dann hat er mir den Tipp gegeben, ich soll doch versuchen, in irgendeiner privaten Firma eine Arbeit aufzunehmen. Diesen Rat habe ich befolgt.«
Im September 1966 erhielt Ulrich Weißgerber die Ausreisegenehmigung.476 Auch andere ehemalige Häftlinge konnten so nachträglich ausreisen. Die Begründungen für den Ausreisewunsch reichten dabei von persönlichen und gesundheitlichen Motiven (»finden sich nicht zurecht«, »erlitt 1965 Schlaganfall«) bis zur beruflichen Perspektivlosigkeit (»sein landwirtschaftliches Vermögen ist enteignet worden«, »darf sein Studium nicht fortsetzen«).477 Bis 1967 konnten 123 jener Häftlinge, die von 1963 bis 1965 in die DDR entlassen worden waren, nachträglich über die Familienzusammenführungen in den Westen ausreisen.478 Wie viele weitere Häftlinge auf diesem Weg in den Westen gelangten, lässt sich ohne einen namentlichen Abgleich aller Unterlagen 475 Vermerk Rehlingers, 5.8.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 331, Anm. 2. Rehlinger bezog sich damit zwar auf die Familienzusammenführungen, doch dürfte dies im gleichen Maße für die Häftlingsaktion gegolten haben. 476 Interview mit Ulrich Weißgerber, 25.9.1996, Zeitzeugendatenbank Gedenkstätte Hohenschönhausen. 477 Vgl. die F-Listen in: EZA, 742/278, 279, 286, 288. 478 Die DDR-Entlassungen konnten nur mit den im Nachlass Kunst vorhandenen Familienzusammenführungslisten von 1964–1967 (EZA, 742, Nrn. 276, 278, 279, 281–283, 286, 288–291, 293, 307) abgeglichen werden; jedoch dürften diese Unterlagen alle in diesem Zeitraum entstandenen Listen umfassen.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
nicht feststellen. 1968 bemerkte Rehlinger gegenüber Prälat Zinke, es sei bisher »fast immer« geglückt, »Fehlentscheidungen« hinsichtlich des gewünschten Entlassungsgebietes durch eine nachträgliche Ausreise über die Bemühungen zur Familienzusammenführung zu korrigieren479 – vorausgesetzt, die Betroffenen hatten überhaupt davon erfahren, dass ihre Entlassung auf einem Freikauf beruhte und hatten den Wunsch zur Ausreise geäußert. In einer Vereinbarung vom Mai 1972 kamen die Anwälte zudem überein, dass »in Weiterführung der Absprache 1971 sogenannte Altstrafer zur Ausreise gebracht« würden, d. h. Häftlinge, die in den Vorjahren in die DDR entlassen worden waren.480 Nachträglich lässt sich nur schwer beurteilen, ob die seinerzeit in die DDR entlassenen Häftlinge häufiger die Gelegenheit zur Ausreise genutzt hätten, wenn sie denn von dieser Möglichkeit Kenntnis gehabt hätten. Es gab sicher viele Fälle, in denen die Betroffenen an ihren Heimatort und vor allem zu ihrer Familie zurückkehren wollten.481 Fest steht aber, dass die »Aussprache«, wenn sie denn stattfand, durch die Art der Fragestellung und Zurückhaltung der entscheidenden Informationen eine durchweg freie Entscheidung verhinderte. Im Übrigen dürfte die Erkenntnis des Bürgerrechtlers Roland Jahn, der 1983 in der Haft gezwungen wurde, einen Ausreiseantrag zu stellen, auch auf die Situation der in die DDR entlassenen Häftlinge zutreffen: »Ich habe gelernt im Knast, dass man im Knast keine freien Entscheidungen treffen kann. Die Frage, ob bleiben oder gehen, kann man eigentlich nur außerhalb von Gefängnismauern stellen.«482
Das Verfahren in den siebziger und achtziger Jahren Mit der spätestens 1972 getroffenen Vereinbarung, dass die Freigekauften den Entlassungsort frei wählen durften, ging die Zahl der Entlassungen in die DDR deutlich zurück. Da es sich bei den Freigekauften in der zweiten Phase des Häftlingsfreikaufs überwiegend um DDR-Bürger handelte, die wegen eines Fluchtversuchs inhaftiert waren, gewann der Gesichtspunkt der Ausreise nach der Entlassung zunehmend an Gewicht. Vogel erhielt den Auftrag, alle in 479 Vermerk Zinkes, 13.8.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 497 f. 480 Stange an Vogel, 30.5.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 27; Vermerk Hoeschs, 7.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), S. 171–177, hier 173; vgl. Stange an Vogel, 28.8.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 48. 481 Z. B. die Fälle Hünerbein, Wolfgang: Mit 16 im »Roten Ochsen«. Magdeburg 2000, sowie Hellström, Peter: Die Postkontrolle der Staatssicherheit. Aus der Sicht eines Zeitzeugen. Berlin 2010, hier S. 408–411. 482 Roland Jahn im Interview, http://www.jugendopposition.de/index.php?id=4873, download am 7.3.2011.
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den Freikauf einbezogenen Häftlinge, die den Wunsch nach Entlassung in die DDR geäußert hatten, in der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Karl-MarxStadt persönlich zu befragen und das Gespräch nebst Datum der Entlassung in einem Protokoll festzuhalten.483 Vogels Auftraggeber mussten es akzeptieren, dass die Bundesregierung nur in diesem Fall zu einer Zahlung bereit war. In einem Vermerk vom November 1988 heißt es: »Um eine Gegenleistung in der üblichen Höhe zu sichern, ist eine Vorführung dieser Strafgefangenen vor RA Vogel bzw. Starkulla in Gegenwart des RA der BRD, Näumann, erforderlich.«484 Aus Sicht der Bundesregierung war damit gesichert, dass die Häftlinge von der Möglichkeit zur Ausreise Kenntnis hatten und ihre freie Entscheidung für die Entlassung in die DDR aktenkundig war. Zudem belehrte Vogel die Betroffenen, dass sie sich binnen sechs Monaten an ihn wenden könnten, falls sie ihre Meinung später ändern sollten.485 Befragungsprotokolle aus den achtziger Jahren zeigen, dass durchweg persönliche Gründe für einen Verbleib in der DDR ausschlaggebend waren, z. B. wenn der nicht-inhaftierte Ehepartner in der DDR bleiben wollte, das Sorgerecht für minderjährige Kinder ungeklärt war oder weil die Betroffenen Angst vor dem Schritt ins Ungewisse hatten. Dass viele Häftlinge dennoch misstrauisch blieben, zeigt die häufig verwendete Formulierung Vogels in den Protokollen: »Mandant zweifelt an der freien Wahl«.486 Den Ablauf einer solchen Befragung schildert exemplarisch Rainer Scheck, der 1979 wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Nach Verbüßung der Hälfte der Strafe wurde er 1981 in die UHA des MfS nach Karl-Marx-Stadt verlegt und einem Stasi-Offizier vorgeführt, der ihn fragte, was er nach der Entlassung machen wolle. Rainer Scheck entschloss sich, in der DDR zu bleiben. »Ich glaubte, man könne noch etwas verändern. Außerdem hatte ich ja meine Arbeit dort. Meine Freunde und Familie haben eine wichtige Rolle gespielt für diese Entscheidung.« Danach wurde er in eine andere Zelle verlegt und sofort von den anderen Mitinhaftierten getrennt, die sich für die Ausreise entschieden hatten. Nach etwa zwei Wochen holte man ihn erneut und führte ihn den Anwälten Vogel und Stange vor. Vogel eröffnete ihm, dass er die Möglichkeit habe, in den Westen zu gehen. Wenn er in der DDR bleiben wolle, möge er sich seine Entschei483 Vermerk Plewas zum Abschluß der I. Folge 1976, 12.7.1976; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17877, Bl. 32 f. 484 Vermerk, 5.11.1988; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17108, Bl. 32 f. Wolf-Egbert Näumann leitete die Rechtsschutzstelle seit 1972. Vgl. Kap. II.1. 485 Z. B. BStU, MfS, HA IX, Nr. 3357, Bl. 6. 486 Siehe insbesondere BStU, MfS, HA IX, Nr. 4508 (1985). Weitere Protokolle in ZKG 9652 (1986); HA IX, Nr. 1750 (1983); HA IX, Nr. 2206 (1983–1984); HA IX, Nr. 227 (1987); HA IX, Nr. 211 (1988); HA IX, Nr. 3357 (1989); HA IX, Nr. 13652 (1983–1984).
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dung gut überlegen, da es die letzte Möglichkeit zur Ausreise sei. Rainer Scheck blieb bei seinem Entschluss und wurde im Februar 1981 an seinen früheren Wohnort entlassen.487 Strittig blieben bis zuletzt jene Fälle, in denen die DDR die Entlassung in die Bundesrepublik aus nicht näher bezeichneten »Staatsgründen« ablehnte. Allerdings blieb deren Zahl vergleichsweise gering: 1980 waren es 52 Personen (5 % aller 1980 freigekauften Häftlinge), im Jahr darauf 43 (2,7 % aller 1981 freigekauften Häftlinge).488 Da diese Häftlinge meist von Vorschlagslisten der DDR stammten, versuchte die Bundesregierung, ihre Zahl weitgehend zu minimieren. Im Sommer 1982 bat Stange seinen Ostberliner Kollegen darum, »künftig keine Fälle vorzuschlagen, in denen eine …[Entlassung] in die DDR beabsichtigt oder zu erwarten« sei.489 Ende der achtziger Jahre lehnte es die Bundesregierung schließlich ab, für in die DDR entlassene Häftlinge eine Gegenleistung zu erbringen.490 Möglicherweise weist die überraschend hohe Zahl der Entlassungen in die DDR im ersten Jahrzehnt des Freikaufs und der Rückgang der Ostentlassungen in den siebziger und achtziger Jahren zugleich auf einen Wandel in der Ideologie der SED und des MfS und ihrer Sichtweise auf die Inhaftierten hin. Während sie die Häftlinge zunächst primär als unveräußerliche »Staatsbürger« wahrnahm, die für die Idee des Sozialismus »noch nicht verloren« waren und deren Ausreise in den Westen durch schlichte Verweigerung oder eine manipulative Gestaltung der »Aussprachen« möglichst verhindert werden sollte, verschob sich der Blickwinkel allmählich dahingehend, dass die Häftlinge hauptsächlich als »Störenfriede« gesehen wurden, deren Abschiebung in den Westen eher einen Gewinn als einen Verlust darstellte.491 Zudem dürfte die hohe Zahl der DDR-Entlassungen, die schließlich durchweg in der DDR beheimatete Häftlinge betrafen, die Akzeptanz des Freikaufsgeschäftes bei den beteiligten DDR-Funktionären gestärkt haben. Dadurch wurde die Gefahr, die der Freikauf für das Grenzregime darstellte, zumindest teilweise entschärft. Ein bedenkliches Ausmaß gewann die Angelegenheit erst, seitdem auch die große Mehrheit der DDR-Bürger ohne Angehörige im Westen in die Bundesrepublik entlassen wurde. Karl Seidel, der als Leiter der BRD-Abteilung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten 487 Interview mit Rainer Scheck, 30.10.2008. Vgl. auch die Fälle Rudolf Lohse in: Knechtel: Stalins DDR, S. 148–154 und Bernd Sickert in: Furian, Gilbert: Mehl aus Mielkes Mühlen. Schicksale politisch Verurteilter. Berlin 1991, S. 110. 488 Notiz Volperts betr. »Entlassungen in die DDR aus Staatsgründen«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13651, Bl. 257. 489 Stange an Vogel, 30.8.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 134. 490 Notiz Enkes, o. D., wahrscheinlich 1988 oder 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17108, Bl. 6 f. 491 Vgl. hierzu Kap. VI.1.
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zwar nicht zum engeren Kreis der Verantwortlichen gehörte, aber trotzdem aus der Perspektive der DDR-Nomenklatur schreibt, stellte zu diesem Punkt in seinen Erinnerungen fest: »Solange es sich um den Freikauf von Häftlingen aus der BRD und Westberlin handelte, konnte man die Sache akzeptieren. Aber auch aus politischen Gründen inhaftierte DDR-Bürger wurden nach entsprechenden von Bonn übermittelten Listen gegen ein Kopfgeld an die BRD überstellt. […] Es war aber eine unwürdige Praxis, eigene Bürger zu verkaufen – ganz abgesehen davon, daß damit die eigene Staatsbürgerschaftsdoktrin unterlaufen und der BRD-These von der ›Obhutspflicht für alle Deutschen‹ Vorschub geleistet wurde.«492
»Wenn man sich mit Halunken einlässt …« – Betrugsfälle Zweifellos fühlten sich SED und MfS bei dem Geschäft mit politischen Häftlingen kaum dem Gedanken eines »fairen Handels« mit dem Vertragspartner Bundesrepublik verpflichtet. Die Tätigkeit Volperts wird in den Akten des MfS unter anderem als »Kampfauftrag des Genossen Minister«493 oder »Kampfauftrag … der Partei und Regierung« umschrieben.494 In einem Vorschlag Mielkes aus dem Jahr 1975, Volpert mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold auszuzeichnen, heißt es, dass dieser »alle seine Kräfte und Fähigkeiten im Kampf gegen den Klassengegner, für die Stärkung und Sicherung des sozialistischen Aufbaus in der DDR« einsetze.495 Diese martialische Rhetorik mag lediglich eine der gängigen ideologischen Floskeln gewesen sein. Da das MfS die Häftlingsaktionen als einen Teil des allgegenwärtigen »Klassenkampfes« verstand, bedeutete dies aber zugleich, dass im Ringen mit dem ideologischen Gegner der Zweck die Mittel heiligte, insofern dies die Erwirtschaftung von Devisen nicht gefährdete. Ideologisch betrachtet dürfte Volpert daher keine Skrupel empfunden haben, den Verhandlungsgegner zu übervorteilen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Eine wichtige Voraussetzung für den möglichen Erfolg von Täuschungsund Betrugsversuchen war insbesondere in der ersten Phase des Freikaufs gegeben: Die DDR besaß einen großen Informationsvorsprung gegenüber der Bundesrepublik. Während das MfS über sein eigenes Archiv, das Strafregister der Generalstaatsanwaltschaft und über die zentrale Gefangenenkartei der 492 Seidel, Karl: Berlin-Bonner Balance. 20 Jahre deutsch-deutsche Beziehungen. Erinnerungen und Erkenntnisse eines Beteiligten. Berlin 2002, S. 171 f. 493 Kaderakte Manfred Enke; BStU, MfS, KS 13425/90, Bl. 112. 494 Analyse über den Stand der pol.-op. Dienstdurchführung der Aktion 64–67; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 288. 495 Kaderakte Heinz Volpert; BStU, MfS, KS I 6/87, Bd. 1, Bl. 121.
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»Verwaltung Strafvollzug« im MdI mühelos auf die Daten sämtlicher Häftlinge zugreifen konnte, verfügte der Westen oft nur über bruchstückhafte, teilweise sogar falsche Informationen. Zum einen lag dies daran, dass die politischen Verurteilungen in der DDR generell der Geheimhaltung unterlagen. Von Schauprozessen abgesehen fanden die Gerichtsverhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, das Urteil erhielten die Betroffenen nicht schriftlich ausgehändigt. Aus diesem Grund und bedingt durch die Nichtanerkennungspolitik der Bundesregierung war es aussichtslos, Auskunftsersuchen direkt an Behörden der DDR zu richten. Zum anderen waren die Wege der Informationsbeschaffung für die zuständigen Stellen im Westen nach dem Mauerbau wesentlich mühsamer. Konnten die Anwälte der Rechtsschutzstelle zuvor noch telefonisch oder schriftlich mit den in der DDR wohnenden Angehörigen der Inhaftierten in Kontakt treten und geflohene ehemalige Häftlinge im Westen befragen, so waren diese Kommunikationswege nach dem 13. August 1961 teils massiv gestört oder gar vollständig unterbrochen.496 Ein Lichtblick ergab sich immerhin dadurch, dass mit Beginn des Freikaufs wieder Häftlinge in den Westen gelangten, die über ihre zurückgebliebenen Haftkameraden Auskunft geben konnten. Allerdings mussten sie sich allein auf auswendig gelernte Daten verlassen. Rehlinger beklagte sich mehrmals über die dürftige Informationslage. Viele Fälle seien im Westen überhaupt nicht bekannt, in anderen lägen »den sachkundigen Stellen« wie der Rechtsschutzstelle oder dem Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen nur bruchstückhafte, teils sogar falsche Angaben vor.497 Oft lasse sich daher »nicht mit letzter Sicherheit« feststellen, »welcher Sachverhalt der Verurteilung zugrunde lag und liegt«.498 Noch im Herbst 1971 stellte sein Nachfolger Jan Hoesch bezüglich der Arbeit der Rechtsschutzstelle fest, dass die »Erfassung von Haftfällen [...] und die Aufklärung […] mitunter zu wünschen übrig« lasse.499
496 Seit dem Bau der Berliner Mauer gab es für Privatgespräche keine direkte Telefonleitung zwischen den beiden Teilen Berlins mehr. Pötzl: Spione, S. 171. 1972 existierten insgesamt lediglich 30 Leitungen zwischen West- und Ost-Berlin, Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 2: 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1972. 1. Teilbd.: 1.1.1971 – 31.12.1972. Bearb. v. Hanns Jürgen Küsters, München 2004, S. 358. 497 Vermerk Rehlingers, 14.9.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 184 f.; Vermerk Rehlingers, 19.2.1969; ebenda, S. 588 f., Anm. 3. 498 Vermerk Rehlingers, 30.5.1969; ebenda, S. 626. Laut einem Vermerk Otto Ohlsens, dem Direktor des DRK-Suchdienstes, aus dem Jahr 1961 über ein Gespräch mit Rechtsanwalt Musiolik, dem Leiter der Rechtsschutzstelle, betrafen 90 % der in der Rechtsschutzstelle registrierten Haftfälle »in der Zone verhaftete Bundesbürger«; Vermerk Ohlsens, 23.5.1961, DRK, Suchdienst München, H 1421. 499 Vermerk Hoeschs betr. Neuordnung des Rechtsschutzes, 27.9.1971; BArch-K, B 137/9948.
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Hinzu kam, dass die »Spielregeln«, nach denen die DDR mit sich verhandeln ließ, die Bundesregierung benachteiligten. Erstens weigerte sich Vogels Seite, dem Westen die fehlenden Informationen zu liefern, wenn die Bundesregierung auf ihren Wunschlisten zwar den Namen eines Häftlings aufgeführt hatte, jedoch keine genaueren Angaben zum Geburtstag, dem Datum von Verhaftung und Verurteilung sowie dem Strafmaß machen konnte. Noch 1973 bemerkte Stange in einem Schreiben an das Innerdeutsche Ministerium, er bekäme von der DDR zu den vom Westen benannten Häftlingen »keine Auskünfte über Haftdaten«.500 Es blieb der Bundesregierung daher nichts anderes übrig, nach bestem Wissen und Gewissen zwischen zwei Optionen zu entscheiden: Entweder auch die unvollständig aufgeklärten Inhaftiertenfälle auf die Wunschliste zu setzen und sich damit der Gefahr der Übervorteilung auszusetzen, oder dies nicht zu tun und damit eine Ungleichbehandlung dieser Häftlinge mit den zweifelsfrei identifizierten hinzunehmen. Je mehr der Freikauf zur Normalität in den deutsch-deutschen Beziehungen wurde, umso mehr neigten die Verantwortlichen offenbar dazu, sich für den »Blindflug« zu entscheiden und das einhergehende Risiko der Übervorteilung in Kauf zu nehmen, gleichsam als Kollateralschaden zu tolerieren. Über die von der DDR benannten Mittäter gab es ohnehin ständigen Streit: Hier übermittelte die DDR zwar meist die vollständigen Haftdaten, verschwieg jedoch vielfach kriminelle Vorstrafen des Häftlings.501 Die zweite, den Westen benachteiligende »Spielregel« bestand wie gezeigt in den eingeschränkten Möglichkeiten zur Kontrolle der Entlassungen in die DDR. Da Stange die Häftlinge nicht durchweg befragen konnte, war weder die Identität des Häftlings, noch die Tatsache der vorzeitigen Entlassung an sich, geschweige denn ihr termingerechter Vollzug immer nachprüfbar. Lediglich über Korrespondenz mit Angehörigen oder durch Erkenntnisse dritter Stellen wie dem DRK ließ sich mit hinreichender Sicherheit feststellen, ob die betroffenen Häftlinge tatsächlich aus der Haft entlassen worden waren. Die Abmachung vom Sommer 1964 zwischen den Verhandlungsparteien, dass Vogel »dienstlich schriftlich gegenüber Rechtsanwalt Stange die erfolgten Entlassungen nach dem Osten […] bestätigen« würde, konnte die Verantwortlichen im Westen wohl kaum vollauf befriedigen.502 Im Lichte dieser technischen Bedingungen war sich die Bundesregierung bewusst, dass Betrugsversuche nicht ausgeschlossen werden konnten und mit
500 Stange an Lücke, 29.10.1973; BArch-K, B 137/15778. 501 Vgl. Kap. VIII.1. 502 Vermerk Rehlingers, 18.8.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 173; vgl. Stange an Kunst, 23.7.1965; ebenda, S. 260; Vermerk Stanges, 18.8.1966; EZA, 742/279.
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diesen auch gerechnet werden musste.503 Auch wenn die Ministerialbürokratie argwöhnisch darauf achtete, Übervorteilungen zu verhindern und vor allem Rehlinger mit unverhohlener Schärfe auf nachgewiesene Täuschungsversuche reagierte, waren die Betrugsversuche eine unvermeidliche Begleiterscheinung des grundsätzlichen »Ja« zu Vereinbarungen mit der DDR. Die Hinnahme der nachteiligen Rahmenbedingungen war der politische Preis für den Freikauf, den der Westen zahlen musste – und zu zahlen bereit war. In diesem Sinne äußerte sich auch Rehlinger: »Wer es mit der Moral ernst meint, muß gelegentlich tief schlucken.«504 Wie und in welchem Umfang gelang es dem MfS, die westlichen Verhandlungsführer zu täuschen? Einige der Methoden des MfS lassen sich an Einzelfällen aufzeigen.505 So war bereits der »Freikauf« Günter-Maria Dressels, einer der ersten acht Häftlinge 1963, streng genommen ein Betrugsfall. Noch bevor Volpert die Wunschliste der Bundesregierung erhalten und die entsprechenden Maßnahmen zu seiner Entlassung eingeleitet hatte, war bereits ohne die Mitwirkung des MfS ein Entlassungsverfahren eingeleitet worden. Die Leitung der StVA Brandenburg hatte Dressel eine positive Führung in der Haft bescheinigt und daher eine bedingte Strafaussetzung nach § 346 StPO vorgeschlagen. Die HA IX des MfS in Berlin stimmte dem Vorschlag wenig später zu. Damit brauchte Mielke den bereits eingeleiteten Entlassungsvorgang nur noch zu bestätigen.506 Von außen war dieser Betrug natürlich nicht zu erkennen, dazu hätte der Westen über einen geheimen Informanten im MfS verfügen müssen. Auch in den folgenden Jahren gab es zahlreiche Fälle, in denen die Entlassung bereits aus anderen Gründen beschlossen war, aber das MfS trotzdem eine »Gegenleistung« eintreiben konnte. Eindrücklich belegt dies der Fall Jürgen Schönnagels: Der 19-jährige Chemiearbeiter war im Sommer 1964 gemeinsam mit mehreren Freunden in der brandenburgischen Kleinstadt Rathenow wegen »staatsgefährdender Hetze« verhaftet worden. Das Bezirksgericht Potsdam verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren, 503 Vermerk Rehlingers, 6.1.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 357. 504 Rehlinger: Freikauf, S. 74. 505 Die folgenden Fallschilderungen beruhen auf den Listen, die das BMG und Rechtsanwalt Stange an das DRK bzw. Bischof Kunst übergaben sowie BStU-Akten. Nur die weiterhin geheim eingestuften Originalunterlagen im Bundesarchiv (B 137) enthalten sichere Angaben dazu, ob für den betreffenden Häftling auch eine Gegenleistung erbracht wurde: So zahlte die Bundesregierung 1965 nur für die vereinbarten 1 500 Häftlinge, die Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, enthält jedoch 1 540 Namen; zu der an Bf. Kunst übergebenen Liste der Aktion 1967 bemerkte Stange, diese würde auch Namen von Häftlingen enthalten, die »nicht im Rahmen der Besonderen Bemühungen« entlassen wurden; Stange an Kunst, 9.2.1968; EZA, 742/282. 506 Führungsbericht der StVA Brandenburg v. 31.05.1963 – inhaltlich identisch mit dem Bericht vom März 1963; BStU, MfS, HA IX, Nr. 1789, Bl. 22; Beurteilungsblatt der HA IX in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 1789, Bl. 20; ebenda, Bl. 19.
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die er in der Potsdamer Untersuchungshaftanstalt des MfS verbüßte. Noch während der Vernehmungen hatten ihn die Vernehmer mit subtilen Andeutungen von Schikanen gegenüber seiner Schwester derart unter Druck gesetzt, dass er in eine Tätigkeit als »ZI« (Zelleninformator) einwilligte.507 Da »eine inoffizielle Zusammenarbeit nach der Haftentlassung vorgesehen« war, bat die Abteilung IX der Potsdamer MfS-Bezirksverwaltung die HA IX/4 in Berlin darum, bei der Generalstaatsanwaltschaft eine bedingte Strafaussetzung auf Bewährung für Schönnagel zu beantragen. Im Rahmen des »Zusammenwirkens« mit den Justizorganen leitete der Abteilungsleiter und spätere Chef des »Büros für Sonderaufgaben«, Manfred Enke, daraufhin die Entlassung in die Wege. Er notierte zudem, dass Schönnagel »auf keiner Liste« stehe, d. h. auf keiner der Wunschlisten der Bundesregierung.508 Tatsächlich war sein Fall im Westen nicht bekannt und das Strafmaß (»Kurzstrafer«) für eine Einbeziehung 1965 noch zu gering.509 Für Volpert und Enke traf es sich daher, dass einer von Schönnagels Mittätern vor seiner Verhaftung an der Berliner HumboldtUniversität studiert hatte. Die Westberliner Rechtsschutzstelle führte ihn auf der Liste inhaftierter Studenten, sodass ihn Stange bzw. die Bundesregierung angefordert hatten.510 Daher konnte Volpert Jürgen Schönnagel zusammen mit den im gleichen Prozess Verurteilten auf die Mittäterliste setzen. Vereinbarungsgemäß wurden alle in den Freikauf einbezogen – und wohl auch »verrechnet«.511 Die Entlassungen erfolgten kommentarlos an den früheren Wohnort der Jugendlichen, sodass keiner etwas von ihrem tatsächlichen bzw. vermeintlichen Freikauf erfuhr. Lediglich der an der HU Berlin eingeschriebene Student gelangte mit einem der Busse in die Bundesrepublik.512 In der größten Zahl von Fällen gelang die Täuschung vor allem deswegen, weil der gewünschte Häftling bereits zu seinen Angehörigen in die DDR entlassen war, als die Listen über Vogel bei Volpert eintrafen. Das MfS konnte daraus schlussfolgern, dass der Westen keine Kenntnis von der Entlassung hatte. Da die westlichen Stellen den Häftling nicht in einem Regelverfahren über das Datum seiner Entlassung befragen konnten und oftmals keine Adressdaten von Angehörigen hatten, blieb der Betrug unentdeckt. So geschah 507 Interview mit Jürgen Schönnagel in: Schauka, Frank (Hg.): Abkehr von rechtsextremistisch motivierter Gewalt. Arbeiterwohlfahrt Brandenburg 2009, S. 7–22. 508 BStU, MfS, AS, Nr. 604/70, Bd. 4, Bl. 133 f. 509 Kopien des Materials der Rechtsschutzstelle und der BfGA im Besitz von J. S. 510 Musiolik an BMG, 21.4.1965, S. 2 der Liste; BArch-K, B 137/15658; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13658, Bl. 32. 511 Liste »II. Aktion – Entlassungen in die SBZ«, dort S. 38, Nr. 749, M[ittäter zur]-B[-Liste]; EZA, 742/290; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 149; BStU, MfS, HA IX, Nr. 370, Bd. 1, Bl. 138. 512 Interview mit Jürgen Schönnagel, 14.3.2010.
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es im Fall von Hans-Dieter Junge, der 1957 wegen »Geheimnisverrates« und Kontakten zum UfJ zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt und am 24. Februar 1962 aufgrund einer Strafaussetzung auf Bewährung an seinen früheren Wohnort in Rathenow (Brandenburg) entlassen worden war.513 Offensichtlich in Unkenntnis dieser Tatsache setzte ihn die Bundesregierung auf die Wunschliste des Jahres 1964. Vereinbarungsgemäß bestätigte Vogel Junges Entlassung zu seiner Familie in die DDR.514 Das traf zwar zu, lag aber bereits zwei Jahre zurück.515 Damit derlei Betrug nicht auffiel oder Einzelfälle bei Entdeckung als »Versehen« abgestritten werden konnten, ließ Volpert dem Westen in einer gewissen Anzahl von Fällen wahrheitsgemäß mitteilen, dass die gewünschten Personen bereits entlassen seien. Da das MfS davon ausgehen musste, dass der Westen dies erwarten würde, musste es diese Annahme bedienen. So meldete Vogel 1965 an Stange, die Überprüfung der Listen habe ergeben, dass 287 Häftlinge von der ersten eingereichten Liste »unabhängig von der Aktion, größtenteils aufgrund der Amnestie im Herbst 1964 […] bereits entlassen« seien.516 Im Jahr darauf waren es neun Fälle, 1967 dann 18 Fälle, die »durch Entlassung bereits erledigt« seien.517 Gelegentlich führten auch falsche Informationen des Westens zum Erfolg des Betruges, etwa wie im Fall von Peter Hampe: Der 20-jährige PädagogikStudent war am 18. November 1965 wegen seines Leserbriefes an den RIAS in West-Berlin und wegen eines Fluchtversuches verhaftet worden. Das Militärobergericht in Neubrandenburg verurteilte ihn vier Monate später wegen »Versuchten Passvergehens [d. h. Fluchtversuch]« und »staatsgefährdender Propaganda und Hetze« zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Da die Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet wurde, war der 17. Mai 1967 sein regulärer Entlassungstermin.518 Im Westen war sein Fall bekannt, sodass er auf die Liste der Aktion 1967 gesetzt wurde. Allerdings 513 Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG für Dr. Hans-Dieter Junge, Privatarchiv Familie Junge; Telefoninterview mit Hans-Dieter Junge, 20.3.2009. 514 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 72. 515 18 Jahre später, im Juli 1980, wurde Hans-Dieter Junge mit seiner Frau bei einem Fluchtversuch über Rumänien ein zweites Mal verhaftet und verurteilt. Nach fast 3 1/2 Jahren Haft gelangte er 1983 durch Freikauf in die Bundesrepublik; seine Familie folgte wenig später. Da er nunmehr befragt werden konnte, hätten die Stellen im Westen nachträglich erfahren können, dass der DDR seinerzeit eine Täuschung gelungen war. Telefoninterview mit Hans-Dieter Junge, 20.3.2009. 516 Vogel an Stange, 17.6.1965; EZA, 742/275. 517 Vogel an Stange, 27.7.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 318; Vogel an Stange, 22.5.1967; ebenda, S. 389. 518 Peter Hampe an den Verfasser, 7.7.2010 sowie Hampe: Absurdistan, S. 135–140 u. 162. Da Hampes Mittäter NVA-Angehöriger war, konnte das Verfahren nach Aussage des Militärstaatsanwalts nicht getrennt werden, sodass Peter Hampe als Zivilist vor ein Militärgericht gestellt wurde.
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lagen der Rechtsschutzstelle in einem entscheidenden Punkt falsche Informationen vor: Dort ging man von einem Strafmaß in Höhe von zweieinhalb anstelle von »nur« anderthalb Jahren aus. Da das reguläre Strafende bei Zugrundelegung dieser Daten im September 1968 lag, glaubte man im Westen, Peter Hampe durch die Einbeziehung in die Aktion 1967 ein Jahr Haft ersparen zu können. Womöglich über Vogel erhielt Rehlinger die Mitteilung, dass Hampe am 15. August 1967 entlassen worden sei, rund ein Jahr vor dem vermeintlichen regulären Entlassungstag.519 In Wahrheit hatte er die Strafe zu diesem Zeitpunkt bereits voll verbüßt und war im Mai 1967 in die DDR entlassen worden. Von seinem vermeintlichen Freikauf erfuhr er selbstverständlich nichts und verblieb in der DDR, obwohl er wegen der dauerhaften Ausschließung vom Studium an allen Universitäten und Hochschulen der DDR gerne in den Westen ausgereist wäre.520 Dank der Fürsprache ihm wohlgesonnener Mitmenschen durfte er einige Jahre später doch ein Studium aufnehmen und brachte es bis zum promovierten Chemiker. Erst im Zuge der Ausreisewelle 1984/85 verließ er die DDR.521 Gelegentlich trat ein taktisches Kalkül neben den ökonomischen Vorteil, den sich das MfS vom Betrug erhoffte, so z. B. im Fall des in Bautzen II inhaftierten Horst Zimmermann. Im jugendlichen Alter von 24 Jahren hatte er 1952 ein Angebot zum Eintritt in das MfS in der Absicht angenommen, von innen gegen den Repressionsapparat Widerstand leisten zu können. Während der zehn Monate seiner hauptamtlichen Tätigkeit für das MfS lieferte er dem Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen (UfJ) in West-Berlin zahlreiche Informationen, z. T. sogar geheime Unterlagen. Als die Spionageabwehr auf ihn aufmerksam wurde, setzte sich Zimmermann im Oktober 1952 nach West-Berlin ab, ließ sich jedoch nicht in die Bundesrepublik ausfliegen. Im Juli 1953 passierte er kurzzeitig die Sektorengrenze zwischen West- und OstBerlin und wurde prompt vom MfS verhaftet. Das Stadtgericht Berlin verurteilte ihn noch im gleichen Jahr zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe. Zunächst war Horst Zimmermann in Brandenburg und seit 1956 in der Sonderhaftanstalt des MfS im sächsischen Bautzen inhaftiert. Im Oktober 1965 wurde das Strafmaß in eine zeitlich befristete Freiheitsstrafe von 15 Jahren umgewandelt, am 5. April 1966 erhielt er durch eine bedingte Strafaussetzung die Freiheit zurück und wurde an seinen Heimatort Erfurt entlassen.522 519 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 56 sowie BMG-Liste über die 1967 in den Osten entlassenen Häftlinge, DRK, Suchdienst München, H 1065. 520 Hampe: Absurdistan, S. 162–166. 521 Interview mit Peter Hampe, 25.3.2011; Hampe: Absurdistan, S. 204 f. u. 286–291. 522 Sälter, Gerhard: Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere durch das MfS und die DDR-Justiz (1954–1966). Dresden 2002, S. 115–123; Fricke; Klewin: Bautzen II, S. 192 f.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Im Westen blieb dies zunächst unbemerkt, sodass ihn die Bundesregierung im Frühjahr 1966 erneut auf die Wunschliste setzte.523 Als Vogel Ende Juli 1966 seinem Kollegen Stange das Ergebnis der Listenüberprüfung mitteilte, ordnete er den Fall Zimmermann weiterhin der Gruppe der »Z-Fälle« zu, die »gegenwärtig nicht lösbar« seien, ganz so, als befände sich Zimmermann noch immer in Haft.524 Die dahinterstehende Absicht Volperts liegt auf der Hand: Horst Zimmermann sollte weiterhin als Druckmittel für die Freilassung der beiden östlichen Top-Spione Alfed Frenzel und Heinz Felfe genutzt werden. Je länger Zimmermann aber in Freiheit war, umso größer wurde die Gefahr, dass man im Westen Kenntnis von der bereits erfolgten Entlassung erhielt und der Betrug aufflog. Wahrscheinlich aus diesem Grund signalisierte Volpert der Gegenseite im Jahr darauf, dass Zimmermann – wohl für die übliche Gegenleistung – in die Aktion 1967 einbezogen werden könne. Offenbar von Vogel erhielt der Westen die Mitteilung, Zimmermann sei am 22. August 1967 in die DDR entlassen worden – obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt seit fast anderthalb Jahren auf freiem Fuß befand.525 Schließlich ist das Schicksal von Karl-Heinz Schmidt zu erwähnen. Der 1915 in Gera geborene Maschinenschlosser hatte als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft und war 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Als er nach seiner Entlassung 1949 in Flugblättern u. a. die Freilassung aller deutschen Kriegsgefangenen forderte, verurteilte ihn das Landgericht Gera 1951 zu fünf Jahren Zuchthaus. Wegen Widerstandshandlungen in der Haft wurde er 1951 zu weiteren fünf, 1952 zu acht und wenig später nochmals zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Schließlich verurteilte ihn ein DDR-Gericht 1955 wegen mehrerer »Sabotageakte« zum Tode. Nach sieben Monaten in der Todeszelle wandelte Walter Ulbricht das Urteil in eine lebenslange Zuchthausstrafe um. Wie Horst Zimmermann verbüßte Schmidt seine Strafe in Bautzen II, zeitweise in strenger Isolation. Der Westen setzte ihn auf die Liste der Aktion 1965 und erhielt – offenbar von Vogel – die vereinbarte »dienstliche schriftliche« Bestätigung, dass Schmidt entlassen worden sei.526 Doch anscheinend »vergaß« das MfS, seinen Teil der Vereinbarung zu erfüllen: Schmidt blieb einfach 523 Häftlingslisten Nr. I–III der Aktion 1967 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3355. Zimmermanns Name hatte bereits auf der H-Liste für 1965 gestanden. BStU, MfS, HA IX, Nr. 13658, Bl. 168. 524 Vogel an Stange, 27.7.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 318–320, beiliegende Aufstellung der »Z-Fälle aus der Liste für die Aktion 1966« in: EZA, 742/278. 525 Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 177; BMG-Liste über die 1967 in den Osten entlassenen Häftlinge, DRK, Suchdienst München, H 1065; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3355, Bl. 98. 526 H-Liste 1965; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13658, Bl. 96. Volpert hatte hs. hinzugefügt: »E.T. [Entlassungstermin] 16.9.1965«; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 147.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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weiterhin in Haft.527 Da der Bundesregierung weder Nachrichten über seine Entlassung noch über die Fortdauer der Inhaftierung vorlagen, verließ man sich offenbar einzig auf die Auskunft Vogels. Ehemalige Haftkameraden Schmidts schenkten dem jedoch keinen Glauben. Offenbar hatten sie Hinweise darauf, dass Schmidt nach wie vor in Haft war. Auf eine daraufhin veranlasste Anfrage der Bundesregierung behauptete die DDR, Schmidt sei bereits entlassen, lebe aber in der DDR. Erhard Göhl, ein ehemaliger Haftkamerad Schmidts, der im Rahmen der Aktion 1965 in die Bundesrepublik entlassen worden war, gelang es nachzuweisen, dass der angeblich in Freiheit befindliche Haftkamerad nach wie vor in Bautzen II einsaß.528 Konfrontiert mit diesen Informationen war die DDR gezwungen, Schmidt diesmal endgültig freizugeben: Am 5. Oktober 1967 wurde er nach Berlin verlegt und am 13. Oktober in die Bundesrepublik überstellt.529 Die Gesamtzahl aller Betrugsfälle und damit die Höhe der erschlichenen Summe ließen sich theoretisch durch einen Vergleich der Liste der tatsächlich entlassenen und bezahlten Häftlinge mit den Haftkarteien der DDR ermitteln. Eine solch umfangreiche Untersuchung war im Rahmen der vorliegenden Arbeit aber wegen des eingeschränkten Quellenzugangs und aus zeitlichen Gründen nicht möglich. Doch selbst ohne einen solch umfassenden Zugriff lassen sich alleine für den Zeitraum von 1964 bis 1968 mindestens 60 Betrugsfälle feststellen, bei denen die Entlassung sämtlich in die DDR erfolgte.530 Multipliziert mit dem »internen« Satz von 40 000 DM pro Fall ergibt sich eine Summe von 2,4 Millionen DM, die das MfS einstreichen konnte, ohne dafür Häftlinge zu entlassen. Dass die Dunkelziffer für diesen Zeitraum noch wesentlich größer gewesen sein dürfte, legen Aufzeichnungen Volperts über die 1969 und 1970 erschlichenen Summen nahe. Auf der Abrechnung für die Häftlingsaktion 1969 notierte er: »Während der Aktion 1969 konnten etwa 8 Millionen verrechnet werden, ohne entsprechende Gegenleistungen zu erbringen.« Geteilt durch den Durchschnittsbetrag von 40 000 DM pro Fall gab es allein 1969 circa 200 527 Haftkartei der Gedenkstätte Bautzen II, Auskunft v. 28.3.2011. 528 Kuo, Xing-Hu: Ein Chinese in Bautzen II. 2 675 Nächte im Würgegriff der Stasi. Böblingen 1990, S. 313–315. 529 »Nach 17-jähriger Zonenhaft in die Bundesrepublik entlassen«. In: Tagesspiegel v. 16.11.1967; Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067, Bl. 147; Haftkartei der Gedenkstätte Bautzen II, Auskunft v. 28.3.2011; Transportliste v. 13.10.1967, DRK, Suchdienst München, H 1065. 530 Abgleich der Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067 mit der Fippel-Literaturdatenbank, der Mitgliederkartei des VOS, den Unterlagen des Zeitzeugenbüros der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße sowie den Entlassungslisten der Aktion 1965 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 370.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Betrugsfälle. Weitere 8 Millionen, so Volpert, wären durch die Abschiebung von 200 als Mittäter benannten Häftlingen hinzugekommen, die mehrfach wegen Fluchtversuchen oder »kriminellen« Delikten vorbestraft gewesen seien. Volpert resümierte, dass damit »ein Betrag von 16 Millionen insgesamt als eine Art ›Reingewinn‹ erbracht« worden sei.531 Auch im Jahr darauf hatte Mielkes Beauftragter für »Sonderaufgaben« allen Grund dafür, tschekistischen Stolz über seine Arbeit zu empfinden: Im Frühjahr 1971 fasste er das Verhandlungsergebnis in einer vorläufigen Abrechnung für die H-Aktion 1970 zusammen: »Die von der Westseite übergebenen H-Listen besaßen große Lücken in exakten Angaben (vgl. Abb. 21).532 Dadurch war es uns möglich, 102 sogenannte erfundene Personen, die einfach gezählt wurden, mitzuverrechnen. Strafgefangene, insgesamt 45, die ebenfalls auf den H-Listen standen, aber bereits zur Entlassung gelangten, wurden gleichfalls mitverrechnet.«
Da wie auch im Vorjahr eine große Zahl einschlägig vorbestrafter Mittäter einbezogen wurde und nach Gießen entlassen worden sei, stand unter dem Strich erneut eine stattliche Gesamtsumme an erschlichenen Leistungen. »Zählt man diese Beträge zusammen«, so Volperts vorläufige Bilanz, »ergibt sich eine Summe von insgesamt 16 Millionen, die von uns erwirtschaftet wurde, ohne geringe [d. h. für nur geringe, JPW] oder keine Gegenleistungen.«533 Dass bereits entlassene Häftlinge mit verrechnet wurden, klingt glaubwürdig, doch wie war es möglich, den Westen mit »erfundenen Personen« zu täuschen? Die Erklärung liegt wohl darin, dass Volpert einige der auf den Wunschlisten der Bundesregierung genannten Häftlinge wegen der lückenhaften Angaben selbst nicht auffinden konnte. Anstatt diese Auskunft jedoch an Vogel weiterzugeben und die Personen aus den Verhandlungen auszuschließen, erhielten die Häftlinge eine Legendierung in Form fiktiver Haftdaten 531 Abrechnung H-Aktion 1970; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 1 f. 532 Nach dem Teil-Faksimile der Liste in: Völkel, Claudia: Die besonderen Bemühungen der Bundesregierung um Haftentlassung und Übersiedlung aus der DDR. Aus der Überlieferung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (B 137), Teil 1. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 16 (2008) 1, S. 39–51, hier 49, zu urteilen, ist die Liste eine Kopie der Liste in: BArchK, B 137/36010. Die übrigen Seiten enthalten ebenfalls zahlreiche Lücken. Ein Mitarbeiter des BMB übergab sie nach Abschluss der Aktion dem DRK-Suchdienst Hamburg zwecks Abgleich mit der dortigen Inhaftiertenkartei, Vermerk 7.7.1970; BArch-K, B 137/15684. Das »H« in der rechten Spalte bezeichnete einen von der Bundesregierung angeforderten Häftling, das »M« einen von der DDR benannten Mittäter. Die hier aufgeführten Personen sind zwar nicht zwingend mit den von Volpert genannten Betrugsfällen identisch, doch belegt die Liste, dass die Bundesregierung Vereinbarungen mit der DDR abschloss, obwohl sie nur unvollständige Informationen über die in den Osten entlassenen Häftlinge besaß. 533 Die Gesamtsumme ist falsch berechnet: Sie liegt bei Zugrundelegung des »Normaltarifs« bei »nur« 15 440 000 DM.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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sowie eines fiktiven Entlassungsdatums. Wenn die so »erfundenen Personen« in die DDR entlassen wurden, war es nicht allzu schwer, zumindest das Ausmaß des Betruges geheim zu halten. Da die Liste der Ost-Entlassungen 200 Häftlinge umfasste, ist davon auszugehen, dass sich diese »erfundenen Personen« vorrangig hierunter befanden.534 Zwar ist nicht auszuschließen, dass das MfS »erfundene Personen«, d. h. Häftlinge mit zufällig gleichem oder ähnlichem Namen wie dem auf der H-Liste genannten, auch in die Bundesrepublik entließ. Das Risiko, dass der Schwindel aufflog, wäre jedoch wesentlich größer gewesen: Bei der Befragung des Entlassenen im Westen hätte sich recht einfach feststellen lassen, ob die Entlassung vorzeitig erfolgt war und Unstimmigkeiten hinsichtlich der Identität des Häftlings hätten zwangsläufig zu Beanstandungen geführt. Die Angaben Volperts sind insgesamt als glaubwürdig einzustufen, denn die Informationen im Westen über die in den Osten entlassenen Häftlinge war insbesondere 1970 recht dürftig, wie das Ergebnis einer parallelen Überprüfung der Liste durch den DRK-Suchdienst in Hamburg zeigt. Auf Bitten des Innerdeutschen Ministeriums glichen die DRK-Mitarbeiter die Liste mit ihrer eigenen Zentralen Inhaftiertenkartei ab. Über die Hälfte aller Häftlinge (104) waren darin entweder gar nicht verzeichnet oder es waren keine Anschriften von Angehörigen bekannt. In den restlichen 92 Fällen waren zwar die Haftanstalt und die Anschrift von Angehörigen in der DDR nachweisbar, aber nur in 30 Fällen die Tatsache der Entlassung bekundet. Für 16 Personen lagen sogar Informationen vor, dass die Entlassung bereits vor dem auf der Liste angegebenen Termin erfolgt war.535 Da das DRK das Ergebnis seiner Überprüfung an das »Freikauf-Referat« im Innerdeutschen Ministerium meldete, wusste man dort zumindest von diesen Betrugsfällen und versuchte wahrscheinlich, die Gegenleistung zu verweigern.536 Nicht zuletzt war dies einer der Gründe, warum die Verhandlungen über die Bewertung der Einzelfälle derart hartnäckig geführt wurden.537 Gemessen am finanziellen Volumen der Freikaufsvereinbarungen der Jahre 1969 und 1970 war das Ausmaß des Betruges beträchtlich: Wenn die DDR 1969 circa 40 Millionen DM für Häftlinge erhielt, so machte der Anteil der durch Betrug »erwirtschafteten« Summe in Höhe von 8 Millionen DM knapp 20 Prozent der Gesamtsumme aus. Die abgeschobenen »kriminellen« Mittäter hinzugerechnet, lag die Quote bei knapp 40 Prozent. Im Jahr darauf fiel sie nur wenig darunter: Gemessen an der 1970 für Häftlinge aufgewendeten 534 535 536 537
BMB-Liste »Ost-Entlassungen 1970«; DRK, Suchdienst München, H 1069. Ebenda. Ohlsen an Hoesch, 22.10.1970; DRK, Suchdienst München, H 1069, o. Pg. Vgl. Kap. III.3.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Gesamtsumme (ca. 44 Mio. DM) waren 18 Prozent nicht durch Gegenleistungen gedeckt; einschließlich der kriminellen Mittäter etwa 36 Prozent.538 Wäre der Umfang dieses Betruges im Westen ruchbar geworden, hätte dies mit Sicherheit einen Skandal ausgelöst. Nicht auszuschließen ist, dass das Freikaufsprogramm in Gänze eingestellt worden wäre. Mit der Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR veränderten sich die Ausgangsbedingungen für Betrugsversuche. Durch die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Ost und West und dem allmählich anschwellenden Strom von Besuchern zwischen beiden Teilen Deutschlands verbesserte sich auch das Material der Rechtsschutzstelle zusehends.539 In der Folge wiesen die Häftlingslisten weitaus weniger Lücken auf als noch zuvor.540 In den achtziger Jahren wurden dem Innerdeutschen Ministerium die meisten Fälle ohnehin über Vogel bekannt, da ihn Inhaftierte oder deren Angehörige mit der Verteidigung beauftragt hatten. Vogel meldete den Fall daraufhin der Rechtsschutzstelle in West-Berlin.541 Das Innerdeutsche Ministerium entschied schließlich, ob der Fall auf die Wunschliste gesetzt wurde. Da auch die Entlassungen in die DDR aufgrund der Möglichkeit zur freien Wahl des Entlassungsortes deutlich zurückgingen, war systematischer Betrug nur noch im Falle der Ostentlassungen aus Staatsgründen möglich. Auch hierüber gab es gelegentlich Streit.542 1983 bemängelte der Leiter des »Freikauf-Referates« Klaus Plewa, dass sich unter den von der DDR vorgeschlagenen und in die DDR entlassenen Häftlingen insgesamt neun »Phantomfälle« befänden, d. h. im Westen »unbekannte Häftlinge, die ohne Befragung in die DDR entlassen wurden«.543 Volpert notierte diesbezüglich auf einem Vermerk, dies sei doch bloß eine vom Westen »neu erfundene Kategorie«. Eine Streichung der Fälle sei nicht möglich und alles andere ein »Abrücken [von] bisher geltende[n] Vereinbarungen«, was seine Seite nicht hinnehmen könne.544 Schließlich sagte Vogel zu, er wolle den Versuch machen, »fünf Streichungen und den Wegfall der Bewertung zu erreichen«.545
538 Eigene Berechnung auf Basis der Tabelle in: Whitney: Advocatus Diaboli, S. 400. 539 1977 beispielsweise reisten rd. 8 Mio. Besucher aus der Bundesrepublik in die DDR, die Zahl der Telefongespräche lag bei jährlich ca. 35 Mio. und rd. 250 Mio. Briefe wurden ausgetauscht. DzD VI/5 (1977/78), Dok. 160, S. 630. 540 Vgl. z. B. die Listen von 1989 in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13373, Bl. 27–97. 541 Zeugenvernehmung v. 22.7.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 24, Bl. 69. 542 Ebenda, Bl. 80. 543 Anlage 8 zum Vermerk Plewas, 24.1.1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 83. 544 Stellungnahme zur BRD-Abrechnung v. 24.1.1983, 8.2.1983; ebenda, Bl. 35. 545 Vermerk Plewas, 13.4.1983; ebenda, Bl. 26.
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III Der Freikauf als regelmäßige »Sonderaktionen«
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Es verwundert nicht grundsätzlich, mit welch krimineller Energie das MfS, namentlich Heinz Volpert, die Täuschung seines »Verhandlungspartners« betrieb. Das Ausmaß jedoch ist überraschend. Wahrscheinlich trugen Volperts erfolgreiche Betrugsmanöver zur Binnenlegitimation des Häftlingsgeschäftes bei und konnten seine nachteiligen Folgen, so wie die Ostentlassungen insgesamt, ein wenig aufwiegen. Nebenbei beförderten sie Volperts Karriere und trugen dazu bei, dass er seine Sonderstellung in der MfS-Hierarchie mehr und mehr festigen konnte. Welcher MfS-Oberstleutnant hätte schon von sich behaupten können, den »Klassenfeind« um mehr als 30 Millionen DM erleichtert zu haben? Mit der wachsenden Bereitschaft im Westen, sich trotz aller Risiken jedes Jahr aufs Neue auf eine Vereinbarung mit der DDR einzulassen, verhielt es sich wohl so, wie es Hermann Kalinna, seit 1966 Referent bei Bischof Kunst, aus der Rückschau pointiert feststellt: »Dass die drüben uns im Zweifelsfall über die Ohren gehauen haben, halte ich für absolut denkbar. Wenn man sich mit Halunken einlässt, dann weiß man, dass man mit den Versuchen rechnen muss. Und dann stellt sich die Frage, ob man hinter jedem Fall her ist, mit dem Risiko, dass die ganze Sache platzt, oder ob man lieber schluckt. Das gehört zu der Entschlossenheit, mit Halunken zu verhandeln.«546
546 Interview mit Hermann E. J. Kalinna, 25.7.2010.
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IV
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Der Freikauf als institutionalisiertes Programm (1973–1989)
Verstetigung im Rahmen der Entspannungspolitik, 1973–1982
Nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages berichtete Egon Bahr dem Bundeskanzler über das Ergebnis seiner Gespräche mit Politbüromitglied Paul Verner, DDR-Außenminister Otto Winzer und Michael Kohl. Verner habe ihm zugesagt, dass die DDR künftig keine Gegenleistungen mehr für Ausreisen fordern würde und derartige Fragen auf der Ebene der Ständigen Vertretungen verhandelt werden könnten. Der Anwaltskontakt sei daher mit Inkrafttreten des Grundlagenvertrages verzichtbar. Allerdings bemerkte Bahr, dass die Frage nicht abschließend geklärt worden sei, wer in der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des Vertrages zuständig sein solle.1 Offensichtlich hielt es die Bundesregierung für eine realistische Entwicklungsmöglichkeit, dass eine liberalisierte Genehmigungspraxis bei Ausreiseanträgen langfristig sogar den Freikauf politischer Häftlinge überflüssig machen könnte. Da es sich seit Ende der sechziger Jahre bei den Betroffenen in ihrer Mehrzahl um Personen handelte, die wegen eines Fluchtversuches verurteilt worden waren, würde ein offizielles Verfahren für Ausreiseanträge zu einem Rückgang der Zahl der Fluchtversuche führen. Womöglich, so die Hoffnung, werde sich eine stabilisierte DDR dann sogar dazu bewegen lassen, ihre Strafverfolgungspraxis und ihren Strafvollzug generell zu liberalisieren.2
»Kofferfälle«, Eierschecke und der »Kanal Wehner – Vogel – Honecker« Willy Brandt war wie Egon Bahr erfreut über den Verhandlungserfolg. Die euphorische Stimmung der beiden erhielt jedoch einen Dämpfer, als Herbert Wehner davon erfuhr. Wie sich Egon Bahr erinnert, sei Wehner »nach zwei Sekunden des Schweigens explodiert«, als ihm mitgeteilt wurde, dass sich diese
1 Vermerk Bahrs über das Gespräch mit Kohl am 21.12.1972, 4.1.1973; DzD VI/2 (1971– 1973), CD-Nr. 438. 2 Vermerk Hoeschs, 7.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), S. 171–177, hier 176.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Dinge künftig »anders regeln« würden.3 Fassungslos über die Selbstüberschätzung Bahrs und darüber, dass der Kanzler »seinem Bahr diese Wahnsinnsfloskel« erlaubt habe, dass mit Gegenleistungen »Schluß sein« müsse, rief Wehner entsetzt aus: »Ja, um Himmels Willen, dann ist überhaupt Schluß! Denn wir haben ein Staatsbürgerrecht, das wir mindestens […] in den nächsten zehn Jahren gar nicht ändern können.«4 Schließlich war jeder DDR-Bürger Deutscher im Sinne des Grundgesetzes und die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Hilfe verpflichtet. Für die DDR hingegen stellte diese »Obhutspflicht« eine Provokation dar: Spätestens mit dem »Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR« von 1967 gab es für sie keine einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft mehr, sondern nur die der DDR und jene der Bundesrepublik. Es wäre daher eine Anerkennung der westdeutschen »ObhutspflichtsAnmaßung« gewesen, wenn die DDR auf offizieller Ebene mit einer auswärtigen Macht über ihre eigenen Staatsbürger verhandelt hätte, geschweige denn Verpflichtungen über deren Ausreise eingegangen wäre. Absprachen über Ausreisequoten und Haftentlassungen zu treffen und damit Bonns Aktivitäten zu dulden, war per se nur stillschweigend möglich.5 Aufgrund seiner Vertrautheit mit der Materie war Wehner der festen Überzeugung, dass ein offizielles, legalisiertes Verfahren weder Ausreisen noch Häftlingsentlassungen im bisherigen Umfang ermöglichen würde: »Dass dies nach Regelungen verlangt, die anders sind als die durch eine Vertretung, oder durch Ämter oder Behörden, ist logisch, […] sondern da bietet sich die Anwaltsebene an als eine Sache, die wir entwickelt haben.«6 Wehners Urteil deckte sich mit der Lageeinschätzung der Fachbeamten im Innerdeutschen Ministerium. Jan Hoesch, Leiter des »Freikauf-Referates«, stellte zu der beabsichtigten Offizialisierung der Verhandlungen nüchtern fest, dass die im Grundlagenvertrag verankerten Abmachungen »ihrem Wortlaut nach erheblich restriktiver als die bisherige Praxis der Familienzusammenführung auf Anwaltsebene« seien. Wenn die DDR den Text zu ihren Gunsten auslege, sei »eine erhebliche Einschränkung der Familienzusammenführung in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu befürchten«. Schließlich bezogen sich die Bestimmungen im Grundlagenvertrag nur auf getrennte Familien, also nicht auf jene Fälle, in denen Ausreisewillige keine engeren Angehörigen im Westen hatten. Ein zufriedenstellender Umfang, so Hoeschs Resümee, sei nur durch die Beibehaltung des bisherigen, inoffiziellen Verfahrens gewährleistet.7 3 Bahr: Zu meiner Zeit, S. 437; Baring: Machtwechsel, S. 611. 4 Baring: Machtwechsel, S. 611. 5 Vgl. die Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973: DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 385. 6 Baring: Machtwechsel, S. 611. 7 Vermerk Hoeschs, 7.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), S. 171–177, hier 173.
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IV Der Freikauf als institutionalisiertes Programm (1973–1989)
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Auch Reymar von Wedel, der Justiziar der evangelischen Kirche, der beim Zustandekommen des Freikaufs eine Schlüsselrolle gespielt hatte und seitdem ein freundschaftliches Verhältnis zu Wolfgang Vogel pflegte, äußerte seine Bedenken. In einem Brief an Bischof Kunst führte von Wedel aus, die DDR werde sich »eine wesentliche Erhöhung der Ausreisezahlen kaum leisten« können. Da bei einem Verzicht auf Gegenleistungen zudem »ein wesentlicher Anreiz« für die DDR bzw. ein Druckmittel der Bundesregierung entfallen werde, sei zu erwarten, dass die zuständigen Stellen in der DDR wesentlich strengere Maßstäbe im Genehmigungsverfahren anlegen würden. Außerdem könne die Öffentlichkeit des Vorgangs negative Auswirkungen haben: »Bisher war nur unter der Hand von Familienzusammenführungen die Rede. Wenn das Verfahren offiziell wird, muß es auch im Osten publiziert werden. Es ist dann mit einem großen Ansturm zu rechnen. Dieser Ansturm könnte wiederum dazu führen, daß die Behörden das Verfahren weiter einschränken.«8
Die Ereignisse der ersten Monate des Jahres 1973 bestätigten diese Befürchtungen. Mitte Februar entzog die DDR Rechtsanwalt Vogel die Vollmacht für die Verhandlungen über Familienzusammenführung und Kinderrückführung.9 Das entsprach der zwischen Egon Bahr und Paul Verner getroffenen Vereinbarung, dass man mit dem Anwaltskontakt ja »aufhören« könne. Allerdings war nach wie vor nicht absehbar, wann der Grundlagenvertrag in Kraft treten und die Ständigen Vertretungen diese Aufgabe übernehmen würden. Unweigerlich führte dies dazu, dass es überhaupt keine Verhandlungen mehr über Familienzusammenführungen und Häftlingsentlassungen gab.10 Leidtragende dieses Schwebezustandes waren vor allem diejenigen, die in der DDR auf die Genehmigung ihres Ausreiseantrages warteten. Die zuständigen Behörden, insbesondere das Innenministerium der DDR und die Räte der Kreise, handhabten die Erteilung von Ausreisegenehmigungen seit Jahresbeginn wesentlich restriktiver, was gleichsam ein Vorgeschmack auf die zu erwartende Auslegung des Grundlagenvertrages war. Zwar wurden nach wie vor Ausreisegenehmigungen in nicht unerheblichem Umfang erteilt – bis Ende Mai sollten es knapp 500 Erwachsene und Kinder sein11 – doch erhielten viele der Betroffenen die Auskunft, dass sie erst nach der Ratifizierung des Grundla-
8 Aufzeichnung von Wedels »Die Entwicklung der humanitären Aktionen«, 13.3.1973; EZA, 742/292. 9 Vermerk Hoeschs, 7.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), S. 171–177, hier 173. 10 Kunst an Hammer, 10.2.1973; EZA, 742/295. 11 Niederschrift Kohls über ein Gespräch mit Bahr, 30.5.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CDNr. 470.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
genvertrages mit einem endgültigen Bescheid rechnen könnten.12 Für einige hundert Antragsteller hatte dies besonders drastische Folgen. Seit November 1972 rechneten sie täglich mit der Genehmigung ihres Antrages und hatten bereits alle Brücken hinter sich abgebrochen. Viele besaßen weder Geld, Arbeit noch Möbelstücke und saßen im wahrsten Sinne des Wortes »auf ihren Koffern«.13 Im Innerdeutschen Ministerium gingen seit Jahresbeginn 1973 verstärkt Beschwerden über diese »Kofferfälle« ein, deren Gesamtzahl bis Jahresmitte auf über 300 Personen anwuchs.14 Egon Bahr, der nach Wehners Temperamentsausbruch »betreten« war,15 erkannte seinen Fehler. Zwar hatte er den Versuch in bester Absicht unternommen, die finanziellen Gegenleistungen für etwas einzustellen, das ihm politisch aushandelbar erschien, dabei jedoch die besondere Beschaffenheit der Sache und die Tragweite seiner Entscheidung falsch eingeschätzt. Ost-Berlin würde bei Verhandlungen auf einer offiziellen Ebene nur das zugestehen, was mit dem Wortlaut des Grundlagenvertrages und den Gesetzen der DDR übereinstimmte. Beim ersten Zusammentreffen mit Staatssekretär Kohl zwei Monate nach der Unterzeichnung des Vertrages ruderte Bahr daher zurück. Im Verlauf des Gesprächs räumte er ein, er habe in Bezug auf die Abmachung, den Anwaltskontakt zu beenden, »offenkundig zu wenig beachtet, daß man diese Ebene nicht ersatzlos streichen könne«.16 Es dürfe jetzt in Bezug auf Ausreisen und die Entlassung von Häftlingen aber keinen »Stillstand« geben.17 Bahr bat Kohl, die Anwaltskontakte zumindest bis zur Errichtung der Vertretungen wieder herzustellen;18 auch danach sollten sie in besonderen Fällen zur Verfügung stehen.19 Bei Kohl stieß die Bitte auf Unverständnis. Bahr habe doch bisher alles daran gesetzt, dass diese Dinge künftig auf offizieller Ebene verhandelt würden. Plötzlich vollziehe er eine »Kehrtwendung«.20 Alle Versuche Bahrs, Kohl umzustimmen, blieben ohne Ergebnis. In seinem Bericht über das
12 Aufzeichnung von Wedels »Die Entwicklung der humanitären Aktionen«, 13.3.1973; EZA, 742/292. 13 Ebenda. 14 Vermerk Hoeschs, August/September 1973; DzD VI/3 (1973/74), Nr. 68A, S. 286. 15 Bahr: Zu meiner Zeit, S. 437. 16 Niederschrift Kohls über das Gespräch mit Bahr, 1.3.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CDNr. 449. 17 Vermerk Bahrs, 1.3.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 446. 18 Niederschrift Kohls über das Gespräch mit Bahr, 1.3.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CDNr. 449. 19 Vermerk Bahrs, 1.3.1973, DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 446. 20 Niederschrift Kohls über das Gespräch mit Bahr, 1.3.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CDNr. 449.
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Zusammentreffen vermerkte Bahr, jedes weitere Drängen sei erfolglos und die Verhandlungsatmosphäre insgesamt »frostig« gewesen.21 Auch in den folgenden Wochen war kein Fortkommen zu erzielen. Bahr warf Kohl vor, es sei »unkonstruktiv und gebe zu negativen Erwartungen über die künftige Haltung der DDR Anlass, dass die Anwaltsebene blockiert, eine andere nicht gefunden und die Verhandlungen über die Einrichtung der ständigen Vertretungen, deren Aufgabe dies später sein würde, nun schon seit langem verzögert würde«.22
Bahr bat Kohl darum, je ein Mitglied aus den Verhandlungsdelegationen kommissarisch mit der Bearbeitung dieser Fragen zu beauftragen und einige der besonders dringlichen »Kofferfälle« zu lösen.23 Kohl reagierte abweisend und argumentierte so, wie es Wehner befürchtet hatte: Bahr habe es doch schließlich so gewollt, dass die Anwaltskontakte »gestorben« seien. Er, Kohl, sei keine »Beschwerdestelle« für diese Dinge, denn schließlich gehe es dabei »um Angelegenheiten von DDR-Bürgern, für die die Regierung der BRD keinerlei Fürsprache oder Sorgerecht« habe. Für die Anträge von DDRBürgern sei ausschließlich das Ministerium des Innern der DDR zuständig. Dort werde jeder Fall geprüft und »zu gegebener Zeit«, d. h. nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages, entschieden – allerdings »nicht […] unbedingt positiv«.24 Gegenüber der Bundesregierung bestehe sowieso keine »Berichterstattungs-« oder gar »Nachweispflicht«.25 Der Grund für die defensive Haltung Ost-Berlins lag nicht nur in der Verstimmung über den plötzlichen Rückzieher der Bundesregierung, sondern war Teil des generell abgekühlten innerdeutschen Verhältnisses seit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages. Der Text des Dokuments enthielt zwar gemeinsame Formulierungen, doch ließen sich die grundsätzlich entgegengesetzten Interessen der Vertragsparteien nur schwerlich durch Formelkompro21 Vermerk Bahrs, 1.3.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 446. 22 Vermerk Bahrs, 16.5.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 465. 23 Niederschrift Kohls, 16.5.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 467; Vermerk Graberts, 22.3.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 451. 24 Niederschrift Kohls, 22.3.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 454; Bericht über das Gespräch Kohl – Grabert, 26.4.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 460; Vermerk Sannes, 28.2.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 447. 25 Vermerk Bahrs, 30.5.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 468. Bahr, Egon: »Das musst du erzählen«. Erinnerungen an Willy Brandt. 4. Aufl., Berlin 2013, S. 148 f. behauptet wie bereits in seinen Erinnerungen von 1996, dass Wehner für die Entstehung der »Kofferfälle« verantwortlich gewesen sei. Die vorliegenden Quellen widersprechen jedoch diesem Befund. Vgl. Meyer, Christoph: Bahrs Mutmaßungen über Wehner. Behauptungen, Richtigstellungen, Charakterbilder. Dresden, 1. Mai 2013, http://www.wehnerwerk.de/wordpress/wp-content/uploads/2013/05/Mutma%C3%9Fungen-BahrChM.pdf, download 30.7.2013.
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misse überbrücken. Während die Bundesregierung darauf drängte, dass die »Normalisierung« der Beziehungen besonders bei der Genehmigung von (Aus-)Reisen für die Menschen »fühlbar« sein müsse, zeigte die DDR kein Interesse daran, in zunehmende Abhängigkeit von der Bundesrepublik zu geraten. Im Gegenteil, die Partei- und Staatsführung in Ost-Berlin befürchtete, dass die Erweiterung der Kontaktmöglichkeiten zwischen beiden Staaten die Theorie der SED von der Existenz einer eigenständigen DDR-Nation untergraben und eine Annäherung an die Bundesrepublik langfristig zu dem von Bonn gewünschten »Wandel« in der DDR führen würde. Seit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages setzte die SED daher verstärkt auf Konfrontation und Abgrenzung zur Bundesrepublik.26 Auch von anderer Seite drohte dem Vertragswerk Ungemach: Am 23. Mai 1973 reichte die bayerische Staatsregierung einen Antrag auf einstweilige Verfügung beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein und strengte eine Normenkontrolle an. Nach ihrer Auffassung war der Vertrag nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein Erfolg der Klage hätte in Ost-Berlin unausweichlich zu Irritationen geführt und womöglich langwierige Nachverhandlungen notwendig gemacht, im äußersten Fall sogar das gesamte Vertragswerk ins Wanken gebracht. Der fragile Zustand, in dem sich die gerade erst etablierten innerdeutschen Beziehungen befanden, war die Ursache für die Reise Herbert Wehners und des FDP-Fraktionschefs Wolfgang Mischnick am 30./31. Mai 1973 in die DDR und das Treffen mit Erich Honecker. Schon seit geraumer Zeit hatte Ost-Berlin Signale nach Bonn gesendet, dass ein Gespräch zwischen führenden Politikern beider Seiten für die Fortentwicklung der Beziehungen nützlich sein könnte. Im Frühjahr 1973 hatte Wehner erstmals eine Einladung erhalten, sie aber noch abgelehnt. Als Staatssekretär Kohl Ende April das Angebot wiederholte, entschied sich Wehner zur Annahme.27 Der Schritt kostete ihn, der als »Verräter« und »Denunziant« oft Zielscheibe der Ostpropaganda gewesen war, einige Überwindung und löste in ihm »eine echte physische Angst« aus. Schließlich »sei da leicht ein Unfall zu organisieren«, wie sich Wehner gegenüber Bahr ausdrückte.28 Nur Willy Brandt, Helmut Schmidt, Walter Scheel und einige hohe Ministerialbeamte waren über das bevorstehende geheime Gipfeltreffen eingeweiht, als Wehner am 30. Mai 1973 bei Wartha/Herleshausen von seiner Stieftochter Greta Burmester begleitet in die DDR einreiste.29 26 27 28 29
Tessmer; Wiegrefe: Wehners Besuch in der DDR, S. 608–610. Ebenda, S. 606 f. Bahr: Zu meiner Zeit, S. 439. Pötzl: Spione, S. 229.
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Wehners Befürchtungen stellten sich als unbegründet heraus. Das Gespräch mit Abgeordneten der Volkskammer am 30. Mai verlief ohne Zwischenfälle, und tags darauf empfing Honecker die beiden Fraktionsvorsitzenden im Forsthaus Wildfang am Pinnowsee, einer idyllischen Sommerfrische in der nordöstlich von Berlin gelegenen Schorfheide.30 Zum Kaffee gab es die sächsische Kuchenspezialität Eierschecke, die Honecker den gebürtigen Dresdnern Wehner und Mischnick als wohlplatzierte Willkommensgeste servieren ließ (Abb. 22). Das Gespräch war als Meinungsaustausch gedacht, der die Perspektiven der Deutschlandpolitik klären und den gegenwärtigen Schwebezustand überwinden helfen sollte.31 Besonders ausführlich erörterten Wehner und Honecker die Schwierigkeiten bei der Ratifizierung des Grundlagenvertrages, der Einrichtung der Ständigen Vertretungen und der sich daran anschließenden Aufnahme beider Staaten in die Vereinten Nationen.32 Zwar nicht Hauptgegenstand, aber ein »bestimmendes Element« seines Besuches war für Wehner, die stockenden und nach seiner Auffassung »in der Gefahr des Verödens befindlichen begrenzten Möglichkeiten zu humanitären Regelungen zu retten und erneut zu beleben«.33 Wehner versuchte Honecker davon zu überzeugen, dass eine echte Normalisierung der Beziehungen auch Fortschritte im humanitären Bereich erbringen müsse. Konkret bedeutete dies die Lösung der »Kofferfälle« und die Fortsetzung der Häftlingsentlassungen, beides unter Beibehaltung des bisherigen Verfahrens. Da Wehner der Auffassung war, dass es »wahrscheinlich Jahrzehnte« dauern würde, bis man diese Dinge auf einem normalen Wege würde behandeln können, sollten die erprobten Strukturen wiederhergestellt und ausgebaut werden.34 Wehner hatte Erfolg: Honecker willigte ein, den Kontakt über die Anwälte Stange und Vogel zu reaktivieren. Als Sofortmaßnahme ordnete er eine großzügige Behandlung der »Kofferfälle« an: Wehner sprach 30 Gespräch Mischnick – Honecker, 5.3.1984; Potthoff, Heinrich: Die »Koalition der Vernunft«. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. München 1995, S. 248. 31 Wehner an Schmidt, 15.6.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 177, S. 619. 32 Gespräch Honeckers mit Wehner, 31.5.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 41; Bericht Wehners, 1.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 43. 33 Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 385. Zwar enthalten weder die Aufzeichnungen Wehners noch die DDR-Protokolle Hinweise darauf, dass humanitäre Fragen oder gar die »Kofferfälle« zur Sprache kamen, doch Wehner und Mischnick bestätigten dies im Nachhinein. Vgl. ausführlich Tessmer; Wiegrefe: Wehners Besuch in der DDR, S. 612 f.; ferner DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 40, 41 u. 43; Bericht Wehners, 1.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 43, S. 170: »Daß auch die für die Menschen schmerzlichen Seiten im bisherigen und gegenwärtigen Verhältnis beider Staaten zur Sprache gebracht und … erörtert worden sind …«. 34 Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 385.
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mit Honecker über einzelne Fälle; zwischendurch telefonierte der SED-Chef vermutlich mit Erich Mielke, um ihm konkrete Anweisungen zu geben.35 Dass es Wehner gelang, Honecker zu überzeugen, war nicht zuletzt seinem selbstbewussten Auftreten zu verdanken. Wehner betrachtete sich selbst als den einzigen Bonner Politiker von Rang, der »die Kommunisten« aus eigener, leidvoller Erfahrung kennengelernt hatte, ihre Winkelzüge richtig einzuschätzen vermochte und daher in der Lage war, in einer solch schwierigen Situation direkt mit ihnen zu verhandeln.36 Hieraus ergab sich die Strategie, Honecker auf einer menschlichen Ebene zu begegnen. Denn das Treffen war zugleich ein Wiedersehen alter Bekannter. Der gebürtige Saarländer Honecker hatte in den Jahren 1934/35 gemeinsam mit Wehner gegen den Anschluss des Saargebietes an das Deutsche Reich gekämpft. Bei ihrem ersten Treffen seit fast 40 Jahren habe Wehner, so Egon Krenz, die Karte als »Jugendfreund Honeckers voll aus[ge]spielt«.37 Durch die Erinnerung an den gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus und das persönliche Vertrauensverhältnis vermochte es Wehner, in seinem Sinne auf den SED-Chef einzuwirken. Honecker seinerseits hob gegenüber dem Westen die freundschaftliche Beziehung zu Wehner als ursächlich für die Fortschritte in den humanitären Fragen hervor: Egon Bahr, so Honecker in einer Botschaft an Bundeskanzler Brandt, habe »wegen seiner Arroganz und seines zum Teil provokativen Auftretens das nicht bekommen, was mit [Wehner] möglich gewesen sei«.38 Honeckers Lob auf Wehner scheint nicht bloß taktischer Natur gewesen zu sein, denn der SED-Chef lobte Wehners konstruktive Rolle auch gegenüber dem Politbüro.39 Zweifellos gefiel sich Honecker in der Rolle des großzügigen Landesfürsten, der die Häftlinge zu einem Gastgeschenk und Gunstbeweis für einen alten Freund machte. Bei aller Freundschaftsrhetorik und der ihr innewohnenden Sentimentalität dürfte Honecker die Entscheidung zur Fortsetzung der bisherigen Praxis aber auch deshalb nicht allzu schwer gefallen sein, weil handfeste wirtschaftliche Interessen dafür sprachen. Schließlich stellte das Häftlingsgeschäft mittlerweile eine einträgliche Devisenquelle für die DDR 35 Tessmer; Wiegrefe: Wehners Besuch in der DDR, S. 612. 36 Soell, Hartmut: Helmut Schmidt: 1969 bis heute. Macht und Verantwortung. München 2008, S. 297. 37 Krenz, Egon: Honecker rief nach draußen, er habe einen alten Freund getroffen. In: Berliner Zeitung v. 27.1.1994. Vgl. Gespräch Honeckers mit Wehner, 31.5.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 41, S. 156: »Der Meinungsaustausch … wurde von Herbert Wehner oft durch Rückblendungen in die Vergangenheit unterbrochen, das heißt in die Zeit, als er Mitglied des ZK der KPD war und in dieser Eigenschaft während der Jahre 1934/1935 mit Genossen Honecker zusammenarbeitete.« 38 Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 381. 39 Ausführungen Honeckers auf der Politbürositzung v. 17.9.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 216, S. 724.
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Bildteil
Abb. 1: Erich Mielke und Heinz Volpert, vermutlich siebziger Jahre
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Abb. 2: Dietrich Spangenberg (geb. 25.6.1922 in Dömitz; gest. 3.8.1990 in Berlin), Senator für Bundesangelegenheiten, 5.1.1968
Abb. 3: Axel Springer und Rainer Barzel vor dem Modell des Berliner SpringerVerlagshauses beim Neujahrsempfang in der Kochstraße, 3.1.1963
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Abb. 4: 13. CDU-Bundesparteitag, Rainer Barzel im Gespräch mit Konrad Adenauer, 28.3.1965
Abb. 5: Porträt des Staatssekretärs im Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen Carl Krautwig, 16.12.1965
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Abb. 6: Erich Mende am 21.10.1963 bei der Amtsübernahme im Ministerbüro in Berlin, v.l.n.r.: Ludwig Rehlinger, Mendes persönlicher Referent Karl Friedrich Brodeßer, Erich Mende, der Berliner Abteilungsleiter Heinz Gefaeller
Abb. 7: Bischof Hermann Kunst (geb. 21.1.1907 in Ottersberg; gest. 6.11.1999 in Bonn), 1950–1977 Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am Sitz der Bundesrepublik Deutschland, um 1967
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Abb. 8: Prälat Wilhelm Wissing (geb. 31.1.1916 in Köckelwick, Vreden; gest. 12.11.1996 in Coesfeld), 1958–1966 Leiter des Katholischen Büros in Bonn, Aufnahme aus den sechziger Jahren
Abb. 9: Weihbischof Heinrich Tenhumberg (geb. 4.6.1915 in Lünten, Vreden; gest. 16.9.1979 in Münster), 1966–1969 Leiter des Katholischen Büros in Bonn, Aufnahme aus den sechziger Jahren
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Abb. 10: v.l.n.r.: Bischof Kunst, Bundeskanzler Adenauer, unbekannt, Prälat Wissing, undatiertes Foto, um 1960
Abb. 11: Jan Hoesch (geb. 1932), 20.5.1975
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Abb. 12: Johannes Völckers (geb. 1924; gest. 2002), Foto von 1963
Abb. 13: Rechtsanwalt Jürgen Stange, (geb. 24.7.1928; gest. 14.1.2001), Foto vom 30.12.1982
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Abb. 14: DDR-Anwalt Dr. h.c. Wolfgang Vogel in seinem Haus in Ost-Berlin in der Reilerstrasse, 4.6.1980
Abb. 15: Erich Honecker beglückwünscht Erich Mielke zum 30. Jahrestag der Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit, 8.2.1980
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Abb. 16: Heinz Volpert (geb. 21.12.1932 in Rastenberg; gest. 15.2.1986 in Berlin). Das Foto entstand vermutlich in den achtziger Jahren.
Abb. 17: Gerhard Niebling (geb. 16.7.1932 in Marksuhl; gest. 27.4.2003 in Berlin)
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Abb. 18: Manfred Enke (geb. 1930 in Schmölln bei Gera)
Abb. 19: Heinz Volpert und Alexander SchalckGolodkowski (geb. 3.7.1932 in Berlin)
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Abb. 20: Herbert Wehner (geb. 11.7.1906 in Dresden; gest. 19.1.1990 in Bonn), Ende der sechziger Jahre
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Abb. 21: Faksimile einer Seite der alphabetisch geordneten »Entlassungsliste Ost 1969« des Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Augenscheinlich hatten die Listen schon 1969 »große Lücken in exakten Angaben«.
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Abb. 22: Herbert Wehner, Erich Honecker, Wolfgang Mischnick und Greta Burmeister (vorn) am Pinnowsee in der Schorfheide, 31.5.1973
Abb. 23: Ludwig Rehlinger und Wolfgang Vogel. Das Bild entstand anlässlich des 65. Geburtstages von Hans-Jürgen Wischnewski am 25.7.1987 in Köln-Hahnwald.
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Abb. 24: Egon Franke und Edgar Hirt am 11.2.1983 während einer Pressebefragung in Bonn
Abb. 25: Heinrich Windelen (geb. 25.6.1921 in Bolkenhain), Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, 20.3.1986
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Abb. 26: Franz Josef Strauß und Alexander Schalck-Golodkowski, 25.9.1983
Abb. 27: »Hier Lagerleiter Honecker, ich brauch wieder neue Ware!«. Karikatur von Horst Haitzinger, erschienen am 3.10.1981 im Hamburger Abendblatt
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Abb. 28: Dorothee Wilms (geb. 11.10.1929 in Grevenbroich), Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, 1990
Abb. 29: Walter Priesnitz (geb. 1.4.1932 in Hindenburg; gest. 26.8.2012 in Neuharlingersiel), Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium, 12.1.1990
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Abb. 30: »Interzonenhandel … aus eigener Produktion, unbeschränkt lieferbar«. Karikatur von Jupp Wolter im Sonntagsblatt, 13.2.1966
Abb. 31: Die Untersuchungshaftanstalt des MfS auf dem Kaßberg in Chemnitz, „Drehscheibe“ für den Häftlingsfreikauf
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Abb. 32: Das Notaufnahmelager des Landes Hessen am Gießener Hauptbahnhof (Blick nach Süden)
Abb. 33: Das Notaufnahmelager des Landes Hessen am Gießener Hauptbahnhof (Blick nach Norden. Der Turm der Bahnhofshalle ist im Hintergrund rechts zu erkennen.)
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Abb. 34: Heinz Dörr (l.), der Leiter des Notaufnahmelagers, im Gespräch mit einem dänischen Journalisten, Aufnahme aus den siebziger Jahren
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Darst. 1:
Deliktgruppen (nach zugrundeliegenden §§) 1964–1971
Darst. 2:
Altersstruktur bis 1982
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dar.40 Zudem erkannte der SED-Chef, dass er im Interesse einer politischen Verständigung dem Wunsch der Bundesrepublik in diesem Punkt entgegenkommen musste.41 Als das Neue Deutschland am 1. Juni 1973 ausführlich auf seiner Titelseite über das Treffen berichtete, herrschte in Bonn helle Aufregung. Insbesondere die CDU/CSU-Opposition vermutete geheime Absprachen zwischen SPD und SED. Die Aufregung legte sich jedoch schnell wieder, da Wehner und Mischnick außer der Geheimhaltung des Treffens inhaltlich nichts vorzuwerfen war.42 Langfristige Folge des Gespräches war, dass Bonn und Ost-Berlin fortan »zweigleisig« fuhren: Parallel zu der künftigen offiziellen Verhandlungsebene zwischen den Ständigen Vertretungen wurde der diskrete Anwaltskontakt wiederhergestellt und die inoffizielle Ebene Wehner – Vogel – Honecker als direkter, vertraulicher Draht zwischen den Regierungsspitzen installiert.43 Unter Umgehung der Ministerialbürokratie konnten wichtige politische Fragen besprochen und vorgeklärt werden. Auf der Seite der Bundesrepublik berichtete Wehner dem Bundeskanzler teils mündlich, teils schriftlich über die Gespräche, seitens der DDR avancierte Wolfgang Vogel zum persönlichen Beauftragten Honeckers.44 Für Herbert Wehner brachte die Etablierung der Kommunikationsebene Vogel – Honecker zugleich eine Aufwertung seiner politischen Position mit sich, obwohl er stets betonte, dass er als Fraktionsvorsitzender keine Regierungsverantwortung trage und nicht in die Regierung »hinein-›regieren‹« könne und dies auch nicht beabsichtige.45 Faktisch verfügte er fortan jedoch über einen direkteren Zugang zu Honecker als der formal zuständige Innerdeutsche Minister Egon Franke. In Bezug auf die »Besonderen Bemühungen« war und blieb Wehner der heimliche Innerdeutsche Minister, zumindest »das gesamtdeutsche Gewissen der Regierung«, wie es der Spiegel Ende der siebziger Jahre formulierte.46 In gewisser Hinsicht glich seine Rolle jener Wolfgang Vogels, mit dem Unterschied, dass Vogel auf der Arbeitsebene, Wehner auf der obersten politischen Ebene als Mittler zwischen den Systemen tätig war. 40 Bis einschließlich 1972 hatte die Bundesregierung knapp 440 Mio. DM für Häftlingsentlassungen und Familienzusammenführungen gezahlt. Siehe Tabelle 1 im Anhang. 41 Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 382. 42 Baring: Machtwechsel, S. 613; Meyer: Wehner, S. 402 f. 43 Tessmer; Wiegrefe: Wehners Besuch in der DDR, S. 613. 44 Pötzl: Spione, S. 232. 45 Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 384. 46 Die Zeit, die mir bleibt. Was Wehner wirklich will (IV) – Der Kampf um die Einheit. In: Der Spiegel v. 25.7.1977, Nr. 31.
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Pauschalierung der Gegenleistung Anfang Juni 1973 wies das Bundesverfassungsgericht den Antrag der Bayerischen Staatsregierung auf einstweilige Verfügung zurück, sodass der Grundlagenvertrag wenig später in Kraft treten konnte.47 Der Zweite Senat stellte in seinem Urteil vom 31. Juli schließlich fest, dass der Vertrag mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Allerdings unterstrichen die Richter, dass das Wiedervereinigungsgebot nach wie vor Richtschnur für das politische Handeln der Verfassungsorgane sein müsse, insbesondere für die Bundesregierung.48 Damit war das letzte Hindernis aus dem Weg geräumt, das den angestrebten Verständigungsprozess mit der DDR verzögern, schlimmstenfalls hätte lähmen können. Bereits am Tag nach dem Inkrafttreten des Vertrages kündigte Honecker über Vogel an, man werde »Ernst machen mit konkreten Schritten in humanitären Fragen«. Die Häftlingstransporte sollten Anfang Juli wieder aufgenommen und nach einer kurzen Unterbrechung durch die Jugendweltfestspiele in Ost-Berlin fortgesetzt werden. Auch 90 Kinder könnten unverzüglich ausreisen.49 Auf der Arbeitsebene informierte Vogel seinen Westberliner Partner Stange über die Rückkehr zur alten Verfahrensweise: »Sehr geehrter Herr Kollege! Aus gegebener Veranlassung bestätige ich Ihnen, dass ich Vollmacht unter den bisherigen Bedingungen habe.«50 Eine namentliche Einigung über den Personenkreis war rasch erzielt, Ende August waren bereits über 180 Häftlinge in die Bundesrepublik gekommen.51 Auch die »Kofferfälle« lösten sich zügig; bis zum Oktober waren von den insgesamt über 300 Personen bereits mehr als 200 ausgereist.52 Als Egon Bahr davon erfuhr, beschwerte er sich gegenüber Kohl »in massiver Form«.53 Am Rande einer persönlichen Unterredung am 23. August 1973 kritisierte Bahr, die »alte Praxis der Kopfquoten« würde entgegen seiner Vereinbarung mit ZK-Sekretär Verner fortgesetzt und stehe im Widerspruch zum Grundlagenvertrag. Kohl wies Bahrs Kritik jedoch zurück und erklärte, er sei »weder gewillt noch in der Lage«, auf Bahrs »Behauptungen und Unterstellun47 Note der Bundesregierung über das Inkrafttreten des Grundlagenvertrages, 20.6.1973; DzD VI/2 (1971–1973), CD-Nr. 486. 48 Rauschning, Dietrich: Rechtsstellung Deutschlands. Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte: Atlantik-Charta, Potsdamer Abkommen, Deutschlandvertrag, Viermächteabkommen über Berlin, Transitabkommen, Moskauer Vertrag, Prager Vertrag, Grundlagenvertrag mit der DDR, Stand: Juli 1985. München 1986, S. 173–194. 49 Wehner an Brandt, 24.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 52, S. 211 f. 50 Vogel an Stange, 28.6.1973; HGWS, HF 46; vgl. Vermerk Kunzes über das Gespräch mit Stange, 27.6.2973, LArchB, B Rep. 002, Nr. 7989/1. 51 Vermerk Hoeschs, August/September 1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 68, S. 285. 52 Vermerk Hoeschs, 17.10.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 82, S. 324. 53 Svingel an Wehner, 24.8.1973; HGWS, HF 45.
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gen« einzugehen. Bahr und er selbst sollten »den Anwälten ihre Aufgaben überlassen« und sich um die eigenen Zuständigkeiten kümmern.54 Widerstände gegen die Fortführung des Freikaufs nach bewährtem Muster flackerte fortan nur noch vereinzelt innerhalb der Bundesregierung auf. Hermann Kreutzer (SPD) beispielsweise, der 1967 von Herbert Wehner in das Gesamtdeutsche Ministerium geholt worden war und bis Anfang der siebziger Jahre Mitverantwortung für die Verhandlungen trug, lehnte den eingeschlagenen Kurs ab. Wie Egon Bahr befürwortete er die Strategie, die Verhandlungen über politisch Inhaftierte von der inoffiziellen Anwaltsebene auf die offizielle Ebene der Ständigen Vertretungen zu verlagern.55 Insbesondere kritisierte Kreutzer, dass sich der Freikauf mehr und mehr zu einem »Element der Entspannungspolitik« entwickelte. Dagegen forderte er, die Praxis perspektivisch einzustellen und »durch eine offensive Bekämpfung der DDRStrafrechtspolitik« zu ersetzen.56 Dieser Appell und andere Aussagen, mit denen der »rechte« Sozialdemokrat Kreutzer bei »linken« Parteifreunden aneckte, führten schließlich zum Zerwürfnis zwischen ihm und Egon Franke.57 1980 wurde Kreutzer in den Ruhestand versetzt und wenig später aus der SPD ausgeschlossen, nachdem er einen Wahlaufruf für die CDU veröffentlicht hatte.58 Mitte September 1973 ließ Honecker über Vogel eine ausführliche Botschaft an Wehner übermitteln, die grundlegend für die Regelung der humanitären Fragen bis 1989 werden sollte. Abgesehen von Wehners Zusammentreffen mit Honecker am Pinnowsee war es das erste Mal seit Bestehen der Freikaufspraxis, dass sich die »Nr. 1« der DDR gegenüber der Bundesregierung dazu äußerte. Damit hob Honecker den Freikauf aus der bisherigen Grauzone informeller Übereinkünfte, die nur auf den gegenseitigen Zusagen der beiden Unterhändler beruhten, in den halboffiziellen Status einer verbindlichen Vereinbarung zwischen den Regierungsspitzen, gewissermaßen eines bilateralen »gentlemen’s agreement«. Eingangs unterstrich der SED-Chef das gegenseitige Vertrauensverhältnis, das er »als sehr nützlich für die Zukunft […] und für gutnachbarliche Beziehungen« ansehe. In Bezug auf den humanitären Bereich dürfe es »zu keinem Krach und Bruch kommen«, denn das wäre »der Gesamtsache abträglich«. Hinsichtlich der Familienzusammenführungen unterbreitete Honecker dem Kanzler einen Kompromissvorschlag. Einerseits könnten Kinderrückführungen 54 Vermerk Kohls, 24.8.1973; BStU, MfS, SdM, Nr. 1423, Bl. 170 f. 55 Leserbrief Kreutzers. In: Die Welt v. 17.1.1989. 56 Interview mit Kreutzer in: Gursky, André: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR. Frankfurt/M. 2011, S. 255 f. 57 »Beamte. Am leeren Schreibtisch«. In: Der Spiegel v. 4.8.1980, Nr. 32. 58 »Berlin. Abends radikal«. In: Der Spiegel v. 7.3.1983, Nr. 10.
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und Familienzusammenführungen, die von den Bestimmungen des Grundlagenvertrages gedeckt seien, künftig ohne Gegenleistung erfolgen, so wie es Egon Bahr ausgehandelt hatte.59 Andererseits werde es bei den Fällen, die man »auch bei gutwilliger Auslegung« des Grundlagenvertrages »nicht als echte Familienzusammenführung betrachten« könne, bei dem bisherigen Weg über die Anwälte bleiben müssen. Dies betraf insbesondere Personen mit »›hohem Stellenwert‹, z. B. Diplomingenieure oder Ärzte« oder Ausreisewünsche ganzer Familien. Da der Grundlagenvertrag diese »Konfliktfälle« nicht erwähne, seien weder er noch die Bundesregierung »gehalten, die Gegenleistung einzugestehen«.60 Nach einer Schätzung Vogels belief sich die Zahl dieser »Konfliktfälle« auf circa 10 Prozent, die weiterhin mit dem vormaligen Satz vergütet werden sollten; die übrigen 90 Prozent erhielten die Ausreisegenehmigung ohne Gegenleistung.61 Umgerechnet auf einen Durchschnittswert für alle Familienzusammenführungen forderte die DDR fortan nur noch weniger als 2 000 DM pro Ausreisegenehmigung.62 In den achtziger Jahren stiegen die Gegenleistungen auf zuletzt 4 500 bzw. 8 000 DM pro Fall.63 Das gleiche Verfahren solle auch bei den Häftlingsentlassungen zur Anwendung kommen. Da sie wie die »Konfliktfälle« in der Familienzusammenführung im Vertrag nicht erwähnt seien, müsse die Gegenleistung hier bestehen bleiben. Die Verhandlungen könnten weiterhin über den diskreten Anwaltskontakt geführt werden. Überdies schlug der SED-Chef vor, eine Idee der Anwälte zur Änderung des bisherigen Abrechnungsverfahrens in die Tat umzusetzen: Man solle die »›Kopfgeld‹-Praxis« aufgeben, »um zu einer jährlichen Pauschale zu kommen«.64 Wehner informierte Brandt mündlich und in schriftlichen Notizen über die Mitteilung Honeckers. Der Kanzler begrüßte die Vorschläge und ließ dem SED-Chef seinerseits die Nachricht zukommen, dass Fortschritte in den humanitären Bemühungen »sehr willkommen« seien.65 Aus seiner Sicht komme es »natürlich darauf an, dass im Rahmen des jeweils Möglichen humanitäre
59 Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 382 f. 60 Ebenda; Wehner an Franke, 9.12.1973; HGWS, HF 45; vgl. Baring: Machtwechsel, S. 612 u. Vermerk Hoeschs, 17.10.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 82A, S. 326. 61 Vermerk Sannes, 24.11.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 132, 132A, S. 480 f. 1972 forderte die DDR noch 500 000 DM für die Ausreise von 26 Personen. 62 50 000 DM für die Ausreise von 26 Personen. 63 Aussage v. 22.7.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 24, Bl. 86–88. 64 Vgl. die Niederschrift Wehners v. 2.12.1973 über eine Mitteilung Honeckers v. 17.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 96, S. 382 f. 65 Mitteilung Brandts an Honecker, 19.9.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 76, S. 310.
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Lösungen gefunden« würden.66 Obwohl Wehner und Brandt in der Deutschlandpolitik häufig entgegengesetzte Auffassungen vertraten und es um ihre persönliche Beziehung nicht zum Besten stand,67 galt dies nur eingeschränkt für die humanitären Fragen. Unter der Auflage, »dass diese Fragen entsprechend der Bedeutung dieser Sache […] geregelt« würden, erhielt Wehner freie Hand.68 Mit der Rückendeckung von höchster Stelle begann Wehner in die Tat umzusetzen, was ihm an klimatischen und praktischen Verbesserungen notwendig erschien. Wie Honecker befürwortete Wehner die Idee, zu einer pauschalen Gegenleistung für die Häftlingsentlassungen zu kommen, denn das bereits geschilderte Abrechnungsverfahren auf der Basis einer vierstufigen Bewertungsskala war in den vergangenen Jahren zu einer ernsthaften Belastung des Verhandlungsklimas geworden. Nicht nur, weil die Vorstellungen über die Höhe der Gegenleistung oftmals um etliche Millionen auseinander lagen, sondern vor allem, weil die nachfolgenden Streitereien nur in zermürbenden Verhandlungen beigelegt werden konnten. Teils zogen sich die Auseinandersetzungen über Jahre hin: Mitte 1973 waren die Abrechnungen aus den Jahren 1971 und 1972 nach wie vor nicht erledigt, obwohl die neue Freikaufsvereinbarung bereits lief. Jan Hoesch, der Leiter des »Freikauf-Referates«, machte gegenüber der DDR ein Guthaben der Bundesregierung in Höhe von 15 Millionen DM geltend, ihrerseits forderte die DDR 23 Millionen DM für die Ausreise der im Herbst 1972 amnestierten Häftlinge.69 »Tatsächlich«, erinnert sich Jan Hoesch, »wurde die nachträgliche Abrechnung schon erbrachter Leistungen von der DDR planmäßig hintertrieben, um auch dadurch eine Pauschalierung unserer Leistungen zu erreichen, die ihr sehr viel höhere Einnahmen erbringen sollte. Damit hatte sie bald danach auch Erfolg.«70
Aus Hoeschs Perspektive war der Anspruch begründet, da das Innerdeutsche Ministerium zur wirtschaftlichen Verwendung seiner Haushaltsmittel verpflichtet war. Doch stand dies dem politischen Ziel entgegen, die Beziehung zur DDR zu verbessern. Da Geld nicht der tragende Gesichtspunkt in den »Besonderen Bemühungen« sein sollte, drängte Wehner darauf, die finanziellen Altlasten rasch zu beseitigen und »das leidige Aufrechnen alter Fälle« nicht länger zur Bedingung zu machen.71 Er bat Egon Franke darum, er möge 66 67 68 69 70 71 71
Vermerk Brandts, 18.12.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 101A, S. 404. Soell: Helmut Schmidt, S. 293–305. Brandt an Wehner, 13.2.1974; HGWS, HF 42. Wehner an Brandt, 24.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 52, S. 211 f. Jan Hoesch an den Verfasser, 14.8.2012. Wehner an Brandt, 24.6.1973; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 52, S. 211 f. Ebenda.
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»Herrn H[oesch] in Berlin davon abbringen, weiterhin zu argumentieren, es müssten auf Jahre zurück die Fälle durchgerechnet werden«. Diese Forderung, so Wehners Argument, »würde nicht nur eine immense Papierbewegung zur Folge haben, sondern auch das Klima belasten«.72 Daraus sprach auch Wehners misstrauische Einstellung gegenüber der Ministerialbürokratie, welche die Dinge nach seiner Auffassung zu sehr aus der Froschperspektive der Fachbeamten und zu wenig aus dem Blickwinkel politischer Notwendigkeiten betrachtete. Mitunter führte dies zu Konflikten, wie sich Jan Hoesch erinnert: »Beamte waren eine Spezies Mensch, zu denen Wehner keinen rechten Zugang hatte, und das kriegte man auch manchmal zu spüren. Aber dahinter stand eben dieses zweifellos große Gefühl der Verpflichtung gegenüber den Menschen und auch seine Bereitwilligkeit zu helfen, wo immer sich eine Möglichkeit dazu bot. Das war natürlich für den Gesamtbereich sehr wichtig, weil er immer bereit war, Entscheidungen zu treffen, die sich eben für die Menschen auszahlten, auch wenn sie politisch Risiken enthielten.«73
Auf Wehners Bitte hin führte Franke ein Gespräch mit Hoesch und Stange. Der Minister gelangte zu der Auffassung, dass die Sache »schnellstens vom Tisch« müsse und entschied, der DDR großzügig entgegenzukommen.74 Im März 1974 informierte Stange seinen Ostberliner Kollegen, dass die Bundesregierung bereit sei, »zur Abgeltung sämtlicher Ansprüche« einmalig die Summe von 19 Millionen DM zu zahlen.75 Parallel zur Beseitigung dieser finanziellen Altlasten setzte sich Wehner dafür ein, das bisherige Abrechnungsverfahren durch eine Pauschalabgeltung zu ersetzen. In einer Besprechung zwischen dem Kanzler, Kanzleramtschef Grabert, Minister Franke und Wehner wurde beschlossen, die Anregung Honeckers aufzunehmen und der DDR einen konkreten Vorschlag zu unterbreiten.76 Das neue Verfahren sollte sich in zwei Punkten von dem bisherigen unterscheiden. Erstens war vorgesehen, die Leistungen der DDR und die Gegenleistungen der Bundesregierung künftig vor Beginn der Entlassungen festzulegen, anstatt die Verhandlungen über den Gegenwert auf später zu
72 Wehner an Franke, 30.10.1973; HGWS, HF 45. 73 Interview mit Jan Hoesch, 22.5.2008. 74 Wehner an Franke, 9.12.1973; HGWS, HF 45; Franke an Wehner, 6.2.1974, HGWS, HF 35. 75 Stange an Vogel, 6.3.1974; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 1. 76 Vermerk Graberts, 29.10.1973; HGWS, HF 45; vgl. Wehner an Franke, 30.10.1973; ebenda u. Wehner an Honecker, 5.2.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 124, S. 467.
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verschieben. Zweitens sollten die Leistungen in Form einer Pauschalsumme erbracht werden.77 Der Begriff »Pauschale« bedeutet dabei zweierlei: Zum einen war damit eine Rahmenpauschale gemeint, d. h. eine jährliche Gesamtsumme für Häftlingsentlassungen und die »Konfliktfälle« der Familienzusammenführung. Einen Anhaltspunkt für die Höhe der Rahmenpauschale boten die Vorjahresbeträge, die zwischen 70 und 80 Millionen DM gelegen hatten.78 Zum anderen bezog sich der Begriff auf eine Fallpauschale für jeden Häftling in Höhe von 41 404 DM, die die bisherige vierstufige Skala unterschiedlicher Pro-KopfBeträge ersetzte.79 Der »krumme« Betrag knapp oberhalb des früheren »einfachen Satzes« von 40 000 DM ergab sich dabei aus dem »Durchschnittspreis« der Jahre 1970 bis 1973.80 Allerdings – und dies war die Schwachstelle der Vereinbarung – bezog sich die neue Fallpauschale nicht auf jene Häftlinge, die wegen der Schwere ihrer Bestrafung bislang nur im Rahmen der »Gravierenden Aktionen« hatten befreit werden können. Sie blieben vorerst eine eigenständige Kategorie, sodass es neben den »Normalfällen« mit der neuen Fallpauschale von 41 404 DM nach wie vor »gravierende Fälle« gab, die weiterhin mit 160 000 bis 200 000 DM zu vergüten waren.81 Neben der technischen Vereinfachung entsprach die Pauschalierung den langfristigen Interessen beider Seiten. Aus der Sicht der Bundesregierung sollte das neue Verfahren zur atmosphärischen Verbesserung der Beziehungen zur DDR beitragen. Insbesondere Stange erhoffte sich für die Zukunft weniger konfliktträchtige Verhandlungen. Schließlich beseitige die Pauschale den »unerträgliche[n] Zustand«, dass sich die Anwälte nach der Entlassung eines jeden Häftlings noch über die Höhe der Bewertung streiten müssten. Auch werde es der ethischen Rechtfertigung der Maßnahmen nur dienlich sein, wenn man »vom Begriff der Kopfquote« wegkomme.82 In der Sache versprachen sich die Akteure im Westen eine Verstetigung, zahlenmäßige Erhöhung sowie Verbesserung der »Qualität« der Entlassungen. Da man wusste, dass die Devisenbeschaffung das Hauptmotiv der DDR war und sich diesem Ziel »die Erörterung von Grundsatzfragen unterzuordnen« habe,83 ließ sich durch eine Erhöhung 77 Vermerk Graberts, 29.10.1973; HGWS, HF 45; vgl. Wehner an Franke, 30.10.1973; ebenda u. Wehner an Honecker, 5.2.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 124, S. 467. 78 Aufzeichnung betr. H-Aktion 1974, o. A., 30.5.1974; HGWS, HF 30. 79 Stange an Vogel, 29.10.1974; HGWS, HF 25; vgl. Vermerk Enkes »Abschluß I. Pauschale 1974«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 1747, Bl. 53. 80 Vgl. die hs. Berechnung Volperts der »I. Pauschale 1974«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 341, Bl. 3–5, die in der Summe allerdings einen Durchschnittsbetrag von 41 302,50 DM ergibt. 81 Vgl. die Abrechnungen Volperts für die »Erste Pauschale 1974«, 27.6.1974; ebenda, Bl. 8. 82 Vermerk Stanges, 28.2.1974; HGWS, HF 47; vgl. BStU, MfS, HA IX, Nr. 341, Bl. 25–27. 83 Vermerk Weicherts, 22.2.1977; AHSH, Ordner DDR, 1966–1974, Bd. 2.
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der Rahmenpauschale auch die Anzahl der freizukaufenden Häftlinge steigern. Die Gegenleistungen konnten außerdem als Druckmittel eingesetzt werden, um den Forderungen der Bundesregierung Nachdruck zu verleihen.84 Auch aus Sicht der DDR hatte die Pauschalabgeltung einen entscheidenden Vorteil: Sie schuf Planungssicherheit, denn künftig stand bereits zu Jahresbeginn fest, wie hoch der Erlös aus dem Geschäft mit politischen Häftlingen und den »Konfliktfällen« der Familienzusammenführung sein würde. Nicht zufällig rief Honecker im Frühjahr 1974 – genau zu dem Zeitpunkt, als sich Stange und Vogel auf die Pauschale für 1974 einigten85 – Alexander SchalckGolodkowski zu sich, der seit 1966 den Bereich »Kommerzielle Koordinierung« (KoKo) im Außenhandelsministerium der DDR leitete. »Im Ton großer Bestimmtheit«, schreibt Schalck-Golodkowski in seinen Erinnerungen, habe Honecker eine Übersicht über die bisherigen Einnahmen von ihm gefordert. Im Ergebnis des Gesprächs, an dem auch Erich Mielke und Politbüro-Mitglied Günter Mittag teilnahmen, erhielt Schalck-Golodkowski den Auftrag, »ein besonderes Konto nur für diese Gelder zu eröffnen«.86 Das Konto bei der Deutschen Handelsbank AG in Ost-Berlin mit der Nummer 0628 sollte, so die Absicht Honeckers, zur Finanzierung von Konsumgüterimporten für die Bevölkerung genutzt werden.87 Offenkundig sah Honecker das Häftlingsgeschäft als einen Beitrag zur Verwirklichung der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, jener politischen Agenda, die er auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 verkündet hatte und die das politische Legitimationsdefizit der SED durch eine Verbesserung der materiellen Versorgung der Bevölkerung ausgleichen helfen sollte.88 Da der politische Wille auf beiden Seiten zu dem neuen Verfahren vorhanden war, verliefen die Verhandlungen über seine praktische Durchführung nahezu reibungslos. Vogel schrieb an Stange: »Im Prinzip und Zweck der Pauschalierung sind wir konform. Wir wollen weg von den leidigen Symbolen.«89 Honecker teilte Wehner sein Einverständnis mit, die Rahmenpauschale für 1974 auf 70 Millionen DM festzulegen und durch Häftlingsentlassungen sowie »Konfliktfälle« der Familienzusammenführung »maximal abzutragen«.90 84 Vgl. den Vermerk Sannes, 24.11.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 132, 132A, S. 480–482. 85 Weichert an Wehner, 3.3.1974; HGWS, HF 44. 86 Schalck-Golodkowski, Alexander: Deutsch-deutsche Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 207 f. 87 Judt, Matthias: Häftlinge für Bananen? Der Freikauf politischer Gefangener aus der DDR und das »Honecker-Konto«. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007) 4, S. 417–439, hier 430 u. 433. 88 Siehe Kap. VII. 89 Vogel an Stange, 19.4.1974; BStU, MfS, HA IX, Nr. 341, Bl. 22; vgl. Kap. III.3. 90 Honecker an Brandt, 1.4.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 154, S. 556.
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Zwar wollte sich die DDR nicht auf eine konkrete Entlassungszahl festlegen lassen, verdeutlichte aber ihren guten Willen. »Im Endergebnis«, versprach Vogel, »soll Ihre Seite so gestellt sein – wenn nicht noch besser –, wie es die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren mit sich gebracht haben.«91 Auf der Basis der Wunschlisten der Bundesregierung und der von der DDR benannten Mittäterfälle handelten Vogel und Stange zwei TeilEntlassungslisten aus. Die erste umfasste 701 Häftlinge, die bis Oktober 1974 aus den Gefängnissen kamen, die zweite mit 360 Fällen schloss sich unmittelbar an, sodass bis Jahresende die Rahmenpauschale von 70 Millionen DM mit über 1 000 Entlassungen »abgetragen« war.92 Die Teil-Entlassungslisten trugen fortan die Bezeichnung »Folge«. Bis zu fünf dieser »Folgen« gab es jährlich, solange, bis die vereinbarte Rahmenpauschale von den Leistungen der DDR gedeckt war. Vogel und Wehner, die sich seit Wehners Treffen mit Honecker nahezu monatlich trafen, waren erfreut über die Entwicklung. Überschwänglich bemerkte Vogel, die »Familienzusammenführungen und Häftlingsaktion seien noch nie so gut gegangen wie in diesem Jahr«.93 Vogel und Wehners Vertrauter Carl-Gustav Svingel dankten dem SPD-Fraktionschef in einem handschriftlichen Brief für sein Engagement: »Wir dürfen Ihnen als Sprecher der vielen, vielen Menschen gratulieren, die nur mit Ihrer Hilfe glücklich geworden sind. Allein schon wegen der Mission müssen Sie ganz einfach gesund und kraftvoll bleiben.«94 Auch Wehner selbst war zufrieden über die Pauschalierung, die sich »hervorragend bewährt« habe: »Wir schlagen uns nicht mehr um Köpfe und Seele und rechnen nicht pro Kopf und Summe. Das Ganze ist etwas ›salonfähiger‹ geworden, und die vielen Streitereien um bestimmte Fälle sind weggefallen, so dass wir auch nicht mehr wie früher die plötzliche Stopsituation hatten und der eine oder andere versucht hat, mehr zu erreichen. Das läuft also recht gut.«95
»Völlige Pauschalierung«, Ausweitung und Konsolidierung in der Ära Schmidt Während sich Stange und Vogel auf die Modalitäten der ersten Pauschale einigten, wurde das politische Bonn durch den größten Spionageskandal der 91 Vogel an Stange, 19.4.1974, BStU, MfS, HA IX, Nr. 341, Bl. 22; vgl. Weichert an Wehner, 19.3.1974; HGWS, HF 47. 92 Abrechnungen für die Pauschalen bzw. Folgen I u. II 1974; BStU, MfS, HA IX, Nr. 341, Bl. 2, 8 u. 141; vgl. den Schriftwechsel zwischen Stange und Vogel in: ebenda, Bl. 11–21 u. 143–158. 93 Notizen Wehners über ein Gespräch mit Vogel, 9.8.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 200, 200A, S. 681. 94 Vogel und Svingel an Wehner, 10.7.1974; HGWS, HF 28. 95 Aufzeichnung Wehners, 12.9.1976; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 229, S. 794.
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Bundesrepublik erschüttert. Am 24. April 1974 hatten die Sicherheitsbehörden Günter Guillaume wegen des Verdachts der Spionage für die DDRStaatssicherheit festgenommen. Guillaume war seit Juni 1973 als Referent im Büro des Kanzlers tätig gewesen und hatte Zugang zu geheimen Unterlagen. Brandt übernahm die politische Verantwortung und erklärte mit Wirkung zum 7. Mai seinen Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers, blieb jedoch Parteivorsitzender der SPD.96 In der Schockstarre, in der sich die SPD nach diesem Paukenschlag befand, kam aus der Führungstroika der SPD nur Bundesfinanzminister Helmut Schmidt für die Kanzlerschaft infrage. Zudem hatte sich Brandt für Schmidt als seinen Nachfolger ausgesprochen. Am 16. Mai wählte ihn der Bundestag mit den Stimmen der Koalition zum Bundeskanzler. Schmidt, der sich als Wirtschafts- und Finanzpolitiker mit der Deutschlandpolitik bisher nur am Rande befasst hatte, ordnete als erste Amtshandlung eine Bestandsaufnahme zu allen wichtigen Fragen der innerdeutschen Beziehungen an, darunter auch die »Entlassung und Übersiedlung von Häftlingen« sowie die »Familienzusammenführung«.97 Zu diesem Zweck fertigte Wehner eine Zusammenstellung seiner Notizen über seine Korrespondenz mit Honecker via Vogel an und übergab sie Schmidt zur Lektüre.98 Der Kanzler informierte Wehner seinerseits über eine Botschaft Honeckers, in der dieser sein Bedauern über den Rücktritt Brandts ausdrückte. Trotz des Vorfalls, der auf das »Unvermögen der zuständigen Stelle der DDR, den Mann [Guillaume] rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen« zurückgehe, sei er erfreut, dass das gegenseitige Vertrauen »auch schwersten Belastungen standhält«. Fortschritte seien »bei Akzeptierung gegenseitiger Grundinteressen« nach wie vor möglich, darunter auch Häftlingsentlassungen und Familienzusammenführungen.99 Schmidt war sich mit Wehner darin einig, dass die causa Guillaume eine Fortführung der humanitären Bemühungen nicht in Gefahr bringen dürfe. Wie auf vielen anderen Gebieten sah er die Dinge pragmatisch. Man komme in den Beziehungen am besten voran, wenn man »unüberbrückbare Grundgegensätze« ausklammere und sich auf »praktische, konkrete Regelungen zum beiderseitigen Nutzen« verständige.100 Schmidt griff das Angebot zur Kontinui96 Soell: Schmidt, S. 319–337, sowie Anm. 132 für weitere Literatur zur Guillaume-Affäre; vgl. Baring: Machtwechsel, S. 722–762; Meyer: Wehner, S. 420–425. 97 Mitteilung Schmidts an Honecker, 10.7.1974; DzD VI/3 (1973/1974), Dok. Nr. 190, 190A, S. 651 f. 98 Wehner an Schmidt; DzD VI/3 (1973/1974), Dok. Nr. 177, S. 618–621. 99 Schmidt an Wehner, 18.6.1974; HGWS, HF 42; Honecker an Wehner u. Schmidt, 6.5.1974; DzD VI/3 (1973/1974), Dok. Nr. 166, 166A, S. 590–594. 100 Erläuterungen Gaus, 28.7.1976; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 205A, vgl. Schmidt an Honecker, 28.7.1976; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 205.
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tät daher auf und ließ Honecker die Mitteilung zukommen, dass noch im Juli Gespräche zwischen Emissären beider Seiten vereinbart werden könnten.101 Außerdem bestätigte er die bestehenden Zuständigkeiten: Solange die Verhandlungen auf der Ebene der Anwälte »sachliche Fortschritte« ermöglichten, werde er dies akzeptieren, zumal die DDR »aus ihrer starken Position heraus« der Bundesregierung »das ihr am besten dünkende Prozedere« vorschreiben könne.102 Die politische Vorklärung der humanitären Fragen sollte weiterhin über den Draht Wehner – Vogel – Honecker unter Wehners Federführung erfolgen. Egon Franke, der dem Kabinett weiterhin als Innerdeutscher Minister angehörte, blieb für die praktische Durchführung verantwortlich.103 Schmidt selbst behielt sich lediglich »eine Art Oberaufsicht« vor.104 In einem Briefwechsel vom September 1974 tauschten Schmidt und Honecker Absichtserklärungen aus, die innerdeutschen Beziehungen im Wege des Interessenausgleiches soweit wie möglich zu verbessern und zu vertiefen. Dabei hob Schmidt die gegenwärtige und künftige Bedeutung der humanitären Beziehungen hervor: »Besonderes Gewicht messe ich Ihrer Zusage bei, Familienzusammenführungen und die Regelung anderer humanitärer Probleme zügig zu genehmigen.«105 Honecker wies in seiner Entgegnung auf den bereits erbrachten »positiven Beitrag« seiner Seite hin, ergänzte jedoch, dass es »am guten Willen […], auch in Zukunft so zu verfahren« nicht mangeln werde.106 Auch gegenüber Günter Gaus, den Schmidt nach der Errichtung der Ständigen Vertretungen im Sommer 1974 zu ihrem Leiter berufen hatte, wiederholte Honecker diese Zusage. Auf Gaus’ Bemerkung, die Bundesregierung verstehe die Familienzusammenführung nicht bloß »als eine einmalige, für das laufende Jahre gegebene Zusicherung«, sondern als einen permanenten Vorgang, entgegnete Honecker: »Einverstanden, dies muß und wird kontinuierlich weitergeführt werden.«107 Infolge der beiderseitigen Willensbekundungen zur Entspannung und Zusammenarbeit verflüchtigten sich die letzten noch bestehenden Berührungsängste. Wenige Wochen nach dem Briefwechsel traf der Bundeskanzler erstmals seit Beginn des Freikaufs mit Rechtsanwalt Wolfgang Vogel und SPD-
101 Mitteilung Schmidts an Honecker, 10.7.1974; DzD VI/3 (1973/1974), Dok. Nr. 190, 190A, S. 651 f. 102 Schmidt an Wehner, 23.5.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 50, S. 198. 103 Hs. Notiz Greta Wehners, o. D., HGWS, HF 41. 104 Soell: Schmidt, S. 506. 105 Schmidt an Honecker, 6.9.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 210, S. 706. 106 Honecker an Schmidt, 10.9.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 211, S. 708. 107 Aufzeichnung Gaus über ein Gespräch mit Honecker, 16.9.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 215, S. 719.
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Fraktionschef Herbert Wehner persönlich zusammen.108 Der Anwalt hinterließ einen überaus positiven Eindruck auf Schmidt, der Vogel als »sehr angenehme[n] Gesprächspartner« lobte.109 In Bezug auf die humanitären Fragen bemerkte Schmidt beiläufig, dass das »›Freikaufen‹ von Personen ihn [Vogel] doch eigentlich sehr stören müsse«.110 Vogel griff das Thema auf und unterbreitete Schmidt einige Tage nach dem Gespräch einen Vorschlag: Zwar ginge es nicht ohne die Gegenleistung, wie es Honecker klargestellt habe. Doch wäre es auch für Honecker »nicht besonders erquicklich«, wenn öffentlich von »Kopfquoten« oder gar »›staatlich konzessioniertem Menschenhandel‹ usw. gequatscht« werde.111 Wäre es deshalb nicht möglich, zu einer »völlige[n] Pauschalierung« der Gegenleistung zu kommen, d. h. zu einer einheitlichen Fallpauschale für alle Häftlinge? Erich Honecker sei zu einem »fairen Arrangement« bereit und gewillt, »einen Betrag von jährlich 100 Millionen DM abzutragen«, 30 Millionen mehr als die für 1974 vereinbarte Rahmenpauschale.112 Vogel hatte damit auf die Schwachstelle der kürzlich vereinbarten Pauschalregelung hingewiesen. Neben den neuerdings mit einheitlich 41 404 DM vergüteten »Normalfällen« gab es nach wie vor die »Gravierenden Fälle«, die mit 160 000 DM pro Person zu Buche schlugen. Das Nebeneinander einer »teuren« und »billigen« Kategorie hatte dazu geführt, dass der Anteil der Häftlinge, die die DDR nur im Rahmen der »Gravierenden Aktionen« bzw. als »Gravierende Fälle« freigab, stetig angestiegen war. 1973 lag er bei 16 Prozent, im Jahr darauf bei rund 20 Prozent und 1976 bereits bei 37 Prozent.113 Für die gleiche Rahmenpauschale gab die DDR also immer weniger Häftlinge frei, schürte gewissermaßen die »Preisinflation«. Neben dem steigenden Devisenhunger der DDR gründete die Entwicklung in dem Umstand, dass sich die Verhandlungsführer im Innerdeutschen Ministerium 1975 mit der Forderung durchsetzen konnten, dass auch (teils gewerbliche) Fluchthelfer und Häftlinge mit medizinischen Berufen, vornehmlich Ärzte und medizinisch-technische
108 Notizen Schmidts über das Gespräch mit Wehner u. Vogel, 10.11.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 256, S. 836. 109 Gespräch Schmidts mit Honecker, 30.7.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 82, S. 319. 110 Vorlage Sannes für Schmidt, 31.3.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 32, Anm. 7, S. 141. 111 Wehner an Schmidt, 18.11.1974; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 264, S. 855 f. 112 Ebenda; Vogel an Schmidt, 2.3.1975; AHSH, DDR, 1966–1974, Bd. 2. 113 Eigene Berechnung nach: Übersicht Enkes »Entlassungen 1973« (106 als »S« [je 160 000 DM] bzw. als »S+« [je 200 000 DM] bewertete Häftlinge); BStU, MfS, HA IX, Nr. 19153, Bl. 184– 186; Abrechnungen Volperts für 1974 (218 »gravierende Fälle« für je 160 000 DM); BStU, MfS, HA IX, Nr 341, Bl. 8 u. 141; Abrechnungen Volperts für 1976 (458 »gravierende Fälle« für je 160 000 DM) in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 17943, Bl. 1 u. 3 sowie in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 17877, Bl. 39.
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Assistentinnen, einbezogen wurden.114 1976 waren es bereits 54 Ärzte, die auf diesem Weg in die Bundesrepublik gelangten.115 Für sie forderte die DDR jedoch den Gegenwert eines »gravierenden Falles«.116 Mindestens in Bezug auf die Ärzte ist die These, dass der Beruf einen Einfluss auf die Bemessung der Gegenleistung hatte, somit zutreffend.117 Diese Entwicklung konnte der Bundesregierung nicht behagen, zumal die Gefahr bestand, dass der Anteil der »gravierenden Fälle« weiter ansteigen und sich der Durchschnittspreis weiter erhöhen würde. Schmidt griff die Idee der einheitlichen Fallpauschale auf und versprach, den Vorschlag zu prüfen. Allerdings gab er zu bedenken, dass eine Änderung des Verfahrens nicht ganz einfach werde. Die neue, vollständige Pauschale unter Einschluss auch der »gravierenden Fälle«, die weit über der bisherigen Teilpauschale für die »normalen Fälle« von rund 41 000 DM liegen würde, müsse »innenpolitisch abgesichert« werden, d. h. gegenüber den Spitzen der Bundestagsfraktionen vertretbar sein.118 Mit der Unterstützung Schmidts und Wehners begannen die Anwälte mit den Verhandlungen. Im Innerdeutschen Ministerium stieß Vogel »auf ein sehr offenes Ohr« und »viel Gutwilligkeit«. Gleiches versicherte der Anwalt für seine Seite: Die Höhe und die Modalitäten der Pauschale müssten ausgewogen sein, »damit es nicht heiße, die eine Seite diktiere und die andere zahle«.119 Ende 1975 versicherte der Verhandlungsführer im Innerdeutschen Ministerium, dass man den Erwägungen »nähertreten« wolle.120 Bei der künftigen Regelung solle nicht mehr »buchhalterisch« verfahren werden.121 Wie die Verhandlungen im Detail abliefen, lässt sich ohne die einschlägigen Akten der Bundesregierung nicht darstellen. Nach den bislang zugänglichen Dokumenten zu urteilen, wurde die vollständige Fallpauschale erstmals 1977 oder 1978 angewandt. 1976, als offenbar letztmalig eine Unterscheidung zwischen »normalen« und »gravierenden« Fällen vorgenommen wurde, lag der
114 Anm. 1 zum Vermerk Sannes über das Gespräch mit Schalck, 14.7.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 72, S. 279; vgl. Vogel an Stange, 5.8.1975; HGWS, HF 75. 115 Ausfertigung des Referates I 6 des BMB »Entlassungen 1976«, HGWS, HF 54. 116 Vermerk Sannes über das Gespräch mit Schalck, 8.7.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 67, S. 254; vgl. Vermerk Sannes, 24.11.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nrn. 132 u. 132A, S. 481; Vermerk »Pauschalierung 1976«, o. A.; HGWS, HF 72: »Berücksichtigung eines bestimmten Anteils sogenannter ZM-[Zurückstellung, da Mediziner] und ZT-[Zurückstellung wg. Missbrauchs der Transitwege]Fälle«. 117 Meyer: Freikauf, S. 47 f. 118 Vermerk Schmidts, 21.11.1974; AHSH, Ordner DDR, 1966–1974, Bd. II; Vorlage Sannes für Schmidt, 31.3.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 32, S. 141 f. 119 Wehner an Schmidt, 28.4.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 39, S. 161 f. 120 Wehner an Schmidt, 21.9.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 98, S. 379 f. 121 Vogel an Stange, 11.8.1977; HGWS, HF 57.
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Durchschnittsbetrag für beide Kategorien bei 84 410 DM.122 1977 stieg er nochmals um mehr als 10 000 DM an und lag am Jahresende schließlich bei genau 95 847 DM.123 Diese neue, einheitliche Fallpauschale galt fortan bis zum Ende des Freikaufs 1989. Die Festlegung war daher keine »schlagartige« Anhebung der Forderung, sondern der Durchschnitt aller bislang gezahlten Summen und damit die Rückkehr zu dem Ursprungsgedanken einer einheitlichen Gegenleistung.124 Künftig, so das Kalkül des Innerdeutschen Ministeriums, sollte diese Regelung die bisherigen »gravierenden Fälle« mit erhöhter Gegenleistung überflüssig machen und einen weiteren Anstieg der Gegenleistung verhindern. Neben der vollständigen Pauschalierung lag der zweite große Vorteil, den sich die Bundesregierung von der Verbesserung der Beziehung zur DDR versprach, in der stetigen Erhöhung der Häftlingszahl. Schmidt und Franke waren sich darüber einig, dass das Hauptinteresse der Bundesregierung »an der Lösung einer möglichst großen Zahl von Einzelfällen« liegen müsse.125 Schließlich hänge das Urteil der Öffentlichkeit und der Wähler über die Deutschlandpolitik der Koalition maßgeblich davon ab, welche zahlenmäßigen Erfolge man auf diesem Gebiet vorweisen könne.126 Das war kein Geheimnis, sodass Wehner dies auch an Honecker übermittelte: »Für alle Entscheidungen des Bundeskanzlers«, so Wehner laut einem Bericht Vogels, »sei und bleibe wohl Antriebsmittel einzig und allein einerseits das innenpolitische und andererseits das parteiliche Vorzeigen echter Fortschritte, ordentlicher Ergebnisse.«127 Dabei konnte Schmidt seinerseits ein Interesse Honeckers am Fortbestand der sozialdemokratisch geführten Regierungskoalition voraussetzen. Schließlich hatte sich der SED-Chef noch vor Brandts Rücktritt im Mai 1974 klar zu der Frage positioniert, welches der beiden politischen Lager der Bundesrepublik er lieber an der Regierung sah. Honecker hatte Brandt seinerzeit zugesagt, es werde »insbesondere alles getan werden, um dabei mitzuhelfen, dass die Oppo-
122 Von insgesamt 1 255 Häftlingen wurden 797 als »normale«, 458 als »gravierende Fälle« gewertet. 123 Hs. Notiz Volperts auf der Vereinbarung »H-Aktion 1978«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18737, Bl. 1. Volpert gibt die neue Durchschnittssumme für 1977 korrekt mit 95 847,00 DM an. Allerdings liegt sie 516 DM oberhalb des Betrages, der sich aus der von ihm genannten Gesamtzahl der Häftlinge (1 485) und der Höhe der Gegenleistung (141,566 Mio. DM) ergibt (95 330,63 DM). 124 Pötzl: Spione, S. 142; vgl. Whitney: Advocatus Diaboli, S. 190. 125 Schmidt an Wehner, 23.5.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 50, S. 198. 126 Franke an Schmidt, 3.7.1974; AdSD, 1/HSA 00 Mappe 9071; Vorlage Sannes für Schmidt, 18.7.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 195, S. 659. 127 Bericht Vogels über eine Unterredung mit Wehner, 21.10.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 238, S. 783.
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sition auch nach der Wahl 1976 auf der Oppositionsbank und Willy Brandt Kanzler bleibt«.128 Eine weitere Folge des neuen Klimas war das Novum, dass die Verhandlungspartner ihre jährlichen Übereinkünfte fortan in einer Art Vertrag mit konkreten Zielvereinbarungen schriftlich fixierten. Zwar hatten die Anwälte auch bisher Schriftstücke, meist Briefe, mit Absichts- und Einverständniserklärungen ausgetauscht, doch waren diese Absprachen »zumeist vage, häufig unzulänglich belegbar und jederzeit widerrufbar«, wie die Fachbeamten im Innerdeutschen Ministerium aus schmerzlicher Erfahrung wussten.129 Das neue Verfahren erhöhte zwangsläufig die Verbindlichkeit, denn der DDR verblieben kaum noch Möglichkeiten, »sich ihren Verpflichtungen zu entziehen«.130 Die formlosen Papiere mit der schlichten Überschrift »H-Aktion«, ergänzt um die jeweilige Jahreszahl, wurden für die DDR von Rechtsanwalt Vogel, für die Bundesregierung von Ministerialdirektor Edgar Hirt unterzeichnet. Egon Franke überließ dem Abteilungsleiter im Innerdeutschen Ministerium seit Mitte der siebziger Jahre mehr und mehr die Verhandlungsführung. Punkt eins jeder Vereinbarung enthielt eine Zielvorgabe über die Gesamtzahl der einbezogenen Häftlinge. Der Wortlaut des Abschnitts blieb in den Jahren 1976 bis 1979 weitgehend gleich: »Wir gehen davon aus« oder »wir sind darin einig«, »daß das Ergebnis des Vorjahres zahlenmäßig und inhaltlich im Verhältnis zur Gegen-/Mehrleistung erreicht« oder gar »überboten« wird.131 Dementsprechend stieg die Zahl der jährlich freigekauften Häftlinge deutlich an. Während sie im Zeitraum zwischen 1964 und 1973 von zwei Ausnahmen abgesehen stets unter 1 000 lag, war es seit 1974, dem ersten Jahr der teilweisen Pauschalregelung, umgekehrt. Abgesehen vom Jahr 1979 wurden fortan jährlich über 1 000 Inhaftierte einbezogen. Gleiches galt für die Familienzusammenführungen: Während sie von 1964 bis 1973 weit unter bzw. knapp über der 1 000er-Schwelle gelegen hatten, vervielfachte sich ihre Zahl seit 1974 und variierte bis zum Regierungswechsel 1982 zwischen zweieinhalb und siebeneinhalbtausend Ausreisen pro Jahr. Infolge dieser Steigerungen erhöhte sich auch das Gesamtvolumen der gezahlten Summen. Während die Aufwendungen für die »Besonderen Bemühungen« im Jahr 1973 noch bei rund 128 Honecker an Brandt, 1.4.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 154, S. 555. 129 Vermerk Hoeschs, o. D. (1975); DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 51, S. 201. 130 Vermerk Sannes betr. Häftlinge aus der DDR und »Konfliktfälle der Familienzusammenführung«, 24.11.1975; HGWS, HF 72. 131 »Entwurf H-Aktion 1976«; HGWS, HF 60; »H-Aktion 1977«, 1.6.1977; HGWS, HF 60; »H-Aktion 1978«, 13.4.1978; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), Bd. 503, Dok. 675, S. 2720 f., zugleich in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 18737, Bl. 1 u. 39 f.; »H-Aktion 1979«, 23.3.1979; HGWS, HF 64; »HAktion 1982«, 30.3. bzw. 19.4.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 198. Wahrscheinlich gab es auch 1980 und 1981 derartige Papiere.
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54 Millionen DM lagen, hatten sie sich bis 1975 auf über 104 Millionen DM nahezu verdoppelt. 1978 lag die Summe bereits bei über 168 Millionen, dem Dreifachen der Zahlungen des Jahres 1973.132 Ferner enthielten die schriftlichen Abmachungen einen Passus über die »Qualität« der einzubeziehenden Häftlinge. Das betraf zum einen die Abmachung, dass mindestens zwei Drittel aller einbezogenen Häftlinge von den Wunschlisten der Bundesregierung stammen sollten, das übrige Drittel von Vorschlagslisten der DDR. Anscheinend war die Bundesregierung gegen Mitte der siebziger Jahre von ihrer Bedingung abgerückt, DDR-Vorschläge nur dann einzubeziehen, wenn es sich um »Mittäter« der angeforderten Häftlinge handelte.133 Dennoch blieb das Misstrauen bestehen, dass die DDR über ihre Vorschlagslisten »gewöhnliche Kriminelle« in den Westen abschieben wolle. Zum anderen gelang es, die »Qualität« durch eine Art Quotierung zu verbessern. Da es stets Ziel der Bundesregierung war, sich im Besondern für die Häftlinge mit hohen Strafen einzusetzen, wurde vereinbart, dass auf der »Entlassung Schwerstbestrafter« ein »besonderes Gewicht« liegen werde.134 In der Praxis bedeutet dies, dass beispielsweise 1977 aus der Kategorie »Strafmaß 10– 15 Jahre« mindestens 25 Personen berücksichtigt werden sollten. Vergleichbare Ziffern galten für die Strafkategorie »5–10 Jahre« und die »LL«-Kategorie, d. h. Häftlinge mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe.135 Derart hoch bestrafte Inhaftierte gab es nach wie vor. Allein die Wunschliste der Bundesregierung für das Jahr 1977 umfasste 22 »Lebenslängliche« und 115 Inhaftierte mit einem Strafmaß zwischen 10 und 15 Jahren.136 Auch bei den Häftlingen mit geringerer Strafe gelang es, eine frühere Entlassung als bisher zu erwirken.137 Schließlich war neben technischen und terminlichen Regelungen auch erstmals der Zusammenhang zwischen den Häftlingsentlassungen und Austauschfällen schriftlich niedergelegt. Allerdings gab die Bundesregierung keine feste Zusage, sondern erklärte lediglich ihre Bereitschaft zur »sorgfältigen« oder »wohlwollenden« Überprüfung der DDR-Wünsche.138 Da jedoch das Entgegenkommen der DDR bei ehemaligen BND-Mitarbeitern und anderen nach-
132 Siehe Tabelle 1 im Anhang. Vgl. Schmidt an Wehner, 19.6.1975; DzD VI/4 (1975/76), Dok. Nr. 56, S. 222 f. 133 Siehe Tabelle »Neue H-, MT- und V-Listen Fälle 1963 bis 1989«; BArch-B, B 137/36058. 134 Vgl. Anm. 204. 135 Ebenda. 136 Hirt an Wehner, 7.2.77; HGWS, HF 71. Einer der »Lebenslänglichen«, der CIC-Mitarbeiter Friedrich Weihe, war seit 1957 in Haft. Vgl. Pötzl: Spione, S. 46–50. 137 »Die Strafreste in den unteren und mittleren Kategorien haben sich im Jahre 1978 erhöht«; Vermerk Hirts, 12.12.1978; HGWS, HF 66. 138 Vgl. Anm. 204.
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richtendienstlichen Fällen von der Freigabe von DDR-Spionen abhing, gab es »jährlich zumindest ein Austauschvorhaben als ständige Übung«.139
Der Freikauf als deutsch-deutsche Normalität In den letzten Jahren der sozialliberalen Koalition waren die »Besonderen Bemühungen« bzw. die »Übersiedlungen aus dem Strafvollzug« allmählich zu einer festen Größe in den deutsch-deutschen Beziehungen geworden. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass auf der weltpolitischen Bühne die Phase der Entspannungspolitik mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 zu Ende ging und die zweite »heiße« Phase des Kalten Krieges begann. Das innerdeutsche Verhältnis blieb davon weitgehend unberührt.140 Honecker brachte dies noch im September 1982 kurz vor dem Regierungswechsel in Bonn in einem Gespräch mit Hans-Jürgen Wischnewski, dem Staatsminister im Bundeskanzleramt, auf den Punkt: »Gen. Erich Honecker sagte abschließend, im Großen und Ganzen hätten sich die Beziehungen seit 1969 zum Guten gewendet, ja grundlegend verbessert. Die Beziehungen seien jetzt besser als zwischen den Großmächten. Sie könnten sich weiter verbessern.«141 Das lag zuerst an dem gemeinsamen, überlebenswichtigen Interesse beider Seiten, auf den Frieden in Deutschland und Europa hinzuwirken. Sowohl die Bundesregierung als auch die DDR-Führung waren sich bewusst, dass Deutschland im Falle einer militärischen Eskalation zum Kriegsschauplatz werden und die Folgen eines (Atom-)Krieges ein schier unvorstellbares Ausmaß an Tod und Zerstörung erreichen würden. Von den Verhandlungen über die übrigen Themen der innerdeutschen Beziehungen wie beispielsweise die Transitpauschale und den Mindestumtausch waren Freikauf und Familienzusammenführung weitgehend abgekoppelt. Egon Franke bemerkte 1981 dazu, dass auf diesem Feld »die Uhren offenbar anders als auf dem der offiziellen Beziehungen« gingen. Die »relative Unabhängigkeit« beider Felder voneinander habe dabei »etwas ausgesprochen Nützliches, um nicht zu sagen Tröstliches«. Schließlich sei es der Bundesregierung dadurch möglich, ihre Bemühungen »zum Wohle der einzelnen Betroffenen fortzusetzen«, selbst wenn es in den offiziellen Beziehungen einmal zu Irritationen komme.142 Daran anknüpfend erinnerte der Bundeskanzler den SED139 Rehlinger: Freikauf, S. 81; vgl. S. 5 des Vermerks Plewas, 26.5.1977; HGWS, HF 60. 140 Wentker: Außenpolitik, S. 421–427. 141 Vermerk über das Gespräch Honecker – Wischnewski am 13.9.1982, zit. nach: Nakath, Detlef; Stephan, Gerd-Rüdiger: Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980–1987. Berlin 1995, S. 82–90, hier 90. 142 Franke an Schmidt, 19.5.1981; AdSD, 1/HSA 00 Mappe 9072.
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Generalsekretär regelmäßig daran, dass die humanitären Fragen Gradmesser für die Qualität der deutsch-deutschen Beziehungen seien. Anlässlich der Akkreditierung Klaus Böllings als neuem Leiter der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin ließ er Honecker im Februar 1981 eine mündliche Botschaft zukommen. »Wir sollten«, mahnte Schmidt, »zu keiner Zeit aus dem Auge verlieren, daß die Menschen in den beiden Staaten den Erfolg und die Ernsthaftigkeit der von den beiden Regierungen angestrebten Entwicklung der Beziehungen gerade auch an Fortschritten im humanitären Bereich […] messen.«143 Für die Stabilität der Freikaufspraxis gab es hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen war der klare Wille auf beiden Seiten zu dieser Methode samt ihrer geräuschlosen Durchführung vorhanden. Vielleicht ist der Befund, dass die humanitären Fragen seit Ende der siebziger Jahre nur noch selten auf der obersten politischen Ebene zur Sprache gebracht wurden, weniger konspirativen Neigungen der Akteure zuzuschreiben als vielmehr ein Indiz dafür, dass die Verhandlungen kaum noch von Grundsatzkonflikten beeinträchtigt wurden, was indes harte Auseinandersetzungen um einzelne Häftlinge nicht ausschloss. Zudem gelang es der Bundesregierung, das Thema trotz der regelmäßig aufflammenden Medienberichte weitgehend aus der öffentlichen Debatte herauszuhalten und dem Rechtfertigungsdruck des politischen Betriebes zu entziehen. Wenn in dieser oder anderen politischen Fragen Abstimmungsbedarf bestand, konnten sich Schmidt und Honecker rasch über Vogel verständigen.144 Im Schutze dieser Vertraulichkeit gelang es den Verhandlungsführern in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, mehrere Häftlinge freizukaufen, über deren Entlassung seit den sechziger Jahren verhandelt wurde. 1976 konnte Hans Möhring, ehemals Abteilungsleiter in der Staatlichen Plankommission der DDR, der seit 1959 eine lebenslange Haftstrafe wegen Spionage für den Britischen Geheimdienst verbüßte, die Haftanstalt Bautzen II verlassen und nach Westdeutschland ausreisen. Möhring hatte über 16 Jahre in Gefangenschaft verbracht.145 Im Gegenzug wurde der Marineoffizier Dieter Goersdorf, der 1975 vom Oberlandesgericht Celle wegen Landesverrats und Spionage zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden war, in die DDR überstellt. Zusätzlich zahlte die Bundesregierung eine halbe Million DM. Klaus Plewa, der 1974 die Nachfolge Jan Hoeschs im »Freikauf-Referat« des Innerdeutschen Ministeri-
143 BArch, SAPMO, Büro Honecker, Nr. 2407, Bl. 4. 144 Schmidt in einem Telefongespräch mit Erich Honecker am 19.2.1980: »Okay. Und notfalls den Rechtsanwalt schicken«, zit. nach: Potthoff: Bonn und Ost-Berlin 1969–1982, S. 496–503, hier 503. 145 Möhring an Wehner, 8.8.1977; HGWS, HF 56.
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ums angetreten hatte, übergab die Summe in bar an Vogel, der sie an Volpert weiterleitete.146 Selbst wenn sich das Klima auf dem humanitären Gebiet eintrübte, stand anders als in der ersten Dekade des Freikaufs zwischen 1963 und 1972 durch die kurzen Drähte zwischen den Regierungsspitzen ein etablierter Mechanismus der Konfliktlösung zur Verfügung. Dass er vorzüglich funktionierte, zeigen die Ereignisse im Anschluss an die Amnestie im Herbst 1979. Der DDR-Staatsrat hatte sie aus Anlass des 30. Jahrestages der Gründung der DDR im Herbst 1979 verkündet. Sie sollte auch politische Häftlinge umfassen, jedoch in einem weitaus geringeren Umfang als bei der letzten Amnestie im Jahr 1972.147 Da der Beschluss kurzfristig zustande kam, wurde die für 1979 vereinbarte Zahl von über 1 450 Häftlingsentlassungen nicht erreicht, sondern lag bei Amnestiebeginn bei »nur« 890 Entlassungen.148 Kurz vor Abschluss der Amnestie Mitte Dezember 1979 traf Vogel zu einem Gespräch mit Stange, dem Leiter des »Freikauf-Referates« Klaus Plewa und Ministerialdirektor Edgar Hirt zusammen, der seit Mitte der siebziger Jahre die Verhandlungen für das Innerdeutsche Ministerium führte. Vogel teilte seinen überraschten Gesprächspartnern mit, dass Honecker persönlich den Beschluss gefasst habe, den Häftlingsfreikauf einzustellen. Dafür gebe es drei Gründe. Erstens wies Vogel auf den »deutlichen und gewichtigen Zusammenhang« hin, der zwischen den Häftlingsentlassungen und dem gegenwärtig stockenden Agentenaustausch bestünde. Zweitens fehle es an positiven Signalen der Bundesregierung über die bisher erreichten Ziele. »Man spüre«, so Vogel über die Stimmung Honeckers, »dass der Bundeskanzler nicht dahinter stehe«. Drittens und letztens habe die öffentliche Berichterstattung, darunter die Kritik des früheren Gesamtdeutschen Ministers Erich Mende am Freikauf, zu diesem Entschluss beigetragen. Seine Seite könne dies nicht unberücksichtigt lassen.149 Hirt bemühte sich, die Wogen zu glätten und versicherte Vogel, dass die Bundesregierung den »Besonderen Bemühungen« unverändert einen »hohen Rang« beimesse. Es müsse daher nach einer Möglichkeit gesucht werden, die 146 Pötzl: Spione, S. 244 f.; »Als Gegenleistung von uns wird über Görsdorf verhandelt + einer finanziellen Leistung«; Hirt an Wehner, 3.6.1976; HGWS, HF 68; »Bonn tauschte den gefährlichsten Militärspion aus. Strengste Geheimhaltung im Fall Goersdorf«. In: Hamburger Abendblatt v. 21.8.1976, DRK-Suchdienst München, M 205; »›DDR‹-Häftling nach 17 Jahren in Freiheit«. In: Berliner Morgenpost v. 24.7.1976; LArchB, B Rep. 002, Nr. 12429. 147 Raschka: Justizpolitik, S. 181–188; vgl. Franke an Schmidt, 28.9.1979 u. Franke an Schmidt, 3.10.1979; AdSD, 1/HSA 00 Mappe 9072. 148 Vgl. Tabelle 1 im Anhang. 149 Vermerk Hirts, 7.12.1979 u. Franke an Schmidt, 10.12.1979; HGWS, HF 29. Zu Mende siehe Kap. V.
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Entlassungen auch in Zukunft fortzuführen. Vogel deutete hierzu an, dass es »sehr hilfreich« sein könne, wenn der Bundeskanzler in dieser Sache einen »Hinweis« an Honecker gebe. Das könne »in vielen Dingen Wunder bewirken«.150 Offensichtlich gab Schmidt den gewünschten »Hinweis«, sodass Honecker seine Entscheidung revidierte und die Häftlingsentlassungen im März 1980 wieder aufgenommen wurden. Möglicherweise hatte diese »Beendigungskalamität«151 lediglich den Zweck, die Gegner der Haftentlassungen im SED-Politbüro auf das nach wie vor starke Interesse der Bundesregierung hinweisen zu können, dem man im Sinne einer Verständigung nachgeben müsse. Hinter der subtilen Drohung mit der Beendigung des Freikaufs steckte sicher auch die Absicht, die Bundesregierung im Fall Guillaume unter Druck zu setzen. Seit der Verurteilung des Kanzlerspions und seiner Frau zu 13 bzw. 8 Jahren Gefängnis im Jahr 1975 hatte Vogel in den Austauschverhandlungen stets auf die »höchste Priorität« des Falles hingewiesen.152 Die causa Guillaume war dabei weitaus gewichtiger als der noch am ehesten vergleichbare Fall des KGB-Spions Heinz Felfe, der die Verhandlungen Ende der sechziger Jahre überschattet und nahe an den Rand des Scheiterns gebracht hatte. Eine Entlassung Guillaumes lange vor Verbüßung der Hälfte seiner Strafe kam nicht infrage, zumal sich auch Schmidt lange Zeit dagegen ausgesprochen hatte.153 Insbesondere bei der HV A des MfS stieß es daher auf Missfallen und verhieß nichts Gutes für den Fall Guillaume, dass 1979 kein Austauschvorhaben zustande gekommen war und die Bundesregierung für 1980 einen Austausch sogar ganz ablehnte. Schon in den Jahren zuvor hatte Vogel wiederholt in teils scharfer Form daran erinnert, dass die Entlassung von Häftlingen aus der Bundesrepublik Voraussetzung für die Entlassung politischer Häftlinge in der DDR sei. Ein »etwaige[r] Versuch der Abkehr von dieser jahrelangen Praxis«, so Vogel 1976 in einem Brief an Stange, »könnte nicht hingenommen werden«.154 Die »Mühen zum Wohle der Menschen« dürften sich schließlich »auf keiner Einbahnstraße bewegen«.155 Grund für die zögerliche Haltung der Bundesregierung waren meist hartnäckige Widerstände bei den Stellen, die Ihre Zustimmung zu einer vorzeitigen Entlassung geben mussten, z. B. das Bundes-
150 151 152 153 154 155
Ebenda. PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133: Zeuge Jürgen Stange, S. 247. Pötzl: Spione, S. 243. Ebenda, S. 244. Vogel an Stange, 27.4.1976; HGWS, HF 20. Vogel an Stange, 11.8.1977; HGWS, HF 57.
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justizministerium, der BND oder, wenn es sich um Fälle von Militärspionage handelte, der Militärische Abschirmdienst (MAD) der Bundeswehr.156 Ende April 1980 erreichte die Eskalation eine neue Stufe. In einem Brief an Stange beschwerte sich Vogel »nach Konsultation und im Einvernehmen an höchster Stelle« über die Unbeweglichkeit der Bundesregierung: »Es wird seit geraumer Zeit immer sichtbarer, dass man bei Ihnen von der seit 1964 vereinbarten und geübten Praxis weg will, im humanitären Bereich unter bestimmten Konditionen auch Inhaftierte auf Ihrer Seite zu entlassen. […] Diese Handhabung wird hier nicht hingenommen. Sie läuft letztendlich auf eine Aufkündigung der humanitären Vereinbarungen über Inhaftierte und Familienzusammenführungen hinaus, die ohne vorzeitige Haftentlassungen auch auf Ihrer Seite nicht zustande kommen und auch nicht aufrechtzuerhalten wären.«
Abschließend bat Vogel um eine Überprüfung der gegenwärtigen Lage, »bevor Entscheidungen fallen könnten, die sich nicht so ohne weiteres rückgängig machen ließen«.157 Die Drohung war zwar unmissverständlich, aber im Ton weitaus gemäßigter als im Fall Felfe 1968/69. Überhaupt zeigt die Gegenüberstellung beider Vorgänge, wie sehr sich das Verhältnis zwischen der Bundesregierung und der DDR-Führung seit Beginn der Entspannungspolitik gewandelt hatte. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass das Problem Guillaume über die diskreten Kanäle zwischen Bonn und Ost-Berlin umgehend auf die höchste Entscheidungsebene gebracht und dort zügig erörtert wurde. Das Ergebnis, das vom Willen zur Zusammenarbeit bestimmt war, wurde schließlich unmittelbar an die »Nr. 1« der DDR zurückgeleitet. Ost-Berlin verzichtete im Gegenzug darauf, wie seinerzeit im Fall Felfe die parallelen Bemühungen für die politischen Häftlinge und Familienzusammenführungen zu stoppen und als Druckmittel zu benutzen. Noch bevor Vogel seinen Beschwerdebrief auf dem offiziellen Weg an Stange und Ministerialdirektor Hirt leitete, übergab er Herbert Wehner eine Kopie. Zudem informierte er ihn darüber, dass Günter Mittag, PolitbüroMitglied und ZK-Sekretär für Wirtschaft, während seines bevorstehenden Besuches in der Bundesrepublik in dem geplanten Gespräch mit dem Bundeskanzler auf diesen Brief hinweisen werde.158 Wehner seinerseits gab Vogel 156 Hirt an Wehner, 7.12.1976; HGWS, HF 55; vgl. Notiz Hirts: »Hier will der MAD nicht zustimmen … Ich bitte Sie herzlich um Ihre Mithilfe«, Vermerk Hirts mit hs. Notizen für Wehner, 29.11.1978; HGWS, HF 66. 157 Vogel an Stange, 16.4.1980; HGWS, HF 22. 158 Notiz Vogels, datiert 16.4.1980; HGWS, HF 22. Zum Treffen Mittag – Schmidt vgl. Wentker, Hermann: Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System, 1949– 1989. München 2007, S. 422 f.
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»Empfehlungen für Günter Mittag« auf den Weg, »u. a. zum Ansprechen der ›humanitären Fragen‹, die im argen liegen«.159 Tatsächlich bemerkte Mittag in seinem Gespräch mit Schmidt, dass die »Praxis auf humanitärem Gebiet« bislang zufriedenstellend gelaufen sei, es jedoch in der jüngsten Vergangenheit »einigen Ärger gegeben« habe. Dazu werde sich seine Seite in Kürze schriftlich äußern.160 Schmidt erhielt das Schreiben tags darauf auf dem offiziellen Dienstweg von Egon Franke, der ihn zugleich um eine Besprechung bat. Schmidt wies den Kanzleramtschef an, die Stellungnahme Wehners, des Bundesverteidigungs- und des Bundesjustizministers einzuholen, verbunden mit dem Vorschlag, die Sache in einem Gespräch mit allen Beteiligten zu klären.161 Bereits der Umstand, dass sich Schmidt persönlich um den Vorgang kümmerte, genügte Honecker, um »die vorläufige Fortsetzung« von Häftlingsentlassungen und Familienzusammenführungen anzukündigen.162 Am 23. Mai 1980 wurde die Lage beim Bundeskanzler erörtert. Egon Franke hatte sich bereits im Vorfeld dafür ausgesprochen, die kooperative Haltung der DDR zu würdigen und dazu beizutragen, »daß diese Bemühungen auch in Zukunft weiter fortgesetzt werden können«.163 Im Ergebnis der Lagebesprechung erhielt Stange den Auftrag, Vogel im Namen der »höchsten Stelle«, von der er »ausdrücklich beauftragt und autorisiert« sei, den guten Willen der Bundesregierung zu versichern. Am Austauschverfahren werde »formell, materiell und in personeller Hinsicht festgehalten«, man wolle auch hier »zum Ziele« kommen. Allerdings bitte man um Verständnis, dass die Probleme »bis zum Herbst dieses Jahres« – gemeint war die Bundestagswahl 1980 – »noch differenzierter beurteilt werden« müssten.164 159 So Markus Wolf in einem Tagebucheintrag vom 15. und 16.4.1980 über eine angebliche Nachricht Vogels von seinem Gespräch mit Wehner. Wolf: Spionagechef, S. 212 f. u. 492 f. Zwar sind Angaben Wolfs nur mit Vorsicht zu verwenden, doch ist der von Wolf erwähnte »Brief von RA Vogel an Stange …, mit dem operiert werden soll« tatsächlich überliefert. Ob dies die übrigen angeblichen Aussagen Wehners glaubwürdiger macht (z. B. »Sagen sie meinem Jugendfreund, Schmidt befindet sich in einem Dickicht von Wahnvorstellungen. Ob und wie er sich da herauswindet, da ist alles drin«, ebenda), die nach der Veröffentlichung von Wolfs Erinnerungen zu kontroversen Diskussionen über einen angeblichen Verrat Wehners führten, sei dahingestellt. Grundsätzlich lag es aber im Vorstellungshorizont Wehners, mit DDR-Stellen zu sprechen, ohne den Bundeskanzler darüber zu informieren. Vgl. Vermerk Vogels, 1.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 623: »Er [Wehner] würde mit seinem Kopf Schweigen garantieren. Er würde vorab nicht einmal den Bundeskanzler unterrichten.« 160 Gespräch H. Schmidt – G. Mittag am 17.4.1980, abgedr. in: Potthoff: Bonn und OstBerlin, S. 504–515, hier 514. 161 Franke an Schmidt mit hs. Notizen Schmidts, 18.4.1980; AdSD, 1/HSA 00 Mappe 9072. 162 Vogel an Stange, 5.5.1980; HGWS, HF 22. 163 Vermerk Hirts/Frankes »Humanitäre Bemühungen der Bundesregierung«, o. D., beigefügt Franke an Schmidt, 6.5.1980; AdSD, 1/HSA 00 Mappe 9072. 164 Stange an Vogel, 28.5.1980; HGWS, HF 20.
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In einem wenig später anberaumten Treffen zwischen Ministerialdirektor Hirt, Stange und Vogel erläuterte Hirt das Schreiben mündlich. Vogel nahm Hirts Ausführungen »positiv zur Kenntnis« und bedankte sich für das Entgegenkommen des Kanzlers. Es sei »eine große Hilfe […] zu wissen, daß für das besondere Problem«, d. h. für das Ehepaar Guillaume, »eine Lösung angestrebt werde«. Wie rasch sich die Lage wieder entspannt hatte, zeigt die anschließende Einschätzung Hirts: »In dem Gespräch wurde deutlich, daß die andere Seite bemüht ist, keine großen Konflikte bei den humanitären Bemühungen entstehen zu lassen. Die Atmosphäre war durch kooperatives Verhalten in mehreren Einzelfällen gekennzeichnet«.165 Auf die Zahl der entlassenen Häftlinge hatte die Angelegenheit keinen Einfluss. Ende 1980 lag sie mit 1 036 Personen wieder knapp über der 1 000er-Schwelle.166 Das darauffolgende Jahr 1981 stand folglich ganz unter dem Vorzeichen des Austauschs des Ehepaars Guillaume. Im März wurde Christel Guillaume entlassen, die von ihrer achtjährigen Haftstrafe mehr als zwei Drittel verbüßt hatte. In den Verhandlungen zwischen Vogel und Hirt sowie Kanzleramtschef Manfred Lahnstein war ein umfangreiches Gesamtpaket geschnürt worden, das sowohl eine Austausch- als auch eine Freikaufskomponente umfasste.167 Neben Christel Guillaume erwirkte die Bundesregierung Gnadenentscheidungen für weitere acht Häftlinge, die von Gerichten in der Bundesrepublik wegen »geheimdienstlicher Agententätigkeit« zu Freiheitsstrafen zwischen anderthalb und sieben Jahren verurteilt worden waren. Im Gegenzug entließ die DDR neun Inhaftierte, die für Nachrichtendienste der Bundesrepublik tätig gewesen und zu Strafen zwischen siebeneinhalb Jahren und lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt worden waren.168 Der Austausch inhaftierter Spione im Verhältnis 9 : 9 ging mit einer »Sonderaktion« (»S/81«) einher. Sie umfasste insgesamt circa 200 hochbestrafte politische Häftlinge, die wegen Verstoßes gegen das Transitabkommen, ideeller oder gewerblicher Fluchthilfe, nachrichtendienstlicher Tätigkeit für den BND, die CIA und den Bundesverfassungsschutz, aufgrund namentlicher Presseberichte über ihre Inhaftierung oder aus sonstigen Gründen zu Strafen von fünf bis 15 Jahren, in acht Fällen sogar zu einer lebenslangen Freiheitsstra-
165 Vermerk Hirts, 3.6.1980; ebenda. 166 Vgl. Tabelle 1 im Anhang. 167 Gespräch Schmidt – Vogel am 12.2.1981 in Bonn, zit. nach: Potthoff: Bonn und Ost-Berlin, 1969–1982, S. 565–568, hier 565 f. 168 BMJ Schmude an den RBm Hans-Jochen Vogel, 6.3.1981; LArchB, B Rep. 002, Nr. 10756/a; vgl. Pötzl: Spione, S. 264–266.
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fe verurteilt worden waren. In den Vorjahren hatte sich die Bundesregierung vergeblich um ihren Freikauf bemüht.169 Der Unterschied zu den »normalen« Entlassungsvereinbarungen bestand in der Höhe der Gegenleistung, die bei 200 000 DM pro Häftling lag.170 An sich sollte das Problem gestaffelter »Preiskategorien« mit der vollständigen Pauschalierung der Gegenleistung auf einheitlich 95 847 DM seit 1977 beseitigt sein. Da sich die DDR jedoch geweigert hatte, etliche besonders schwere Fälle freizugeben, hatten sich die Verhandlungsführer im Innerdeutschen Ministerium schon 1978, ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Pauschalierung, zähneknirschend auf eine erneute Sonderaktion als »einmalige Verabredung« eingelassen. Sie sollte »von künftigen Vereinbarungen unabhängig« sein, die Gegenleistung für 100 oder 200 Häftlinge durchschnittlich 200 000 DM betragen.171 Faktisch gab es damit erneut zwei Kategorien, einerseits die Pauschale von knapp 96 000 DM, andererseits die Sonderaktionen mit Gegenleistung von 200 000 DM. Auch der Austausch Günter Guillaumes im Oktober 1981 verlief nach demselben Muster wie bei Christel Guillaume. Gegen ihn und womöglich noch einige weitere von der DDR gewünschte Häftlinge wurden acht BNDMitarbeiter aus der Haft entlassen, parallel eine zweite »Sonderaktion« (»S II/81«) mit 215 Personen für die erhöhte Gegenleistung vereinbart.172 Das Austauschpaket und die zweite Sonderaktion standen dabei unter dem Vorzeichen des Besuches von Bundeskanzler Schmidt in der DDR. Seit der ersten persönlichen Begegnung beider Politiker am Rande der KSZE-Konferenz in Helsinki im Sommer 1975 war ein Treffen geplant, doch aus verschiedenen Gründen immer wieder verschoben worden.173 Der erste Kanzlerbesuch in der DDR seit Willy Brandts Erfurt-Visite im Jahr 1970 fand schließlich vom 11. bis 13. Dezember 1981 auf Schloss Hubertusstock am Werbellinsee bzw. 169 BMJ Schmude an den RBm Hans-Jochen Vogel, 6.3.1981; LArchB, B Rep. 002, Nr. 10756/a; Übersicht Volperts über die S-Listen 1981; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13651, Bl. 67–72; vgl. für den Fall einer Zurückstellung wegen Presseberichten AdSD, Nachlaß Herbert Wehner, Allgemeine Korrespondenz, DDR, Mappe 47, FBS 1379. 170 Der Vergleich mit den Zahlungen in den Sonderaktionen in den Jahren 1978/79 und 1982 legt diese Vermutung nahe. 171 »Vereinbarung betr. Sonderaktion H 78«, 7.12.1978; HGWS, HF 66; Hirt an Wehner, 26.3.1979; HGWS, HF 64: »Die Sonderaktion ist um weitere 112 Personen aufgestockt worden. Gegenleistung von beiden Seiten akzeptiert«; hs. Notiz Volperts zum »S/78-Komplex«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18737, Bl. 6. 172 Aussage Plewas; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 164a, Bl. 8 u. 16; vgl. hs. Notiz Volperts »Kleine S/II/81 Aktion zu Weihnachten 1981 und BK[Bundeskanzler] Besuch«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13651, Bl. 256. 173 »Anruf Vogel, 16.10.1979, 18:00 Uhr«, Notiz Greta Burmester; HGWS, HF 20; Gaus an Schmidt, 15.11.1979; AdSD, 1/HSA 00 Mappe 6636.
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im Gästehaus des DDR-Staatsrates am Döllnsee statt und klang mit einem Besuch beider Delegationen in der mecklenburgischen Stadt Güstrow aus.174 Schmidt und Honecker hatten im Vorfeld mehrfach miteinander telefoniert. Zwei Tage vor dem Treffen empfing Schmidt den »Briefträger«, wie er Vogel augenzwinkernd zu bezeichnen pflegte, zu einem Gespräch in Bonn.175 Der Kanzler informierte Vogel darüber, dass er mehrere Briefe aus der Bevölkerung mit der Bitte um sein persönliches Engagement für einzelne Anliegen erhalten habe. Vogel riet dem Kanzler dringend davon ab, die Listen Honecker persönlich zu übergeben. Besser wäre es, die offiziellen Delegationsgespräche nicht damit zu belasten, sondern die Unterlagen von Ministerialdirektor Hirt im Beisein von Bundesminister Franke an ihn, Vogel, übergeben zu lassen. Er könne dafür »korrekte Bearbeitung zusichern, sofern keine Überforderungen enthalten« seien.176 Wehner, mit dem sich Vogel direkt im Anschluss traf, stimmte diesem Vorgehen zu, wie Vogel an Honecker berichtete: »›Das muß lautlos geschehen, ich rufe Hirt gleich noch an. Und der Franke, der ist gutwillig. Wenn Erich Honecker ihn etwas streicheln und herausheben könnte, wäre das den Dingen nützlich. Ich denk‘ mir was dabei‹.«177 Wie vorab vereinbart drehte sich das Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Staatsminister Gunter Huonker auf der einen, Erich Honecker und Wolfgang Vogel auf der anderen Seite nahezu ausschließlich um weltpolitische und innerdeutsche Themen. Lediglich am Ende des Gespräches wies Honecker darauf hin, dass seine Seite im zurückliegenden Jahr rund 12 000 Ausreisegenehmigungen erteilt habe und er diesbezüglich »weiterhin zu konstruktiven Lösung[en] bereit sei«. Schmidt »würdigte dies ausdrücklich«. Zu den Briefen, die Schmidt erhalten habe, bemerkte Honecker nur beiläufig, »diese seien für ihn dadurch erledigt, dass er Dr. Vogel beauftragt habe, diese Fälle zu lösen«.178 Auch wenn der Gipfel kaum praktische Fortschritte brachte, trug er zur atmosphärischen Entspannung bei, die ihrerseits Voraussetzung für ein reibungsloses Funktionieren des Freikaufs und der Familienzusammenführung waren. Auch im Folgejahr zeigte sich die DDR konzessionsbereit. Mitte März 1982 berichtete Hirt an Franke, dass fast 90 Prozent der bei dem Gipfeltreffen über174 Wentker: Außenpolitik, S. 422–427; vgl. Brunner, Detlef: »… eine große Herzlichkeit«? Helmut Schmidt und Erich Honecker im Dezember 1981. In: DA 44 (2011) 4, S. 508–517. 175 Notiz Vogels, 29.11.1981; HGWS, HF 20. 176 Aufzeichnung Vogels »Unterredung mit dem BK v. 9.12.1981«, zit. nach: Potthoff: Bonn und Ost-Berlin, S. 645–649, hier 648; vgl. den Vermerk Huonkers über das Treffen in: ebenda, S. 637–645, hier 643. 177 Vermerk Vogels über die »Unterredung vom 9.12.1981« mit Wehner, 11.12.1981, zit. nach: Potthoff: Bonn und Ost-Berlin, S. 649–651, hier 650. 178 Gedächtnisaufzeichnung Vogels über das Gespräch Schmidt – Honecker am 11.12.1981, zit. nach: Nakath; Stephan: Von Hubertusstock nach Bonn, S. 57–68, hier 67 f.
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gebenen circa 800 Fälle von Reiseanliegen sowie Bitten um Familienzusammenführung und Entlassung von Häftlingen bereits genehmigt seien oder in Bälde »positiv entschieden« werden würden.179 Parallel zur Freikaufsvereinbarung des Jahres 1982, die wie üblich bestimmte, dass das Ziel der beiden Vorjahre »zahlenmäßig (nach Möglichkeit) und inhaltlich erreicht« werden sollte,180 einigten sich die Parteien auf eine weitere Sonderaktion. Vogel berichtete in einem Bericht über eine Unterredung mit Egon Franke und Edgar Hirt am 24. Mai 1982. Beide hätten ihn darüber informiert, sie »bekämen die Summe für [die] S-Aktion nur frei, wenn zügig neben der 2. Folge abgefahren« werde. Die Häftlinge aus der zweiten Folge, d. h. zweiten Teil-Entlassungsliste für 1982, »dürften keine zeitlichen Nachteile haben«.181 Ende Juni einigten sich Vogel und Stange auf die Modalitäten. Die Vereinbarung sollte 150 Häftlinge umfassen, die sowohl von der Bundesregierung als auch von der DDR vorgeschlagen wurden. Die Gegenleistung wurde auf 30 Millionen DM festgelegt, durchschnittlich 200 000 DM pro Häftling. Vogel bemerkte abschließend: »Es wird einer solchen Sonderaktion zugestimmt, obwohl hier schwere Bedenken dagegen stehen.« Die Entlassungen erfolgten im Zeitraum von 15. Juli bis 26. August 1982.182 In den letzten Wochen der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982 wurde ein weiterer Agentenaustausch ausgehandelt, der jedoch erst nach dem Regierungswechsel in Bonn vollzogen wurde. Bonn, bzw. jene Stellen, denen das Begnadigungsrecht zukam, gaben fünf DDR-Spione gegen sechs Häftlinge frei, die »für einen Nachrichtendienst der Bundesrepublik bzw. für einen befreundeten Nachrichtendienst tätig gewesen« waren und Strafen von sieben bis zwölf Jahren verbüßten.183 Ähnlich wie bei dem Guillaume-Austausch im Jahr zuvor wurde parallel eine zweite Sonderaktion vereinbart, die 40 Personen für 8 Millionen DM umfasste.184 Es war die letzte Vereinbarung, die unter sozialdemokratischer Ägide ausgehandelt wurde: Nach fast 13 Jahren zerbrach das Bündnis aus SPD und FDP.
179 Vermerk Hirts für Franke und Schmidt, 24.3.1982; AdSD, 1/HSA 00 Mappe 9072. 180 »H-Aktion 1982«, 30.3. bzw. 19.4.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 198. 181 Vermerk Vogels »Unterredung vom 24.5.1982 mit Egon Franke und Hirt«, 26.5.1982; BStU, MfS, HA IX, 17613, Bl. 200. Hervorheb. i. O. 182 Schriftwechsel zwischen Stange und Vogel, Juni/Juli 1982; ebenda, Bl. 168–174. 183 BMJ Engelhard an RBm Weizsäcker, 3.11.1982; LArchB, B Rep. 002, Nr. 10756/a. 184 Vermerk Volperts »Laufende Abrechnung H-Aktion 1982«, o. D.; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 184 f.; Aussage Plewas; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 164a, Bl. 8 u. 16; Vermerk Stanges »Abrechnung II. S-Komplex 1982«, 19.4.1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 8.
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Bilanz des Freikaufs in der sozialliberalen Ära Die siebziger Jahre waren für die Entwicklung der »Besonderen Bemühungen« eine Phase der Verstetigung und Konsolidierung. Während es im vorangegangenen Jahrzehnt noch starke Vorbehalte dagegen gegeben hatte, bejahte die sozialliberale Bundesregierung nunmehr grundsätzlich die Methode, politischen Häftlingen durch Warenlieferungen an die DDR zur Freiheit zu verhelfen. Dies geschah auch deshalb, weil eine funktionsfähige Alternative von der DDR nicht akzeptiert wurde. Ein ähnlicher Prozess vollzog sich seitens der DDR. Erich Honecker machte das Häftlingsgeschäft bei seiner Machtübernahme 1971 zur »Chefsache« und betrachtete es nach außen als festen Bestandteil der Annäherungspolitik gegenüber der Bundesrepublik, nach innen als Beitrag für die Verwirklichung des SED-Programms der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«. Voraussetzung für diesen Wandel war das Konzept der »Neuen Ostpolitik« der Bundesregierung. Während das politische Klima, in dem sich die Verhandlungen bewegten, in den sechziger Jahren noch von der Semantik des Kalten Krieges geprägt war (Krautwig: »Jetzt präsentiert die Zone ein Diktat«), änderte sich dies mit dem Bahr’schen Konzept des »Wandels durch Annäherung«. Die DDR war fortan nicht mehr in erster Linie Gegner, sondern Partner, mit dem man unter Ausklammerung der prinzipiellen Gegensätze Absprachen zum beiderseitigen Vorteil treffen konnte (Honecker: »Wir sind zu einem fairen Arrangement bereit«). Die direkten Kommunikationsdrähte zwischen den Regierungsspitzen ermöglichten politische Vorabsprachen, auf deren Basis die Probleme auf der Arbeitsebene gelöst werden konnten. Praktische Folge war die Verstetigung, zahlenmäßige und qualitative Ausweitung der Freikäufe, die Pauschalierung der Gegenleistung und die weitgehende Beseitigung des Problems der unfreiwilligen Entlassungen in die DDR. So erfreulich die Entwicklung für die betroffenen Inhaftierten war, barg sie doch Gefahren. Wenn die DDR fest mit der Bereitschaft der Bundesregierung rechnen konnte, in jedem Jahr eine Freikaufsvereinbarung anzustreben, konnte dies die DDR dazu verleiten, Häftlinge in der Absicht zu »produzieren«, um sie zum Verkauf anzubieten. Zu guter Letzt stellte sich die Frage, ob diese Form geheimer Absprachen noch zeitgemäß war. Schließlich hatte die DDR 1974 mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 akzeptiert. Artikel 13 schrieb das Auswanderungsrecht fest: »Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.«185 Wenn der größte Teil der politischen Häftlinge aber 185 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte v. 10.12.1948; siehe http://www.humanrights.ch/ home/de/Instrumente/AEMR/idcatart_91-content.html
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
wegen eines Fluchtversuches oder Ausreiseantrages verurteilt worden war, musste es nicht vielmehr Ziel der Bundesregierung sein, die DDR offiziell zur Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen anzuhalten, anstatt sie durch die Geheimverhandlungen und Geldzahlungen faktisch von dieser Verpflichtung zu entbinden?
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Zwischen Kooperation und Kollaboration, 1982–1989
Am 1. Oktober 1982, zwei Wochen nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition, wählte der Bundestag den bisherigen Oppositionsführer Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler. Sondierungen zwischen den neuen Koalitionspartnern CDU/CSU und FDP über eine Zusammenarbeit in näherer Zukunft hatte es schon seit 1981 gegeben.186 Die tieferen Ursachen für den Bruch der SPD-FDP-Koalition lagen in politischen Differenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und der Zerstrittenheit der SPD über ihre Haltung in der Nachrüstungsdebatte. Schließlich spielte für die FDP die nüchterne Einschätzung eine nicht unwesentliche Rolle, dass die Schnittmenge an gemeinsamen politischen Zielen mit den Sozialdemokraten nach fast 13 Jahren der Zusammenarbeit merklich geschrumpft war.187 Da alle Parteien und auch die Öffentlichkeit die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen befürworteten, aber das Grundgesetz kein Selbstauflösungsrecht vorsieht, beschloss die neue Regierung, das Ziel über eine willentlich verlorene Vertrauensfrage nach Art. 68 GG zu erreichen. Noch vor dem 1. Oktober hatten sich die Koalitionsspitzen auf den 6. März 1983 als Wahltermin verständigt.188
Kontinuität nach dem Regierungswechsel In den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und FDP spielte die Frage der künftigen Deutschlandpolitik anders als 1969 nur eine untergeordnete Rolle. Die Freien Demokraten waren als Mitarchitekten der Neuen Ostpolitik für eine Fortsetzung des bisherigen Kurses. Als »konservativer Pragmatiker«189 teilte der Kanzler und CDU-Vorsitzende Kohl diese Auffassung. 186 Wolfrum: Geglückte Demokratie, S. 354. 187 Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1982–1990. Stuttgart 2006, S. 18–21. 188 Wirsching: Abschied vom Provisorium, S. 33–40. 189 Zit. nach: ebenda, S. 25.
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Selbst der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß vertrat den Standpunkt, dass die Verträge mit der DDR einzuhalten seien (»pacta sunt servanda«). Zugleich hielten die Partner an der Auffassung fest, dass es nur eine deutsche Nation, ergo nur eine deutsche Staatsbürgerschaft gebe.190 In der Praxis bedeutete dies, auf Kontinuität in den Beziehungen zur DDR zu setzen. Im deutschlandpolitischen Abschnitt seiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 verkündete Kohl, dass die Bundesregierung »zu übernommenen Verpflichtungen« stehe und zugleich »an umfassenden, längerfristigen Abmachungen zum Nutzen der Menschen« interessiert sei. Zugleich sprach er von der »geteilten Nation« und erinnerte an den Auftrag des Grundgesetzes, »in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«.191 Gegenüber dem SED-Chef betonte Kohl die Gemeinsamkeiten, anstatt das Trennende hervorzuheben. Ende November 1982 versicherte er Honecker in einem persönlichen Schreiben, dass der Grundlagenvertrag und die übrigen danach geschlossenen Abkommen »Grundlage und Rahmen für die Entwicklung der Beziehungen« seien. »Die Bundesregierung«, fuhr Kohl fort, »ist an guten Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik interessiert«. Wie seine Amtsvorgänger maß der Kanzler den Bemühungen um politische Häftlinge ein großes Gewicht bei, indem er sie ausdrücklich in seinem Schreiben erwähnte. Im vorletzten Absatz des Briefes hieß es: »Mit Genugtuung habe ich zur Kenntnis genommen, dass auch die Bemühungen in den humanitären Angelegenheiten kontinuierlich weitergeführt werden, wobei auf unserer Seite nun Herr Staatssekretär Rehlinger der Gesprächspartner ist (Abb. 23).«192 Mit Ludwig Rehlinger war nach dem Regierungswechsel ein engagierter Deutschlandpolitiker ins Innerdeutsche Ministerium zurückgekehrt, der die »Besonderen Bemühungen« wie kein anderer von Beginn an kannte. Rainer Barzel, der trotz des gescheiterten Misstrauensvotums 1972 und dem späteren Rücktritt vom Parteivorsitz nach wie vor zu den einflussreichsten Politikern der CDU-Fraktion gehörte, war als Innerdeutscher Minister in Kohls Kabinett eingetreten und hatte seinen früheren persönlichen Referenten Rehlinger gebeten, die Schlüsselposition des beamteten Staatssekretärs zu übernehmen. Nach anfänglichem Zögern entschied sich Rehlinger, das Angebot anzuneh-
190 Strauß, Franz Josef: Entscheidung für eine alternative Politik. Fragen zur Zeit. In: Politische Studien (1980) 251, S. 231. 191 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Jahrgang 1982, Nr. 93, S. 867. 192 Kohl an Honecker, 29.11.1982; zit. nach: Nakath; Stephan: Von Hubertusstock nach Bonn, S. 110 f.
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men und aus seiner Tätigkeit in der Wirtschaft in die Politik zurückzukehren.193 Barzel war entschlossen, das Gewicht des Innerdeutschen Ministeriums innerhalb der Regierung zu erhöhen.194 Es besaß zwar bei Weitem nicht mehr den Einfluss wie noch in den sechziger Jahren, da das Bundeskanzleramt seit Anfang der siebziger Jahre die Federführung in der operativen Deutschlandpolitik übernommen hatte. Auf dem Feld der humanitären Bemühungen hatte es seine weitgehende Alleinzuständigkeit aber behaupten können. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt ließ sich Barzel einen Überblick über den Sachstand geben. Eine ernsthafte Prüfung der Frage, ob der Freikauf politischer Häftlinge nach dem Beitritt beider deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen und damit der Anerkennung der UNO-Menschenrechtscharta auch durch die DDR sowie nach dem Inkrafttreten der KSZE-Schlussakte überhaupt noch vertretbar sei, veranlasste Barzel nicht. Für ihn stand fest, dass es keine Alternative zum Freikauf gab, weil man ansonsten »gar keinen mehr raus« bekommen würde.195 Während sich die neue Bundesregierung zur Fortsetzung des Freikaufs entschloss, drohte aus einer anderen Richtung Gefahr. Kurz nach der Amtsübernahme Barzels waren finanzielle Unregelmäßigkeiten aus der Ära Franke ans Licht gekommen. Im Zuge interner Ermittlungen und Prüfungen des Bundesrechnungshofes stellte sich heraus, dass Bundesminister Egon Franke und Edgar Hirt, der Leiter seines Ministerbüros, über die Verwendung von Haushaltsmitteln in Höhe von 5,6 Millionen D-Mark keine Belege vorweisen konnten.196 Der parlamentarische Kontrollausschuss, der die Verwendung der Gelder überwachte und über die tatsächlichen Vorgänge getäuscht worden war, stellte einen gravierenden Verstoß gegen die Haushaltsvorschriften fest. Da weder Egon Franke noch Edgar Hirt Angaben darüber machen wollten oder konnten, wofür sie die Beträge im Einzelnen verwendet hatten, empfahl der Ausschuss, die Bonner Staatsanwaltschaft einzuschalten.197
193 Rehlinger: Freikauf, S. 84–90. 194 »Leise Sohlen. Bonns Innerdeutscher Minister Rainer Barzel möchte für sich und sein Amt mehr Einfluß«. In: Der Spiegel v. 8.11.1982, Nr. 45. 195 Diskussionsbeitrag Barzels in: »Die Deutschlandpolitik und ihre Rahmenbedingungen in den siebziger Jahren«, Materialien der Enquete-Kommission, Protokoll der 55. Sitzung, Bd. 5/1, S. 1064. Barzel hatte sich auch zu Oppositionszeiten öffentlich dazu bekannt: »Schlimm genug, ich bin immer dafür, das fortzusetzen«; Meyer, Freikauf, S. 185. 196 Zum Skandal um die verschwundenen Millionen siehe Rehlinger: Freikauf, S. 91–102, sowie die Presseberichte in der Pressedokumentation des Bundestages, Bd. 924-1/0. 197 Die Prozessakten sind weiterhin gesperrt. Aus diesem Grund wurde hier auf eine ausführliche Darstellung des Prozesses verzichtet.
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Im Zuge der Ermittlungen erhärtete sich der Verdacht, dass Franke und Hirt die Summen aus anderen Haushaltstiteln in eine schwarze Kasse abgezweigt hatten. Bei ihrer Befragung durch die Ermittler sagten beide aus, dass jede Mark für humanitäre Zwecke verwendet worden sei, beispielsweise im Zusammenhang von Agentenaustauschvorgängen. Allerdings fanden weder der parlamentarische Kontrollausschuss noch die Staatsanwaltschaft Hinweise dafür, dass die Gelder in die DDR geflossen waren. Die Staatsanwaltschaft Bonn erhob deshalb im März 1984 Anklage gegen Egon Franke und Edgar Hirt wegen des Verdachts der Untreue und Urkundenunterdrückung. Die Anklage wegen Beihilfe zur Untreue gegen Jürgen Stange, der größere Barbeträge gleichsam als »Geldbote« an Hirt übergeben hatte, wurde nicht zugelassen. Am Ende des Prozesses beantragte die Staatsanwaltschaft einen Freispruch für Franke. Hirt hingegen warf sie vor, dass es zwar keine Hinweise auf eine persönliche Bereicherung gebe, er jedoch »unter Missbrauch seiner Vollmachten« öffentliche Gelder »verschleudert« habe. Das Bonner Landgericht sprach Egon Franke im Dezember 1986 vom Vorwurf der Untreue frei und verurteilte Edgar Hirt zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren (Abb. 24). Was mit den 5,6 Millionen DM geschehen war, konnte das Gericht nicht ermitteln.198 Für Jürgen Stange, der zwar nicht unter Anklage gestellt wurde, hatte die Affäre dennoch Konsequenzen. Das Innerdeutsche Ministerium kündigte den im September 1976 geschlossenen Arbeitsvertrag mit Wirkung zum 31. August 1983. Nach einer fast 20 Jahren währenden Zusammenarbeit trennten sich die Vertragsparteien »in beiderseitigem Einvernehmen«.199 Je weitere Kreise die Affäre zog, umso mehr wuchs in Bonn die Sorge, dass die Medienberichte über den Skandal die Fortsetzung des Freikaufs gefährden könnten. Schließlich bestand die Gefahr, dass öffentlich darüber spekuliert werden würde, ob nicht doch ein Teil der verschwundenen Millionen über dunkle Kanäle an die DDR geflossen sei.200 Staatssekretär Rehlinger bestätigte Vogel Ende Januar 1983 in einer vertraulichen Unterredung, dass die Abrechnungen mit der DDR korrekt abgewickelt worden seien. Die Affäre sei eine interne Angelegenheit der Bundesrepublik, mit der die DDR »nichts zu tun« habe. Das werde die Bundesregierung »wenn erforderlich auch öffentlich erklären«. Überhaupt solle sich die DDR durch den Rummel »nicht irritieren lassen«, die Sache »sei halt ein Stück Wahlkampf« im Vorfeld der Bundestagswahl.201 198 »Der Staatsanwalt beantragt Freispruch für Franke«. In: FAZ v. 20.11.1986. 199 Zeugenvernehmung v. 22.7.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel wegen Erpressung; 2 Js 353/91, Bd. 24, Bl. 72 f. 200 Rehlinger: Freikauf, S. 101 f. 201 Vermerk Vogels »Unterredung mit Rehlinger vom 26.1.1983« (»streng geheim!«), 28.1.1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 44 f.; so auch Rehlinger: Freikauf, S. 102.
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Weiterhin erklärte Rehlinger, die Bundesregierung sei bereit, »entsprechend der bisherigen Praxis« für die Entlassung politischer Häftlinge wirtschaftliche Gegenleistungen zu erbringen. Gleichwohl bitte man »um Verständnis und Entgegenkommen« in einigen Punkten. Im Kern zielten diese darauf ab, die unter der Vorgängerregierung aus dem Gleichgewicht geratene Balance von Leistungen und Gegenleistungen wieder ins Lot zu bringen, ferner die Verbindlichkeit der Abmachungen zu erhöhen und außerdem den weiteren Anstieg der »Preise« zu stoppen. In der Praxis sollten Häftlinge mit einem geringen Strafrest von weniger als drei Monaten oder sogar voll verbüßter Strafe nur noch »in Ausnahmefällen« oder im Rahmen »besonderer Abmachungen« einbezogen und mit dem üblichen Gegenwert von 95 847 DM verrechnet werden. Offenbar waren die Verhandlungsführer in den Vorjahren der DDR weit entgegengekommen. Frankes und Hirts Konzilianz gegenüber der DDR hatte den Leiter des »Freikauf-Referates« im BMB, Klaus Plewa, schon 1978 dazu veranlasst, sich über die Einbeziehung von Häftlingen mit »extrem kurzen Strafresten« von nur wenigen Tagen zu beklagen.202 Des Weiteren beanstandete Rehlinger die von der DDR vorgeschlagenen Häftlinge. Seit Ende der siebziger Jahre machten sie circa ein Drittel aller jährlichen Freigekauften aus. Für sie könne es künftig nur dann eine Gegenleistung geben, wenn sie von Vogel in Karl-Marx-Stadt oder von den Anwälten der Rechtsschutzstelle in Gießen identifiziert und über ggf. vorhandene kriminelle Vorstrafen befragt worden seien. Häftlinge von den »Vorschlagslisten« der DDR, die zwar einbezogen, aber aus »Staatsgründen« ohne eine Befragung in die DDR entlassen werden sollten, werde man grundsätzlich nicht mehr akzeptieren. Zu Recht hegte man auf westlicher Seite den Verdacht, dass es sich dabei um Betrugs- oder »Phantomfälle« handeln könnte. Schließlich drängte Rehlinger darauf, dem »unerträglichen öffentlichen Gerede« entgegenzutreten, dass die DDR über den Freikauf »Kriminelle gegen Devisen abstößt«.203 Besonders in den letzten Jahren der sozialliberalen Koalition hatte die Boulevardpresse diesen Vorwurf in reißerischen Schlagzeilen mehrfach erhoben.204 Seitens der DDR und ihres Unterhändlers Vogel stießen die Forderungen Rehlingers zunächst auf Zurückhaltung, beinahe Ablehnung. Vogel entgegnete, dass es nur zwei Möglichkeiten gebe: Entweder die Abreden mit der Vorgängerregierung zu übernehmen oder die Aussetzung der Verhandlungen
202 Plewa an Stange betr. H-Aktion 1978, Juli 1978; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13650, Bl. 123. 203 Vermerk Vogels »Unterredung mit Rehlinger vom 26.1.1983« (»streng geheim!«), 28.1.1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 44 f. 204 Hinz, Harry: Viele Freigekaufte sind DDR-Kriminelle. In: Bild am Sonntag v. 14.3.1982.
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hinzunehmen.205 Überhaupt war die neue Bundesregierung nicht die Wunschkoalition Ost-Berlins, das den Machtwechsel gar als »Sieg des Monopolkapitals« interpretierte. Je mehr die neue Bundesregierung ihren Willen zur Zusammenarbeit und Kontinuität aber in der Praxis unter Beweis stellte, umso mehr wich das anfängliche Misstrauen der DDR und wuchs der Wille zur Fortführung des Freikaufs.206 Um die noch ausstehende Endabrechnung über die strittigen Fälle der »HAktion« des Jahres 1982 wurde dennoch hart verhandelt. Vogel zog sich mehrfach auf den Standpunkt zurück, dass mit manchen Forderungen »einseitig von der jahrelang geübten Praxis abgewichen« würde und bereits geklärte Fälle »erneut zum Gegenstand von Abrechnungen« gemacht werden sollten. Das könne seine Seite nicht akzeptieren. Nach mehrwöchigem Hin und Her erreichte die Bundesregierung schließlich einige »Streichungen und [den] Wegfall der Bewertung«. Zugleich setzte sich die DDR in strittigen Punkten mit Verweis auf das »Stichwort Kontinuität« durch. Am Ende stimmten Rehlinger und Vogels Auftraggeber dem Vorschlag zu, die Akte des Jahres 1982 für eine abschließende Gegenleistung von knapp 6 Millionen DM zu schließen.207 Die vorgezogene Bundestagswahl am 6. März 1983 bestätigte die neue Koalition überraschend deutlich. Während die FDP von 10,6 Prozent auf 7 Prozent abrutschte, erzielte die Union mit 48,8 Prozent der Stimmen das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte und verfehlte die absolute Mehrheit nur um wenige Mandate. Rainer Barzel schied wie schon 1963 nach kurzer Amtszeit aus und wurde zum Bundestagspräsidenten gewählt. Helmut Kohl bildete sein Kabinett um und ernannte Heinrich Windelen (CDU) zum neuen Innerdeutschen Minister (Abb. 25). Der Schlesier Windelen galt weithin als Interessenvertreter der Vertriebenen und als »Wertkonservativer«, der die Brandt’sche Ostpolitik seinerzeit vehement bekämpft hatte.208 Als Minister hingegen akzeptierte er die Richtlinie der »pragmatischen Kooperation« mit Ost-Berlin. Ohnehin gewährte ihm das Kanzleramt nur enge Handlungsspielräume. Windelens Versuch kurz nach seiner Amtsübernahme, das Ministerium in »Bundesministerium für deutschlandpolitische Aufgaben« umzubenennen, blieb erfolglos.209 Seine wichtigste Personalentscheidung war, Rehlinger als Staatssekretär von Barzel zu übernehmen und den Posten nicht mit einem eigenen Gefolgsmann zu besetzen.
205 Rehlinger: Freikauf, S. 88. 206 Wentker: Außenpolitik, S. 500–503. 207 Siehe den Schriftwechsel in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 33–39 u. 74–84. 208 Kohl, Helmut: Erinnerungen. 1982–1990. München 2005, S. 120 f. 209 Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989. Stuttgart 1998, S. 55.
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Inhaltlich bekannte sich die Bundesregierung zwar zur Kontinuität, brach indes mit der bisherigen Regel, sich ohne einen außergewöhnlichen Anlass nicht in der Öffentlichkeit darüber zu äußern. In einem Interview mit der Welt am Sonntag und dem Süddeutschen Rundfunk an Ostern 1983 erklärte Windelen, er wolle »nach neuen Wegen Ausschau halten, um künftig direkte Devisenzahlungen womöglich zu vermeiden«. Er »plädiere nicht« für die Fortsetzung eines »solch umstrittenen Verfahrens«, sei aber dafür, »alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Unschuldigen zur Freiheit zu verhelfen«.210 Möglicherweise sollte diese Relativierung des Freikaufs die DDR unter Druck setzen, die Forderung nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen »Leistung und Gegenleistung« zu akzeptieren. Im April 1983 zeichnete sich nämlich bereits ab, dass die DDR in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und man in Bonn davon ausgehen konnte, dass Ost-Berlin an der Fortführung der bisherigen Praxis stark interessiert war.
Der »Milliardenkredit« und die »Franz-Josef-Strauß-Fälle« Seit Mitte der siebziger Jahre hatte die Konsumpolitik Erich Honeckers zu einem permanenten Defizit in der Zahlungsbilanz der DDR geführt. Da die Importe in westlicher Währung bezahlt werden mussten, die benötigten Summen aber nicht durch den Verkaufserlös der eigenen Exporte erwirtschaftet wurden, wuchs die Verschuldung im westlichen Ausland. Gemessen an der Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft lebte das Land über seine Verhältnisse, in jedem Falle überstiegen die Konsum- die Investitionsausgaben. Gegen Ende der siebziger Jahre spitzte sich die Lage dramatisch zu, die DDR geriet in Zahlungsschwierigkeiten. Die Drosselung der sowjetischen Erdöllieferungen an die DDR sowie die Hochzinspolitik der US-Amerikanischen Notenbank und der Kreditboykott westlicher Banken verschärften die Schuldenkrise.211 Laut Alexander Schalck-Golodkowski, dem Leiter des Bereichs »Kommerzielle Koordinierung« (KoKo), der mit der »Erwirtschaftung« von dringend benötigten Devisen beauftragt war, ging es für die DDR um »Sein oder Nichtsein«.212 Um den drohenden Bankrott abzuwenden, musste die DDR neue Kredite im westlichen Ausland aufnehmen. Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der DDR-Führung über die Gewährung eines Kredits hatte es schon vor dem Regierungswechsel in Bonn gegeben. Es blieb jedoch ausgerechnet 210 »Windelen sucht Alternativen zum Freikauf«. In: Stuttgarter Zeitung v. 5.4.1983. 211 Steiner: Von Plan zu Plan, S. 191–203. 212 Schalck-Golodkowski: Erinnerungen, S. 285.
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dem strammen Antikommunisten Franz Josef Strauß vorbehalten, die Pläne in die Tat umzusetzen. Den Kontakt zwischen dem Chef der »Kommerziellen Koordinierung« Alexander Schalck-Golodkowski und Franz Josef Strauß vermittelte ein alter Freund des Ministerpräsidenten, der Rosenheimer Fleischgroßhändler Josef März. Nach Konsultationen mit dem Bundeskanzler trafen Strauß und Schalck-Golodkowski im Mai und Juni 1983 dreimal in März’ Privatanwesen am Chiemsee zusammen. Dem finanziellen Interesse der DDR an Krediten stand dabei das Interesse der Bundesregierung gegenüber, als Gegenleistung humanitäre Zugeständnisse zu erhalten. Strauß glaubte zwar nicht daran, dass die DDR-Planwirtschaft auf Dauer funktionieren könne; auch hielt er Honeckers Begründung für den Kreditwunsch, dass man bloß »zuviel investiert« habe, die Wirtschaft aber grosso modo »in einer guten Entwicklung« sei, für »die übliche Beschönigungsphrase«.213 Grundsätzlich jedoch galt die DDR im Westen bis 1989 »als kreditwürdig und ökonomisch berechenbar«.214 Im Ergebnis der Verhandlungen erhielt die DDR einen Kredit über eine Milliarde DM. Als Darlehensgeber fungierte ein Bankenkonsortium unter Führung der Bayerischen Landesbank, der Bund übernahm lediglich die Bürgschaft, ohne dafür Haushaltsmittel, ergo Steuermittel aufzuwenden, worauf Strauß nach Veröffentlichung der Vereinbarung wiederholt hinwies. Unter der Auflage strenger Geheimhaltung sagte die DDR zu, im Gegenzug die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze abzubauen und die Familienzusammenführung zu erleichtern. Krönender Abschluss von Strauß’ Vermittlertätigkeit war ein Treffen am 24. Juli 1983 mit Erich Honecker in der Schorfheide, fast genau zehn Jahre nach Wehners und Mischnicks Visite.215 Vor allem innerparteilich geriet Strauß für den »Milliardenkredit« in die Kritik. Für manch einen CSU-Anhänger war die ganze Sache ein Verrat an politischen Prinzipien. Vielleicht gerade wegen dieser bemerkenswerten Beweglichkeit des CSU-Vorsitzenden ist der Name Franz Josef Strauß im Kontext der Deutschlandpolitik seitdem untrennbar mit der Vermittlung des »Milliardenkredits« verbunden. Dagegen ist nahezu in Vergessenheit geraten, dass der Coup nur den Auftakt zu seinem Engagement in punkto Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung und Agentenaustausch bis zu seinem plötzlichen
213 Strauß: Erinnerungen, S. 473. 214 Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989. Stuttgart 1998, S. 386. 215 Kohl: Erinnerungen, S. 173–190; Strauß: Erinnerungen, S. 483–496; Schalck-Golodkowski, Erinnerungen, S. 284–308; Kittel, Manfred: Franz Josef Strauß und der Milliardenkredit für die DDR 1983. In: DA (2007) 4, S. 647–656.
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Tod im Oktober 1988 bildete.216 Strauß’ Rolle glich dabei jener, die Herbert Wehner von 1966 bis 1983 gespielt hatte. Gewissermaßen trat Strauß die Nachfolge Wehners als »heimlicher Innerdeutscher Minister« in den humanitären Fragen an, wenngleich der Gesprächskontakt nicht über Vogel, sondern über den »KoKo«-Chef Schalck-Golodkowski lief.217 Auf den ersten Blick verwundert es, dass derart grundverschiedene Charaktere wie Strauß und Wehner gemeinsame politische Ziele teilten. Hier der Kritiker der Ostverträge und vielfach als »Kalter Krieger« abgestempelte »barocke Demokrat« Strauß,218 dort der zum Sozialdemokraten gewandelte ehemalige Kommunist, Entspannungspolitiker und puritanische Strenge verkörpernde Wehner. Politisch vertraten beide meist entgegengesetzte Standpunkte, für deren Durchsetzung sie keinem Streit aus dem Weg gingen und sich manch heftigen Schlagabtausch im Parlament lieferten, Wehner dabei oft cholerisch, Strauß zuweilen deftig. Neben einigen interessanten biografischen Parallelen, etwa die Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen und die früh erkannte außergewöhnliche Begabung, verband Strauß’ und Wehners Rolle, dass beide auf der höchsten Sprosse der Karriereleiter angelangt waren, als sie sich in den humanitären Belangen engagierten. Wehner, weil er nicht zuletzt wegen seiner kommunistischen Vergangenheit nie ins höchste Amt gelangen würde, Strauß, weil er nach der verlorenen Wahl 1980 und Kohls Kanzlerschaft nicht mehr Kanzler werden konnte und Genscher den von ihm heißbegehrten Posten des Außenministers besetzt hatte. Obwohl beiden die Kanzlerschaft versagt blieb und sie abgesehen von Wehners kurzer Amtszeit als Gesamtdeutscher Minister nicht der Bundesregierung angehörten, bildeten sie die Eckpfeiler ihrer jeweiligen Koalition, Wehner als Fraktionschef, Strauß als CSU-Vorsitzender. Dadurch verfügten sie über einen direkten Zugang zum Kanzler und konnten Handlungsspielräume unterhalb der offiziellen politischen Ebene nutzen. Aus dieser Position heraus ließen sich Dinge vorklären, Konflikte entschärfen und Interessen Nachdruck verleihen. Strauß hatte im Wesentlichen zwei Motive für sein deutschlandpolitisches Engagement. Großes Gewicht besaß zweifellos der humanitäre Beweggrund, den unter der Teilung leidenden Menschen zu helfen. Als Finanzminister der Großen Koalition war er erstmals mit den »Besonderen Bemühungen« in Berührung gekommen und hatte dazu beigetragen, politischen Häftlingen auf diesem Wege zur Freiheit zu verhelfen. Wie bei Wehner dürften spätestens seit 216 Selbst die aktuellste, Strauß gewogene Biografie erwähnt diesen Aspekt nicht: Finger, Stefan: Franz Josef Strauß. Ein politisches Leben. München 2005. 217 Siehe Einleitung. 218 Krieger, Wolfgang: Franz Josef Strauss. Der barocke Demokrat aus Bayern. Göttingen 1995.
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dem Treffen mit Honecker in der Schorfheide im Sommer 1983 die Zuschriften aus der Bevölkerung mit Bitten um Hilfe für Ausreisewillige und politisch Inhaftierte sprunghaft angestiegen sein. Wenngleich Strauß die Erfahrung der Haft fehlte,219 waren ihm die Folgen der Teilung ständig präsent. Als bayerischer Ministerpräsident regierte er ein Land mit einer fast 400 km langen Grenze zur DDR, an der Flüchtende fortwährend zu Schaden und zu Tode kamen. Darüber hinaus waren es politische Gründe, die Strauß zu seinem Engagement veranlassten, denn mit seiner unerwarteten Kehrtwende vom »Kalten Krieger« zum Entspannungspolitiker holte er die Union »aus einem toten Winkel«, wie er den Auftakt seines Engagements, den »Milliardenkredit«, in seinen Memoiren rechtfertigte. Auch taktisch war es ein kluger Schachzug. Künftig fiel es seinen Gegnern schwerer, ihn »in die rechtsradikale Ecke« zu stellen.220 Faktisch vollzog Strauß damit den Rollenwechsel von der Opposition zur Regierung und akzeptierte »die Ratio der sozialliberalen Deutschlandpolitik«, durch diskrete Verhandlungen die Verhältnisse zu verändern.221 Im Laufe der Jahre übergab Strauß etliche Listen mit den Namen von Inhaftierten und Ausreisewilligen an Schalck-Golodkowski, für die ihn Angehörige und Freunde der Betroffenen um Unterstützung gebeten hatten (Abb. 26). Gelegentlich ließ er die Unterlagen auch über den Unternehmer Josef März an Schalck-Golodkowski übermitteln, meist verbunden mit dem Hinweis »Für Ihre Unterstützung wäre ich Ihnen dankbar«.222 Seinerseits reichte Schalck-Golodkowski die Unterlagen an Volpert weiter, der über die Entlassung entschied, meist im Sinne von Strauß’ Anliegen.223 Schalck-Golodkowski informierte seinen »Gesprächspartner«, so die Chiffre für Strauß, entweder über die »positive Entscheidung« oder teilte ihm mit, dass daran »noch gearbeitet« werde.224 Im Laufe der Jahre erreichte Strauß die Entlassung oder Ausreise für »viele leidvolle und jahrelang unlösbar erscheinende Fälle«, wobei die »normalen« Freikaufsverhandlungen selbstverständlich weiterliefen, Strauß‘ Bemühungen dabei aber eine beschleunigte Bearbeitung bewirkten.225
219 Von der kurzzeitigen amerikanischen Kriegsgefangenschaft abgesehen. 220 Strauß: Erinnerungen, S. 476 u. 481. 221 Kittel: Milliardenkredit, S. 654. 222 Siehe z. B. die Liste in: BArch-B, DL 2, Nr. 7756, Bl. 192. 223 Notiz Schalcks, 8.3.1984, BArch-B, DL 2, Nr. 7692, Bl. 89; hs. Notiz Volperts; BArch-B, DL 2, Nr. 7742, Bl. 78 u. 84; Schalck-Golodkowski: Erinnerungen, S. 307; vgl. die Faksimiles in: Seiffert, Wolfgang; Treutwein, Norbert: Die Schalck-Papiere. DDR-Mafia zwischen Ost und West. Die Beweise. Wien 1991, S. 388 u. 392. 224 Mitteilung Schalcks an Strauß, 4.7.1984; BArch-B, DL 2, Nr. 7692, Bl. 13. 225 Strauß: Erinnerungen, S. 481; vgl. Schalck-Golodkowski: Erinnerungen, S. 293.
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Ohne eine Gegenleistung genehmigte die DDR die »FJS-Fälle«, wie sie Volpert auf den Häftlingslisten des Innerdeutschen Ministeriums markierte, allerdings nicht.226 Das gegenseitige Verhältnis beruhte auf dem Grundsatz des »do ut des«. Auch Wehner hatte einmal gegenüber Vogel bemerkt, er komme sich bei seiner Tätigkeit gelegentlich vor »wie ein Bote in Sachen DDRAnliegen«.227 Strauß wusste, dass die DDR für die »großzügige und schnelle Entscheidung« über seine Bitten eine Unterstützung bei der Freilassung von MfS-Spionen in der Bundesrepublik erwartete. Folglich versicherte er SchalckGolodkowski, »selbstverständlich bereit« zu sein, die Wünsche der DDR »genauso nachdrücklich und prompt zu bearbeiten« wie die DDR den seinen nachkomme.228 Schließlich blieb der Agentenaustausch auch nach dem Regierungswechsel eine Vorbedingung der DDR für die Entlassung politischer Häftlinge. Recht bald nach der Vermittlung des »Milliardenkredits« machte die DDR die Probe aufs Exempel, wie weit Strauß’ Einfluss auf die Entscheidungsvorgänge in Bonn tatsächlich reichte. Rehlinger hatte Vogel Ende Januar 1983 dargelegt, dass Austauschvereinbarungen erst nach der Bundestagswahl im März 1983 infrage kämen und selbst dann nur unter der Bedingung, dass »für den Fall Dr. Schumann eine Lösung gefunden« werde. Ohne die Freigabe der HNO-Ärztin Christa-Karin Schumann, die im Sommer 1979 wegen Spionage für den BND verhaftet und 1980 zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, werde der Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, Waldemar Schreckenberger (CDU), keine Zustimmung zur Freigabe östlicher Spione geben. Um die Entschlossenheit seiner Seite zu bekräftigen, zog Rehlinger einen Vergleich: Wie die DDR bei Guillaume »nicht nachgelassen« habe, so werde die Bundesregierung auf einer Entlassung Schumanns bestehen. Wenn die DDR sie entlasse, werde die Bundesregierung im Gegenzug auch den HVAMitarbeiter Lothar-Erwin Lutze freigeben, der seit 1976 wegen Spionage im Bundesverteidigungsministerium eine 12-jährige Haftstrafe verbüßte.229 OstBerlin lehnte das Angebot jedoch ab, Schumann war offenbar zu wichtig, um in einen Austausch einbezogen zu werden. Aus Sicht der Bundesregierung traf es sich daher, dass den Sicherheitsbehörden im Frühjahr 1983 ein sowjetischer Spion ins Netz ging. Gennadi Bataschew, Mitglied der sowjetischen Handelsvertretung in Köln, war wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit verhaftet und im Juli 1983 226 Siehe z. B. die Listen in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13652. 227 Bericht Vogels über eine Unterredung mit Wehner, 21.10.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 238, S. 785. 228 Seiffert; Treutwein: Schalck-Papiere, S. 327. 229 Vermerk Vogels »Unterredung mit Rehlinger vom 26.1.1983« (»streng geheim!«), 28.1.1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 44 f.; vgl. Pötzl: Spione, S. 255–262 u. 416 f.
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zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden.230 Tatsächlich übte der neue Generalsekretär der KPdSU, Juri Andropow, Druck auf Ost-Berlin aus, sich in Bonn für Bataschew einzusetzen und im Gegenzug Häftlinge aus der DDR freizugeben. Schalck-Golodkowski aktivierte seine Kontakte zu Strauß und bat ihn, in Bonn auf die Begnadigung Bataschews hinzuwirken. Seine Entlassung könne sich auch für Strauß »persönlich, was die Atmosphäre zum großen Land«, d. h. der Sowjetunion anbetreffe, »günstig auswirken«.231 Zuständig für das Begnadigungsverfahren war das Bundesjustizministerium. Dessen Staatssekretär Klaus Kinkel (FDP) hatte als vormaliger BND-Präsident allerdings einen triftigen Grund, ein Junktim zwischen der Freigabe Bataschews auf der einen und der Begnadigung der BND-Mitarbeiterin ChristaKarin Schumann auf der anderen Seite herzustellen. Schließlich hatte es der BND unter Kinkels Führung nicht verhindert, dass der Lebensgefährte Christa-Karin Schumanns, ein ehemaliger Offizier im militärischen Nachrichtendienst der NVA, wegen seiner Kontaktaufnahme zum BND im Herbst 1979 verhaftet, 1980 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Kinkel, den die Angelegenheit »saumäßig schlauchte«, wie er nach 1990 angab, stand unter Druck, »wenigstens an einer Überlebenden etwas wiedergutzumachen«.232 Die Forderung Kinkels nach Freigabe Schumanns als Gegenleistung für den Sowjetischen Spion Bataschew wies Ost-Berlin jedoch zurück. Mehrfach hakte Schalck-Golodkowski bei Strauß nach und drückte sein Bedauern über die »bisherige unrealistische Haltung« des Westens aus. Mitte Oktober 1983 bat er den Ministerpräsidenten nochmals eindringlich, »nach dem bewährten Grundsatz, das Machbare zu machen, auch in dieser Frage zu handeln« und auf keinen »nichtmachbaren Forderungen zu bestehen«.233 Strauß sprach mit Kohl und drängte ihn, das von Kinkel geforderte Junktim zwischen Bataschew und Schumann aufzugeben. Kohl entschied in Strauß’ Sinne: Noch am gleichen Abend gab Strauß telefonisch an Schalck-Golodkowski durch, dass bezüglich Bataschew die »positive Grundsatzentscheidung verbindlich zugesagt« und das »bisherige Junktim mit K[arin Schumann] nicht aufrechterhalten« werde. Allerdings bitte man »um baldige, wohlwollende Prüfung« des Falles, eine Formel dafür, dass ihre vorzeitige Entlassung grundsätzlich verhandelbar sein müsse.234 Schalck-Golodkowski bedankte sich für Strauß’ Unterstützung und sagte die gewünschte »wohlwollende Prüfung« zu. Allerdings werde dafür eine
230 »Zweieinhalb Jahre Haft für sowjetischen Spion«. In: FAZ v. 9.7.1983. 231 Mitteilung Schalcks an Strauß, 4.10.1983; BArch-B, DL 2, Nr. 7692, Bl. 195; Kahl, Werner: Spionage in Deutschland heute. München 1986, S. 69–71. 232 Pötzl: Spione, S. 482. 233 Mitteilung Schalcks an Strauß, 17.10.1983; BArch-B, DL 2, Nr. 7692, Bl. 184. 234 Mitteilung Strauß’ an Schalck, 18.10.1983; ebenda, Bl. 182.
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nicht näher bestimmte »gewisse Zeit« benötigt, zumal Schumann »Bürgerin der DDR« sei.235 Strauß‘ Intervention in Bonn kollidierte dabei mit der Verhandlungsschiene Rehlinger – Vogel. Strauß und Schalck-Golodkowski hatten vereinbart, dass die Gegenleistung für Bataschew aus vier hochbestraften Inhaftierten in der DDR bestehen solle. Als Vogel Anfang November 1983 in Bonn eintraf, um mit Kanzleramtsminister Philipp Jenninger (CDU) die Details zu regeln, sah er sich plötzlich mit Nachforderungen seitens Rehlingers konfrontiert: Die DDR müsse zusätzlich einen Westdeutschen Bürger freigeben, der seit Frühjahr 1982 wegen »Nachrichtensammlung« zu lebenslanger Haft verurteilt und in Bautzen II inhaftiert worden war. Der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Waldemar Schreckenberger, erhob sogar noch weitergehende Forderungen, womit die mangelhafte Koordinierung zwischen Kanzleramt, Innerdeutschem Ministerium und dem Bayerischen Ministerpräsidenten sichtbar wurde. Schalck-Golodkowski beschwerte sich bei Strauß, dass dieses Vorgehen »großes Befremden« in Ost-Berlin ausgelöst habe. Man halte es »für eine Desavouierung Ihrer Person und Abweichung von dem zwischen uns erzielten Ergebnis«. Strauß möge darauf »dringen, dass getroffene Vereinbarungen im Interesse der Glaubwürdigkeit und auch zukünftiger Verhandlungen nicht durch dritte Personen aufgesattelt« würden.236 Da eine Woche später nach wie vor keine Einigung erzielt war, drängte Schalck-Golodkowski den Ministerpräsidenten erneut, »daß jetzt in Bonn ein Machtwort gesprochen« und der Austausch abgewickelt werde. »Man sollte«, schloss der KoKo-Chef seine Mitteilung, »diesen humanitären Akt auch im Zeichen des bevorstehenden Weihnachtsfestes und der Glaubwürdigkeit des Bundeskanzlers sehen«.237 Die endgültige Entscheidung fiel Ende November in einem weiteren Gespräch zwischen Strauß und Kohl. Der Kanzler schloss sich Strauß’ Auffassung an, dass der Austausch unbedingt durchgeführt werden sollte. Damit setzte sich der Kanzler sowohl über Kinkels Forderung nach Entlassung Schumanns, als auch über den »erbitterten Widerstand« der »mittleren und unteren Ebenen im BND« hinweg, die eine Freilassung Bataschews zu verhindern suchten.238 Allerdings konnte sich auch Rehlinger mit seiner »Nachforderung« durchsetzen: Bataschew wurde Anfang Dezember 1983 am Grenzübergang Herleshau-
235 Mitteilung Schalcks an Strauß, 19.10.1983; ebenda, Bl. 181; Mitteilung Schalcks an Strauß, 4.11.1983; ebenda, Bl. 172. 236 Mitteilung Schalcks an Strauß, 8.11.1983; ebenda, Bl. 158. 237 Mitteilung Schalcks an Strauß, 16.11.1983; ebenda, Bl. 146 f. 238 Vermerk, 3.11.1983, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, BewO 1012, Pos 7, S. 5.
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sen gegen drei Personen ausgetauscht, darunter auch der zu lebenslanger Haft verurteilte, in Bautzen II inhaftierte Bundesbürger.239 In diesem Zusammenhang bemerkte Kohl, dass es Rehlinger und Vogel wohl »nicht so angenehm« gewesen sei, dass es gleichzeitige Verhandlungen über Häftlingsentlassungen auf dem Kanal Strauß – Schalck gab. Schließlich machte dies nicht nur eine enge Abstimmung nötig, um sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen, sondern bedeutete ferner, dass Ost-Berlin über die »Südschiene« eine zusätzliche Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Spitze der Bundesregierung gewann, das Innerdeutsche Ministerium hingegen seinen Einfluss nur über den politisch eher schwachen Minister Windelen einbringen konnte.240 Auch in einer anderen Frage sorgte Strauß dafür, dass es bei den bisherigen Verfahrenswegen blieb. Angeregt durch Vorschläge aus der Ministerialbürokratie hatte Kohl mit dem Gedanken gespielt, die Zuständigkeiten neu zu ordnen und künftig »schwerwiegende Haftfälle« direkt zwischen dem Kanzleramt und der Ständigen Vertretung »unter Ausschaltung« Vogels zu verhandeln. Auf Schalck-Golodkowskis »dringende Empfehlung« hin redete Strauß dem Kanzler das Vorhaben jedoch aus, zumal ihn Schalck-Golodkowski darauf hingewiesen hatte, es sei Sache der DDR, wen sie als Verhandlungspartner benenne.241 Kohl schwenkte schließlich auf Strauß’ Linie ein und entschied, Vogel habe »eine verdienstvolle Arbeit« gemacht, weshalb »keine Veranlassung« bestünde, »diesen bewährten Kanal zu stören«.242 Die »Südschiene« blieb fortan parallel zu der Ebene Rehlinger – Vogel bestehen. Nach der erfolgreichen Lösung des Falles Bataschew, der zugleich der Beweis für Strauß’ maßgeblichen Einfluss auf Kohl war, versicherte SchalckGolodkowski dem Ministerpräsidenten, dass er ihm »alle speziellen Fragen – Familienzusammenführungen, Härtefälle, vorfristige Entlassungen von Häftlingen und andere Probleme – übermitteln« könne.243 Strauß bestätigte seinerseits, wenn nötig stünde er »mit der vollen Zustimmung des Bundeskanzlers als Gesprächspartner zur Verfügung«.244
239 »Plach aus der Tschechoslowakei zurückgekehrt«. In: FAZ v. 9.12.1983; Auskunft der Gedenkstätte Bautzen II, 8.11.2011. 240 Information Schalcks für Mielke, Dez. 1983; BArch-B, DL 2, Nr. 7710, Bl. 119 f. 241 Vermerk, 3.11.1983, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, BewO 1012, Pos 7, S. 7 f.; vgl. Seiffert; Treutwein: Schalck-Papiere, S. 331–333. 242 Information Schalcks für Mielke, Dez. 1983; BArch-B, DL 2, Nr. 7710, Bl. 119 f. 243 Vermerk Schalcks über ein Gespräch mit Strauß, 12.3.1984; ebenda, Bl. 100. 244 Vermerk Schalcks über ein Gespräch mit Strauß, 27.1.1984; BArch-B, DL 2, Nr. 7752, Bl. 358.
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Die Verhaftungs- und Ausreisewelle 1984/85 Die akute Schuldenkrise veranlasste die DDR-Führung, nach dem ersten »Milliardenkredit« vom Sommer 1983 bereits im Dezember die Möglichkeit eines zweiten Darlehens in Bonn zu sondieren. Schalck-Golodkowski, Außenhandelsminister Gerhard Beil sowie Herbert Häber, der Leiter der Westabteilung im ZK der SED, verhandelten mit Kanzleramtsminister Philipp Jenninger über die Konditionen. Fast genau ein Jahr nach der ersten Kreditbürgschaft gab Jenninger im Juni 1984 die Vereinbarung eines weiteren Darlehens in Höhe von 950 Millionen DM bekannt. Auch hierfür musste die DDR politische Gegenleistungen erbringen, unter anderem die Mindestumtauschsätze senken.245 Die deutschlandpolitische Strategie der »Humanisierung des Systems durch Geld«246 schien aufzugehen. Karl-Rudolf Korte resümiert, dass die Innerdeutschen Beziehungen seit ihrem Tiefpunkt im Jahr 1980 »nicht mehr so erfolgreich wie gerade 1983 und, mit Einschränkungen, bis Herbst 1984« gewesen seien.247 Tatsächlich erleichterten die DDR-Behörden parallel zum Abbau der Selbstschussanlagen an der Innerdeutschen Grenze auch die Reisemöglichkeiten von Ost nach West. Gegenüber 1982 stieg die Zahl der »Reisen in dringenden Familienangelegenheiten« von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik um 40 Prozent. Am 15. September 1983 schließlich erließ der DDR-Ministerrat die »Verordnung über die Familienzusammenführung«, in der die Ausreise erstmals in einem veröffentlichten Rechtsdokument der DDR geregelt war. Womöglich auch als Zeichen guten Willens während der Verhandlungen über den »Milliardenkredit« und in der Absicht, die Ausreisebewegung durch kontrolliertes »Druckablassen« abzuschwächen, ließen die DDR-Behörden seit Januar 1984 binnen eines Jahres rund 40 000 Personen ausreisen, Antragsteller, die sich teils seit Jahren darum bemüht hatten. Etwa zwei Drittel aller Ausgereisten, knapp 30 000 Personen, kamen dabei im Rahmen der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik, wofür die Bundesregierung grob geschätzt 120 Millionen DM aufwendete.248 Die Kehrseite der Entwicklung war indes, dass parallel zur Ausreisewelle seit Jahresbeginn 1984 eine Verhaftungs- und Verurteilungswelle gegen Antragsteller rollte. Allein bis Ende März 1984 leitete die Hauptabteilung IX des MfS rund 755 Untersuchungsvorgänge gegen Personen ein, die »versuchten, ihre
245 246 247 248
Korte: Deutschlandpolitik, S. 178. Potthoff: Koalition der Vernunft, S. 21. Korte: Deutschlandpolitik, S. 179 f. Ebenda; Wentker: Außenpolitik, S. 503–511; vgl. Tabelle 4 im Anhang.
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Übersiedlung zu erzwingen«.249 Während die Gerichte der DDR im Ergebnis von Ermittlungsverfahren des MfS im gesamten Vorjahr 1983 »nur« 446 Personen nach den einschlägigen »Ausreiser-Paragraphen« des DDRStrafgesetzbuches verurteilt hatten, stieg die Zahl dieser Verurteilungen bis Ende 1984 auf insgesamt 1 674 Urteile an, eine Steigerungsrate von 375 Prozent. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Verurteilungen wegen eines – vom MfS im Regelfall nicht vorhersehbaren – Fluchtversuchs hingegen »nur« um 23 Prozent von zuvor 613 auf nunmehr 758 Fälle.250 Ein strafwürdiges Vergehen war es beispielsweise, ein »A« für »Ausreiser« am Wohnungsfenster anzubringen, sich in der Öffentlichkeit mit einem Schild zu zeigen, auf dem die Ausreise gefordert wurde, Briefe an westliche Organisationen wie dem »ZDF-Magazin« oder der Hilfsorganisation »Hilferufe von Drüben (HvD)« mit der Bitte um Hilfe zu schicken, Verwandte in der Bundesrepublik darum zu bitten, beim BMB vorzusprechen und sich für die Ausreise einzusetzen, oder schriftlich gegenüber staatlichen Stellen der DDR die Ausreise zu fordern.251 Wie ist der Anstieg der Verhaftungszahlen zu erklären? Welche Gründe gab es dafür? Die Verhaftungswelle gegen Antragsteller wird meist als eine Folge des verstärkten »provokativen« Auftretens jener Antragsteller interpretiert, denen das MfS trotz der massenhaften Ausreise anderer »Übersiedlungsersuchender« die Ausreise verweigerte.252 Es ist zweifellos plausibel, dass die Zunahme der Gesamtzahl der Antragsteller und die Ausreisewelle eine »Sogwirkung« hatte. Manche Antragsteller ermutigte dies, ihren Wunsch hartnäckiger und mit größerem Nachdruck zu artikulieren als bisher. Gegen diese Erklärung spricht jedoch, dass fast zwei Drittel (63 %) aller von Januar 1984 bis Juni 1986 verhafteten Antragsteller wegen »Verbindungsaufnahmen« mit »feindlichen« Organisationen oder Personen in der Bundesrepublik belangt wurden, »provokatives« Auftreten demnach als alleinige Erklärung nicht ausreicht.253 Im zeitlichen Umfeld der Schuldenkrise der DDR und den beiden 249 Zit. nach: Raschka: Justizpolitik, S. 227. 250 Tabelle XVII »Verurteilungen nach Ermittlungsverfahren der HA IX des MfS, 1972–1988«; Raschka: Justizpolitik, S. 330 f. Die Verurteilung von Antragstellern erfolgte in der Regel auf der Basis des 8. Kapitels des StGB-DDR (»Straftaten gegen die staatliche Ordnung«), v.a. nach § 214 (»Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit«), § 219 (»ungesetzliche Verbindungsaufnahme«), § 220 (»öffentliche Herabwürdigung«) sowie den §§ 212, 215, 217 u. 225. Es ist davon auszugehen, dass fast alle dieser Verhafteten Antragsteller auf Ausreise waren. 251 Siehe z. B. den Fall Lotz in: Schnell: Lindenhotel, S. 108–119. 252 Raschka: Justizpolitik, S. 227 u. 229; Eisenfeld, Bernd: Flucht und Ausreise – Macht und Ohnmacht. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 381–424. 253 Aufstellung der HA IX/AKG, 8.7.1986; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9639, Bl. 1–6; vgl. Tabelle XVII in: Raschka: Justizpolitik, S. 330 f. für die Zahl der letztlich verurteilten Antragsteller.
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»Milliardenkrediten« liegt vielmehr der Verdacht nahe, dass die Erwirtschaftung von Devisen ein wichtiges, womöglich sogar das entscheidende Motiv für die Verhaftungswelle darstellte. War Anfang 1984 tatsächlich die seit Beginn des Freikaufs befürchtete Umkehrung der Kausalitäten eingetreten? Waren nicht mehr die politischen Verurteilungen Grund für den Freikauf, sondern der Freikauf plötzlich der Grund für politische Verurteilungen, wie es Haitzinger 1981 mit spitzer Feder karikierte (Abb. 27)? Was ist dran an der These, dass der Repressionsapparat im Parteiauftrag absichtlich politische Häftlinge »produzierte«, um sie zu verkaufen, der Freikauf die gegenteilige Wirkung hatte und viele Ausreisewillige überhaupt erst ins Gefängnis brachte? Sichere Beweise gibt es wohl nicht, doch eine Reihe schwerwiegender Indizien. Zunächst finden sich in Akten des MfS mehrere Hinweise. Möglicherweise waren die Fluchten in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und andere westliche Botschaften seit dem 20. Januar 1984 der Auslöser.254 Am 25. Januar, am Tag nach der Sitzung des Politbüros, gab Mielke eine Weisung an die Leiter der operativen Diensteinheiten des MfS aus. Sie sollten »in aller Konsequenz […] verhindern, dass feindlich-negative Personen […] im Zusammenhang mit Übersiedlungsversuchen schwerwiegende Provokationen oder andere öffentlichkeitswirksame […] Handlungen durchführen«. Die Betreffenden seien festzunehmen und Ermittlungsverfahren gegen sie einzuleiten, insofern die strafrechtlichen Voraussetzungen vorlägen.255 Gerhard Niebling, der Leiter der Zentralen Koordinierungsgruppe des MfS, gab Mielkes Weisung ergänzt um mündliche Instruktionen am 29. Januar an die Leiter aller Bezirksverwaltungen des MfS weiter.256 Zudem präzisierte Niebling den Ministerbefehl gegenüber den Leitern der 15 Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG). Er beziehe sich in noch weiterem Sinne auf »Übersiedlungsersuchende mit feindlich-negativer Grundhaltung«, was so ziemlich auf alle Antragsteller zutraf, die das MfS als nicht mehr rückgewinnbar einstufte. Das MfS müsse »beabsichtigte Provokationen« sowie »andere subversive Aktivitäten« von Antragstellern rechtzeitig erkennen und dürfe ihnen »keine Chance« lassen, sie in die Tat umzusetzen. Dazu sei in allen Bezirken »die Überprüfung der [operativen] Vorgänge (OV) und der OPK [Operativen Personenkontrollen]« notwendig. Gemeint waren damit sämtliche konspirative 254 Die 76 Ermittlungsverfahren gegen »hartnäckig Übersiedlungsersuchende« im Januar 1984 wurden nach ihrer Zuführung in der Mehrzahl »mit der Mitteilung, daß demnächst der Übersiedlung stattgegeben wird, an die Abt. Inneres verwiesen«. Vermerk der ZKG (Niebling), 29.1.1984; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9639, Bl. 6. Dies stützt die Vermutung, dass die Verhaftungswelle erst im Februar einsetzte. 255 Weisung Mielkes, VVS Nr. 15/84, 25.1.1984; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 14740, Bl. 40 f. 256 Weisung Mielkes an die Chefs der BV, 29.1.1984; BStU, MfS, ZKG, Nr. 86, Bl. 7; Vermerk der ZKG (Niebling), 29.1.1984; ebenda, Bl. 6.
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Aufklärungs- und Überwachungsverfahren gegen »verdächtige« Personen, die einer Verhaftung vorangingen und von denen die Betroffenen nichts mitbekamen.257 Die Überprüfung, so Niebling, müsse »in enger Zusammenarbeit mit der Linie IX« des MfS, d. h. dem Untersuchungsorgan erfolgen. Dabei sei auch zu prüfen, ob es Hinweise auf ein »Zusammenwirken äußerer und innerer Feinde« gebe. Zu den »äußeren Feinden« zählte das MfS Organisationen wie beispielsweise die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) in Frankfurt am Main oder den Verein »Hilferufe von drüben« (HvD). Zudem nannte Niebling ausdrücklich »westliche Massenmedien« sowie den weit auslegbaren Begriff »Feindpersonen im Operationsgebiet«, d. h. der Bundesrepublik. Die Überprüfung der OPK und OV erfolge mit dem Ziel, »begründete Entscheidungen zur Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen« oder »Übersiedlung herbeizuführen«. Das Strafgesetzbuch der DDR müsse »in vollem Umfang zur Anwendung« kommen. Auch dann, wenn die Prüfung der Unterlagen zur Inhaftierung der Person führe, seien »die Versagungsgründe zu prüfen und entsprechende Informationen an die HA IX (Oberst Enke) zwecks HE[Haftentlassung]/BRD« weiterzuleiten. Generell hätten »die Festnahme und das Ermittlungsverfahren den Vorrang« vor der Genehmigung der Ausreise.258 Aus Nieblings Befehl geht somit hervor, dass das Ergebnis der »Prüfung der Versagungsgründe« dem für den Häftlingsverkauf zuständigen »Büro für Sonderaufgaben« der HA IX in jedem Falle schon vor dem Gerichtsurteil zugeleitet werden sollte, womit die Einbeziehung in die Freikaufsverhandlungen bereits vor dem Urteilsspruch so gut wie beschlossen war. Zwei Tage später präzisierte Mielke auf einer zentralen Dienstbesprechung mit den Leitern der Bezirksverwaltungen seine Weisung. Es sei bei den betreffenden Personen »zu überlegen, was besser ist, sie rauszuschmeißen oder zu inhaftieren«. Es müsse entschieden werden, ob man »Festnahmen mach[t] oder Personen lieber wegjagen« solle. Über die Festgenommenen sei »auf dem Wege in Zusammenarbeit ZKG/IX und Gen. Volpert« rasch zu entscheiden. Generell gelte die Richtlinie: »Personen, die uns neue Probleme schaffen, sind festzunehmen und danach ist zu entscheiden«.259 257 Bei »Operativen Personenkontrollen« und »Operativen Vorgängen« handelte es sich um die ersten beiden, konspirativen Stufen im Prozess der Beobachtung und »Bearbeitung« verdächtiger Personen durch das MfS. Die dritte Stufe stellte die Einleitung eines »Ermittlungsverfahrens mit Haft« dar, d. h. die Festnahme. 258 Thesen zur Beratung des Leiters der ZKG mit den Leitern der BKG, 30./31.1.1984; BStU, MfS, ZKG, Nr. 3367, Bl. 76–90. 259 Vermerk der ZKG, 3.2.1984, Notizen zu den Ausführungen des Genossen Minister v. 2.2.1984; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 16101, Bl. 87–92. Teilnehmer waren die Leiter der Bezirksverwaltungen, Generalmajor Niebling und weitere hohe Offiziere. Bei anderer Gelegenheit unterstrich
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Faktisch wiesen Mielke und Niebling eine Verschärfung des Vorgehens gegenüber Antragstellern mit der Begründung an, dass diese eine Gefahr für die staatliche Sicherheit darstellen würden. So gesehen erscheint die Maßnahme tatsächlich als eine Art »Generalprävention«260 gegen »hartnäckige« Antragsteller, ergänzt um die Option, sie später über den Freikauf gegen Devisen »abzustoßen«. Für sich genommen enthält der Wortlaut der Anweisungen keinen Hinweis darauf, dass die Verhaftungswelle ökonomisch motiviert war. Die Vorgänge erscheinen allerdings in einem anderen Licht, wenn man eine Rede berücksichtigt, die ZKG-Chef Niebling dreieinhalb Jahre später hielt. Gegenüber den Leitern der Bezirkskoordinierungsgruppen stellte Niebling fest, dass sich »die Notwendigkeit der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD« erhöhe. Schließlich gehe es »um Devisen für unsere Republik«, die die DDR »schnell und in möglichst großer Höhe« benötige. Das bedürfe »wohl sicher keiner weiteren Begründung«. Aufgabe der ZKG und BKG sei es zudem, »eigene Vorschläge einzureichen, die für eine Einbeziehung in zentrale Maßnahmen geeignet« seien. »Für eine nahtlose Fortsetzung der bekannten Praxis«, ergänzte Niebling, sei es notwendig, »alle in Frage kommenden Personen […] zu prüfen und möglichst sofort zu melden«. Abschließend fügte der ZKG-Chef hinzu, er erwarte von den BKG-Leitern »das traditionelle Engagement bei der Lösung solcher Kampfaufgaben« und bemerkte: »Wir hatten ja schon solche spezifischen Maßnahmen zu realisieren«.261 Es erscheint naheliegend, dass Niebling damit die Verhaftungswelle im Jahr 1984 meinte, die demnach vorrangig der »Devisengewinnung« gedient hatte.262 Ein weiteres Indiz stützt die These der vorsätzlichen »Produktion von Häftlingen« im Jahr 1984. Bei einer Anhörung vor dem »KoKo«-Untersuchungsausschuss des Bundestages im Jahr 1992 erklärte der Magdeburger Staatsanwalt Wolfram Klein, die Auswertung der Strafverfahrensakten im Bezirk MagMielke, dass die Strafrechtsnormen keinen absoluten Maßstab darstellten, sondern stets dem »Primat der Politik« (Weinke, Annette: Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis, S. 48) untergeordnet blieben: »Dabei muss natürlich klar sein: Die Entscheidung über die Einleitung oder die Abstandnahme von strafrechtlichen Maßnahmen ist immer eine zutiefst politische Entscheidung, die jeweils in Abhängigkeit von der politischen Gesamtlage bzw. gesamtstaatlichen Interessen und den konkreten individuellen, sachlichen und gesetzlichen Voraussetzungen erfolgt.« Referat Mielkes auf der Dienstkonferenz am 12.9.1984; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8695, Bl. 179, sowie ZAIG, Tb 9 grün 2. 260 Aussage Vogels, 8.10.1992; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 90, S. 111. 261 Siehe Dokument 2 im Anhang. 262 Die Bemerkung kann sich schwerlich auf die routinemäßigen Überprüfungen jener Häftlinge beziehen, die die DDR für eine Einbeziehung in den Freikauf vorschlug. Schließlich waren die ZKG und die BKG seit Anfang der achtziger Jahre damit befasst. Vgl. Kap. II.3 sowie Ausführungen Nieblings und Enkes auf der BKG-Leiter Tagung, 31.7.1985; BStU, MfS, ZKG, Nr. 7300, Bl. 162–165; Vorschläge der BKG Karl-Marx-Stadt an die HA IX/BfS zur Übersiedlung aus der Haft, 14.9.1984; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, BKG, Nr. 49, Bl. 40.
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deburg habe einen signifikanten Anstieg der Zahl der »Verhaftungen, anschließenden Verhöre und Verurteilungen« von Ausreisewilligen seit dem »Herbst/Jahreswende 1983/1984« gezeigt. Von den circa 400 verurteilten Antragstellern aus dem Bezirk Magdeburg in den achtziger Jahren seien nahezu alle freigekauft worden. Dazu habe ein ehemaliger Staatsanwalt im Verhör zu Protokoll gegeben, er und seine Kollegen seien in Dienstbesprechungen von ihrem Abteilungsleiter mündlich angewiesen worden, in derlei Fällen bei Gericht auf eine Mindeststrafe von einem Jahr zu plädieren. Seinerseits habe der Abteilungsleiter die Anweisung vom Generalstaatsanwalt in Berlin erhalten. Die Begründung habe wie folgt gelautet: »Wenn ihr weniger verhängt, kriegen wir diese Modalitäten mit dem Freikauf nicht hin. Ihr müßt über ein Jahr verhängen.«263 In der Tat lag die Untergrenze für eine Einbeziehung in die »Besonderen Bemühungen« aus technischen Gründen ungefähr bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Schließlich sprechen Einzelfälle für die These der gezielten Produktion von Häftlingen zum Zwecke ihres Verkaufs. Seit dem Frühjahr 1984 verhaftete das MfS Personen, die es seit längerer Zeit beobachtet hatte, deren »Vergehen« jedoch bis zu diesem Zeitpunkt als nicht strafrechtlich relevant eingestuft worden waren. Mit Mielkes und Nieblings Anweisungen vom Januar/Februar 1984 änderte sich dies: Bisher ungeahndete »Vergehen« galten nunmehr als Straftaten, wie das Haftschicksal des Potsdamer Ehepaars Claus und Christel Kurth zeigt. Die Kurths hatten seit 1982 mehrfach erfolglos Ausreiseanträge gestellt. Eine Tante aus München setzte sich seit Herbst 1983 beim Innerdeutschen Ministerium und bei einem Bundestagsabgeordneten für ihre Einbeziehung in die Familienzusammenführung ein. Am 2. März 1984, genau einen Monat nach Mielkes und Nieblings Weisungen zur Durchsicht aller konspirativen Überwachungsvorgänge und Verschärfung des Vorgehens gegenüber Antragstellern, legte die MfS-Kreisdienststelle Potsdam »in Abstimmung mit der BKG Potsdam« den OV »Abfall« über die Familie Kurth an. Da »eine direkte Beauftragung der Verwandten in der BRD« durch das Ehepaar, »sich an das BMB zu wenden, […] bisher nicht nachgewiesen werden« konnte, sollte der OV entsprechende »Beweise« erbringen. Am 10. April, einen weite263 Aussage StA Wolfram Klein; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 92, S. 7, 10 u. 12. Das betreffende AZ der Staatsanwaltschaft Magdeburg lautete 651 Js 4432/1991, Vernehmungsprotokoll v. 13.8.1991. Vgl. ferner Eisenfeld: Freikauf politischer Häftlinge, S. 33: Eisenfeld berichtet darin von einem Erlebnis im Zusammenhang eines Verfahrens wegen Rechtsbeugung vor dem Landgericht Berlin im Jahr 1998/99. Ein »als Zeuge vorgeladener unbedarfter Schöffe« habe sich an einen ähnlichen Vorfall erinnert. »Als er sich verwundert über die Art und die Höhe des von der Richterin vorgeschlagenen Strafmaßes gegen einen vergleichsweise harmlos aufgetretenen Ausreisewilligen widersetzen wollte, habe ihn die Richterin mit den Worten abgespeist: ›Es müsse schon mindestens ein Jahr herauskommen, damit die Sache den üblichen Gang nehme‹.«
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ren Monat später, verhaftete das MfS das Ehepaar Kurth und brachte beide in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Potsdam. Der Abschlussbericht des OV »Abfall« vermerkte dazu, dass »aufgrund pol[itischer] Entscheidungen« ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen den § 219 StGB, konkret der »ungesetzlichen Verbindungsaufnahme« zu den Verwandten in der Bundesrepublik und zum Innerdeutschen Ministerium eingeleitet worden sei. Dies geschah, obwohl die Familie bereits seit 1982 Antragsteller war und ihre Bemühungen um Ausreise in den beiden Vorjahren nicht zu einer Verhaftung geführt hatten. Nach nur neun Tagen Ermittlungstätigkeit schloss die Linie IX der MfSBezirksverwaltung Potsdam das Verfahren ab. Im »politisch-operativen Zusammenwirken« mit dem MfS erhob der zuständige Staatsanwalt am 26. April 1984 Anklage am Kreisgericht Potsdam-Stadt wegen Verstoßes gegen § 219 StGB. Keine vier Tage später, indes noch mehrere Wochen vor der Hauptverhandlung, wies die BKG Potsdam die MfS-Kreisdienststelle Potsdam an, die »Versagungsgründe« für die Kurths zu prüfen. Es sei »beabsichtigt, die nachstehend aufgeführten Strafgefangenen […] in die BRD zu entlassen«. Da die Kreisdienststelle Potsdam keine Versagungsgründe geltend machte, war die Entscheidung über einen Verkauf des Ehepaares Kurth zu diesem Zeitpunkt faktisch gefallen. Das Kreisgericht Potsdam legalisierte die Entscheidung lediglich und verurteilte Claus und Christel Kurth am 21./22. Mai 1984 zu knapp anderthalb bzw. einem Jahr Freiheitsstrafe. Nach Verbüßung von etwas weniger als der Hälfte bzw. vier Fünfteln der Strafe wurden beide noch im Dezember 1984 freigekauft und in die Bundesrepublik entlassen.264 Die vorliegenden Indizien – die Akten des MfS, die Aussage des früheren Staatsanwalts und der Fall der Familie Kurth – lassen den Schluss zu, dass die Devisengewinnung 1984 mit hoher Wahrscheinlichkeit der wahre Grund für die Verhaftungswelle war. Schließlich ließen sich durch eine Festnahme zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Durch die »präventive« Verhaftung waren die tatsächlich oder potenziell »feindlich-negativen« Personen »neutralisiert«, ihre Abschiebung durch die Inhaftierung, Verurteilung und den fast »automatisch« daran anschließenden Freikauf265 so gut wie gesichert, und obendrein erbrachte der Freikauf mindestens das Zehnfache der für einen Ausreisefall sonst üblichen Gegenleistung.
264 OV »Abfall«; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 2669/84, zit. nach: Budde: »Freikauf« im Zwielicht, S. 157–163. 265 Vgl. Anm. 263, Usus im Bezirk Magdeburg, wonach fast alle der wegen eines Ausreiseantrages verurteilten Personen freigekauft wurden. Zu untersuchen wäre, ob dies in gleichem Maße für andere Bezirke galt.
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Mit letzter Sicherheit wird sich die Frage, ob die Verhaftung von Antragstellern vornehmlich ökonomisch motiviert war, aber womöglich nie zufriedenstellend beantworten lassen. Schließlich ließ sich eine ökonomische Motivation stets mit einer angeblichen Notwendigkeit eines konsequenteren Vorgehens gegen »hartnäckige Übersiedlungsersuchende« verschleiern. Vielleicht handelte es sich um einen ähnlichen Steuerungsmechanismus wie dem Schießbefehl. Auch ihn gab es formaljuristisch im Sinne einer »Verpflichtung zum Todesschuss« nicht, doch war dadurch »real existierend«, dass Gesetze, Dienstvorschriften und die ideologische Indoktrination der Grenzsoldaten die gewünschte Handlung, d. h. den Schusswaffengebrauch, legitimierten und »erfolgreiche« Schützen belobigt wurden.266 Die Verhaftungswelle blieb im Westen nicht unbemerkt. Das Innerdeutsche Ministerium registrierte im Frühjahr 1984 einen »schlagartigen« Anstieg der Zahl der Verurteilungen im Zusammenhang mit Ausreisebegehren.267 Waren im ersten Quartal 1984 monatlich durchschnittlich 70 Festnahmen registiert worden, schnellte die Zahl allein im April auf 333 nach oben. Bis Jahresende wurden der Rechtsschutzstelle über 1 500 Verhaftungen dieser Art bekannt, was der bereits genannten Zahlen der MfS-Statistik (1 674) sehr nahe kam.268 Auch die Welt und andere Zeitungen berichteten über die deutlich angestiegene Gesamtzahl politischer Häftlinge.269 Die Erkenntnisse der Rechtsschutzstelle lösten im Innerdeutschen Ministerium große Besorgnis aus.270 Allerdings dauerte es ein Jahr, bis das BMB reagierte. Erst Anfang März 1985 kommentierte Minister Windelen einen Vermerk des Fachreferates über den geradezu »dramatischen« Anstieg der Zahl verurteilter Antragsteller mit der Randbemerkung: »Das ist nicht hinnehmbar!«.271 Staatssekretär Rehlinger wies Plewa, den Leiter des »FreikaufReferates« an, die entsprechenden Verurteilungszahlen aufmerksam zu verfolgen und ihm laufend darüber zu berichten.272 Zudem brachte Rehlinger das
266 Hertle, Hans-Hermann: »Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten«. In: APuZ v. 1.8.2011, Nr. 31. 267 Rehlinger: Freikauf, S. 87 u. 106. 268 Vermerk Plewas, 5.11.1987; BArch-B, B 137/36066; Vermerk Plewas, 5.3.1985; BArch-B, B 137/36066. 269 »Berichte über Verhaftungen von 120 Ausreisewilligen in Dresden«. In: Der Tagesspiegel v. 9.2.1984; Diederichs, F.: »›DDR‹: Zahl der politischen Häftlinge stark gestiegen«. In: Die Welt v. 15.6.1984. 270 Rehlinger: Freikauf, S. 106. 271 Handschriftliche Notiz Windelens auf dem Vermerk Plewas, 5.3.1985; BArch-B, B 137/36066. 272 Hs. Notiz Rehlingers, 19.3.1985 auf dem Vermerk Plewas, 18.3.1985; BArch-B, B 137/36066.
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Thema gegenüber Vogel zur Sprache.273 Er erklärte ihm, dass die Bundesregierung »ein solches Verhalten nicht hinzunehmen bereit sei«. Man werde »an Konsequenzen denken«, falls die DDR-Justiz »in dieser Weise fortfahren würde, sich gewissermaßen ein Polster an politischen Häftlingen für Verhandlungen zu schaffen«.274 Die Warnung, so Rehlinger, sei unmissverständlich gewesen: »Wenn das nicht sofort aufhört, dann ist alles aus.«275 Plewas Vorschlag, das Thema »auf hoher politischer Ebene gegenüber der DDR anzusprechen«,276 wurde hingegen nicht aufgegriffen. Im Gegenteil: Dort wo die Unterredungen Bonner Spitzenpolitiker mit Honecker und hohen DDR-Funktionären 1984 und 1985 die Ausreisefrage berührten, lobte sich Honecker selbst und erhielt seinerseits ausschließlich Worte der Anerkennung von seinen Gesprächspartnern. Gegenüber Wolfgang Mischnick (FDP) betonte Honecker, »dass er es selbst durchgesetzt habe, dass jetzt mehr Menschen ausreisen dürften. Das sei für ihn nicht einfach gewesen«. Mischnick drückte Honecker im Gegenzug »seine Zufriedenheit mit der Behandlung humanitärer Fälle durch die DDR aus«, was sich vor allem auf die Botschaftsflüchtlinge bezog, die seit Januar 1984 die Schlagzeilen bestimmten.277 Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) pflichtete Honecker bei, dass in der Familienzusammenführung »vieles geschehen und verbessert worden« sei;278 Franz Josef Strauß (CSU) bedankte sich beim SEDGeneralsekretär, dass »der Anstieg der Zahl bewilligter Ausreisen […] sehr hilfreich« sei279 und der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel äußerte sich positiv über die »Qualität der in jüngster Zeit gefundenen Lösungen«.280 Möglich ist zwar, dass das Ausmaß der Verhaftungswelle zum Zeitpunkt der Gespräche im Westen noch nicht ersichtlich war. Doch auch in den Protokollen von Unterredungen aus der zweiten Jahreshälfte 1984 und dem gesamten Jahr 1985 wurde das Thema nicht zur Sprache gebracht.281 Wenn überhaupt, so wurde die Drohung mit der Einstellung des Freikaufs nur auf der Verhandlungsebene Rehlinger – Vogel ausgesprochen. Der Anstieg 273 Ebenda. Die vorliegenden Akten enthielten keinen Vermerk über den Inhalt des Gespräches. 274 Rehlinger: Freikauf, S. 106. 275 »Freikauf – Das Geschäft der DDR mit politisch Verfolgten«. Spitzengespräch zwischen Ludwig A. Rehlinger und Jürgen Engert. In: Apelt, Andreas H. (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR. Halle/Saale 2011, S. 85–100, hier 97. 276 Vermerk Plewas, 18.3.1985; BArch-B, B 137/36066. 277 Gespräch Mischnick – Honecker, 5.3.1984; Potthoff: Koalition der Vernunft, S. 246 u. 253 f. 278 Gespräch Lambsdorff – Honecker, 11.3.1984; ebenda, S. 258. 279 Gespräch Strauß – Honecker, 11.3.1984; ebenda, S. 261 f. 280 Gespräch H.-J. Vogel – Honecker, 14.3.1984; ebenda, S. 275. 281 Siehe die Gesprächsprotokolle in: Potthoff: Koalition der Vernunft und in: Nakath; Stephan: Von Hubertusstock nach Bonn sowie die einschlägigen Akten in: BArch-B, DL 2.
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der Verhaftungszahlen war jedenfalls kein Anlass, Beschwerden, Warnungen oder Überlegungen zur Änderung der Freikaufsmodalitäten sofort auf höchster Ebene an die DDR zu übermitteln. Immerhin ging die Zahl der verhafteten Antragsteller im Jahr 1985 auf knapp 900 und 1986 auf knapp 750 zurück.282 Die grundsätzliche Tendenz zur Kriminalisierung Ausreisewilliger blieb hingegen bis 1989 bestehen. Im Zuge der Freikaufsverhandlungen 1984 und 1985 wurde eine weitaus größere Zahl politischer Häftlinge als in den Vorjahren freigekauft. Zum einen deswegen, weil sich durch die Verhaftungswelle wesentlich mehr politische Häftlinge in den Gefängnissen befanden, zum anderen weil das durchschnittliche Strafmaß für Verurteilungen im Zusammenhang mit Ausreisebemühungen deutlich sank. Hatte es im Jahr 1983 noch zwei Jahre und zwei Monate betragen, lag es 1984 mit »nur« noch einem Jahr und sieben Monaten über ein halbes Jahr darunter. Demzufolge verkürzte sich auch die Verbüßungsdauer bis zum Freikauf.283 Ende 1984 hatte sich die Zahl der Freikäufe im Vergleich zu 1983 von 1 105 auf 2 236 mehr als verdoppelt, die Gegenleistung einschließlich der knapp 30 000 bezahlten Ausreisen belief sich auf Warenlieferungen im Wert von fast 388 Millionen DM.284 Auch 1985 erklärte die Bundesregierung ihre Bereitschaft zu einer Freikaufsvereinbarung über mehr als 2 600 Inhaftierte. Auf Anregung Wolfgang Schäubles (CDU), der im Dezember 1984 die Nachfolge Philipp Jenningers als Chef des Bundeskanzleramts angetreten hatte, suchte Vogel zu Jahresbeginn 1985 Rehlinger auf, um über »die erforderlichen Haushaltsmittel« zu sprechen.285 Bei der Erstellung der namentlichen Entlassungslisten regten sich jedoch Widerstände im Innerdeutschen Ministerium. Da die Absprache aus der sozialliberalen Regierungszeit fortbestand, dass ungefähr ein Drittel aller freigekauften Häftlinge aus Vorschlagslisten der DDR stammen müssten, hatte Vogel eine entsprechende Namensliste an das Innerdeutsche Ministerium übergeben. Ende Mai informierte Schalck-Golodkowski seinen Gesprächspartner Strauß, das BMB wolle rund 730 Fälle aus dieser Liste streichen, da »angeblich kein Geld« dafür vorhanden sei.286 Außerdem verlange das Ministerium eine Aufstockung der Listen um 75 Häftlinge, die aus Sicht der DDR »völlig indiskutabel« seien. Schalck-Golodkowski bat Strauß, einige »klärende
282 Vermerk Plewas, 5.11.1987; BArch-B, B 137/36066. 283 Tabelle A 4 »Verurteilungen im Zusammenhang mit Ausreise, 1977–1989«, Stand 31.12.1989; BArch-B, B 137/36058. 284 Siehe Tabelle 1 im Anhang. 285 Vermerk Vogels, 7.1.1985; BArch-B, DL 2, Nr. 7742, Bl. 237. 286 Nachricht Schalcks an Strauß, 30.5.1985; ebenda, Bl. 27.
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Worte« dazu zu sagen, denn »wer an den Grundpositionen anfängt zu rütteln, gefährdet alles«.287 Der Grund für die Forderungen lag womöglich darin, dass das Innerdeutsche Ministerium mehr von seiner Seite benannte Häftlinge einbeziehen wollte, da der Anteil der von der DDR vorgeschlagenen Personen bereits deutlich über einem Drittel lag.288 Mit der Aufstockung der Listen durch 75 besonders schwerwiegende Inhaftiertenfälle sollten neuerliche »Sonderaktionen« wie in den Jahren 1978/79, 1981 und 1982 vermieden werden. Für die darin erbrachte erhöhte Gegenleistung von 200 000 DM pro Häftling anstatt der üblichen knapp 96 000 DM hatte die DDR »sonst nicht lösbare Fälle« doch »lösbar gemacht«.289 Allerdings war es nicht Rehlinger, sondern wohl eher Minister Windelen, der Parlamentarische Staatssekretär Ottfried Henning und der Leiter des »Freikauf-Referates« Plewa, die auf eine Verbesserung drängten. Wie Schalck-Golodkowski gegenüber Strauß bemerkte, habe Rehlinger bei den Verhandlungen »oft nicht geringe Widerstände aus seinem eigenen Haus« zu überwinden.290 Strauß sah sich von Schalck-Golodkowski in der Einschätzung bestätigt, dass Windelen »oft wenig realistische Positionen« vertrete und im »klein, klein« stecken bleibe.291 Nach einer Intervention in einem Gespräch mit dem Bundeskanzler, Kanzleramtschef Schäuble und Otto Graf Lambsdorff (FDP) akzeptierte das Innerdeutsche Ministerium schließlich die DDRVorschlagsliste ohne Streichungen. Bezüglich der Forderung nach »Aufstockung« vermittelte Strauß einen Kompromiss der Form, dass die DDR die Entlassung weiterer 50 Inhaftierter zugestand.292 Ferner versicherte Strauß, dass Rehlinger jederzeit mit seiner Unterstützung rechnen könne; auch bei Kanzleramtschef Schäuble werde er jederzeit eine offene Tür vorfinden und dadurch raschen Zugang zum Entscheidungszentrum haben.293 Anfang Juli meldete Strauß an Schalck-Golodkowski: »Aktion läuft weiter. Gelder sind gutgeschrieben. Völlige Einigung erzielt«.294 Am Jahresende 1985 übertraf die Zahl der freigekauften Häftlinge mit 2 669 sogar die des Vorjahres um mehr 287 Mitteilung Schalcks an Strauß, 12.6.1985; ebenda, Bl. 18. 288 Ende 1985 waren 43 % der in diesem Jahr freigekauften Häftlinge von der DDR vorgeschlagen worden. Tabelle »Neue H-, MT- und V-Listen Fälle, 1963–1989«; BArch-B, B 137/36058. 289 Mitteilung Strauß’ an Schalck, 8.7.1985; BArch-B, DL 2, Nr. 7742, Bl. 3 f. 290 Vermerk Schalcks, 21.6.1985; ebenda, Bl. 13. 291 Vermerk Schalcks über das Gespräch mit Strauß, 12.3.1984; BArch-B, DL 2, Nr. 7710, Bl. 101. 292 Mitteilung Strauß’ an Schalck, 19.6.1985; BArch-B, DL 2, Nr. 7742, Bl. 14. 293 Mitteilung Strauß’ an Schalck, 8.7.1985; ebenda, Bl. 3 f.; Vermerk Schalcks, 21.6.1985; ebenda, Bl. 13. 294 Mitteilung Strauß’ an Schalck, 8.7.1985; ebenda, Bl. 3 f.
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als 400 Inhaftierte. Allein innerhalb der ersten drei Jahre der konservativliberalen Bundesregierung summierten sich die Gegenleistungen für Haftentlassungen und Familienzusammenführungen damit auf 792 Millionen DM, bis zum Ende der Wahlperiode näherte sich die Summe der Milliardengrenze.295 Die politische »Eiszeit« zwischen den Hegemonialmächten infolge des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan 1979, der Stationierung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen in der DDR, dem NATO-Doppelbeschluss und dem »Strategic Defense Initiative«-Programm von US-Präsident Ronald Reagan stellte keine schwerwiegende Belastung für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR dar. In einem Gespräch zwischen dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick und Erich Honecker im Frühjahr 1984 bemerkte der SED-Generalsekretär, er stimme Mischnicks Beschreibung der innerdeutschen Beziehungen zu, dass im Unterschied zu früheren Zeiten »kein Schnupfen mehr auftrete, wenn es zwischen den beiden Großmächten Abkühlung gebe«.296 Doch selbst zwischen den Supermächten kam es seit Mitte der achtziger Jahre schrittweise zu einer Erwärmung des frostigen Klimas. In personeller Hinsicht war fraglos der inzwischen dritte Stabwechsel im Kreml binnen zweieinhalb Jahren ursächlich dafür. Nach dem frühen Tod der beiden betagten Nachfolger Leonid Breschnews († 1982), Juri Andropow († 1984) und Konstantin Tschernenko († 1985), trat der mit 54 Jahren vergleichsweise jugendliche Michail Gorbatschow das Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU an. Mit seinen Reformversprechen von »Glasnost« (Offenheit) und »Perestroika« (Umgestaltung) verband sich die Hoffnung auch vieler DDR-Bürger, dass sich der neue Kurs auch langfristig auf die DDR auswirken würde. Infolge des Machtwechsels und Gorbatschows Bereitschaft zu Reformen im Innern und einer Verbesserung der Beziehungen zu den USA kam es im Juni 1985 und erneut im Januar 1986 zu zwei spektakulären Agentenaustauschvorgängen. Erstmals seit dem Abel-Powers-Austausch im Frühjahr 1962 war die Glienicker Brücke zwischen West-Berlin und Potsdam wieder Schauplatz eines solchen Spektakels. Nach zähen Verhandlungen zwischen den Unterhändlern wurden am 11. Juni 1985 vier östliche Spione gegen 25 in der DDR und Polen festgehaltene CIA-Mitarbeiter ausgetauscht. Alle waren zu Freiheitsstrafen von über sechs Jahren verurteilt, mindestens drei sogar zu lebenslanger Haft.297 Auf diesen größten Ringtausch des Kalten Krieges folgte ein halbes Jahr später am 11. Februar 1986 der zweite Austausch. Vor den Kameras 295 Siehe Tabelle 1 im Anhang. 296 Gespräch Mischnick– Honecker, 5.3.1984; Potthoff: Koalition der Vernunft, S. 242 f. 297 Pötzl: Spione, S. 404–408; H-Listen 1985/1986; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13653.
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etlicher Journalisten gab die östliche Seite den sowjetisch-jüdischen Dissidenten Anatoli Schtscharanski, einen BND- und einen CIA-Mitarbeiter sowie einen weiteren Inhaftierten gegen fünf Häftlinge mit nachrichtendienstlichem Hintergrund aus der Bundesrepublik bzw. den USA frei.298 Für den Westen stellten die beiden Vorgänge einen wichtigen Erfolg in ihrem Bemühen dar, auch die verbliebenen 25 Mitarbeiter des BND und des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus DDR-Haft zu holen. Sie waren zu hohen Haftstrafen, drei von ihnen zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt worden. Für weitere drei »Lebenslängliche« hatten sich die zuständigen Bonner Stellen bisher vergeblich eingesetzt, da ihre Delikte im Zusammenhang mit Gewaltanwendung gegen Personen oder Sachen standen und die DDR eine vorzeitige Entlassung strikt ablehnte.299 Im Großen und Ganzen waren Inhaftierte mit derart hohen Strafen jedoch die Ausnahme. In den achtziger Jahren sank das durchschnittliche Strafmaß für politische Delikte und folglich auch das durchschnittliche Strafmaß der freigekauften Häftlinge kontinuierlich ab. Lag es bei der Freikaufsvereinbarung des Jahres 1980 noch bei zwei Jahren und sechs Monaten, war es bis Ende des Jahres 1985 auf ein Jahr und neun Monate, 1988 schließlich auf knapp anderthalb Jahre gesunken.300 Einerseits spiegelte sich darin das Streben der DDR nach internationaler Anerkennung wider, denn eine Strafverschärfung wäre diesem Ziel zuwidergelaufen und hätte Menschenrechtsorganisationen Argumente für Kampagnen gegen die DDR geliefert. Zugleich erfolgte aufgrund der kürzeren Strafen auch der Freikauf früher, womit die Gegenleistungen der Bundesregierung rascher als zuvor in die Devisenkasse der DDR flossen. Zugleich begünstigte die Entwicklung das Innerdeutsche Ministerium bei der Durchsetzung seiner Verhandlungsziele. Angesichts des Absinkens der Strafhöhen und einem damit einhergehenden, relativen »Wertverlust« der freigekauften Häftlinge bei gleichbleibender Höhe der Gegenleistung von 95 847 DM pro Häftling gewann das Argument an Gewicht, dass »Sonderaktionen« mit erhöhten Gegenleistungen nicht mehr vertretbar seien. Rehlinger und Plewa drängten im Gegenteil immer häufiger auf die »Nachbenennung« von bisher zurückgehaltenen Häftlingen. Plewa mahnte Vogel im Frühjahr 1986, die DDR müsse sich zuerst bewegen, bevor man über eine neue Verein298 Pötzl: Spione, S. 409–436; Rehlinger: Freikauf, S. 194–219. 299 H-Listen 1985/1986; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13653. Zu den letzten drei »Lebenslänglichen« gehörten Josef Kneifel (»Ein Exitus könnte uns nur recht sein. Der Fall des ostdeutschen Dissidenten Josef Kneifel«. In: Der Spiegel v. 28.9.1992, Nr. 40.); Günter Jablonski (»Bonn kaufte Jablonski von ›DDR‹ frei«. In: Berliner Morgenpost v. 24.1.1989) und Bodo Strehlow (Fricke; Klewin: Bautzen II, S. 180 f.; Pfeiffer, Ingo: Fahnenflucht zur See. Die Volksmarine im Visier des MfS. Berlin 2009, S. 119–125 u. 192–195). 300 Tabelle »Neue H-, MT- und V-Listen Fälle, 1963 bis 1989«; BArch-B, B 137/36058.
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barung verhandeln könne: »Sie werden verstehen, dass wir bei dieser Sachlage zunächst über Verbesserungen reden möchten.«301 Vogel versuchte, den Forderungen entgegenzutreten. Ende Mai 1986 berichtete er ZKG-Chef Niebling, der nach Volperts Tod im Frühjahr 1986 dessen Aufgabe übernommen hatte, er habe »bereits Krach geschlagen« und erklärt, dass seine Seite damit »überfordert« sei.302 Doch wusste Vogel um den wachsenden Druck auf seine Auftraggeber im MfS, einen steten Devisenfluss zu sichern. Er gestand Niebling ein, er habe »vergeblich versucht, diese neuen Forderungen abzuwenden«. Wenn man jetzt nicht rasch eine Einigung erziele, sei »die Gutschrift gefährdet«. Es müsse daher sofort geprüft werden, was »maximal zu verkraften und vertretbar« sei.303 Aus seiner gestärkten Verhandlungsposition heraus konnte das Innerdeutsche Ministerium den Großteil der gewünschten Nachbenennungen schließlich durchsetzen, darunter auch ein Inhaftierter mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Ein weiteres Verhandlungsziel des Innerdeutschen Ministeriums, sich baldmöglichst auf eine »vertretbare und nachprüfbare Pauschalierung« zu einigen, war allerdings nicht durchsetzbar. Mit Pauschalierung war gemeint, die Gegenleistung nicht länger nach dem Berechnungsverfahren »Zahl der Häftlinge mal 95 847 DM« zu bestimmen, sondern eine Globalsumme ohne einen Kopfpreis auszuhandeln. Eine solche Globalvereinbarung war schließlich nach den beiden »Milliardenkrediten« und Ost-Berlins wenig später »freiwillig« erbrachten Gegenleistungen keine völlig illusorische Idee mehr. Als Rehlinger das Thema Ende 1986 anschnitt, wehrte Vogel ab und bemerkte, die Bundesregierung würde einem »verhängnisvollen Irrtum« verfallen, falls sie der Auffassung sei, »die finanziellen Gegenleistungen könnten reduziert werden oder gar wegfallen«. Sämtliche Abmachungen würden »von der politischen Situation abhängig sein«. »Vor allem aber«, bemerkte Vogel, »sollte doch erst mal das Ergebnis der Bundestagswahl abgewartet werden«.304
Der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik 1987 Aus der Wahl am 25. Januar 1987 ging die Koalition aus CDU/CSU und FDP als Sieger hervor. Im Zuge der Regierungsbildung kam es im Innerdeutschen Ministerium erneut zu einem Ministerwechsel. Auf Heinrich Windelen folgte Dorothee Wilms (CDU), die bisher das Ressort für Bildung und Wis301 302 303 304
Plewa an Vogel, 16.5.1986; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9640, Bl. 21 f. Vermerk Vogels, 20.5.1986; ebenda, Bl. 20. Vermerk Vogels, 29.5.1986; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17832, Bl. 1. Vermerk Vogels, 3.9.1986; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9640, Bl. 76.
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senschaft geleitet hatte und im Gegensatz zu ihren Vorgängern nicht aus dem engeren Kreis der namhaften Deutschlandpolitiker der Union stammte (Abb. 28). Das Wahlergebnis entsprach nicht dem Wunsch Ost-Berlins. Zwar hatte die DDR durch den Häftlingsverkauf, die Ausreisen und die übrigen Vereinbarungen mit der konservativ-liberalen Bundesregierung seit 1983 mehr Devisen als je zuvor eingenommen, musste jedoch im Gegenzug schmerzhafte substanzielle Zugeständnisse machen. Dabei war sie der Durchsetzung ihrer eigenen politischen Forderungen keinen Schritt näher gekommen. Seit seiner Geraer Rede 1980 forderte Honecker die Bundesregierung bei jeder Gelegenheit auf, die Elbgrenze auf der Strommitte festzulegen, der Umwandlung der Ständigen Vertretungen in diplomatische Botschaften zuzustimmen, die DDR-Staatsbürgerschaft zu respektieren und die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter zu schließen. Von einer SPD-geführten Bundesregierung hätte Honecker die Zusage erhalten, dass Bonn künftig die Staatsbürgerschaft der DDR »voll […] respektieren« werde, wie ihm Egon Bahr im September 1986 in einer vertraulichen Unterredung versicherte.305 Zwar sprach Bahr wohlweislich nicht von einer »Anerkennung der Staatsbürgerschaft«, doch kam diese Formulierung dem Wesensgehalt der Geraer Forderungen sehr nahe.306 Da feststand, dass sich die DDR auch in den folgenden vier Jahren einer CDU-geführten Bundesregierung gegenübersehen würde, gewannen die Pläne für einen Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik an Aktualität. Bei seinem Besuch am Werbellinsee 1981 hatte Helmut Schmidt die Einladung an den Generalsekretär ausgesprochen. Kohl hielt ausdrücklich daran fest, doch aus verschiedenen Gründen hatten sich sämtliche in Aussicht genommene Termine zerschlagen.307 Im April 1987 einigten sich beide Seiten schließlich auf die Woche vom 7. bis 11. September 1987. Da sowohl Honecker als auch Kohl das Risiko vermeiden wollten, dass das Gipfeltreffen von Demonstrationen gegen Menschenrechtsverletzungen in der DDR überschattet würde, verkündete der DDR-Staatsrat am 17. Juli 1987 eine Amnestie, die auch politische Straftäter umfassen sollte und beschloss ferner die Abschaffung der Todesstrafe.308 Zudem bereinigten Rehlinger und Vogel gleich mehrere der seit Jahren strittigen Austauschfälle. Im April 1987 wurden der seit 1976 inhaftierte HVA-Mitarbeiter Lothar-Erwin Lutze und drei weitere Personen gegen vier 305 Gespräch Bahr – Honecker, 5.9.1986; Potthoff: Koalition der Vernunft, S. 454. Im Gegenzug hatte Honecker zugesichert, die unkontrollierte Einreise von Asylsuchenden über den DDRFlughafen Berlin-Schönefeld in die Bundesrepublik zu unterbinden. 306 Wentker: Außenpolitik, S. 510. 307 Kohl an Honecker, 29.11.1982; Nakath; Stephan: Von Hubertusstock nach Bonn, S. 110 f. 308 Raschka: Justizpolitik, S. 234–248.
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Westspione ausgetauscht, im August gab die DDR die wegen Spionage für den BND verurteilte Christa-Karin Schumann sowie einen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gegen drei Ostspione frei.309 Mielke beugte sich dem Willen Honeckers, obwohl er noch im Februar auf einer Dienstkonferenz großspurig getönt hatte, »seit Jahren trommeln die [im Westen] und wollen die Frau haben«, doch bei Schumann nehme »das Gesetz seinen Lauf«.310 Mit diesen »Gastgeschenken« im Gepäck verlief Honeckers Visite in Bonn weitgehend störungsfrei. 20 Jahre nach dem Erstkontakt zwischen den politischen Führungsspitzen im Jahr 1967 bereiste das Staatsoberhaupt der DDR erstmals die Bundesrepublik und wurde vom Bundeskanzler wie ein Staatsgast mit militärischen Ehren empfangen. Überhaupt lag die Bedeutung des Besuches vornehmlich in seiner Symbolik. Die in West und Ost ausgestrahlten Fernsehbilder vom Abschreiten der Ehrenformation des Wachbataillons und dem Erklingen der DDR-Hymne beim Hissen der DDR-Fahne bedeuteten für Honecker zweifellos den größten Prestigeerfolg seiner politischen Laufbahn. Allerdings war der hervorstechende optische Kontrast zwischen dem schmächtigen, 75-jährigen SED-Generalsekretär und dem Bundeskanzler zugleich sinnbildlich für das Kräfteverhältnis zwischen beiden Staaten.311 In den anschließenden Gesprächen mit Honecker bekräftigte Kohl, dass die Menschenrechte und humanitäre Fragen in den deutsch-deutschen Beziehungen nach wie vor eine »herausragende Bedeutung« hätten. Wie in den zurückliegenden Jahren sollte es auch in Zukunft im Bereich des Möglichen liegen, »Härtefälle« einvernehmlich zu lösen.312 Ferner unterstrich der Kanzler, dass die Amnestie »ein großer persönlicher Pluspunkt für Erich Honecker« und »von Bedeutung für das ganze Klima« sei. Honecker teilte Kohl mit, dass die Amnestie rund 28 000 Personen betreffe, darunter auch solche, die nach westlichen Maßstäben als »politisch Inhaftierte« gelten würden. »Aus politischen oder Gewissensgründen«, beschloss Honecker seine Ausführungen, »verbleibe niemand in Haft.« Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble bat Honecker ferner darum, amnestierte Häftlinge in die »humanitären Bemühungen« einzubeziehen, um ihnen die Ausreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen. Anders als bei Schmidts Besuch in der DDR 1981 wurde dem Generalsekretär persönlich eine Reihe von Briefen übergeben, in denen Angehörige und Betroffene die Bundesregierung für Ausreiseanliegen und Haftfälle um Hilfe gebeten hatten. Honecker sagte eine Prüfung zu und versprach, dass die Ausreise amnestierter 309 Pötzl: Spione, S. 490–492. 310 Dienstbesprechung v. 12.2.1987; BStU, MfS, ZAIG, Tb 47 grün. 311 Vgl. Wentker: Außenpolitik, S. 515–518; Kohl: Erinnerungen, S. 544–579; Hertle, HansHermann; Weinert, Rainer; Wilke, Manfred: Der Staatsbesuch. Honecker in Bonn. Dokumente zur deutsch-deutschen Konstellation des Jahres 1987. Berlin 1991. 312 Gespräch Kohl – Honecker, 7.9.1987; Potthoff: Koalition der Vernunft, S. 584.
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politischer Häftlinge in die Bundesrepublik »ohne Vorbehalte gestattet« würde.313 Das Gespräch der Innerdeutschen Ministerin Dorothee Wilms mit der Delegation von DDR-Außenminister Oskar Fischer im Beisein von Staatssekretär Ludwig Rehlinger und vier weiteren Beamten des BMB berührte ebenfalls die Frage der politischen Inhaftierten. Wilms unterstrich den Willen zur Kontinuität und sprach sich dafür aus, diese Dinge »auf bisherigen Gleisen weiter zu regeln und zu lösen«. In Bezug auf die im ersten Halbjahr 1987 stark gesunkene Zahl von Ausreisegenehmigungen erklärte die Ministerin weiter, »daß Erreichtes nicht wieder kaputtgemacht werden sollte«. Rehlinger, den Wilms im Verlaufe des Gesprächs als »alte[n] Fuhrmann im Geschäft« bezeichnet hatte, ergänzte hierzu, es liege nicht im Interesse der Bundesregierung, »Leute aus der DDR abzuwerben und das Land zu entvölkern«. Außerdem »wolle er anmerken, daß er nicht etwa beabsichtige, sein ›Fuhrgeschäft‹ zu schließen«.314 Wilms und Rehlingers Ausführungen signalisierten der DDR zweierlei. Erstens, dass es trotz der Verhaftung von Ausreiseantragstellern mit dem Freikauf in der bewährten Weise weitergehen solle. Zweitens stellte das Bekenntnis zum Freikauf indirekt eine Absage an Honeckers Geraer Forderung dar, die DDRStaatsbürgerschaft zu respektieren. Die DDR sollte den offiziellen Empfang des DDR-Staatschefs in Bonn nicht als den Beginn eines Prozesses missdeuten, an dessen Ende die vollständige Anerkennung der DDR und damit die Aufgabe der »Obhutspflicht« gegenüber den Deutschen in der DDR gestanden hätte. Die Einstellung der »Besonderen Bemühungen« wäre dann unvermeidlich gewesen, denn für die Angehörigen eines ausländischen Staates hätte die Bundesregierung keine »Obhutspflicht« mehr beanspruchen können. Bezüglich Honeckers Forderung, die »zentrale Erfassungsstelle« in Salzgitter zu schließen, drückte Wilms gegen Ende des Gespräches die Hoffnung aus, »daß die dort untergebrachte Einrichtung eines Tages nicht mehr existieren müsse«, insofern die DDR auf politische Verurteilungen und Gewaltanwendung an der Grenze verzichte.315 Dass dies mitnichten der Fall war, zeigte die Entwicklung in den beiden folgenden Jahren bis zur Friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989.
313 Ebenda, S. 600 f. 314 Gespräch Wilms – Fischer, 7.9.1987; BArch-B, SAPMO, DY 30, Büro Honecker, Nr. 2397, Bl. 240–247, zit. nach: Honecker, Erich: Moabiter Notizen. Letztes schriftliches Zeugnis und Gesprächsprotokolle vom BRD-Besuch 1987 aus dem persönlichen Besitz Erich Honeckers. Berlin 1994, S. 229–233. 315 Ebenda, S. 232.
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Eine zweite Verhaftungswelle aus ökonomischen Gründen? Nach der Verhaftungswelle von 1984 mit über 1 600 Urteilen gegen Ausreisewillige ging die Zahl der Verurteilungen von Antragstellern zunächst auf 1 043 Fälle in 1985 zurück. 1987 war sie weiter auf 804 Urteile abgesunken, stieg 1988 aber wieder auf über 1 100 an.316 Sicherlich lag der Grund für diese neuerliche Zunahme der Verurteilungen auch in den »immer massiveren öffentlichen Auftritte[n] von Antragstellern« im Jahr 1988, die das MfS zum Anlass nahm, an »die repressive Hochphase des Jahres 1984 anzuknüpfen«.317 Im Gegensatz zu 1984 war allerdings eine deutliche Verschiebung hinsichtlich der angewendeten Paragrafen des StGB zu beobachten. Während im Jahr 1984 die relative Mehrheit von weit über 600 Verurteilungen wegen eines Verstoßes gegen § 219 (»Verbindungsaufnahme«) erfolgt war, erfolgten 1988 nur noch 94 Urteile nach § 219. Auch die Urteile nach § 220 (»Herabwürdigung«) sowie den §§ 212, 215, 217 und 225 (»Widerstand gegen staatliche Maßnahmen«, »Rowdytum«, »Zusammenrottung« und »Unterlassung der Anzeige«) gingen bis einschließlich 1988 stetig zurück. Maßgeblich für den plötzlichen Anstieg der Verurteilungen gegenüber Antragstellern im Jahr 1988 war die Verdopplung der Urteile nach § 214 (»Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit«): 1987 waren es noch 376, im Jahr darauf weit über 700.318 Möglicherweise beruhte der Rückgang der Verurteilungen nach § 219 darauf, dass die Bundesregierung in den beiden Jahren nach der Verhaftungswelle 1984 die DDR dazu bewegen konnte, die »Verbindungsaufnahme« zu westlichen Stellen zu entkriminalisieren, insofern es sich dabei um Behörden oder Politiker handelte. 1986 erklärte Rehlinger gegenüber Vogel, es werde von seiner Seite »unterstellt«, dass sich unter den Freigekauften dieses Jahres keine Personen befänden, »die lediglich Bittbriefe an Politiker der BRD geschrieben hätten«.319 Im August 1986 gestand die DDR schließlich in einer »internen« Vereinbarung zu, dass Antragsteller, die sich direkt oder über Dritte mit der Bitte um Unterstützung ihres Ausreiseanliegens an das Innerdeutsche Ministerium oder die Rechtsschutzstelle gewandt hatten, deswegen nicht mehr strafrechtlich belangt würden. Weiterhin strafbar werde hingegen die »Verbindungsaufnahme« zu »Feindorganisationen« in der Bundesrepublik wie der »Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte«, dem Verein »Hilferufe von drüben« und dem »ZDF-Magazin« bleiben.320 316 Tabelle bei Raschka: Justizpolitik, S. 330 f. – Hier sind nur die MfS-Verfahren miteinbezogen. 317 Eisenfeld: Flucht und Ausreise, S. 395. 318 Tabelle XVII in: Raschka: Justizpolitik, S. 330 f. 319 Vermerk Vogels, 3.9.1986; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9640, Bl. 76. 320 »Politisch-bedeutsame Aussagen des West-Berliner RA [geschw.]«, BKG Rostock an ZKG, 19.8.1986; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9655, Bl. 42 f.; vgl. »Grundsätze zur Verfolgung von Straftaten zur
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Ende der achtziger Jahre war der Freikauf ein fester Bestandteil des Systems der politischen Justiz in der DDR. Die im Mai 1986 kurz nach Volperts Tod erlassene Anweisung Mielkes zur »Übersiedlung von Strafgefangenen in die BRD« betraute die Leiter der zuständigen Diensteinheiten mit der Aufgabe, dass »spätestens mit Abschluss des Strafverfahrens gegen Bürger der DDR, bei denen der Ausspruch einer Strafe mit Freiheitsentzug zu erwarten ist bzw. erfolgte, die Voraussetzungen für eine Entscheidungsfindung hinsichtlich der Einbeziehung in die Maßnahmen zur Übersiedelung geschaffen werden«. Die »Prüfungshandlungen« sollten also möglichst schon vor der Urteilsverkündung abgeschlossen sein, um den betreffenden Häftling als »Verhandlungsmasse« nutzen zu können.321 Dass dies nicht bloß Theorie, sondern alltägliche Praxis war, belegt ein Diskussionsbeitrag des Leiters der MfS-Bezirksverwaltung Halle auf einer Dienstkonferenz des MfS im Februar 1987. Darin beschwerte er sich über Fälle, in denen von der Untersuchungshaft gerade einmal »acht Tage verstrichen« gewesen seien, als »schon die Anfragen« eingetroffen wären, »ob Einwände bestehen, dass der Mann übersiedelt wird«.322 Zugespitzt formuliert hatte sich eine Art Automatismus herausgebildet: In Untersuchungshaft genommene »Staatsfeinde«, deren Fall im Westen bekannt war und deren Verkauf keine »Versagungsgründe« entgegenstanden, befanden sich bereits mit einem Bein in der Bundesrepublik.323 Im Wissen darum und aufgrund der Tatsache, dass das Strafrecht je nach politischem Bedarf ausgelegt werden konnte, verfügte das MfS über ausreichenden Spielraum, um vergleichsweise harmlose Delikte zu kriminalisieren und die Inhaftierten später in den Freikauf einzubeziehen. Mielke war sich der Diskrepanz zwischen der geforderten rechtlichen Grundlage für Verurteilungen auf der einen und der politisch motivierten Dehnbarkeit der Gesetze auf der anderen Seite bewusst. Im Frühjahr 1987 führte er auf der bereits erwähnten Dienstkonferenz dazu aus, es dürfe zwar nicht sein, dass man »jemand einsperrt, damit er […] weggeht«, d. h. über den Freikauf in die Bundesrepublik gelange. Selbst der Westen unterstelle der DDR nicht, dass Gefangene »aus nichtgesetzlichen Gründen« verhaftet würden. Wenn das MfS Festnahmen mache, habe es schließlich »die berechtigten Gründe«. Andererseits relativierte Mielke diese Feststellung durch die nachfolgende Bemerkung: »Wir überlegen
Erzwingung der Übersiedlung«; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9639, Bl. 13: »Eine strafrechtliche Verfolgung von DDR-Bürgern wegen des Inverbindungtretens mit dem BMB oder den RA Jaeger und von der Schulenburg erfolgt nicht.« 321 Siehe Dokument 2 im Anhang [Hervorheb. d. A.]. 322 Dienstbesprechung v. 12.2.1987; BStU, MfS, ZAIG, Tb 47 grün. 323 Vorausgesetzt, die Betroffenen wurden auf eine der Listen gesetzt.
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ja ganz genau, […] das ist ein politischer Akt, wir überlegen, wann wir jemand einsperren!«324 Ein zweigleisiges Vorgehen gegen Antragsteller lag dabei durchaus im Denkhorizont der MfS-Mitarbeiter. Neben der Genehmigung des Ausreiseantrages wurde auch die Option einer »Übersiedlung« über den »Zwischenschritt« einer Inhaftierung in Betracht gezogen, an deren Ende der Verkauf samt Entlassung in die Bundesrepublik stand. Eine Unterabteilung der HA IX formulierte in einer Stellungnahme formalrechtliche Bedenken gegen diese Option. Es werde »für falsch und desorientierend erachtet«, die »Veranlassung der Prüfung einer Strafverfolgung« als »Entscheidungsvariante für das Übersiedlungsersuchen zu nennen«. Schließlich werde mit der »Prüfung einer Strafverfolgung« und auch der Strafverfolgung selbst »keine Entscheidung zur Übersiedlung getroffen«. Möglicherweise war es ein Mitarbeiter der für den Freikauf zuständigen ZKG, der dazu handschriftlich am Rand notierte: »Die flexibilität [sic], der wechselseitige Übergang ist immer!«325 Welche Handlungen als strafwürdig gelten sollten, war durch zentrale Vorgaben bestimmt. Laut einer Festlegung »zur Durchführung von Strafverfahren gegen Übersiedlungsersuchende« vom Februar 1988 sollten nach Abstimmung zwischen dem MfS und den zentralen Justizorganen der DDR »unter extensiver Auslegung des § 214 […] jegliche Bestrebungen zur Schaffung von Gruppierungen von ÜSE bereits im Ansatz« unterbunden werden. »Bei Vorliegen der strafprozessualen Voraussetzungen«, hieß es darin weiter, sei »im beschleunigten Verfahren […] eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwirken.«326 Dass hier ausdrücklich die »freikaufqualifizierende« Strafuntergrenze von einem Jahr genannt wurde, belegt zwar keine Verhaftung zwecks Verkaufs, nährt jedoch die Zweifel, dass die Strafe bloß der »Disziplinierung hartnäckiger Übersiedlungsersuchender« dienen sollte. Dieses Ziel wäre schließlich auch mit einer Strafe von sechs oder sieben Monaten erreichbar gewesen. Da die operativen Diensteinheiten des MfS sowie die Bezirkskoordinierungsgruppen eng mit der Linie IX in den Bezirken zusammenarbeiteten, oblag ihnen offenbar die 324 Ebenda. Diese Sichtweise verbreitete auch der frühere ZKG-Chef Gerhard Niebling nach 1990: »Die Verurteilung von sogenannten Antragstellern erfolgte nur dann, wenn Straftaten zu ahnden waren. Es gab immer rechtliche Gründe …«; Niebling, Gerhard: Zur Verantwortung der ZKG/BKG. In: Grimmer, Reinhard; Irmler, Werner; Opitz, Willi (Hg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Bd. 2, Berlin 2002, S. 161–245, hier 219. 325 Schriftliche Meinungsäußerung der HA IX/AKG v. 4.4.1987 zum Entwurf des »Arbeitsmaterials in Auswertung der Dienstbesprechung … vom 12.2.1987«; BStU, MfS, ZKG, Nr. 5509, Bl. 36 f. Hervorheb. i. O. Das Arbeitsmaterial, auf das sich die Meinungsäußerung bezieht, befindet sich in: BStU, MfS, ZKG, Nr. 5558, insbes. Bl. 25. 326 Festlegungen zur Durchführung von Strafverfahren gegen ÜSE, 27.2.88, VVS Gra o028– 41/88; BStU, MfS, BV Gera, BdL/Dok. Nr. 1131, Bl. 22 f.
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Letztentscheidung im jeweiligen Einzelfall über die »Festlegung der Abschlussart, die den größten gesellschaftlichen Nutzen« erbrachte.327 Der deutlichste Hinweis darauf, dass das MfS Antragsteller kriminalisierte, um sie zwecks Erhöhung der Gegenleistung »über die Haft« zu »übersiedeln«, ist allerdings die bereits im Zusammenhang der Verhaftungswelle 1984 erwähnte Rede von ZKG-Chef Gerhard Niebling vom Juli 1987 vor den Leitern der Bezirkskoordinierungsgruppen.328 Niebling bezog sich darin auf die Dienstkonferenz Mielkes vom Februar 1987 und eine Stellungnahme seines Vorgesetzten, Mielkes Stellvertreter Generalleutnant Gerhard Neiber.329 Da die Zahl der Ausreisen im Wege der von der Bundesregierung bezahlten »Familienzusammenführung« in der ersten Hälfte des Jahres 1987 stark zurückgegangen sei, erhöhe sich »zwangsläufig die Notwendigkeit der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD«.330 Dabei gehe es »um Devisen für unsere Republik«, die die DDR »schnell und in möglichst großer Höhe« benötige.331 Die Besorgnis im Westen blieb auch nach der Verhaftungswelle im Jahr 1984 groß, dass Antragsteller wegen geringfügiger Vergehen verhaftet, verurteilt und wenig später zum Freikauf angeboten werden könnten. Bei seinem Besuch in der DDR Ende März 1987 sprach Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble Honecker darauf an, dass die Bundesregierung »zunehmend Klagen« darüber höre, »daß sich DDR-Bürger, die einen Übersiedlungsantrag stellen, der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt« sähen. Honecker entgegnete, er habe diese Behauptung überprüfen lassen und man habe »keinen Fall dieser Art« feststellen können. Die Bundesregierung könne aber Erkenntnisse über konkrete Fälle an die Ständige Vertretung weiterleiten.332 Als sich 1988 die Zahl der Verurteilungen nach § 214 verdoppelte, nahm die Besorgnis innerhalb der Bundesregierung weiter zu. Eine Möglichkeit, der DDR den Anreiz zu Verhaftungen zu nehmen, sah das Innerdeutsche Ministe327 Spezifische Aufgaben operativer Diensteinheiten, DA 2/83; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 7770, abgedr. in: Lochen, geheime Anweisungen, S. 127. Zur Zusammenarbeit zwischen BKGs und der Linie IX siehe ferner BStU, MfS, ZKG, Nr. 5504, Bl. 313. 328 Siehe Dokument 2 im Anhang. 329 Die Stellungnahme Neibers vom 18.6.1987 ist nicht überliefert. 330 Die Zahl der Ausreisen im Rahmen der Familienzusammenführung betrug 1986 noch über 15 000, 1987 sank sie auf etwas mehr als 8 000 ab (siehe Tabelle 1 im Anhang). Vgl. »Inzwischen verstehen wir uns wirklich gut«. In: Der Spiegel v. 20.7.1987, Nr. 30. 331 Siehe Dokument 2 im Anhang [Hervorheb. d. A.]. Ein hochrangiger MfS-Offizier stritt bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin eine vorsätzliche »Produktion« von Häftlingen zwecks Verkauf mit dem Argument ab, dass »die allermeisten Fälle wegen § 213 verurteilt« worden seien und demnach erst Antragsteller geworden seien, »weil sie einsaßen«. Vernehmung v. 8.12.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 32, Bl. 120. 332 Gespräch Schäuble – Honecker, 27.3.1987; Potthoff: Koalition der Vernunft, S. 519 u. 523.
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rium darin, die Gegenleistung für derartige Fälle herabzusetzen, zumal auch die Strafhöhen weiter abgesunken, die Höhe der Gegenleistung jedoch gleich geblieben waren. Die DDR war allerdings zu keinem Entgegenkommen bereit: Vogel erhielt von Niebling den Auftrag, bei der nächsten Verhandlungsrunde über die »Fortsetzung der bewährten Praktiken« im Mai 1988 alle Versuche, »die Bezahlung für Haftfälle künftig zu differenzieren«, zurückzuweisen.333 Noch im selben Monat schied Rehlinger als Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium aus und wurde Justizsenator in Berlin. Rehlingers Nachfolge trat der bisherige Ministerialdirektor Walter Priesnitz (CDU) an, den Heinrich Windelen 1985 ins Gesamtdeutsche Ministerium geholt hatte (Abb. 29). Beim ersten Zusammentreffen mit Vogel bekundete Priesnitz, er wolle »Kontinuität praktizieren und gehe gutwillig heran«. Allerdings sprach er sofort das Problem der »Zunahme der Fälle« von Inhaftierungen an. Vogel berichtete Niebling später, der Westen habe »nach wie vor […] schwerste Bedenken« und fürchte »öffentlichen Tadel wegen erheblicher Gegenleistungen für ›Verurteilungen nur im Zusammenhang mit Ausreisebegehren‹«. Die Bundesregierung werde sich »letztlich […] aber wohl doch durchringen«.334 Vogel lag mit dieser Einschätzung richtig, Mitte September notierte er in einem Vermerk für Niebling: »Kontinuität bis Jahresende kein Problem. Wir können die Anzahl im Grunde beliebig bestimmen. Gegenleistung: Unverändert«.335 Die Zweifel der Bundesregierung wuchsen in den Folgemonaten stetig an. Hinzu kamen die Ergebnisse des dritten KSZE-Folgetreffens in Wien, das am 19. Januar 1989 zu Ende ging und sich grundlegend auf die Justizpolitik der DDR auswirkte. Als Gegenleistung für eine Einigung in zeitgleich stattfindenden Abrüstungsgesprächen hatte die Sowjetunion gegen die Interessen der DDR gerichtete Zugeständnisse im humanitären Bereich gemacht. Eine besonders verheerende Wirkung entfaltete jener Passus im Abschlussdokument, der die Signatarstaaten zur verbindlichen Erfüllung der Zusage verpflichtete, »dass es jedermann freisteht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren«.336 Besondere Brisanz gewannen die Vereinbarungen dadurch, dass sie einen »verbindlichen Sanktionsmechanismus« vorsahen und die KSZE künftig über alle diesbezüglichen Fragen eine Zuständigkeit beanspruchen konnte.337 333 Vermerk Hinweise für ein Gespräch mit dem RA, 5.5.1988; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17108, Bl. 34. 334 Vermerk Vogels über das Gespräch mit Priesnitz, 8.6.1988; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9659, Bl. 4 f. 335 Vermerk Vogels über eine Unterredung mit Priesnitz am 15.9.1988 in Berlin; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9627, Bl. 2. 336 Dokumente des KSZE-Prozesses 1973–1989. Berlin 1990, S. 146. 337 Raschka: Justizpolitik, S. 281.
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Angesichts dieser neuen Rahmenbedingungen sah man in Bonn den Zeitpunkt für gekommen, die finanziellen Leistungen für verhaftete Antragsteller künftig ersatzlos zu streichen. Staatssekretär Priesnitz erklärte Vogel im Februar 1989, dass nach den Beschlüssen der Wiener KSZE-Folgekonferenz »Gegenleistungen bei humanitären Bemühungen im Zusammenhang mit Verhaftungen und Verurteilungen wegen Ausreisebemühungen ab 1.2.1989 nicht mehr vertretbar seien«.338 In der Praxis betraf dies Inhaftierte, die nach den §§ 214, 219 und 220 verurteilt worden waren.339 Vogel berichtete Niebling, dass diese Entscheidung endgültig sei. Das Innerdeutsche Ministerium werde »von der Weisung aus dem Kanzleramt, nur noch Verurteilungen nach § 213 einzubeziehen, […] auf keinen Fall abrücken«. Priesnitz habe ihm signalisiert, dass »weitere Gespräche« in dieser Sache »nichts einbrächten«.340 Interessant ist die darauf folgende Reaktion des MfS. Die für rechtliche Grundsatzfragen zuständige »Auswertungs- und Kontrollgruppe« (AKG) der HA IX schlug vor, vor allem die Anwendung der beiden »AusreiserParagraphen« § 214 und 219 stark einzuschränken, d. h. die Schwelle deutlich anzuheben, ab der strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten waren. Nach Auffassung einer Unterabteilung der AKG lief die Entwicklung darauf hinaus, dass die beiden Paragrafen künftig nicht mehr angewendet würden. Die Streichung der Gegenleistungen der Bundesregierung für all diese Inhaftierten hätte demnach zu einem merklichen Rückgang der Verurteilungen von Antragstellern geführt. »Wenn sich keine Devisen mehr ›erwirtschaften‹ ließen«, resümiert Johannes Raschka in seiner Studie zur Justizpolitik in der Ära Honecker, »war das MfS bereit, eine Reihe von Handlungen straffrei zu stellen, die es noch vor 1989 verfolgt hatte. Diese Feststellung stützt die These, dass die Staatssicherheit zumindest in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre tatsächlich oft verhaftete, um zu verkaufen.«341
Das Ende des Freikaufs 1989 Mit der Streichung der finanziellen Gegenleistungen für verurteilte Antragsteller stand das Jahr 1989 für die DDR von Beginn an unter einem schlechten Vorzeichen. In den ersten Monaten des Jahres 1989 schien es zwar noch, als würden die Dinge ihren gewohnten Gang nehmen. Die Bundesregierung 338 Vereinbarung Vogel – Priesnitz, 1.2.1989; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9644, Bl. 1 f. 339 Vermerk des Selbständigen Sonderreferates der HA IX, Frühjahr 1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17108, Bl. 18. 340 Vermerk Vogels, 9.2.1989; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9642, Bl. 2. 341 Raschka: Justizpolitik, S. 284–286.
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übergab ihre Wunschlisten an die DDR, diese ihre eigenen Vorschläge an die Bundesregierung und nach der namentlichen Einigung erfolgte die Entlassung der Freigekauften in die Bundesrepublik. Beginnend mit dem Abbau der Grenzzäune zwischen Ungarn und Österreich im Mai 1989 geriet die DDR jedoch zunehmend in einen Strudel von Ereignissen, die sie in den Grundfesten erschütterten. Immer mehr DDR-Bürger nutzten die Lücke im Eisernen Vorhang, um während ihres Sommerurlaubes in Ungarn nach Österreich zu fliehen und von dort in die Bundesrepublik zu gelangen. Eine zunehmende Zahl von Ausreisewilligen flüchtete in die Botschaft der Bundesrepublik in Prag und forderte ihre Ausreise in den Westen.342 Die Entwicklung wirkte sich dergestalt auf die Freikaufsverhandlungen aus, dass die Bundesregierung Ende Juli 1989 darauf drängte, die finanziellen Gegenleistungen für Inhaftierte, Ausreisen sowie sogenannte »Botschaftsfälle« künftig in Form einer Pauschalsumme zu erbringen, ohne der Berechnung noch einen pro-Kopf-Preis zugrunde zu legen. Ende Juli 1989 nahm Vogel ein diesbezügliches »non paper« von Staatssekretär Priesnitz entgegen und gab es zur Prüfung an das MfS weiter.343 Das Ansinnen stieß dort auf Widerstand. Die Vorschläge der Bundesregierung seien »in dieser Form nicht zu akzeptieren«344, denn die Pauschalierung stelle »eine einseitige Veränderung der Geschäftsgrundlage zum Nachteil der DDR« dar. Vogel solle Priesnitz übermitteln, dass »die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet nicht zur ökonomischen Ausplünderung der DDR führen« könne.345 Aus ihrer immer stärker werdenden Position heraus konnte die Bundesregierung schließlich ihre Auffassung durchsetzen, dass der bisherige Berechnungsmodus »politisch nicht mehr vertretbar« sei. Am 31. August vereinbarten Vogel und Priesnitz eine pauschale Gegenleistung für die Entlassungen im 2. Halbjahr 1989. Für die Ausreise von »mindestens etwa 11 000« von der Bundesregierung benannte Personen, »mindestens etwa 750 anerkannte HFälle« sowie »mindestens etwa 550 Bo[tschafts]-Fälle« zahlte die Bundesregierung insgesamt 130 Millionen DM.346 Die DDR konnte lediglich die Forderung durchsetzen, dass die Vereinbarung ausschließlich für das zweite Halbjahr 1989 gelten sollte und die Modalitäten gegen Jahresende erneut überprüft werden sollten.347 342 Vgl. Neubert, Ehrhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München 2008; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009. 343 Non-paper, 21.7.1989; BStU, MfS, Rechtsstelle, Nr. 203, Bl. 13. 344 Stellungnahme zum Vorschlag für eine Pauschalierung, 22.7.1989; ebenda, Bl. 9. 345 Einschätzung des Vorschlages zur Pauschalierung; ebenda, Bl. 4. 346 Vereinbarung Priesnitz – Vogel, o. D.; ebenda, Bl. 2 f.; Vermerk Vogels »Der Freikauf«, o. D.; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9636, Bl. 1. 347 Vermerk zur Prüfung des Vorschlages für eine Pauschalierung, 11.9.1989; ebenda, Bl. 1.
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Doch dazu kam es nicht mehr, die Friedliche Revolution durchkreuzte die Planungen der Machthaber in Ost-Berlin. Im September 1989 begannen die Bürger, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen. Der Ruf der Demonstranten »Wir sind das Volk« wurde zum Motto der Revolution, Forderungen nach dem Ende der Vorherrschaft der SED, der Auflösung des MfS und auch nach der Freilassung aller politischen Häftlinge erschollen tausendfach auf den Massendemonstrationen im September, Oktober und November 1989.348 Zugleich schwoll die Ausreisewelle über Ungarn und die ČSSR weiter an. Die Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober, der Rücktritt Erich Honeckers am 18. Oktober und die Wahl Egon Krenz’ zum neuen SEDGeneralsekretär führten dazu, dass die alte Ordnung allmählich ins Wanken geriet. Mit der Amnestie vom 27. Oktober 1989, die der Staatsrat auf Betreiben Egon Krenz’ hin für all jene erließ, die wegen eines »ungesetzlichen Grenzübertritts«, der »widerrechtlichen« Durchsetzung ihres Ausreisebegehrens oder wegen Teilnahme an den Demonstrationen inhaftiert waren, wuchs die Hoffnung, dass die SED künftig ganz auf das Instrument der Verfolgung und Inhaftierung ihrer politischen Gegner verzichten würde. Das Innerdeutsche Ministerium nutzte die Situation, um der DDR weitere Zugeständnisse abzuringen. Priesnitz teilte Vogel am 27. Oktober mit, dass sich die im Dezember fällige Restgutschrift über 65 Millionen DM angesichts der neuen Lage »auf keinen Fall halten« ließe, wenn die DDR nicht »Aufbesserungen« zugestehe. Diese müssten darin bestehen, u. a. auch Nichtamnestierte in die Entlassungen einzubeziehen und Häftlinge mit Strafen über fünf Jahren bis zum 31. Dezember zu entlassen. Danach seien Gegenleistungen »wohl allenfalls nur noch für ›besondere Haftfälle‹ vertretbar«.349 Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, der das Ende der SED-Diktatur einläutete, machte Priesnitz die Zahlung der letzten Tranche und weiterer 50 Millionen DM davon abhängig, dass es nach dem Abschluss der Amnestie keine Häftlinge mehr in der DDR gebe, deren Vergehen »im Hinblick auf die Beschlüsse der KSZE und die politischen Veränderungen nicht mehr gerechtfertigt« seien. Der Austausch der noch verbliebenen rund 20 Inhaftierten mit nachrichtendienstlichem Hintergrund werde »verhandelt und erstrebt«. »Für die Zukunft«, beendete Vogel den Vermerk über die Vereinbarung, »entfällt der Freikauf von selbst, weil die künftigen Strafurteile qualitativ nicht mehr geeignet sein dürften und die Zeichen der Zeit anders
348 Neubert, Ehrhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München 2008, S. 167. 349 Vermerk Vogels, 30.10.1989; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9616, Bl. 2 f.
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gesetzt sind (sozialistische Rechtsstaatlichkeit).«350 Nach über 26 Jahren endete damit die Geschichte des Freikaufs. Über 33 000 politische Häftlinge waren durch »Besondere Bemühungen« der Bundesregierung aus der Haft entlassen worden, die überwiegende Mehrheit in die Bundesrepublik ausgereist. Einschließlich der letzten Gegenleistung, die die DDR im Januar 1990 erhielt, beliefen sich die Aufwendungen für freigekaufte Häftlinge und Familienzusammenführungen auf über 3,4 Milliarden DM.
350 Vermerk Vogels, wahrscheinlich 30.11.1989; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9636, Bl. 1 f.; vgl. Vermerk Vogels, 20.12.1989; BArch-B, DL 2, Nr. 7815, Bl. 114.
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Der Freikauf und die Öffentlichkeit
Bereits zu Beginn der Verhandlungen im Jahr 1963 hatte die DDR die Bedingung gestellt, dass die Entlassung politischer Häftlinge gegen Geld nur möglich sei, wenn der Vorgang »strikt geheim« bleibe.1 Die DDR hielt sich für ihren Teil bis zuletzt daran: Öffentliche Verlautbarungen eines Partei- oder Staatsfunktionärs gab es zu keinem Zeitpunkt, ebenso wenig Presseberichte aus der Feder von DDR-Journalisten.2 Gegenüber der Bundesregierung bestand die DDR darauf, dass auch sie über die Verhandlungen Schweigen bewahren müsse und keine offiziellen Stellungnahmen abgeben dürfe. Für diese Forderung hatte die DDR im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens drohte bei einem Bekanntwerden dieser Praktiken ein Ansehensverlust in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland. Schließlich war zu erwarten, dass die Westmedien, d. h. Fernsehen, Rundfunk und Presse in der Bundesrepublik, den Häftlingsverkauf als »Menschenhandel« anprangern würden. Der Vorwurf ließ sich nur sehr bedingt durch eine eigene Interpretation entkräften. Schließlich war die Tatsache der materiellen Gegenleistungen ein faktisches Eingeständnis der eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und bewies, dass nicht nur im »kapitalistisch-imperialistischen Westen«, sondern auch im real existierenden Sozialismus ökonomische Interessen schwerer wogen als humanitäre und rechtliche Belange. Zweitens – und diese Sorge wog wahrscheinlich schwerer als die Gefahr eines Prestigeverlustes, weil sie die Machtfrage berührte – waren sich die Verantwortlichen im Partei-, Justiz- und Repressionsapparat bewusst, dass das Bekanntwerden der Praxis auf lange Sicht auch innerhalb der DDR nicht ohne Folgen bleiben würde. Die vorzeitige Entlassung inhaftierter »Staatsfeinde« stellte die Abschreckungswirkung der Strafjustiz und damit ein wesentliches Herrschaftsinstrument der Parteidiktatur infrage.3 Durch die »Mundpropa1 Vermerk Rehlingers, 26.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 63. 2 Sicher eine Ausnahme ist der Abdruck einer dpa-Meldung mit Äußerungen Egon Frankes über »Geldleistungen für vorzeitig aus der Haft entlassene politische Häftlinge« in einer DDRWochenzeitung 1977. Die Presseauswertung des Gesamtdeutschen Institutes wertete dies als Indiz dafür, dass das Thema »für die Diskussion in der DDR freigegeben« werden sollte. Beobachtungshinweis des Gesamtdeutschen Instituts, 16.12.1977; BArch-K, B 137/15780. 3 Vgl. hierzu den Vermerk Hoeschs, Sept. 1973; DzD VI/3, Nr. 68, S. 285: »Auch diese Bemühungen bedürfen für ihren erfolgreichen Fortgang der Vertraulichkeit. Dafür muß insbesondere berücksichtigt werden, dass die DDR einer großzügigen Entlassung von politischen Häftlingen in die
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
ganda« in der DDR sowie durch Berichte in den Westmedien würde der Freikauf allmählich in der Bevölkerung bekannt werden. Insbesondere Fluchtwillige und »hartnäckige Übersiedlungsersuchende« könnten früher oder später auf den Gedanken kommen, den Freikauf als »Sicherheitsnetz« oder »Plan B« für den Fall des Scheiterns ihres Vorhabens einzuplanen, im Extremfall sogar Straftaten zu begehen, um in der Hoffnung auf anschließenden Freikauf in die Bundesrepublik zu gelangen.4 Den Hauptverantwortlichen in der DDR war bewusst, dass Medienberichte über die Entlassung politischer Häftlinge für materielle Gegenleistungen grundsätzlich nicht zu verhindern waren. Die Bundesregierung gab der DDR jedenfalls von Beginn an zu verstehen, dass sie die Berichterstattung aufgrund der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik nicht würde unterbinden können. Helmut Schmidt beispielsweise wies die Vertreter Ost-Berlins in persönlichen Gesprächen mehrfach darauf hin, dass die Regierung gegenüber den Medien »ziemlich machtlos« sei.5 Falls man im Parteiapparat der SED glaubte, dass diese Beteuerungen in Wahrheit taktischer Natur seien, so bestand dennoch das Risiko, dass Journalisten aus westlichen oder neutralen Ländern darüber berichten würden, was tatsächlich geschah.6 Schon aus objektiven Gründen konnten die Vorgänge nicht unbemerkt von der Öffentlichkeit bleiben. Das Eintreffen von mehreren hundert Häftlingen im Notaufnahmelager in Gießen musste Aufsehen erregen und die Frage nach den Gründen hervorrufen. Einige Entlassene würden sich trotz des Schweigegebotes früher oder später an die Presse wenden oder auf finanzielle Angebote von Journalisten eingehen, ihnen eine »Exklusivstory« zu liefern. Außerdem war davon auszugehen, dass die Informanten der Hauptstadtjournalisten in der Ministerialbürokratie entsprechende Hinweise an ihre Kontaktleute lancieren würden. Nicht umsonst kursierte im Bonner Regierungsviertel der boshafte Witz, dass in der Hauptstadt nichts geheim bleiben könne, was mehr als einer wisse. Tatsächlich war es, wie bereits geschildert, im Sommer und Herbst 1964 zu einer breiten Berichterstattung in den Medien gekommen, die auf InformaBundesrepublik auf die Dauer nur dann zustimmen kann, wenn sie dadurch nicht die Abschreckungswirkung ihrer Strafjustiz in Frage gestellt sehen muß. Jede Publizität solcher Entlassungen muß diese Bedenken der DDR verstärken und kann zu größerer Zurückhaltung bei der vorzeitigen Entlassung politischer Häftlinge führen.« 4 Siehe ausführlich Kap. VI.2 zu diesem Aspekt. 5 Bericht über das Gespräch Kohls mit Schmidt am 14.6.1978; BArch, SAPMO, DY 30, Büro Honecker, Nr. 2406, Bl. 92 f. 6 Das erste Buch über den Häftlingsfreikauf wurde ausgerechnet von einem französischen Fernsehkorrespondenten in Bonn verfasst. Vgl. Meyer, Michel: Des hommes contre des marks. Paris 1977; die deutsche Übersetzung erschien 1978 im Zsolnay-Verlag u. d. T. »Freikauf. Menschenhandel in Deutschland«.
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tionen eines Insiders aus dem Gesamtdeutschen Ministerium beruhte und in deren Verlauf die Hintergründe der kürzlich erfolgten Entlassungen öffentlich wurden. Die Bundesregierung konnte daher lediglich zusichern, auf offizielle Anfragen der Presse keine Auskünfte zu erteilen, was sich jedoch ausdrücklich nicht auf den Agentenaustausch bezog.7 In der Praxis erhielten die anfragenden Journalisten lediglich die Antwort, dass der Bundesregierung »Bemühungen, die in diesem Zusammenhang von besonderer Seite unternommen« worden seien – gemeint waren die beiden Kirchen als formale Träger der Hilfsmaßnahmen – bekannt seien. Man begrüße dies, halte es aber »nicht für angebracht, dazu einen Kommentar abzugeben«.8 Mit dieser Strategie der Zweideutigkeit, welche die Spekulationen weder bestätigte noch dementierte, erfüllte Bonn die Zusage zur Diskretion. Die Schweigsamkeit gegenüber der Öffentlichkeit lag dabei jedoch nicht unbedingt in Bonns eigenem Interesse. Schließlich war der Bundesregierung damit die Möglichkeit genommen, »die Unmenschlichkeit des kommunistischen Regimes an diesem Beispiel weiterhin anzuprangern«, wie Ludwig Rehlinger bereits im Sommer 1964 in einem Memorandum für den Gesamtdeutschen Minister Erich Mende anmerkte.9 Auch im gegenteiligen Sinne war es künftig nur noch selten möglich, Erfolgsmeldungen über die Befreiung von politischen Gefangenen in der DDR öffentlich als Erfolg der eigenen Politik zu präsentieren. Die Verschwiegenheitszusage an die DDR berührte damit auch einen Kernbereich des Demokratieverständnisses, denn in einer Demokratie ist Regierungshandeln dem Grundsatz nach öffentlich. Regierungen müssen im Parlament und bei den Wählern um Unterstützung für ihre Politik werben und Erfolge öffentlich präsentieren. Wie noch zu zeigen sein wird, war nicht jeder der im Westen beteiligten Akteure dazu bereit, auf Letzteres gänzlich zu verzichten. Während Informationslecks in der Ministerialbürokratie durch die Verkleinerung des Kreises der Mitwisser weitgehend abgedichtet werden konnten, war es deutlich schwieriger, die Medien zu einer möglichst diskreten Behandlung der Vorgänge zu bewegen. Das Gesamtdeutsche Ministerium setzte sich daher mit den Chefredakteuren mehrerer Zeitungen in Verbindung, um diese davon zu überzeugen, sich in der Berichterstattung zurückzuhalten.10 1967 bemerkte Rehlinger diesbezüglich, dass »die meisten Journalisten von Rang« in West-
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Der Wortlaut diesbezüglicher Pressemeldungen wurde z. T. gemeinsam festgelegt. Undatierter, wahrscheinlich 1965 entstandener Text; EZA, 742/275. Vermerk Rehlingers, 14.9.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 185. Rehlinger: Freikauf, S. 62.
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Berlin und der Bundesrepublik »im wesentlichen« informiert seien.11 Zusammenkünfte zwischen Beamten des Innerdeutschen Ministeriums und Pressevertretern, in denen diese um Zurückhaltung oder eine Berichterstattung im Regierungssinne gebeten wurden, hatte es schon in den fünfziger Jahren gegeben.12 Allerdings zielten diese Kontakte seinerzeit darauf ab, Propagandakampagnen der DDR abzuwehren oder diese »richtig zu stellen«. Nunmehr sollten die Bitten um eine zurückhaltende Berichterstattung über den Freikauf hingegen »der anderen Seite Gelegenheit geben, ihr Gesicht zu wahren«, wie es Barzel gegenüber Journalisten ausdrückte, was einen unerhörten Paradigmenwechsel bedeutete.13 Die Einwirkungsmöglichkeiten der Bundesregierung auf die Medien bestanden allerdings hauptsächlich darin, an das Verantwortungsbewusstsein der Chefredakteure zu appellieren und darum zu bitten, nichts zu veröffentlichen, was sich negativ auf den Anwaltskontakt und damit die Fortführung des Freikaufs auswirken könnte. Zuvorderst sollte der Grund für die Entlassungen, d. h. die wirtschaftlichen Gegenleistungen ungenannt bleiben. Generell bat man die Vertreter der Medien darum, sämtliche Informationen vertraulich zu behandeln, die wesentlich über Tatsachenberichte von Häftlingsentlassungen an sich hinausgingen.14 Eine andere Frage ist, wie lange und bis zu welchem Grade Presse und Rundfunk diesem Wunsch der Bundesregierung entsprachen. Tatsächlich schwand seit Mitte der siebziger Jahre die Bereitschaft der Medien, auf Berichte über das Thema zu verzichten. Die teils neu gegründeten, in der Öffentlichkeit agierenden Menschenrechtsorganisationen sahen sich ohnehin nicht dazu verpflichtet. Im Gegenteil waren sie der Auffassung, dass erst die öffentlichen Berichte über die Schicksale von Inhaftierten deren Entlassung bewirken würden. Das Schweigen über Einzelfälle, so ihr Vorwurf, führe vielmehr dazu, dass sich die DDR den Verpflichtungen entziehen könne, die sie selbst mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen und der Unterzeichnung der KSZESchlussakte eingegangen war. 11 Vermerk Rehlingers, 19.5.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 388. 12 1959 beispielsweise sagte das Gesamtdeutsche Ministerium gegenüber der CIA zu, es werde bezüglich der bevorstehenden Auflösung der Westberliner KgU die Chefredakteure der Westberliner Zeitungen und die Berlin-Korrespondenten aller großen Westdeutschen Zeitungen einbestellen und sie darum ersuchen, nur zurückhaltend über den Vorgang zu berichten, Depeschen v. 2., 17. u. 21.2.1959; National Archives and Records Administration, Record Group 263 (Records of the CIA), File DTLINEN, Vol. 2, Folder 2, Box 33. Mein Dank für diesen Hinweis gilt Enrico Heitzer, dessen Studie zur KgU (Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU): Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948–1959) demnächst erscheint. 13 Böllke, Joachim: Der Handel mit Häftlingen. In: Der Tagesspiegel v. 9.10.1964. 14 Vermerk Rehlingers, 16.9.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 564 f.
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Gerade weil die DDR empfindlich auf Medienberichte jeglicher Art reagierte, überrascht es, dass diese weitaus mehr darüber berichteten als bisher vermutet. Tatsächlich verging von 1964 an kein Jahr, in dem nicht zumindest eine Notiz über den »Freikauf«, »Loskauf« oder die »Auslösung« von politischen Häftlingen aus der DDR in der West-Presse erschien. Dabei wandelten sich Umfang und Qualität der Behandlung des Themas im Laufe der Jahre. Deutlich tritt auch hier die Zäsur des Jahres 1972 zutage, in dem die beiden Staaten den Grundlagenvertrag schlossen und das Verhältnis auf eine öffentliche, quasi-zwischenstaatliche Ebene gehoben wurde. Hatte es bis 1972 nur vergleichsweise wenige Presseberichte oder -kommentare gegeben, in denen das Verfahren überdies mehrheitlich gutgeheißen wurde, änderte sich dies in der zweiten Phase des Freikaufs zwischen 1972 und 1989.15 Die mediale Berichterstattung verbreiterte sich, und die gelegentlich aufflammenden Kontroversen über das Thema gewannen an Schärfe.
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Im »medialen Halbdunkel«, 1964–1972
Infolge der Presseberichte, durch die im Oktober 1964 die wirtschaftlichen Gegenleistungen bekanntgeworden waren, brach die DDR die Verhandlungen über eine Folgevereinbarung ab. Erst nachdem die Kirchen ihre Dienste als Vermittler angeboten hatten, erklärte sich die DDR zu einer Wiederaufnahme der Gespräche bereit. Bischof Kunst, Prälat Wissing und Staatssekretär Krautwig trafen die »striktesten Abmachungen« über die Geheimhaltung und sorgten dafür, dass der Kreis der Eingeweihten in Bonn weiter verkleinert wurde.16 Die stillschweigende Übereinkunft zwischen der Bundesregierung und den Medien stand bereits im Jahr darauf vor einer Bewährungsprobe. Bischof Kunst hatte einen Hinweis erhalten, dass das ARD-Polit-Magazin »Monitor« in seiner Ausgabe zum vierten Jahrestag des Mauerbaus beabsichtige, einen Beitrag über einige von ihren Eltern getrennte Kinder in der DDR zu senden. Besondere Brisanz gewann die Sache dadurch, dass es sich bei dem Redakteur der Sendung zugleich um den Vater der Kinder handelte. Er hatte sich als Reporter des DDR-Fernsehens am 13. August 1961 mit seiner Frau in WestBerlin aufgehalten, war danach nicht in die DDR zurückgekehrt und kämpfte 15 Die Pressedokumentation des Deutschen Bundestages, die täglich eine Vielzahl an überregionalen und regionalen deutschen sowie internationalen Tageszeitungen und einige Rundfunkkommentare auswertete, registrierte für 1964 rd. 130 Einzelberichte, im Zeitraum von 1965 bis 1970 hingegen lediglich 42, die sich zudem schwerpunktmäßig auf wenige Tage konzentrierten. Danach wurde die Berichterstattung wesentlich breiter, die entsprechenden Ordner beinhalten insgesamt weit über 700 Artikel. Mit der Fernsehberichterstattung verhielt es sich vermutlich ähnlich. 16 Kunst u. Wissing an Mende, 25.4.1966; DzD BesBem Bd. 1, S. 302.
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seitdem hartnäckig um die Ausreise seiner Kinder. Bischof Kunst, der eine Kopie des Beitrag vorab gesehen hatte und ihn als »brillant gemacht« lobte, war sich indes sicher, dass im Falle der Ausstrahlung für den gerade erst wieder angelaufenen Freikauf »sofort die Tür in das Schloß geworfen« worden wäre.17 Bischof Kunst nutzte seine Verbindung zum amtierenden ARDVorsitzenden Werner Hess, der bis 1960 zugleich Filmbeauftragter der EKD gewesen war, und überzeugte ihn davon, die Sendung abzusetzen. Kunst war sich bewusst, dass er damit ein hohes Risiko einging. Gegenüber Rechtsanwalt Stange bemerkte er, es gebe nur wenige Dinge, durch die auch er »seinen Beruf so radikal ruinieren« könne wie durch eine »scheinbare ›klerikale Zensur‹ eines öffentlich rechtlichen, unabhängigen Institutes«. Auch der Intendant könne »sehr leicht am nächsten Tag auf der Straße stehen«, falls die Sache bekanntwerden sollte. Kunst bat Stange daher inständig, bei Vogel darauf zu drängen, dass der Ausreiseantrag für die beiden Kinder des Redakteurs »außerhalb der Reihe bevorzugt erledigt« werde. Solange dies nicht geschehen sei, werde die Gefahr einer Veröffentlichung und damit eines erneuten Verhandlungsabbruchs nicht gebannt sein. Der Redakteur sei in den Rundfunkanstalten bestens vernetzt. Offensichtlich hatte Kunsts Insistieren Erfolg, die Sendung wurde nicht ausgestrahlt.18 Trotz aller Bemühungen um Diskretion erschienen im Sommer 1965 Presseberichte über die laufenden Entlassungen. Die Neue Zürcher Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die Welt und die Christ und Welt meldeten Ende August, dass erneut politische Häftlinge in die Bundesrepublik entlassen worden seien.19 Ihre Gesamtzahl betrage etwa 1 500, Bonn habe dafür »beträchtliche ökonomische Leistungen« erbracht.20 Die SZ überschrieb ihren Kommentar mit der Frage »Der Mensch als Ware?« und konstatierte, dass man die Fortsetzung des Handels mit Ost-Berlin »aus menschlichen Beweggründen […] wohl oder übel hinnehmen« müsse, sich aber dennoch die Frage aufdränge, »wo das alles noch hinführen könnte«.21 Christ und Welt sekundierte ihr darin, dass man »nichts unversucht lassen« dürfe, um die politischen Häftlinge freizubekommen.22 Da Regierungsstellen keinen Kommentar zu den Meldungen abga-
17 Kunst an Stange, 18.8.1965; ebenda, S. 268 f. Obendrein enthielt der Beitrag angeblich ein Interview mit Erich Mende, was die DDR wohl als Bruch der vereinbarten Vertraulichkeit aufgefasst hätte. 18 Ebenda. 19 »Austausch politischer Gefangener in Berlin«. In: NZZ v. 23.8.1965. 20 Ebenda. 21 »Der Mensch als Ware?« und »Zone entlässt politische Häftlinge«. In: SZ v. 23.8.1965. 22 »Ulbrichts weiche Welle. Häftlinge freigekauft«. In: Christ und Welt v. 27.8.1965.
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ben, wirkten sich die Berichte nicht negativ auf die laufenden Verhandlungen aus.23 Nach Abschluss der Freikaufsvereinbarung des Jahres 1965, die nach Mendes Auffassung zugleich die letzte sein sollte, erstattete der Minister dem Bundestagsausschuss für Gesamtdeutsche Fragen einen detaillierten Bericht, wohl um diesen Erfolg seiner Regierungsarbeit gegenüber den Abgeordneten ins rechte Licht zu rücken. Zwar beschloss der Ausschuss, die Ausführungen Mendes nicht ins Protokoll aufzunehmen und die gesamte Sitzung als vertraulich einzustufen, doch war der Teilnehmerkreis mit über 70 Personen zu groß, um sichere Gewähr dafür zu bieten.24 Der Spiegel berichtete denn auch wenig später unter der Überschrift »Menschenhandel« über Mendes Vortrag. Dieser habe dem Ausschuss mitgeteilt, dass sich die Gesamtzahl der 1964 und 1965 ausgelösten Häftlinge auf 2 600 Personen belaufe, für die Waren im Wert von 97 Millionen DM geliefert worden seien. Die Aktion sei »vorläufig abgeschlossen« und überhaupt nur durch die »Solidarität der Presse« möglich gewesen, da sie das Thema »pfleglich« behandelt habe.25 Das Gesamtdeutsche Ministerium wurde daraufhin von Journalisten mit Anfragen um Bestätigung der Meldung bestürmt. Ein Pressesprecher erklärte lediglich, dass die Bundesregierung keinen Kommentar dazu abgebe, schränkte die Aussage aber insofern ein, dass sie den Bericht auch nicht dementiere.26 Neben der FAZ griffen der Bonner General-Anzeiger und die WAZ die SpiegelMeldung auf, im Sonntagsblatt karikierte Jupp Wolter den SED-Chef in der Rolle des »billigen Jakob«, der Bonn erneut seine »unbeschränkt lieferbare« Ware preisgünstig feilgeboten habe (Abb. 30). Auch die ausländische Presse widmete sich dem Thema. Durchweg betrachtete sie Motive der Bundesregierung mit Wohlwollen. Der »Loskauf von Gefangenen« sei immerhin »eine alte christliche Tugend«, die DDR hingegen beweise damit, dass es sich nach wie vor um »eine Zwangsherrschaft« handele. Im Übrigen sei es bezeichnend, dass ausgerechnet jenes Regime Menschen verkaufe, das die eigenen Bürger gewaltsam von der Flucht abhalte.27 Auf die Fortsetzung der Geheimverhandlungen hatten die Presseberichte zunächst keine negativen Auswirkungen. Kaum zwei Wochen später signalisierte die DDR über Rechtsanwalt Stange ihre Bereitschaft, über weitere Ent-
23 Zumindest enthalten die zugänglichen Akten keinen Hinweis auf Proteste der DDR. 24 PA, AGBF, 5. WP, 2. Sitzung am 20.1.1966, S. 32. 25 »Menschenhandel«. In: Der Spiegel v. 31.1.1966, Nr. 6. 26 »Die Freilassung politischer Zonen-Häftlinge«. In: FAZ v. 2.2.1966. 27 Eidlitz, Johannes: Loskauf der Gefangenen. In: Die Presse (Wien) v. 3.2.1966. Weitere Artikel erschienen in der Times (1.2.1955), New York Times (1.2.1966), Die Tat (Zürich, 1.2.1966), Basler Nachrichten (2.2.1966), NZZ (3.2.1966).
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
lassungen zu verhandeln.28 Allerdings mussten sich Bischof Kunst und Prälat Wissing bei der formalen Wiederaufnahme der Gespräche im April 1966 von der DDR »die unangenehmsten Vorhaltungen« darüber machen lassen, dass es seitens der Bundesregierung zu dieser Indiskretion gekommen war. Kunst und Wissing beschwerten sich daraufhin schriftlich bei Mende. Trotz der ausdrücklichen Zusicherung des Staatssekretärs, nur die drei Fraktionsführer im Bundestag zu unterrichten, habe er das Plenum des Gesamtdeutschen Ausschusses darüber in Kenntnis gesetzt, ohne sich vorher mit den Kirchen abzustimmen. Dieses Verhalten sei schlicht Wortbruch. Außerdem wäre es »gegen alle Erfahrung« gewesen, wenn Mende geglaubt habe, dass die in einer derart großen Runde weitergegebenen Informationen hätten geheim bleiben können.29 Mende wies den Vorwurf der Bischöfe zurück. Zwar bedauere er die Indiskretionen, doch wären sie nicht zwangsläufig zu erwarten gewesen. Außerdem könne »die rückhaltlose Unterrichtung« des Gesamtdeutschen- und des Haushaltsausschusses auch künftig dem Ziel, die notwendigen Mittel zu beschaffen, nur förderlich sein.30 Indes erhielt Mende keine weitere Gelegenheit zu einem solchen Bericht, da er mit dem Scheitern der bürgerlichen Koalition im Herbst 1966 aus dem Amt schied. Jedoch konnte er in den letzten Monaten seiner Amtszeit noch einen besonderen menschlichen und in gewisser Hinsicht auch publizistischen Erfolg verbuchen. Im September 1966 gelang es, den zu lebenslanger Haft verurteilten Fluchthelfer Harry Seidel freizukaufen. Da die Zeitungen ausführlich über den Prozess, das Urteil und die öffentlichen Protestaktionen für seine Freilassung berichtet hatten, blieb die Entlassung dieses »prominenten« Häftlings nicht unbemerkt. Ludwig Rehlinger stellte mit unverhohlener Befriedigung fest, dass die Bemühungen der Bundesregierung um menschliche Erleichterungen durch Seidels Entlassung dadurch »weithin offenbar« würden. Gleichzeitig blieb dabei die von der DDR geforderte Diskretion gewahrt, da die Presse nichts über die Gründe für Seidels Entlassung berichtete. Da er »nur« vier Jahre seiner lebenslangen Haftstrafe hatte verbüßen müssen, lag es aber auf der Hand, dass Aktivitäten der Bundesregierung ursächlich dafür waren.31 Gegenüber dem Gesamtdeutschen Ausschuss verkündete Mende wenig später, dass Harry Seidel im Rahmen einer Entlassungsaktion »auf dem üblichen Weg [sic!]« freigekommen sei.32
28 Vermerk Rehlingers, 18.2.1966: DzD BesBem Bd. 1, S. 294. 29 Kunst u. Wissing an Mende, 25.4.1966; ebenda, S. 302. 30 Mende an Kunst u. Wissing, 4.5.1966; ebenda, S. 303 f. 31 Vermerk Rehlingers, 6.9.1966; BArch-K, B 137/19976, Bl. 21 f. (AS-DzD); »Schweigen zu Entlassungen«. In: Die Welt v. 17.9.1966. 32 Ausführungen Mendes; PA, AGBF, 5. WP, 10. Sitzung am 22.9.1966, S. 9.
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V Der Freikauf und die Öffentlichkeit
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Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger neigte Mendes Nachfolger Herbert Wehner weitaus weniger zu Indiskretionen. Wehner hielt es nicht für nötig, Erfolgsmeldungen über die Freilassung politischer Gefangener für politische Profilierungszwecke zu nutzen. Vor dem Gesamtdeutschen Ausschuss erklärte Wehner sogar, dass »jeder, der über Gefangenentransporte in der Presse berichte, dem Abbruch dieser Aktion Vorschub« leiste.33 Rehlingers Vorschlag, negative Presseberichte durch die vertrauliche Unterrichtung einiger Journalisten noch vor Beginn der Entlassungen abzuwenden, griff Wehner nicht auf. Er schloss sich vielmehr der Einschätzung seines Staatssekretärs an, dass die Gefahr von Indiskretionen dadurch nur wachse. Die Gegenseite könne den Bruch der Geheimhaltung dann dem Ministerium vorhalten.34 Ohnehin versuche die DDR, Pressemeldungen dazu auszunutzen, um »mit gespielter Entrüstung die Forderungen für die Entlassung weiterer Gefangener in die Höhe zu treiben«.35 Ende August 1967, als die Entlassung der vereinbarten Häftlinge begann, erschienen erneut Presseberichte über die Einreise von politischen Häftlingen in die Bundesrepublik, darunter auch in der Bild am Sonntag unter der Überschrift »Neue nächtliche Geheimaktion an der Zonengrenze bei Herleshausen – Ein Wäldchen war der Wartesaal zur Freiheit«.36 Ein Sprecher des Gesamtdeutschen Ministeriums bestätigte auf entsprechende Anfragen, dass Inhaftierte »bei Bemühungen beider Seiten um menschliche Erleichterungen« in die Bundesrepublik gekommen wären. »Im Interesse der Aktion und der Betroffenen« sei es jedoch nicht möglich, Näheres mitzuteilen.37 Die SZ ergänzte die Meldung jedoch um die Information, aus »unterrichteten Kreisen« sei zu erfahren, dass die Bundesregierung der DDR wie schon zuvor Warengutscheine zur Verfügung gestellt habe.38 Die FAZ hatte dafür nur die beißende Bemerkung übrig, dass die Auslösung von Gefangenen »unter rein fiskalischen Gesichtspunkten« zwar historisch gesehen keinen Neuigkeitswert besitze, doch müsse man es »den Zonenbehörden lassen, dass sie das bisher sorgfältigste System in diesen alten Brauch gebracht« hätten.39
33 Ausführungen Wehners; PA, AGBF, 5. WP, 24. Sitzung am 5.10.1967, S. 6. 34 Vermerk Rehlingers, 19.5.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 388. 35 Ausführungen Wehners; PA, AGBF, 5. WP, 24. Sitzung am 5.10.1967, S. 8. 36 Kahl, Werner; Hoffmeyer, Gerhard: Neue nächtliche Geheimaktion an der Zonengrenze bei Herleshausen – Ein Wäldchen war der Wartesaal zur Freiheit. In: Bild am Sonntag v. 20.8.1967, zit. nach: Kny, Benno: Verraten und verkauft. Zeitzeugnis aus Deutschlands Ost und West. Gerlingen 2005, S. 125. 37 »Auslösung von Häftlingen in der DDR«. In: NZZ v. 22.8.1967. 38 »Schweigen über Häftlingsfreilassung«. In: SZ v. 22.8.1967. Weitere Berichte erschienen u. a. in der Welt, Bonner Rundschau, dem Handelsblatt und der Times. 39 »Gnade – fiskalisch«. In: FAZ v. 2.9.1967.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Die Reaktion der DDR folgte prompt. Vogel beschwerte sich schriftlich bei Stange über die angeblich »amtlich gezielte[n] und noch dazu detaillierte[n] Hinweise […] an die Presse«, die die Fortsetzung der Aktion »akut gefährden« würden. Die »Toleranz« seiner Seite gehe allmählich zu Ende.40 Das Gesamtdeutsche Ministerium ließ sich davon indes nicht blenden. Rehlinger stufte das Schreiben als »typischen« Nötigungsversuch ein. Die DDR wisse genau, dass sich Presseberichte nicht verhindern ließen. Rehlinger setzte sich mit Vogel in Verbindung und erklärte ihm, dass das Ministerium keinerlei Informationen an die Medien weitergegeben habe und die Anschuldigungen daher grundlos seien.41 Auch als die Entlassungen gegen Jahresende 1967 beendet waren, erschienen wiederum Berichte in der Presse. Der Kölner Express titelte »Bonn erlöst 450 DDR-Häftlinge« und bezifferte die Gegenleistung auf 20 Millionen Mark.42 Eine ähnliche Meldung erschien zwar sogar in der Bild am Sonntag, doch blieben diese Berichte weitgehend folgenlos für die Fortsetzung des Freikaufs.43 Noch in Wehners Amtszeit versuchte die DDR, die vereinbarte Vertraulichkeit hinsichtlich des Freikaufs als Hebel zu nutzen, um mediale Berichterstattung im Westen über das Thema der politischen Justiz in der DDR zu unterbinden. Der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UfJ), ein Westberliner Verein, der Informationen über die politischen Verurteilungen in der DDR sammelte, hatte im Vorfeld des 13. August 1968 wie jedes Jahr eine Pressemitteilung herausgegeben, laut derer DDR-Gerichte über 6 700 politische Strafurteile seit dem Mauerbau ausgesprochen hätten. Der Tagesspiegel griff den Bericht auf, kurz nachdem die vereinbarten Entlassungen begonnen hatten. Wenig später meldete sich Vogel bei Stange und protestierte über die angebliche »Unrichtigkeit« des »Zahlenwerkes«. Die Bundesregierung könne auf ihren namentlichen Wunschlisten ja nicht einmal 500 politische Urteile nachweisen. Da der UfJ außerdem vom Gesamtdeutschen Ministerium finanziert werde, solle die Bundesregierung »auf die Vermeidung« derartiger Vorgänge hinwirken, die nachteilig für die Kontakte auf Anwaltsebene seien.44 Rehlinger war alarmiert ob dieses Erpressungsversuchs. Die Gegenseite, schlussfolgerte Rehlinger, wolle das westliche Interesse an der Fortführung des Freikaufs dazu ausnutzen, um künftig nicht nur Meldungen über den Freikauf, sondern generell die Berichterstattung über die politische Justiz in der DDR an sich zu ersticken. Hier dürfe man nicht nachgeben. Schließlich seien 40 41 42 43 44
Vogel an Stange, 21.8.1967; EZA, 742/280. Vermerk Rehlingers, 22.8.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 455 f., Anm. 3. »Bonn erlöst 450 Häftlinge«. In: Expreß v. 15.1.1968. Vermerk Völckers, 15.1.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 492. Vogel an Stange, 14.8.1968; ebenda, S. 555.
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V Der Freikauf und die Öffentlichkeit
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die politischen Verurteilungen in der DDR der Grund für den Freikauf, nicht umgekehrt. Im übrigen wäre der Vorwurf, dass man im Westen ja nicht einmal 500 politische Strafurteile kenne, »lächerlich und böswillig«.45 Rehlinger formulierte in Abstimmung mit Stange ein Antwortschreiben. Im Ton höflich, aber in der Sache unnachgiebig wies er die Vorwürfe zurück. Weder habe das Ministerium den UfJ informiert, noch finde die übrige Kritik eine »Stütze in den Realitäten«. Dass sich der Westen bisher stets um eine sachliche Betrachtung bemüht habe und auch weiterhin an den Verhandlungen auf Anwaltsebene interessiert sei, solle Vogel »nicht verkennen«.46 Offenbar entfaltete diese Reaktion ihre gewünschte Wirkung, da es bei diesem einen Erpressungsversuch blieb. Je mehr die Hilfsmaßnahmen in Wehners Amtszeit allmählich ihren Ausnahmecharakter verloren, akzeptierte die DDR »langsam und spät«, dass die Möglichkeiten der Bundesregierung zur Unterbindung von Berichten der Medien nur begrenzt waren.47 Auch nach dem Regierungswechsel 1969 kamen diese dem Wunsch der Bundesregierung zur Diskretion weitgehend nach. Als die Bild am Sonntag im August 1971 über den vom Innerdeutschen Ministerium ausgehandelten »größten Häftlingsaustausch seit der Teilung Deutschlands« berichtete,48 stufte der Spiegel den Vorgang als »eines jener Routine-Geschäfte« ein, welche »im politischen Halbdunkel seit Jahren abgewickelt« würden.49
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Ein offenes Geheimnis, 1972–1989
Im Bundestagswahlkampf 1972 trat der Häftlingsfreikauf erstmals seit den ausführlichen Presseberichten im Sommer und Herbst 1964 aus jenem »politischen Halbdunkel« wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Bild und Bild am Sonntag, die Flaggschiffe des Springerkonzerns, berichteten Ende September 1972 über die Entlassung zweier MfS-Spione aus der Untersuchungshaft in die DDR.50 Dabei verdächtigten die Blätter die Bundesregierung, keine 45 Vermerk Rehlingers, 20.8.1968; ebenda, S. 559; Vermerk Rehlingers, 6.9.1968; ebenda, S. 560 f.; Vermerk Rehlingers, 16.9.1968; ebenda, S. 563 f. 46 Stange an Vogel, 7.10.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 572 f. 47 Vermerk Rehlingers, 30.5.1969; ebenda, S. 627. Eine andere Sache ist, dass der Aspekt der politischen Justiz in der DDR in den siebziger und achtziger Jahren infolge der Neuen Ostpolitik und der Wandlung des DDR-Bildes zunehmend aus dem Blickfeld der westdeutschen Öffentlichkeit geriet. 48 »Atomspion ohne Prozeß ausgetauscht. Nächtliche Geheimaktion an der Zonengrenze. Agenten werden auf Wunsch Ost-Berlins freigelassen«. In: Bild am Sonntag v. 29.8.1971. 49 »Spione. Dicke Fische«. In: Der Spiegel v. 20.9.1971, Nr. 39. 50 Ließ Ehmke Star-Spionin eigenmächtig frei? In: Bild Berlin v. 25.9.1972; vgl. Liste der Entlassungen aus Gefängnissen der Bundesrepublik, 9.5.1974; HGWS, HF 38.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Gegenleistungen von Ost-Berlin dafür verlangt zu haben. Egon Franke, seit 1969 Innerdeutscher Minister, reagierte verärgert. Gegenüber einem dpaKorrespondenten, der ihn in der Absicht angerufen hatte, von offizieller Seite eine Bestätigung der Meldung zu erhalten, wies der Minister die Behauptungen zurück. Offenbar im Affekt gab er dem Journalisten die Auskunft, die DDR habe im Gegenzug »mehr als hundert politische Häftlinge in die Bundesrepublik freigelassen«. Die Entlassungen seien »unter Abwägung vor allem des Gesichtspunktes der humanitären Verpflichtungen« von den beiden Rechtsanwälten Jürgen Stange und Wolfgang Vogel ausgehandelt worden.51 Überzeugen konnten Frankes Angaben indes nicht. Die Zeit hielt sie »in dieser Schlichtheit« für »freilich unwahrscheinlich«, in Wahrheit sei wohl noch »eine beträchtliche Auslösesumme hinzugezahlt« worden.52 Frankes Äußerungen hielten sich noch halbwegs im Rahmen dessen, was die Bundesregierung auch in früheren Jahren über ihre Gegenleistungen preisgegeben hatte. Dennoch lenkte er damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Frage, wie das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung im Bereich der »Besonderen Bemühungen« bisher ausgesehen hatte und wie es insbesondere nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages mit der DDR künftig aussehen sollte. Schließlich spielte die Frage der Leistungen der Bundesregierung und der Gegenleistungen der DDR in den Wahlkampfauseinandersetzungen eine zentrale Rolle. Während die Bundesregierung den von Egon Bahr ausgehandelten Vertrag als ausgewogen verteidigte, konnte ihm die Opposition nur wenig Gutes abgewinnen. Rainer Barzel, Kanzlerkandidat der CDU/CSU, warf der Bundesregierung vor, die DDR habe ihre wichtigsten Forderungen durchsetzen können, wohingegen die Forderungen der Bundesregierung nur in Begleittexten oder -Erklärungen wie dem »Brief zur Deutschen Einheit« verankert worden seien. Unter dem Strich gebe die Bundesregierung mehr, als sie im Gegenzug von der DDR erhalte.53 In der Endphase des Wahlkampfes geriet daher die heikle Frage der Gegenleistungen in die Wahlkampfauseinandersetzung. Anfang November 1972, als die vom DDR-Staatsrat wenige Wochen zuvor verkündete Amnestie »für politische und kriminelle Straftäter« im Gange war,54 verkündete Egon Franke, dass die Bundesregierung bis Jahresende die Ausreise von mehreren tausend 51 Knape, Horst: »Gefangenenaustausch. Geschäft im Halbdunkel«. In: Stern v. 4. bis 10.10.1972, Nr. 42. 52 Nawrocki, Joachim: »Innerdeutscher Austausch. Zwei für Hundert«. In: Die Zeit v. 29.9.1972. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um die »Gravierende Aktion« 1972, für die Waren im Wert von 19,3 Mio. DM geliefert wurden. Vgl. Kap. III.3. 53 Tiggemann, Anselm: CDU/CSU und die Ost-und Deutschlandpolitik 1969–1972. Zur »Innenpolitik der Aussenpolitik« der ersten Regierung Brandt/Scheel. Frankfurt/M. 1998, S. 143–147. 54 Raschka: Justizpolitik, S. 59.
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V Der Freikauf und die Öffentlichkeit
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amnestierten Häftlingen und von über 700 Ausreisewilligen erwarte. Hier habe die Bundesregierung »menschliche Erleichterungen« erreichen können, um die sich »diese und frühere Bundesregierungen bisher vergeblich bemüht« hätten.55 Bei der Opposition stieß Frankes Erfolgsmeldung auf Missfallen. Wie die Welt berichtete, wurde aus »Kreisen der CDU-Führung« der Vorwurf laut, die SPD habe sich über das bisher gültige Schweigegebot »hinweggesetzt, um parteipolitisches Kapital aus menschlichen Schicksalen schlagen zu können«.56 Die Auseinandersetzungen eskalierten schließlich in der Woche vor dem Wahlsonntag. Am Mittwoch, den 15. November, titelte die Bild »Wie teuer die ›menschlichen Erleichterungen‹ wirklich sind«57 und die gleichfalls im Axel-Springer-Verlag erscheinende Welt berichtete, Bonn zahle für die Ausreise amnestierter Häftlinge 40 Millionen DM und für die Ausreise von 308 Kindern weitere knapp 20 Millionen DM in Form von Warenlieferungen an die DDR. Überdies war der Meldung zu entnehmen, dass seit dem Ende der Kanzlerschaft Adenauers insgesamt 7 000 Gefangene freigekauft worden seien, für die die DDR im Durchschnitt 40 000 DM pro Kopf erhalten habe.58 Egon Franke bezichtigte die Springer-Blätter Bild und Welt, dass ihre Meldungen »falsch und irreführend« seien. Die Bundesregierung habe sowohl für die Amnestierung der politischen Häftlinge als auch für ihre Ausreise in die Bundesrepublik und erst recht für die Kinder »keinen Pfennig gezahlt« und werde es auch künftig nicht tun. Die Meldungen über die angebliche Zahlung von 60 Millionen DM für Häftlinge und Kinder seien »unwahr« sowie »falsch und irreführend«. Hier solle wohl versucht werden, die »auf menschliche Erleichterungen gerichtete Politik der Bundesregierung zu diskreditieren«.59 Ihren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung noch am gleichen Tag in der Fernsehdebatte der vier Parteivorsitzenden Willy Brandt (SPD), Walter Scheel (FDP), Rainer Barzel (CDU) und Franz Josef Strauß (CSU). Die von ARD und ZDF gemeinsam ausgestrahlte Diskussionsrunde »Vier Tage vor der Wahl« zur Hauptsendezeit um 20.15 Uhr drehte sich zunächst um die Deutschlandpolitik, insbesondere den Grundlagenvertrag. Barzel kritisierte die vorgeblichen Erfolge der Regierung auf dem Gebiet der humanitären Bemühungen, für die in Wahrheit doch wohl Geld gezahlt worden sei. Er sei zwar nicht gegen den Freikauf von Menschen, das habe ja »eine Vorgeschichte«, wie 55 »Mehrere tausend Aussiedler in der BRD erwartet«. In: Parl.-Polit.-Pressedienst v. 6.11.1972. 56 »Entlassung von 600 Häftlingen aus der ›DDR‹ erwartet«. In: Die Welt v. 7.11.1972. 57 »Damit ›DDR‹-Kinder zu ihren Eltern dürfen: Bonn zahlt 19 Millionen Lösegeld«. In: Bild (Berlin-Ausgabe) v. 15.11.1972. 58 »Freikauf durch Warenlieferungen. ›DDR‹ verlangt für Häftlinge und Kinder 60 Mio. Mark«. In: Die Welt v. 15.11.1972. 59 »Franke: Springer-Meldungen sind falsch und irreführend«. In: Parl.-Polit.-Pressedienst v. 15.11.1972.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
jedermann wisse, doch solle man »was mit Geld zu machen ist, mit Geld machen« und dies nicht als freiwillige politische Gegenleistungen der DDR bezeichnen.60 Franz Josef Strauß schloss sich Barzels Kritik an und wies auf die Vorreiterrolle der unionsgeführten Vorgängerregierungen auf diesem Gebiet hin. Barzel habe schließlich »seinerzeit damit angefangen, Menschen von drüben herüberzuholen«, unterstrich Strauß und fügte hinzu: »Wir haben in der Großen Koalition, vielleicht erinnern sie sich, diese Politik fortgesetzt, ohne davon viel Aufhebens zu machen. Ich habe als Bundesminister der Finanzen in Ausübung meiner Kompetenzen überplanmäßig eine beträchtliche Zahl von Millionen zur Verfügung gestellt, um eine große Zahl von Häftlingen drüben freizubekommen.«
Außenminister Scheel wies die in der Presse erhobenen Vorwürfe zurück. Es stimme nicht, dass für »irgendwelche Umsiedlungen« oder gar die Ausreise von Kindern Millionensummen gezahlt worden seien. Willy Brandt, der sich auf die Versicherungen seines Unterhändlers Egon Bahr verließ, die DDR habe der Beendigung des »unwürdigen Verfahrens« des Häftlingsfreikaufs einschließlich der Bezahlung von Ausreisen zugestimmt, wies darauf hin, dass der Vertrag das Ende des Freikaufs einläute, für den früher »sehr viel Geld ausgegeben worden« sei. »Der Grundlagenvertrag«, erklärte Brandt, »leitet eine Entwicklung ein, in der dieses besonders makabre Kapitel abgeschlossen wird, durch das man Leute herauskaufen musste. Ich war ja dafür, dass man’s getan hat und Sie [d. h. Barzel] haben es gemacht, die anderen Gesamtdeutschen Minister haben es gemacht – wir kommen zu besseren Verhältnissen.«
Ferner erklärte Brandt, dass sämtliche Behauptungen über »irgendwelche finanziellen Zusagen und Leistungen« im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag unzutreffend seien. Barzel hielt dem Kanzler daraufhin eine dpaMeldung vor, derzufolge Egon Franke »nicht dementiere«, dass »im Zusammenhang mit humanitären Aktionen und mit der Familienzusammenführung Geldleistungen von Bonn erbracht« würden.61 Während Brandt seine Erklärung wiederholte, dass keine Zahlungen im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag an die DDR geleistet würden, bekräftigte Barzel seine Kritik: »Ich habe […] nichts gegen Geld für Humanität, denn damit habe ich angefangen
60 Für die folgenden Zitate siehe »Vier Tage vor der Wahl«, 15.11.1972, ARD/ZDF, 20:15 Uhr. 61 Dpa-Meldung v. 15.11.1972, zit. nach: »Bonn: Keine Lösegelder an die DDR«. In: FAZ v. 16.11.1972.
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V Der Freikauf und die Öffentlichkeit
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[...] aber so zu tun, als gebe es jetzt Humanität für einen Vertrag, wenn es Humanität in Wirklichkeit für Geld gibt, dies ist nicht aufrichtig.«62 Wichtiger als die Frage, welche Darstellung zutraf, war die Tatsache, dass sich die maßgeblichen Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien erstmals öffentlich und überraschend freimütig über den Häftlingsfreikauf geäußert hatten. Die Bedeutung der Fernsehdebatte lässt sich nur ermessen, wenn man die geradezu »phantastische« Einschaltquote der Sendung berücksichtigt. Begünstigt durch das Monopol der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und der starken Politisierung der Öffentlichkeit erreichte sie 58 Prozent, sodass mehr als 30 Millionen Zuschauer und damit circa die Hälfte aller Bundesbürger, wahrscheinlich auch eine beträchtliche Zahl von Zuschauern in der DDR die Sendung sahen.63 Eine Folgewirkung der Debatten im Wahlkampf 1972 war die allmähliche Erosion des bisher doch recht stabilen Konsenses zwischen Regierung, Opposition, Medien und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, über das Thema zu schweigen. Wenn sich selbst die Bonner Spitzenpolitiker ungeniert im Fernsehen über wahre und unwahre Behauptungen sowie ihre jeweiligen Verdienste stritten, dann bestand auch für die Medien kein Grund mehr zur Zurückhaltung. Westdeutsche, aber auch ausländische Print- und Rundfunkmedien 62 Tatsächlich bezahlte die Bundesregierung weder für die Amnestie selbst, noch für die Ausreise von Kindern. Ebenso traf es zu, dass es sich bei den von Brandt erwähnten 68 Mio. DM um private Unterhaltsbeträge für Kinder handelte. Wahrheitswidrig hingegen war die Behauptung Egon Frankes in der Sendung »Aktuelles am Mittag«, Bayerischer Rundfunk, 15.11.1972, 13:10, dass für die Ausreise der DDR-Bürger unter den Amnestierten sowie für sonstige Familienzusammenführungen kein Geld gezahlt würde. Im Gegenteil: Noch in der Woche vor der Fernsehdebatte hatte Stange seinem Verhandlungspartner Vogel in Bezug auf die Amnestierten bestätigt, dass »die vereinbarten Ausreisen bis Ende des Jahres 1972 im Wege der Familienzusammenführung verrechnet« würden, d. h. mit dem 1972 gültigen »Preis« von 20 000 DM pro Person, Stange an Vogel, 6.11.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 14; vgl. Vermerk Kunzes über ein Gespräch mit Stange, 5.12.1972: »Für die im Rahmen der Amnestie entlassenen Häftlinge wird nicht das übliche Entgelt für einen Häftling (Mindestens 40 000 DM) sondern ein Entgelt für die Übersiedelung in Höhe des Betrages für F-Fälle [d. h. Familienzusammenführungen] gezahlt (ca. 19 000 DM)«; LArchB, B Rep. 002, Nr. 15779. Die Gegenleistung für die 1 601 angerechneten »Amnestie-Ausreisen« (214 kriminelle Häftlinge wurden von der Gesamtzahl von 1 815 abgezogen) betrug 32,02 Mio. DM, Anlage 1 »Abrechnung für den Zeitraum 1971 bis 31.1.1973« zum Schreiben Stange an Vogel, 4.6.1973; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 7. Gleichfalls hatte das Innerdeutsche Ministerium Anfang Oktober 1972 insgesamt 19,36 Mio. DM für die dritte »Gravierende Aktion« für jene über 100 besonders schwer bestraften Häftlinge bereitgestellt, die im Zusammenhang mit einem Agentenaustausch entlassen worden waren. Abrechnung Volperts; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 43. 63 Müller, Albrecht: Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie. Beobachtungen zum Bundestagswahlkampf 1998 im Spiegel früherer Erfahrungen. Opladen 1999, S. 36; Weiß, HansJürgen: Wahlkampf im Fernsehen. Berlin 1976, S. 132; Münkel, Daniela: Willy Brandt und die »Vierte Gewalt«. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren. Frankfurt/M. 2005, S. 275– 277.
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berichteten fortan regelmäßig darüber. Eine unmittelbare Folge der Wahlkampfdebatte war, dass weitere Hintergründe über die Entstehungsgeschichte des Freikaufs bekannt wurden. Axel Springer, der sich bislang nicht zu seiner damaligen Vermittlerrolle geäußert hatte, brach in einem Interview mit der Kölnischen Rundschau sein Schweigen. Die Art und Weise, in der die Bundesregierung das Thema im Wahlkampf behandelt habe und der Umstand, dass sein Name in diesem Kontext bereits gefallen sei, mache sein Versprechen zur Diskretion nunmehr »gegenstandslos«. Ausführlich schilderte Springer das Zusammentreffen mit Vogel im Frühjahr 1963 und wie er dessen Offerte an die Bundesregierung weitergeleitet hatte. Rainer Barzel sei zwar ein »immer kühl erscheinender Mann«, doch habe er sich »mit einer Leidenschaft sondergleichen« für die Befreiung der politischen Häftlinge engagiert: »Tausende sind dank dieser Initiative inzwischen zu uns gekommen.«64 Axel Springer missbilligte es fortan nicht mehr, wenn Redakteure seines Hauses über den Freikauf berichteten. Bis 1989 verstrich kein Jahr, in dem nicht mindestens drei, manchmal sogar über zehn Meldungen in der Bild und der Welt über die Entlassung politischer Häftlinge nebst detaillierten Zahlenangaben erschienen.65 Die Informationen stammten teils aus nicht näher bezeichneten »unterrichteten Kreisen«, teils aus Pressekonferenzen oder -mitteilungen des Vereins »Arbeitsgemeinschaft 13. August« oder der »(Internationalen) Gesellschaft für Menschenrechte« (IGfM), die durch die Betreuung freigekaufter Häftlinge einen vergleichsweise realistischen Überblick über die Zahl der in Gießen eingetroffenen ehemaligen Häftlinge hatte. Auch die FAZ und die SZ brachten mindestens einmal jährlich eine Meldung über die Gesamtzahl der Freigekauften nebst einer Schätzung der gezahlten Summen.66 Allein dadurch wurde die Tatsache des Freikaufs zu einem offenen Geheimnis, das regelmäßigen Zeitungslesern auf Dauer nicht entgehen konnte. Springer persönlich sah die Aufgabe seiner Zeitungen in der aufmerksamen und zugleich unaufgeregten Begleitung des Freikaufs, den er weiterhin für notwendig hielt. Als die Bild im Herbst 1975, wenige Tage nachdem Vogel den »Vaterländischen Verdienstorden« erhalten hatte, einen Artikel mit der Überschrift »Herr Vogel, der Menschenhändler, der einen Orden kriegt« publizierte, wandte sich Stange mit der Bitte an Springer, solche »gehässigen Kommentare« und die Angriffe gegen den »Mensch Wolfgang Vogel« doch bitte beenden zu lassen.67 Springer antwortete Stange, er finde es zwar »nicht 64 »Kopfgeld für DDR-Häftlinge. ›Rundschau‹-Interview mit Verleger Axel Springer«. In: Kölnische Rundschau v. 17.11.1972. 65 Siehe exemplarisch »In diesem Jahr 1 425 Häftlinge freigekauft«. In: Die Welt v. 22.12.1982. 66 Siehe exemplarisch »1 034 Häftlinge aus der DDR freigekauft«. In: FAZ v. 24.12.1983. 67 Stange an Springer, 7.10.1975; HGWS, HF 74.
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überraschend, wenn ein standortbewußter Journalist das Wort Menschenhandel« gebrauche, »doch kommen wir damit nicht weiter, denn es geht eben um Menschen«. Der Vorwurf, Vogel bereichere sich persönlich, sei »völlig fehl am Platz«. Indirekt versicherte Springer, dass sich dies nicht wiederholen werde.68 Tatsächlich befassten sich die Berichte der Bild oder Bild am Sonntag fortan nur noch im Zusammenhang mit den Haftbedingungen in der DDR (»Ich mußte auf Beton schlafen, Essen war wie Schweinefutter«69) oder im Zusammenhang mit den spektakulären Agentenaustauschvorgängen (»Guillaume und 75 Millionen gegen 3 035 Menschen«70) mit dem Freikauf, der an sich jedoch nicht infrage gestellt oder in ein schlechtes Licht gerückt wurde. Während sich die Zeitungen des Springer-Konzerns in der Wertung des Freikaufs zurückhielten, regte sich seit der Fortführung der Freikaufspraxis im Jahr 1973 vereinzelt Kritik aus den Reihen der CDU-Opposition.71 Wortführer einer eher kleinen Gruppe von Abgeordneten, die diesen Weg ablehnten, war Erich Mende. Der frühere FDP-Vorsitzende und Gesamtdeutsche Minister hatte den FDP-Vorsitz 1968 an Walter Scheel übergeben und war 1970 im Protest gegen die Ostpolitik zur CDU-Fraktion übergetreten. Auslöser der Debatte im Herbst 1975, in deren Verlauf Mende seine Kritik erstmals öffentlich formulierte und dabei weitere Hintergründe über die Entstehung des Freikaufs bekannt wurden, waren Presseberichte. Die Welt hatte Ende August über angeblich höhere Geldforderungen Ost-Berlins für die Freilassung von Häftlingen berichtet72 und der Spiegel am 1. September eine zweiseitige Reportage über Wehners vertrauliche Treffen mit Vogel und dessen Verbindungen zur DDR-Regierungsspitze abgedruckt. Im Zuge des »deutsch-deutschen Menschenhandels« »zum Wohle der schmalen ostdeutschen Devisenkasse«, so der Spiegel, seien alleine 1974 rund 2 000 Personen für 40 000 DM pro Kopf freigekauft worden.73 Am gleichen Tag strahlte die ARD in der Reihe »Report« zur Hauptsendezeit einen Bericht über den Freikauf politischer Häftlinge aus. Obwohl man die »Notwendigkeit und humanitäre Berechtigung« dieser Sache nicht anzweifeln wolle, so der Moderator, sehe sich die Redaktion zu einer »Richtigstellung« veranlasst, weil die DDR anlässlich eines Fluchthelferprozesses die Bundesrepublik wieder einmal lauthals des »Menschenhandels« bezichtigt habe. 68 Springer an Stange, 8.10.1975; ebenda. 69 »Freigekaufte ›politische‹ Häftlinge erzählen, wie sie drüben gequält wurden«. In: Bild v. 9.9.1982. 70 »Erlöst durch Lösegeld«. In: Bild v. 28.9.1981. 71 »CDU gegen weiteren Häftlingsfreikauf«. In: Die Welt v. 11.10.1975. 72 »Ost-Berlin verlangt mehr Geld«. In: Die Welt v. 30.8.1975. 73 »Lieber im verborgenen«. In: Der Spiegel v. 1.9.1975, Nr. 36; »DDR. Faule Sache«. In: Der Spiegel v. 27.10.1975, Nr. 44.
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Erich Mende äußerte sich in dem Beitrag ausführlich über den Freikauf. Der ehemalige Vizekanzler schilderte das Zustandekommen der ersten großen Entlassungsaktion im Sommer 1964, die Warenlieferungen der Bundesregierung, die politische Absicherung der Maßnahmen durch die Bundestagsfraktionen, die Vereinbarung zur Geheimhaltung sowie seine damalige Weisung, die Hilfen nach einem vorher festgelegten Zeitraum zu beenden. Schließlich sollte daraus kein »Dauergeschäft« entstehen, das es der DDR ermögliche, Menschen nur deswegen zu verhaften, »um im Geschäft zu bleiben«.74 Mende wiederholte seine Ausführungen wenig später in der BBC. In dem Interview sprach er nunmehr sogar von einem »makabren Handel« und forderte dessen Beendigung, da er die DDR zur absichtlichen »Produktion« von Häftlingen ermuntere.75 Mende begründete seine Kritik mit der grundlegenden Änderung der politischen Umstände, seitdem beide deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen beigetreten waren und die Schlussakte der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) unterzeichnet hatten. Bestandteil des Vertragssystems war zum einen die UN-Charta der Menschenrechte sowie der sogenannte »Korb 3« der KSZE-Schlussakte, welcher die Teilnehmerstaaten zur Achtung der Menschenrechte verpflichtete. Wenn sich die Bundesregierung nicht dem Vorwurf »eines neuen Sklavenhandels« aussetzen wolle, so Mendes Schlussfolgerung, müsse sie die DDR vielmehr öffentlich dazu drängen, ihre vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen, anstatt ihr diese Leistungen wie bisher abzukaufen.76 Die Bundesregierung nahm die öffentliche Diskussion mit Missfallen auf. Carl-Werner Sanne, Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt, der im Sommer und Herbst 1975 mit Alexander Schalck-Golodkowski u. a. über die Transitpauschale verhandelte, berichtete dem Bundeskanzler, dass die »Indiskretionen« Besorgnis in Ost-Berlin ausgelöst hätten. Umgekehrt versicherte Sanne seinem Gesprächspartner Schalck-Golodkowski, dass Vorgänge dieser Art »für die Bundesregierung noch unerfreulicher seien als für die DDR«.77 Egon Franke, im Deutschlandfunk auf die Medienberichte angesprochen, tat die Kritik Mendes als »wenig hilfreich« ab. Die Bundesregierung habe eine Fürsorgepflicht und müsse jede Möglichkeit nutzen, politische Häftlinge zu befreien. Im Übrigen seien durch diese Bemühungen im jährlichen Durchschnitt 1 200 Einzelfälle »gelöst« worden.78 Im Sonntags-Politmagazin des ZDF, den »Bon74 »Report«, ARD, 1.9.1975, 20:15 Uhr. 75 »Mende fordert Beendigung des Freikaufs von DDR-Häftlingen«. In: Der Tagesspiegel v. 25.9.1975. 76 Mende an G., 4.11.1975; LArchB, B Rep. 002, Nr. 22742. 77 Sanne an Schmidt, 5.9.1975; DzD VI/4 (1975/76), Nr. 92, S. 364. 78 Interview mit Egon Franke. In: Deutschlandfunk, 12.9.1975, Transkript in: BArch-K, B 137/15780.
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ner Perspektiven«, wies Franke die Kritik Mendes ausdrücklich zurück. Man müsse sich nun einmal mit der Wirklichkeit pragmatisch arrangieren: »Es hat keinen Zweck, daß ich immer nur sage ›ich möchte gerne‹ und wenn sich dann […] eine Gelegenheit bietet, zu sagen ›Ja, aber so nicht‹.« Dass sich die DDR einen »Vorrat« an Häftlingen anlege, sei eine unbewiesene Unterstellung.79 Auch nach Frankes klarem Bekenntnis zur Freikaufspraxis rissen die Presseberichte nicht ab. Wie Schalck-Golodkowski gegenüber Sanne angedeutet hatte, führte dies zu einer wachsenden Verärgerung der DDR. Vogel beklagte sich gegenüber seinem Westberliner Kollegen Reymar von Wedel über die Angriffe in den Medien. Vor allem beunruhige ihn, dass sich »niemand positiv zu der Sache stelle«. Seine Auftraggeber wären nicht dazu bereit, sich deswegen »in der Weltöffentlichkeit weiterhin verdächtigen zu lassen«. Auch schade die Angelegenheit seinem eigenen Ruf. Vogel bat daraufhin Bischof Scharf, den früheren Ratsvorsitzenden der EKD und Bischof der BerlinBrandenburgischen Kirche, öffentlich für den Freikauf einzutreten. Zwar sei die Abwicklung der laufenden Häftlingsaktion nicht gefährdet, doch eine nahtlose Fortsetzung keinesfalls zwingend. Bischof Scharf könne mittels der moralischen Autorität der Kirche die Gefahr eines Verhandlungsabbruchs bannen, indem er öffentlich eine »ethisch beruhigende« Erklärung abgebe. Schließlich war es Scharf gewesen, der im Herbst 1963 aus humanitären Motiven den Anstoß für die kirchlichen Bemühungen gegeben hatte, die letztlich zur Ausweitung der Hilfen im Sommer 1964 führten.80 Scharf entsprach Vogels Bitte. Ende September 1975 machte er in Interviews mit dem Evangelischen Pressedienst und der Tagesschau die bisher unbekannte Beteiligung beider Kirchen an der Entstehung bzw. Ausweitung des Freikaufs publik. Auf diesem Wege seien »mehr als 100 Entlassungen« erreicht worden. Ohne die Beteiligung Erich Mendes mit nur einem Wort zu erwähnen, lobte Scharf das Engagement Rainer Barzels und besonders Herbert Wehners, der im zurückliegenden Jahrzehnt stets »ein offenes Herz« für die Inhaftierten gehabt und etlichen von ihnen zur Freiheit verholfen habe. An der »Lauterkeit«, dem »persönlichem Engagement« und der Integrität des DDRUnterhändlers Vogel habe er »nicht den geringsten Zweifel«. Gerüchte, er sei ein »Agent der DDR im schlechten Sinne«, seien »böswillige Unterstellungen«. Ebenso wenig treffe es nach seinen Erkenntnissen zu, dass Verhaftungen nur des Geldes wegen erfolgten. Die DDR habe die Abmachungen stets »korrekt und zuverlässig« eingehalten. Scharf ließ keinen Zweifel daran, dass er die dafür geforderten materiellen Gegenleistungen an die DDR für ethisch vertretbar halte, schließlich kämen sie den Menschen zugute. Die Hilfen sollten 79 80
Bonner Perspektiven, ZDF, 14.9.1975, 19:10 Uhr. Scharf an Kunst, 8.10.1975; EZA, 742/297; Scharf an Albs, 10.10.1975; ebenda.
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»auf jeden Fall« fortgesetzt werden, denn, resümierte Scharf in Anspielung auf Mendes Kritik, es sei »verantwortungslos« und überdies »unmenschlich und unchristlich, Menschen, die auf unsere Hilfe warten, unseren Einsatz zu versagen«.81 Die Presse griff Scharfs Äußerungen breit auf.82 Scharfs Interview löste bei den Verantwortlichen in Bonn Irritationen aus. Kunst schrieb seinem Amtsbruder Scharf insgesamt drei Briefe, in denen er seine Verstimmung zum Ausdruck brachte, nicht nur im Hinblick auf mögliche weitere öffentliche Berichte, sondern auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Kirche. Er halte es nach wie vor für »prinzipiell falsch«, dass sich einer der Beteiligten öffentlich dazu geäußert habe. Auch wenn Scharf aus ehrlichen Motiven gehandelt habe, sei die »Einbuße an Vertrauen«, die Schädigung seines (Kunsts) Rufs als verschwiegener Mittler und die Irritation über die mangelhafte Abstimmung des Interviewtextes mit ihm und den katholischen Amtsbrüdern groß. Auch der Bundeskanzler und Egon Franke hätten ihn gebeten, kirchlicherseits nichts mehr darüber verlauten zu lassen.83 Scharfs Plädoyer für die Fortsetzung des Freikaufs hielt Mende jedoch nicht davon ab, seine Fundamentalkritik, die auch Menschenrechtsorganisationen teilten, in den darauf folgenden Jahren mehrfach zu wiederholen.84 1978/79 wirkte er an einem Film mit, der im Britischen Fernsehen und dem ZDF unter dem Titel »Kopfgeld für die Freiheit« ausgestrahlt wurde. Mende verglich in seinem Interview den Freikauf mit den Machenschaften der Nationalsozialisten: »Hitler und Himmler boten Juden aus den deutschen Konzentrationslagern an, um Geld zu bekommen (von den Alliierten). Es ist das gleiche System heute in den kommunistischen Staaten, wenn ich Geld haben will und Gefangene dafür gebe. Es ist heute wie damals ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«85
Zudem trug Mende, der als Bundestagsabgeordneter auch der parlamentarischen Versammlung des Europarates angehörte, vor einem der Ausschüsse in Straßburg einen Bericht über die Lage Europas nach den beiden KSZEKonferenzen in Helsinki und Belgrad vor. Darin wurde die DDR »der perma81 Interview mit Bischof Scharf; epd, 1.10.1975; Interview Scharfs; DFS, Tagesschau, 1.10.1975, 20:00 Uhr. 82 »DDR-Häftlinge mit Hilfe der Kirchen frei«. In: FR v. 1.10.1975; »Scharf: Freikauf von Gefangenen fortsetzen«. In: FAZ v. 2.10.1975; »Kirchen bemühen sich um Häftlinge in der DDR«. In: SZ v. 2.10.1975. 83 Kunst an Scharf, 2., 7. u. 11.10.1975; EZA, 742/297; Vermerk Wöstes, 24.11.1975; AEK, Zug. 683, Nr. 341. 84 Siehe z. B. die Meldungen der FR v. 24.4.1978 u. 9.1.1979. 85 »Kopfgeld für die Freiheit«. In: ZDF, 13.8.1979, 22:45 Uhr.
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nenten Verbrechen gegen alle Menschenrechte« angeklagt und die Freikaufspraxis als unzeitgemäß kritisiert.86 Schließlich gelangte das Thema sogar auf die Tagesordnung des UNO-Unterausschusses für Menschenrechte in Genf, wo es von einem britischen Ausschussmitglied als »zynische Form des Sklavenhandels im 20. Jahrhundert« kritisiert wurde.87 Auch die kommunistischen Parteien Frankreichs, Italiens und Spaniens prangerten diesen »Menschenhandel« durch einen sozialistischen Staat mehrfach öffentlich an.88 Die inzwischen sogar internationale Kritik traf die DDR an einer empfindlichen Stelle. Zum einen versuchte die SED in den siebziger Jahren, eine kompromissbereite, vermittelnde Haltung gegenüber den kommunistischen Parteien Westeuropas einzunehmen. Deren Missbilligung des Häftlingsverkaufs lief diesen Bemühungen Ost-Berlins entgegen.89 Zum anderen sah sich die DDRDelegation bei der UNO »unbequemen Fragen« anderer Mitgliedsstaaten gegenüber, als sie sich im Laufe des Jahres 1979 um den nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat bewarb.90 Wohl infolge dieser Kritik gab Vogel im Herbst 1979 gegenüber dem Westberliner Blatt Der Abend eine Erklärung ab. Einerseits sehe er »ganz schwarze Wolken aufziehen, nachdem es Mode geworden« sei, »echte Hilfe zu Material für den Skandal- und Klatschmarkt zu erniedrigen«. Um den Freikauf zu diskreditieren, seien »sogar Filmemacher […] im James-Bond-Stil am Plan und Werk«. Wer dies tue, »möge mir künftig meine Sprechstunde abnehmen«. Allerdings fügte Vogel hinzu: »Besonnen und still ist bisher für jeden Fall eine Lösung gefunden worden. Das gilt auch hier und heute.«91 Der Bundesregierung teilte Vogel hingegen mit, Honecker habe auch im Hinblick auf die Gefährdung des internationalen Ansehens der DDR beschlossen, den Freikauf einzustellen.92 Die vorgebliche Entscheidung der DDR, den Freikauf zu beenden, gelangte in die Medien. Am 6. November 1979 meldete die Tagesschau, dass der Freikauf gestoppt sei.93 Die Bundesregierung bestätigte dies nicht. Günter Gaus, Bonns Ständiger Vertreter in Ost-Berlin, gab lediglich die Erklärung ab, man befinde sich »in Gesprächen, die auch weiterhin eine positive Regelung von 86 »Schwere Vorwürfe gegen DDR«. In: FR v. 26.4.1978. 87 »Sklavenhandel«. In: Die Welt v. 31.8.1979. 88 »›Menschenhandel‹ etwas dezenter?«. In: Nürnberger Nachrichten v. 27.10.1979. 89 Dörr, Nikolas R.: Die Beziehungen zwischen der SED und den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas. Handlungsfelder, Akteure und Probleme. In: Bauerkämper, Arnd; Di Palma, Francesco (Hg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968–1989). Berlin 2011, S. 48–68. 90 »Kein Freikauf mehr?«. In: FR v. 29.10.1979. 91 Winters, Peter Jochen: »Mehr Diskretion beim Häftlingsfreikauf«. In: FAZ v. 1.11.1979. 92 Siehe Kap. IV.1. 93 »Häftlingsfreikauf. Dann wohl cash«. In: Der Spiegel v. 5.11.1979, Nr. 45.
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Einzelfällen« ermöglichen sollten.94 Auch wenn die Besorgnis der SEDFührung vor einer weiteren Beschädigung ihres internationalen Ansehens sicher nicht vorgetäuscht war, änderte sich nichts an den grundsätzlichen Interessen, die für die Fortführung des Freikaufs sprachen. Vielmehr sollte die Sache wohl »aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit« wieder in die stillen Bahnen gelangen, wie die FAZ vermutete.95 Auf Bonner Seite bestand jedenfalls nach wie vor die Bereitschaft, sich zur Fortsetzung des Freikaufs zu bekennen. Als 1980 erneut kritische Berichte und Leserbriefe erschienen, meldete sich wiederum Kurt Scharf zu Wort und verteidigte den Freikauf. Die Angriffe seien »sachlich unberechtigt« und polemisch. Solange es diese »Möglichkeit eines innerdeutschen Ausgleichs« gebe, um Menschen zu helfen, solle man ihn weiter nutzen. »Sich der Gefangenen anzunehmen«, schrieb Scharf, sei »ein Werk, das Jesus Christus den Seinen besonders dringend« anbefohlen habe.96 Vergleicht man die Entwicklung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mit der Konstellation im vorangegangenen Jahrzehnt, so fällt der Wandel im Verhältnis der DDR zu öffentlichen Berichten und Kritik am Freikauf ins Auge. Während Ost-Berlin anfangs selbst auf kleinste Presse- und Medienberichte höchst empfindlich reagierte und die Bundesregierung der Indiskretion beschuldigte, so war diese Dünnhäutigkeit kaum zehn Jahre später einer erstaunlichen Duldsamkeit gewichen. Selbst die harsche internationale Kritik stellte aus der Sicht Ost-Berlins keine ernsthafte Gefahr mehr dar, solange sich die Bundesregierung zum Freikauf bekannte. Schließlich war es sogar die DDR, die ihre Partner im Westen dazu aufforderte, sich öffentlich zum Freikauf zu äußern. Die neue Duldsamkeit war offenbar Teil der Strategie Ost-Berlins, offensiver mit dem Thema umzugehen. Der Verkauf politischer Häftlinge sollte aus der »Schmuddelecke« geholt und im Sinne der Entspannungspolitik als ein »normaler« zwischenstaatlicher Vorgang umgedeutet werden. Ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg stellt das Buch des Bonner Korrespondenten des französischen Fernsehens Michel Meyer dar, das 1978 in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Freikauf. Menschenhandel in Deutschland« erschien. Meyer hatte für die 219 Seiten starke Monografie in Zeitungsarchiven recherchiert, ehemalige Inhaftierte befragt und Rainer Barzel, Erich Mende, den ehemaligen Staatssekretär Carl Krautwig sowie Hermann Kunst interviewt. 94 Tagesschau. In: ARD, 14.12.1979, 20:00 Uhr. 95 Winters, Peter Jochen: »Mehr Diskretion beim Häftlingsfreikauf«. In: FAZ v. 1.11.1979. 96 Wehner, Herbert: Das gefährdet Erleichterungen. In: FAZ v. 22.2.1980; Clausen, ClausPeter: Wehner und die Freikauf-Praxis. In: FAZ v. 3.3.1980; Scharf, Kurt: Wehner will helfen. In: FAZ v. 15.3.1980.
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Außerdem enthielt das Buch eine Tabelle mit der Zahl der bislang freigekauften Häftlinge und der dafür gezahlten Gelder. Während die Angaben für die sechziger Jahre ungenau waren, kamen sie für die siebziger Jahre den tatsächlichen Beträgen recht nahe.97 Das Buch erregte aus zwei Gründen Aufsehen. Erstens bündelte es die bislang nur in den »kurzatmigen« Print- und Rundfunkmedien veröffentlichten Informationen sowie die Angaben der beteiligten Akteure über die Entstehungsgeschichte, die Motive beider Seiten sowie die Abwicklungsmodalitäten in einer Monografie, die fortan im Buchhandel und öffentlichen Bibliotheken erhältlich war. Zweitens überraschte das Buch durch den Abdruck eines Interviews mit Vogel und Stange. Darin legten die beiden Anwälte die jeweilige Sicht ihrer Auftraggeber auf ihre Tätigkeit erstmals öffentlich dar. Besonders Vogels Äußerungen ließen den Versuch Ost-Berlins erkennen, den Häftlingsverkauf als einen Vorgang darzustellen, der ausgehend vom sozialistischen Denk- und Wertesystem legitim sei. Auf Meyers Frage, wie die DDR die Geldforderungen rechtfertige, entgegnete Vogel, dass man die »marxistische Einstellung in Betracht ziehen« müsse: »Bei uns wird ein Delikt nach dem Schaden beurteilt, der dem sozialen System und der Gesamtheit zugefügt worden ist. Das ist natürlich eine Denkweise, die jener der kapitalistischen Länder völlig fremd ist. Die grundlegende Auffassung, dass diese Delikte auch materiell wiedergutzumachen sind, ist in Wirklichkeit der wahre und einzige Hintergrund dieser Austauschverfahren.«
Die Praxis sei im Übrigen »auch ein Faktor der Entspannung«, denn »jeder Flüchtling, jeder Dissident, den wir austauschen, bedeutet ein Problem weniger, eine Reibungsursache weniger zwischen den beiden deutschen Staaten und infolgedessen zwischen Ost und West«. Auf seine eigene Rolle angesprochen entgegnete Vogel, dass es Beauftragte wie ihn »in allen Ländern« gebe. Beispielsweise kenne er den Anwalt der französischen Regierung, der die gleiche Aufgabe wahrnehme.98 In einem Interview mit der ARD aus dem Herbst 1983 ging Vogel sogar noch einen Schritt weiter. Während er 1977 das Interesse Ost-Berlins an den materiellen Gegenleistungen noch als wichtig und gleichzeitig legitim dargestellt hatte, spielte er diesen Aspekt nunmehr herunter: »Mit der Devisenbringerei, das ist die Achillesferse für mich. Es ist schon so viel Unheil getrieben worden in Wort und Schrift, dass ich mich errege, wenn ich darauf zu sprechen komme. Es ist erwiesen, dass humanitäre Aktionen gestoppt worden sind aus ganz anderen Gründen und man auf Devisen verzichtet hat. Dies unter anderem 97 98
Meyer: Freikauf. Ebenda, S. 214 f. u. 218.
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ist der Beweis für mich, dass die Devisen nicht an erster Stelle stehen, wohl auch eine Rolle spielen.«99
Durch solche geschickte Verteidigung des Freikaufs sowie durch sein gewandtes, vertrauenerweckendes und vom äußeren Erscheinungsbild sympathisches Auftreten wuchs Vogel seit Mitte der siebziger Jahre allmählich in die Rolle eines humanitären Aushängeschildes der DDR hinein, hinter dem die dunkle Seite seiner Tätigkeit zurücktrat. In deutschen und auch internationalen Zeitungen und sogar Boulevardzeitschriften gehörte Vogel seit 1984 wohl zu den am häufigsten portraitierten DDR-Prominenten. Kritik an seiner Tätigkeit flammte darin eher selten auf. Die Charakterisierungen, teils flankiert von großformatigen Farbfotos aus Vogels Kanzlei und von Treffen mit Bonner Politikern, liefen meist auf ein Lob seiner zuverlässigen Vermittlertätigkeit hinaus oder zielten auf seinen für DDR-Verhältnisse extravaganten Lebensstil: »Diskret und hilfreich im Hintergrund« (Die Zeit, 1984) – »Honeckers Vertrauter fährt Ski bei Kitz. Bild besucht Dr. Vogel im 5-Sterne-Hotel« (Bild, 1985) – »Ich gehe stille Wege« (Die Zeit, 1986) – »Ein ehrlicher Makler« (Stern, 1987) – »Die Hoffnung heißt Vogel« (Bunte-Magazin, 1988).100 Das mediale Interesse an Ost-Berlins Staranwalt mündete 1987 schließlich in der ersten Biografie über Vogel mit dem Titel »Mittler zwischen Ost und West«.101 Inhaltlich konnte sich der Autor Jörg Schmidthammer auf eine große Zahl von Zeitungsartikeln, die bereits erschienenen Monografien Meyers und Barings sowie Hintergrundgespräche mit mehreren Zeitzeugen stützen,102 unter ihnen auch Herbert Wehner, Hermann Kunst und Ludwig Rehlinger.103 Wie 99 »Anwalt zwischen den Fronten«. In: ARD (Kontraste), 17.10.1983, Transkript in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 19777, Bl. 152–160, Videoaufzeichnung in: BStU, MfS, BV Gera, Vi, Nr. 11. 100 Siehe aus der Fülle der Berichte z. B. Cramer, Dettmar: »Diskret und hilfreich im Hintergrund«. In: Die Zeit v. 6.7.1984; Kahl, Werner: »Wolfgang Vogel – der Mann für Grenzfälle«. In: Die Welt v. 31.1.1985; Koch, Einar: »Honeckers Vertrauter fährt Ski bei Kitz. BILD besucht Dr. Vogel im 5-Sterne-Hotel«. In: Bild v. 2.2.1985; Schmidthammer, Jens: »Ein Vermittler über die Mauern hinweg«. In: Die Zeit v. 1.11.1985; Markham, James M.: »Hinter 24 Jahren Geschäft mit Spionen steht Wolfgang Vogel«. In: New York Times v. 14.2.1986; Witter, Ben: »Ich gehe stille Wege«. In: Die Zeit v. 20.6.1986; Kahl, Werner: »Ein diskreter Mittler zwischen hüben und drüben … Wolfgang Vogel ist längst zur Institution geworden«. In: Die Welt v. 22.6.1986; Sünder, Heinz: »Dr. Wolfgang Vogel: ›Austausch von Spionen gehört zu meinem Geschäft‹«. In: Neue Revue, o. D. [wahrsch. 1986]; Kummer, Jochen: »Der Katholik, dem Honecker vertraut«. In: Welt am Sonntag v. 27.7.1986; Pragal, Peter: »Ein ehrlicher Makler«. In: Stern v. 5.3.1987; Burger, Johannes: »Wolfgang Vogel, Anwalt zwischen Ost und West: ›Das Tauwetter macht Hoffnung‹«. In: JA v. 7.4.1987; »Die Hoffnung heißt Vogel«, Bunte-Magazin v. 18.2.1988; Graf Nayhauß, Meinhardt: »DDR-Anwalt Vogel kam ins Gerede. Mittler zwischen Ost und West«. In: Quick v. 17.2.1988. 101 Schmidthammer, Jens: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West. Hamburg 1987. 102 Neben Meyer: Freikauf auch Baring: Machtwechsel. 103 Schmidthammer: Vogel, S. 213.
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auch Michel Meyers Buch über den Freikauf enthielt die Biografie eine Tabelle mit der Zahl der jährlich freigekauften Häftlinge, jedoch ohne die dafür gezahlten Summen zu nennen. Die Bundesregierung selbst rückte die Bedeutung der Gegenleistungen in den Hintergrund, wenn das Thema einmal öffentlich zur Sprache kam. Dies begann mit der Vermeidung des Begriffs »Freikauf« und dem Versuch, den Vorgang durch weniger anstößige Umschreibungen weichzuzeichnen. Egon Franke gab 1977 in einem Interview zu Protokoll, dies sei »eine Formulierung, die den Kern der Sache« nicht treffe. Zwar gebe es »selbstverständlich […] eine gewisse Notwendigkeit, Leistungen durch Leistungen auch zu ersetzen«, doch müsse man das vor dem Hintergrund sehen, dass in den zurückliegenden Jahren »auch schwierigste Fälle« hätten gelöst werden können.104 »Freikaufen« sei auch deswegen »eine ganz schlechte Bezeichnung« dafür, weil ja Waren und keine Barbeträge geliefert würden.105 Besonders hinsichtlich der offiziellen Sprachregelung herrschte Kontinuität zwischen der sozialliberalen und der darauf folgenden CDU/CSU-FDP-Koalition. Heinrich Windelen, der nach der Bundestagswahl 1983 Gesamtdeutscher Minister wurde, sprach wie sein Vorgänger in einem Interview davon, dass er den Begriff »Freikauf« nicht gerne höre, sondern lieber vom »Erfolg humanitärer Bemühungen« spreche.106 Dem Trend zu einer »Popularisierung« konnte sich auch Ludwig Rehlinger nicht entziehen. Besonders im Jahr 1984 befasste sich eine Reihe von Presseberichten mit seiner diskreten und erfolgreichen Tätigkeit auf dem Felde der »humanitären Bemühungen«. Der Freikauf war mit durchweg positiven Konnotationen verbunden. Die Überschriften der Artikel charakterisierten Rehlinger als sympathischen, diskreten Diplomaten: »Verschwiegen und mit sicherem Gespür im Dienste der Menschen« (General-Anzeiger, 1984) – »Heimliche Agenten-Fotos vom ›Engel der Flüchtlinge‹« (BamS, 1984) – »Seine tägliche Arbeit: Häftlinge freikaufen« (NRZ, 1986) – »Manager der Menschlichkeit« (Hamburger Abendblatt 1988) – »Geduldig an den Problemen dröseln« (Die Zeit, 1988).107 104 Interview Frankes. In: SR, 5.11.1977, 18:00 Uhr. 105 Interview Frankes. In: WDR II, 26.1.1980, 7:10 Uhr. 106 »1986 wurden 1 500 aus DDR-Haft geholt«. In: Hessische Allgemeine v. 10.1.1987. 107 Siehe z. B. Schell, Manfred: »Ludwig Rehlinger. Der Weg-Bereiter«. In: Die Welt v. 9.3.1984; Stoltenberg, Jochim: »Bonns Unterhändler Rehlinger. Der Mann mit dem Koffer«. In: Hamburger Abendblatt v. 7.7.1984; Petersen, Sönke: »Ludwig Rehlinger schätzt diskrete Verhandlungen: 7 000 aus der DDR half er in den Westen«. In: Abendzeitung v. 18.7.1984; Kohrs, Ekkehard: »Verschwiegen und mit sicherem Gespür im Dienste der Menschen«. In: General-Anzeiger v. 5.7.1984; Graf Nayhauß, Meinhardt: »Kohls Mann für drüben: Häftlinge in U-Bahn freigekauft«. In: Bild v. 29.11.1984; »Heimliche Agenten-Fotos vom ›Engel der Flüchtlinge‹«. In: Bild am Sonntag v. 25.11.1984; Seher, Dietmar: »Seine tägliche Arbeit: Häftlinge freikaufen«. In: NRZ v. 30.7.1986; Stiege, Rudolf: »Mann am Puls der deutschen Teilung«. In: Berliner Morgenpost v. 20.9.1987; Kaiser,
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Überhaupt geriet der Freikauf in den achtziger Jahren gegenüber dem Drama um die Botschaftsbesetzungen und der Ausreisewelle 1984/85, den beiden filmreif inszenierten Agentenaustauschvorgängen auf der Glienicker Brücke 1985 und 1986 sowie dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik 1987 in den Hintergrund. Weder die Berichte über angeblich freigekaufte gewöhnliche »Kriminelle«, die zwischen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre häufig in der Presse zu lesen waren, noch der Skandal um die verschwundenen Millionen aus dem Bundeshaushalt im Zuge der Ermittlungen gegen Egon Franke und Edgar Hirt änderten nichts an dem Trend, dass sich in der Presse eine gewisse Gewöhnung einstellte, Berichte nur noch wenig Neuigkeitswert hatten. Es verwundert auf diesem Hintergrund nicht, dass die FAZ im Frühjahr 1983 bereits vom »etablierten, fast ordnungsgemäßen Häftlingsfreikauf« sprach.108
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Verbreitung in der DDR: Privatkontakte, Westrundfunk, Menschenrechtsorganisationen
Während der Häftlingsfreikauf spätestens seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre im Westen ein offenes Geheimnis war, gelangten Informationen über ihn ungleich langsamer in die DDR. Westzeitungen waren dort auf offiziellem Wege nicht erhältlich, ebenso wenig das Buch Michel Meyers von 1977. Zwar erwarben u. a. die Staatsbibliothek in Ost-Berlin und die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig je ein Exemplar, doch lagerte es in einem gesonderten Magazinbereich. Die Benutzung im Lesesaal war nur mit einem »Giftschein« möglich, d. h. der Bestätigung einer Universität, dass das Buch für »wissenschaftliche Zwecke« benötigt werde.109 Drei alternative Verbreitungswege für Informationen über den Freikauf gewannen daher an Bedeutung: Erstens soziale Netzwerke auf der Ebene privater Beziehungen zwischen Deutschen in West und Ost einschließlich der »Mundpropaganda« in der DDR, zweitens die Radio- und Fernsehsender der Bundesrepublik und drittens die Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen, die sich gezielt um Inhaftierte bemühten. Besonders seit Beginn der siebziger Jahre, als die Entlassung in die Bundesrepublik zur Regel wurde, konnte das »Verschwinden« der Inhaftierten in Carl-Christian: »Ein Spezialist fürs Humanitäre«. In: Die Zeit v. 12.2.1988; »Manager der Menschlichkeit«. In: Hamburger Abendblatt v. 16.5.1988; Nawrocki, Joachim: »Geduldig an den Problemen dröseln«. In: Die Zeit v. 15.7.1988. 108 »Honeckers Image«. In: FAZ v. 26.2.1983. 109 Auskunft der Staatsbibliothek Berlin und der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, 5.9.2011.
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deren Freundes- und Bekanntenkreis in der DDR nicht unbemerkt bleiben. Eva-Maria Neumann, die 1977 bei einem Fluchtversuch mit ihrer Familie verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wusste bereits vor ihrer Inhaftierung, dass eine Kollegin ihres Ehemannes und zwei Söhne ihres Kindermädchens nach einem Fluchtversuch ins Gefängnis gekommen, eine Weile später aber dennoch in die Bundesrepublik gelangt waren. Über die Gründe für die Westentlassung vermutete sie, dass die staatlichen Organe ein Interesse daran haben könnten, »Staatsfeinde« auf diesem Wege loszuwerden. Dass sich dahinter ein systematisches Geschäft der DDR mit politischen Häftlingen verbarg, erfuhr sie erst in der Untersuchungshaft bzw. im Strafvollzug von Mitgefangenen.110 Überdies gab es offenbar eine wachsende Zahl freigekaufter Häftlinge, die nach Verstreichen einer gewissen Zeit versuchten, in die DDR zurückzukehren, um Angehörige, Freunde und Bekannte zu besuchen. Seit Oktober 1972 wurden die DDR-Bürger daher aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen; zusätzlich verhängte das MfS eine Einreisesperre sowie eine zeitlich befristete Sperre für die Durchreise im Transitverkehr.111 Eine wahrscheinlich 1986 angefertigte Ausarbeitung des MfS erläuterte den Zweck der Einreisesperre: Sie sollte verhindern, dass DDR-Bürger »mit negativer oder ungefestigter Einstellung« von den Wiedereingereisten Details über den Freikauf als legales Schlupfloch in der Mauer erfahren und ihn »als Beispiel und erstrebenswert« erachten würden. Schließlich könne es »zur Nachahmung« der strafbaren Handlungen kommen. Außerdem hätten »große Teile« der DDR-Bevölkerung keinerlei Verständnis für eine Wiedereinreise von ehemaligen Straftätern. Bevor 1972 die Einreisesperre obligatorisch verhängt wurde, sei es deswegen häufiger zu »negativen Diskussionen« gekommen.112 Gänzlich zu unterbinden war die zeitweise Rückkehr freigekaufter Häftlinge jedoch nicht. Besonders findige umgingen die Sperre mit dem Trick, beim Innensenator in West-Berlin eine Namensänderung zu beantragen, um dann unter »falschem« Namen in die DDR einzureisen. Wie aus einer Weisung des ZKG-Chefs Niebling aus dem Jahr 1985 hervorgeht, sah das MfS die Gefahr, dass diese Personen »DDR-Bürger feindlich-negativ beeinflussen und zu Akti110 Neumann, Eva-Maria: Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit. München 2007, S. 16, 67 u. 85. 111 DA 6/75 zur Einleitung und Realisierung von Fahndungen im Reiseverkehr über die Staatsgrenze der DDR, 6.8.1975; BStU, BdL/Dok. Nr. 101970; GVS–o008 Nr. 43/86 »Übersiedlung von Strafgefangenen in die BRD«, 5.5.1986; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 8273, Bl. 1–3, abgedr. in: Lochen, Hans-Hermann (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992, S. 206–208, hier 208. 112 »Zum Problem der Einreisesperre bei ehemaligen DDR-Bürgern, die in Durchführung zentraler Maßnahmen aus dem Strafvollzug der DDR nach der BRD oder Berlin (West) entlassen wurden«, o. D; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3714, Bl. 46–48.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
vitäten zur Durchsetzung der Übersiedelung inspirieren« würden. Um das zu verhindern, sollten bei der »politisch-operativen Bearbeitung und Kontrolle ehemaliger DDR-Bürger« in der Bundesrepublik »die IM und andere operative Kräfte« entsprechend genutzt werden.113 All diesen Maßnahmen zum Trotz war es jedoch durch die stete Zunahme des Telefon- und Postverkehrs zwischen beiden Staaten und der Besuchsreisen von Bundesbürgern seit Mitte der siebziger Jahre kaum noch möglich, den Informationsfluss auf privater Ebene dauerhaft zu unterbrechen.114 Neben den persönlichen Kontakten spielten das Fernsehen und die Radiosender der Bundesrepublik eine gewichtige Rolle für die Verbreitung der Kenntnisse über den Freikauf. Mit Ausnahme der Region um Dresden, dem »Tal der Ahnungslosen«, deckte der Senderadius des Westrundfunks das gesamte Territorium der DDR ab, was nur durch die Aufstellung von Sendemasten und Fernsehtürmen auf der »Insel« West-Berlin möglich war. 1978 beispielsweise strahlten insgesamt über 30 Radioprogramme sowie alle drei Kanäle des Westfernsehens in die DDR hinein.115 Während in den fünfziger und sechziger Jahren der Empfang des Westrundfunks zum Teil noch kriminalisiert wurde, änderte sich dies mit dem Beginn der Entspannungspolitik. Honeckers Bemerkung nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages im Jahr 1973, dass jeder Bürger der DDR die Westmedien »nach Belieben ein- oder ausschalten« könne, stellte einen Paradigmenwechsel dar: »Mit der Tolerierung des ›Westsender-Hörens‹ und -Sehens und der Akkreditierung westlicher Korrespondenten war ein grundlegender Wandel in den Kommunikationsstrukturen verbunden, trat doch von nun an eine staatlich gelenkte Medienöffentlichkeit ganz offiziell in Konkurrenz zu einem freien demokratischen Mediensystem.«116
Unter den Westdeutschen bzw. Westberliner Radiostationen taten sich vor allem der Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS) sowie der Deutschlandfunk (DLF) in ihrer kontinuierlichen Berichterstattung über deutschlandpolitische Themen hervor. Hin und wieder befassten sich Radiobeiträge mit dem Freikauf. Karl Wilhelm Fricke, der in den fünfziger Jahren in Bautzen II wegen »Spionage« inhaftiert war, legte in seiner Zeit als verantwortlicher Redakteur der Ost-West-Redaktion beim DLF ein besonderes Augenmerk auf
113 Leiter ZKG an Leiter Diensteinheiten, 3.12.1985, MfS VVS-0107-1575/85; BStU, MfS, Rechtsstelle, Nr. 670, Bl. 306 f. 114 1977 gab es rd. 719 Telefonleitungen zwischen West und Ost, die Zahl der Telefongespräche belief sich auf »ungefähr 40 000 Gespräche täglich«. DzD, VI/5, Nr. 97A, S. 400 f. 115 Gespräch Honecker – Gromyko, 11./12. Mai 1978; DzD, VI/5, Nr. 160, S. 639 u. 642. 116 Weinke: Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis, S. 39.
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das Thema Repression und Verfolgung politischer Gegner in der DDR.117 Der Freikauf im Besonderen stand meist dann auf der Tagesordnung, wenn das Feld der »Besonderen Bemühungen« aus aktuellem Anlass in den Vordergrund der medialen Berichterstattung getreten war. So berichtete der Deutschlandfunk im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Egon Franke und dessen Ministerialdirektor Edgar Hirt u. a. über die Mitteilung des Ex-Ministers, dass in seiner Amtszeit angeblich rund 63 000 Personen aus der DDR herausgekauft worden seien.118 Auch die Botschaftsbesetzungen in Ost-Berlin 1984 und die hervorgehobene Rolle Vogels in diesem Zusammenhang bildeten den Anlass für Rundfunkportraits des Anwaltes, in denen er auch selbst Auskunft über seine Vermittlertätigkeit bei Familienzusammenführungen und Entlassung von Häftlingen gab.119 Einflussreich, womöglich noch bedeutender als Presse und Hörfunk war das Fernsehen. Maßgeblichen Anteil daran, dass der Freikauf in der DDR bekannt wurde, hatte zweifellos das »ZDF-Magazin«. 1969 gegründet, wurde es bis Dezember 1987 von Gerhard Löwenthal moderiert und im zweiwöchigen Rhythmus insgesamt 585 Mal ausgestrahlt.120 Löwenthal, der aus einer Berliner jüdischen Familie stammte und der Verhaftung und Ermordung durch das NS-Regime nur knapp entgangen war, sah die Aufgabe des Magazins in einer politisch unabhängigen Berichterstattung, die einen »Beitrag zur Festigung der Demokratie in Deutschland« leisten sollte. Die Sendung entwickelte sich rasch »zu einer der wenigen konservativen Ausnahmen im Fernsehen«, da Löwenthal die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung scharf kritisierte, gezielt Tabus aufgriff und die Themen bewusst auf regimekritische oder -distanzierte Zuschauer in der DDR ausrichtete.121
117 Siehe z. B. den Hinweis auf einen Beitrag Frickes im DLF, in dem von »gewisse[n] Freikaufaktionen der Bundesregierung« die Rede gewesen war im Schreiben Hoesch an Stange, 19.4.1972; BArch-K, B 137/15780. 118 Engert, Jürgen: Beziehungen DDR – BRD »Häftlingsfreikauf«. In: DLF, 3.3.1983, 4:05 Uhr; BStU, MfS, HA IX, Nr. 19777, Bl. 204 f.; Ders.: »DDR-Häftlingsfreikauf mit Problemen«. In: DLF, 15.4.1983, 4:05 Uhr; ebenda, Bl. 201 f. 119 Bethke, Eckart: Portrait des Honecker-Beraters und Rechtsanwalts Wolfgang Vogel. In: DLF, 23.1.1984, 18:05 Uhr; BStU, MfS, HA IX, Nr. 19777, Bl. 111; Schmitthammer, Jens: Portrait von Rechtsanwalt Vogel. In: DLF, 17.7.1984, 20:15 Uhr; ebenda, Bl. 60–74. 120 Eine Studie zur Geschichte des ZDF-Magazins und seine Bekämpfung durch das MfS ist nach wie vor eine Forschungslücke. Eine Pionierleistung ist die zweiteilige Dokumentation von Christhardt Läpple »Die Feindzentrale« aus dem Jahr 2006. Für die ARD liegt inzwischen das Buch von Staadt, Jochen; Voigt, Tobias; Wolle, Stefan: Operation Fernsehen. Die Stasi und die Medien in Ost und West. Göttingen 2008 vor. 121 Löwenthal, Gerhard: Ich bin geblieben. Erinnerungen. München 1987, S. 268–270, 272 u. 280. Vgl. Winckler, Stefan: Gerhard Löwenthal. Ein Beitrag zur politischen Publizistik der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2011.
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Eine statistisch-empirische Untersuchung aus dem Jahr 1985 belegt, dass die Sendung bei dieser Zielgruppe in der DDR auf Interesse stieß: Während die Einschaltquote in der Bundesrepublik nur mäßige 11 Prozent erreichte, lag die regelmäßige Rezeptionshäufigkeit in der Gruppe der ausreisewilligen DDR-Bürger bei über 40 Prozent, die nur gelegentlich einschaltenden Zuschauer aus dieser Bevölkerungsgruppe hinzugerechnet sogar bei annähernd 80 Prozent.122 Auch nach 1989/90 gaben ausgereiste frühere DDR-Bürger an, dass sie manches über Haftbedingungen und den Freikauf aus dem ZDF-Magazin erfahren hätten.123 Löwenthal war einer der ersten Journalisten, der im Herbst 1972 den Häftlingsfreikauf im Fernsehen erwähnte. Das Thema, so Löwenthal, sei bislang »eines der striktesten Tabus« gewesen. 1963 habe der Verleger Axel Springer eine Offerte Ost-Berlins an Rainer Barzel überbracht, seitdem wären »allein von den CDU-geführten Regierungen« mehr als 6 000 Häftlinge für über 200 Millionen DM freigekauft worden. Da die DDR gegenwärtig »massiv« in propagandistischer Absicht in den Bundestagswahlkampf eingreife, müsse dies »einmal hier so klar ausgesprochen werden«.124 In den folgenden Jahren griff das ZDF-Magazin das Thema mehrmals auf. Die Beiträge schilderten die Leidenswege der betroffenen Häftlinge, die Busfahrten von Karl-Marx-Stadt nach Gießen, die Interessen der DDR am Freikauf und kritisierten das offizielle Schweigen der Bundesregierung. Obwohl die Beiträge diese besondere Form der Hilfe der Bundesregierung nicht samt und sonders als Skandal darstellten, ließen Bezeichnungen wie beispielsweise »neuzeitlicher Menschenhandel« dennoch eine kritische Distanz erkennen.125 Eine schonungslose Anklage der DDR waren hingegen all jene Sendungen, die über die Menschenrechtssituation im Allgemeinen und die politischen 122 Hesse, Kurt R.: Westmedien in der DDR. Nutzung, Image und Auswirkungen bundesrepublikanischen Hörfunks und Fernsehens. Köln 1988, S. 43 u. 52. Die Angaben beruhen auf der Befragung von 205 DDR-Zuwanderern im August 1985 im Notaufnahmelager Gießen, von denen 162 Westfernsehen empfangen konnten. Hesse weist darauf hin, dass sich die Ergebnisse »mit hinreichender Plausibilität« auf die Grundgesamtheit der DDR-Zuwanderer und ausreisewilligen DDR-Bürger beziehen lassen, jedoch eine Hochrechnung auf die Gesamtheit der DDR-Bürger nicht möglich ist. Ebenda, S. 16; so auch Dussel, Konrad: Deutsche Rundfunkgeschichte. Eine Einführung. Konstanz 1999, S. 176, weil »der Ausreisewille durchaus den Medienkonsum verändert haben könnte«. Eine noch höhere Rezeptionshäufigkeit erzielten »Kennzeichen D« (ZDF) und »Report« (ARD); Hesse: Westmedien, S. 43. 123 Siehe z. B. Finn, Gerhard: Die Frauen von Hoheneck. Protokoll einer Anhörung. Bad Münstereifel 1995, S. 62. 124 ZDF-Magazin, 8.11.1972, 20:35 Uhr. 125 ZDF-Magazin v. 11.12.1974, Transkript in: BArch-K, B 137/15780; weitere Sendungen am 28.2.1979, 1.8.1979 sowie 13.8.1979. Eine durchgängige Untersuchung aller Sendungen des ZDFMagazins war nicht möglich, sodass sich die Aussage auf die Pressedokumentation des Deutschen Bundestages stützt.
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Inhaftierungen sowie die Haftbedingungen in den DDR-Gefängnissen im Konkreten berichteten. Zu diesem Zweck hatten die Redakteure oftmals freigekaufte Häftlinge ausfindig gemacht, die trotz des ihnen auferlegten Schweigegebots bereit waren, über ihre Haft samt anschließendem Freikauf zu berichten. Einer der ersten war der spätere Fluchthelfer Wolfgang Welsch, der nach seiner zweiten Haftzeit und anschließendem Freikauf 1971 in die Bundesrepublik gelangte. Im Mai 1973 gab er dem ZDF-Magazin ein ausführliches Interview. Welsch berichtete über die Gründe seiner Inhaftierung, die unzumutbaren Haftbedingungen im Zuchthaus Brandenburg sowie physische wie psychische Misshandlungen und Schikanen. Abschließend plädierte Welsch dafür, es sei »ungeheuer wichtig«, in der Bundesrepublik und im Westen »zu publizieren und auf bestimmte konkrete Fälle aufmerksam zu machen«. Presseberichte über seine Inhaftierung hätten dazu geführt, dass man ihn in der Haft »wesentlich vorsichtiger angefasst« habe.126 Bis in die späten achtziger Jahre waren Interviews dieser Art fester Bestandteil des Sendekonzeptes des ZDF-Magazins, sodass selbst die nur sporadisch einschaltenden Zuschauer in der DDR früher oder später einmal davon Kenntnis erhalten mussten.127 Vordergründig prangerten die Zeugenaussagen die Haftbedingungen in der DDR an, waren aber zugleich buchstäblich der »lebende« Beweis für den Menschenhandel des SED-Regimes. Schließlich stellte sich für die Zuschauer in der DDR die Frage, wie es ausgerechnet ein »Republikflüchtiger« geschafft hatte, aus dem Gefängnis in die Bundesrepublik zu gelangen. Dennoch blieben manche misstrauisch, ob die Berichte auch auf Tatsachen beruhten. Ein Arzt, der bis 1983 in Brandenburg inhaftiert war und nach Haftverbüßung und einer Wartzeit in die Bundesrepublik ausreisen durfte, berichtet darüber aus der Rückschau: »Das Erzählte klang in meinen Ohren wie westliche Propaganda. Sollten die freigekauften Häftlinge, die Moderator Löwenthal in seinem ZDF-Magazin öfter vorführte, tatsächlich recht gehabt haben, wenn sie ihre schrecklichen Hafterlebnisse schilderten?«128 Seit Ende 1975, dem Jahr der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki, intensivierte das ZDF-Magazin zudem die Berichterstattung über Ausreisewillige und Inhaftierte. Zu diesem Zweck nahm Löwenthal einen Sendeteil mit dem Namen »Hilferufe von drüben« ins Programm auf, der erstmalig zum Tag der Menschenrechte der Vereinten Nationen am 10. De126 ZDF-Magazin v. 9.5.1973. 127 Eine Sammlung von Mitschnitten des ZDF-Magazins aus den siebziger und achtziger Jahren findet sich im Online-Findbuch der BStU »Filme und Videos des MfS«, v. a. ZAIG, Vi, Nr. 732 (1977); ZAIG, Vi, Nr. 358 (o. D.); ZAIG, Vi, Nr. 411 (o. D.); ZAIG, Vi, Nr. 359 (1982); ZAIG, Vi, Nr. 264 (1982); ZAIG, Vi, Nr. 672 (1986); ZAIG, Vi, Nr. 286 (1986); ZAIG, Vi, Nr. 885 (1987). 128 Garve, Roland: Unter Mördern. Ein Arzt erlebt den Schwerverbrecherknast. Berlin 1999, S. 45.
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zember 1975 ausgestrahlt wurde. 1978 entstand der gleichnamige Verein (»HvD«) mit Sitz im westfälischen Lippstadt, an dessen Gründung Löwenthal maßgeblich beteiligt war. In der HvD-Rubrik des ZDF-Magazins verlasen Löwenthal und sein Co-Moderator Fritz Schenk Briefe von Ausreisewilligen oder Angehörigen von Inhaftierten in der Absicht, die DDR durch die Veröffentlichung derart unter Druck zu setzen, dass sie den betreffenden Personen die Ausreise gestatten oder sie aus der Haft entlassen musste. Überdies wurde der Wortlaut der wichtigsten Passagen der KSZE-Schlussakte mehrfach eingeblendet, so langsam, dass sich der Text mitschreiben ließ.129 Die Strategie, die DDR durch die Veröffentlichung von Einzelschicksalen zum Nachgeben zu zwingen, verfolgte auch die 1972 in Frankfurt am Main gegründete »Gesellschaft für Menschenrechte« (GfM), seit 1981 »Internationale Gesellschaft für Menschenrechte«. Neben Amnesty International (AI), das sich ebenfalls für Inhaftierte in der DDR einsetzte und dabei eher diskret und defensiv vorging,130 war die IGfM die wichtigste Nicht-Regierungsorganisation, die sich mit dem Thema politischer Haft in der DDR befasste. Die Organisation, der auch ehemalige Inhaftierte angehörten und die 1977 bereits über 1 000 Mitglieder zählte, veröffentlichte in ihrer monatlich erscheinenden Zeitschrift einzelne Fälle von Ausreisewilligen und Gefangenen, teils mit Fotos und weiteren Angaben. Merkblätter für Verwandte, Freunde, oder Bekannte von Ausreisewilligen bzw. Inhaftierten in der DDR enthielten »Hinweise und Ratschläge zur Unterstützung ausreisewilliger Personen aus der DDR«, insbesondere die einschlägigen Passagen aus den DDR-Gesetzen, auf die sich Antragsteller berufen sollten sowie die Adressen des Innerdeutschen Ministeriums, der Rechtsschutzstelle und auch des ZDF-Magazins. Die Merkblätter gelangten überdies in die DDR und wurden dort unter der Hand weiterverbreitet.131 Die Aktivitäten des »ZDF-Magazins«, des Vereins »Hilferufe von drüben« sowie der IGfM stießen insbesondere bei der sozialliberalen Bundesregierung auf Missfallen. Günter Gaus, Bonns Ständiger Vertreter in der DDR, wies Bundesminister Egon Franke und Bundeskanzler Helmut Schmidt 1976 wiederholt darauf hin, dass derartige Veröffentlichungen die Bemühungen der Bundesregierung auf dem humanitären Sektor »erheblich belasten« würden.132 Sie könnten bestenfalls bei »herausragenden Einzelfällen« zum Erfolg beitragen. Für alle übrigen »Namenlosen«, die nur ein oder zweimal genannt wür129 Löwenthal; Kamphausen; Clausen: Feindzentrale, S. 4 u. 17. 130 Mihr, Anja: Amnesty International in der DDR. Der Einsatz für Menschenrechte im Visier der Stasi. Berlin 2002. 131 Exemplare des Merkblattes in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13630, Bl. 132–151. 132 Gaus an Franke, 18.3.1976; DzD VI/4 (1975/76), Nr. 176, S. 632 f.
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den, sei »jede öffentliche Behandlung […] nachteilig«.133 Gaus bat Schmidt und Franke, in Erwägung zu ziehen, die Ausstrahlung der Sendung durch eine Intervention beim Chefredakteur des ZDF zu verhindern.134 Wie sich in den Folgejahren zeigte, war die Besorgnis vor möglichen negativen Folgen der öffentlichen Behandlung von Einzelfällen durchaus begründet. Zwar nicht in der Form, dass die DDR die Verhandlungen samt und sonders abbrechen würde, doch meist reagierte Ost-Berlin auf die namentlichen Veröffentlichungen mit einer Zurückstellung des Häftlings in den Freikaufsverhandlungen. Volpert gab Vogel zur Auskunft, dass der Fall bis auf Weiteres als »Z/P-Fall« (Zurückstellung/Presseberichte) eingestuft werde und nicht lösbar sei.135 Das entsprach der Weisung Mielkes, laut derer eine Ausreise nicht infrage kam, »wenn zu Personen Presseveröffentlichungen in Zeitschriften der Feindorganisationen beziehungsweise westlichen Massenmedien im Zusammenhang mit ihren Übersiedlungsbestrebungen« vorlagen.136 Die Häftlinge wurden dann entweder als »Z-Fälle« eingestuft oder ganz gestrichen.137 Vogel berichtete dem Innerdeutschen Ministerium oder Greta Burmester, dass er wegen der öffentlichen Berichterstattung leider nicht helfen könne und mit seinen Bemühungen »gescheitert« sei.138 In manchen Fällen war die Zurückstellung nur vorübergehend. Vogel prognostizierte, es müsse zunächst etwas Zeit vergehen »und Ruhe eintreten«, bevor er es mit Aussicht auf Erfolg noch einmal versuchen könne.139 Auch das BMB und Wehners Stieftochter baten die Korrespondenten um Diskretion, um den Betroffenen nicht zu schaden, denn die DDR sei »nur dann zum Entgegenkommen bereit, wenn die Bemühungen ohne Aufsehen verlaufen«.140 Mit »ständigem Krach« sei den Menschen nicht zu helfen, sondern nur »mit zähem Ringen«.141 War dies erfolgreich, wurde die Entlassung oft doch noch genehmigt, wenn auch manchmal nur im Rahmen der »Sonderaktionen« für die doppelte Gegenleistung.142 Zweifelsohne war es eine Erpressungssituation, im 133 Gaus an Schmidt u. Franke, 1.10.1976; DzD VI/4 (1975/76), Nr. 232, S. 811. 134 Gaus an Franke, 18.3.1976; DzD VI/4 (1975/76), Nr. 176, S. 632 f. 135 Z. B. den Fall in: AdSD, NL Wehner, AK-DDR, Mappe 46, FBS 1346. 136 »Anforderungen an die Überprüfung der Vorschläge aus polit.-op. Gründen…«, Fachschulabschlußarbeit Weiß, Dieter; BStU, MfS, JHS, Nr. 726/83, Bl. 21, in Bezug auf dem Befehl Nr. 6/77 Mielkes. 137 Siehe Notiz Enkes zu Streichungen wegen »Veröffentlichung AI«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 3358, Bl. 17 f. 138 Siehe beispielsweise den Brief Vogels an den Freund der Inhaftierten, 30.9.1980; AdSD, NL Wehner, AK-DDR, Mappe 11, FBS 323 oder Vogels Notiz in Mappe 47, FBS 1379. 139 Notiz Vogels, 30.1.1979; ebenda, Mappe 31, FBS 965. 140 Greta Burmester an Angehörige, 24.9.1981; ebenda, Mappe 32, FBS 990. 141 Greta Burmester an H., 15.12.1981; ebenda, Mappe 31, FBS 965. 142 Z. B. die Fälle in: ebenda, Mappe 4, FBS 114 sowie ebenda, Mappe 47, FBS 1379.
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Kern jedoch die Grundbedingung, unter der die DDR überhaupt zu den Entlassungen gegen Geld bereit war. Wenn das ZDF-Magazin, die »Hilferufe von drüben« oder die IGfM die später erfolgten Entlassungen dennoch allein auf die Wirkung ihrer Berichterstattung zurückführten, so lag dies oftmals auch daran, dass die Lösung des Falles »bei Beginn der öffentlichen Behandlung ohnehin gesichert war«, wie ein Ministerialbeamter gegenüber einem Bittsteller anmerkte. Jene Fälle hingegen, »die in einem früheren Stadium öffentlich gemacht« und danach »lange Zeit blockiert« gewesen wären, würden »in solche ›Erfolgsbilanzen‹ natürlich nicht aufgenommen«.143 An der Frage, ob die namentlichen Veröffentlichungen den Betroffenen nützten oder schadeten, entzündete sich 1979 eine hitzige Auseinandersetzung zwischen der SPD-geführten Bundesregierung auf der einen und dem ZDFMagazin sowie den Menschenrechtsorganisationen auf der anderen Seite. Gerhard Löwenthal warf Egon Franke vor, dass »Schweigen immer Mitschuld« bedeute. Franke habe keine Belege dafür, dass sich die Namensnennungen nachteilig für die Betroffenen auswirkten. Weiter hielt er dem Minister vor, er wolle »jede öffentliche Hilfeleistung […] unterbinden« und verhalte sich »leisetreterisch und anpasserisch« gegenüber den Kommunisten. Die Angebote zur Zusammenarbeit, um »auf anderem Wege evtl. zum Erfolg führende Bemühungen in einzelnen Fällen nicht zu gefährden«, habe er, Franke, ja leider »brüsk abgelehnt«. Dies sei umso bedauerlicher, da nur die parallelen öffentlichen wie diskreten Bemühungen »die optimale Hilfeleistung für unsere Landsleute drüben« ermöglichen würden.144 In einer Sendung des ZDF-Magazins spitzte Löwenthal die Forderung zu, dass die Bundesregierung für die insgesamt hohen Zahlungen an die DDR endlich angemessene Gegenleistungen verlangen müsse: »Wenn wir es so dicke haben, dann sollte man wenigsten Vertragstreue verlangen und endlich auf echten menschlichen Erleichterungen bestehen.«145 Ähnliche Vorwürfe erhob die IGfM im Mai 1980 in einer Broschüre mit dem Titel »Menschenrechte als Opfer Innerdeutscher Beziehungen«. Das BMB beuge sich der Erpressungsstrategie Ost-Berlins, indem es die Menschenrechtsorganisationen und Betroffene auffordere, über ihren Fall nicht in der Öffentlichkeit zu berichten. Damit bevormunde das Ministerium die Bürger und übernehme kritiklos die Argumente der DDR. Dass selbst den Angaben Vogels nicht zu trauen sei, ergebe sich schon daraus, dass Rechtsanwalt Vogel keinesfalls unabhängiger Anwalt, sondern zweifellos »im Auftrag des MfS 143 Brief des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft an Angehörige, 27.9.1979; ebenda, Mappe 58, FBS 1692. 144 Löwenthal an Franke, 26.4.1976; AdSD, 1/HSA-00, Mappe 9071. 145 ZDF-Magazin, 28.2.1979.
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tätig« und »ein hoher Offizier« der Staatssicherheit sei. In mehreren Fällen habe Vogel sogar Klienten an das MfS verraten. Insgesamt versuche die Bundesregierung, »Öffentlichkeitsarbeit für die Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR zu verhindern«.146 Löwenthal und die IGfM erhielten Unterstützung seitens der CSUOpposition im Bundestag und vom CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der stellvertretende Obmann im Innerdeutschen Ausschuss kritisierten den Vorgang als »ungeheuerlich«. Die Bundesregierung mache sich mit dem Appell, öffentliche Berichte zu unterlassen, »zum »verlängerten Arm des SEDRegimes« und beschreite damit den Weg zur »Selbstfinnlandisierung« der Bundesrepublik,147 d. h. in eine »moskauhörige Neutralität«, wie Der Spiegel den Begriff einst griffig definiert hatte.148 Strauß schloss sich den Stellungnahmen seiner Parteikollegen in einem Brief an HvD an, in dem er seine »Empörung« über Franke zum Ausdruck brachte und die IGfM sowie HvD bat, weiterhin geeignete Einzelfälle zu veröffentlichen. »Leisetreterei« würde generell »von totalitären Regimen nicht honoriert«.149 Derlei geballte Vorwürfe führten wiederum zu Abwehrreaktionen der Bundesregierung. Egon Franke echauffierte sich über die »ungeheuerlichen Unterstellungen« und lehnte es ab, sich überhaupt auf dieser Ebene mit Löwenthal auseinanderzusetzen.150 Der Streit spiegelte den Kampf zwischen den beiden Leitideen über den deutschlandpolitischen Kurs wider. Auf der einen Seite stand die Strategie der sozialliberalen Koalition, die DDR durch eine Entspannungspolitik und Geldzahlungen zum Nachgeben zu bewegen, auf der anderen Seite die Konfrontationsstrategie der Menschenrechtsorganisationen, die Machthaber in Ost-Berlin zur Einhaltung ihrer Zusagen zu zwingen. Neben den konzeptionellen Differenzen spielten auch persönliche Animositäten sowie gegenseitige Verdächtigungen über die wahren Ziele des anderen eine Rolle, was eine Zusammenarbeit verhinderte.151 Erst der Regierungswechsel im Herbst 1982 entschärfte den Konflikt. Der neue Innerdeutsche Minister Heinrich Windelen (CDU) war anders als sein 146 Gesellschaft für Menschenrechte (Hg.): Menschenrechte als Opfer »Innerdeutscher Beziehungen«. Dokumentation. Frankfurt/M. 1980, S. 3 u. 24. 147 CSU-Pressemitteilung, Nr. 336, 27.6.1980; CSU-Correspondenz, Nr. 254, 21.5.1980. 148 »Nato: Schmidt stellt sich quer«. In: Der Spiegel v. 29.5.1978, Nr. 22. 149 HvD, 2. Jg., Nr. 9, 2. Quartal 1980, in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13630, Bl. 272; Löwenthal; Kamphausen; Clausen: Feindzentrale, S. 57. 150 Franke an Löwenthal, 10.5.1976; AdSD, 1/HSA-00, Mappe 9071. 151 In einem anderen Licht würden die Dinge erscheinen, falls die – unbewiesene – Behauptung Hermann Kreutzers zutreffen sollte, wonach Egon Franke in einer wie auch immer gearteten Verbindung zum MfS stand. Vgl. Anm. 228 im Kapitel II.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Vorgänger Egon Franke (SPD) zu einer Kooperation mit dem ZDF-Magazin und dem Verein »Hilferufe von drüben« bereit. Der Verein überreichte dem Ministerium Namenslisten und sprach sich mit ihm ab, um eine bevorstehende Lösung des Falls durch eine Veröffentlichung nicht zu gefährden; andererseits konnte er bei Häftlingen, deren Entlassung die DDR verweigerte, in den Medien Druck ausüben.152 Auch die Spannungen zwischen der IGfM und dem Innerdeutschen Ministerium ließen nach. Ludwig Rehlinger, von Rainer Barzel Ende 1982 zum Staatssekretär berufen, traf sich mit Vertretern der IGfM und signalisierte damit, dass ihm zumindest an einer atmosphärischen Verbesserung gelegen war. Dessen ungeachtet, blieben das ZDF-Magazin und die Menschenrechtsorganisationen dem MfS stets ein Dorn im Auge. Aus ihrer Sicht handelte es sich um »Feindzentralen«, die zu »entlarven« und konsequent zu bekämpfen waren.153 Der Anklage, mit dem Verkauf politischer Häftlinge einen schwunghaften »neuzeitlichen Menschenhandel« zu betreiben, vermochte das Regime auf der propagandistischen Ebene jedoch nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Löwenthals Gegenspieler im DDR-Fernsehen, Karl-Eduard von Schnitzler und dessen wöchentlich ausgestrahlte Sendung »Der Schwarze Kanal« schwiegen zu dem Thema.154 »Menschenhändler« waren, der offiziellen Lesart entsprechend, ausschließlich westliche Fluchthelfer.155 Die Berichte der freigekauften politischen Häftlinge im »ZDF-Magazin« über die Missachtung der Menschenrechte in den DDR-Gefängnissen tat Schnitzler als Lügen ab: »Tja, wieder ein Rohrkrepierer: Misshandlungen oder gar Folter von Häftlingen in der DDR gibt es nicht. Aber irgendwas wird schon hängen bleiben.«156 Folter sei hingegen im »NATO-Staat« Türkei und in »Nordirischen Konzentrationslagern« an der Tagesordnung,157 in der DDR hingegen sei das »vorrangige Menschenrecht auf Arbeit« verwirklicht.158 Löwenthal und Konsorten würden die Geschichte verdrehen, indem sie falsche Helden aufbauten: »Verräter tau-
152 Löwenthal; Kamphausen; Clausen: Feinzentrale, S. 69 f. 153 Zit. nach: Löwenthal: Erinnerungen, S. 369. 154 Siehe dazu das relativistisch argumentierende Buch von Gerlof, Kathrin: Gegenspieler. Gerhard Löwenthal – Karl-Eduard von Schnitzler. Frankfurt/M. 1999. 155 Z. B. »Zwei Staaten und die Freiheit«, 754. Sendung, 30.9.1974, DRA, E084-0502/0003/091. 156 »Haltet den Dieb« – oder »Das Geschrei über die Menschenrechte«, 823. Sendung, 2.2.1976, DRA, E084-05-02/0003/159. 157 »›Menschenrechte‹ und Rechte der Menschen«, 714. Sendung, 17.12.1973, DRA, E084-0502/0003/051. 158 »Haltet den Dieb« – oder »Das Geschrei über die Menschenrechte«, 823. Sendung, 2.2.1976, DRA, E084-05-02/0003/159.
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fen sie ›Dissidenten‹; Gesetzesbrecher, Kriminelle ernennt man zu ›Bürgerrechtskämpfern‹.«159 Das MfS konnte die »Feindzentralen« daher nur auf anderen Wegen bekämpfen. Zu den nicht-konspirativen Methoden gehörten juristische Schritte vor Gerichten in der Bundesrepublik gegen die angeblichen Verleumdungen. Vogel, der auch als Anwalt in West-Berlin zugelassen war, klagte im Sommer 1980 vor dem Landgericht Berlin in einem Zivilverfahren auf Unterlassung und Widerruf der Behauptung der IGfM, er bekleide einen Offiziersrang im MfS, sei daher in dessen Auftrag tätig und habe Mandanten an die »Firma« verraten. Da die IGfM keine Beweise für ihre Behauptung vorlegen konnte, endete das Verfahren mit einem Vergleich. Die IGfM musste sich verpflichten, derartige Behauptungen in Zukunft zu unterlassen.160 Aus Sicht des MfS führte das offensive Vorgehen zum gewünschten Erfolg. Wie der für die »Bearbeitung« der IGfM zuständige Mitarbeiter der Zentralen Koordinierungsgruppe wenig später auf einer Leitungsberatung berichtete, habe der Prozess samt der öffentlichen Berichterstattung »zur Verunsicherung der GfM« geführt.161 Vogel ging es mit diesem Schritt nicht nur um die Verteidigung seines Rufes als Anwalt. Wie einer seiner »streng geheimen« Berichte an das MfS mit dem Betreff »Löwenthal (ZDF-Magazin) – Eventuelle rechtliche Schritte« belegt, identifizierte er sich darüber hinaus mit dem grundsätzlichen Ziel des MfS, die Wortführer der Kritik an der DDR in der Bundesrepublik zum Schweigen zu bringen und unterbreitete dem MfS einen diesbezüglichen Vorschlag. In Reaktion auf einen Bericht über den DDR-Strafvollzug des ZDFMagazins vom 2. September 1987, nur fünf Tage vor dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik, stellte Vogel in dem Papier Überlegungen an, wie Löwenthals Entfernung von seinem Posten zu bewerkstelligen sei. Als Hebel sollte dabei § 241a StGB (BRD) dienen, der u. a. »Mitteilungen« von Bundesbürgern unter Strafe stellte, welche DDR-Bürger der Gefahr politischer Verfolgung aussetzten, beispielsweise wenn ein Bundesbürger das Fluchtvorhaben eines DDR-Bürgers angezeigt hatte. Konkret sollten Löwenthals Berichte in der Rubrik »Hilferufe von drüben« genutzt werden: »Sendet er [Löwenthal, JPW] ohne Zustimmung eines betroffenen DDR-Bürgers dessen Fall, und erfährt dieser Bürger dadurch Nachteile (es reichen bereits polizeiliche Vernehmungen), kann dieser so benachteiligte DDR-Bürger gegen Löwenthal Straf159 »Staat der Spitzel und Stänker«, 951. Sendung, 21.8.1978, DRA, E084-05-02/0003/287. 160 Löwenthal; Kamphausen; Clausen: Feinzentrale, S. 59 f.; Wedel: Anwalt zwischen Ost und West, S. 42–44 sowie Presseberichte in Pressedokumentation des Deutschen Bundestages, Bestand 924-1/0. Die Behauptung der IGfM traf in der Hinsicht zu, dass Vogel im Auftrag des MfS agierte und inoffizieller Mitarbeiter des MfS war. Vgl. Anm. 155 im Kapitel II. 161 Protokoll der ZKG-Leitungsberatung v. 10.9.1980 u. 11.9.1980; BStU, ZKG, Nr. 94, Bl. 118.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
anzeige erstatten. Seit Jahren schlage ich bereits vor, dies zu tun. Wir müssen einen geeigneten Fall heraussuchen. Haben wir Erfolg, wäre das auch ein warnendes Präjudiz für andere BRD-Sendungen und vor allem auch für die BRD-Presse. Als Rechtsvertreter des geschädigten DDR-Bürgers könnten wir [geschwärzt] gewinnen. Im Fall des obsiegenden Urteils wäre Löwenthal für seine Sendungen nicht mehr tragbar. Der Intendant (Rainer Appel) müsste und könnte ihn ablösen.«162
Eine solche geschickt gesponnene Intrige war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr nötig. Das ZDF versetzte Löwenthal bereits im Dezember 1987 mit Erreichen des 65. Lebensjahres gegen seinen Willen in den Ruhestand. Allerdings war es dem MfS in den fast 20 Jahren der Ausstrahlung der Sendung nicht gelungen, dem Moderator »etwas anzuhängen«. Die Suche beispielsweise nach belastendem Material aus der NS-Zeit blieb erfolglos. Wie sich ein ehemaliger Stasi-Offizier erinnert, knallten in der Normannenstraße die Sektkorken, als die Sendung eingestellt wurde.163 Auch gegen die IGfM ging das MfS mit konspirativen Mitteln vor. Briefe der IGfM wurden gefälscht, falsche Pressemitteilungen im Namen von Mitgliedern des Vorstandes verschickt, Gerüchte, Lügen und Halbwahrheiten verbreitet sowie Sachverhalte entstellt, um die Arbeit der Organisation in Verruf zu bringen. Schließlich versuchten die zuständigen MfS-Offiziere sogar, die IGfM als von der CIA finanzierte Organisation darzustellen und ihr die Zusammenarbeit mit Rechtsextremisten sowie die Unterstützung von Diktaturen »nachzuweisen«. Es gelang dem MfS dadurch, die Glaubwürdigkeit der Gesellschaft im Westen zu erschüttern und »den Wirkungsbereich […] in der bundesdeutschen Öffentlichkeit einzuschränken und weitgehend auf das bürgerlich-konservative Milieu zu beschränken«.164 Weder das Bekanntwerden des Freikaufs in der DDR noch die Aktivitäten der Menschenrechtsorganisationen waren dadurch jedoch zu verhindern. Dem Interesse der DDR an einer diskreten Behandlung des Freikaufs kam es vielmehr zugute, dass im allgemeinen politischen Klima der Bundesrepublik der achtziger Jahre mahnende Stimmen wie Löwenthal mehr und mehr als »ewiggestrig« belächelt und die im vorhergehenden Jahrzehnt öffentlichen Auseinandersetzungen über das Für und Wider des Freikaufs seltener wurden, der Vorgang zur alltäglichen »deutsch-deutschen Normalität« gehörte. 162 Bericht v. 7.9.1987; BStU, MfS, HA IX, 13941, Bl. 160 f. Zwar ist das Papier nicht von Vogel unterzeichnet, doch dem Schriftbild nach und darin genannten Fakten seinen übrigen Berichten zuzuordnen (siehe Quellenverzeichnis). Rainer Appel war Chefredakteur, nicht Intendant. 163 Löwenthal: Erinnerungen, S. 74; Hanfeld, Michael; Purschke, Thomas: »ZDF-Film »›Die Feindzentrale‹. Sollte Löwenthal sterben?« In: FAZ v. 13.11.2006. 164 Wüst, Jürgen: Menschenrechtsarbeit im Zwielicht. Zwischen Staatssicherheit und Antifaschismus. Bonn 1999, S. 161–197, hier 195; vgl. http://www.igfm.de/Die-IGFM-im-Visier-derStasi.167.0.html, download 30.9.2011.
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Auswirkungen des Freikaufs auf die DDR
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Der Freikauf und die DDR-Opposition
Karl Wilhelm Fricke stellte 1984 in seiner Studie zum Thema »Opposition und Widerstand in der DDR« fest, dass die offene Grenze vor dem Mauerbau 1961 »wie das Sicherheitsventil eines überheizten Kessels« gewirkt habe, da »Unzufriedene« die DDR jederzeit verlassen konnten. Der Mauerbau habe dieses Ventil geschlossen und damit zugleich »die Gefahr einer Explosion« heraufbeschworen. »In Erkenntnis dieser Gefahr«, resümiert Fricke, »haben die Kommunisten ihren politischen Kurs nach dem Bau der Mauer relativ gemäßigt – und sie haben zugleich durch den 1964 einsetzenden Freikauf ehemaliger politischer Häftlinge in großem Stil das oppositionelle Potenzial abgebaut. Zu einem erheblichen Teil waren die freigekauften Häftlinge politisch bewusste Gegner, die neue Risiken bedeutet hätten, wenn sie zum Bleiben in der DDR gezwungen worden wären. Selbst wenn man annimmt, dass von den rund 20 000 ehemaligen Häftlingen, die in den Jahren 1964 bis 1983 freigekauft wurden, nur jeder zweite oder dritte ein bewusster Regimegegner gewesen ist, so ist die Bedeutung des Freikaufs für Opposition und Widerstand kaum zu überschätzen.«1
Auch andere Autoren vertreten die These, dass der Freikauf die DDROpposition geschwächt habe. Der US-amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman beschreibt den von Fricke skizzierten kausalen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der DDR einerseits und dem Aufbegehren gegen das Regime andererseits in einem »hydraulischen Modell«: Je mehr Druck aus dem »Kessel DDR« durch Abwanderung (»exit«) entwich, umso geringer sei das Aufbegehren gegen die DDR-Obrigkeit (»voice«) gewesen. Die SED-Führung habe daher stets versucht, diesen Mechanismus zu ihren Gunsten auszunutzen, u. a. auch durch den Häftlingsfreikauf.2 1 Fricke, Karl Wilhelm: Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report. Köln 1984, S. 214. Vgl. Ders.: Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur Geschichte der DDR. Berlin 2000, S. 359 f. 2 Hirschman, Albert O.: Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte. In: Leviathan 20 (1992), S. 330– 358, hier 333 f. u. 341 f. Hirschman bezieht das Modell auf die Zeit von 1949 bis 1988, im Revolutionsjahr 1989 hingegen seien Abwanderung und Widerspruch (»exit« und »voice«) hingegen »Verbün-
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Auch im Lichte der Ergebnisse der vorliegenden Studie trifft die These der potenziell dämpfenden Wirkung des Häftlingsfreikaufs auf die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition in ihrem Kern zu. Die These muss jedoch sowohl in zeitlicher als auch in begrifflicher Hinsicht differenziert werden. Erstens war die Voraussetzung für die Schwächung des oppositionellen Potenzials, d. h. die Entlassung aller freigekauften Häftlinge in den Westen, anfangs weder beabsichtigt noch der Regelfall. Wie gezeigt, wurden in den sechziger Jahren rund 43 Prozent aller freigekauften Häftlinge in die DDR entlassen, bis einschließlich 1972 waren es immer noch gut 37 Prozent. Zumindest theoretisch standen sie dem »oppositionellen Potential« nach ihrer Rückkehr an ihren früheren Wohnort wieder zur Verfügung. Hinzu kam, dass etliche der in die Bundesrepublik entlassenen Häftlinge Bundesbürger waren, die auch ohne Freikauf in den Westen entlassen worden wären. Dadurch reduzierte sich der Anteil der ehemaligen »DDR-Bürger« an den abgeschobenen Häftlingen nochmals. Im Ergebnis verblieb daher vermutlich sogar die Mehrheit aller »DDR-Bürger« unter den bis 1969 bzw. 1972 freigekauften Häftlingen in der DDR. Womöglich spiegelte sich darin zugleich eine ideologische Position von SED und MfS wider, derzufolge die entlassenen Häftlinge auch nach ihrer Entlassung als »Staatseigentum« galten und trotz der Haftstrafe »zurückgewonnen« werden sollten. In diesem Zeitraum dürfte der Schwächungseffekt des Freikaufs auf Opposition und Widerstand in der DDR daher deutlich geringer gewesen sein, als es Frickes und Hirschmans These nahe legen.3 Zweitens ist zu differenzieren, worauf sich die von Fricke gewählten Begriffe »bewusste Regimegegner« sowie »Opposition und Widerstand« beziehen, denn die jeweilige Wahl der Definition führt zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die weite Definition der Begriffe Gegnerschaft, Opposition und Widerstand meint lediglich eine aktive oder passive Aufkündigung der Loyalität gegenüber dem Regime. Dafür ist es unerheblich, ob die Konsequenz hieraus lautete, sich dem Regime durch Flucht oder Ausreise zu entziehen, oder ob diese Möglichkeit gerade nicht in Betracht gezogen wurde. Demnach wären alle freigekauften Häftlinge politische Gegner des SED-Regimes gewesen.4 Da seit 1973/74 über dete« gewesen, die sich gegenseitig verstärkt und zum Anschwellen beider Bewegungen geführt hätten. Detlef Pollack weist darauf hin, dass auch der Grad der Repression einen Einfluss auf das Maß an »voice« hatte, wenn nur wenige Möglichkeiten zum »exit« bestanden. Pollack, Detlef: Bedingungen und Möglichkeit politischen Protests in der DDR. Der Volksaufstand von 1953 und die Massendemonstrationen 1989 im Vergleich. In: Ders. (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt/M. 1997, S. 303–331, hier 318–320. 3 Vgl. Kap. III.4. u. Tabelle 1 im Anhang. 4 Zur Debatte um die Definition der Begriffe Widerstand und Opposition siehe u. a. Wolle, Stefan: Flucht als Widerstand? In: Henke, Klaus-Dietmar; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.):
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90 Prozent aller jährlich freigekauften Häftlinge in die Bundesrepublik entlassen wurden, standen sie somit dem »oppositionellen Potential« nicht mehr zur Verfügung. Dies scheint auch die – zumindest »offizielle« – Sicht der Verantwortlichen in der DDR gewesen zu sein. In der anschwellenden Zahl der Abschiebung Freigekaufter in den Westen kam nämlich eine gewandelte Wahrnehmung zum Ausdruck, da die Betroffenen – inzwischen mehrheitlich DDR-Bürger – eher als »unbelehrbar« und daher als »für die Sache des Sozialismus verloren« angesehen wurden.5 Zumindest spricht diese Auffassung aus einem Interview Vogels und Stanges aus dem Jahr 1977. Vogel führte darin aus, seine Tätigkeit sei »auch ein Faktor der Entspannung«, denn »jeder Flüchtling, jeder Dissident«, der in die »Aktion« einbezogen werde, sei »ein Problem weniger, eine Reibungsursache weniger zwischen den beiden deutschen Staaten und infolgedessen zwischen Ost und West«.6 An anderer Stelle fasste Vogel die Auffassung Honeckers in den Worten zusammen, jeder freigekaufte Häftling sei »ein Klassenfeind weniger«.7 Honecker selbst bemerkte 1974 gegenüber Breschnew, man schiebe »manche kriminelle Elemente in die BRD ab«, die im Westen als politische Häftlinge gelten würden.8 Aus dieser Perspektive erfüllte das Häftlingsgeschäft spätestens seit Mitte der siebziger Jahre seinen Zweck, Unruhestifter und Störenfriede »loszuwerden«. Ein anderes Bild ergibt sich hingegen, sobald man eine enge Definition von Gegnerschaft, Widerstand und Opposition wählt. Zwar hatten auch Flüchtende und Antragsteller auf Ausreise ihre aktive oder passive Loyalität gegenüber dem Regime aufgekündigt, daraus jedoch nicht den Schluss gezogen, in der DDR zu bleiben und der SED ihren Herrschaftsanspruch vor Ort streitig zu machen. Dies war vielmehr das kennzeichnende Merkmal der Opposition im engeren Sinne, wobei freilich die konkreten Erscheinungsformen dieser Gegnerschaft ein breites Spektrum umfassten.9 Widerstand und Opposition in der DDR. Köln 1999, S. 309–326 sowie weitere Beiträge in diesem Sammelband; Neubert, Ehrhart: Typen politischer Gegnerschaft. In: Veen, Hans-Joachim; Eisenfeld, Peter; Kloth, Hans Michael u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin 2000, S. 15–19; Neubert, Ehrhart: Was waren Opposition, Widerstand und Dissidenz in der DDR? Zur Kategorisierung politischer Gegnerschaft. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 17–46; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Gegenkräfte: Opposition und Widerstand in der DDR – Begriffliche und methodische Probleme. In: Ebenda, S. 47–82. 5 Vgl. Kap. III.4. u. Tabelle 1 im Anhang. 6 Meyer: Freikauf, S. 215. 7 Garton Ash, Timothy: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. München 1993, S. 217. 8 Gespräch Honecker – Breschnew, 18.6.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 178, S. 621– 630, hier 629. 9 Vgl. Anm. 4 in diesem Kapitel.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Betrachtet man nunmehr die Delikte, aufgrund derer die freigekauften Häftlinge verurteilt worden waren, so fällt auf, dass sich der »Typus« des freigekauften politischen Häftlings bis Mitte der siebziger Jahre grundlegend gewandelt hatte. Waren die meisten Freigekauften der sechziger Jahre noch wegen ihrer fundamentalen Gegnerschaft oder wegen spontanen Aufbegehrens gegen das SED-Regime verurteilt worden, handelte es sich nunmehr hauptsächlich um Personen, deren Verurteilung im Zusammenhang mit einem Fluchtversuch oder einem Ausreisebegehren stand.10 Demzufolge bietet sich das paradoxe Bild, dass der Freikauf zwar seit Mitte der siebziger Jahre in der Regel die Abschiebung in den Westen beinhaltete, die freigekauften Häftlinge in ihrer großen Mehrheit aber keine Regimegegner im engeren Sinne mehr waren. Dem MfS gelang es zudem immer seltener, Personen aus dieser Gruppe der Regimegegner im engeren Sinne durch Manipulationen und Drohungen zur Ausreise zu drängen; eine Gruppe, deren prozentualer Anteil an den freigekauften Häftlingen zwischen 1963 und 1989 insgesamt rückläufig war. Dies galt sowohl für die Angehörigen der »Fundamentalopposition« der fünfziger und sechziger Jahre, deren Protest auf eine Überwindung des Regimes abzielte, als auch für die Oppositionsgruppen der siebziger und achtziger Jahre, die mehrheitlich eine »Reform des realsozialistischen Systems« und nicht seine Überwindung forderten.11 Besonders die Angehörigen der Opposition der siebziger und achtziger Jahre gehörten durchweg zu den überzeugten »Dableibern«.12 Einige Beispiele aus jeder der drei Dekaden zwischen Mauerbau und Mauerfall mögen diese Entwicklung verdeutlichen. In den sechziger und siebziger Jahren war das MfS mit derartigen Versuchen noch durchaus erfolgreich. Das Methodenarsenal reichte dabei von subtilen »Angeboten«, die dem Häftling eine Ausreise in den Westen schmackhaft machen sollten, bis hin zur offenen Nötigung, etwa wenn Nachteile oder Schikanen für den Fall angedroht wurden, sollte sich der Betreffende für den Verbleib in der DDR entscheiden. Bereits bei der ersten Entlassungswelle im Sommer 1964 ging das MfS mit derlei Methoden zu Werk, wie das Schicksal Hans Frömels zeigt. Frömel hatte dem »Eisenberger Kreis« angehört, einer 10 Rehlinger: Freikauf, S. 105. Ausführlich hierzu siehe Kap. VIII.1. 11 Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Opposition, Widerstand und widerständiges Verhalten in der DDR. Forschungsstand – Grundlinien – Probleme. In: Dies.: Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 9–26, hier 16. 12 Oppositionelle wollten i.d.R. in der DDR bleiben, teilweise schlossen sie die Ausreiser sogar von der Mitwirkung an ihren Zusammenkünften aus. Klein, Thomas: »Frieden und Gerechtigkeit!« Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln 2007, S. 502 f.
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antikommunistischen Widerstandsgruppe Jugendlicher aus dem Thüringischen Ort Eisenberg. Gemeinsamer politischer Nenner aller Mitglieder des Kreises war die strikte Ablehnung der kommunistischen Diktatur und damit einhergehend die Forderung nach freien Wahlen, einem freiheitlichdemokratischen System, Rückgängigmachung der Enteignungen mittelständischer Betriebe und Kleinbauern sowie der Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt. Die Widerstandshandlungen der Gruppe umfassten Aktionen wie das Anbringen von systemkritischen Parolen an öffentlichen Stellen, die Verteilung von Flugblättern, Symbolhandlungen wie das Anmalen durchgestrichener Sowjetsterne und – untypisch für den sonst gewaltlosen Widerstand – im Jahr 1956 auch ein Brandanschlag auf eine Schießbahn der Kasernierten Volkspolizei, mit dem die Gruppe gegen den Aufbau der NVA protestieren wollte.13 1958 zerschlug das MfS den Kreis. Der Prozess vor dem Bezirksgericht Gera endete mit einer 14-jährigen Haftstrafe für Hans Frömel, 15 und 14 Jahren Zuchthaus für zwei seiner Freunde und Gefängnisstrafen für die übrigen Mitangeklagten.14 Im Zuge der ersten Breitenentlassung 1964 kaufte die Bundesregierung Frömel und seine Freunde Thomas Ammer und Peter Hermann frei, alle drei kamen in den Westen.15 Während der Entlassung in der UHA des MfS in der Magdalenenstraße in Berlin wurde Frömel gefragt, »wo er denn nun nach seiner Entlassung seinen künftigen Wohnsitz nehmen wollte«. Er entschied sich für Leipzig, da er in seiner Heimatstadt Eisenberg, so seine Überlegung, als ehemaliger Häftling weithin bekannt gewesen wäre, was ihm einen Neuanfang erschwert hätte. Der Stasi-Offizier, der die Befragung leitete, verwehrte Frömel diesen Wunsch, da er ihm Fluchtgedanken unterstellte. Als »legale« Form der Ausreise bot ihm ein anderer MfS-Mitarbeiter eine sofortige Ausreise in die Bundesrepublik an. Frömel lehnte zunächst ab, doch nach einer ihm eingeräumten »Bedenkzeit« von nur wenigen Minuten entschied er sich – nicht zuletzt aufgrund der psychischen Stresssituation – für die Ausreise in den Westen, obwohl dies die Trennung von seinen Eltern bedeutete.16 Das Vorge13 Zur Mühlen Patrik von: Der »Eisenberger Kreis«. Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR, 1953–1958. Bonn 1995; Ders.: Thomas Ammer. In: Fricke, Karl W.; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes: Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder. München 2002, S. 152– 156; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 115–118. 14 Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen in der Sowjetzone Deutschlands. Zusammengestellt vom Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen. Bonn 1962, S. 111. Vgl. Zur Mühlen: Eisenberger Kreis, S. 179. 15 Zur Mühlen: Eisenberger Kreis, S. 191. 16 Ebenda, S. 191.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
hen des MfS deutet darauf hin, dass mit der Abschiebung der drei führenden Köpfe einer Reaktivierung des Widerstandskreises vorgebeugt werden sollte. Dass das MfS diese Möglichkeit in Betracht zog, zeigt bereits der Umstand, dass Frömel und seine Freunde selbst nach ihrer Entlassung in den Westen für einige Zeit nicht aus dem Blickfeld der Staatssicherheit gerieten.17 Mit der allmählichen Verschiebung der »typischen« Deliktgruppenzusammensetzung hin zu den Flucht- und Ausreisedelikten nahm die Zahl jener Inhaftierten indes mehr und mehr ab, die wegen widerständiger Handlungen verurteilt worden waren. In den achtziger Jahren handelte es sich dabei oftmals um Menschen, die auf eigene Faust gegen das System protestiert hatten, so beispielsweise Sabine Popp.18 Aus Protest gegen die andauernde Bevormundung, die eingeschränkten Reisemöglichkeiten und die Nichtzulassung zum Abitur lediglich aus dem Grund, weil ihre Eltern einen privaten Gartenbaubetrieb führten, begann die 17-jährige Schülerin aus dem sächsischen Vogtland Ende der siebziger Jahre damit, in der weiteren Umgebung ihres Wohnortes mit einer Dose Autolack Losungen an Wände und öffentliche Plätze zu sprühen, darunter »Wiedervereinigung«, »Mauer weg«, »Russen raus« oder »Freiheit statt Sozialismus«, den Slogan der Opposition aus dem Bundestagswahlkampf 1976. Durch den Verrat eines Spitzels kam das MfS der jungen Frau auf die Spur und verhaftete sie. In der Gerichtsverhandlung im November 1980 vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt bekannte sich Popp in bemerkenswerter Gradlinigkeit zu ihren Überzeugungen und stellte sich laut Urteilsschrift »auf den Grundsatz der Wiedervereinigung«. Das Gericht verurteilte sie wegen »staatsfeindlicher Hetze« nach § 106 StGB in Verbindung mit einer vermeintlichen Fluchtvorbereitung zu fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe von 2 000 Mark, ihre Schwester zu zweieinhalb und ihren Freund zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis. Ihre Strafe musste Sabine Popp auf Burg Hoheneck im sächsischen Stollberg verbüßen. Nachdem die Hälfte ihrer Haftzeit verstrichen war, stimmte die DDR der Einbeziehung in den Freikauf zu. Obwohl Popp eigentlich nicht in die Bundesrepublik wollte, tat sie es ihrer Schwester gleich und stellte in der Haft einen Ausreiseantrag. Dahinter stand die bittere Erkenntnis, dass sie im Falle der Rückkehr zu ihrer Familie »fertiggemacht« werden würde und keine Aussicht mehr auf eine persönliche und berufliche Zukunft hätte. Im Juni
17 Ebenda, S. 222–225. 18 Siehe für das Folgende Burger, Rainer: Nichts als die Wahrheit. In: FAZ v. 5.7.2008, S. 3; Grimm, Peter: Verraten und verhaftet. Wie Sabine Popp durch einen Spitzelbericht umgehend ins Gefängnis kam. In: Horch und Guck 17 (2008) 60, S. 48–50.
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1982 traf sie in Gießen ein und begann wenig später ein Architekturstudium in Darmstadt. Im Gegensatz zu Sabine Popp, die weitgehend auf sich allein gestellt agierte und mit ihren Widerstandshandlungen das Regime grundsätzlich infrage stellte, besaß die reformsozialistisch orientierte Opposition der siebziger und achtziger Jahre einen weitaus höheren Organisationsgrad, der aus der Sicht des MfS folglich eine größere Gefahr für den Herrschaftsanspruch der Partei als der Protest Einzelner darstellte. Der wohl prominenteste, aber zugleich auch letzte Fall, in dem das MfS mittels des Häftlingsfreikaufs die Opposition um mehrere »ihrer sprachgewaltigsten und einflussreichsten Mitglieder« berauben konnte, war der des Lyrikers und Schriftstellers Jürgen Fuchs.19 1950 in Reichenbach im Vogtland geboren, weckte die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 und der Wehrdienst in Fuchs »den kritischen Gegner«.20 Dabei verstand er sich als »idealistischer Sozialist«, der in seinen literarischen Beiträgen politische Tabuthemen sowie Missstände in der Universität, Armee und Partei aufgriff. 1974 trat er mit dem Anspruch in die SED ein, sie von innen heraus zu verändern. Im März 1975, kurz vor seinem Psychologie-Examen an der Universität Jena, wurde Fuchs jedoch wegen »Schädigung des Ansehens der Universität« exmatrikuliert. Vorausgegangen war die Vorladung der Universitätsparteileitung zu einer inszenierten »Aussprache«, in der er seine »Fehler« eingestehen sollte. Zudem wurde er aus der SED ausgeschlossen. Da er nicht als Psychologe praktizieren konnte, arbeitete Fuchs in einer kirchlichen Einrichtung und umging damit eine Strafverfolgung wegen § 249 (»Asozialität«). In Grünheide bei Berlin fand er Unterschlupf bei Katja und Robert Havemann. Als der Liedermacher Wolf Biermann im November 1976 ausgebürgert wurde, unterschrieb Fuchs zusammen mit mehreren Freunden eine Protestresolution. Wenige Tage später wurde er aus dem Auto heraus verhaftet und in die zentrale Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen gebracht. In den Verhören warfen ihm seine Vernehmer vor, er verfälsche in seinen Schriften den realen Sozialismus und vertrete »revisionistische und trotzkistische« Positionen. Wegen »Staatsfeindlicher Hetze« nach § 106 wurden ihm bis zu 10 Jahre Haft angedroht. Seine Verhaftung wurde rasch Gegenstand zahlreicher Medienberichte im Westen. Das »Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus«, das von zahlreichen namhaften Schriftstellern wie Günter Grass, Heinrich Böll und Friedrich Dürrenmatt unterstützt wurde, forderte öffentlich seine Freilassung. 19 Hirschman: Abwanderung, S. 333 f. u. 341 f. 20 Für das Zitat und die Angaben im Folgenden siehe Scheer, Udo: Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition. Berlin 2007, u. a. S. 48.
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Fuchs wählte Wolfgang Vogel als seinen Verteidiger, der über eine Entlassung aus der U-Haft verhandelte. Ende August 1977, der Prozess gegen Fuchs war nach wie vor nicht eröffnet, teilte ihm Wolfgang Vogel mit, dass er einmalig die Möglichkeit zur Ausreise in die Bundesrepublik erhalte. Fuchs berichtete später über den sinngemäßen Inhalt der Unterredung: Vogel: »Es gibt nur diese einmalige Möglichkeit. Und wenn Sie nicht wollen, dann dürfen die anderen, die sehr bereit sind, auch nicht. Und im Übrigen, Herr Pannach und Herr Kunert haben auch zugestimmt.« Fuchs: »Das ist Erpressung. Das ist ganz klare Erpressung.« Vogel: »Nennen Sie es, wie Sie wollen, ich nenne es: Im Sinne von Frieden und Verständigung und Konfliktlösung. Glauben Sie nicht, dass Sie etwas erzwingen können, wenn ein Prozess stattfindet.«21
Gleichzeitig bat Vogel Fuchs‘ Ehefrau Lilo zu sich und eröffnete ihr, dass es von ihr abhänge, ob ihr Mann in den Westen entlassen werde. Falls er sich für den Osten entscheide, würde er ihren Mann kein zweites Mal verteidigen. Wenig später durfte Lilo Fuchs mit ihren Ehemann unter Aufsicht in der UHaft sprechen. Er teilte ihr mit, dass er sich unter diesen Umständen für eine Ausreise entscheiden würde, da ihm sonst eine mehrjährige Haftstrafe drohte. Keiner könne von ihm verlangen, als »Märtyrer« eine langjährige Inhaftierung vorzuziehen. Wenig später erhielt Fuchs die Ausbürgerungsurkunde und quittierte, dass Einvernehmen zwischen Vogel und ihm hergestellt sei, obwohl Fuchs den Vorgang eine »erpresserische Sauerei« nannte.22 Wolf Biermann schreibt, die DDR-Oberen hätten Jürgen Fuchs »sang- und klanglos, ohne Urteil und ohne Kopfgeld, in den Westen« entlassen.23 Doch die Bundesregierung erbrachte für seine und die Entlassung seiner Mitinhaftierten Gegenleistungen.24 Rechtsanwalt Stange, der nach Fuchs‘ Ankunft in West-Berlin ein Gespräch mit ihm führte, bestätigte 1993 vor dem Untersu-
21 Ebenda, S. 172 f. 22 Ebenda, S. 175 f. Von Vogels Kanzlei aus wurde Fuchs von Helga Vogel nach West-Berlin gefahren. 23 Schmidt, Helmuth; Weischer, Heinz: Zorn und Trauer. Als politischer Gefangener in Zuchthäusern der DDR. Essen 2006, S. 12. 24 Am 5.9.1977 meldete der Spiegel, die DDR entledige sich gegenwärtig »auf Raten und gegen Devisen … zahlreicher inhaftierter Bürgerrechtler und Biermann-Sympathisanten«. Insgesamt habe Bonn mit der DDR »den Freikauf von 45 Häftlingen« samt ihren Angehörigen vereinbart. »Bonner Käufe«. In: Der Spiegel v. 5.9.1977, Nr. 37. Wenig später ergänzte das Magazin, Fuchs und die übrigen »Biermann-Sympathisanten und Bürgerrechtler« seien »freilich wider Willen und überdies gegen eine Bonner Devisenspende, die weit über der sonst üblichen Kopfquote von 48 000 Mark lag«, entlassen worden. »DDR: Die Bürger werden aufsässig«. In: Der Spiegel v. 17.10.1977, Nr. 43.
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chungsausschuss des Bundestages den Freikauf,25 und tatsächlich sind Fuchs und seine Mitinhaftierten auf der Transportliste des Innerdeutschen Ministeriums vom 14. September 1977 aufgeführt.26 Zusammen mit Fuchs wurden die Dissidenten Thomas Auerbach, Kerstin Graf, Wolfgang Hinkeldey, Marian Kirstein, Christian Kunert, Gerd Lehmann, Bernd Markowsky, Walfred Meier, Gerulf Pannach, Michael Sallmann, Günther Schau und einige weitere Inhaftierte in den Freikauf einbezogen und in die Bundesrepublik entlassen.27 Wie Fuchs entschieden sie sich nur unter Druck für die Ausreise, weil ihnen sonst langjährige Haftstrafen wegen »Staatsfeindlicher Hetze« drohten. Der Sänger und Liedermacher Christian Kunert beispielsweise erhielt eine halbe Stunde Bedenkzeit für seine Entscheidung. Ein Stasi-Offizier sagte ihm, er würde in der DDR doch nur »den Bach runtergehen«. Derart unter Druck gesetzt, stellte Kunert schließlich einen Ausreiseantrag. »Da ging es ja auch um Geld. Die Bundesregierung hat aber gesagt: Wir nehmen niemanden, der nicht will. Wir kaufen niemanden, der nicht will. Deshalb mussten wir einen Ausreiseantrag unterschreiben und eine Begründung, warum.«28 Wie Fuchs wurde auch Kunert in die Kanzlei Vogel gefahren und von Helga Vogel im Mercedes nach West-Berlin zu Rechtsanwalt Stange gebracht. In den achtziger Jahren gelang es dem MfS nicht mehr, die Abschiebung inhaftierter prominenter Vertreter der Opposition »geräuschlos« über den Freikauf zu regeln. Die Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit machte es zunehmend schwieriger, sich ihrer auf diesem Wege zu entledigen. Zudem widersprach die Androhung hoher Haftstrafen dem Bestreben der DDR, ihre internationale Reputation zu wahren. Am deutlichsten zeigte sich diese »Schwäche des Staates und die neue Kraft der Opposition« am Beispiel Roland Jahns.29 Der Jenaer Bürgerrechtler war 1976/77 erstmals mit den DDR-Behörden in Konflikt geraten. Im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wurde er im Frühjahr 1977 von der Universität Jena exmatrikuliert. Seitdem musste er als Transportarbeiter im VEB Carl Zeiss Jena arbeiten, um sich »in der Produktion zu bewähren«. Die Aktionen, mit denen er in den nächsten Jahren 25 Jürgen Stange am 29. April 1993 vor dem »KoKo«-Untersuchungsausschuß des Bundestages; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133, S. 353. 26 Transportliste v. 14.9.1977; Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1883; jeweils hs. ergänzt um das Datum der Entlassung nach West-Berlin, bei Fuchs war es bereits der 26.8.1977. 27 Siehe die Namensliste (o. A., o. D.) in: HGWS, HF 57. 28 Interview mit Christian Kunert, 21.10.2004; Transkript auf www.jugendopposition.de. 29 Siehe für das Folgende die Kurzbiographie Jahns auf http://www.jugendopposition.de/ index.php?id=68 sowie Praschl, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011 u. Klier, Freya: Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand. Berlin 2007.
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gegen das System demonstrierte, waren stets öffentlichkeitswirksam und sollten die Menschen zum Nachdenken bringen. Am 1. Mai 1977 machte sich Jahn mit einem leeren Plakat zu den offiziellen Maifeierlichkeiten auf, um damit gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit zu demonstrieren. Genau vier Jahre später gelang ihm ein weiteres subversives Bravourstück: Die linke Gesichtshälfte mit Adolf Hitlers Haar- und Barttracht, die rechte mit jener Josef Stalins, stellte er sich neben die Tribüne mit den führenden Staatsund Parteifunktionären der DDR, an denen die Militärparade vorbeimarschierte. Nachdem Jahn im Sommer 1982 über mehrere Wochen hinweg mit einer Fahne der polnischen Oppositionsbewegung »Solidarność« am Fahrrad durch Jena gefahren war, wurde er am 1. September festgenommen. Schon während den Verhören wurde er zur Ausreise gedrängt. Am 17. Januar 1983 verurteilte ihn das Bezirksgericht Jena wegen »öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung« (§ 220 StGB) und »Missachtung staatlicher Symbole« (§ 222 StGB) zu einem Jahr und zehn Monaten Haft. Noch am Tag der Verurteilung besuchte ihn sein Anwalt Wolfgang Schnur, der unter dem Decknamen »Torsten« bzw. »Dr. Ralf Schirmer« inoffiziell für das MfS arbeitete. Er überredete Jahn mit dem Argument zu einem Ausreiseantrag, dass seine Freunde bei der Entlassung schon im Westen wären, ihn würde niemand mehr abholen.30 Jahn entschied sich schließlich für den Ausreiseantrag und wurde in den Strafvollzug nach Cottbus verlegt. Unterdessen organisierten Freunde und Mitstreiter in der Bundesrepublik öffentliche Solidaritätsaktionen, die ARD-Sendung »Report« berichtete im Februar 1983 ausführlich über Jahn und seine Mitinhaftierten. Ende Februar gab Ost-Berlin den wachsenden öffentlichen Protesten nach, da der Medienrummel die – nicht zuletzt finanziell motivierten – Bemühungen Honeckers um eine Verbesserung des Verhältnisses zur neuen CDU-geführten Bonner Regierung störte. Roland Jahn und die übrigen Jenaer Inhaftierten wurden aus der Haft entlassen. Die unerwartete Entlassung setzte neue Kräfte in ihm frei: »Wir hatten gewonnen. Wir hatten einen Staat in die Knie gezwungen. Ich habe noch nie einen so großen Freiraum in der DDR verspürt wie in diesen Wochen. Wir haben uns gesagt, wir waren in den letzten Wochen in der ARD zu sehen, wir sind bekannt, wir haben die Chance, wir nehmen uns das Recht auf Demonstrationsfreiheit.«31
Zurück in Jena widerrief er seinen Ausreiseantrag. Ein Freikauf wurde somit obsolet. Allerdings hatte Jahn noch auf der Wunschliste des Westens gestanden, die Staatssekretär Rehlinger nach der zugesagten Wiederaufnahme der 30 31
Praschl: Roland Jahn, S. 57–61. Ebenda, S. 69.
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Verhandlungen über Freikauf und Familienzusammenführungen nach dem Regierungswechsel übergeben hatte. Volpert notierte daher ein rotes »E« für »Entlassen« neben Jahns Namen.32 Da Jahn auf öffentlichen Druck hin entlassen wurde, griff das MfS zur nackten Gewalt, um den Störenfried doch noch »loszuwerden«. Anfang Juni wurde er auf persönliche Verfügung Erich Mielkes festgenommen, gewaltsam in das Abteil eines Interzonenzuges eingesperrt und so in den Westen abgeschoben. In den Westmedien erregte dieses Vorgehen große Aufmerksamkeit, Jahn konnte in einer Titelgeschichte des Spiegels »Du bist wie Gift« über seine Verhaftung und gewaltsame Abschiebung berichten.33 Der letzte und für die DDR-Opposition in seiner Wirkung zweifellos nachteilige »Aderlass von kritischem DDR-Potential in Richtung Bundesrepublik« waren die Verhaftungen und Ausreisen nach der Luxemburg/LiebknechtDemonstration im Frühjahr 1988. Unter ihnen befanden sich die Bürgerrechtler Renate und Wolfgang Templin, Freya Klier, Stefan Krawczyk, Vera Wollenberger, Bärbel Bohley und Werner Fischer.34 Zwar gab es Gespräche zwischen der Bundesregierung und Ost-Berlin über ihre vorzeitige Haftentlassung und Ausreise, an denen auch die Kirchen beteiligt waren, doch für die faktischen Ausbürgerungen wurden keine finanziellen Gegenleistungen erbracht.35 Die dämpfende Wirkung des Freikaufs auf das oppositionelle Potenzial in der DDR ist somit differenziert zu beurteilen. In den sechziger Jahren war dieser Effekt geringer als bisher angenommen. In den siebziger und achtziger Jahren hatte er nur dann eine hemmende Wirkung, wenn man den Begriff »Opposition« sehr weit fasst und auch Fluchtwillige und Antragsteller darunter subsumiert. Mit Blick auf letztere Gruppe lag die Wirkung des Freikaufs jedoch weniger darin, dass potenzielle oppositionelle Handlungen in der DDR verhindert wurden, sondern viel mehr darin, dass der Freikauf diesem Personenkreis den ersehnten Ausweg aus der DDR eröffnete. Je länger das SEDRegime den Freikauf praktizierte, umso mehr drohte ihm ein »riesiger Gesichtsverlust, der weitere Arten von Gesetzesüberschreitungen herausforderte«,
32 BStU, MfS, HA IX, Nr. 18778, Bl. 143. Womöglich stand Jahns Name nur deshalb noch auf der Liste, weil die Zeit zwischen seiner Entlassung und der Übergabe der Liste zu kurz war, um sie neu zu schreiben. Die Liste gelangte nach dem 15. März 1983 an Volpert, Jahns Entlassung war spätestens seit dem 1. März durch eine Meldung in der FAZ im Westen bekannt. Vgl. Klier: Matthias Domaschk, S. 130. 33 Zit. nach: Praschl: Roland Jahn, S. 83. 34 Materialien der Enquete-Kommission, Bd. 5/1, S. 797 f.; Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«, S. 509. 35 »Gespräche zwischen Vogel und Rehlinger«. In: FAZ v. 2.2.1988; Rehlinger, Ludwig A.: Falsches und Richtiges an den Führungsoffizier. In: FAZ v. 22.4.1992.
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da das Regime die Bekämpfung der Abwanderung »zum Prüfstein seiner Autorität gemacht hatte«.36
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Kalkulierter Freikauf
»In der Untersuchungshaftanstalt kam es zu einer Begegnung mit dem in Haft befindlichen Illner, Norbert. Illner brachte zum Ausdruck, daß er die Untersuchungshaftanstalt nur als einen Meilenstein auf dem Weg in die BRD ansieht. Die von ihm geschriebenen Briefe an die Ostseezeitung und andere Zeitungen sollten dazu dienen, die Sicherheitsorgane zum Eingreifen zu veranlassen. Diese Briefe wurden von ihm so abgefaßt, daß sie den Tatbestand des § 220 erfüllen. Allerdings drücken sie nicht seine tatsächliche Meinung aus.«37
Mit diesen Worten berichtete Rechtsanwalt Hans-Joachim Brauch, der im Untermandat für das Büro Vogel tätig war und als IM für das MfS arbeitete, im August 1985 seinem Führungsoffizier über einen Mandantenbesuch. Nicht zum ersten Mal vertrat er einen Ausreisewilligen, der seine Inhaftierung mit der Absicht provoziert hatte, um über den Freikauf in den Westen zu gelangen. Die Hauptabteilung IX, das »Untersuchungsorgan« des MfS, sah sich seit den siebziger Jahren immer häufiger mit derartigen Vorfällen konfrontiert. Offensichtlich erschien der Freikauf manchen Ausreisewilligen als derart berechenbar, dass eine Gefängnisstrafe nicht mehr als Sackgasse oder Endstation auf ihrem Weg nach Westen wahrgenommen wurde, sondern als legaler Ausweg aus der DDR. Diese Auswirkung des Häftlingsfreikaufs gehörte sicherlich zu den absurdesten unter den zahlreichen Paradoxien der DDR-Geschichte. Warum und unter welchen Bedingungen kam es dazu, dass manche Ausreisewillige mehr oder weniger freiwillig ins Gefängnis gingen, um in den Westen zu gelangen? Wie reagierte der Repressionsapparat auf diese Entwicklung, die zugleich den Zweck der Bestrafung an sich konterkarierte? Bereits gegen Ende der sechziger Jahre registrierte das Gesamtdeutsche Ministerium erste Anzeichen, dass der Freikauf das Verhalten Ausreisewilliger beeinflusste. Die »bisherige Praxis« bei den Abmachungen mit der DDR, »möglichst nur langstrafig Verurteilte in die Aktion einzubeziehen«, habe sich »in den Haftanstalten in Mitteldeutschland herumgesprochen«. Daher gebe es unter den Untersuchungshäftlingen Bestrebungen, »eine möglichst lange Strafe 36 Hirschman: Abwanderung, S. 344. 37 IM-Bericht des Rostocker Rechtsanwalts Hans-Joachim Brauch (»Martin Werth«) v. 28.8.1985 über einen Mandantenbesuch in der UHA des MfS; BStU, MfS, BV Rostock, AIM 4062/90, Bd. 2, Bl. 120 (Name geändert).
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zu erhalten, um damit früher freizukommen«.38 Zwar belegt das Papier nicht, dass die Untersuchungshäftlinge bereits ihre Verhaftung in der Absicht provoziert hätten, um in den Freikauf einbezogen zu werden. Doch waren bereits zwei der insgesamt sechs Bedingungsfaktoren dafür genannt, dass zunehmend mehr Personen den Freikauf als alternativen Weg in den Westen wählten. Erstens erhielten immer mehr Ausreisewillige Kenntnis vom Freikaufsprogramm und zweitens wussten sie, welche Deliktgruppen und Straflängen berücksichtigt wurden. Drittens waren die Stellen, die von der Verhaftung Kenntnis erhalten mussten, namentlich bekannt, viertens schien der Freikauf selbst aus der Sicht Ausreisewilliger eine dauerhafte Einrichtung zu sein, fünftens erfolgte die Entlassung in der Regel in den Westen und schließlich erschienen die körperlichen und seelischen Strapazen der Haft vielen der fest Entschlossenen zwar als hoher, aber nicht zu hoher Preis für das »legale« Entkommen aus der DDR. Die Kriterien waren seit Mitte der siebziger, spätestens zu Beginn der achtziger Jahre durchweg erfüllt. Wer wollte, konnte aus Westfunk und Westfernsehen oder über private Kontakte hinreichende Informationen über die Abwicklungsmodalitäten gewinnen, von wenigen Ausnahmen abgesehen durften die Häftlinge ihren Aufenthaltsort bei der Entlassung frei wählen und trotz der permanenten »Beendigungskalamitäten«39 auf der Verhandlungsebene deutete aus der Sicht Ausreisewilliger weitaus mehr auf eine Fortsetzung denn auf einen abrupten Abbruch des Freikaufs hin. Schließlich sanken das durchschnittliche Strafmaß und die tatsächlich zu verbüßende Strafzeit für Fluchtund Ausreisedelikte kontinuierlich ab und auch die Haftbedingungen hatten sich im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten etwas gebessert.40 Die zunehmend verbreitete Kenntnis der Möglichkeit des Freikaufs wirkte sich zunächst dahingehend aus, dass »Sperrbrecher« die Festnahme zum Zwecke eines Freikaufs zwar nicht absichtlich provozierten, aber gleichsam als »Absicherung für den Notfall, wie das Netz für einen Seiltänzer« mit einplanten, falls ihr Fluchtversuch misslingen sollte.41 Einige trafen vor der Ausführung ihres Fluchtplanes Vorbereitungen, damit zu gegebener Zeit die nötigen Schritte der Ausreise in die Wege geleitet würden. Exemplarisch hierfür ist das Beispiel Karl Alichs.42 Er wurde 1948 in Potsdam geboren und hatte bereits als Schüler vor dem Mauerbau den Entschluss 38 Vorlage von Zahns, 27.10.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 464. 39 Jürgen Stange am 29.4.1993 vor dem »KoKo«-Untersuchungsausschuß des Bundestages; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 133, S. 247. 40 Vgl. Kap. VIII.1. 41 Raschka, Johannes: Zwischen Überwachung und Repression. Politische Verfolgung in der DDR, 1971 bis 1989. Opladen 2001, S. 122. 42 Für das Folgende: Interview mit Karl Alich, 6.10.2009.
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gefasst, eines Tages nach West-Berlin zu gehen. Im Alter von 23 Jahren versuchte er 1971, über die bulgarisch-jugoslawische Grenze in den Westen zu fliehen, doch die Flucht misslang. Alich wurde zunächst in Sofia, dann in Berlin-Hohenschönhausen, später in Potsdam inhaftiert. Nach der Verhaftung fiel er zwar »in ein tiefes Loch«, doch bedeutete dies zugleich, dass nun »Plan B« lief. Bereits vor seinem Fluchtversuch hatte er »sichere Erkenntnisse«, dass Rechtsanwalt Wolfgang Vogel einen Freikauf vermitteln könnte. In diesem Wissen hatte er mit Freunden in West-Berlin vereinbart, die Rechtsanwälte Stange oder Näumann zu kontaktieren, falls er sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht melden würde. Diese sollten daraufhin die nötigen Schritte einleiten, um ihn auf die Liste der freizukaufenden Häftlinge zu bringen. Zur Sicherheit hatte Alich Vogels Adresse auswendig gelernt, um ihn auch direkt bitten zu können, seine »Verteidigung« mit dem Ziel einer Verurteilung und anschließendem Freikauf zu übernehmen. Das Kreisgericht Potsdam verurteilte Karl Alich 1971 wunschgemäß, jedoch mit zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsentzug zu hoch. Der Richter erkannte auf einen »schweren Fall« des Verstoßes gegen § 213 StGB, da der »Grenzdurchbruch« durch das »Mitführen eines zur Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen geeigneten Werkzeuges begangen wurde« – Alich hatte eine Wäscheleine bei sich geführt. Die Haftzeit verbrachte er in Cottbus und lernte dort mehrere Mithäftlinge kennen, in deren Fluchtplänen die Freikaufsoption eine ähnliche Rolle spielte. Zwar hatten auch sie eine Verhaftung nicht provoziert, waren jedoch bei der Flucht »nicht bis zum letzten Risiko« gegangen. Bereits nach einem Jahr wurde Karl Alich nach Karl-Marx-Stadt verlegt und von dort im Juli 1972 in die Bundesrepublik entlassen. Für die erste Hälfte der siebziger Jahre verdichten sich die Hinweise, dass Ausreisewillige eine Verhaftung nicht mehr nur als »Plan B« für ihr Fluchtvorhaben berücksichtigten, sondern absichtlich »provozierten«. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn eine Flucht wegen der damit verbundenen Lebensgefahr oder der Geldforderungen professioneller Fluchthelferorganisationen nicht in Betracht kam oder ihnen die DDR-Behörden wiederholt die Ausreise verweigerten. Das ARD-Politmagazin »Report« berichtete am 1. September 1975 über die Haft und den anschließenden Freikauf eines Ehepaars, das diesen Weg gewählt hatte. Im Interview gaben beide an, nach der Ablehnung sämtlicher Ausreiseanträge sei ihnen »als einziger Ausweg« die Möglichkeit geblieben, »wiederum strafbar zu werden«. Mit einem Plakat in der Hand hätten sie sich 1973 »mit der Absicht, inhaftiert zu werden«, vor das Brandenburger Tor gestellt. Daraufhin seien sie wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu viereinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt, jedoch nach Verbüßung eines Teils der Strafe in die Bundesrepublik entlassen worden. Auf die Frage, ob diese Möglichkeit in der DDR bekannt sei, antworteten die Interviewten,
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wer sich dafür interessiere, für den sei es »schon bekannt«, doch wollten sie »Konkretes« darüber nicht sagen.43 Dokumente des MfS bestätigen, dass Ausreisewillige von solchen und ähnlichen Berichten der Westmedien Kenntnis erhielten und von ihnen zur Nachahmung angeregt wurden.44 Seit Mitte der siebziger Jahre registrierte die Staatssicherheit eine nicht unerhebliche Anzahl von Fällen kalkulierter Freikäufe, zunächst aus den Reihen der »medizinischen Intelligenz«, vor allem der Berufsgruppe der Ärzte. Umso gewichtiger war der Inhalt einer Information des MfS an die SED-Führung vom August 1976, die einige »beachtenswerte Tendenzen und Erscheinungen« aus der Tätigkeit der HA IX zusammenfasste. »Ein Teil der Personen«, schrieben die Autoren des Papiers, »spekulierte von Anbeginn darauf, im Zuge des Strafverfahrens aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen und in die BRD ausgewiesen zu werden. Sie betrachten die Inhaftierung als einen ›sicheren Umweg in die BRD‹. Das mit ihrem Vorhaben verbundene Risiko der Bestrafung wurde durchaus als vertretbar empfunden. Es müsse angeblich eingegangen werden, um den beabsichtigten Endzweck zu erreichen. Zu dieser Ansicht waren sie durch Veröffentlichungen in westlichen Massenmedien, durch Rückverbindungen sowie Gespräche im Berufskollegenkreis gekommen.«45
Interessanterweise scheint es den Ärzten nicht geschadet zu haben, wenn sie ihre Motive dem Vernehmer gegenüber offenbarten. Das lag wohl daran, dass sich das Innerdeutsche Ministerium seit 1975 mit der Forderung durchsetzen konnte, dass künftig auch inhaftierte Ärzte, sogenannte »Z/M«-Fälle miteinbezogen würden.46 Was zunächst die meist grenzüberschreitend vernetzten und gut informierten Akademiker als gangbaren Weg erkannten, kam allmählich auch breiteren Kreisen zu Ohren. Der britische Historiker Timothy Garton Ash schrieb bereits 1981, die »Methoden, sich ins Gefängnis zu bringen« würde »oft nicht
43 Abschrift der Sendung »Report« (München, Bayerischer Rundfunk) v. 1.9.1975 in: BArch-K, B 137/15780, hier Bl. 6–8. 44 Information 572b/76; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 2543, Bl. 12–83, zit. nach: Suckut, Siegfried: Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Göttingen 2009, Transkript in der beigefügten CD. 45 Information 572b/76; ebenda. Vgl. zur Herkunft der Informationen auch BStU, MfS, ZKG, Nr. 5504, Bl. 252. 46 Vermerk des Abt.-ltrs. II im Bundeskanzleramt, Carl-Werner Sanne, 24.11.1975 betr. Häftlinge aus der DDR und »Konfliktfälle der Familienzusammenführung«; HGWS, HF 72, hier S. 2 des Vermerks; vgl. Vermerk über den Besuch Thiel/Steinke, 5.9.1975 in: AEK, Zug. 683, Nr. 341: die »Sperre für Ärztefälle« sei »im Prinzip aufgehoben, aber bisher noch kein Erfolg sichtbar«. Das »Z« stand für vorerst zurückgestellte Fälle, das »M« für »Mediziner«. Vgl. Entwurf der Vereinbarung für 1976 in: HGWS, HF 60 sowie für 1977 in HF 55 u. HF 60 u. für 1979 in HF 64.
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eines gewissen Stils, nicht einer bewussten Komik« entbehren.47 Tatsächlich enthalten die Erinnerungen ehemaliger politischer Häftlinge über ihre Haft in den späten siebziger und achtziger Jahren viele Schilderungen kalkulierter Freikäufe.48 Die gängigste Methode, eine Verhaftung zu provozieren, war dabei offenbar jene, einen Transitweg ohne die erforderliche Genehmigung zu benutzen oder an einer Grenzübergangsstelle nach West-Berlin die Ausreise zu verlangen. Gegenüber einem heimlichen Fluchtversuch hatte diese Methode den Vorteil, dass sie keine Gefahr für Leib und Leben darstellte. Andreas Schmidt berichtet über einen Haftkameraden, der sich in »Kenntnis der Freikaufsgepflogenheiten sowie des Strafgesetzbuches« schlicht in einen Interzonenzug gesetzt habe, ohne ein Visum zu besitzen. »Bei der Grenzkontrolle reichte er dem Posten kaltblütig seinen normalen DDRPersonalausweis hin. Dieser stutzte einen Augenblick lang. Wenig später saß Heinz in der Vernehmungszelle des Grenzkontrollpunktes. Wegen des ›Fluchtversuches‹ bekam er, da hier selbst mit gewagtesten Winkelzügen kein sogenannter schwerer Fall zu konstruieren war, nur 12 Monate Haft.«
Nach zehn Monaten sei der Betreffende freigekauft worden.49 Das MfS reagierte auf derlei Versuche zunächst mit der Maßnahme, das Problem zu quantifizieren. Die Dienstanweisung Nr. 2/83 des MfS legte u. a. fest, dass die Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit ihren regelmäßigen Lageberichten zur Übersiedlungsproblematik eine statistische Berichterstattung beizufügen hätten. Aus ihr solle die »Anzahl der Bürger der DDR, die vorrangig aus einer verfestigten feindlich-negativen Einstellung heraus hartnäckig versuchen, ihre Übersiedlung zu erreichen«, hervorgehen. Das schließe Personen mit ein, »die Straftaten mit dem Ziel der Inhaftierung begehen oder androhen, um aus dem Strafvollzug in die BRD bzw. nach WB entlassen zu
47 Ash, Timothy Garton: »Und willst du nicht mein Bruder sein …« Die DDR heute. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 178. 48 Siehe exemplarisch die Fallschilderungen in: Storck, Matthias: Karierte Wolken. Lebensbeschreibungen eines Freigekauften. Moers 1993, S. 118; Kessler, Dietrich: Stasi-Knast. Berlin 2001, S. 167; Müller, Gabriele: »Ins Gefängnis, um in Freiheit zu kommen«. In: Bonner General-Anzeiger v. 11.8.1971; BArch-K, B 137/15780. Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz. Leipzig 1994, S. 235; Seifert, Uwe: Fenster zur Welt. Jugendjahre im Schatten der Stasi. Böblingen 1990, S. 262; Winkler: Klärung eines Sachverhalts, S. 151 f.; Hoffmann, Frank: Erinnerungsbericht. In: Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt (Hg.): Vom Roten Ochsen geprägt (2). Berichte politisch Inhaftierter in den achtziger Jahren (Betroffene erinnern sich, Bd. 4). Magdeburg 1996, S. 44–56. 49 Schmidt, Andreas: Leerjahre. Leben und Überleben im DDR-Gulag. Böblingen 1986, S. 171 f.
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werden«.50 Wahrscheinlich gab es bereits früher vergleichbare Erkenntnisse, denn das Problem war innerhalb des MfS bekannt genug, um Gegenstand von Abschlussarbeiten der Juristischen Hochschule des MfS zu sein.51 Dass der Freikauf den Apparat in ein Dilemma brachte, war für jeden der Beteiligten offensichtlich: Jedes Vorkommnis dieser Art als Versuch des »Ungesetzlichen Grenzübertritts« (§ 213) oder als »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« (§ 214) strafrechtlich zu verfolgen, hätte den »Tätern« geradezu in die Hände gespielt. Hingegen nicht zu reagieren und keine Konsequenzen zu ziehen, hätte der Autorität des Staates und seiner Repräsentanten auf die Dauer Schaden zugefügt und zu einer Häufung derartiger Fälle geführt. Erich Mielke brachte das Dilemma in einer Dienstkonferenz auf dem Punkt: »Manche sind so außerordentlich frech, dass wir sie tatsächlich einsperren müssen, oder wir müssen uns sozusagen als Waschlappen und Scharlatane hingeben, daß die die große Fresse haben können.«52 Da sich der Widerspruch nicht auflösen ließ, blieb nur die Möglichkeit, ihn zu entschärfen. Dieser Weg bestand darin, die Schwelle zu erhöhen, ab dem eine Freiheitsstrafe verhängt werden sollte. Wenn die Handlung des Ausreisewilligen der Autorität des Staates nur geringen Schaden zugefügt hatte, sollten keine Haftstrafen verhängt werden. Im März 1983 wies die Abteilung Ia der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin die Bezirksstaatsanwälte an, solche Personen, die ihren Personalausweis an einer Grenzübergangsstelle vorgezeigt oder einen »internationalen Reisezug« benutzt hatten, um später über den Freikauf in die Bundesrepublik zu gelangen, nur zu einer Ordnungsstrafe zu verurteilen. Strafrechtliche Maßnahmen seien erst dann einzuleiten, »wenn die Art und Weise« des Handelns des Täters »die öffentliche Ordnung« gefährde. Dies sei dann gegeben, »wenn der Täter durch sein Verhalten die Aufmerksamkeit der Bürger erregen will, wenn er sich weigert, das Grenzgebiet zu verlassen oder wenn er in anderer Weise demonstrativ und provokatorisch auftritt«. Eine Straftat nach § 214 liege hingegen nicht vor, »wenn der Bürger sich bemüht, jedes Aufsehen zu vermeiden, indem er z. B. bewusst einen Zeitpunkt wählt, zu dem sich außer den Grenzsicherungskräften keine anderen Personen
50 Anlage 1 zur DA 2/83 (MfS VVS–o008 Nr. 1833/83) in: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 7770, Bl. 8 f.; vgl. die Anlage 3 »Erkenntnisse zu Motiven für Versuche zur Erreichung der Übersiedlung« zur Instruktion Nr. 044/85 des Leiters der Hauptabt. Kriminalpolizei der DVP v. 16.5.1985, MdIVVS 080 335 in: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 11726, Bl. 21 f. 51 Diplomarbeit Leutnant Jochen Braun, KD Torgau, zum Thema »Schaffung von IM aus dem Kreis rechtswidrig Ersuchender auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung in die BRD/WB. Untersucht und dargestellt aus der Sicht einer Kreisdienststelle; BStU, MfS, JHS, 318/81, Bl. 23. 52 BStU, MfS, ZKG, Nr. 5504, Bl. 300. Hervorheb. i. O.
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an der Grenzübergangsstelle aufhalten«.53 Die Richtlinie bezog sich dabei auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtes der DDR, mit der es das Strafurteil eines Bezirksgerichts aufgehoben hatte.54 Auf lange Sicht führte diese Maßnahme jedoch nicht zum gewünschten Erfolg, denn für fest entschlossene Ausreisewillige war es ein Leichtes, die Hürde zu umgehen und die Tatbestandsmerkmale des § 214 StGB oder des ebenfalls häufig verwendeten § 220 StGB (»Staatsverleumdung«) zu erfüllen, indem sie sich entsprechend unnachgiebig verhielten und ihre Forderung öffentlich und – im MfS-Jargon – »demonstrativ-provokatorisch« vortrugen. Möglicherweise hatte die Richtlinie statt der beabsichtigten sogar die gegenteilige Wirkung. Jene Ausreisewillige, die in der DDR keine Perspektive mehr für sich sahen und daher von vornherein bereit waren, ein hohes Risiko einzugehen, waren fortan gezwungen, ihren Wunsch in der Öffentlichkeit und mit entsprechendem Nachdruck gegenüber den staatlichen Stellen zu vertreten, da unauffälliges Verhalten nicht zur gewünschten Inhaftierung führte. Das Problem war gewichtig genug, dass es Mielke im Frühjahr 1984 auf einer zentralen Dienstbesprechung des MfS zum Hauptgegenstand seiner Ausführungen über das Häftlingsgeschäft machte.55 Erstmals seit ihrem Bestehen stand die Praxis der »Übersiedlungen aus dem Strafvollzug« überhaupt auf der Tagesordnung einer zentralen Dienstbesprechung des MfS.56 Womöglich veranlasste die seit Jahresbeginn rollende Ausreise- und Verhaftungswelle den Minister zu der Stellungnahme.57 Einleitend stellte Mielke fest, dass die DDR auf Anweisung Honeckers auch weiterhin »Übersiedlungen aus dem Strafvollzug« vornehmen werde. Dabei sei jedoch »noch konsequenter als bisher der Grundsatz zu beachten, dass auch Übersiedlungen aus dem Strafvollzug nur dann erfolgen, wenn politisch-operative Gründe oder andere staatliche Interessen vorliegen«.58 Mit letzteren »staatlichen Interessen« waren zweifellos die finanziellen Gegenleistungen gemeint. Die weiteren Ausführungen widmete Mielke dem Problem des kalkulierten Freikaufs. Es gelte, 53 »Auffassung zur Anwendung von § 214 (1) StGB in solchen Fällen, da die Tatverdächtigen im Grenzgebiet, insbesondere im Bereich einer GüSt tätig werden.« Die Richtlinie sei »auch mit dem U-Organ abgestimmt«, d. h. mit der Hauptabteilung IX des MfS. BStU, MfS, HA IX, Nr. 13941, Bl. 84–86. 54 Auszug aus dem Urteil des OG v. 7. Januar 1983, AZ: Urteil Hamel 1 OSB 63/82 in: ebenda, Bl. 86. 55 Referat des Ministers auf der Dienstbesprechung am 11.5.1984 über ausgewählte Fragen und Probleme der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8694; Tonbandmitschnitt in: BStU, MfS, SdM, Tb 53. 56 Vgl. Kap. VIII, Anm. 2. 57 Teilnehmerliste der Dienstbesprechung v. 11. Mai 1984 in: BStU, MfS, SdM, Nr. 1570, Bl. 181 f. 58 BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8694, Bl. 51.
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»gründlich zu überprüfen, inwieweit mit Übersiedlungen aus dem Strafvollzug gewissermaßen den Zielen und Wünschen der Täter und äußerer Kräfte nachgegeben wird. Das zu klären ist deshalb so wichtig, weil es auf keinen Fall dazu kommen darf, daß die Begehung von Straftaten, provokatorisches Auftreten oder die Druckausübung auf staatliche Organe dazu führt, den betreffenden Personen ›automatisch‹ den Weg für eine Übersiedlung zu öffnen«.
Jüngst gewonnene Erkenntnisse hätten bestätigt, dass die Abschiebungen aus der Haft in die Bundesrepublik »nicht selten auch negative Auswirkungen« nach sich zögen. Schließlich würden sie andere dazu anregen, über eine provozierte Inhaftierung und den Freikauf in den Westen zu gelangen. Dieser Weg, so die Schlussfolgerung, dürfe »in den Augen solcher Kräfte nicht zu einem gangbaren, nachahmenswerten Weg zur Erreichung der Übersiedlung werden«.59 Zur Lösung des Problems gab Mielke die Anweisung, die betreffenden Personen vom Freikauf auszuschließen. Da die erste Barriere, die nachgiebigere Anwendung des Strafrechts, offensichtlich wenig an der Situation geändert hatte, sollte durch eine zweite Barriere zumindest der Freikauf verhindert werden. Die Inhaftierten sollten ihre Haft voll verbüßen und danach an ihren früheren Wohnort in der DDR entlassen werden. Damit, so Mielke, sei »der erforderliche Abschreckungseffekt« erreicht und »ein sicherer Damm« gegen den wachsenden Strom von potenziellen Nachahmungstätern gezogen. Ausreisewilligen müsse klar werden, »dass der Weg über feindlich-negative Handlungen und den Strafvollzug kein Weg zur Erreichung der Übersiedlung ist«.60 Dass diese Direktive tatsächlich konsequent umgesetzt wurde, darf bezweifelt werden. Denn die Anweisung ließ genügend Spielraum für die Interpretation, dass ein Freikauf durchaus erfolgen konnte, wenn die MfS-Dienststellen vor Ort in den Bezirken und Kreisen die Gefahr von Nachahmungstaten als gering einschätzten. Zweitens zwang der wachsende Devisenbedarf in den achtziger Jahren die Verantwortlichen, bei der Interessensabwägung den ökonomischen Nutzen des Verkaufs von Häftlingen immer stärker zu gewichten. Das Ziel, die Ausreisebewegung zu bekämpfen und die Abschreckungswirkung der Haftstrafen zu stärken, trat demgegenüber mehr und mehr in den Hintergrund. Mitte der achtziger Jahre hatte das Problem ein Ausmaß erreicht, dass es erneut auf der Tagesordnung einer Dienstkonferenz des MfS stand. In der Sitzung am 12. Februar 1987 machte der Leiter des »Untersuchungsorgans« des MfS, Generalmajor Rolf Fister, seinem Unmut über die negativen Folgewirkungen des Häftlingsverkaufs Luft. Fister forderte, »die bisherige Praxis der 59 60
Ebenda, Bl. 52. Ebenda, Bl. 53.
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Übersiedlung aus der Haft einer kritischen Wertung zu unterziehen«.61 Strafen mit Freiheitsentzug hätten »ihre abschreckende Wirkung gegenüber hartnäckigen Übersiedlungsersuchenden weitgehend eingebüßt«. Die Androhung einer Haftstrafe bleibe in vielen Fällen nicht nur wirkungslos, sondern rufe gar den gegenteiligen Effekt hervor.62 Es gebe »in der Tendenz zunehmend« Fälle einer provozierten Inhaftierung. Dies führe zu der unverrückbaren »Tatsache, dass der Sinn der Strafe, nämlich der Schutz vor weiteren Straftaten, ihre vorbeugende Wirkung und ihre Erziehungsfunktion in Frage gestellt« sei, wenn »die Begehung einer Straftat die Erreichung des angestrebten Ziels« ermögliche. Es gebe nachweisbare Fälle, dass Ausreisewillige über eine provozierte Inhaftierung sogar schneller in den Westen gelangten, als auf dem Wege der Antragstellung. Das Kalkül laute: »Stelle ich einen Antrag, dann warte ich zwei Jahre; begehe ich eine Straftat, dann kriege ich vielleicht ein Jahr und nach einem halben Jahr bin ich sicher drüben.« Dies wirke sich, kritisierte Fister, »nicht zuletzt negativ auf die Öffentlichkeitsarbeit, auf die Rückgewinnung, auf die Entwicklung weiterer Aktivitäten der gesellschaftlichen Kräfte und auch auf die Wiedereingliederung« der Häftlinge in der DDR aus.63 Fister ging noch weiter und forderte, künftig dürfe »über die Inhaftierung im Prinzip kein Weg in die BRD« mehr führen. »Personen die durch die Begehung von Straftaten oder demonstrative Handlungen versuchen, eine Übersiedlung zu erzwingen, müssen nach den geltenden Gesetzen zur Verantwortung gezogen und nach Verbüßung ihrer Strafe wieder eingegliedert werden.«64 Die ungefähre zahlenmäßige Größenordnung des Problems verdeutlicht, dass Fister nicht ohne Grund den Stopp des Freikaufs forderte. Laut der schriftlichen Ausarbeitung seines Redebeitrages hatten 1986 »nachweislich 146 Übersiedlungsersuchende […] ihre Inhaftierung zielgerichtet provoziert in der Überzeugung, auf diesem Weg […] am sichersten und relativ rasch ihre Übersiedlung in die BRD oder nach Westberlin zu erreichen«. Von allen im Jahr zuvor, d. h. 1985, verurteilten Antragstellern seien über 70 Prozent innerhalb von zwölf Monaten in die Bundesrepublik abgeschoben worden.65 Gesetzt den Fall, dass diese Abschiebungsquote konstant blieb, wurden 1986 folglich rund 100 Personen in die Bundesrepublik freigekauft, die ihre Inhaftierung absichtlich provoziert hatten (70 % von 146).66 Das waren circa 7 bis 8 Prozent der 61 BStU, MfS, ZAIG, Tb 47. 62 »Zur Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen und zur Bekämpfung damit verbundener Straftaten durch die Linie IX«, 9.2.1987; BStU, MfS, HA IX, Nr. 8340, Bl. 87–95, hier 89. 63 BStU, MfS, ZAIG, Tb 47. 64 Ebenda. 65 BStU, MfS, HA IX, Nr. 8340, S. 89 f. 66 Da in Fisters Ausarbeitung nichts darauf hinweist, dass das MfS diesen Personen gezielt die Übersiedlung versagt hätte, ist diese Annahme vertretbar.
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insgesamt 1 450 freigekauften Häftlinge des Jahres 1986, eine absolut gesehen zwar eher geringe, aber weiter anwachsende Zahl.67 Mit der Forderung nach Einstellung des Freikaufs konnte Fister bei Mielke indes nicht durchdringen. Am Ende der Dienstkonferenz stellte der Minister klar, dass der Verkauf von Häftlingen fortgeführt werde.68 Mielkes Stellungnahme auf einer Dienstkonferenz im Jahr darauf enthielt daher nur noch die lapidare Formulierung, es werde »nach wie vor […] Übersiedlungen aus dem Strafvollzug geben«, das sei »aus verschiedenen Gründen notwendig«. Wiederum findet sich die Mahnung, dass die Übersiedlung »grundsätzlich […] nicht so organisiert werden« dürfe, dass »sich daraus ein gewisser Automatismus entwickelt«. Eine »Sogwirkung« müsse »unter allen Umständen verhindert werden«. Die ZKG habe daher »differenzierter zu entscheiden«, Ziel sei »in erster Linie […] die Übersiedlung derjenigen, die wir loswerden müssen«.69 Ein Vorgang aus dem Jahr 1987 zeigt, dass die Forderung des Ministers der Praxis widersprach. Die Zentrale Koordinierungsgruppe, die seit Volperts Tod 1986 für den Freikauf verantwortlich war, überging einfach die Einwände der territorialen Diensteinheiten, obwohl diese eine »Sogwirkung« auf andere Antragsteller befürchteten. Im Rahmen der routinemäßigen Überprüfung von Versagungsgründen zu Häftlingen der »Aktion 1987« erhob eine der zuständigen Bezirkskoordinierungsgruppen Einspruch gegen die Ausreise von Inhaftierten aus ihrem Bezirk. Zur Begründung gab die BKG unter anderem an, dass einer der Betreffenden »gemeinschaftlich handelnd […] die zur Inhaftierung führende Straftat« begangen habe, »um die staatlichen Organe der DDR unter Druck zu setzen und die Genehmigung zur Übersiedelung in die BRD zu erpressen«. Aus Sicht der BKG würde »eine Entlassung in die BRD […] eine Sogwirkung verursachen«. Nur zwei Tage später teilte der Leiter der Kreisdienststelle des MfS, die die Prüfung im Auftrag der BKG durchgeführt hatte, jedoch mit, »alle Ablehnungen im vorliegenden Schreiben« seien »ausnahmslos aufgehoben«, alle Häftlinge könnten »aus dem Strafvollzug übersiedelt werden«. Offenbar fiel diese »Entscheidung« nach entsprechender Anweisung seines Vorgesetzten.70 67 BStU, MfS, HA IX, Nr. 8340, S. 89 f. Die Dunkelziffer dürfte höher gelegen haben. Damit sind die Fälle gemeint, in denen das MfS den verhafteten Antragstellern das Motiv der provozierten Inhaftierung nicht nachweisen konnte. Der Leiter des Notaufnahmelagers in Gießen, Heinz Dörr, schätzt diese Zahl sogar noch höher ein: Nach seiner Erinnerung gaben es am Ende sogar nahezu 20 % aller politischen Häftlinge bei der Befragung durch die Anwälte der Rechtsschutzstelle in Gießen an, sie hätten absichtlich eine Inhaftierung provoziert, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Interview mit Heinz Dörr, 30.12.2009. 68 Siehe das folgende Kapitel. 69 Dienstbesprechung v. 25.2.1988; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8709, Bl. 44. 70 BStU, MfS, HA IX, Nr. 2570, Bl. 32 f.
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Das MfS setzte dem Trend, dass der Umweg über die Haft manchem Antragsteller attraktiver erschien als das Warten auf die Genehmigung der Ausreise, nur noch wenig entgegen. In manchen Fällen gelang es noch, über inoffizielle Mitarbeiter unter Rechtsanwälten die Antragsteller von einem derartigen Vorhaben abzubringen.71 In anderen Fällen war es bereits zu spät für Versuche inoffizieller Einflussnahme: Im März 1988 schilderte der in Erfurt im Untermandat Vogels tätige und bei der Staatssicherheit als »IMS Reuter« erfasste Anwalt Wilfried Märten seinem Führungsoffizier die Stimmung unter den Ausreiswilligen. Nach seiner Beobachtung mehrten sich bei seinen Mandanten »die Auffassungen, dass man nicht mehr mit den [sic!] ›Taktieren von Inneres‹ [die für Ausreiseanträge zuständige Abt. Inneres beim Rat des Kreises] einverstanden sei und absichtlich strafbare Handlungen begeht, um aus der Haft in die BRD übergesiedelt zu werden«. Als Beispiel benannte Märten drei Mandanten, die mit einem »Brief an [den] Rat des Bezirkes«, eine »Demonstrativhandlung (Schild vor Rat des Kreises)« und die bewährte Methode, an den Grenzübergang in Gerstungen zu fahren und die Ausreise zu verlangen, das beabsichtigte Strafverfahren nach § 214 StGB erreicht hätten. Märtens Führungsoffizier notierte knapp, der IM spreche »von einer gewissen Verbitterung der ÜSE, die dadurch zu Kurzschlußhandlungen neigen«. Es zeige sich »die Tendenz, daß die Hoffnung größer ist, aus der Haft übergesiedelt zu werden, als gar nichts zu tun und abzuwarten, ob der Antrag auf ÜS eventuell doch noch positiv entschieden wird«.72 Letztere Zustandsbeschreibung trifft auffällig genau auf die Hafterfahrung Ralf Knechtels zu, der 1988 über einen kalkulierten Freikauf in die Bundesrepublik kam.73 Schon früh hatte er erkannt, dass ihm aufgrund seiner skeptischen bis ablehnenden Haltung zur sozialistischen Gesellschaft ein »normales Leben in der DDR« verwehrt war. »Ich wollte einfach frei über mein Leben entscheiden, wollte reisen, frei sein, alles frei sagen dürfen.«74 Daher stellte er im Oktober 1985 im Alter von 19 Jahren einen Ausreiseantrag. Während befreundete Antragsteller recht bald ausreisen durften, verhielten sich die Behörden in seinem Fall passiv. Knechtel konnte diesen Zustand der Ungewissheit nur schwer ertragen, zumal es ihm schien, als habe man ihn vergessen. 71 Im März 1987 berichtete der IM »Klaus Müller« (Hans-Peter Konrad) aus Halle von einer Mandantin, die »jeden Freitag und Dienstag zur Abt. Inneres« gehe und sich nach dem Stand der Bearbeitung ihres Antrages erkundige. »Da sie die Äußerung machte, sie würde auch eine Straftat begehen, um ihr ÜE [Übersiedlungsersuchen] durchzusetzen, belehrte ich sie, davon Abstand zu nehmen. Dies versprach sie auch.« Bericht des IM v. 5.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, KD Roßlau, VIII 2265/81, T. II, Bd. 2, Bl. 19 f. 72 Mündlicher Bericht v. 24.3.1988; BStU, MfS, BV Erfurt, 897/77, Bd. II/1, Bl. 171. 73 Knechtel: Stalins DDR, S. 82–84. 74 Ebenda, S. 83.
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Aus den Berichten in ARD und ZDF sowie von ausgereisten Freunden im Westen hatte er Kenntnis vom Freikauf und wusste »vom Hörensagen«, dass bis zum Freikauf circa die Hälfte der Strafe zu verbüßen war.75 Da ihm selbst sein Vater zu diesem Schritt riet und dieser zweimal aus politischen Gründen in Haft gesessen hatte, beschloss Knechtel, seinen Ausreisewunsch dadurch »ein wenig zu forcieren«, indem er eine Verhaftung provozierte. Die Entscheidung wurde ihm dadurch erleichtert, dass er keine eigene Familie hatte und die Folgen seines Handelns alleine auf sich nehmen konnte.76 Vorab hatte er sich bei Bekannten aus dem Kreis der Antragsteller über die einschlägigen Paragrafen und Möglichkeiten der »Tatbegehung« informiert. Weil ein Fluchtversuch tödlich hätte enden können, entschied er sich für die Variante, die ein Bekannter gewählt hatte: Er war zur Volkspolizei gegangen und hatte seinen Personalausweis mit der Begründung abgegeben, er fühle sich nicht mehr als Bürger der DDR und lehne die Staatsbürgerschaft ab. Das hatte bei ihm für eine Verurteilung zu einem Jahr Haft ausgereicht. Als Knechtel es ihm gleichtun wollte und bei der Volkspolizei vorsprach, reagierten die Beamten nicht darauf. Er fasste daraufhin den Entschluss, noch »etwas nachzulegen«. Aus anderen Zusammenhängen wusste er, dass es für die bloße Androhung einer Straftat »nicht allzu viel« gebe, aber immerhin genug, um später freigekauft zu werden. So ging er erneut zum Volkspolizeikreisamt und drohte eine Demonstration am Karl-Marx-Monument an. Wegen »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« (§ 214 StGB) wurde er daraufhin verhaftet.77 In der Untersuchungshaft des MfS gab er zu, dass er die Verhaftung im Hinblick auf einen späteren Freikauf provoziert habe, und erzählte dem Vernehmer »halbwegs das, was er wissen wollte«.78 Bei Ralf Knechtel hinterließen die Vernehmungen den Eindruck, dass die gesamte Prozedur sehr »geschäftsmäßig« ablief und für den Vernehmer Routine war. Gleiches galt für den Prozess. Knechtels Anwalt Bock, ein Untervertreter Vogels, riet ihm in dem vorausgehenden fünfminütigen Gespräch, er solle sich während der Verhandlung »nicht groß äußern«, dann würde die Sache ihren Gang gehen.79 Bock 75 Vgl. hierzu BStU, MfS, ZKG, Nr. 5504, Bl. 252. 76 Interview mit Ralf Knechtel, 17.6.2010. 77 Ebenda. 78 Knechtels Verhalten war nicht untypisch. Auf der bereits erwähnten MfS-Dienstkonferenz vom Februar 1987 merkte der Vertreter der BV Gera an, dass die »Aussagebereitschaft« dieser Täter »in der Regel in voller Breite gegeben« sei. »Nicht selten« würden die Beschuldigten erklären, »dass sie mit der Inhaftierung ihrem Ziel erheblich näher gekommen sind«. BStU, MfS, ZKG, Nr. 5504, Bl. 320. 79 Das Verhalten des Anwalts war ebenfalls kein Einzelfall. Der Vertreter der MfSBezirksverwaltung Cottbus beschwerte sich auf der Dienstkonferenz am 12. Februar 1987, »daß die
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plädierte auf eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten, das Gericht verhängte eine Freiheitsstrafe von einem Jahr. Das Urteil entsprach recht genau Knechtels Erwartungen, denn »weniger ging wohl nicht, mehr wollte ich auch nicht«.80 Die Haftzeit saß er in Cottbus und Karl-Marx-Stadt ab. Die Erlebnisse im Gefängnis empfand er als entwürdigend und sehr belastend.81 Nach einem halben Jahr Haft, d. h. genau der Hälfte der verhängten Strafe, wurde er im Oktober 1988 über Karl-Marx-Stadt nach Gießen entlassen. In der Rückschau bewertete er die Haftzeit als eine Erfahrung, die ihn »erwachsen gemacht« habe, sie hätte bei ihm selbst und anderen »den Typ hervorgekitzelt, der man eigentlich ist«.82 Der Plan war für ihn aufgegangen, vor allem weil die Devisennot der DDR dazu führte, dass sich die Drohung mit einer Inhaftierung in ihr Gegenteil verkehrte. Ob der Preis – d. h. die Haft mit all ihren Konsequenzen – nicht doch zu hoch war, steht freilich auf einem anderen Blatt.83
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Erosionsprozesse im Partei- und Repressionsapparat
Das Primat der Ökonomie vor der Abschreckungs- und Erziehungsfunktion der Haft wirkte sich langfristig auf die am Häftlingsfreikauf beteiligten Institutionen in der DDR aus. Wie gingen die Verantwortlichen in der SED, den Staatsanwaltschaften und dem MfS mit der Kritik an der Praxis des Häftlingsverkaufs um? Welche Nebenwirkungen hatte der Freikauf auf die Arbeitsmoral und die Motivation der Mitarbeiter des Repressionsapparates? Ludwig Rehlinger schreibt, dass die Auswirkungen zu einer »Verunsicherung des Apparates« geführt hätten: »Wie muß dieses Geschehen die Moral bei der Polizei und im Justizapparat untergraben haben? Wenn das Recht zur politischen Opportunität degradiert wird, ist es arg um das Ansehen des Staates bestellt. Spätfolgen können nicht ausbleiben. Jede Obrigkeit braucht den Respekt ihrer Bürger; der jedoch braucht die Gewissheit, dass es ge-
Rechtsanwälte, welche in Untervollmacht des RA Vogel handeln, beim 1. Sprecher bereits den Häftlingen die Genehmigung der Übersiedlung aus der Strafhaft in Aussicht stellen«. Das beeinträchtige »besonders bei politisch ungefestigten Häftlingen die Rückgewinnungsbemühungen«. Ebenda, Bl. 317. 80 Interview mit Ralf Knechtel, 17.6.2010. 81 Knechtel: Stalins DDR, S. 84. 82 Interview mit Ralf Knechtel, 17.6.2010. 83 Vgl. Kap. VIII.2, Unterkapitel »Ende gut alles gut?«
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recht zugeht. Wenn dieses Gefühl zerstört wird, stürzt ein wichtiger Pfeiler, der die Autorität trägt.«84
Genaues über die Binnenrezeption des Freikaufs in der SED, dem MfS und den Justizorganen zu erfahren, ist schwierig, da zur Frage der Auswirkungen und Rückkopplung im Partei- und Repressionsapparat nur wenig Schriftliches überliefert ist, die Suche nach Belegen einem Puzzlespiel ähnelt. Hinzu kommt, dass sich ehemalige Mitarbeiter in ihren publizierten Erinnerungen weitgehend darüber ausschweigen und nicht zu Interviews bereit sind. Hinsichtlich der Haltung des SED-Politbüros zum Freikauf steht fest, dass die »Humanitären Fragen« in den Beziehungen zur BRD zu keiner Zeit auf der Tagesordnung einer Sitzung standen und somit nie in einem formellen Rahmen diskutiert wurden.85 Zweifellos wollten Ulbricht und Honecker, die als Generalsekretäre über die politische Agenda des Politbüros bestimmten, eine kontroverse Diskussion vermeiden, bei der sie nichts gewinnen konnten, weshalb das Thema aus grundsätzlichen Erwägungen mit einem Tabu belegt zu sein schien. Günter Schabowski, seit 1984 Mitglied des Politbüros, gab in einem Interview an, das Politbüro habe sich niemals damit befasst, in dieser Angelegenheit »ließ man Mielke machen«.86 Was für das Politbüro galt, traf erst recht auf das Zentralkomitee der SED zu. Formal war es zwar das oberste Beschlussorgan der SED zwischen den Parteitagen, wurde jedoch faktisch vom Politbüro dominiert und diente ihm als »Repräsentationsbühne und Akklamationsmaschine für die Politik des Generalsekretärs und des Politbüros«.87 Auch wenn es keine offene Diskussion über den Freikauf gab, so dürften die Mitglieder des Politbüros und Zentralkomitees, insofern sie zum engeren Kreis der Mitwissenden gehörten, zweifellos »politische Bauchschmerzen« (Wolfgang Leonhard) empfunden haben.88 Trotz des offiziell verordneten Maulkorbs war die Frage im ZK-Apparat Gegenstand informeller und kontroverser Gespräche. 1975 stellte das Bundeskanzleramt in einem vertraulichen Papier fest, es sei »seit längerem bekannt, dass es auch in der Umgebung von Honecker Leute gibt, denen die Häftlingsentlassungen und die Familienzusammenführungen
84 Rehlinger: Freikauf, S. 45 u. 110; vgl. Rehlinger am 3. Juni 1992 vor dem »KoKo«Untersuchungsausschuß des Bundestages; PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 1993, Protokoll Nr. 69, S. 38 f. 85 Siehe Kap. II.3. 86 Zit. nach: Lippmann: Moderner Menschenhandel, S. 68. 87 Hertle, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989. Berlin 2009, S. 209; vgl. Hertle, Hans-Hermann; Stephan, Gerd-Rüdiger (Hg.): Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees. 5. Aufl., Berlin 2012, S. 20–33. 88 Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, S. 599.
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überhaupt zu weit« gingen.89 Honecker selbst hatte gegenüber Wehner angedeutet, »es gebe Kräfte, die die Häftlingsaktion stoppen wollen«.90 Wen Honecker damit meinte, lässt sich nur vermuten. Womöglich handelte es sich um die »Moskau-Fraktion« im Politbüro, darunter Ministerpräsident Willi Stoph, Werner Krolikowski, Stasi-Chef Erich Mielke und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, die Honeckers Kurs der Annäherung an die Bundesrepublik mit großer Skepsis verfolgten.91 Letztlich fanden die Kritiker des Häftlingsgeschäftes jedoch keine Möglichkeit, ihre Einwände offen zu artikulieren oder gar einen Kurswechsel herbeizuführen. Ein ähnliches Bild ergibt sich in Bezug auf die (General-)Staatsanwaltschaft(en), die Richterschaft und im eingeschränkten Maße auf das Ministerium des Innern. Hinzu kam, dass jene Stellen, die nicht direkt an der Umsetzung der Maßnahmen beteiligt waren, vom Informationsfluss weitgehend ausgeschlossen wurden. Peter Przybylski, der von 1963 bis 1990 als Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft in Ost-Berlin tätig war, erinnert sich an folgende Begebenheit: Im Rahmen einer Parteiveranstaltung der SEDGrundorganisation habe sich ein Staatsanwalt zu Wort gemeldet und gesagt, er habe das Gerücht gehört, dass über den Rechtsanwalt Vogel Häftlinge an den Westen verkauft würden. Er wolle fragen, ob dies stimme. Generalstaatsanwalt Streit habe das jedoch als Gerücht abgetan und sich jede weitere Diskussion darüber verbeten.92 Vornehmlich bei den für politische Verfahren zuständigen Abteilungen Ia der Staatsanwaltschaften in den Bezirken lösten die vom MfS angewiesenen Entlassungen mindestens Verstimmung, wenn nicht gar Verärgerung aus. Schließlich entzog das MfS den Staatsanwaltschaften faktisch ihre Befugnis, über vorzeitige Haftentlassungen zu entscheiden und vereinnahmte damit einen Bereich, der laut der Strafprozessordnung zu den Kompetenzen der Staatsanwaltschaften gehörte.93 Es scheint plausibel, dass sich die Staatsanwälte 89 Vermerk Sannes betr. Häftlinge aus der DDR und »Konfliktfälle der Familienzusammenführung«, 24.11.1975; HGWS, HF 72. 90 Notizen Wehners über ein Gespräch mit Vogel, 9.8.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 200A, S. S. 680. 91 Stephan, Gerd-Rüdiger: Deutsch-deutsche Beziehungen vor dem Hintergrund von »Glasnost« und »Perestroika« (1982–1990). In: Pfeil, Ulrich (Hg.): Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen, 1949–1989. Berlin 2001, S. 117–134, hier 120. 92 Telefonat mit Dr. Peter Przybylski, 12.11.2009. 93 Gemäß § 349, Abs. 6 StPO hatten Staatsanwalt und der Leiter der Strafvollzugseinrichtung nach Strafantritt »laufend zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine Strafaussetzung auf Bewährung eingetreten« seien und »gegebenenfalls entsprechende Anträge« bei dem verurteilenden Gericht zu stellen; StPO-DDR v. 12.1.1968 i.d.F. v. 7.4.1977, abgedruckt in: Roggemann, Herwig: Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung der DDR mit Nebengesetzen. 2., überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1978, S. 374. § 45 StGB bestimmte, dass »unter Berücksichtigung der Umstände der Straftat, der
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in den Bezirken immer häufiger übergangen und von ihren Vorgesetzten bzw. der GStA in Berlin entmündigt fühlten, z. B. dann, wenn sie einem Häftling im Rahmen der turnusmäßigen Überprüfung nach § 349 StPO ein schlechtes Führungszeugnis ausstellten, wenig später jedoch auf Anordnung des weisungsbefugten Generalstaatsanwaltes plötzlich eine gegenteilige, positive Beurteilung ausfertigen mussten, weil dies für die formalrechtliche Bemäntelung des Freikaufs notwendig war. Ein Beispiel hierfür ist der Fall Rudolf Winkler. Der 64-jährige Klavierbauer wurde im November 1966 vom MfS verhaftet und im Sommer 1967 aufgrund mehrerer anonymer Leserbriefe an die »Magdeburger Volksstimme« wegen »staatsgefährdender Propaganda und Hetze« (§ 19 StEG) zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Bereits im September 1967, nach insgesamt »nur« knapp neun Monaten Haft, wurde er freigekauft und in den Westen entlassen. Unter dem Datum des 22. August 1967 vermerkte das MfS, der zuständige Staatsanwalt der Abteilung Ia beim Bezirksgericht Magdeburg habe mit seinem Dienstvorgesetzten aus der GStA in Berlin wegen »der vorgesehenen zentralen Haftentlassung des Winkler« Rücksprache gehalten und ihm »die ablehnende Meinung der Staatsanwaltschaft Magdeburg mitgeteilt«. Nur drei Tage später, am 25. August erhielt der Magdeburger Staatsanwalt von seinem unmittelbaren Dienstvorgesetzten jedoch die Anweisung, beim Bezirksgericht die bedingte Strafaussetzung auf Bewährung zu beantragen. Den Antrag auf Strafaussetzung für Rudolf Winkler begründete der so gemaßregelte Staatsanwalt plötzlich »mit der guten Führung, dem Alter des Verurteilten und der Einschätzung, dass er ›zukünftig die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik einhalten‹ werde«. Wie zu erwarten war, folgte das Bezirksgericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft.94 Die Anweisungen aus der GStA, trotz des Fehlens der objektiven Voraussetzungen die Aussetzung der Freiheitsstrafe zu beantragen, dürfte bei den Staatsanwaltschaften in den Bezirken kaum auf Verständnis gestoßen sein, insbesondere dann, wenn sich Strafgefangene unmittelbar vor ihrem Freikauf so verhalten hatten, dass von der »Erreichung des Strafzwecks« nicht die Rede sein konnte. Teilweise dürfte der Verdruss darauf zurückzuführen sein, dass die Staatsanwälte in den Bezirken noch weniger als die operativen Mitarbeiter des MfS über die Hintergründe des Vorgangs informiert wurden, sondern lediglich die Weisungen des MfS bzw. der GStA in Berlin umsetzen mussten. Persönlichkeit des Verurteilten sowie seiner positiven Entwicklung, insbesondere seiner Disziplin und seiner Arbeitsleistungen, der Zweck der Freiheitsstrafe erreicht« sein müsse, damit das Gericht einem Antrag auf Strafaussetzung stattgeben könne. StGB-DDR v. 12.1.1968 i.d.F. v. 7.4.1977, abgedruckt ebenda, S. 111. Das vor Inkrafttreten des neuen StGB und der StPO 1968 gültige »Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der DDR« v. 2.10.1952 enthielt die gleiche Bestimmung. 94 Scharrer, Manfred: Der Leserbriefschreiber. Tatwaffe »Erika«. Berlin 2005, S. 145 f.
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Jedoch führte die Verunsicherung nicht zu offenem Widerstand der Staatsanwälte gegenüber der Partei- und Staatsführung. Jedenfalls hielt es das MfS nicht für nötig, die GStA mittels eines engmaschigen Netzes inoffizieller Mitarbeiter konspirativ zu überwachen.95 Zwar registrierte das MfS in den achtziger Jahren »politisch-ideologische Erosionserscheinungen« sowie Meinungsäußerungen »zur Dialogpolitik und zur ökonomischen Entwicklung unseres Staates [...], die Zweifel an deren Richtigkeit und Realität beinhalten«, interpretierte sie jedoch lediglich als Ausdruck der »Sorge um die Entwicklung und Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft«. Die Lage sei weiterhin »durch politische Stabilität und hohe staatliche Sicherheit, Ordnung und Disziplin gekennzeichnet«.96 Einer der IM in der Abteilung Ia beim Generalstaatsanwalt in Ost-Berlin berichtete jedoch in regelmäßigen Abständen über Diskussionen, Stimmungen sowie Meinungsäußerungen seiner Kollegen.97 Mitte März 1984 notierte sein Führungsoffizier zur Ausreise- und Verhaftungswelle, im Arbeitskollektiv des IM würde die »Auffassung vertreten, daß der eingeschlagene Weg richtig wahr [sic!], um ›Ballast‹ abzuwerfen«. Dennoch gäbe es Kritik an der Haltung der Partei, weil sie die Entscheidung zur Genehmigung der Ausreisen weder erkläre noch diese propagandistisch ausnutze. Die Partei verhalte sich »insgesamt defensiv« und gebe »keine offiziellen Stellungnahmen« ab. Zudem würden die Massenmedien nicht darüber berichten, »daß nicht jeder ehemalige DDRBürger mit offenen Armen im goldenen Westen empfangen« werde. Schließlich gebe es etliche Bürger, die »am gesellschaftlichen System der BRD zugrunde« gingen.98 Ferner berichtete der IM, dass über die Abteilung Ia in Berlin »die Registrierung der Entlassungen von DDR-Bürgern aus der Staatsbürgerschaft, die sich in Haft befinden bzw. straffällig geworden sind« erfolge. Deren Zahl sei »gewaltig groß«. Zwei Mitarbeiterinnen würden »Tag für Tag listenmäßig diese Bürger erfassen«. Für ihn stelle sich die Frage, »ob die beiden Mitarbeiterinnen ihre derzeitige Aufgabe politisch verkraften«, denn keiner spreche mit ihnen darüber. Überhaupt gebe es »im Allgemeinen […] zu diesem Problem in 95 1960 führte die für den Staatsapparat zuständige Hauptabteilung XX des MfS nur 5 IM unter den Staatsanwälten der GStA, generell blieb die Gesamtzahl der IM im Justizbereich mit durchschnittlich 21 bis in die achtziger Jahre konstant. Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund« (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2008, S. 42 u. 58. 96 Ebenda, S. 56. 97 Staatsanwalt Manfred Pritzens, GI »Mensa«; BStU, MfS, AIM 7967/91, Bd. II/4. In der Abt. Ia u. V beim GStA der DDR waren insgesamt 11 Staatsanwälte beschäftigt. BStU, MfS, HA IX, Nr. 13873 Bl. 121. 98 Treffbericht IMS »Mensa«, 14.3.1984; ebenda, Bl. 133 f.
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der Abt. Ia beim GStA keine Diskussionen«. Nach seiner Einschätzung sei dies »auf die vorhandene Staatsdisziplin« zurückzuführen, doch würden »Fragen und Probleme […] bei jedem Genossen auftreten«, mit denen er »allein gelassen« werde. »Der IM«, so notierte der Führungsoffizier, »schätzt diese Situation als nicht gut ein«.99 Der Mangel an Transparenz in den Entscheidungen der Partei und der Frust der Mitarbeiter sollte offensichtlich durch eine großzügige Belobigung ausgeglichen werden: So berichtete der IM, dass der Leiter der HA IX des MfS, Rolf Fister, am 13. Juli 1984 den Stellvertretenden Generalstaatsanwalt Borchert mit dem »Kampforden in Silber und das Kollektiv der Abt. Ia der GStA mit dem Kampforden in Bronze […] aufgrund der hervorragenden Erfüllung der dem Kollektiv in Zusammenarbeit mit dem MfS gestellten Aufgaben« ausgezeichnet habe.100 Das konnte jedoch nicht über eine grundsätzliche Unzufriedenheit hinwegtäuschen, denn die Mitarbeiter der GStA beklagten die fehlende Anerkennung ihrer Institution und ihrer Arbeit. Obwohl sie ein »zentrales Justizorgan« sei, fände sie »von Seiten der Partei und Regierung keine dementsprechende Würdigung«. All dies führe dazu, »bei ehrlichen Genossen […] [der] GStA eine Stimmung der Gleichgültigkeit aufkommen zu lassen«. Einige Mitarbeiter, berichtete der IM, würden sogar einen Wechsel in der Staats- und Parteiführung verlangen: »Eine radikale Änderung dieser Situation wird mit einer neuen staatlichen Leitung verknüpft«.101 Auf besonderes Unverständnis sei die unzureichende Informationspolitik samt ihrer negativen Folgewirkungen gestoßen. So hätten sich Genossen im Zusammenhang mit den Vorkommnissen am 17. Januar 1988 auf der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration dahingehend geäußert, dass man etwa den Oppositionellen »[Ralf] Hirsch […] unter Beachtung der bisher vorliegenden Erkenntnisse […] durchaus zu 10 Jahren Haft« hätte verurteilen können.102 Stattdessen habe man ihn wenig später kommentarlos aus der Untersuchungshaft in die Bundesrepublik abgeschoben. Nach Meinung der Staatsanwälte hätte man »die Öffentlichkeit […] darüber informieren müssen und zwar so, daß sie die getroffenen Entscheidung [sic!] verstehen«. Diese Vorgehensweise, »ohne Information der Beteiligten und der Öffentlichkeit«, führe dazu, »dass es weitere Bürger gibt, die dem Beispiel zur Durchsetzung ihrer feindlichen Zielstellung folgen und andere treu zur Partei und Staat stehende verunsichern bzw. verleiten«. Der IM befürchte, dass »die Schutz- und Sicherheitsorgane« 99 Ebenda. 100 Ebenda, Bl. 142. 101 Treffbericht, 9.10.1984; ebenda, Bl. 157 f. 102 Ralf Hirsch, Jg. 1960, war 1986 Gründungsmitglied der oppositionellen »Initiative Frieden und Menschenrechte« und wurde im Januar 1988 nach der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration verhaftet.
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durch dieses Vorgehen auf lange Sicht »das Vertrauensverhältnis zu unseren Bürgern verlieren« würden.103 Hinsichtlich des Freikaufs vertraten die Staatsanwälte Ende der achtziger Jahre den gleichen Standpunkt wie der Leiter der HA IX des MfS. Man müsse »endlich mit der gegenwärtig geübten Praxis Schluß machen«. Schließlich würden »die hartnäckigen unter den Antragstellern alles versuchen, um ihr Ziel zu verwirklichen«. Weil es sich »herumgesprochen« habe, »daß man über ein Strafverfahren am schnellsten sein Ziel erreicht«, nehme die »Zahl derer zu, die mit dem Ziel der Einleitung eines EV[Ermittlungsverfahrens]« Straftaten begingen. Dadurch erkläre sich auch die hohe Anzahl der Festnahmen von DDR-Bürgern »in den soz[ialistischen] Ländern«. In der Folge sei die »Belastung der jeweiligen Schutz- und Sicherheitsorgane« mittlerweile »so groß, daß sie es kaum noch verkraften«.104 Auch seitens der Richterschaft gab es offenbar kritische Stimmen gegenüber dem Freikauf. Eine Zeuge im Prozess gegen Wolfgang Vogel berichtete 1993 gar davon, es habe einen »fast offenen Widerstand gegen Austausch, Freikauf, etc.« gegeben.105 Allerdings folgten die Richter, die zwar formal die Entscheidung über die Entlassung treffen mussten, in der Regel den Anträgen der Staatsanwaltschaft, ohne diese zu hinterfragen. Rudi Beckert, 1966 bis 1971 Oberrichter am Bezirksgericht Frankfurt/Oder, berichtet, dass über den Freikauf »intern gesprochen« worden wäre. Er selbst sei jedoch »so einfältig« gewesen, das für unglaubwürdig zu halten. Eines Tages sei er jedoch eines Besseren belehrt worden, als er den Betrieb eines Verurteilten in der Absicht aufgesucht habe, um dessen Kollegen »über Sinn und Zweck der Strafe im Sozialismus« aufzuklären. Seine »ernst gemeinten Belehrungen« hätten die Anwesenden amüsiert, da ihnen ihr früherer Arbeitskollege eine Ansichtskarte aus der Bundesrepublik geschrieben hatte.106 Die Praxis der »Übersiedlungen aus dem Strafvollzug« führte schließlich auch zur Desorientierung der Mitarbeiter in den Abteilungen Inneres der Räte des Kreises, die dem MdI unterstanden. Insbesondere dann, wenn es sich bei den Freigekauften um einen vormaligen Antragsteller handelte, mussten die Mitarbeiter feststellen, dass sie sich mit ihren Bemühungen um »Zurückdrän103 Treffbericht, 16.2.1988; ebenda, Bl. 281–283. 104 Treffbericht, 18.8.1988; ebenda, Bl. 299. 105 Aussage im Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 45, Bl. 117. 106 Beckert, Rudi: Glücklicher Sklave. Eine Justizkarriere in der DDR. Berlin 2011, S. 83. Allerdings muss Beckert zumindest dann von der vorzeitigen Entlassung gewusst haben, wenn er den Betroffenen selbst verurteilt hatte. Schließlich musste das verurteilende Gericht dem Antrag auf Strafaussetzung stattgeben. Siehe Kap. II.4. In den übrigen gesichteten MfS-Akten fanden sich keine weiteren Hinweise zur Haltung der Richterschaft.
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gung« nicht hatten durchsetzen können. Insbesondere Rechtsanwalt Vogel und die Anwälte in seinem Untermandat erschienen vielen als Fremdkörper im Staatsapparat. Vogels Untervertreter Rechtsanwalt Wetzig aus Karl-MarxStadt, der als IM »Sascha« registriert war, berichtete Mitte März 1983 über ein Gespräch mit einem Mitarbeiter der Abteilung Inneres. Dieser habe ihm vorgeworfen, dass er durch seine Tätigkeit »die staatliche Autorität untergrabe«. Schließlich sei das »nicht sein Kompetenzbereich« und auf diese Weise gehe die »Kontrolle über die Antragsteller […] verloren«. Obendrein würden die Antragsteller durch ihn »Informationen erhalten, die die staatlichen Organe nicht hätten«.107 Der Unmut in den Abteilungen Inneres hatte im Zusammenhang mit der Ausreisewelle im Jahr 1984 ein Ausmaß erreicht, dass Mielke auf der Dienstkonferenz des MfS im November des Jahres klarstellte, bei den Aussprachen bei der Abteilung Inneres dürfe »auf keinen Fall der Rechtsanwalt desavouiert werden«. Es sei »eine Schnoddrigkeit, zu erklären, ›der Rechtsanwalt hat hier nichts zu sagen‹«. Im Gegenteil: Rechtsanwälte seien »ein großer Teil unseres Rechtswesens«.108 Im MfS, das den Häftlingsverkauf im Auftrag der SED durchführte, wurde ebenfalls Kritik laut. Fritz Schröder, der von 1955 bis 1965 Leiter der Hauptabteilung V und somit zur Entstehungszeit des Freikaufs der unmittelbare Vorgesetzte Volperts war, wollte sich 1993 in einer Vernehmung daran erinnern, dass er seinerzeit gegen den Verkauf von Inhaftierten gewesen sei: »Als ich anfangs von den ›Häftlingsverkäufen‹ hörte, habe ich gegenüber Volpert und auch [dem Stellvertretenden Minister Bruno] Beater darüber mein Missfallen zum Ausdruck gebracht. Gegenüber Beater habe ich geäußert, daß es unfair sei, Menschen zu verkaufen. Ich habe ihn gebeten, beim Minister seinen Einfluß geltend zu machen, daß so etwas nicht geschähe, da ich der Meinung war, daß uns das Kopf und Kragen kosten könne. Das Ergebnis meiner Äußerung war, daß Volpert mir gegenüber eines Tages mitteilte, dass er von Mielke die Weisung erhalten habe, mit mir nicht mehr über ›Häftlingsverkäufe‹ zu sprechen. In der Folge habe ich dann nichts mehr zu diesem Themenkreis erfahren.«109
107 BStU, MfS, BV Chemnitz, XIV 31/76, Bd. IV, Bl. 247 f. 108 Niederschrift über die Dienstbesprechung am 2.11.1984; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8663, Bl. 32. 109 Vernehmung Fritz Schröders am 3.2.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 36, Bl. 87–90, hier 89 f. Trifft Schröders Aussage zu, so zeigt sie, dass Volperts direkte Anbindung an den Minister bereits 1963/1964 so weit gefestigt war, dass er nur noch formal in die Hierarchie der HA V eingebunden war. Schließlich konnte sich Volpert sogar über Bedenken seines unmittelbaren Dienstvorgesetzten hinwegsetzen. Allerdings könnte es sich auch um eine Schutzbehauptung Schröders handeln, mit der er seine eigene Rolle herunterspielen wollte.
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Auf ablehnende Reaktionen stieß der Freikauf bei jenen, die als Bedienstete der Linie IX, der Abteilung XIV (Haftvollzug) oder im Strafvollzug tätig waren. Sie kamen täglich unmittelbar mit Untersuchungshäftlingen oder Strafgefangenen in Berührung. Je näher die Position am »Klassenfeind«, umso deutlicher registrierten die Mitarbeiter die nachteiligen Wirkungen des Freikaufs. Zwischen der Realität im Umgang mit dem Gefangenen einerseits und der ideologischen Rechtfertigung des Freikaufs als »Kampfauftrag der Partei zur allseitigen Stärkung der DDR«110 andererseits tat sich eine immer größer werdende Kluft auf. Im Alltag mussten sie fortwährend erleben, wie der Freikauf ihre Autorität als Vertreter der Staatsmacht untergrub und den Sinn ihrer Tätigkeit grundlegend infrage stellte. Symptomatisch dafür ist eine Einlassung in einem Bericht der Abt. XIV über die »Häftlingsaktion« des Jahres 1970. Die Abt. XIV wickelte die notwendigen Entlassungsformalitäten ab und sorgte für die Verlegung der Häftlinge nach Karl-Marx-Stadt sowie die Busfahrten von dort aus bis zum Grenzübergang Wartha/Herleshausen. Zu ihren Aufgaben gehörten ferner die Beschaffung der Entlassungsunterlagen sowie die Aktenführung zu den Strafgefangenen, darunter Einschätzungen über ihr Betragen im Strafvollzug. Der Berichterstatter merkte diesbezüglich an, es seien insbesondere bei den »mit Hilfe der Akten vorgenommenen Beurteilungen […] häufig Widersprüche aufgetreten«. Unter anderem stünden die wegen »der vorzeitigen Entlassungen vorgenommenen notwendigen positiven Beurteilungen oftmals im Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten des Strafgefangenen«. Im Berichtszeitraum habe das Referat deshalb »eine Beschwerde über unsere Arbeitsweise von einer Abteilung Inneres eines Bezirkes zu verzeichnen« gehabt.111 Das Verfahren stieß bei Mitarbeitern des Strafvollzugs und der Abteilung Inneres nicht zuletzt deshalb auf Unverständnis, da die »Beurteilungen« von einer Diensteinheit stammten, die die Gefangenen gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, sondern lediglich nach Aktenlage »entschied«. Überhaupt stand das positive Ergebnis der »Beurteilung« von vornherein fest, gänzlich 110 Vorschlag zum Einsatz eines Beauftragten für Sonderaufgaben, 23.10.1967, Kaderakte Manfred Enke; BStU, MfS, KS 13425/90, Bl. 88. 111 Analyse »Aktion« 1970 in: BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 241–251, hier 248. Der Wortlaut der Beschwerde ist nicht überliefert. Ein Faksimile des Dokumentes ist abgedruckt in: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Dokumentenband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz. Leipzig 1994, S. 81–91. Vgl. auch den Fall Claus Kurth: Die StVE Cottbus stellte ihm noch im November 1984 eine negative Haftbeurteilung aus, laut derer er kein Anrecht auf vorzeitige Entlassung hatte. Einen Monat später attestierte ihm das MfS hingegen, es sei aus seinem »bisherigen Verhalten« zu erkennen, »dass er Lehren aus der Verurteilung gezogen« habe. Daher könne »der Zweck der Freiheitsstrafe […] als erreicht angesehen werden«. Wenig später wurde Claus Kurth freigekauft. Zit. nach: Kittan: Zuchthaus Cottbus, S. 36.
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unabhängig vom tatsächlichen Verhalten des Häftlings. Mit dieser Vorgehensweise aber wurde das Erziehungsziel, den Täter zur Einsicht zu bewegen und ihn wieder in die sozialistische Gesellschaft einzugliedern, stillschweigend aufgegeben.112 Eine wesentliche Begründung für die Strafe verlor damit ihren Sinn und ihre Glaubwürdigkeit. Auf der Ebene der Strafvollzugseinrichtungen stieß der Freikauf auf offene Missbilligung. 1965 monierte der Leiter der StVA Brandenburg, der Freikauf würde »die Leitungs- und Erziehungsarbeit in nicht geringem Maße« erschweren. Noch immer würden »Strafgefangene, die zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, nach kurzer Zeit der Verbüßung der Strafe – ohne Kommentar – aus der StVA abgeholt«. Dass diese Strafgefangenen in den Westen abgeschoben würden, sei dadurch bekanntgeworden, dass diese »nach kurzer Zeit aus Westdeutschland Karten schreiben«. In der Folge würden sich viele Strafgefangene »als sogenannte ›politische‹ hinstellen und die Auffassung vertreten, daß die Organe des Strafvollzugs auf ihre Entlassung keinen Einfluß hätten«, eine Haltung, die die Anstaltsleitung nur als eine Untergrabung ihrer Autorität ansehen konnte.113 Durch die Fortsetzung des Häftlingsverkaufs erodierte die Autorität der Strafvollzugsbediensteten zunehmend. Schließlich verlor eines ihrer bis dahin schärfsten Druckmittel, die Drohung mit einer negativen »Beurteilung« und damit die Vereitelung einer vorzeitigen Entlassung, mehr und mehr seine Wirkung. Für die Arbeitsmoral und Dienstauffassung von Strafvollzugsmitarbeitern blieb dies gleichfalls nicht folgenlos. Frustration und »Dienst nach Vorschrift« griffen um sich. 1976 ordnete der Leiter der Verwaltung Strafvollzug im MdI eine Kontrolluntersuchung der Strafvollzugseinrichtung Cottbus an. Das Gutachten zeichnete ein düsteres Bild von den Zuständen in dem Gefängnis, in dem mehrheitlich politische Häftlinge inhaftiert waren. Neben der räumlichen und hygienischen Verwahrlosung der Anstalt war es um die Moral der Genossen nicht zum Besten bestellt. Die meisten hätten es längst aufgegeben, die Gefangenen erziehen zu wollen: »Staatsbürgerliche Maßnahmen zur Erziehung der Strafgefangenen werden durch die SV-Mitarbeiter als überflüssig angesehen, weil viele Gefangene in die Bundesrepublik abgeschoben werden. Die Mitarbeiter weichen vor Auseinandersetzungen mit den Gefangenen mit feindlicher Einstellung zurück.«114
Die achtziger Jahre schließlich waren von einer »Finalitätskrise« und einem schleichenden Verfall des »weltanschaulichen Legitimationskerns des Tsche112 Fricke; Klewin: Bautzen II, S. 13. 113 Analyse der StVA Brandenburg (Havel), 14.9.1965, zit. nach: Ansorg: Brandenburg, S. 199. 114 Zit. nach: Kittan: Cottbus, S. 29.
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kismus« geprägt.115 Die zahlreichen Verträge und Abmachungen mit dem Westen, allen voran der Bundesrepublik führten dazu, dass sich der »operative Spielraum« der MfS-Mitarbeiter immer weiter verengte und die eigenen Handlungsmöglichkeiten geringer wurden. Untersuchungsführer der HA IX sahen sich »in die Rolle von ›Ausreiseberatern‹ abgedrängt«, weil die meisten der Verhafteten letztlich doch ihr Ziel erreichten und in manchen Fällen bereits kurz nach der Festnahme absehbar wurde, dass der Betroffene aus der Haft in die Bundesrepublik abgeschoben würde. Angesichts dieser vorgegebenen Zielsetzung ergaben langwierige Untersuchungen und »Rückgewinnungsversuche« immer weniger Sinn. Die ideologische Unterfütterung ihres Auftrages bekam »entspannungspolitische Risse«.116 Der Häftlingsverkauf trug nicht unerheblich zu dieser schleichenden Erosion an der Basis bei. Dabei gab es durchaus Versuche der Mitarbeiter, ihre Verunsicherung auf dem Dienstwege nach oben zu kommunizieren. Spätestens als die SED-Führung 1984/85 den Verkauf von mehr als 4 900 Häftlingen genehmigte, circa 40 000 Personen die Ausreiseerlaubnis erhielten und zahlreiche Botschaftsbesetzer in die Bundesrepublik abgeschoben wurden, machten MfS-Mitarbeiter ihrem Unmut über den Zickzack-Kurs Luft. Volperts Nachfolger, ZKG-Chef Gerhard Niebling, rechtfertigte die Entscheidung der Partei- und Staatsführung im April 1984 in einer Rede vor Vertretern der Bezirkskoordinierungsgruppen. Der Gegner, argumentierte Niebling, habe »seine Vorgehensweise verändert, indem er inspirierte, Botschaften zu besetzen«. Den Botschaftsflüchtlingen die Ausreise zu gestatten sei »eine politische Entscheidung« gewesen, »die nicht wiederholbar ist«. Generell gelte der Grundsatz: »Was in die Landschaft passt, bestimmt die Parteiführung, alles ist dem unterzuordnen«. Die Mitarbeiter sollten »nicht fragen, ›was machen wir nun schon wieder‹«.117 Es dauerte jedoch weitere drei Jahre, bis erstmals offen über die Folgen des Freikaufs auf der Führungsebene des MfS diskutiert wurde.118 Dass dies erst 25 Jahre nach seinem Beginn geschah, scheint aus der Rückschau schwer verständlich. Der Verkauf von Häftlingen betraf schließlich den Aufgabenbereich gleich mehrerer Diensteinheiten des MfS, sowohl in der Berliner Zentrale als auch in den Bezirksverwaltungen. Ferner spielte er im Zusammenhang mit der 115 Gieseke: hauptamtliche Mitarbeiter, S. 436. 116 Ebenda, S. 435. 117 Hs. Notizen eines BKG- oder ZKG-Mitarbeiters über die Ausführungen Nieblings auf der ZKG-Aktivtagung am 16.4.1984; BStU, MfS, ZKG, Nr. 7300, Bl. 101. Hervorheb. i. O. 118 Die systematische Durchsicht aller Referate, Protokolle und Tonbänder von Dienstkonferenzen des Ministers zum Thema Übersiedlung, Strafvollzug etc. ergab, dass das Thema insgesamt nur viermal im Verlauf einer Dienstkonferenz erwähnt wurde und dies ausschließlich in den achtziger Jahren (11. Mai 1984, 12. Februar 1987, 25. Februar u. 13. Dezember 1988).
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Ausreisebewegung eine immer wichtigere Rolle, und schließlich war im MfS weitgehend bekannt, dass damit Devisen erwirtschaftet werden sollten.119 Man darf daher wohl davon ausgehen, dass darüber nicht gesprochen werden sollte, solange dies nicht unumgänglich war.120 In einem Schreiben vom 22. Januar 1987 jedenfalls forderte Mielke die Leiter der Bezirksverwaltungen und Leiter ausgewählter Diensteinheiten der MfS-Zentrale in Berlin auf, aus ihrer jeweiligen Sicht Vorschläge zu erarbeiten, wie »die im Zusammenhang mit der Genehmigung von Übersiedlungen entstehende Sogwirkung zurückzudrängen bzw. einzugrenzen« sei.121 Die BV-Leiter sollten dazu auf der Dienstkonferenz mündlich »in kurzen konstruktiven Beiträgen […] Stellung« nehmen.122 Die bereits erwähnte Dienstkonferenz fand am 12. Februar 1987 in der MfS-Zentrale in der Normannenstraße statt. Neben Mielke, seinen Stellvertretern, dem Leiter der HA IX Rolf Fister, ZKG-Chef Niebling und weiteren hohen Offizieren hatten sich sämtliche Leiter der MfS-Bezirksverwaltungen eingefunden.123 Im Verlauf des Meinungsaustausches sprach der Leiter der BV Halle, Heinz Schmidt, über die Bemühungen zur Bekämpfung der »Übersiedlungsersuchenden« in seinem Bezirk.124 Unter anderem ging er auf die Folgen des Häftlingsgeschäftes ein. Welchen sensiblen Charakter das Thema hatte, legt die defensive, beinahe entschuldigende Einleitung seiner Stellungnahme an den Tag. Selbstverständlich sei man sich in seiner Dienststelle »voll darüber im Klaren«, »dass jede Übersiedlung eine Sogwirkung« habe. Er sei »auch sicherlich nicht dafür«, dass man »generell« sage, künftig dürfe »aus der Haft nun keiner entlassen werden in die BRD«. So hätte er das »auch nicht verstanden« und wolle dagegen »auch weiter nicht polemisieren, oder diskutieren«. Trotz grundsätzlicher Bejahung dieser Praxis sei jedoch eines »unbedingt zu beachten: Die Entlassung aus der Haft in die BRD, gleich jetzt aus welchen Erwägungen, sollte stärker differenziert werden«. Inhaltlich zielte Schmidts Kritik darauf, dass der Anteil an der Strafe, den die Häftlinge bis zum Freikauf 119 Aussage v. 8.12.1992, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim LG Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 32, Bl. 119. 120 Dieser Befund korrespondiert mit der Feststellung, dass sich selbst das Politbüro zu keinem Zeitpunkt damit befasste. 121 Einladungsschreiben des Ministers; BStU, MfS, SdM, Nr. 1572, Bl. 110–112. 122 Ebenda, Bl. 111. 123 BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8702, Bl. 28 u. 32. 124 Die folgenden Zitate beruhen auf der Tonbandaufzeichnung der Dienstkonferenz; BStU, MfS, ZAIG, Tb 47 grün. Die ZAIG fertigte den Mitschnitt an, um für die schriftliche Ausarbeitung auf das gesprochene Wort zurückgreifen zu können. Teile dieser Ausarbeitungen finden sich in: BStU, MfS, ZKG, Nr. 5504 (Material zur Dienstbesprechung des Ministers v. 12. Februar 1987). Einige der akustisch unverständlichen Ausführungen Mielkes sind dort transkribiert. Hervorhebungen markieren Betonungen der Sprecher.
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zu verbüßen hätten, zu gering sei. Es gebe sogar Fälle, bei denen die Untersuchungshaft gerade einmal »acht Tage verstrichen« sei, da kämen bereits »die ersten Anfragen, auch bei relativ hohen Freiheitsstrafen […], ob Einwände bestehen, dass der Mann übersiedelt wird«.125 Unter dem Strich laufe es auf folgendes Szenario hinaus: »Drei Jahre Urteil oder drei Jahre [und] sechs Monate, und nach einem Jahr oder einem Dreivierteljahr sind sie [die Häftlinge] weg.« Aus diesem Grund, so Schmidt, plädiere er dafür, erstens die Verbüßungsdauer zu verlängern und zweitens das Verhalten des Gefangenen in der Haft bei der Entscheidung über seine Entlassung in den Westen zu berücksichtigen, d. h. erst »zumindest […] nach Hälfte der Strafzeit und bei entsprechender Führung in der Haft die Entlassung […] zu vollziehen«. Seitens der Genossen in seinem Bezirk gebe es sogar Vorschläge, Häftlinge erst nach vollständiger Verbüßung ihrer Strafe abzuschieben. So würden manche Genossen sagen: »Wenn sie einmal drin sitzen, lasst sie sitzen, bis sie die Haftzeit abgesessen haben und dann schmeißt sie raus.« Einige würden sogar »ganz unverblümt« hinzufügen: »Naja, es gibt ja ein bisschen was dafür, ob das nun ein halbes Jahr später kommt oder ein halbes Jahr früher, ist auch egal.« Aus Sicht der operativen Mitarbeiter müsse vor allem dafür gesorgt werden, dass der Freikauf nicht weiter ihre dienstliche und dadurch die staatliche Autorität untergrabe, denn die Häftlinge müssten »merken, dass hier die Autorität des Staates steht« und sollten daher »hier ihre Zeit absitzen«. Mit der anschließenden Abschiebung in die Bundesrepublik hatten sich Funktionäre und MfS-Mitarbeiter offenbar abgefunden, denn dies sei, so Schmidt, »eine ganz andere Sache«. Nach Schmidt äußerte sich der Leiter der HA IX, Rolf Fister, ausführlich zu dem bereits geschilderten Problem des kalkulierten Freikaufs. Auch Fister brachte seine Kritik defensiv, beinahe entschuldigend vor und begann mit der Einlassung »Ich weiß, dass das kompliziert ist, ich sag’s trotzdem«. Im Anschluss an Fisters Forderung, den Freikauf einzustellen, nahm Mielke in freier Rede zu den kritischen Meinungsäußerungen Stellung. Seine Rechtfertigung ist die einzige überlieferte Äußerung Mielkes überhaupt und gibt einen Einblick in seine Motivlage und Interessenabwägung. Mielke stellte zunächst klar, dass jede Straftat verfolgt werden müsse: »Nun will ich euch mal was sagen, Genossen: Eine Haftstrafe muss es nur geben, wenn sie berechtigt ist … [Wer] … sich strafbar gemacht [hat], ist […] nach dem Gesetz abzuurteilen und hat die Haftstrafe anzutreten. So.«126 Danach spielte Mielke die quantitative Be125 Siehe Kap. VI.2. 126 Die mündlichen Äußerungen Mielkes sind teilweise unverständlich. Das lag zum einen daran, dass das Mikrofon im Raum stand und somit nicht alle Laute erfasste, zum anderen daran, dass die Wortreihenfolge in Mielkes Sätzen oft beliebig ist und sein Berliner Dialekt manche Wörter
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deutung des Häftlingsgeschäftes herunter: Das Ganze sei »keine […] Größe mehr […] im Verhältnis zum Gesamtkomplex […].«127 Gewichtiger war hingegen das folgende Hauptargument, mit dem Mielke seinen Offizieren einen Wechsel des Betrachtungswinkels empfahl: »Wenn echte Gründe gegeben sind, ja warum sollen wir ihn dann nicht […] meinetwegen nach einem Dreivierteljahr, Vierteljahr oder einem halben Jahr, oder je nachdem, warum sollen wir den nicht wegjagen? Was soll der denn bei uns hier sitzen? Da haben wir bloß den Lärm, bei uns [säßen] so viele ›politische Gefangene‹,128 und [der] frisst hier bei uns! Warum soll der nicht weg? Na, warum soll der nicht weg? Ich kann das euch sagen, nicht wahr: Weil ich denke ökonomisch für unsere Republik, Mensch! … Und kein Schwanz umsonst! [Sie wurden bei] uns hier ausgebildet und [sind hier] groß geworden, auf Kosten der Arbeiter-und-Bauern-Macht haben sie sich entwickelt!«
Damit hatte Mielke erstmals vor den leitenden Kadern des MfS offen ausgesprochen, dass die Erwirtschaftung von Devisen das bestimmende Motiv des Freikaufs war. Bis dahin war es zwar ein offenes Geheimnis, aber stets in die beschönigenden Worte von »politischen und anderen staatlichen Interessen« gekleidet gewesen, die zu berücksichtigen seien.129 Zudem legt seine Betonung des Satzes »weil ich denke ökonomisch für unsere Republik, Mensch!« die Schlussfolgerung nahe, dass er damit ein Tabu innerhalb des MfS brach. Im Tonfall klang dies fast beleidigt, so als wolle er den Teilnehmern der Dienstkonferenz den Vorwurf machen, dass sie das Offensichtliche nicht von selbst erkannt hätten.130 Die Forderung, dass Häftlinge doch mindestens die Hälfte ihrer Strafe verbüßen sollten, versuchte Mielke unter Hinweis auf den Spionagefall Schumann zu entkräften.131 Im Falle von Christa-Karin Schumann, die seit 1980 zusätzlich unverständlich macht. Akustisch unverständliche Passagen wurden daher in der vorliegenden Transkription nicht berücksichtigt. Vgl. Dokument 1 im Anhang. 127 Tatsächlich lag der Anteil der ausgereisten Häftlinge an der Gesamtzahl der ausgereisten DDR-Bürger zu keiner Zeit über 12 %. Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich diese Quote 1986 sogar fast halbiert: Waren es 1985 noch gut 10 %, lag ihr Anteil im Jahr 1986 bei 6 %. 128 BStU, MfS, ZKG, Nr. 5504, Bl. 324. 129 Vgl. Dokument 1 im Anhang. 130 Ebenda. 131 Die HNO-Ärztin Dr. Christa-Karin Schumann war 1979 mit ihrem Lebensgefährten Winfried Baumann wegen Spionage für den BND verhaftet worden. Baumann, bis 1970 Offizier in der Verwaltung Aufklärung der NVA, hatte über den Bruder Christa-Karin Schumanns, den Heidelberger Medizin-Professor Wolf-Dieter Thomitzek, Kontakt zum BND aufgenommen. Nach einem Prozess vor dem OG wurde Baumann 1980 hingerichtet, seine Lebensgefährtin Schumann wegen Spionage zu 15 Jahren Haft verurteilt. Seitdem versuchte das BMB, Frau Schumann im Rahmen eines Austausches freizubekommen. Nach langwierigen Verhandlungen konnte sie kurz vor dem Besuch Honeckers in der Bundesrepublik im August 1987 gegen den HVA-Spion Lothar Erwin Lutze ausge-
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wegen Spionage für den BND inhaftiert war und zum Zeitpunkt der Dienstkonferenz nicht einmal die Hälfte ihrer 15-jährigen Freiheitsstrafe verbüßt hatte, wehrte sich Mielke strikt gegen eine vorzeitige Entlassung: »Das Gesetz, nicht wahr, dass einer seine Strafe eigentlich absitzen soll, das weiß ich ganz genau. Damit du weißt, will ich euch was sagen: Wir haben diesen großen Fall mit dieser Banditin, dieser Spionin, Schumann. […] Und seit Jahren trommeln die und wollen die die Frau haben! [….] Und da siehst du wie konsequent wir sind! Jaja, wir lassen sie sitzen, wir lassen das Gesetz […] seinen Lauf gehen, wenn es notwendig ist, aber andererseits sind wir natürlich keine Dummköpfe und lassen unsere Gefängnisse voll mit irgendwelchen Schmarotzern, die wir sowieso nicht brauchen […]! Da sitzen ja zigtausende Kriminelle drin. Stimmt doch, Genosse Fister! Nicht? Die sitzen drin, […] die können ja als Arbeitskräfte verwandt werden, das andere werden wir sehen, was wir machen. Also, alles muss politisch entschieden werden, durchdacht werden.«
Der Fall Schumann war indes nicht repräsentativ und gänzlich ungeeignet, die Beschwerde über die zu kurzen Haftzeiten zu entkräften. Inhaftierte mit nachrichtendienstlichem Hintergrund gehörten nicht zur Deliktgruppe der Antragsteller und zweitens war ihr Anteil an den politischen Häftlingen der achtziger Jahre verschwindend gering. Bezeichnend ist schließlich, dass Mielke ganz zuletzt das Argument vorbrachte, dass es sich bei den Häftlingen um nutzlose »Schmarotzer« und »Kriminelle« handele, die man durch die Haftzwangsarbeit ausbeuten und dann noch gewinnbringend verkaufen könne. Die Ausführungen Mielkes ließen keine Zweifel daran, dass das Häftlingsgeschäft so wie bisher auch zukünftig fortgesetzt werden würde. Damit war jedoch keines der angesprochenen Probleme gelöst. Fister meldete sich daher in der anschließenden »Diskussion« zu Wort. Daraufhin entspann sich folgender Wortwechsel: Mielke: »Und jetzt mache ich noch nicht Schluss, sondern frage, [zeigt] mit der Hand: einverstanden? Nee wieso denn, du kannst doch, wenn du deine Meinung hast [unverständlich], musst du sagen!« Fister: »[…] Genosse Minister, man kann natürlich in der Kürze nun nicht alles rund machen. Ich bin einverstanden, natürlich, es war, wir waren aufgefordert, unsere Meinung zu sagen, nicht, und […].« Mielke: »[…] und jetzt fängst du an, dich zu entschuldigen! Du solltest dir ja gar nicht entschuldigen, solltest ja fragen, ich habe jetzt meine Meinung gesagt, wie ich denke wie wir da rangehen sollen, nicht […].«
tauscht werden: Pötzl: Spione, S. 259 f., 492 u. 505; vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d13521055.html u. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13524828.html; vgl. BStU, MfS, HA IX, Nr. 13653, Bl. 47.
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Fister: »[…] es geht doch nicht darum, die Betriebsleiter132 verantwortlich zu machen, das müssen wir machen, die müssen ihre Meinung dazu sagen, dass […].« Mielke: »[…] das hast du gemacht und die haben wir uns angehört. Ich frage ja extra, ob du nicht etwa eine andere Meinung hast, dann kannst du sie sogar noch sagen […].« Fister: »[…] Ich habe keine andere Meinung […].« Mielke: »[…] weil ich sie dann widerlegen werde!« Fister: »[…] ist klar […].« [Heiterkeit] Mielke: »Kannst dich mit mir ruhig auf einen Disput einlassen!« […] »Ja also, gibt es – hat jemand eine offene Frage zu meinem Problem, wie ich sie hier gestellt habe, den fordere ich direkt auf dazu. Der muss mir das sagen, weil es ist zu ernst, dieses Problem, als dass man [...] ›also man könnte ja‹ und so weiter und so weiter [sagt]. Damit fange ich nichts an, […] sondern er muss das hier sagen. Ihr seht ja, wie ich an euch Probleme heranbringe, [unverständlich] Fragestellungen, manchmal. So. Wie denkt ihr?« Teilnehmer 1: »Einverstanden!« Mielke: »Gerhard!« Teilnehmer 2: »Einverstanden!« Mielke: »Irmler!«133 Irmler: »So wie Sie [es] festgelegt haben, Genosse Minister … [Heiterkeit], das bestimmt, was gemacht werden muss.« Mielke: »[…] gleich wie ein Diplomat wieder! [Heiterkeit] Aber er wird das schon machen was ich sage.« Mielke: »Niebling!« Niebling: »Wird gemacht.« Mielke: »Genossen, […] wir müssen das meistern, wir müssen von dieser hohen Zahl wegkommen. Darum habe ich einiges hier gesagt […]. Nun gut.«
Der Ausschnitt ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Er zeigt, dass Mielke nicht auf die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter an der Basis einging, seine Argumente in jedem Falle nicht auf das Kernproblem eingingen, dass der 132 Fister bezog sich damit auf die im Verlauf der Konferenz diskutierte Rolle der Leiter der VEB bei der »Zurückdrängung« von Antragstellern. 133 Werner Irmler war von 1965–1989 Leiter der Zentralen Auswertungs- u. Informationsgruppe (ZAIG).
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Freikauf im Grundsätzlichen gegen den eigentlichen Auftrag des MfS verstieß. Zweitens illustriert er anschaulich, dass der Unmut darüber zwar an die Spitze des MfS kommuniziert wurde und Fister zweifellos einigen Mut aufbrachte, Entscheidungen des Ministers offen zu kritisieren. In der Folge jedoch fehlte ihm die Bereitschaft, notfalls Konsequenzen aus seiner Niederlage zu ziehen, die nicht zuletzt darin bestand, vor seinen Kollegen gemaßregelt zu werden. Schließlich fehlte es innerhalb des streng hierarchisch geführten MfS an einer Diskussionskultur, die eine Reaktion auf die Sorgen und Nöte der Basis ermöglicht hätte. Über Probleme zu »diskutieren« bedeutete aber nicht, dass sie im Kreis der Leitung des MfS ergebnisoffen und vorbehaltlos analysiert worden wären und Kritik der Mitarbeiter an der Praxis des Häftlingsverkaufs einen Einfluss auf die Entscheidungen des Ministers gehabt hätte. Vielmehr sollten die Mitarbeiter auf die von oben dekretierte Linie eingeschworen werden. Aus Sicht der Kritiker des Freikaufs hatte die Dienstkonferenz einen enttäuschenden Verlauf genommen, weil der Minister sich die Vorschläge, wie man die Sogwirkung der Übersiedlungen eindämmen könne, zwar angehört, aber letztlich abserviert hatte. Die geforderte Einstellung, Reduzierung oder Modifizierung des Freikaufs waren nicht zu erwarten. Die Führungsriege der Staatssicherheit musste sich folglich darauf einstellen, dass insbesondere die »Sogwirkung« des Häftlingsgeschäftes auf andere Antragsteller weiter zunehmen würde. Andererseits hätte spätestens zu diesem Zeitpunkt jeder der Anwesenden die wirtschaftliche Bedeutung des Häftlingsgeschäftes erkennen können. Die Ausführungen des Ministers ließen nur den Schluss zu, dass die finanziellen Erträge zumindest so wichtig waren, dass sie nicht mehr verzichtbar waren und die Partei- und Staatsführung die tief greifenden ideologischen Folgewirkungen in Kauf nahm.134 Insgesamt wirkte sich der Freikauf auf allen Ebenen des Partei- und Repressionsapparates negativ aus: Er verursachte einen Autoritätsverlust der staatlichen Amtsträger, führte zur Desorientierung durch den Ausschluss der daran nicht direkt beteiligten Amtsträger, obwohl sie die Folgen in ihrer alltäglichen Arbeit zu spüren bekamen, zog den damit einhergehenden Kompetenzentzug nach sich, beschädigte die Arbeitsmoral und Motivation der Mitarbeiter und beschleunigte den Glaubwürdigkeitsverlust der politischen Führung. Ein System, das seine Fähigkeit zur Lösung der alltäglichen Probleme zu verlieren drohte – noch dazu, wenn die Probleme »hausgemacht« waren, d. h. nicht auf 134 1986 betrugen die Einnahmen aus dem Häftlingsgeschäft 195 Mio. D-Mark, die Ausgaben des MfS 4,1 Mio. Mark der DDR. Bei einem angenommenen Umrechnungskurs von 1 D-Mark zu 4 Mark der DDR »erwirtschaftete« das MfS mit dem Häftlingsverkauf das 190-Fache seines jährlichen Etats. Vgl. Gieseke: Hauptamtliche, S. 558 u. Tabelle 1.
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dem Einfluss äußerer Faktoren sondern einer politischen Entscheidung der Staats- und Parteiführung beruhten –, verlor damit zugleich an Integrationskraft gegenüber seinen Trägern. Man darf diese Wirkung nicht unterschätzen, bietet sie doch einen Erklärungsansatz dafür, warum die Staatssicherheit im Herbst 1989 in ihrer Gänze den Entwicklungen so passiv und desorientiert gegenüberstand. Jan Hoeschs, Leiter des »Freikauf-Referates« von 1969 bis 1974, bilanzierte die Erosionswirkung des Freikaufs in treffender Weise: »Die DDR kam nicht umhin, durch den Verkauf von Menschen ständig gegen ihre eigenen sozialistischen Grundsätze zu verstoßen. Wer ständig gegen die eigenen Grundsätze verstößt, verliert an Glaubwürdigkeit und eines Tages auch den Glauben an sich selbst.«135
135 Hoesch, Jan: Diskussionsbeitrag. In: Parak, Dorothea: Freiheit und Unfreiheit als deutsche Erfahrung. 20. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig, 7. u 8. Mai 2009, Dokumentation. Leipzig 2009, S. 31–51, hier 42 f.
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VII Die wirtschaftliche Dimension
Das Leitmotiv der SED-Führung für den Häftlingsfreikauf lag in seinem finanziellen Vorteil. Besonders mit dem wirtschaftlichen Niedergang der DDR seit Mitte der siebziger Jahre wuchs die Bedeutung der Erlöse aus dem Häftlingsgeschäft und den Familienzusammenführungen. Zugespitzt formuliert wurden politische Häftlinge und Ausreisewillige zu einem »Exportschlager« der DDR. Das folgende Kapitel erörtert die Frage, auf welchem Wege die Warenlieferungen der Bundesregierung in die DDR gelangten, wofür sie verwendet wurden und welche wirtschaftliche Bedeutung das Häftlingsgeschäft für die DDR hatte.
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Waren statt Devisen: Die Lieferungen in die DDR
Seit die Bundesregierung im Sommer 1964 die Freikäufe der beiden Kirchen fortführte, wurden die Gegenleistungen in Form von Warenlieferungen erbracht. Dahinter stand die Hoffnung, dass Warenlieferungen unmittelbar der Bevölkerung zugute kommen würden. Barzahlungen oder Überweisungen auf Konten der Staatsbank der DDR hingegen hätten dem Regime zur freien Verfügung gestanden und ihm sogar die Möglichkeit eröffnet, damit den Repressionsapparat weiter auszubauen. Warenlieferungen boten darüber hinaus den Vorteil, Firmen aus der Bundesrepublik damit zu beauftragen, mithin Arbeitsplätze in der Bundesrepublik zu sichern.1 Die Gelder stammten aus dem Bundeshaushalt, folglich aus Steuermitteln. Abgesehen von der Barzahlung des Jahres 1963 aus der Haushaltsreserve des Gesamtdeutschen Ministeriums stellte das Bundesfinanzministerium die Beträge bis 1984 überplanmäßig zur Verfügung, d. h. sie waren nicht im Budget des Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministeriums aufgeführt;2 dies war erst danach der Fall.3 Die zwingend notwendige Geheimhaltung des Umfangs und der Verwendung der Mittel begründete dabei eine Ausnahme vom Verfas1 Rehlinger: Freikauf, S. 50–52. 2 Brief v. 8.7.1995, Verfahren der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gegen Wolfgang Vogel; 2 Js 353/91, Bd. 90c. 3 Dort im Titel Nr. 68521; Volze, Armin: Kirchliche Transferleistungen in die DDR. In: DA 24 (1991) 1, S. 59–66, hier 63.
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sungsgrundsatz der Budgetöffentlichkeit. Gemäß § 10a der Bundeshaushaltsordnung waren Umfang und Verwendungszweck des betreffenden Haushaltstitels nicht offengelegt, sondern der ausschließlichen Aufsicht eines dreiköpfigen parlamentarischen Kontrollgremiums unterstellt, dem sogenannten »Dreier-Ausschuss«. Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, FDP, SPD und später auch der GRÜNEN entsandten Obleute in den Ausschuss, die einer besonderen Schweigepflicht unterlagen. Sie genehmigten die Bereitstellung der Mittel und überwachten ihre korrekte Verwendung.4 Waren die Gutschriften zwischen den Anwälten vereinbart, erhielt der Bevollmächtigte des Rates der EKD auf Anweisung des Gesamt-/Innerdeutschen Ministeriums eine Gutschrift auf sein Konto beim Bankhaus Sal. Oppenheim jr. & Cie. in Köln.5 Gutschrift bedeutete dabei jedoch keinesfalls Zahlung an die DDR, sondern ein »bedingtes Leistungsversprechen«.6 Als gelernter Bankkaufmann war Bischof Kunst mit der finanziellen Dimension der Aufgabe auch in fachlicher Hinsicht vertraut. Faktisch beschränkte sich die Aufgabe des Bevollmächtigten somit darauf, der Bundesregierung gleichsam »Amtshilfe« zu leisten. Schließlich handelte es sich ausnahmslos um »durchlaufende Gelder«.7 Gewinne zog die Kirche aus dem unter der Bezeichnung »Kirchengeschäft B« laufenden Vorgang nicht. Im Gegenteil, sie übernahm die Verwaltungskosten, die vor allem beim Diakonischen Werk der EKD in Stuttgart anfielen.8 Das Verfahren selbst lief nach folgendem Schema ab: Das Diakonische Werk schloss mit Vertretern des DDR-Außenhandelsministeriums eine Globalvereinbarung über die Gesamtsumme ab, die ihm vom Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministerium zuvor genannt worden war. Vizepräsident Ludwig Geißel, ein »effizienter, in Fragen der Logistik bewanderter ehemaliger Offizier« und seine Amtsnachfolger handelten die jeweiligen Einzelvereinbarungen über die gewünschten Waren aus.9 Währenddessen stimmte sich Geißel eng mit dem Bundeswirtschaftsministerium ab, das die Exportgenehmigungen erteilen musste. Die Detailabsprachen über die Spezifikation, Beschaffenheit und Lieferungsmodalitäten der Waren delegierte Geißel an westdeutsche Firmen seines Vertrauens, die ihrerseits mit den zuständigen Innen- und Außenhandelsbetrieben der DDR Lieferverträge schlossen. Zum Kreis der westdeutschen Vertrauensfirmen gehörten die Firma Diedrich Kieselhorst aus Ham4 Rehlinger: Freikauf, S. 97 f.; Dt. Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600, S. 309. 5 Geißel an Kieselhorst, 1.12.1964; ADW, HGSt, Nr. 7815. 6 Vermerk Rehlingers, 15.7.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 548, Anm. 1. 7 Binder, Heinz-Georg: Die Rolle der Kirchen im geteilten Deutschland am Beispiel der finanziellen Unterstützung. In: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. 6/1, S. 313–316, hier 316. 8 Rehlinger: Freikauf, S. 51; »Analyse der Funktion als Treuhänder im B-Geschäft und Bewertung ihrer Bedeutung«, 2.6.1982; EZA, 644/260. 9 Interview mit Hermann E. J. Kalinna, 25.7.2010.
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VII Die wirtschaftliche Dimension
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burg, die Essener Stahl- und Metallhandelsgesellschaft (Essenstahl), die Brenntag aus Mülheim/Ruhr, die Hanielsche Handelsgesellschaft mbH, die Seefahrt Reederei Bremen und zeitweise auch die Krupp Handel GmbH.10 Die genauen Liefertermine wurden Geißel bzw. seinen Nachfolgern vom Gesamt/Innerdeutschen Ministerium vorgegeben, damit die Waren erst dann in die DDR gelangten, wenn die vereinbarten Häftlinge entlassen waren, die Bundesregierung folglich nicht in Vorleistung trat.11 Nach Abschluss der Warenlieferungen und damit der jeweiligen Jahresvereinbarung prüfte das Oberrechnungsamt der EKD in Hannover, ob die Mittel korrekt abgerechnet worden waren. Beanstandungen gab es zu keinem Zeitpunkt,12 weder vom Oberrechnungsamt der EKD, noch vonseiten des Präsidenten des Bundesrechnungshofes, dem der Prüfbericht der EKD persönlich zugestellt wurde.13 Die Palette der gelieferten Waren beschränkte sich 1964 auf ausdrückliche Weisung des Gesamtdeutschen Ministers Erich Mende auf die Lebensmittel Mais, Kaffee, Butter und Speiseöl, sowie Kautschuk und andere Rohstoffe, darunter Kadmium, Aktivruß, Quecksilber und Stickstoff, wobei die Rohstoffe nur ein knappes Zehntel ausmachten.14 Geliefert werden sollte nämlich möglichst das, »was der Bekleidung und Ernährung der Bevölkerung in der SBZ nützt«.15 Staatssekretär Krautwig lehnte daher 1965 den Wunsch der DDR nach Lieferung von Gold im Wert von 5 Millionen DM ab, da dies »den Charakter einer Barzahlung habe«.16 Beginnend mit dem Jahr 1965 veränderte sich die Warenpalette. Lebensmittel, im einzelnen Speiseöl und Kakaobohnen, befanden sich nur noch 1965 und 1967, letztmalig 1969 auf der Liste der gelieferten Waren.17 Seitdem bestand sie aus einer variablen Mischung aus Rohstoffen, vor allem Kupfer und Silber. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre setzte schließlich ein Konzentrationsprozess auf einige wenige Rohstoffe ein. Seit 1976 umfasste die »klassische« Palette der im »Kirchengeschäft B« gelieferten Waren nur noch Erdöl, Industriediamanten, Kupfer und Silber.18
10 Siehe exemplarisch die Verträge in: ADW, HGSt, Nr. 7814, 7815, 7831; Dt. Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600, S. 312 f. 11 Vermerk Rehlingers, 1.4.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 615. 12 Geißel an Weirauch, 6.11.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 579; Rehlinger: Freikauf, S. 51 f. 13 Dt. Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600, S. 311. 14 Siehe Tabelle 2 im Anhang. 15 Vermerk Schierbaums, 15.11.1965; DzD BesBem Bd. 1, S. 287. 16 Vermerk Krautwigs, 20.5.1965; ebenda, S. 240. 17 Südfrüchte wie Apfelsinen oder Bananen wurden im Übrigen nur 1964 und 1989/90 geliefert. Judt: KoKo, S. 128. 18 Volze, Armin: Eine Bananenlegende und andere Irrtümer. In: DA 26 (1993) 1, S. 58–66, S. 61 f. Hin und wieder ergänzten andere Rohstoffe wie z. B. Zink die »klassische« Palette.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Die Abkehr von Lebensmittellieferungen und die Konzentration auf wenige Rohstoffe kam auf Wunsch der DDR zustande. Zwar versuchte Geißel, einige dieser Wünsche zurückzuweisen, die ihm als nicht vereinbar mit dem Charakter der Hilfsmaßnahme erschienen, konnte sich in den Verhandlungen aber nicht durchsetzen.19 Dass das Diakonische Werk und die Bundesregierung den östlichen Forderungen schließlich stattgaben, beruhte hauptsächlich auf zwei Gründen. Zum einen war es auf lange Sicht nicht möglich, solche Waren abzulehnen, die auch im »normalen« innerdeutschen Wirtschaftsverkehr gehandelt wurden.20 Vor diesem Hintergrund wäre ein Lieferverbot für derartige Güter und die Beschränkung der Warenpalette auf Lebensmittel schlechthin nicht zu begründen gewesen. Ohnehin handelte es sich niemals um Embargogüter, z. B. militärische Gerätschaften oder Produkte der Hochtechnologie, die vonseiten der DDR auch nicht gefordert wurden. Zum anderen war der Modus der Gegenleistungen selbst, d. h. die Lieferung von Waren anstelle von Devisen, seit Beginn der siebziger Jahre überholt. Beginnend mit dem Transitvertrag 1971 zahlte die Bundesregierung die Transitpauschale und die Leistungen für Verkehrsinfrastrukturprojekte schließlich in Devisen auf ein Konto der Deutschen Außenhandelsbank der DDR.21 An den Warenlieferungen hielt die Bundesregierung wohl hauptsächlich deswegen fest, weil sie keinen Anlass für eine Änderung des bewährten Verfahrens sah, das zudem die notwendige Vertraulichkeit gewährleistete. Ein Weiterverkauf der Waren nach ihrer Lieferung in die DDR war ohnehin nicht zu verhindern, da die DDR-Seite eine Verwendungskontrolle niemals zugestanden hätte. Der beachtliche finanzielle Stellenwert der Ausgaben für die »Besonderen Bemühungen« wird deutlich, wenn man sie im Verhältnis zur Gesamtsumme aller Zahlungen aus dem Bundeshaushalt an die DDR betrachtet. Im Zeitraum zwischen 1971 und 1989, für den der »KoKo«-Untersuchungsausschuss die genauen Zahlen ermitteln ließ, flossen so rund 15,4 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt in die DDR. Die Aufwendungen für die »Besonderen Bemühungen« (3,1 Mrd. DM) waren damit der zweitgrößte Ausgabenposten, übertroffen lediglich von der Transitpauschale (8,2 Mrd. DM). Erst an dritter Stelle rangierten die Aufwendungen für Kostenbeteiligungen an Investitionen im Berlin-Verkehr (2,4 Mrd. DM). Ingesamt wurden damit von 1971 bis 1989 rund ein Fünftel (20,5 %) aller Transferleistungen an die DDR aus dem Bundeshaushalt für den Häftlingsfreikauf und die Familienzusammenführung ausgegeben. Der jährliche Anteil schwankte, seit 1972 lag er meist im Bereich 19 Vermerk Geißels betr. Sondervereinbarungen, 6.10.1965; ADW, HGSt, Nr. 7816; Salm an Kleindienst, 1.12.1970; BArch-K, B 102/600225. 20 Volze: Bananenlegende, Anm. 8. 21 Volze: Bananenlegende, S. 64.
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zwischen 14 und 24 Prozent, in den Jahren 1984 und 1985 hingegen stieg er sogar auf 30 bzw. 33 Prozent.22 Selbst wenn man nicht nur die Transfers aus dem Bundeshaushalt, sondern die Gesamtheit aller statistisch erfassbaren Transfers aus öffentlichen, kirchlichen und privaten Budgets in die DDR als Bezugsgröße nimmt, ist der Anteil der Zahlungen für Häftlingsfreikauf und Familienzusammenführung noch beachtlich. Zwischen 1971 und 1989 wurden insgesamt 23,165 Milliarden DM in die DDR transferiert, davon 3,15 Milliarden DM für die »Besonderen Bemühungen«, was einem Anteil von 13,6 Prozent entspricht. Anders formuliert: Seit Beginn der Vertrags- und Entspannungspolitik gegenüber der DDR wurde in etwa jede siebte transferierte D-Mark für den Freikauf politischer Häftlinge und die Zusammenführung getrennter Familien ausgegeben.23
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Verwendung und wirtschaftliche Bedeutung der Gegenleistungen
1976 gab Wolfgang Vogel in einem Interview an, in der DDR würden Delikte »nach dem Schaden beurteilt, der dem sozialen System und der Gesamtheit zugefügt« worden sei. Der Gedanke, dass der Schaden auch »materiell wiedergutzumachen« sei, wäre »der wahre und einzige Hintergrund dieser Austauschverfahren«.24 Vogels Aussage entsprach damit der Begründung, die Erich Mielke auf einer Dienstkonferenz des MfS gab: »Nur zu unserer Verständigung, Genossen: Wir werden auch weiterhin konsequent daran festhalten, im Zusammenhang mit ständigen Ausreisen nach der BRD und Westberlin jene Kosten und Aufwendungen, die unser sozialistischer Staat für die Aus- und Weiterbildung, für die berufliche Qualifikation dieser Personen eingesetzt hat, die uns jetzt verloren gehen, entsprechend ›einzutreiben‹.«25
In dieser Begründung steckte deshalb »sehr viel DDR-Logik«, weil die Argumentation den »Kapitalisten« im Westen die Schädigung des Sozialismus durch »Abwerbung« von Bürgern im wahrsten Sinne des Wortes in Rechnung stellte.26 Stand dies mit der tatsächlichen Verwendung der Gegenleistungen in Übereinstimmung? Flossen sie, wie die Ausführung Mielkes suggeriert, letzt22 Vgl. Tabelle 3 im Anhang. Zahlen für den Zeitraum 1963 bis 1970 wären nur mit unverhältnismäßígem Aufwand zu ermitteln gewesen. 23 Berechnet nach Tabelle A 1 »Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland an die DDR in den Jahren 1971–1989«; Dt. Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600, 2. Teil, S. 124–129. 24 Meyer: Freikauf, S. 214 f. u. 218. 25 Rede des Ministers auf der Dienstkonferenz v. 13.12.1988; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8621, Bl. 138. 26 Kordon, Klaus: Krokodil im Nacken. Weinheim 2007, S. 382.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
lich in die Verbesserung des Bildungs- und Ausbildungssystems? Was geschah mit den Gegenleistungen der Bundesregierung? Die überlieferten Dokumente aus dem Bereich der »Kommerziellen Koordinierung« (KoKo) zeigen, dass sie nicht zu jeder Zeit für dasselbe verwendet wurden, sondern drei Phasen zu unterscheiden sind. In der ersten Phase von 1964 bis einschließlich 1967 wurden die Waren und Rohstoffe im Gesamtwert von knapp 162 Millionen DM in die Warenfonds der Staatsreserve eingelagert. Die gelieferten Güter standen der Wirtschaft daher gegenständlich zur Verfügung, beispielsweise Rohasbest für die Bauwirtschaft oder Konservenband für die Lebensmittelindustrie.27 Die zweite Phase begann 1968, in der das Häftlingsgeschäft allmählich seinen anfänglichen Ausnahmecharakter verlor. Es gelang dem Bereich KoKo unter der Leitung Alexander Schalck-Golodkowskis, nunmehr einen erheblichen Teil der Warenlieferungen innerhalb von drei bis sechs Monaten »durch Verkauf und Manipulation« wieder in freie Devisen umzuwandeln.28 Möglich war dies nur deshalb, weil die Warenpalette wie bereits geschildert auf SchalckGolodkowskis Wunsch hin schrittweise auf leicht verkäufliche Rohstoffe umgestellt wurde, die »auf dem Weltmarkt sofort Absatz« fanden.29 Warenlieferungen aus der Bundesrepublik, die gegenständlich mit dem »Warenbegleitschein U« (»U« für unentgeltlich) in die DDR gelangten, wurden umgehend exportiert. Transitwaren, die sich im westlichen Ausland befanden und gemäß den »Gepflogenheiten des internationalen Rohstoffgeschäftes« nur noch per Dokument gehandelt wurden, brauchten gar nicht erst in die DDR eingeführt zu werden, da sich die Papiere bequem weiterverkaufen ließen.30 Bis einschließlich 1973 flossen die Verkaufserlöse auf das Konto Nr. 528 bei der Deutschen Handelsbank in Ost-Berlin, der Hausbank der KoKo. Zwar war Manfred Seidel als Kontoinhaber eingetragen, doch stand das Konto faktisch unter der Verfügung Erich Mielkes.31 Da die Kontoauszüge erst seit Mitte der siebziger Jahre überliefert sind, lassen sich weder die exakte Höhe der eingezahlten Summen ermitteln noch belastbare Aussagen darüber treffen, wofür die Gelder verwendet wurden. Die vorhandenen Abrechnungsunterlagen legen jedoch nahe, dass mindestens 271,66 Millionen DM von den im Zeitraum
27 Analyse über das Sondergeschäft »B« ab 1964; BArch-B, DL 2, Nr. 7696, Bl. 30. 28 Vermerk betr. »Geschäftsoperationen, die im Sonderbereich durchgeführt werden«, o. D. [ca. 1972]; BArch-B, DL 2, Nr. 7766, Bl. 416. 29 Analyse über das Sondergeschäft »B« ab 1964; BArch-B, DL 2, Nr. 7696, Bl. 30. 30 Volze: Bananenlegende, S. 62. 31 Siehe die undatierten Übersichten in: DL 2, Nr. 7766, Bl. 413 u. 416.
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1968 bis 1973 aus dem Bundeshaushalt verausgabten 331,61 Millionen DM auf das Konto flossen, was einem Anteil von mehr als 80 Prozent entsprach.32 Die dritte und ihrem finanziellen Volumen nach wichtigste Phase begann im Frühjahr 1974. Während sich die beiden Unterhändler Vogel und Stange auf die künftige Pauschalierung der Gegenleistung für die Häftlingsentlassungen geeinigt hatten, rief Honecker Schalck-Golodkowski zu sich. Der Generalsekretär wies ihn an, sämtliche Erlöse aus dem Kirchengeschäft B künftig auf ein eigens zu diesem Zweck eingerichtetes Konto mit der Nr. 628 einzuzahlen, das wie das Konto 528 bei der Deutschen Handelsbank in Ost-Berlin geführt wurde.33 Bis 1989 sollten von den 2,94 Milliarden DM, die die Bundesregierung seit 1974 für Häftlingsfreikauf und Familienzusammenführung aus dem Bundeshaushalt bereitstellte, rund 2,82 Milliarden DM auf das »HoneckerKonto« fließen, was einem Anteil von knapp 96 Prozent entsprach. Damit landeten über vier Fünftel (82 %) der Zahlungen für die »Besonderen Bemühungen« (insgesamt 3,4 Mrd. DM) auf diesem Konto.34 Angesichts dieses großen Anteils kann die Verwendung des Kontoguthabens exemplarisch für die Verwendung der Gegenleistungen insgesamt stehen. Neben den Erlösen aus dem Häftlingsgeschäft und der Familienzusammenführungen (2,82 Mrd. DM) speiste sich das Konto ferner aus den Zinserträgen der Festgeldanlagen bei westlichen Banken. Aufgrund der durchschnittlichen Zinssätze zwischen 3 und 11 Prozent erbrachte diese Anlage rund 562,9 Millionen DM. Außerdem flossen Einnahmen aus Teilen der Kirchengeschäfte A und C sowie einige weitere Einzahlungen auf das Konto 0628, darunter eine »Überplanerfüllung« des Genex Geschenkdienstes und Abführungen von anderen Devisenkonten. Insgesamt summierten sich die Einnahmen auf die beachtliche Summe von 4,595 Milliarden DM, wovon das B-Geschäft und die dadurch möglichen Zinserträge mit zusammen 3,387 Milliarden DM (rd. 73 %) maßgeblich beitrugen.35 Wofür verwendete KoKo die Guthaben des Kontos? Wurden sie tatsächlich, wie Schalck-Golodkowski in seinen Erinnerungen behauptet, »für die unter Honecker initiierten Verbesserungen in der Versorgung der Bevölkerung« ausgegeben?36 In den Jahren 1976 bis 1978 wurden die Ausgaben tatsächlich durchweg für die Finanzierung von Konsumgüterimporten eingesetzt. In der Regel handelte es sich dabei um »Festtagsimporte« vor den Weihnachts32 Eigene Zusammenstellung auf Basis der Unterlagen in: BArch-B, DL 2, Nr. 7765, 7766, 7792. 33 Siehe Kap. IV.1 zur Pauschalierung. 34 Judt: »Honecker-Konto«, S. 423. Die Differenz von 4 % (rd. 120 Mio. DM) wurde für Provisionen, Spesen, Transportversicherungen und sonstige Gebühren verbraucht. 35 Judt: »Honecker-Konto«, S. 424–426 u. 433. 36 Schalck-Golodkowski: Erinnerungen, S. 209.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
feiertagen, darunter Obst und Gemüse, Schuhe und Textilien. Bis 1988 wurden weitere Importe für die Bevölkerungsversorgung aus dem Konto beglichen, darunter Textilien, Gemischtwaren und Konsumgüter. 1981 organisierte KoKo zudem den Import mehrerer tausend Pkw aus Japan und Frankreich. Insgesamt machten diese Ausgaben im Wert von 500,4 Millionen DM jedoch nur 11,1 Prozent aller Ausgaben des Kontos und damit einen vergleichsweise geringen Anteil aus.37 Gleiches gilt für die Ausgaben zugunsten von Exporthilfen und Importen für die DDR-Volkswirtschaft. Für insgesamt 366,2 Millionen DM wurden Braunkohlebriketts, Steinkohle, Baumwolle, Futtermittel, Kartoffeln, Getreide und Metalle angekauft, ein Anteil von 8,1 Prozent aller Ausgaben des Kontos. Schließlich überwiesen die Treuhänder 1981 auf persönliche Weisung Erich Honeckers 80 Millionen DM an die kommunistische Führung der VR Polen; im Juli 1981 und zwischen 1986 und 1988 weitere 46,9 Millionen DM an die sandinistische Regierung Nicaraguas, um diese in ihrem Kampf gegen die von den USA protegierten »Contras« zu unterstützen. Allerdings machten auch diese »Solidaritätsleistungen« mit 2,8 Prozent nur einen geringen Teil der Ausgaben des Kontos aus.38 Knapp 77 Prozent aller Ausgaben, rund 3,47 Milliarden DM und somit der Löwenanteil des Guthabens, gingen bis zur Auflösung des Kontos im Frühjahr 1990 jedoch über das Ministerium der Finanzen in die Zahlungsbilanz der DDR ein.39 Das Konto diente damit dem Zweck, »als eine Art ›Feuerwehrfonds‹ […] die dauernde Zahlungsfähigkeit der DDR« sicherzustellen.40 Seit Honeckers Verkündung der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 und den dort beschlossenen Investitionen in Konsum- und Sozialprogramme wie beispielsweise dem Wohnungsbau wies die Zahlungsbilanz einen stetig anwachsenden Negativsaldo aus.41 Da die Erlöse aus dem Verkauf der kaum wettbewerbsfähigen Produkte der DDRWirtschaft auf dem Weltmarkt bei Weitem nicht ausreichten, um die westlichen Importgüter zu bezahlen, mussten diese durch Kredite bei westlichen Banken auf Pump finanziert werden. Folglich stieg die Verschuldung bei Banken im »nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet« rapide an: Lag sie 1970 noch bei 2,2 Milliarden Valutamark (VM), hatte sie sich bis Ende 1978 auf 21,4 Milliarden VM nahezu verzehnfacht und schnellte bis 1989 auf 38 Milli-
37 38 39 40 41 S. 86.
Judt: »Honecker-Konto«, S. 430 f. u. 439. Ebenda, S. 432. Ebenda, S. 426–430. Zur Nutzung der restlichen 1,1 % siehe ebenda, S. 427. Judt: KoKo, S. 226. Steiner: von Plan zu Plan, S. 167; Mählert: Geschichte der DDR, S. 117 f.; Weber: DDR,
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arden VM hoch.42 Die wiederholten Forderungen Gerhard Schürers, Kandidat des Politbüros und Leiter der Staatlichen Plankommission, das Problem durch die Abkehr von der letztlich nicht finanzierbaren Konsumpolitik und die Angleichung der Lebensverhältnisse an die tatsächliche ökonomische Leistungsfähigkeit der Wirtschaft an der Wurzel zu packen, lehnte Honecker jedoch entschieden ab. Der SED-Chef wusste wohl genau, dass die nicht auf freien Wahlen beruhende SED-Parteiherrschaft die Sozialpolitik dringend als Legitimationsgrundlage benötigte, um in der Systemkonkurrenz mit der Bundesrepublik bestehen zu können.43 Die jährlichen Zuschüsse in die Zahlungsbilanz aus den Geschäften des Bereiches KoKo in Höhe von rund 2 Milliarden DM, darunter auch die Einnahmen aus dem Häftlingsgeschäft, konnten den Anstieg der Verschuldung nicht stoppen, sondern nur verlangsamen. Zugespitzt lässt sich somit das Fazit ziehen, dass der Häftlingsverkauf und die Vergütung von Ausreisegenehmigungen den DDR-Konsumsozialismus, »das Markenzeichen des realen Sozialismus in der DDR schlechthin«,44 teilweise mitfinanzierten. In jedem Falle trugen die Erlöse aus dem B-Geschäft dazu bei, den Zeitpunkt hinauszuschieben, ab dem die DDR vor der Alternative des Staatsbankrotts oder einer vollständigen wirtschaftlichen Abschottung gegenüber dem Westen stand.45 Der Stellenwert des »B-Geschäfts« für die Sicherung der Zahlungsfähigkeit der DDR macht es umso wahrscheinlicher, dass zeitweilige Überlegungen, das Volumen dieser Geschäfte zurückzuführen oder sie gar vollends einzustellen, spätestens seit Anfang der achtziger Jahre allein schon deshalb nicht mehr ernsthaft infrage kamen, weil der Verzicht auf diese Einnahmequelle die ohnehin prekäre finanzielle Situation noch verschärft hätte. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Erlöse offenbar noch hinter den hochgesteckten Zielen 42 Volze, Armin: Zur Devisenverschuldung der DDR – Entstehung, Bewältigung und Folgen. In: Kuhrt, Eberhard; Buck, Hannsjörg F.; Holzweissig, Gunter (Hg.): Die Endzeit der DDRWirtschaft. Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Opladen 1999, S. 151–183, hier 157 u. 162. 43 Schürer wies seit 1975 wiederholt auf die Gefahren einer ungebremsten Verschuldung hin, fand jedoch bei Honecker und Mittag kein Gehör. Vgl. Malycha, Andreas: Ungeschminkte Wahrheiten. Ein vertrauliches Gespräch von Gerhard Schürer, Chefplaner der DDR, mit der Stasi über die Wirtschaftspolitik der SED im April 1978. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011) 2, S. 283–305, hier 299; Hertle, Hans-Hermann: Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft. Das Scheitern der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« am Beispiel der Schürer/MittagKontroverse im Politbüro 1988. In: DA 25 (1992) 2, S. 127–145; Ders.: Staatsbankrott. Der ökonomische Untergang des SED-Staates. In: DA 25 (1992) 10, S. 1019–1039. 44 Hertle: Staatsbankrott, S. 1032. 45 Dass es solche, indes wenig realistische Gedankenspiele gab, zeigt der Beitrag von Hertle, Hans-Hermann: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR. In: DA 42 (2009) 3, S. 476–495.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
zurückblieben. Ende September 1982 beispielsweise informierte SchalckGolodkowski den Generalsekretär routinemäßig über die kürzlich unterzeichnete, abschließende Liefervereinbarung im Rahmen der »Häftlingsaktion« 1982 in Höhe von 37 Millionen DM. »Damit«, bilanzierte SchalckGolodkowski, seien »von den für das Jahr 1982 für den Einschuß in die Zahlungsbilanz vorgesehenen 200 Millionen [insgesamt] 177 Millionen realisiert« worden, 23 Millionen weniger als geplant.46 Folglich hatte sich auch das tatsächliche Kräfteverhältnis in den Verhandlungen mit der Bundesregierung gewandelt. Mit ihren finanziellen Hilfen, darunter die beiden »Milliardenkredite« in den Jahren 1983 bis 1985, konnte der Staatsbankrott der DDR noch einmal hinausgezögert werden.47 Letztlich konnten weder das Häftlingsgeschäft noch die sonstigen geschäftlichen Unternehmungen der KoKo den ökonomischen Niedergang stoppen. Wirtschaftlich betrachtet stellten der Häftlingsfreikauf und der Verkauf Ausreisewilliger einen letztlich wirkungslosen Versuch dar, die Folgen einer fehlgeleiteten Wirtschafts- und Sozialpolitik unter anderem durch den Verkauf der eigenen, als Staatseigentum betrachteten Bürger mindestens teilweise zu lindern.
46 i. O. 47
Schalck an Honecker, 27.9.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 102 f. Hervorheb. Hertle: ökonomischer Niedergang, S. 477.
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VIII Die freigekauften Häftlinge
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Profil und Deliktgruppen
Wer waren die freigekauften Häftlinge? Zwei Hauptkriterien beeinflussten das statistische, soziale und deliktspezifische Gruppenprofil: Erstens das Profil der Grundgesamtheit aller Personen, die die sowjetische Besatzungsmacht oder das SED-Regime aus politischen Gründen inhaftieren und aburteilen ließ und zweitens die Auswahlkriterien der Bundesregierung, die den Freikauf zunächst auf die »Langstrafer« aus dieser Gruppe beschränkte und später auf die »Kurzstrafer« ausweitete. Da die Freikaufzahlen allmählich anstiegen, gleichzeitig die Zahl der politischen Strafurteile zurückging und schließlich auf einem relativ konstanten Niveau verharrte, näherte sich das Gruppenprofil der freigekauften politischen Häftlinge tendenziell dem Profil der Grundgesamtheit aller politischen Häftlinge in der DDR an.1
Freikaufquote, Strafhöhen, Verbüßungsdauer, soziale Merkmale Welche »Erfolgsquote« hatte das Freikaufprogramm, d. h. welcher Anteil der insgesamt benannten Häftlinge wurde tatsächlich freigekauft? Auf sämtlichen Wunschlisten der Bundesregierung sowie den Mittäter- bzw. Vorschlagslisten der DDR waren von 1963 bis 1989 insgesamt 41 291 Personen erfasst, d. h. Häftlinge, über deren Freikauf mindestens einmal verhandelt wurde.2 Die Zahl der tatsächlich freigekauften Häftlinge bewegte sich in etwa zwischen 33 300 und 33 450 Personen.3 Unter der Bedingung, dass der Häftling zuvor auf einer der Freikaufslisten gesetzt worden war, lag die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit für einen Freikauf damit bei über 80 Prozent. Berücksichtigt man 1 Über das statistisch-soziale Profil der Grundgesamtheit aller politischen Häftlinge ist nur wenig bekannt. Am verlässlichsten sind die Tabellen I bis XXXV in: Raschka: Justizpolitik, S. 314–341. Sichere Rückschlüsse vom Profil der freigekauften Häftlinge auf diese Grundgesamtheit sind nur sehr begrenzt möglich, da die Gruppe der Freigekauften nicht notwendig repräsentativ für die Grundgesamtheit aller politischen Häftlinge ist. 2 Tabelle »Neue H-, MT- und V-Listen-Fälle, 1963 bis 1989«; BArch-B, B 137/36058. 3 Tabelle 1 im Anhang. Hier sind die 2 087 Häftlinge mitgezählt, die nach ihrer Amnestierung 1972 ausreisten.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
ferner, dass wahrscheinlich ein nicht unerheblicher Anteil der zwar benannten, aber nicht freigekauften Häftlinge nach voller Verbüßung ihrer Strafe nachträglich über die Familienzusammenführungen in den Westen gelangte, liegt die Erfolgsquote sogar noch darüber. Ungleich schwieriger ist es, den genauen Anteil der Freigekauften an der Gesamtheit aller politischen Häftlinge im Zeitraum von 1963 bis 1989 zu bestimmen. Für letztere Zahl liegen nur Annäherungswerte vor. Johannes Raschka, der Statistiken der Generalstaatsanwaltschaft und des MfS ausgewertet hat, schätzt die Zahl derer, die zwischen dem 1. Januar 1963 und dem Herbst 1989 nach den einschlägigen Paragrafen des politischen Strafrechts verurteilt wurden, auf rund 87 400 Personen.4 Hinzu kommen jene, die vor 1963 verurteilt worden waren und sich bei Beginn des Freikaufs 1963 und darüber hinaus noch in Haft befanden. Die Größe dieser Gruppe ist ohne erheblichen Aufwand nicht zu ermitteln, dürfte aber schätzungsweise maximal 13 000 Personen umfasst haben.5 Demzufolge bewegte sich die Gesamtzahl der zwischen 1963 und 1989 aus politischen Gründen in Haft befindlichen Personen im Bereich zwischen 90 000 und 100 000. Setzt man die Zahl der tatsächlich freigekauften Häftlinge (33 450) dazu in Relation, so gilt die Faustformel, dass zwischen 1963 und 1989 ungefähr jeder dritte politische Häftling freigekauft wurde. Freilich variierte die Freikaufsquote je nach Jahr und Dekade. Von den circa 38 000 politischen Häftlingen, die sich zwischen 1963 und 1969 in Haft befanden, wurden bis Ende 1969 nur knapp 5 000 freigekauft, folglich ungefähr jeder achte (12,6 %).6 In den siebziger Jahren betrug die »Freikaufquote« mit circa 37,2 Prozent deutlich mehr als ein Drittel (ca. 10 952 Freigekaufte bei insgesamt 29 441 politischen Häftlingen), in den achtziger Jahren erreichte sie mit 48,3 Prozent beinahe die 50-Prozent-Marke (15 603 Freikäufe bei 32 286 politischen Häftlingen). Eine Differenzierung nach Zeiträumen ist auch in Bezug auf die Höhe der verhängten Strafen notwendig. Insgesamt lag das durchschnittliche Strafmaß aller zu Zeitstrafen verurteilten freigekauften Häftlinge bei zwei Jahren und 4 Tabelle XIV »Schätzung der Zahl der politischen Häftlinge 1960–1989« in: Raschka: Justizpolitik, S. 324 f. 5 Laut Raschka (vorausgehende Anm.) wurden allein in den Jahren 1960, 1961 und 1962 rd. 22 454 Personen verurteilt. Durch die Amnestien von 1960 und 1962 gelangten etliche von ihnen in Freiheit, 1962 allein über 9 000 Personen. Werkentin: Strafjustiz, S. 384 f. Ferner ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil wegen der vergleichsweise »kurzen« Strafen von unter 2 Jahren bis Jahresende 1962 in Freiheit gelangten. Indes erhöht sich diese Zahl durch die Gruppe derer, die vor 1960 verurteilt und nicht amnestiert worden waren. 6 Siehe Tabelle 1 in Verbindung mit den Angaben der Tabelle XIV in: Raschka: Justizpolitik, S. 324 f.
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VIII Die freigekauften Häftlinge
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neun Monaten, was allerdings nichts über die Bandbreite der tatsächlich verhängten Strafen aussagt. Sie lässt sich besonders eindrücklich an der Zahl der zu lebenslangen Haftstrafen verurteilten freigekauften Häftlinge ablesen, insgesamt mindestens 249. Über die Hälfte von ihnen, insgesamt 130 Personen, wurde allein in den Jahren 1963 bis 1966 freigekauft, jener Zeitraum, in dem der Freikauf hauptsächlich auf die Befreiung der »Langstrafer« abzielte. Bis Ende 1972, der ersten Entwicklungsphase des Freikaufs, waren bereits 195 und damit 78 Prozent aller insgesamt bekannten und freigekauften »Lebenslänglichen« entlassen worden. Eine gleichfalls rückläufige Tendenz zeigt die Aufschlüsselung der durchschnittlichen Strafhöhe der freigekauften Häftlinge nach einzelnen Jahren: Lag sie 1963 und 1964 noch bei über zwölf bzw. über elf Jahren, ging sie 1965 und 1966 bereits auf etwas mehr als sechs Jahre und 1967 auf über drei Jahre zurück. Während der sozialliberalen Ära von 1969 bis 1982 lag das durchschnittliche Strafmaß zwischen höchstens drei Jahren und fünf Monaten (1969) und mindestens zwei Jahren und drei Monaten (1982). Seit dem Regierungswechsel 1982/83 sank es weiter kontinuierlich ab und lag 1989 bei »nur« noch einem Jahr und sieben Monaten.7 Die dazugehörige, gegenläufige Entwicklungslinie war die Vergrößerung der Gruppe derer, die zu Strafen von unter drei Jahren verurteilt worden waren. Lag ihr Anteil 1975 bereits bei 67 Prozent, stieg er bis 1988 auf 96 Prozent.8 Fazit: Während in den sechziger Jahren die Strafen noch besonders hoch waren, wurde in den darauf folgenden Jahrzehnten ein immer größerer Anteil der freigekauften Häftlinge zu Strafen unter drei Jahren verurteilt. Die Entwicklung ist damit zugleich ein Indikator für die Ausdehnung des Freikaufs auf »Kurzstrafer«, ein Indiz für die insgesamt mildere Strafpraxis der DDRGerichte und zeigt die Abnahme der oft besonders hart bestraften Widerstands- und Oppositionsdelikte bei gleichzeitiger Zunahme der meist weniger hart bestraften Flucht- und Ausreisedelikte. Parallel zur Verringerung des durchschnittlichen Strafmaßes sank auch die durchschnittliche Strafverbüßung, d. h. der Anteil der Strafe, der bis zur vorzeitigen Entlassung »abgesessen« werden musste. Während die Freigekauften der sechziger Jahre in vielen Fällen allein deshalb einen hohen Anteil ihrer Strafe verbüßen mussten, weil sie lange vor Beginn des Freikaufs verurteilt worden waren oder ihre Schicksale erst spät im Westen bekannt wurden, sank die Verbüßungsdauer in den darauffolgenden Jahren allmählich ab. Verlässliche Zahlen liegen für die achtziger Jahre vor. Mussten 1980 noch durch7 Tabelle »H-Aktionen 1963 bis 1989«, BArch-B, B 137/36058. 8 Tabelle »Einbezogene Haftfälle 1975–1989«, 10.1.1992, B 137/36058. Angaben für den Zeitraum 1963 bis 1974 wurden nicht erfasst.
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schnittlich 62 Prozent der Strafe verbüßt werden, war es 1984 mit 51 Prozent »nur« noch gut die Hälfte. Im Jahr darauf stieg dieser Teil zwar erneut auf 55 Prozent an, ging jedoch bis 1988 sogar auf 42 Prozent zurück, um 1989 wiederum auf 51 Prozent anzusteigen. Allerdings gab es hier deutliche Unterschiede je nach Delikt: Wehrdienstverweigerer mussten fast immer über drei Viertel der Strafe absitzen und »Republikflüchtige« länger ausharren als jene, deren Verhaftung im Zusammenhang mit Ausreisebegehren stand – ihre Verbüßungsquote erreichte 1988 mit 39 Prozent einen historischen Tiefstand. Schließlich wirkte es sich auf die Verbüßungsdauer aus, von welcher Seite der Häftling benannt wurde. Grundsätzlich galt die Regel, dass das MfS die von ihm selbst vorgeschlagenen Häftlinge länger in Haft behielt als die vom Westen gewünschten. In den achtziger Jahren war es somit nicht ungewöhnlich, dass inhaftierte Ausreisewillige mit Strafen von einem Jahr bereits nach sechs Monaten Haft in den Westen gelangten.9 Demnach wurde der Freikauf aus westlicher Sicht von Jahr zu Jahr erfolgreicher, da die Inhaftierten immer schneller in den Westen gelangten, was umgekehrt aus Sicht der DDR die Abschreckungswirkung der Strafe beeinträchtigte und den Handlungsspielraum des Repressionsapparates immer weiter einengte. Abschließend noch einige Aussagen zur Geschlechterverteilung, Altersstruktur und dem Sozialprofil der freigekauften Häftlinge. Während die acht im Jahr 1963 freigekauften Häftlinge Männer waren, befanden sich in den Jahren 1964 bis 1966 jeweils genau 14 Prozent Frauen unter den Freigekauften, was aber wohl eher Zufall als Absicht gewesen sein dürfte. 1967 stieg die Quote einmalig auf 19 Prozent an, bewegte sich seit 1968 bis einschließlich 1972 aber erneut im Bereich zwischen 11 und 15 Prozent. Auffällig ist der deutliche Anstieg in der zweiten Phase des Freikaufs seit 1973. Fortan stellten die Frauen zwischen 17 und 23 Prozent, somit ungefähr ein Fünftel der Freigekauften. Möglicherweise weist dieser Trend auf den Wandel der Zusammensetzung nach Deliktgruppen hin, die sich mehr und mehr von »harten«, weil »männerdominierten« Widerstands- und Oppositionsdelikten auf die Flucht- und Ausreisedelikte verlagerte.10 Da die Transportlisten der achtziger Jahre noch unter Verschluss sind, sind für diesen Zeitraum keine Aussagen möglich, doch vermutlich gab es hier keine gravierenden Veränderungen. Einen deutlichen Trend zur Verjüngung ist in der Altersstruktur erkennbar. Waren im Freikaufsjahrgang 1964 die vier Altersdekaden zwischen 21 und 9 Eigene Zusammenstellung auf Basis der Tabelle »H-Aktionen von 1983 bis 1989 (ohne ATund Bo)«, 20.1.1992; BArch-B, B 137/36058; Tabellen der H-Aktionen 1980–1988 »Bewohner der DDR, entlassen nach D«; BArch-B, B 137/36059. 10 Eigene Zusammenstellung auf Basis der Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067 sowie den Auswertungsunterlagen des DRK in Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1066, H 1067, H 1069, H 1070, H 1877, H 1882, H 1883, H 1894 u. H 1898.
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60 Jahren mit jeweils circa 20 Prozent noch nahezu gleichstark vertreten, verschob sich der Schwerpunkt rasch auf die Gruppe der 20 bis 30-Jährigen. Bereits 1965 waren sie die zahlenmäßig stärkste Gruppe, seit 1967 stellten sie mit 50 bis 56 Prozent aller Freigekauften die absolute Mehrheit. Auch der Anteil der unter 21-Jährigen wuchs kontinuierlich:11 Im ersten Freikaufsjahrzehnt stieg er von knapp 2 Prozent auf fast 19 Prozent, um sich seit 1974 zwischen 11 und 15 Prozent einzupendeln. Weitgehende Stabilität kennzeichnete demgegenüber die Altersgruppe der 31- bis 40-Jährigen: Bis 1973 lag ihr Anteil zwischen 14 und 20 Prozent, seit 1974 zwischen 23 und 26 Prozent und damit bei in etwa einem Viertel. Eine rückläufige Tendenz – sicher auch bedingt durch die Abnahme der Zahl der »Langstrafer« – kennzeichnete die übrigen Altersgruppen. Die 41- bis 50-Jährigen stellten seit 1967 zwischen 5 und 8 Prozent, wohingegen die über 50-Jährigen seit den siebziger Jahren deutlich weniger als 3 Prozent aller Freigekauften ausmachten. Mithin war der »typische« freigekaufte Häftling seit Ende der sechziger Jahre männlich und unter 30 Jahre alt (siehe Darstellung 1 im Bildteil).12 Statistische Auswertungen zum Sozialprofil, vor allem der sozialen Herkunft, Ausbildung und beruflichen Tätigkeit der freigekauften Häftlinge, sind wahrscheinlich weder im Osten noch im Westen systematisch angelegt worden. Allerdings vermerkten die Mitarbeiter des Gießener Notaufnahmeverfahrens den ausgeübten Beruf auf ihre Aufnahmelisten. Da diese in den zugänglichen Archivbeständen jedoch nur lückenhaft überliefert und in anderen Beständen aus Datenschutzgründen nicht zugänglich sind, muss die Frage nach dem Sozialprofil hier offen bleiben.13 Vermutlich stieg der Anteil der Freigekauften mit akademischer Ausbildung in den siebziger und achtziger Jahren an, wie es die Einbeziehung von Ärzten und medizinischem Personal in den Freikauf seit dem Jahr 1975 nahelegt.14
Übersicht der Deliktgruppen Aus welchen Gründen waren die Freigekauften inhaftiert worden? Welche Delikte bzw. Deliktvorwürfe lagen ihrer Verurteilung zugrunde? Im Großen und Ganzen lassen sich zwei Hauptgruppen unterscheiden. Erstens die Grup11 Hin und wieder befanden sich sogar Häftlinge unter den Freigekauften, die selbst zum Zeitpunkt der Entlassung jünger als 18 Jahre waren. 12 Eigene Zusammenstellung auf Basis der Entlassungs- und Transportlisten von 1963 bis 1982 in: DRK, Suchdienst München, H 1067–1070, H 1882, H 1883, H 1898 u. H 1899. 13 In den Akten des DRK sind vereinzelt solche Listen überliefert. Vgl. z. B. Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1065 u. H 1066. 14 Siehe Kap. IV.1.
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pe jener, die wegen Widerstands gegen die Besatzungsmacht und das SEDRegime, tatsächlicher oder vermeintlicher Spionage für westliche Geheimdienste, oppositionellem oder eigensinnigem Verhalten, wegen der Ausübung der verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechte, aufgrund ihrer freiheitlichen politischen Gesinnung oder allgemein wegen Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in der DDR verurteilt worden waren. Eine besondere Untergruppe bildeten die Härte- und Sonderfälle, da sich an der Schwere ihrer Bestrafung und ihres Haftschicksals der Unrechtscharakter des Besatzungs- und SED-Regimes besonders eindrücklich zeigte. Die zweite Hauptgruppe umfasste all jene, deren »Taten« im direkten Zusammenhang mit dem Grenzregime standen. Innerhalb dieser Gruppe lassen sich drei Untergruppen unterscheiden: Erstens die (ideellen) Fluchthelfer aus West-Berlin und der Bundesrepublik, die ihre Tätigkeit oftmals als aktiven Widerstand gegen die Diktatur verstanden, zweitens diejenigen, die der Einmauerung durch einen Fluchtversuch entkommen wollten sowie drittens und letztens die Gruppe derer, die ihre Ausreise auf »legalem« Wege über Ausreiseanträge bei den staatlichen Behörden und häufig damit zusammenhängende »Demonstrativhandlungen« erreichen wollten.
Erste Hauptgruppe: Spionage, Opposition und Widerstand Nach wie vor kann die Definition Karl Wilhelm Frickes Gültigkeit beanspruchen, wonach Opposition und Widerstand unter dem Oberbegriff politische Gegnerschaft zu fassen sind und in ihrer konkreten historischen Erscheinungsform »von unbewußt-spontanem Aufbegehren gegen die Willkür einzelner Maßnahmen der Obrigkeit bis zu planmäßigem Widerstand« reicht. Darunter ist auch solcher Widerstand zu fassen, der sich »konspirativ zu sammeln und aktiv zu handeln versucht«.15 Zweifellos war eine größere Gruppe von Deutschen in der DDR als V-Leute für westliche Geheimdienste tätig. Einige taten es aus einer antikommunistischen Grundhaltung16 oder weil sie es als ihre »Bürgerpflicht« zum Widerstand ansahen,17 bei anderen überwogen finanzielle Beweggründe. Ungeachtet der jeweiligen Motive stellt sich die Frage, wie viele jener freigekauften Häftlinge, die wegen des Vorwurfs der Spionage verurteilt
15 Fricke: Opposition und Widerstand, S. 13 f. 16 Fricke, Karl Wilhelm: Spionage als antikommunistischer Widerstand. Zur Zusammenarbeit mit westlichen Nachrichtendiensten aus politischer Überzeugung. In: DA 35 (2002) 4, S. 565–578. 17 Interview Felix Busse mit Wolf-Egbert Näumann, 4.9.2007; Archiv des Deutschen Anwaltvereins, S. 11 f.
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worden waren, tatsächlich mit westlichen Diensten zusammengearbeitet hatten. Da der BND und der Verfassungsschutz aufgrund eines absurden »Geheimhaltungs-fetischismus«18 nicht einmal die Namen ihrer enttarnten und deshalb inhaftierten V-Leute in der DDR preisgeben, sind sichere Angaben dazu nicht möglich. Gleichwohl lassen sich für einzelne Zeiträume ungefähre Größenordnungen ermitteln. Insgesamt verfügte der BND Mitte der fünfziger Jahre über mehr als 4 000 Quellen hinter dem Eisernen Vorhang,19 von denen er bis 1963 schätzungsweise bis zu 10 Prozent durch Enttarnung und Inhaftierung verlor.20 Die Mitarbeiter westlicher Nachrichtendienste gehörten dabei durchweg zu den besonders hart bestraften, selten lag das Strafmaß unter zehn Jahren, häufig bei 15 Jahren oder gar lebenslangem Freiheitsentzug.21 Die meisten dieser Inhaftierten dürften sich daher bei Beginn der ersten Entlassungswelle 1964 noch in Haft befunden haben und daher in den Freikauf einbezogen worden sein. Einer Äußerung Rehlingers zufolge hatten sich unter den von 1964 bis 1966 freigekauften Häftlingen ungefähr 300 Inhaftierte mit nachrichtendienstlichem Hintergrund befunden.22 Seine Angabe ist glaubwürdig, da BND und Verfassungsschutz dem »Freikauf-Referat« seit 1964 die Namen ihrer inhaftierten V-Leute übermittelten und das Referat eine fortlaufende Liste mit diesen »vordringlichen Fällen« führte.23 Gemessen an der Gesamtzahl der zwischen 1964 und 1966 freigekauften 2 846 Häftlinge stellten die Spione aus Pullach, Köln und die Mitarbeiter der »befreundeten Dienste« somit einen durchschnittlichen Anteil von rund 10 Prozent. Rechnet man die mindestens 50 freigekauften ehemaligen V-Leute der Westberliner Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) hinzu, die in vielen Fällen aktiv Spionage betrieben hatten, steigt der Anteil der nachrichtendienstlichen Fälle auf etwas mehr als 18 Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 578. 19 Wagner, Armin; Uhl, Matthias: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR. Berlin 2007, S. 93. 20 Vorausgesetzt, der größte Teil der 4 000 V-Leute befand sich in der DDR und die Gesamtzahl der Quellen blieb in etwa konstant. Siehe den Vermerk Weicherts, 15.3.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 371 zur absoluten Zahl der bis 1966 freigekauften V-Leute. Laut einer Aussage des früheren Geheimdienstkoordinators Bernd Schmidbauer habe der BND insgesamt »tausend im Gefängnis gehabt im Osten«; Pötzl: Spione, S. 250. 21 Die Fippel-Datenbank (HAIT) verzeichnet allein 50 in der einschlägigen Literatur genannte Fälle von später freigekauften Inhaftierten, die wegen des Vorwurfs der Spionage für einen westlichen Dienst verurteilt worden waren und bei denen teils Gegenstände des Spionagehandwerks wie manipulierte Funkgeräte u. ä. sichergestellt worden waren. 22 Vermerk Weicherts, 15.3.1967; DzD BesBem Bd. 1, S. 371. 23 Vermerk Rehlingers, 16.7.1964; ebenda, S. 156; Vermerk Schlichters, 27.3.1973; HGWS, HF 76.
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12 Prozent, gemessen an der Gesamtheit der wegen Spionage Verurteilten jedoch ein eher geringer Anteil.24 Nach den Entlassungen der Jahre 1964 bis 1966 sank die Zahl der freigekauften Häftlinge mit nachrichtendienstlichem Hintergrund. 1968 und 1969 kamen nur noch 31 BND-Mitarbeiter via Freikauf oder Austausch in die Bundesrepublik, weniger als 2 Prozent der in diesen Jahren freigekauften Häftlinge.25 Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Quote bis 1989 noch einmal wesentlich über diesen Wert hinaus anstieg.26 Somit beruhte der Spionagevorwurf in der weitaus überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht auf Tatsachen, sondern wurzelte in der kommunistischen Paranoia, der »Arbeiter-und-Bauern-Staat« sei permanent von feindlichen Agenten bedroht. Besonders die Kontakte zu den Ostbüros der CDU, SPD und der Liberalen wurden als Spionage kriminalisiert. Sie sollten als »Widerstandsarm« der West-Parteien »den Boden für die Zeit nach der Wiedervereinigung bereiten«.27 Unter den freigekauften Häftlingen befanden sich daher anfangs zahlreiche Mitglieder dieser Parteien, die mit einem der Ostbüros in Verbindung gestanden hatten. Den Hauptanteil stellten dabei die verhafteten CDU-Mitglieder: Mindestens 43 von ihnen kamen bis 1966 über den Freikauf in Freiheit, viele wurden indes in die DDR entlassen.28 Auch Sozialdemokraten und Liberale befanden sich darunter, jedoch in weitaus geringerer Zahl.29 Die konkreten Tatvorwürfe bezogen sich meist auf die Weitergabe von allgemeinen Beobachtungen. Rudolf Wehrstedt beispielsweise, ein engagierter 24 Mein Dank gilt Enrico Heitzer für den Datenabgleich. Denkbar ist allerdings, dass die VLeute der KgU bereits in der Zahl 300 enthalten sind, da der BND die V-Mann-Kartei der 1959 aufgelösten KgU übernommen hatte und möglicherweise die Namen der inhaftierten V-Leute der KgU auf seine Wunschliste setzte. 25 Vermerk Hoeschs, 12.12.1969; BArch-K, B 137/20037, Bl. 26 (AS-DzD). 26 1978 brüstete sich Honecker gegenüber Breschnew damit, das MfS habe allein im Vorjahr 35 Agenten des BND verhaftet, Gespräch Honecker – Gromyko, 12.5.1978; DzD, VI/5, Nr. 160, S. 641. Ob es sich dabei tatsächlich um V-Leute des BND handelt, sei dahingestellt. Vgl. die »Aufstellung von aus dem Strafvollzug entlassenen Agenturen imperialistischer Geheimdienste« der HA IX vom 19.2.1981 mit den Namen von 38 Personen, die zwischen 1969 und 1978 entlassen wurden. BStU, MfS, HA IX, Nr. 3192, Bl. 84–124. 27 Buschfort, Wolfgang: Die Ära Adenauer. Die »roten KZs« und die Ostbüros der Parteien in den 1950er und 1960er Jahren. In: Haustein, Petra; Kaminsky, Annette; Knigge, Volkhard (Hg.): Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute. Göttingen 2006, S. 30–43. 28 Abgleich der Biografien in: Buchstab, Günter; Kaff, Brigitte; Kos, Franz-Josef: Verfolgt und entrechtet. Die Ausschaltung christlicher Demokraten unter sowjetischer Besatzung und SEDHerrschaft 1945–1961. Eine biographische Dokumentation. Düsseldorf 1998 mit der Entlassungsliste des BMG; DRK, Suchdienst München, H 1067. 29 Buschfort: Ära Adenauer, S. 37 f.; Schröder, Gerhard: Der Freiheit verpflichtet. Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. Marburg 2000, S. 33 f. u. 226 f.
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Sozialdemokrat, hatte dem Ostbüro der SPD seit 1957 politische Verhaftungen gemeldet und allgemeine Informationen über Versorgungsmängel weitergegeben. 1961 wurde er vom MfS verhaftet, das Bezirksgericht Magdeburg verurteilte ihn zu zwölf Jahren Zuchthaus. 1966 kam er in die Bundesrepublik.30 Der Spionagevorwurf umfasste ferner Kontakte zu anderen westlichen Organisationen und Einrichtungen, beispielsweise dem Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen (UfJ). Exemplarisch seien die Haftschicksale der beiden Staatsanwälte Hans-Joachim Schiebel und Lothar Cetti genannt: Beide hatten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre Kontakt zum UfJ aufgenommen und ihm Anklageschriften, Urteilsausfertigungen und Rundverfügungen weitergeleitet, die den Unrechtscharakter der DDR-Justiz eindrücklich dokumentierten. Schiebel und Cetti büßten mit hohen Zuchthausstrafen für ihre Zivilcourage: Schiebel wurde 1953 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe, Cetti 1955 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Beide kamen 1964 in Freiheit.31 Abseits der Urteile, in denen die Gerichte eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit dem »Klassenfeind« im Westen konstruierten, beinhaltete die im vorliegenden Abschnitt untersuchte Deliktgruppe die gesamte Bandbreite widerständigen und oppositionellen Verhaltens vom antikommunistischen Widerstand bis hin zur sozialistischen Opposition. Sie umfasste eigensinnige, einzelkämpferische und an sich unpolitische Zeitgenossen wie den Magdeburger Rudolf Winkler, der seit 1965 in Leserbriefen an die Magdeburger Volksstimme gegen die ständigen Propagandalügen und Beschönigung der Wirklichkeit im Alltag protestiert hatte und dafür 1967 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden war;32 Intellektuelle wie das Ehepaar Horst und Sabine Bonnet, Regisseur an der Komischen Oper bzw. Ärztin im Klinikum BerlinBuch, die Flugblätter »mit einem Satz der Sympathie zu [Alexander] Dubcek« verteilt, dabei in flagranti überrascht, festgenommen, zu zweieinhalb bzw. zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und 1969 freigekauft wurden,33 und schließlich Schriftsteller wie Siegmar Faust, der 1974 eine Petition »Gegen die Verweigerung der Menschenrechte« in der DDR in Umlauf brachte und dafür zu einer 30 Möbius, Sascha: »Grundsätzlich kann von jedem Beschuldigten ein Geständnis erlangt werden«. Die MfS-Untersuchungshaftanstalt Magdeburg-Neustadt von 1957–1970. Magdeburg 2002, S. 164–179. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass zahlreiche Mitglieder der Ostbüros zugleich als V-Leute für westliche Geheimdienste arbeiteten. 31 Fricke, Karl Wilhelm: Politische Strafjustiz und »Tauwetter«-Politik 1956 in der DDR. In: Kahlert, Joachim (Hg.): Erinnern, Aufarbeiten, Gedenken. 1946–1996, 50 Jahre kommunistische Machtergreifung in Ostdeutschland. Widerstand und Verfolgung, Mahnung gegen das Vergessen. Dokumentation. Leipzig 1996, S. 70–79. 32 Scharrer, Manfred: Der Leserbriefschreiber. Tatwaffe »Erika«. Berlin 2005. 33 Werkentin: Strafjustiz, S. 288.
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Haftstrafe von vier Jahren verurteilt wurde.34 Auch in den siebziger und achtziger Jahren, als Verhaftungen wegen Fluchtversuchen und Ausreiseforderungen die Mehrzahl der politischen Delikte ausmachten, lehnten sich viele Menschen gegen die alltägliche Bevormundung auf und wurden dafür inhaftiert, so Rolf Mainz, der in der Zeit unter seinem eigenen Namen einen Artikel über Berufsverbote in der DDR veröffentlicht hatte,35 oder Uwe R., der Flugblätter gegen den Wehrkundeunterricht verteilt hatte und deswegen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.36 Bis zum Inkrafttreten des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG) 1957 lag den Verurteilungen häufig Art. 6 der DDR-Verfassung zugrunde. Er stellte »Boykotthetze«, »Mordhetze« und »Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß« sowie »militaristische Propaganda sowie Kriegshetze« unter Strafe und wurde wegen des Fehlens konkreter Tatbestandsmerkmale weidlich als »Gummiparagraph« genutzt. Seit 1957 beruhten die Urteile in der Regel auf den §§ 13 bis 20 und 22 bis 23 des StEG, am häufigsten auf dem Vorwurf der »Spionage« (§ 14) sowie der »Staatsgefährdenden Propaganda und Hetze« (§ 19), die 1968 in leicht abgewandelter Form in die Neufassung des StGB übernommen wurden.37
Untergruppe: Härte- und Sonderfälle In den Anfangsjahren des Freikaufs gelangten zahlreiche Häftlinge zur Entlassung, die wegen der besonderen Umstände ihrer Verhaftung und Aburteilung sowie der durchweg langjährigen Haftzeiten ein Schicksal erleiden mussten, das »in seiner Schwere, ja manchmal tragischen Verstrickung kaum zu beschreiben« war, wie sich Ludwig Rehlinger erinnert.38 Das zweifellos schwerste Los hatte drei Inhaftierte getroffen, die sich zu den Zeugen Jehovas bekannten und wegen ihres Glaubens bereits von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Als Doppelverfolgte zweier totalitärer Regime hatten Fritz Adler, Wilhelm Engel und Oswald D. die nationalsozialistischen Konzentrationslager in Sachsenburg und Buchenwald durchlitten, als sie nach dem Verbot ihrer Reli34 Faust, Siegmar: Der Provokateur. Ein politischer Roman. München 1999. 35 Fippel-Datenbank, Fall 13399. 36 Fippel-Datenbank, Fall 23516. 37 »Staatsverrat«, »Spionage«, »Sammlung von Nachrichten«, »Verbindung zu verbrecherischen Organisationen oder Dienststellen«, »Staatsgefährdende Gewaltakte«, »Angriffe gegen örtliche Organe der Staatsmacht«, »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze«, »Staatsverleumdung«, »Diversion«, »Schädlingstätigkeit und Sabotage«. 38 Rehlinger: Freikauf, S. 64 f. Die Härtefallgruppen überlagern sich zum Teil, d. h. ein Inhaftierter konnte 2 oder mehreren Deliktgruppen angehören.
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gionsgemeinschaft 1950 bzw. 1951 von DDR-Gerichten allesamt zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Insgesamt verbrachten die drei Bibelforscher zwischen 18 und 23 Jahre ihres Lebens in Gefangenschaft, bevor sie 1964 freigekauft und in den Westen entlassen wurden. Wilhelm Engel, der bereits 76 Jahre alt war, starb bald danach an den Folgen der Haft.39 Weiterhin befanden sich zwei der drei letzten Waldheim-Verurteilten in der Gruppe der Härtefälle.40 Die Waldheimer Prozesse im Jahr 1950 gelten als »größter Justizskandal«41 der DDR, da es sich ausnahmslos um »rechtswidrige Massenaburteilungen in Schnellverfahren« handelte.42 Der 1963 freigekaufte »Waldheimer« Walter Nuthmann war 1946 vom Sowjetischen Geheimdienst festgenommen und im Speziallager Nr. 1 bei Mühlberg/Elbe sowie im Speziallager Nr. 2 in Buchenwald arretiert worden, bevor er 1950 von einer der Sonderstrafkammern des Landgerichts Chemnitz wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde.43 Nach über 18 Jahren in Haft kehrte Nuthmann zu seiner in West-Berlin lebenden Ehefrau zurück. Walter Olesch, dem vorletzten noch inhaftierten WaldheimHäftling, war dies nicht vergönnt. Er verstarb 1965 in der Haft, obwohl sich Vogel für seine Begnadigung einsetzte.44 Der letzte »Waldheimer«, Erwin Smolarski, gelangte erst 1969, 24 Jahre nach seiner Inhaftierung im Jahr 1945, über den Freikauf in den Westen.45 Ein ähnliches schweres Schicksal wie die Waldheim-Häftlinge teilten jene, die zwischen 1945 und 1955 von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) auf dem Gebiet der SBZ bzw. DDR verurteilt worden waren. Insgesamt standen zwischen 1941 und 1955 mindestens 70 000 Deutsche vor SMT, davon rund 39 Schmidt, Robert: Religiöse Selbstbehauptung und staatliche Repression. Eine Untersuchung über das religiös-vermittelte, alltägliche und konspirative Handeln der Zeugen Jehovas unter den Bedingungen von Verbot und Verfolgung in der SBZ/DDR 1945–1989. Fallstudien aus der Stadt Leipzig und der Region Zittau/Oberlausitz. Berlin 2003, S. 176; Dirksen, Hans-Hermann: »Keine Gnade den Feinden unserer Republik«. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945– 1990. Berlin 2001, S. 25, 217, 336, 474 f., u. 503 f.; Fricke: Politik und Justiz, S. 580; BZ-Meldung, 27.8.1964; LArchB, B Rep. 002, Nr. 10515. 40 Werkentin: Politische Strafjustiz, S. 370. 41 Eisert, Wolfgang: Die Waldheimer Prozesse: Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz. Esslingen 1993, S. 8. 42 Eisert: Waldheimer Prozesse, S. 7. 43 Urteil in der Strafsache gegen Walter Nuthmann in: BStU, MfS, Abt. XII/RF/118, Bl. 32. 44 Meldung des Tagesspiegels, 18.8.1965 u. Vermerk Vogels, 3.12.1965: »Ihm [Olesch] waren Kriegsverbrechen angelastet im Zusammenhang mit seiner Funktion als Gauleiter in Krakau in den Jahren 1940 bis 1945«; LArchB, B Rep. 002, Nr. 11787. 45 Transportliste v. 16.7.1968 in: DRK, Suchdienst München, H 1067; Entlassungsliste West in: ebenda, H 1068; laut BStU, MfS, Ast Ic 1/74 Bd. 2, Bl. 11 wurde Smolarski die Beteiligung an der Köpenicker Blutwoche vorgeworfen. Vgl. Flick, Günter G.: Die Köpenicker Blutwoche. Fakten, Legenden und politische Justiz. In: ZdF (2007) 21, S. 3–17.
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die Hälfte Zivilisten.46 Zwar verfolgten die SMT auch nationalsozialistische Kriegs- und Gewaltverbrecher, doch war ihre Tätigkeit schwerpunktmäßig von politisch motivierter Rechtsprechung im Zusammenhang mit der »ostdeutschen Diktaturdurchsetzung« bestimmt.47 Bereits die Zusammensetzung und die Verhandlungsführung der SMT waren mit rechtstaatlichen Grundsätzen schlechthin unvereinbar: Die Tribunale tagten stets hinter verschlossenen Türen, es gab weder Ankläger noch Verteidiger, ein sowjetischer Offizier fungierte als Richter – ggf. unterstützt durch zwei Militärschöffen – und meist gab es auch einen Sekretär und einen Dolmetscher. Die Erpressung von Geständnissen durch körperliche und psychische Foltermethoden war in den Verfahren gegen deutsche Zivilisten die Regel. Die Urteile der SMT lauteten meist auf Einweisung in ein Arbeitslager für 10, 15 oder 25 Jahre, lebenslanges Arbeitslager oder Todesstrafe.48 Bereits unter den ersten Freigekauften befanden sich drei Inhaftierte, die von SMT-Tribunalen verurteilt worden waren, zum Stichtag 1. April 1964 wusste die Westberliner Rechtsschutzstelle noch von 22 bis 25 SMTVerurteilten.49 1964 und 1965 wurden zwölf von ihnen freigekauft, davon einer in die DDR entlassen. Die Tatvorwürfe, deretwegen sie zu Strafen zwischen 15 Jahren und lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden waren, reichten von angeblichen Kriegsverbrechen während der NS-Zeit über Spionage für westliche Geheimdienste bis hin zum Vorwurf der »Kontaktaufnahme« zum SPD-Ostbüro, ferner dem Vorwurf der »antisowjetischen Tätigkeit«.50 Zwei der freigekauften SMT-Häftlinge waren bereits 1944/45 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, hatten sich demnach fast 20 Jahre in Gefangenschaft 46 Hilger, Andreas; Schmidt, Ute; Wagenlehner, Günther (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001, S. 11; Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003, S. 18. 47 Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike: Deutschlandpolitik und Strafjustiz. Zur Tätigkeit sowjetischer Militärtribunale in Deutschland 1945–1955. In: Hilger, Andreas (Hg.): Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln 2003, S. 7–34, hier 10 u. 12. 48 Hilger, Andreas; Petrov, Nikita: »Erledigung der Schmutzarbeit«? Die sowjetischen Justizund Sicherheitsapparate in Deutschland. In: Hilger, Andreas (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003, S. 59–152, hier 115–122; vgl. Schroeder, Friedrich-Christian: Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch Sowjetische Militärtribunale. In: Ebenda, S. 37–58. 49 Liste der noch in der SBZ inhaftierten SMT-Verurteilten, Musiolik an DRK, 15.4.1964; DRK, Suchdienst München, H 1046. In einigen Fällen lagen der Rechtsschutzstelle keine vollständigen Angaben vor. 50 Eigene Zusammenstellung auf der Basis der Liste der noch in der SBZ inhaftierten SMTVerurteilten, Musiolik an DRK, 15.4.1964; DRK, Suchdienst München, H 1046 und der Entlassungsliste des BMG, DRK, Suchdienst München, H 1067; der Fippel-, Hilger- sowie VOSDatenbank des HAIT.
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befunden. Die letzten vier kamen erst zwischen 1970 und 1974 nach voller Verbüßung ihrer Strafe frei. Einer von ihnen war ein früherer Angehöriger der SS-Sondereinheit »Dirlewanger«, ferner der als »Henker von Sachsenhausen« bekanntgewordene Paul Sakowski, sowie Bruno Uckel, der 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und wegen angeblicher Teilnahme an der Erschießung von Partisanen verurteilt worden war.51 Außer den Doppelverfolgten, Waldheim-Häftlingen und SMT-Verurteilten befanden sich unter den Freigekauften der Jahre 1963 bis 1965 noch acht Häftlinge, die von DDR-Gerichten wegen ihrer Teilnahme am Volksaufstand des 17. Juni 1953 zu vier mal lebenslangem Zuchthaus sowie Zeitstrafen zwischen 12 und 20 Jahren Zuchthaus verurteilt worden waren. Neben Herbert Tschirner aus Niesky, der zur Gruppe der ersten acht Freigekauften gehörte, sowie Paul Othma aus Bitterfeld, der 1964 unfreiwillig in die DDR entlassen wurde,52 waren dies der Fotografenmeister Lothar Markwirth aus Dresden, Gerhard Römer aus Magdeburg und Kurt Unbehauen aus Gera sowie Werner Silgradt und Werner Mangelsdorf. Die beiden zuletzt Genannten hatte das MfS bald nach ihrer Flucht nach West-Berlin mit List in die DDR gelockt und verhaftet. In einem Schauprozess im Juni 1954 vor dem Obersten Gericht der DDR sollten sie als »Hintermänner« des angeblich vom Westen gesteuerten »faschistischen Putschversuches« vom 17. Juni 1953 »entlarvt« werden.53 Der letzte Häftling des 17. Juni, der Kohlenarbeiter Paul R., wurde noch vor dem zwölften Jahrestag des Volksaufstandes im Sommer 1965 freigekauft und in die DDR entlassen.54 Ob dies seinem Wunsch entsprach, ist nicht bekannt.
51 Hilger, Andreas; Morré, Jörg: SMT-Verurteilte als Problem der Entstalinisierung. Die Entlassungen Tribunalverurteilter aus sowjetischer und deutscher Haft. In: Hilger, Andreas (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003, S. 685– 756, hier 747–749; Transportliste v. 21.9.1972, DRK, Suchdienst München, H 1070; BStU, MfS, HA IX, Nr. 234, Bl. 212; vgl. Schmidt, Ute: Spätheimkehrer oder »Schwerstkriegsverbrecher«? Die Gruppe der 749 Nichtamnestierten. In: Hilger, Andreas; Schmidt, Ute; Wagenlehner, Günther (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001, S. 273–350, hier 304 f. sowie Michaelis, Rolf: Das SS-Sonderkommando Dirlewanger. Der Einsatz in Weißrussland 1941–1944. Barsinghausen 2007. 52 Siehe Kap. III.4. 53 Roth, Heidi; Fricke, Karl Wilhelm: Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Köln 1999, S. 68, 82, 312 f. u. 532–536; Beckert, Rudi: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR. Goldbach 1995, S. 263–269; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 66–71; Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953 in Görlitz. Dokumentation zum Volksaufstand. 2., bearb. u. erw. Aufl., Bautzen 2003, S. 79, 119 u. 122 f. Entlassungsliste des BMG; DRK, Suchdienst München, H 1067. 54 Vermerk Reichenbachs, 28.6.1965; DRK, Suchdienst München, H 2438; »Kein Teilnehmer des Aufstandes mehr in Haft«. In: Die Welt v. 16.6.1965.
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Zweite Hauptgruppe: Fluchthelfer, »Republikflüchtige« und Antragsteller Die zweite Deliktgruppe umfasste alle Handlungen, die im direkten und indirekten Zusammenhang mit der Errichtung der Mauer standen. Im Gegensatz zu den eindeutig gewerblichen Fluchthelfern, bei denen der finanzielle Gewinn im Vordergrund stand, sahen die ideellen Fluchthelfer ihre Tätigkeit hauptsächlich als Hilfe für die betreffenden Fluchtwilligen und teils auch als aktive Widerstandshandlung gegen das SED-Regime. Nach der »Hochphase« der Fluchthilfe in den ersten drei bis fünf Jahren nach dem Mauerbau ging die Zahl der Fluchthelfer drastisch zurück; gegen Ende der sechziger Jahre blieb ein harter Kern aus einigen Fluchthelferorganisationen übrig, deren Mitglieder teils aus Idealismus, teils aus gewerblichen Motiven handelten.55 1983 wurden nur noch 16 Personen aus der Bundesrepublik wegen eines Fluchthilfedeliktes verurteilt.56 Fluchthelfer, die dem MfS in die Hände fielen, wurden hauptsächlich nach § 21 StEG bzw. § 105 StGB (»Verleitung zum Verlassen der DDR«/»Staatsfeindlicher Menschenhandel«) zu oft hohen Haftstrafen bis zu 15 Jahren, in Einzelfällen auch zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt, je nachdem, wie vielen Menschen sie zur Flucht verholfen hatten. Mit Inkrafttreten des Transitabkommens 1972 verlagerte sich die Tätigkeit der Fluchthelfer hauptsächlich auf die Transitstrecken zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin, da das Transitabkommen nur im Falle »hinreichender Verdachtsgründe« die Kontrolle von Fahrzeugen im Transitverkehr erlaubte.57 Die Bundesregierung sah »eine besondere politische und moralische Verantwortung« gegenüber den inhaftierten nichtgewerblichen Fluchthelfern, da sich diese selbstlos für »die Wiederherstellung der Freizügigkeit und die Linderung menschlicher Not« eingesetzt und daher »besondere persönliche Opfer« erbracht hatten.58 Anders sah dies – dem Grundsatz nach – bei gewerblichen Fluchthelfern aus, wobei die Grauzone zwischen beiden Typen breit und die Erkenntnismöglichkeiten im Westen begrenzt waren. Im Zweifelsfall lief es wohl oft darauf hinaus, dass auch sie in die »Besonderen Bemühungen« aufge-
55 Detjen: Fluchthilfe, S. 254. 56 »1983 sechzehn Verurteilungen wegen Fluchthilfe in Ost-Berlin«. In: FAZ v. 3.1.1984. 57 Rauschning, Dietrich: Rechtsstellung Deutschlands. Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte: Atlantik-Charta, Potsdamer Abkommen, Deutschlandvertrag, Viermächteabkommen über Berlin, Transitabkommen, Moskauer Vertrag, Prager Vertrag, Grundvertrag mit der DDR, Stand: Juli 1985. München 1986, S. 104. 58 Wehner an Ehmke, 9.9.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 649.
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nommen wurden.59 Dem stand meist die »kategorische« Weigerung der DDR gegenüber, Fluchthelfer und Fluchtbeteiligte freizugeben.60 Seit 1972 stufte sie das MfS in der Regel als sog. »Z/T-Fälle« ein (Zurückstellung wegen Verstoßes gegen das Transitabkommen), sodass der Freikauf oder die Entlassung im Austauschwege oft erst nach mehrjähriger Haft erfolgte.61 Die beiden anderen Untergruppen, Fluchtversuche und Antragsteller, bildeten spätestens seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre den zahlenmäßig größten Anteil in dieser Hauptgruppe. Generell wurde bereits in den sechziger Jahren schätzungsweise die Hälfte aller politischen Urteile wegen »Republikflucht« gefällt.62 Die gesetzliche Grundlage bildeten § 8 des Passgesetzes aus dem Jahre 1957 und seit 1968 der § 213 (»ungesetzlicher Grenzübertritt«) des StGB. Die Festnahmen von »Republikflüchtigen« erfolgten dabei meist bei Fluchtversuchen über die Transitstrecken oder die Innerdeutsche Grenze, oftmals auch über sozialistische Drittstaaten wie die ČSSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Im Gegensatz zur Gruppe der Fluchtwilligen strebten die Antragsteller auf Ausreise danach, die DDR mit Zustimmung der Behörden zu verlassen. Die Ausreisebewegung nahm ihren Ausgangspunkt mit dem Inkrafttreten der KSZE-Dokumente und dem Beitritt der DDR zu den Vereinten Nationen. Fortan beriefen sich immer mehr Ausreisewillige auf die damit verbundenen Rechte, u. a. Artikel 132 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, laut dem jeder Mensch das Recht habe, »jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren«. Da die DDR die Dokumente jedoch nicht in innerstaatliches Recht überführte und erst 1983 mit der »Verordnung zur Familienzusammenführung« erstmals überhaupt ein Antragsrecht auf Ausreise festschrieb (das zudem auf einen sehr kleinen Personenkreis beschränkt blieb) wurden Ausreiseanträge im Regelfall als »rechts-« oder »gesetzeswidrig« zurückgewiesen.63 Die strafrechtliche Verfolgung beruhte daher meist auf Vorwürfen der »ungesetzlichen Verbindungsaufnahme« (§ 219 StGB), da die Betroffenen schriftlich oder mündlichen Kon59 Laut einer Mitteilung Wehners vom Oktober 1973 habe Jan Hoesch diesbezüglich angemerkt: »Wenn mich ein Fluchthelfer-Boß anruft, gewähre ich ihm Hilfe«, Wehner an Franke, 30.10.1973; HGWS, HF 45. 60 Stange an Wehner, 23.9.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 655. 61 Zum Austausch von Fluchthelfern siehe z. B. den Vorgang aus dem Jahr 1969 in: HGWS, HF 52. 62 Fricke: Politik und Justiz, S. 482; Mohr, Jürgen: Der Straftatbestand der »Republikflucht« im Recht der DDR. Hamburg 1971, S. 3. 63 Eisenfeld, Bernd: Die Verfolgung der Antragsteller auf Ausreise. In: Baumann, Ulrich; Kury, Helmut (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung: Opfer von SED-Unrecht. Freiburg i. Br. 1998, S. 117–136, hier 118 f.
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takt zu westlichen Einrichtungen und Organisationen aufgenommen hätten und um Unterstützung ihres Ausreisebegehrens gebeten hatten, darunter z. B. das ZDF-Magazin, die IGfM, aber auch das Bundeshaus in West-Berlin, das noch 1984 als »gerichtlich anerkannte Feindorganisation« galt.64 § 214 StGB, der die »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit« unter Strafe stellte, kam oftmals bei »Demonstrativhandlungen« zur Anwendung, etwa dann, wenn Ausreisewillige ihren Wunsch in öffentlichen Protesthandlungen oder durch das Zeigen einschlägiger Symbole kenntlich machten. Häufig genügte es bereits, ein Pappschild in Form eines »A« in ein Fenster zu hängen oder ähnliche Erkennungszeichen wie Wimpel oder Bänder öffentlich zu zeigen.65 Insgesamt wurden zwischen 1977 und 1988 rund 20 000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet, die größtenteils in Freiheitsstrafen mündeten.66 Die delikttypische Zusammensetzung der jeweiligen »Freikaufsjahrgänge« wandelte sich im Laufe der Jahre grundlegend. Die Entwicklung spiegelt sich in den Paragrafen wider, die dem Urteil zugrunde lagen.67 Während 1964/65 noch über zwei Drittel bzw. über die Hälfte aller Verurteilungen auf Paragrafen gründete, mit denen Spionage-, Oppositions- und Widerstandsdelikte im weitesten Sinne geahndet wurden, ging deren Anteil in den Jahren danach deutlich zurück. 1971 wurden noch circa 30 Prozent der freigekauften und in den Westen entlassenen politischen Häftlinge nach diesen Paragrafen verurteilt, bis Ende des Jahrzehnts hatte sich der Anteil auf circa 15 Prozent halbiert, um bis Ende der achtziger Jahre auf unter 10 Prozent abzusinken.
64 Schnell: Lindenhotel, S. 118. 65 Siehe z. B. den Fall eines Antragstellers aus dem Bezirk Potsdam, der ein Pappschild in Form eines »A« im Fenster seiner Wohnung angebracht hatte und daraufhin zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wurde. BStU, MfS, BV Potsdam, AU 1241/89, Bl. 13 sowie BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 3329/88, OV »Mazda«. 66 Eisenfeld: Verfolgung der Antragsteller, S. 131. 67 Eigene Zusammenstellung auf Basis der Befragungsergebnisse des DRK; Archiv des DRK, Suchdienst München, H 1421, H 1064, H 1057, H 1065, H 1066, H 1069 u. H 1070. Die Daten erfassen hauptsächlich nur die 1964 bis 1971 in den Westen entlassenen Häftlinge, über die in den Osten entlassenen lagen dem DRK nur unvollständige Informationen vor. Insofern geben die Auswertungen hauptsächlich einen Trend wieder. Verlässlich sind hingegen die statistischen Auswertungen des BMB im Zeitraum 1979 bis 1989 in: BArch-B, B 137/36058, die auf der Befragung der i. d. R. in den Westen entlassenen freigekauften Häftlinge beruhten. Die in den Befragungsprotokollen des DRK genannten Paragrafen lassen sich folgenden Delikttypen zuordnen: Widerstands-/Oppositionsdelikte i.w.S. (Art. 6 DDR-Verf.; §§ 13–20 u. 22–23 StEG/entsprechende §§ des StGB), Fluchtdelikte (§ 8 Paßgesetz/§ 213 StGB), Fluchthilfe (21 StEG/105 StGB) und Arbeitserziehung (§ 249 StGB). SMTHäftlinge, Fahnenfluchtdelikte einschließlich Verstößen gegen die militärische Disziplin sowie die Rubrik Sonstige wurden ohne Angabe des zugrunde liegenden Paragrafen ausgewiesen. Die Werte der Verurteilungen nach § 8 des Paßgesetzes/§ 213 StGB für die Jahre 1970 und 1971 beinhalten die Verurteilungen nach § 21 StEG/§ 105 StGB.
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Die gegenteilige Entwicklung zeigte sich in Bezug auf die Gruppe der wegen eines Fluchtversuches Verurteilten. Ihr Anteil lag in den Jahren 1964/65 bei circa 7 bis 10 Prozent, um 1969 mit rund 45 Prozent bereits nahezu die Hälfte aller Verurteilungen auszumachen. 1970 waren es bereits zwei Drittel aller freigekauften Häftlinge, bis Ende der siebziger Jahre stieg ihr Anteil schließlich auf über 70 Prozent an. Erst 1983 und 1984 sank der Anteil auf knapp 30 Prozent, da die Zahl der verhafteten Antragsteller auf Ausreise seit 1977 langsam angestiegen und 1984 die Grenze von 60 Prozent überschritten hatte. Erst 1986 kehrte sich dieser Trend um, bis 1989 erfolgten die meisten Verurteilungen wie schon vor 1983/84 aufgrund von Fluchtversuchen.68 Fluchthelfer waren besonders in den sechziger Jahren stark vertreten. In den Jahren 1964 bis 1968 lag ihr Anteil bei 9 bis 15 Prozent, danach sank er auf einen geringeren Anteil ab. Sonstige Deliktgruppen, darunter Fahnenflüchtige und Wehrdienstverweigerer, zur Arbeitserziehung wegen »Asozialen Verhaltens« Verurteilte und andere Sonderfälle befanden sich in nur geringem Umfang unter den freigekauften Häftlingen. Während der »typische« freigekaufte politische Häftling in den sechziger Jahren somit aufgrund eines Fluchthilfe-, Widerstands- oder Oppositionsdeliktes im weitesten Sinne inhaftiert war, lagen der Verurteilung in den siebziger und achtziger Jahren fast ausschließlich Flucht- und Ausreisedelikte zugrunde (siehe Darstellung 2 im Bildteil).
Kriminelle unter den Freigekauften »Viele Freigekaufte sind DDR-Kriminelle«, titelte die Bild-Zeitung im März 1982 und druckte wenig später eine Reportage über einen Mann ab, dessen Vater angeblich von einem zuvor freigekauften Häftling ermordet worden sei.69 Als ehrlicher Steuerzahler habe er damit sogar noch »für den Mörder [s]eines Vaters bezahlt«.70 Seit den frühen siebziger Jahren wartete die Boulevardpresse wiederholt mit derartigen Skandalgeschichten auf. Die Vorwürfe an die Bundesregierung, es mangele bei der Auswahl der Häftlinge an Sorgfalt, nahmen schließlich derart überhand, dass sich der Innerdeutsche Minister
68 Vgl. Tabelle A 4 »Verurteilungen im Zusammenhang mit Ausreise, 1977 bis 1989«, Stand 31.12.1989; Tabelle B 1 »Festnahmen ab 1979, Deutsche in der DDR, Stand 31.12.1989«; beide BArch-B, B 137/36058. 69 Hinz, Harry: »Viele Freigekaufte sind DDR-Kriminelle«. In: Bild v. 14.3.1982. 70 Loose, Hans-W.: »Ich habe für den Mörder meines Vaters bezahlt«. In: Bild am Sonntag v. 11.4.1982.
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Heinrich Windelen 1985 zu der öffentlichen Erklärung veranlasst sah, die Bundesregierung kaufe »keine Knackis« frei.71 Im Grundsätzlichen vertrat Bonn in dieser Frage von Beginn an eine klare Position. »Personen, die wegen krimineller Delikte inhaftiert sind«, heißt es in einer Aufzeichnung des Innerdeutschen Ministeriums von 1970, »können grundsätzlich nicht Gegenstand besonderer Bemühungen sein«. Schließlich bestand obendrein die Gefahr, dass kriminelle Häftlinge im Westen erneut straffällig werden und das Freikaufsprogramm in Verruf bringen könnten. Ausgehend von diesem Grundsatz hielt das Ministerium »eine differenzierte Betrachtung« des Einzelfalls für angebracht, wenn es sich um sogenannte Mischtatbestände handelte. Damit waren Inhaftierte gemeint, die zwar in der Vergangenheit wegen gewöhnlicher krimineller Vergehen verurteilt worden waren, gegenwärtig aber wegen eines politischen Deliktes einsaßen. In derartigen Fällen stünden kriminelle Vorstrafen hin und wieder »außer jedem Verhältnis« zu der aus politischen Gründen verhängten Freiheitsstrafe. Zu derartigen Vorstrafen von nur geringfügiger Bedeutung zählte das Ministerium beispielsweise Unterhaltsverletzungen und ähnliche Delikte, auch solche, die ihrem Charakter nach in der Grauzone zwischen politischen und kriminellen Vergehen angesiedelt waren, beispielsweise Verstöße gegen § 249 StGB der DDR (»Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten«). »In diesen Fällen«, so die Entscheidung des Ministeriums, sei »ein Absehen von besonderen Bemühungen nicht zu rechtfertigen«.72 Die Entscheidung sollte sich daher am Einzelfall orientieren. Tendenziell legte das Ministerium dabei immer strengere Kriterien an. Rehlinger berichtet, dass seit dem Regierungswechsel 1982 jeder Häftling, dessen Vergehen auch in der Bundesrepublik als strafbares Delikt gegolten hätte, grundsätzlich als Krimineller gewertet und eine Gegenleistung nicht erbracht worden sei.73 Seitens der DDR gab es nach offizieller Lesart zwar keinen Unterschied zwischen »kriminellen« und »politischen« Häftlingen. Insgeheim unterschied das MfS jedoch sehr wohl zwischen politischen und kriminellen Vergehen, besaß folglich ein Interesse daran, Häftlinge mit besagten Mischdelikten in den Westen abzuschieben. Möglich war dies durch die Einbeziehung der von der DDR vorgeschlagenen Häftlinge, die circa ein Drittel aller jährlich freigekauften Häftlinge stellten. Volpert notierte auf Abrechnungen für die Jahre 1969 und 1970, dass sich unter den von seiner Seite vorgeschlagenen insgesamt 200 bzw. 239 Mittätern auch solche befunden hätten, die »mehrfach wegen krimi71 Kallenbach, Karl-Heinz: »Windelen: Wir kaufen keine Knackis frei«. In: Rhein-NeckarZeitung v. 27.12.1985. 72 Vermerk Hoeschs, 3.12.1970; LArchB, B Rep. 002, Nr. 10756, Bl. 65. 73 Rehlinger: Freikauf, S. 110–113.
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neller Delikte einschlägig vorbestraft« seien, bzw. als »vorwiegend […] mit kriminellem Einschlag« einzustufen seien.74 Das Problem an sich war im Westen bekannt und eines der Hauptargumente der Gegner des Freikaufs. 1969 berichtete Vogel, Wehner habe ihn »beschworen – und das mehrfach – das Problem der Kriminellen durch faire Verhandlungen zu lösen«. Wehner werde »deswegen immer wieder angegangen, sogar im Bundestag und bei Parteiveranstaltungen«.75 Das Gesamt- bzw. Innerdeutsche Ministerium prüfte die Mittäter- bzw. Vorschlagslisten der DDR zwar gründlich darauf, ob zu den Personen Informationen über kriminelle Delikte vorlagen. Zudem befragten die Anwälte der Rechtsschutzstelle die Inhaftierten nach ihrer Ankunft in Gießen über etwaige kriminelle Vorstrafen. Gab der Betreffende eine oder gar mehrere Verurteilungen zu, wurde er zwar nicht zurückgeschickt, aber die Gegenleistung verweigert.76 Dass sich der Neuankömmling gegenüber Hilfsorganisationen oder amtlichen Stellen im Westen dennoch als freigekaufter politischer Häftling ausgab, entsprach zwar nicht der Wahrheit, war aber nicht zu verhindern. Generell waren die Möglichkeiten des Westens zur Überprüfung der Häftlinge wie auch im Falle der Betrugsfälle begrenzt durch die allgemeine Datenlage. 1972 sagte die DDR zu, kriminelle Vorstrafen auf ihren Vorschlagslisten anzugeben.77 Oftmals stellte sich nach der Befragung des Inhaftierten in Gießen jedoch heraus, dass die Angaben nicht vollständig waren.78 Auf Vorhalt verteidigte Vogel seine Seite damit, dass Vorstrafen angegeben würden, »soweit Erkenntnisse vorhanden« seien, da die Strafen in vielen Fällen bereits aus dem Strafregister getilgt gewesen seien.79 Tatsächlich gab es spätestens seit 1985 eine MfS-interne Richtlinie, Häftlinge mit Mischdelikten nicht auf die Vorschlagslisten zu setzen, außer die Strafen waren im Strafregister bereits gelöscht.80 Wie viele Häftlinge von den Vorschlagslisten der DDR kriminelle Vorstrafen hatten, diese jedoch bei der Befragung in Gießen nicht angaben und die Bundes74 Vermerk Volperts »Abrechung 1969«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 1 f.; Vermerk Volperts »Abrechnung H-Aktion 1970 (vorläufige)«; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18437, Bl. 41. In der Notiz sind »mehrfach Vorbestrafte wegen Vergehen nach § 213« und »mehrmals wegen Paßvergehen angefallen[e]« Personen gesondert genannt. 75 Vermerk Vogels, 1.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 621. 76 Siehe exemplarisch für die zahlreichen Streichungen den Schriftwechsel in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13650, Bl. 124 sowie den vom BMG angefertigten Vermerk »über die im Rahmen der Aktion 1968 entlassenen kriminellen Häftlinge« in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 23401, Bl. 67 f. und den Vermerk Rehlingers, 3.4.1969; BArch-K, B 137/19980, Bl. 41 (AS-DzD). 77 Stange an Vogel, 30.5.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 18030, Bl. 26–29. 78 Plewa an Vogel, 25.4.1986; BStU, MfS, ZKG, Nr. 9640, Bl. 16. 79 Vogel an Stange, 29.8.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 13661, Bl. 44 f. 80 Ausführungen Enkes auf der BKG-Leiter-Tagung am 31.7.1985; BStU, MfS, ZKG, Nr. 7300, Bl. 163.
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regierung aufgrund fehlender Erkenntnisse trotzdem eine Gegenleistung für sie erbrachte, bleibt ein Forschungsdesiderat.81
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Doppelte Gewalterfahrung und Befreiung? Die Perspektive der Inhaftierten
Während sich die delikttypische Zusammensetzung der Freikaufsjahrgänge, das statistische sowie das Deliktgruppen-Profil der freigekauften Häftlinge über die Jahrzehnte hinweg wandelten, gab es ein weitgehend konstantes Grundmuster, nach dem die Verhaftung, die Untersuchungs- sowie Strafhaft und die anschließende Ausreise in die Bundesrepublik abliefen. Abgesehen von jenen Häftlingen, die zwar vorzeitig, aber unfreiwillig oder ohne ihr Wissen in die DDR entlassen wurden, teilten fast alle Freigekauften zwei Erfahrungen. Erstens die doppelte Gewalterfahrung der Haft, dies sowohl im Sinne körperlicher Gefangenschaft als auch im Sinne der psychischen Tortur des unschuldig Eingesperrt- und Ausgeliefertseins. Zweitens verband sie die Erfahrung der Befreiung aus der Haft und die Rolle, die der Freikauf während der Haftzeit in ihrem Fühlen, Denken und Handeln gespielt hatte. Allerdings war die Entlassung aus der Haft sowie Ausreise in den Westen nicht für jeden auch eine Befreiung im doppelten, d. h. körperlichen und zugleich psychischen Sinne, denn die seelische Bewältigung der Hafterlebnisse ist für viele ehemals Inhaftierte ein bis in die Gegenwart andauernder, oft schmerzhafter Prozess. Wie erlebten die freigekauften politischen Häftlinge ihre Verhaftung und Haftzeit? Wie reagierten sie auf die doppelte Gewalteinwirkung und welche Rolle spielte der Freikauf im Strafvollzug? Wie gingen die Entlassung über die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und die Fahrt in das Notaufnahmelager in Gießen vonstatten? Schließlich: Wie erging es den Freigekauften im Westen, wie sah der Neubeginn in Freiheit aus?
Verhaftung, Stasi-U-Haft und Prozess Sofern die Verhaftung nicht »auf frischer Tat« bei einem Fluchtversuch erfolgte, ging der Verhaftung in der Regel eine umfassende konspirative Beobach81 Die zentrale Gefangenenkartei des MdI, auf der Freiheitsstrafen vermerkt sind, liegt seit Ende 2011 (teil-)digitalisiert im Bundesarchiv vor und konnte daher für die vorliegende Studie nicht mehr ausgewertet werden. Die Transportlisten und -Analysen der Bundesregierungen, die Angaben über geleistete Zahlungen enthalten, sind noch unter Verschluss bzw. aufgrund § 5 Bundesarchivgesetz nur eingeschränkt nutzbar.
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tung durch das MfS voraus. Nach Anordnung der Festnahme durch die HA IX des MfS fing ein spezielles Einsatzkommando den Betroffenen nach Möglichkeit an einem nicht-öffentlichen Ort, etwa seiner Privatwohnung oder der Arbeitsstelle ab und forderten ihn ohne nähere Begründung dazu auf, »zur Klärung eines Sachverhaltes« mitzukommen. Dahinter stand das Bestreben, den Vorgang nach außen möglichst unauffällig erscheinen zu lassen. Im unmittelbaren Anschluss an die Verhaftung wurde der Festgenommene in eine der MfS-Untersuchungshaftanstalten (UHA) gebracht.82 Insgesamt betrieb das MfS 17 hochgesicherte Untersuchungshaftanstalten dieser Art in eigener Regie, eine in jeder der 15 Bezirksstädte der DDR sowie zwei weitere in Berlin-Hohenschönhausen und Berlin-Lichtenberg.83 Im Zuge des dortigen Aufnahmeprozederes wurde der Festgenommene zum Gefangenen des MfS. Der Inhaftierte musste sich vollständig entkleiden, persönliche Gegenstände und die Kleidung wurden ihm abgenommen, anschließend sämtliche Körperöffnungen durchsucht.84 Danach wurde die Haftkleidung ausgehändigt, die seit den siebziger Jahren in der Regel aus einem blauen Trainingsanzug und Filzpantoffeln bestand.85 Abschließend erfolgte die erkennungsdienstliche Behandlung mit der Anfertigung von Fotos und der Abnahme von Fingerabdrücken, nach 1981 wurden auch Stimm- und Geruchskonserven angelegt.86 Mit dem Einschluss in die Zelle wurde der Gefangene vom Wachpersonal nicht mehr mit seinem Namen angesprochen, sondern nur noch mit 82 Beleites, Johannes: Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Schwerin. Schwerin 2001, S. 107. Zur MfS-Untersuchungshaft und Strafhaft siehe Passens, Katrin: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989. Berlin 2012; Raschka, Johannes; Kuhrt, Eberhard: Zwischen Überwachung und Repression. Politische Verfolgung in der DDR, 1971 bis 1989 (Am Ende des realen Sozialismus, Bd. 5). Opladen 2001; Beleites, Johannes: Der Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000, S. 433–466; Sélitrenny: Doppelte Überwachung; Schnell: Lindenhotel; Weinke: U-Haft am Elbhang. 83 Eine handliche Übersicht über die Untersuchungshaftanstalten des MfS und des MdI sowie ihre gegenwärtige Nutzung bietet Beleites, Johannes (Hg.): Ehemalige Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Berlin 2000. Vgl. Dölling, Birger: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung. Kriminalpolitik und Gefangenenprotest im letzten Jahr der DDR. Berlin 2009, S. 448–471. Zuständig für ihren Betrieb und die Verlegung von Untersuchungshäftlingen war die Hauptabteilung XIV des MfS. Beleites, Johannes: Abteilung XIV: Haftvollzug (MfSHandbuch, III/9). Hg. BStU. Berlin 2004. 84 Derartige Untersuchungen finden auch im heutigen Strafvollzug statt: Becker, Hubertus: Ritual Knast. Die Niederlage des Gefängnisses. Eine Bestandsaufnahme. Leipzig 2008, S. 60. 85 Weinke, Annette; Hacke, Gerald: U-Haft am Elbhang. Die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Dresden 1945 bis 1989/1990. Dresden 2004, S. 95. 86 Beleites: Demmlerplatz, S. 108; Henke: Hauptabteilung XX, S. 73; Schmidt: Sicherung der politischen Grundlagen, S. 625.
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der Nummer der Zelle, mit der er sich umgekehrt gegenüber dem Wachpersonal melden musste.87 Die Verhaftung und das daran anschließende Aufnahmeprozedere war für alle Betroffenen eine psychische Extremsituation. Spätestens nach dem Einschluss in die (Einzel-)zelle erlitten viele einen Schock, der umso stärker war, je weniger sie mit der Verhaftung gerechnet hatten.88 In fast allen Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge kommt überdeutlich zum Ausdruck, dass die Verhaftung als biografische Zäsur empfunden wurde, die das Leben in ein Davor und ein Danach teilte. Ehemalige Häftlinge schildern die Situation: »Die ersten Minuten in der Einzelzelle waren für mich so, als wäre ich gerade aus einer Narkose erwacht. Ich konnte immer noch nicht zwischen schlechtem Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich mein Leben drastisch verändert. Es war etwas passiert, das nie hätte passieren dürfen«89 – »Schlagartig mit dem Geräusch des Zufallens und Zuschließens der Türen wurde mir meine Situation überdeutlich bewusst. […] Völlige Verzweiflung überfiel mich, mit einem Weinkrampf lag ich auf der Pritsche …«90
Viele erinnern sich an Suizidgedanken: »Ich setze mich aufrecht hin, die Hände beide auf dem kleinen Tisch. Und weine – weine – weine [...] Dann beginne ich zu überlegen, womit ich mich umbringen kann.«91 Das MfS unterwarf die Insassen seiner Untersuchungshaftanstalten einem besonderen Kontrollregime. Die Legitimation für dieses Vorgehen leitete die Geheimpolizei dem Grunde nach aus einer Idee ab, für die der Strafrechtslehrer Günther Jakobs 1985 den Begriff des »Feindstrafrechts« geprägt hat. Er bezeichnet im Kern ein Strafrecht, das von rechtsstaatlichen Bindungen abgelöst ist und die Anwendung besonderer, sonst unzulässiger Methoden erlaubt, weil die Straftäter durch die Gefährlichkeit ihrer Handlungen den Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren verwirkt hätten.92 Die Besonderheit der MfS-Untersuchungshaft kam in drei Prinzipien zum Ausdruck. Erstens eine permanente Überwachung der Inhaftierten, u. a. durch eine regelmäßige Zellenkontrolle im 10- oder 15-Minutentakt, sowie ein 87 Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 73. 88 Veith, Ines: Wo ist Dirk? Entführt von der Stasi – eine Frau kämpft um ihr Kind. 2. Aufl., München 1991, S. 132; vgl. dagegen den Fall Werner Gruhn in: Ansorg: Brandenburg, S. 208. 89 Kessler: Stasi-Knast, S. 99. 90 Lolland, Jörg; Rödiger, Frank S.; Lolland-Rödiger: Gesicht zur Wand! Berichte und Protokolle politischer Häftlinge der DDR. Stuttgart-Degerloch 1977, S. 36 u. 106; vgl. ferner Welsch: Staatsfeind Nr. 1, S. 27; Österreich, Tina: Ich war RF. Ein Bericht. Stuttgart 1977, S. 11. 91 Thiemann, Ellen: Stell dich mit den Schergen gut. Erinnerungen an die DDR. Meine Wiederbegegnung mit dem Zuchthaus Hoheneck. München 1990, S. 27. 92 Tagungsbericht Stasi-Untersuchungshaft – Forschung und Gedenken. 27.10.2010–28.10.2010, Potsdam. In: H-Soz-u-Kult, 16.12.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3438.
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strenges Haftreglement, das dem Häftling faktisch keine Privatsphäre ließ. Zweitens die Desorientierung des Häftlings dadurch, dass ihm oftmals nicht gesagt wurde, an welchem Ort er sich befand. Das dritte Prinzip, die Isolation gegenüber der Außenwelt und Mithäftlingen, manifestierte sich hauptsächlich in der Methode der »sensorischen Deprivation«, der gezielten Vorenthaltung von Sinneseindrücken, oft durch tage- oder gar wochenlange Einzelhaft und dem Verbot sinnvoller Beschäftigung.93 Die Isolation sollte den Häftling psychisch zermürben und sein natürliches Kommunikationsbedürfnis auf den Vernehmer lenken: »Das Schlimmste ist, dass nichts mehr passiert. Kein Buch, nichts zu schreiben, niemand, mit dem ich reden könnte. Selbst ein Verhör wäre mir jetzt lieber als dieses endlose Warten.«94 Der 1976 freigekaufte Bernd Pieper war davon überzeugt, »dass die schlimmste denkbare Folter darin bestand, einen Menschen mit sich und seinen Ängsten allein zu lassen«.95 Letztlich diente all dies dem Zweck, den Inhaftierten möglichst rasch zu einem umfassenden Geständnis zu bewegen. Während es noch bis in die sechziger und teilweise siebziger Jahre zu körperlichen Misshandlungen bei den Verhören kam, waren diese für die achtziger Jahre für gewöhnlich ausgeschlossen.96 Indes wurden alle Häftlinge Opfer der mal mehr, mal weniger subtilen psychischen Gewaltanwendung. Dazu gehörten Drohungen, dass sich die Untersuchungshaft ohne Geständnis auf unbestimmte Zeit verlängern würde, ferner Angebote der Strafminderung bei der Preisgabe der Namen von Mittätern und nicht zuletzt die Androhung, Angehörige zu verhaften oder Kinder in staatliche Heime einzuweisen.97 Rechtsbeistand während den Vernehmungen wurde den Häftlingen grundsätzlich verweigert. Es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall, in dem ein Anwalt bei einer Vernehmung durch das MfS zugegen war.98 In der Regel konnten die Inhaftierten erst nach Abschluss des Verfahrens ihren Anwalt sprechen, den sie aus einem Anwaltsverzeichnis auswählen konnten. Der Handlungsspielraum der Anwälte beschränkte sich jedoch meist auf die seelische und soziale Betreuung des Mandanten.99 93 Beleites: Demmlerplatz, S. 111 u. 231. 94 Neumann: Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit, S. 115. 95 Pieper: Cottbus, S. 36; vgl. Piesiur, Rudolf: Ich bin ein Spion und weiß es nicht. Als angeblicher Geheimagent im Stasi-Knast Gera (1977/78). Erfurt 2000, S. 13. 96 Fricke, Karl Wilhelm: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR. 2., ergänzte Aufl., Köln 1988, S. 46. 97 Fricke: Menschen- und Grundrechtssituation, S. 44; vgl. Veith: Wo ist Dirk, S. 210. 98 Tagungsbericht Stasi-Untersuchungshaft – Forschung und Gedenken. 27.10.2010–28.10.2010, Potsdam. In: H-Soz-u-Kult, 16.12.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3438. 99 Interview Felix Busse mit Wolfgang Vogel, 12./13.9.2007, S. 10; Archiv des Deutschen Anwaltvereins.
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Oftmals erfuhren die Inhaftierten in der Untersuchungshaft erstmals davon, dass die Bundesregierung politische Häftlinge freikaufte. In den sechziger Jahren war Rechtsanwalt Vogel noch ein »Geheimtipp«, der sich in den UHaftanstalten allmählich über Klopfzeichen verbreitete. Je bekannter Vogel wurde, umso häufiger wählten ihn die Inhaftierten zu ihrem Anwalt, wodurch sein Name unter Ausreise- und Fluchtwilligen zu einem »Synonym für Hoffnung« wurde.100 Sofern der Fall im Westen noch nicht bekannt war, gab Vogel den Namen des Mandanten an die Rechtsschutzstelle weiter und bat um eine Vormerkung für seine spätere Einbeziehung in die »Besonderen Bemühungen« der Bundesregierung. Am Ende des Untersuchungsverfahrens (Ermittlungsverfahrens) fertigten die Vernehmer der HA IX einen zusammenfassenden Abschlussbericht an und leiteten ihn an die Staatsanwaltschaften am jeweils zuständigen Gericht weiter. Im Rahmen des »politisch-operativen Zusammenwirkens« zwischen dem MfS und den Staatsanwaltschaften erhoben die Staatsanwälte der jeweiligen Abteilungen Ia die Anklage. Dass das MfS auch im Strafverfahren im wahrsten Sinne des Wortes federführend blieb, zeigt der Befund, dass die Anklageschriften häufig über weite Strecken wortwörtlich dem Abschlussbericht des MfS entnommen waren und sich die Staatsanwälte dem Strafvorschlag des MfS anschlossen.101 Folglich nahmen die Gerichtsverhandlungen durchweg die Form einer Inszenierung an und ließen nur selten Raum für eine ergebnisoffene Verhandlung über den Tatvorwurf. Außer im Falle von Schauprozessen fanden die Prozesse hinter verschlossenen Türen statt. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, um die Option des späteren Verkaufs des Angeklagten bereits in diesem Stadium zu konspirieren. Die »absehbare Möglichkeit des legalen Verzuges des Beschuldigten in die BRD«, so eine Festlegung der HA IX des MfS aus dem Jahr 1972, stehe einer »Mitwirkung der Bürger am Strafverfahren« entgegen und rechtfertige daher den Ausschluss der Öffentlichkeit.102 Die Richter in den zuständigen Strafsenaten folgten in ihrem Urteilsspruch in der Regel den Anträgen der Staatsanwaltschaft und damit der Vorgabe des
100 Kessler: Stasi-Knast, S. 103. Weitere Beispiele in: Jablonski: »Verhören bis zum Geständnis«, S. 152; Neumann: Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit, S. 132; Franke, Uta: Sand im Getriebe. Die Geschichte der Leipziger Oppositionsgruppe um Heinrich Saar 1977 bis 1983. Leipzig 2008, S. 196 f.; Lolland; Rödiger: Gesicht zur Wand, S. 114. 101 Werkentin: Strafjustiz, S. 313–316. 102 Problem Öffentlichkeitsarbeit in EV der HA IX/9, 22.8.1972; BStU, MfS, HA IX, Nr. 2137, Bl. 62. Die HA IX/9 war seit Mitte/Ende der sechziger Jahre für die Bekämpfung von »staatsfeindlichem Menschenhandel«, d. h. der Fluchthilfe zuständig. Selitrenny: Doppelte Überwachung, S. 211.
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MfS.103 Gegen dieses Zusammenspiel zwischen MfS, Staatsanwälten und Richtern waren die Verteidiger machtlos, wenn sie nicht ohnehin als IM für das MfS arbeiteten. Doch selbst dann, wenn sich Anwälte nach besten Kräften für ihre Mandanten einsetzten, lag eine Bewährungsstrafe oder gar ein Revisionsverfahren oft gar nicht im Interesse ihrer Mandanten, da viele bereits auf ihren Freikauf hofften. In derartigen Fällen riet ihnen der Anwalt meist, sich im Prozess und später im Strafvollzug möglichst ruhig und unauffällig zu verhalten, um den Freikauf nicht zu gefährden.104
Im Strafvollzug Mit der Verkündung des Urteils war das Ermittlungsverfahren des MfS abgeschlossen, im Regelfall folgte darauf die Verlegung in den Strafvollzug. Da es offiziell keine politisch motivierten Strafurteile gab und politische Häftlinge daher als kriminelle Verbrecher galten, gab es im Grundsatz auch keinen gesonderten Strafvollzug für politische Häftlinge. Folglich mussten sie ihre Strafe zusammen mit gewöhnlichen Kriminellen in einer der insgesamt 38 Strafvollzugseinrichtungen der DDR antreten, die dem Ministerium des Innern unterstanden.105 Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der DDR-Forschung, dass es selbst mehr als 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution nur wenige Einzelstudien gibt, die verlässliche Angaben über die Zahl der politischen Häftlinge in den einzelnen Strafvollzugseinrichtungen machen und deren Bedeutung im System des Häftlingsfreikaufs beschreiben. Lediglich zu Brandenburg, Bautzen II sowie dem Militärgefängnis in Schwedt/Oder liegen inzwischen Monografien
103 Werkentin: Strafjustiz, S. 313. 104 Kessler: Stasi-Knast, S. 124; Jauch, Anke: Die Stasi packt zu. Freiheitsberaubung 1980. Frankfurt/M. 2006, S. 86, berichtet über die sinngemäßen, aufmunternden Worte ihres Anwaltes Lothar Jarosch, ein Untervertreter Vogels: »Kindchen, ich weiß ganz genau, was ihr wollt, bleibt ganz ruhig, alles wird gut«. 105 Siehe die tabellarische Übersicht mit Stand 1989 in: Dölling, Birger: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung. Kriminalpolitik und Gefangenenprotest im letzten Jahr der DDR. Berlin 2009, S. 448–471. Zum politischen Strafvollzug vgl. Wunschik, Tobias: Der DDR-Strafvollzug unter dem Einfluß der Staatssicherheit in den siebziger und achtziger Jahren. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000, S. 467–494; Ders.: Der politische Strafvollzug der DDR. Ein »deutscher Sonderweg« im »Jahrhundert der Lager«? In: Klewin, Silke (Hg.): Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Leipzig 2010, S. 193–217; Raschka: Zwischen Überwachung und Repression; Sonntag, Marcus: Die Arbeitslager in der DDR. Essen 2011.
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vor.106 Möglicherweise liegt dies an ihrer jeweiligen Sonderstellung: Brandenburg war mit einer Kapazität zwischen 1 900 und 2 500 Haftplätzen das mit Abstand größte Gefängnis der DDR und besonders in den fünfziger und sechziger Jahren waren dort viele politische Häftlinge inhaftiert;107 die Sonderhaftanstalt Bautzen II steht wegen des hohen Anteils an besonders hart bestraften politischen Häftlingen – 1979 z. B. stellten sie zwei Drittel aller Insassen – »im kollektiven Gedächtnis der Ost- wie Westdeutschen« bis heute »synonym für die Repression der SED-Diktatur«.108 Der »Armeeknast« in Schwedt schließlich war durch die beinahe sprichwörtliche Redensart »Ab nach Schwedt!« jedem Wehrpflichtigen in der DDR ein Begriff.109 Für den Strafvollzug an politischen Häftlingen zwischen Mauerbau und Mauerfall sind die drei Gefängnisse jedoch nicht repräsentativ, da die meisten politischen Häftlinge andernorts inhaftiert waren.110 Wohin die Verurteilten kamen, richtete sich zunächst nach dem Geschlecht und dem Strafmaß.111 Für volljährige, weibliche Strafgefangene gab es mit Stand 1989 vier Strafvollzugseinrichtungen: Die 1888 als »Weiberzuchthaus« eröffnete Burg Hoheneck in Stollberg/Erzgebirge sowie je ein Gefängnis in Leipzig, Halle und Dessau.112 Die anderen Strafvollzugseinrichtungen waren entweder männlichen Strafgefangenen vorbehalten oder sahen eine gemischte Unterbringung vor.113 Ferner gab es eine Unterscheidung zwischen »allgemeinem« und »strengem« Vollzug sowie nach der Strafhöhe. Lag das Strafmaß über fünf Jahren, war meist eine Unterbringung in den Strafvollzugseinrichtungen in Brandenburg/Havel oder Bautzen I vorgesehen, hingegen nahmen andere Gefängnisse nur Häftlinge mit niedrigeren Strafen auf.114 106 Ansorg: Brandenburg; Fricke; Klewin: Bautzen II; Wenzke, Rüdiger: Ab nach Schwedt! Die Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs. Berlin 2011. Zu Cottbus liegt inzwischen vor: Alisch, Steffen: Strafvollzug im SED-Staat. Das Beispiel Cottbus. Frankfurt/M. 2014; im Entstehen befindet sich die Studie von Lindner, Sebastian: Die Strafvollzugsanstalt Hoheneck. Das zentrale Frauengefängnis der DDR 1950–1989/1990. 107 Dölling: Strafvollzug, S. 457. 108 Fricke; Klewin: Bautzen II, S. 9; Hattig, Susanne: Stasi-Gefängnis Bautzen II: 1956–1989. Katalog zur Ausstellung der Gedenkstätte Bautzen. Dresden 2008, S. 47. 109 Wenzke: Schwedt, S. 9. 110 Wenzke: Schwedt, S. 262 f., nennt die Aussage eines 1969 in den Westen gekommenen Insassen, der von ca. 35 % politisch Inhaftierten in Schwedt spricht, »exakt«, räumt jedoch im nächsten Absatz ein, dass wegen fehlender DDR-Quellen bis heute keine verlässlichen Aussagen über die politische Zusammensetzung möglich seien. 111 § 11 Strafvollzugsgesetz (StVG) v. 7.4.1977. Ferner gab es die Trennung zwischen Erstbestraften und Rückfalltätern sowie Jugend- und Erwachsenenstrafvollzug. 112 Dölling: Strafvollzug, S. 460, 464, 466 u. 468. 113 Bautzen II, Jugendhaus Hohenleuben, Haftkrankenhäuser Waldheim und Leipzig; ebenda, S. 466 u. 468. 114 Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 109–112.
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Darüber hinaus beeinflussten die angebliche »Gefährlichkeit« des Inhaftierten und der Delikttyp die Wahl des Haftortes. Für Militärstrafsachen war die Strafvollzugseinrichtung in Schwedt/Oder reserviert, in der Sonderhaftanstalt Bautzen II wurden »alle rechtskräftig verurteilten weiblichen Personen aus dem NSW [nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet]« sowie jene Personen festgesetzt, die »während der Strafverbüßung […] besonders abgesichert, unter intensiver Kontrolle gehalten oder weiter operativ bearbeitet« werden sollten.115 Das betraf schwerpunktmäßig die besonders schweren Deliktgruppen wie Fluchthelfer, tatsächliche oder vermeintliche Spione oder Personen, die Kenntnis von Staatsgeheimnissen oder »Arbeitsmethoden des MfS« erlangt hatten.116 Trotz des gemeinsamen Strafvollzugs mit kriminellen Häftlingen gab es dennoch »politische Gefängnisse« mit einer hohen Anzahl, zum Teil sogar einer Mehrheit an politischen Häftlingen. In den frühen sechziger Jahren saßen in Brandenburg vermutlich die meisten der später freigekauften Häftlinge ein, da sich der Freikauf zunächst auf die Zielgruppe der »Langstrafer« mit Strafen über fünf Jahren konzentrierte.117 Mit der Abnahme der Zahl der »Langstrafer«, der Ausdehnung des Freikaufs auf »Kurzstrafer« und dem Anstieg der Zahl weiblicher freigekaufter Häftlinge in den siebziger Jahren verschoben sich allmählich die Gewichte. Mehrere Quellenbelege sprechen dafür, dass seit Ende der sechziger Jahre der größte Teil der später Freigekauften in Cottbus (Männer) bzw. in Hoheneck (Frauen) inhaftiert war.118 In einem MfS-Papier heißt es dazu, dass in Cottbus und Hoheneck Strafgefangene »konzentriert« seien, in denen das MfS das Ermittlungsverfahren geführt habe und die Verurteilung nach § 213 (»ungesetzliches Verlassen«) erfolgt sei.119 Die These Tomas Kittans, dass das Gefängnis in Cottbus ein »politisches Zuchthaus« par excellence war, mithin »zum wichtigsten Freikauf-Gefängnis der 115 Anweisung zur Sicherung der politisch-operativen Aufgaben der HA IX in der StVE Bautzen II v. 16.3.1976, abgedruckt in: Fricke; Klewin: Bautzen II, S. 259–264, hier 260. 116 Fricke; Klewin: Bautzen II, S. 260. 117 Siehe Kap. III. 118 Eine Aufschlüsselung aller Verlegungen aus der MfS-UHA Halle in die verschiedenen Strafvollzugseinrichtungen der DDR zwischen 1971 und 1989 zeigt, dass 58 % aller weiblichen Abgeurteilten aus Halle nach Hoheneck und rd. 45 % aller männlichen nach Cottbus kamen. Scherrieble, Joachim: Der Rote Ochse, Halle (Saale). Politische Justiz 1933–1945; 1945–1989. Berlin 2008, S. 502. 119 Vermerk Übersiedlungsersuchen Strafgefangener nach dem kapitalistischen Ausland, Stichtag 30.6.1987; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13996, Bl. 27 f. Dieser Befund deckt sich mit einer Analyse der Abt. XIV des MfS zur »Häftlingsaktion« des Jahres 1970. Darin heißt es, die Genossen der Bezirksverwaltung Cottbus hätten »mit die größte Anzahl von Strafgefangenen« in das zentrale Abschiebegefängnis nach Karl-Marx-Stadt überführt, Analyse »Aktion« 1970; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 245. Möglich ist indes, dass eine nicht geringe Zahl der besagten Häftlinge in der StVE Schwarze Pumpe inhaftiert war, die ebenfalls im Bezirk Cottbus lag.
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DDR« avancierte, ist demnach zutreffend.120 Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurden die StVE Cottbus und Hoheneck hinsichtlich der Zahlen der inhaftierten und später freigekauften politischen Häftlinge von den Gefängnissen in Naumburg (Männer) und Hohenleuben (Frauen) übertroffen.121 Nach der Überführung in den Strafvollzug und einer neuerlichen Aufnahmeprozedur wurden die Häftlinge einem »Erziehungsbereich« in ihrem jeweiligen Gefängnis zugewiesen und bekamen ihre Haftkleidung ausgehändigt. In Cottbus bestand sie aus blau-weiß gestreiften Hemden und Anzügen aus alten NVA-Uniformen. Zur besseren Sichtbarkeit des Häftlings im Falle eines Fluchtversuchs und als Zielmarkierungen waren gelbe Streifen auf Rücken, Ärmel und Hosenbeine aufgenäht, weshalb die Montur unter den Gefangenen den Spitznamen »Kartoffelkäferanzug« trug.122 Überhaupt waren der Männerund Frauenstrafvollzug straff nach militärischen Regeln durchorganisiert. Gegenüber dem Wachpersonal war mit der Bezeichnung »Strafgefangene(r)« und dem Nachnamen »Meldung« zu erstatten, der Tagesablauf folgte einem genau festgelegten Zeitplan und Verstöße gegen die Hausordnung wurden mit teils drakonischen Disziplinarstrafen geahndet.123 Die materiellen Haftbedingungen verbesserten sich zwar im Laufe der Jahre, doch blieben sie durchweg mangelhaft. Sie reichten von der steten Überbelegung der Gemeinschaftszellen – oft waren zehn bis 20 Personen auf 20 m² untergebracht124 – über durchweg mangelhafte hygienische Zustände bis hin zu einer unzureichenden medizinischen Versorgung, die die Leiden der gesundheitlich angeschlagenen Gefangenen bestenfalls linderte, wenn nicht sogar durch falsche Behandlung oft noch verschlimmerte. Die Ernährung war eintönig, vitaminarm und bestand in der Regel aus minderwertigen, teils verdorbenen Lebensmitteln.125 Eine beklemmende Geräuschs- und Geruchskulisse 120 Kittan: Zuchthaus Cottbus, S. 29. Auch Erinnerungsberichte sprechen für die absolut und relativ hohe Zahl politischer Häftlinge in Cottbus. Siehe z. B. Schmidt-Pohl, Jürgen: Strahlungen in dunkler Zeit. Glaubenserfahrungen aus Haft und Diktatur 1945–1989. Gedichte und Prosatexte. Schwerin 2003, S. 139: Cottbus sei 1968 durch die Ereignisse des Prager Frühlings »eine fast rein politische Strafanstalt geworden«. 121 Tabellen »Strafvollzug in der DDR – Deutsche aus der DDR, einbezogen in H-Aktion«, Belegungsstärken für 1986 und 1987; BArch-B, B 137/36058. 122 Skribanowitz, Gert: »Feindlich eingestellt!«: Vom Prager Frühling ins deutsche Zuchthaus. Sindelfingen 1991, S. 69. 123 Siehe die Schilderungen in: Koch, Petra: Menschenwege. Politisch inhaftiert auf Burg Hoheneck. Eine wahre Geschichte. Berlin 2002, S. 104; Kessler: Stasi-Knast, S. 166; Thiemann: Schergen, S. 165. 124 Raschka, Johannes; Kuhrt, Eberhard: Zwischen Überwachung und Repression. Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989. Opladen 2001, S. 110 f. 125 Fricke: Menschen- und Grundrechtssituation, S. 70.
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verschärfte die Haftbedingungen zusätzlich, beispielsweise das »Schlüsseln«, Türenknallen und die Gerüche, die ein ehemaliger Häftling als »ätzende«, »penetrante Mischung aus Schweiß, Bohnerwachs und Desinfektionsmittel« beschreibt.126 Offiziell bestand der Zweck des Strafvollzugs in der »Erziehung durch gesellschaftlich nützliche Arbeit«.127 Der Gefangene sollte »künftig die Gesetze des sozialistischen Staates« einhalten und sein Leben »verantwortungsbewußt […] gestalten«.128 Indes konterkarierte die Aussicht auf einen baldigen Freikauf das hehre Ziel der »Erziehung«. Die »gesellschaftlich nützliche Arbeit« entpuppte sich in der Praxis als Haftzwangsarbeit. Akkordarbeit im Schichtbetrieb bei schier unerreichbar hohen Arbeitsnormen, unzureichende oder fehlende Schutzvorrichtungen und direkter Kontakt mit gesundheitsgefährlichen Stoffen waren dabei die Regel. Zwar erhielten die Inhaftierten eine Entlohnung, doch betrug sie nur einen Bruchteil des von ihnen erarbeiteten Mehrwerts.129 Als besonders demütigend empfanden es manche Häftlinge, wenn sie nach ihrem Freikauf auf von ihnen in Zwangsarbeit produzierte Waren stießen, die im Westen zum Verkauf angeboten wurden.130 Tiefer als die materiellen gruben sich dagegen die sozialen Haftbedingungen in die Psyche der Häftlinge ein. Die »Häftlingsgesellschaft« im »Mikrokosmos Knast« war (und ist) eine Parallelwelt mit ihren ganz eigenen Gesetzen. Zum einen ebnete die Zwangsgemeinschaft sämtliche, im Zivilleben gültigen sozialen Unterschiede wie z. B. Alter oder Bildungsgrad ein und schuf eine strenge Hierarchie, an deren Spitze die kriminellen und am unteren Ende die politischen Häftlinge standen. Besonders in jenen Haftanstalten, in denen nur wenige »Politische« einsaßen, waren sie aus der Sicht des Wachpersonals »noch 126 Storck: Karierte Wolken, S. 117. Für die Haftbedingungen der sechziger Jahre siehe Müller, Jörg: Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR: Sachsen in der Ära Ulbricht. Göttingen 2012, S. 287–322. 127 § 6 StVG v. 7.4.1977. 128 § 2 StVG v. 7.4.1977. 129 Bastian, Uwe; Neubert, Hildigund: Schamlos ausgebeutet. Das System der Haftzwangsarbeit politischer Gefangener des SED-Staates. Berlin 2003; Mäder, Werner: Entschädigung für rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehung und Haftzwangsarbeit von Opfern politischer Verfolgung durch das SED-Unrechtsregime: Rechtsgutachten. Schwerin 2003; Schmidt-Pohl, Jürgen; Nolte, Ernst: DDRHaftzwangsarbeit politischer Gefangener. Dokumentation mit den Materialien der Tagung für die Entschädigung politischer DDR-Haftzwangsarbeit, 10/11.5.2002 in Schwerin. Schwerin 2003. Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 172 u. 300 ff. sowie Schmidt, Karin: Zur Frage der Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Die »Pflicht zur Arbeit« im Arbeiter- und Bauernstaat. Hildesheim 2011. 130 Siehe das Bsp. in: Schmidt, Helmuth; Weischer, Heinz; Biermann, Wolf: Zorn und Trauer. Als politischer Gefangener in Zuchthäusern der DDR. Essen 2006, S. 195. Zur Haftzwangsarbeit und insbesondere zur Rolle westlicher Firmen vgl. die Studie von Wunschik, Tobias: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970– 1989). Göttingen 2014.
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viel, viel weniger [wert] als der allerletzte Dreck, viel weniger als der schlimmste Kriminelle«.131 Auch für den »politischen Knast« Cottbus sind zahllose Erniedrigungen durch das Wachpersonal bezeugt, vulgäre Schmähungen wie »Jeder Kinderficker ist uns lieber als ein Politischer« oder »Ihr seid der Abschaum der DDR«.132 Die Solidarität der politischen Häftlinge untereinander wurde häufig zur wichtigen Überlebensstrategie und diente zugleich dem Schutz vor Übergriffen der Kriminellen. Ansonsten blieben den politischen Häftlingen nur wenige Möglichkeiten, um sich einen Rest an Würde zu bewahren. Besonders die Sprache diente als Ventil. Peter Hampe, inhaftiert von 1965 bis 1967, erinnert sich: »Da uns die Wachmänner durchweg namentlich nicht bekannt waren, erhielten sie von uns meist komische, aber treffende Spitznamen. ›Säbelbein‹ hieß einer mit auffällig dünnen Beinen. Einen korpulenten Vollzugsangestellten nannten wir ›Sparschwein‹, einen mit etwas eigentümlich schwankenden Gang ›Segelschiff‹, ein anderer, der uns fortwährend antrieb, war der ›Avanti‹.«133
Widerstand war sonst fast nur auf subtile Art möglich, etwa durch »kleine Nachlässigkeiten« oder eine betonte Langsamkeit in allen Tätigkeiten, auch bei der Erfüllung der Arbeitsnorm.134 Spätestens seit den siebziger Jahren war der Freikauf schlechthin das »Thema Nr. 1« unter den politischen Häftlingen. Die Hoffnung auf eine Abschiebung in die Bundesrepublik grenzte sie zugleich von den kriminellen Häftlingen ab, denen dieser Weg versperrt blieb. Der Neid der Kriminellen auf die Politischen entlud sich nicht selten in Gewaltanwendung.135 Die Existenz des Freikaufs bestärkte die politischen Häftlinge aber darin, dass sie zu Unrecht inhaftiert waren. Ein freigekaufter Häftling, der im September 1978 in Gießen eintraf, schrieb wenig später in einem Dankesbrief an Herbert Wehner: »Für die politischen Gefangenen in der DDR ist die Gewissheit der Hilfe durch die Bundesregierung von großer Wichtigkeit, da sie dazu führt, dass sich diese moralisch gegen die Vergewaltigung durch die Staatsmaschinerie der DDR behaupten.«136 Sämtliche Erinnerungsberichte Freigekaufter thematisieren die Hoffnung, die sie mit den regelmäßigen »Transporten« aus der Haftanstalt nach Karl131 Richter: Brandenburg, S. 61. 132 Kittan: Cottbus, S. 46. 133 Hampe: Absurdistan, S. 148. 134 Lolland; Rödiger: Gesicht zur Wand, S. 52; Franke: Sand im Getriebe, S. 207 u. 228. 135 Koch: Menschenwege, S. 117; Thiemann: Schergen, S. 161; Richter: Brandenburg, S. 498; Garve: unter Mördern, S. 32. 136 Brief an Wehner, 16.10.1978; AdSD, NL Wehner, AK-DDR, Mappe 13, FBS 366.
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Marx-Stadt verbanden. Sie waren ihr »Lebenselixier«137, das »Sesam öffne Dich in den Westen«,138 Gegenstand ihrer Träume, die einzige Perspektive, dem ohnmächtigen Ausgeliefertsein in der Haft zu entkommen und nicht zuletzt die einzige Hoffnung darauf, nicht wieder in die DDR zurück zu müssen. Zugleich blieb der genaue Ablauf des Verfahrens nebulös und unberechenbar: »Was genau sein würde, wie der Freikauf funktionierte, das konnte kein Mithäftling sagen. […] Also wartete man auf diesen Freikauf, den Transfer in den Westen mit einer ähnlichen Ungewissheit, mit der man auf das Sterben wartete. Man ahnte, wie es vor sich ging, aber was danach kam, wusste keiner.«139
Das Warten auf den nächsten »Transport« und die bohrende Frage, ob man dabei sein würde, geriet für jeden politischen Häftling zu einer emotionalen Berg- und Talfahrt zwischen unbändiger Freude auf der einen und dem psychischen Zusammenbruch auf der anderen Seite. »Es war wohl während der Haft überhaupt mit das Schlimmste«, beschreibt ein ehemaliger Häftling seine Gemütsverfassung, »die Unsicherheit, die vom ersten bis zum letzten Tag der Haft in irgendeiner Form immer vorhanden war«.140 Umso enttäuschter und verbitterter reagierten diejenigen, die auf einen »Transport« gehofft hatten, deren Name aber nicht aufgerufen wurde, wenn Inhaftierte zwecks einer Verlegung aufgerufen wurden. Angst vor dem Vergessenwerden und einem plötzlichen »Stopp« des Freikaufs, aber auch Wut über die Ungleichbehandlung, sofern Häftlinge mit niedrigeren Strafen noch vor den höher Bestraften »auf Transport« gingen, waren die Folge.141 Dabei befanden sich die Inhaftierten in einem Dilemma zwischen Gefühl und Verstand: Einerseits war die Haft ohne Hoffnung auf die »Transporte« emotional kaum auszuhalten, andererseits gebot die Ratio, den Knastgerüchten und selbst den eigenen, insgeheim gehegten Hoffnungen zu misstrauen, um nicht ins Bodenlose zu fallen, falls sich die Hoffnung nicht erfüllte.142 An »Transporttagen« steigerte sich die Anspannung unter den politischen Häftlingen ins fast Unerträgliche: »Transport, Transport! Fieberhafte Erregung bemächtigte sich uns. Was würde jetzt mit uns geschehen?«143 Wer für die Verlegung nach Karl-Marx-Stadt vorgesehen war, wurde dazu aufgefordert, seine Sachen zu packen und mitzukommen. Erstaunlicherweise schildern viele 137 Koch: Menschenwege, S. 161 138 Veith: Wo ist Dirk, S. 262. 139 Richter: Brandenburg, S. 126. 140 Lolland: Gesicht zur Wand, S. 152–154. 141 Bath, Matthias: 1 197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft. Berlin 1987, S. 185. 142 Koch: Menschenwege, S. 164; Gottschalk: Druckstellen, S. 108. 143 Ebenda, S. 150; Seifert, Uwe: Fenster zur Welt. Jugendjahre im Schatten der Stasi. Böblingen 1990, S. 301–303; Lolland: Gesicht zur Wand, S. 125 f.
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Inhaftierte ihre erste Reaktion darauf als einen Schock, ähnlich wie bei der Verhaftung, doch selbstverständlich im umgekehrten, positiven Sinne: »Ich begriff zwar noch nicht alles, befolgte die Anweisungen wie in Trance, aber ich war glücklich, so glücklich, wie nie zuvor in meinem Leben.«144 – »Dieser Moment, den ich mir immer vorgestellt und gewünscht hatte, zog mir fast die Beine weg. Ich zitterte am ganzen Körper, verabschiedete mich aufgeregt.«145 – »Beinahe hätte ich gesagt ›Aber ich bin doch noch gar nicht dran‹. Hinterher kommt einem ein solcher Gedanke lächerlich vor, aber man verliert in der Ungewissheit dieser Haftzeit völlig den Begriff dafür, was noch normal ist und was nicht.«146
Trotz dieser neuerlichen, hochemotionalen Situation überwog die Freude darüber, dass sich die Haftzeit nach etlichen Monaten oder gar Jahren dem Ende zuneigen sollte.
»Aktion Päppelanstalt«: Abschiebehaft Karl-Marx-Stadt und (Bus-)fahrt in den Westen Seit circa 1966/67 diente die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Chemnitz als zentraler Sammelpunkt, von dem aus die verkauften politischen Häftlinge mit Bussen in den Westen überführt wurden (Abb. 31). In den ersten Jahren hatte das MfS die Freigekauften noch in Berlin zusammengezogen, musste jedoch aufgrund dringender Baumaßnahmen nach einer Alternative suchen. Für das Gefängnis auf dem Kaßberg am Rande der Chemnitzer Innenstadt sprachen hauptsächlich zwei Argumente. Erstens war der Weg für den »Abtransport« der Häftlinge nach Gießen von dort aus kürzer als von Ost-Berlin und zweitens handelte es sich bei dem massigen Gebäudekomplex mit rund 370 Haftplätzen um die größte aller 17 MfS-Untersuchungsgefängnisse. Selbst der »Rote Ochse« in Halle und die zentrale UHA des MfS in BerlinHohenschönhausen verfügten »nur« über je 200 Plätze. Das Kaßberggefängnis besaß somit das notwendige Fassungsvermögen, um hunderte politische Häft-
144 Veith: Wo ist Dirk, S. 262. 145 Klar, Anne: Eingesperrt und kein Entkommen. Ostalgie – ein Trauma für die Opfer kommunistischer Gewalt. Bautzen 2006, S. 79. 146 Lolland: Gesicht zur Wand, S. 184; vgl. Budde, Heidrun: Gestohlene Seelen. Norderstedt 2008, S. 277; Garve: Unter Mördern, S. 190; Jauch: Stasi, S. 114; Münch, Peter: Lager X. Roman. Gelnhausen 2004, S. 475; Pieper: Cottbus, S. 192; Saczewski, Kurt: Unter braunen Teufeln und roten Göttern. Ein deutscher Arbeiter erzählt. Karlsruhe 1976, S. 238; Schmidt; Weischer; Biermann: Zorn und Trauer, S. 209.
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linge parallel zum laufenden Betrieb aufzunehmen und die notwendigen Entlassungsformalitäten abzuwickeln.147 Insgesamt durchliefen bis 1989 fast 90 Prozent aller freigekauften Häftlinge die MfS-UHA in Chemnitz, insgesamt rund 30 000 Personen. Parallel zum Anstieg der »Freikaufsquote« wuchs somit auch die Zahl der Häftlinge, die sich zeitweilig in Karl-Marx-Stadt aufhielten. Im letzten Jahrzehnt der DDR befand sich somit fast jeder zweite politische Häftling der DDR für einige Tage oder Wochen in Chemnitz.148 Polemisch zugespitzt bildeten die drei Gefängnisse in Cottbus, Hoheneck und Karl-Marx-Stadt die Achse des staatlichen Menschenhandels der DDR. In Chemnitz wurden die Häftlinge in einem separaten Gebäudeflügel (»BFlügel«) des Gefängnisses untergebracht.149 Dies entsprach einer Vorschrift des Ministeriums des Innern, dass der Personenkreis »in jedem Fall getrennt von den übrigen Inhaftierten unterzubringen« sei.150 Eine Ordnung des MfS bestimmte ferner, dass die »Sondermaßnahmen« in der UHA »unter strikter Wahrung der Konspiration« durchzuführen seien.151 Beiden Anweisungen lag das Bestreben zugrunde, Kontakte zwischen den »normalen« Untersuchungshäftlingen in der UHA und der Gruppe der Freikaufskandidaten zu unterbinden, sowohl um das Bekanntwerden des Vorgangs unter den »normalen« Häftlingen zu verhindern, als auch um einen störungsfreien Ablauf des Freikaufs zu ermöglichen. Der Aufenthalt in Karl-Marx-Stadt erstreckte sich meist über einen Zeitraum von maximal ein bis zwei Wochen; in Einzelfällen konnte er auch längere Zeit in Anspruch nehmen. Heinz Volpert, Mielkes Sonderbeauftragter für das Häftlingsgeschäft, gebrauchte für diese letzte Station der Häftlinge vor ihrer Entlassung in den Westen den Ausdruck »Aktion ›Päppelanstalt‹«.152 In der Tat sollte die zu verkaufende »Ware« in Karl-Marx-Stadt nach den körperlichen Entbehrungen des Strafvollzugs »aufgepäppelt« werden, um sie ihrem 147 Analyse über den Stand der pol.-op. Dienstdurchführung der Aktion 64–67; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 287. Vgl. für die folgenden beiden Kapitel auch Wölbern, Jan Philipp: Mit dem Wunderbus nach Gießen. Der Häftlingsfreikauf und die Stasi-U-Haftanstalt in Karl-Marx-Stadt. In: Aris, Nancy; Heitmann, Clemens (Hg.): Via Knast in den Westen. Das Kaßberg-Gefängnis und seine Geschichte. Leipzig 2013, S. 46–56. 148 Vgl. Tabelle 1 im Anhang sowie Tabelle XIV in: Raschka: Justizpolitik, S. 324 f. 149 Schreiben v. 14.1.1986; BStU, MfS, BV Chemnitz, AKG, Nr. 3071, Bl. 5. 150 Anweisung des MdI über die Entlassung von Inhaftierten nach anderen Staaten und in die besondere politische Einheit Westberlin, Nr. 12/67, 15.6.1967; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 11446, Bl. 8. 151 Ordnung über die Durchführung von Sondermaßnahmen in der UHA des BVfS in KMS, 5.1.1976; BStU, MfS, BV Chemnitz, Leiter 99, Bd. 1, Bl. 160. 152 Telefonnotiz Gehlerts »Anruf des Gen. Oberst Dr. Volpert«, 8.9.1975; BStU, MfS, BV Chemnitz, Leiter 99, Bd. 1, Bl. 194. Im Original »Aktion ›Peppelanstalt‹«.
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»Käufer« im Westen in einem vorzeigbaren Zustand präsentieren zu können. Aus zahlreichen Erinnerungsberichten Inhaftierter spricht das Erstaunen über die beinahe komfortablen Haftbedingungen. Manfred Bahra, der 1969 nach Karl-Marx-Stadt kam, erinnert sich: »[In Karl-Marx-Stadt] begrüßte uns der Anstaltsleiter mit den Worten: ›Willkommen, Sportsfreunde‹! So locker sollte es zu unserer Verblüffung weitergehen. Tagsüber offene Zellentüren, Westzigaretten und ein Essen, von dem ich später noch schwärmen sollte.«153 Anderen prägte sich die zuvorkommende Behandlung durch das Wachpersonal ein. Der Ton sei »ausgesucht höflich« gewesen, aber dennoch »korrekt abgegrenzt«.154 Gemeinsamer Freigang im Hof der Haftanstalt und Bücherausleihe aus der Gefängnisbibliothek waren gleichfalls möglich. Alles in allem, berichtet ein Inhaftierter, sei es »wie im Sanatorium« gewesen.155 Neben dem »Aufpäppeln« der Häftlinge diente der Aufenthalt in KarlMarx-Stadt dazu, in »Aussprachen« mit den Inhaftierten deren persönliche Daten zu überprüfen und gegebenenfalls zu aktualisieren.156 Ferner waren »staats-, vermögens- und familienrechtliche Fragen« zu klären.157 Faktisch wurden die sozialen Bindungen des Häftlings in seinem bisherigen Lebensumfeld damit weitgehend gekappt. So umfassend das Versorgungsversprechen des sozialistischen Staates war, so rigoros war umgekehrt der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Konkret bedeutet dies, dass die Häftlinge sämtliche liquiden Vermögenswerte, Grundstücke und Immobilien dem Staat entschädigungslos überlassen mussten, faktisch enteignet wurden.158 Allerdings gab es auch viele Inhaftierte mit Schulden und Zahlungsverpflichtungen, meist Unterhaltsleistungen für minderjährige Kinder oder Bankdarlehen; Verbindlichkeiten, denen sie legitimerweise auch nach der Ausreise in die Bundesrepublik nachkommen sollten.159 Hinter dem Terminus »familienrechtliche Fragen« verbarg sich meist das Problem der Ausreise minderjähriger Kinder. Übten die Eltern das Sorgerecht 153 Manfred Bahra an den Verfasser, 15.3.2011. 154 Erfahrungsbericht eines Häftlings vom Oktober 1973; BArch, B 137/15773, dort S. 47. 155 Bauer, Babett: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971– 1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History. Göttingen 2006, S. 233; vgl. Münch: Lager X, S. 522. 156 Enke an Ltr. HA IX, 26.1.1989; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17108, Bl. 17. 157 Punkt 9 der Anweisung zur Übersiedlung von Strafgefangenen in die BRD, 5.5.1986, abgedr. in: Lochen: Geheime Anweisungen, S. 207. 158 Zur »Schuldenregulierung« siehe BStU, MfS, ZKG, Nr. 9630, Bl. 27–29; zur Enteignung siehe den Vermerk in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 10024, Bl. 25–27: »Dieses Problem ist inzwischen durch das Ministerium für Finanzen in Abstimmung mit dem MfS geklärt. Es wurde gesichert, daß DDR-Bürger vor ihrer Übersiedlung Vollmacht erteilen, ihr gesamtes Vermögen abzuwickeln.« 159 Siehe beispielsweise die Forderungen an freigekaufte Häftlinge in: BStU, MfS, HA IX, Nrn. 17940, Bl. 41; 13664, Bl. 62; 17941, Bl. 200 f.
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gemeinsam aus, mussten beide Elternteile der Ausreise zustimmen. Lagen die Einverständniserklärungen vor, etwa weil beide Elternteile freigekauft wurden, war das Warten auf die Ausreise der Kinder zwar eine nervliche Zerreißprobe, doch konnten die Kinder meist nach dem Verstreichen eines bestimmten Zeitraums ausreisen.160 Hart traf es dagegen jene, deren (frühere/r) Partner/in die Ausreise des/r Kindes/r ablehnte, dies nicht selten unter dem Einfluss der Staatssicherheit. Ihnen blieb nur die entsetzliche Alternative, sich entweder für die Freiheit oder für ihr(e) Kind(er) zu entscheiden.161 Die Entlassungsprozedur in Karl-Marx-Stadt schloß mit der endgültigen Entscheidung über die Ausreise und die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR ab. Wie bereits im Zusammenhang mit den DDR-Entlassungen geschildert, konnten die Inhaftierten das Entlassungsgebiet erst seit Anfang der siebziger Jahre grundsätzlich frei wählen. Wer sich für eine Entlassung in die DDR entschied, wurde gesondert von Vogel befragt.162 Versuche des MfS, Häftlinge in Karl-Marx-Stadt durch die Instrumentalisierung von Angehörigen unter Druck zu setzen und zum Verbleib in der DDR zu »überreden«, gab es allerdings auch später noch.163 Hatte sich der Inhaftierte trotz aller Widerstände für die Ausreise entschieden, wurde er gemäß § 10 des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1967 »auf Antrag« und »mit Genehmigung der zuständigen staatlichen Organe«, hier dem MdI, aus der Staatsbürgerschaft entlassen. Dieser formale Akt war seit Oktober 1972 obligatorisch und wurde durch eine Urkunde aktenkundig gemacht.164 Meist am Tag der Entlassung händigte das Wachpersonal den Gefangenen ihre Zivilkleidung aus und brachte sie zum »Abkauf«. Damit war nicht eine weitere Taxierung ihres »Verkaufswertes« gemeint, vielmehr sollten die Inhaftierten das Geld, das sie sich durch die Haftzwangsarbeit im Strafvollzug verdient hatten, an einem eigens zu diesem Zweck in der Haftanstalt aufgebauten Verkaufsstand ausgeben. Dies war deshalb notwendig, weil Mark der DDR nicht ausgeführt werden durfte. Unter den angebotenen Waren befanden sich u. a. Textilien, Koffer und Taschen sowie Nahrungs- und Genussmittel.165 Für den streng geheimen, reibungslosen Ablauf des Bustransfers nach Gießen erließ die Abteilung IX der MfS-Bezirksverwaltung eine detaillierte Vorschrift. Sie befahl den zuständigen Mitarbeitern der UHA gleich mehrfach die 160 Anweisung zur Übersiedlung von Strafgefangenen, siehe Dokument 2 im Anhang. 161 Siehe z. B. den Fall in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13652, Bl. 157 f. 162 Siehe Kap. III.4. 163 Siehe z. B. Otto, Heike: Beim Leben meiner Enkel. Wie eine DDR-Flucht zum Familiendrama wurde. Hamburg 2011, S. 73–75. 164 Vgl. das Dokument in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3714, Bl. 47. 165 »Analyse über den Stand der pol.-op. Dienstdurchführung der Aktion 64 – 67«; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 284; vgl. Rehlinger: Freikauf, S. 59–61.
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»strikte Einhaltung der Konspiration«, damit die übrigen Gefangenen »keinerlei Wahrnehmungen über die Sondermaßnahmen treffen« könnten. Aus diesem Grund sollten die Busse, die die Häftlinge in den Westen brachten, durch den Hintereingang auf den Hinterhof der Haftanstalt fahren, um dort »die Beladung« durchzuführen.166 Bis 1975 nutzte das MfS eigene Busse, um die Häftlinge bis zum Grenzübergang Wartha/Herleshausen zu bringen, wo sie in Reisebusse des Hanauer Fuhrunternehmers Arthur Reichert (»Reicherts Reisen«) umstiegen.167 Zum Jahreswechsel 1975/76 nahm das MfS eine Änderung im Ablauf vor: Fortan fuhr Reichert mit seinen komfortablen Reisebussen direkt bis in das Kaßberggefängnis. Das Vorgehen ersparte den Häftlingen zwar einerseits den Umstieg kurz vor der Grenze, brachte aber das Problem mit sich, dass Busse mit westdeutschen Kennzeichen und Firmenschildern die angemahnte »strikte Konspiration« verletzt und Aufsehen erregt hätten, insbesondere für den Fall, dass sie bei der ungehinderten Ein- und Ausfahrt aus dem Hochsicherheitsgefängnis gesehen worden wären. Arthur Reichert löste das Problem, indem er das Firmenlogo bei den Fahrten nach Karl-Marx-Stadt abdeckte und nach dem Passieren der Grenze die Nummernschilder auswechselte.168 Dazu versah er seine Reisebusse der Marke Magirus-Deutz mit einer Vorrichtung, die einem James-Bond-Film hätte entstammen können: Mittels einer drehbaren Welle, an der die Nummernschilder befestigt waren, ließen sich die Kennzeichen per Knopfdruck vom Fahrersitz aus wechseln. Fuhr der Bus in die DDR, schaltete der Fahrer auf das Ost-Kennzeichen IA-48-32, bei der Rückkehr in den Westen auf das Hanauer Nummernschild HU-X 3 zurück.169 1988 schließlich erhielten die Häftlinge Fahrkarten, mit denen sie einen Interzonenzug in die Bundesrepublik benutzen konnten.170 Sobald die Busse vollbesetzt waren, stiegen Rechtsanwalt Vogel und Rechtsanwalt Stange zu. Sie belehrten die Inhaftierten darüber, nach ihrer Ankunft im Westen weder gegenüber Medienvertretern, noch postalisch gegenüber ihren Verwandten und Freunden in der DDR nähere Angaben über ihre Untersuchungshaft, den Strafvollzug sowie die Umstände der Ausweisung in die 166 Ordnung über die Durchführung von Sondermaßnahmen in der UHA des BVfS in KMS, 5.1.1976; BStU, MfS, BV Chemnitz, Leiter 99, Bd. 1, Bl. 160–162. 167 Reichert hatte den Auftrag wahrscheinlich erhalten, weil sein Unternehmen in der Ortschaft Kilianstädten nahe Büdesheim lag, dem Sammelpunkt, zu dem die ersten Freigekauften des Jahres 1964 gebracht wurden. Vgl. http://f3.webmart.de/f.cfm?id=2165073&r=threadview&t=3575153&pg=1. 168 Vermerk Gehlerts, 18.12.1975; BStU, MfS, BV Chemnitz, Leiter 99, Bd. 1, Bl. 165. 169 Knauer, Sebastian: Vom Tigerkäfig in den Wunderbus. In: Der Spiegel v. 20.12.1999; Rehlinger: Freikauf, S. 82. 170 Niebling an Fister, 18.5.1988; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17108, Bl. 30.
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Bundesrepublik zu machen. »Schweigen Sie über alles, was sie hier erlebt haben, schalten Sie nicht die Medien ein«, lautete sinngemäß die Mahnung Vogels.171 Ansonsten würden seine Verhandlungspartner in der DDR nicht zögern, Haftkameraden zurückzuhalten oder den Freikauf gänzlich einzustellen. Was einerseits ein Appell zur Solidarität mit den zurückgebliebenen Haftkameraden war, hatte zugleich die Funktion eines Knebels, um die Häftlinge von öffentlichen Schilderungen des Vorgangs abzuhalten. Stange ergänzte den Vortrag seines Kollegen um die Bitte, den Befragungsstellen in Gießen die Namen noch inhaftierter Haftkameraden zu nennen.172 In den Bussen herrschte nach dieser Belehrung eine angespannte Stille, zumindest bis zur Grenze. Im Besonderen galt dies für die »Premierenfahrt«, jene Häftlinge, die am 14. August 1964 in den Westen kamen. »Man hörte in den Bussen eine Stecknadel fallen«, beschrieb Vogel später die Stimmung, »wer einmal mitgefahren ist, der kam davon nie wieder los.«173 Dabei spielten sich teils erschütternde Szenen ab, etwa dann, wenn sich (Ehe-)Paare nach der oft jahrelangen Trennung das erste Mal wieder sahen. Von Chemnitz aus steuerten die Busse die Transitstrecke in Richtung des Grenzübergangs Wartha/Herleshausen an, eskortiert von einem Begleitkommando des Büros für Sonderaufgaben der HA IX des MfS. Hin und wieder fuhr auch Rechtsanwalt Vogel in seinem goldfarbenen Mercedes vorweg.174 Auf der rund 350 km langen Strecke vorbei an Gera, Jena, Weimar und Eisenach machte die Kolonne ein- bis zweimal Rast. Bei den ersten Busfahrten im Jahr 1964 von Ost-Berlin aus erhielten die Häftlinge die Anweisung, sich als »westdeutsche Reisegesellschaft« auf dem Weg zur »Gartenbauausstellung nach Erfurt« auszugeben, falls es auf den Rastplätzen zu Kontakten mit anderen Reisenden kommen sollte.175 Je näher die Grenzübergangsstelle Wartha/Herleshausen rückte, umso mehr stieg die Anspannung. Kurz vor den Sperr- und Abfertigungsanlagen stoppten die Wagen des Stasi-Begleitkommandos, während die Busse ohne anzuhalten auf der »Diplomatenspur« unter den geöffneten Schlagbäumen hindurch die Kontrollpunkte passierten und von den Grenzposten durchgewunken wur-
171 Vgl. exemplarisch Koehler, Wendelin: Von Weimar in den Westen über Stasi-Zuchthaus. Erinnerungen. Norderstedt 2010, S. 111 (Freikauf 1980). 172 Erfahrungsbericht eines Häftlings vom Oktober 1973; BArch, B 137/15773, dort S. 49. 173 PA, 12. WP, 1. UA (»KoKo«), 8.10.1992, Protokoll Nr. 90: Zeuge Wolfgang Vogel, S. 15. 174 Analyse »Aktion« 1970; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 693, Bl. 247. 175 Bilke, Jörg Bernhard: Der Hund des Odysseus. In: Ballarin, Werner (Hg.): Vor dem Tor. Ein anthologisches Lesebuch. Simmern 2005, S. 37–44; Erlebnisbericht eines freigekauften Inhaftierten, 8.11.1964; DzD BesBem Bd. 1, S. 190–193.
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den.176 Sobald sich der Bus im Westen befand, hieß der Busfahrer seine Passagiere in der Bundesrepublik willkommen. Die Behauptung ist wohl nicht übertrieben, dass der Augenblick des Grenzübertritts, der die Businsassen von Verfolgten und Inhaftierten des SEDRegimes zu freien Menschen machte, für viele zu den emotionalsten Momenten ihres Lebens gehörte, überwältigt von Gefühlen, die vielleicht am ehesten vergleichbar sind mit jenen, die die jubelnden Berliner in der Nacht des Mauerfalls empfanden. Die über Jahre hinweg aufgestauten Gefühle entluden sich bei vielen in Weinkrämpfen, Tränen oder unbändiger Freude: »Unfassbar! […] Ein einziger Aufschrei geht durch den Bus, wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, Ehepaare küssen sich endlich, keiner, der nicht Tränen in den Augen hat«.177 – »Im Autobus brach ein unbeschreiblicher Jubel aus, der Busfahrer legte einen Hit auf: ›Girls, Girls, Girls‹«178 – »[…] jeder wischte sich die Tränen von den schmalen, grauen Wangen und schnäuzte sich den Rotz aus der Seele. Endlich raus, endlich frei, frei für immer, frei, frei, frei […].«179
Wolfgang Welsch, der 1971 in die Bundesrepublik kam, erinnert sich, dass er selbst Jahre später nicht über diesen Moment habe sprechen können, weil ihm allein bei dem Gedanken daran die Stimme versagte.180 Andere hingegen genossen den Augenblick still oder erlebten die Situation wie in Trance. Die zwar mit dem Verstand fassbare Realität der Befreiung drang (noch) nicht zu ihrer Gefühlswelt durch. »Es war seltsam«, berichtet der 1986 freigekaufte Gabriel Seifert, »ich konnte gar nichts fühlen, gar nichts Großartiges empfinden. […] Seit dem Moment, in dem ich über die furchtbare Grenze hinweg war, hatte ich nur noch Gedanken.«181 Dorothea Ebert, freigekauft 1984, schreibt darüber: »Seltsamerweise ist es in mir wie taub, ich nehme alles wie durch einen Nebel wahr. Meine Tränen wollen nicht fließen, im Hals steckt ein dicker Kloß, und als ich Mathias, meinen Mann, neben mir betrachte, kommt er mir so fremd vor. Da begreife ich endgültig, dass mich die Gefängniszeit sehr verändert hat«.182
176 Bauersfeld, Alexander W.: Freigekauft vor zwanzig Jahren. Rückschau eines Betroffenen. In: Die politische Meinung 49 (2004) 420, S. 57–61, hier 60. 177 Ebert, Dorothea; Proksch, Michael; Martens, Ina-Maria: Und plötzlich waren wir Verbrecher. Geschichte einer Republikflucht. München 2010, S. 150. 178 Berger, Gabriel: »Mir langt’s, ich gehe«. Der Lebensweg eines DDR-Atomphysikers von Anpassung zu Aufruhr. Freiburg i. Br. 1988, S. 256. 179 Gottschalk: Druckstellen, S. 111. 180 Interview mit Wolfgang Welsch, 14.11.2009; Welsch: Staatsfeind, S. 183–185. 181 Seifert: Fenster zur Welt, S. 319. 182 Ebert; Proksch; Martens: Republikflucht, S. 265 f.
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Notaufnahme in Gießen In den achtziger Jahren kursierte in der DDR folgender Witz: »Frage: Warum hat Honecker immer wieder neue Kellner? Antwort: Weil sie ihn ständig fragen: Darf ich nach-Gießen?« Zweifellos hatte der Name der hessischen Universitätsstadt unweit der Mainmetropole Frankfurt »einen ganz besonderen Klang« in der DDR, denn seit dem Mauerbau durchliefen die meisten Flüchtlinge und »legal« Ausgereisten das Notaufnahmelager in Gießen.183 Unter den politischen Häftlingen war gar ein »Gießen-Lied« in Umlauf, das die Sehnsucht nach der Befreiung auf die Stadt projizierte. Die dritte Strophe lautete: Und sitzen wir im Bus nach Gießen, dann ist die Grenze nicht mehr weit. Dann wird so manche Träne fließen, denn es ist allerhöchste Zeit. Cheerio, nach Gießen, cheerio, good bye, cheerio, nach Gießen, und auch du bist bald dabei!184
Bald nach dem Grenzübertritt erreichten die Busse die ersten Ortschaften in der Bundesrepublik. Besonders in den Anfangsjahren, als die Busse zwecks Geheimhaltung erst nach Einbruch der Dunkelheit im Westen eintrafen, war der optische Kontrast zwischen den nur spärlich beleuchteten Städten auf DDR-Seite und dem »Lichtermeer von Bad Hersfeld« besonders eindrücklich.185 Kurz hinter der Grenze stieg Heinz Dörr, seit 1971 Leiter des Notaufnahmelagers Gießen, oder sein Stellvertreter zu, verteilte Lunchpakete und Erfrischungsgetränke, begrüßte die Neuankömmlinge und gab ihnen vorab einige allgemeine Hinweise über den bevorstehenden Aufenthalt in Gießen.186 Das Lager in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs war bereits 1945 auf Weisung der amerikanischen Militärregierung eingerichtet worden, um Vertriebene aus den Ostgebieten aufzunehmen. Mit Inkrafttreten des »Gesetzes über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet« vom 22. August 1950 erhielt es schließlich die Bezeichnung »Notaufnahmelager Gießen« und diente seit dem 1. April 1963 als alleiniges Auffanglager im Bundesgebiet für Flüchtlinge aus der DDR. Im Mai 1986 erfolgte die letzte Umbenennung in
183 Interview mit Heinz Dörr, 30.12.2009. 184 Schmidt: Leerjahre, S. 151. Das Lied sei auf eine Melodie aus dem Film »High Noon – 12 Uhr mittags« gesungen worden. Vgl. die leicht abweichende Textfassung in: Schmidt; Weischer; Biermann: Zorn und Trauer, S. 180. 185 Stange an Kunst, 12.8.1965; EZA, 742/276; Interview mit Heinz Dörr, 30.12.2009. 186 Interview mit Heinz Dörr, 30.12.2009; Abwicklung von Transporten mit ehemaligen politischen Häftlingen, 1986; Stadtarchiv Gießen, 7/3-008.
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»Zentrale Aufnahmestelle des Landes Hessen« (Abb. 32 und 34).187 Da die Betreuung der ehemaligen politischen Häftlinge im Westberliner Aufnahmelager Marienfelde zu auffällig gewesen wäre, fuhren die Busse seit 1965 nach Gießen.188 Das Notaufnahmelager bestand aus insgesamt neun Wohn-, Verwaltungs- und Gemeinschaftsgebäuden, von denen einige nach den 1952 aufgelösten (Bundes-)Ländern benannt waren, um den Gedanken der Deutschen Einheit wachzuhalten.189 Dienstrechtlich unterstand die Lagerverwaltung mit ihren knapp 60 Mitarbeitern dem Land Hessen, während die Zuständigkeit für das Notaufnahmeverfahren formal beim Bund lag.190 Der Aufenthalt der ehemaligen politischen Häftlinge in Gießen erstreckte sich im Regelfall über zwei bis drei Tage. Das Aufnahmepersonal nahm dabei die soziale, rechtliche und karitative Betreuung wahr und führte das Notaufnahmeverfahren durch. Einerseits sollte der Aufenthalt in Gießen so kurz wie möglich sein, ausreichend lang, um die administrativen Formalitäten zügig durchzuführen. Andererseits sollte durch eine freundliche Behandlung »in einer entspannten Atmosphäre« eine Überanstrengung der ehemaligen politischen Häftlinge möglichst vermieden werden. Schließlich befanden sich die Neuankömmlinge wegen der zahlreichen, innerhalb kürzester Zeit auf sie einstürmenden Veränderungen in einer psychischen Ausnahmesituation.191 Nach Ankunft der Busse in Gießen, geschah es hin und wieder, dass einige der freigekauften ehemaligen politischen Häftlinge spontan niederknieten und den Boden küssten, eine Geste, in der tiefe Dankbarkeit und die Freude über die Befreiung zum Ausdruck kam.192 Im Hauptsaal des Lagers wurden sie danach von den Anwälten der Rechtsschutzstelle sowie Mitarbeitern des Arbeitsamtes und der Häftlingshilfestiftung im Namen der Bundesregierung begrüßt und erhielten erste Informationen zu »allgemeinen und rechtspezifischen Fragen«. Im Anschluss erfolgte die individuelle Befragung durch die Anwälte zu den persönlichen (Haft-)Daten, zurückgebliebenen Mitinhaftierten 187 Dörr, Heinz: Vom Flüchtlingskommissariat zur Zentralen Aufnahmestelle. Rückblick auf 45 Jahre Flüchtlingslager Gießen. In: MittOberhessGV, NF, Bd. 81 (1996), S. 49–68, hier 50–57 u. 60; Kaminsky, Annette; Gleinig, Ruth (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. Leipzig 2004, S. 210–212; vgl. Laak van, Jeannette: Das Notaufnahmelager Gießen; DA-online, 31.3.2013; Dies.: Die Geschichte des Notaufnahmelagers in Gießen zwischen 1946 und 1961. In: MittOberhessGV Gießen, 97. Bd., Gießen 2012, S. 305–318. 188 Nur 1964 gingen sie über Büdesheim, die Betreuung übernahm aber das Personal des Lagers Gießen. 189 Lagerordnung und Wegweiser des Lagers; DRK, Suchdienst München, H 1882. 190 Organisationsplan des Notaufnahmelagers; Stadtarchiv Gießen, 7/3-008. 191 Dörr an den Hessischen Sozialminister, 15.7.1986; Stadtarchiv Gießen, 7/3-008. 192 Interview mit Heinz Dörr, 30.12.2009; Sauer, Stefan: Der missglückte Versuch, aus mir einen brauchbaren Menschen zu formen. Magdeburg 2002, S. 37; Lütcke, Ernst: »Dankbar küßten wir den Boden der Freiheit«. In: Bild v. 18.17.1983.
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und ggf. auch zu kriminellen Vorstrafen. Ferner wurde ihnen eine Unterstützungsleistung aus Bundesmitteln in Höhe von 100 bis 200 DM ausgezahlt. Eine warme Mahlzeit, die Einkleidung durch Vertreter der Diakonie und des katholischen Lagerdienstes sowie die Zuweisung der Unterkünfte schlossen den Tag ab.193 »Ein 24-Stunden-Tag ist zu Ende«, schrieb ein ehemaliger politischer Häftling 1986, »ein Tag ohne Pause, […] der einem das Letzte abverlangt hat, aber der einem auch das höchste Glück gegeben hat, das ein Mensch, insbesondere ein Unfreier, bekommen kann: die Freiheit.«194 Der darauffolgende Tag begann früh morgens mit einer obligatorischen ärztlichen Untersuchung, die eventuelle körperliche Haftschäden feststellen und dokumentieren sollte. Daran schloss sich das eigentliche Notaufnahmeverfahren an, das auf dem »Gesetz über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet« beruhte.195 Da alle Staatsbürger der DDR zugleich Deutsche im Sinne des Grundgesetzes waren und sich auf Antrag einen Bundespersonalausweis ausstellen lassen konnten, lag der Zweck des Notaufnahmeverfahrens seit den sechziger Jahren nur noch darin, die Übersiedler aus der DDR zu registrieren und die gesetzliche Voraussetzung für die Gewährung besonderer staatlicher Unterstützungsleistungen zu schaffen. Faktisch sollte es den Grundstein für die Integration der ehemaligen politischen Häftlinge in die bundesdeutsche Gesellschaft legen.196 Da die freigekauften politischen Häftlinge die vom Gesetz geforderten »zwingenden Gründe« für ihre Übersiedlung gleichsam »automatisch« geltend machen konnten, erhielten sie allesamt den Aufnahmeschein. Mit ihm konnten sie sich an ihrem späteren Wohnort den »Flüchtlingsausweis C« ausstellen lassen, der sie als politische Flüchtlinge auswies und zum Empfang besonderer Sozialleistungen berechtigte.197
193 Abwicklung von Transporten mit ehemaligen politischen Häftlingen, ca. 1986; Stadtarchiv Gießen, 7/3-008; hs. Ausarbeitung »Durchführung und Ablauf des Aufnahmeverfahrens für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in Gießen«; Privatarchiv Heinz Dörr. 194 »Abwicklung eines Transportes von epH – Zusammenstellung aus Erzählungen und Erlebnissen von epH, welche einen solchen selbst miterlebt haben«, 27.4.1986; Stadtarchiv Gießen, 7/3-008. 195 Gesetz über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet. In: BGBl, Teil I, 26.8.1950, S. 367 f., zul. geänd. durch das Gesetz v. 18.2.1986; Verordnung zur Durchführung des Aufnahmegesetzes v. 11.6.1951, zul. geänd. durch das Gesetz v. 18.2.1986. 196 Kimmel, Elke: Das Notaufnahmeverfahren. In: DA 38 (2005) 6, S. 1023–1032, hier 1031. 197 Ebenda, S. 1023; hs. Ausarbeitung »Durchführung und Ablauf des Aufnahmeverfahrens für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in Gießen«; Privatarchiv Heinz Dörr. Bei Zweifeln an der Identität der Person wurde ggf. eine erkennungsdienstliche Behandlung durchgeführt. Ebenda. Ein Faksimile des Flüchtlingsausweises C ist abgedruckt im Bildteil in: Ebert; Proksch; Martens: Republikflucht, S. 152. Im Übrigen musste selbst dann keiner in die DDR zurückkehren, wenn der Aufnahmeantrag wegen krimineller Vorstrafen abgelehnt wurde. Der Betreffende erhielt in diesem Falle jedoch keinen Flüchtlingsausweis C und hatte somit keinen Anspruch auf besondere Sozialleistungen.
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Auf dem Laufzettel des Aufnahmeverfahrens befanden sich noch drei weitere Stationen. Zum einen die Befragung durch die sogenannten »B-Stellen«, d. h. »Befragungsstellen«, die aus einem Vertreter des BND, des Verfassungsschutzes sowie einem alliierten Verbindungsoffizier bestanden. Ursprünglich sollte die Befragung der Abwehr von Spionen dienen, hatte in der Praxis jedoch keinen Einfluss auf den Ausgang des Aufnahmeverfahrens.198 Ferner stand eine Beratung durch die Häftlingshilfestiftung und die Otto-BeneckeStiftung auf dem Programm. Letztere vergab im Auftrag der Bundesregierung Eingliederungshilfen für Studierende. Als letzte Station sah der Laufzettel die Festlegung des Aufnahmelandes vor. Ursprünglich war die starre Verteilung auf die Länder nach einem vom Bundesrat festgelegten Schlüssel eingeführt worden, um die finanziellen und sozialen Lasten gleichmäßig zu verteilen. In der Praxis wurde dies bei den ehemaligen politischen Häftlingen jedoch flexibel gehandhabt. Wer ein bestimmtes Bundesland bevorzugte, etwa weil Verwandte oder Freunde dort wohnten, konnte seinen künftigen Wohnsitz in der Regel frei wählen.199 In den achtziger Jahren veranstaltete das Innerdeutsche Ministerium am Abend des zweiten Tages auf dem Schiffenberg, dem Giessener »Hausberg«, eine abschließende Informations- und Betreuungsveranstaltung. Offene Fragen konnten hier in Einzelgesprächen geklärt werden. Gelegentlich geriet die Veranstaltung auch ein wenig zu einer Werbeveranstaltung für die jeweilige Regierungspolitik.200 Wer nicht schon vorher in das zugewiesene Wohnheim im Aufnahmeland abgereist war, tat dies am darauffolgenden Tag, meist per Bahn oder mit dem Flugzeug, wenn das Ziel West-Berlin lautete.
Ende gut, alles gut? Neubeginn im Westen und Folgen der Haft Besonders die ersten Tage, Wochen und Monate nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik waren für die ehemaligen politischen Häftlinge eine intensive und prägende Phase. Innerhalb kürzester Zeit mussten sie sich in der neuen Umgebung zurechtfinden, außerdem mit der Reizüberflutung sowie den scharfen Kontrasten und mancherlei Mentalitätsunterschieden zwischen Ost und West fertigwerden; all dies im unmittelbaren Anschluss an die Haftzeit mit all
198 Kimmel: Notaufnahmeverfahren, S. 1027. 199 Hs. Ausarbeitung »Durchführung und Ablauf des Aufnahmeverfahrens für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in Gießen«; Privatarchiv Heinz Dörr. 200 Interview mit Ralf Knechtel, 17.6.2010; »Abwicklung eines Transportes von epH – Zusammenstellung aus Erzählungen und Erlebnissen von epH, welche einen solchen selbst miterlebt haben«, 27.4.1986; Stadtarchiv Gießen, 7/3-008.
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ihren Strapazen und Entbehrungen.201 Erschwerend kam hinzu, dass die Entscheidungen der ersten Wochen meist über Wohl oder Wehe des Neubeginns entschieden. Die schwerste Herausforderung bestand für viele darin, den Weg von einem vormals fremdbestimmten, zu einem »Leben der Passivität« verurteilten Häftling (zurück) zu einem eigenständigen und aktiven Bürger zu finden.202 Eine in Gießen verteilte 80-seitige Broschüre der bundeseigenen Häftlingshilfestiftung, der »Kompass für den ehemaligen politischen Häftling«, gab seinen Adressaten sogleich den folgenden »Lehrsatz« mit auf den Weg: »SIE müssen sich um ihre Rechte, Ihre Belange, Ihre Vorteile kümmern! SIE müssen aktiv sein!« Wer die Haft überstanden habe, werde den »sicherlich nicht leichten« Neuanfang aber meistern.203 Ob, und welche Leistungen die ehemaligen Häftlinge in Anspruch nahmen, lag in ihren eigenen Händen. Ausgangspunkt für den Start in der Bundesrepublik war in der Regel die Beantragung eines Bundespersonalausweises beim Einwohnermeldeamt am neuen Wohnort. Damit wurden die bis zu diesem Zeitpunkt formaljuristisch staatenlosen Neuankömmlinge zu Bürgern der Bundesrepublik. Materielle und finanzielle Hilfsangebote gab es für nahezu sämtliche Lebensbereiche. Nach Vorlage des Aufnahmebescheides konnte der bereits erwähnte »Flüchtlingsausweis C« und die Anerkennung als politischer Häftling nach § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes beantragt werden. Beide Dokumente berechtigten direkt oder indirekt zum Empfang zahlreicher Vergünstigungen und Hilfen: Entlassungsgeld, Übergangshilfe, Eingliederungshilfe, Arbeitslosengeld, eine mehrwöchige Kur, Krankengeld, Arbeitsvermittlung, Berufsfürsorgen, Leistungen der Beschädigtenversorgung bei gesundheitlichen Haftschäden, (Teil-)erstattungen des erlittenen Vermögensschadens sowie Darlehen und Beihilfen für den Aufbau einer eigenen Existenz oder für die Beschaffung von Wohnraum und Hausrat.204 Viele der freigekauften ehemaligen Häftlinge nahmen die Hilfe in Anspruch: Zwischen 1980 und 1991 beispielsweise zahlte allein die Häftlingshilfestiftung Soforthilfen von über 13 Millionen DM aus, im Zeitraum von 1970 bis 1997 erhielten knapp 14 600 Antragsteller fast 30 Millionen DM. Dies war zwar wenig im Vergleich zu der
201 Vgl. Winkler, Karl: Zur Klärung eines Sachverhalts. Berlin 1990, S. 188. 202 Lolland: Gesicht zur Wand, S. 44. 203 Stiftung für Ehemalige Politische Häftlinge (Hg.): Kompass für den ehemaligen politischen Häftling. 6. Aufl., Sankt Augustin 1986. Hervorheb. i. O. 204 Merkblatt für den ehemaligen politischen Häftling, Stand 1968; BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 6052, Bl. 190–193.
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Summe, die die Bundesregierung für den Freikauf gezahlt hatte, doch fraglos mehr als bloß ein symbolischer Betrag.205 Schließlich hatten die ehemaligen politischen Häftlinge die Möglichkeit, beim Generalstaatsanwalt des jeweiligen Aufnahmelandes die »Feststellung der Unzulässigkeit der Strafvollstreckung«, faktisch die Annullierung des rechtsstaatswidrigen Urteils zu beantragen. Ging beispielsweise aus dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwalt Vogel und der Westberliner Rechtsschutzstelle zweifelsfrei hervor, dass dem Urteil ausschließlich politische Delikte zugrunde gelegen hatten, war die Annullierungsentscheidung in der Regel Routine. Wenn auch die vollständige juristische Rehabilitierung erst nach 1990 auf der Basis des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes möglich wurde, so war doch die Annullierung die amtliche Bestätigung für die Antragsteller, dass sie unschuldig inhaftiert worden waren.206 Erheblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Integrationsprozesses hatte zweifelsohne das persönliche Umfeld. Wer zusammen mit dem Partner oder der Partnerin und Familienangehörigen in den Westen kam oder auf die Hilfe von Verwandten und Freunden im Westen zählen konnte, stand weitaus weniger in der Gefahr, den »Anschluss« zu verpassen und zu vereinsamen. Viele hatten die Haftzeit überhaupt nur deshalb überstanden, weil sie auf ihre ganz private Wiedervereinigung mit der Familie im Westen hoffen konnten. Sie half, den »Verlust an Heimatgefühlen« wenigstens teilweise zu kompensieren.207 Für jene, die weder Angehörige noch Freunde im Westen hatten, waren die Häftlingsverbände wie beispielsweise der »Verband der Opfer des Stalinismus« (VOS) oder die »Internationale Gesellschaft für Menschenrechte« (IGfM) sowie private Betreuer eine wichtige Hilfe.208 Schließlich stellte der berufliche Erfolg einen entscheidenden Faktor dar. Das Spektrum der Karriereverläufe nach der Ankunft im Westen reichte dabei vom nahtlosen Übergang in eine äquivalente, teils sogar bessere berufliche Position bis hin zum sozialen Abstieg, Obdachlosigkeit und sogar bis zum Suizid, wobei dies aber Einzelfälle waren.209 Eine 1996 veröffentlichte Studie 205 Baum, Karl-Heinz: Integration von Flüchtlingen und Übersiedlern. In: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. 8/1, S. 576 f. 206 Häftlingshilfestiftung, Kompass, S. 72. 207 Eberhardt, Andreas: Verschwiegene Jahre. Biographische Erzählungen von Gefangenschaft und dem Leben danach. Berlin 1998, S. 212 u. 228. 208 Schumann, Karl F.: Die Lebenswege politischer Häftlinge nach Freikauf oder Ausreise. In: Ders.; Dietz, Gerhard-Uhland; Gehrmann, Manfred (Hg.): Private Wege der Wiedervereinigung. Die deutsche Ost-West-Migration vor der Wende. Weinheim 1996, S. 333–357, hier 348; Häftlingshilfestiftung, Kompass, S. 45 f.; vgl. Schemann, Anne: »Feindzentrale Onkel Theo«. Eine private Hilfsaktion für DDR-Bürger und ihre politischen Dimensionen. Magdeburg 2004. 209 Für den nahtlosen beruflichen Wechsel vgl. exemplarisch den Fall eines Wissenschaftlers an der Akademie der Wissenschaften in Dresden, der bereits im Jahr nach seiner Haftentlassung auf einen
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auf Basis der Befragung von rund 100 Häftlingen, die zwischen 1983 und 1986 freigekauft wurden, kam zu dem Ergebnis, dass sie zum Zeitpunkt der Erhebung der Daten beruflich besser gestellt waren als andere Zuwanderer aus der DDR. Abgesehen von Ausnahmefällen, in denen die Betroffenen in eine »soziale Randlage« geraten waren, hätten sie sich »gut in der Bundesrepublik eingelebt« – angesichts der erschwerten Ausgangsbedingungen ein bemerkenswert positiver Befund.210 Ob dieses Fazit hingegen im gleichen Maße auf die Freigekauften der sechziger und siebziger Jahre zutrifft, bleibt eine offene Frage. Zudem blieb der Aspekt der psychischen Haftfolgen in der Studie weitgehend unberücksichtigt. »Der Westen hat zwar meinen Körper befreit, doch mein Geist ist weiter eingesperrt.«211 Dieser Ausspruch des 1982 freigekauften und in die Bundesrepublik ausgereisten Schriftstellers Manfred Bartz führt zu der These am Beginn des Kapitels zurück, dass die freigekauften Häftlinge zwar die doppelte Gewalterfahrung der körperlichen und seelischen Repression in der Haft miteinander teilten, der Freikauf jedoch nicht für jeden zugleich eine Befreiung auch in psychischer Hinsicht war. Viele trugen nicht nur dauerhafte körperliche Schäden davon, sondern wurden durch die Haft traumatisiert.212 Eine Studie zu der Frage, ob freigekaufte und in den Westen entlassene Häftlinge seltener als ihre nicht-freigekauften Mitinhaftierten unter psychischen Erkrankungen infolge der Haft leiden, gibt es nicht. Die Ergebnisse der jüngsten Untersuchung von Sibylle Plogstedt zum Schicksal politischer Häftlinge nach der Wiedervereinigung deuten jedoch darauf hin, dass die Freigekauften zwar seltener als die nicht-Freigekauften unter psychischen Folgeerkrankungen leiden, der Unterschied aber nicht signifikant ist: »Die Fähigkeit, nach der Einheit zurechtzukommen, war offenbar relativ unabhängig davon, ob die ehemaligen politischen Gefangenen nach ihrer Haft im Westen bzw. im Osten lebten. Es gab einen leicht erhöhten Anteil unter denen, die in der DDR gelebt hatten und nach 1989 nicht zurechtkamen.«213 Lehrstuhl an der TU Clausthal berufen wurde. AdSD, NL Wehner, AK-DDR, Mappe 6, FBS 191; zu Suiziden vgl. Häftlingshilfestiftung, Kompass, S. 65 sowie Franke: Sand im Getriebe, S. 199 f. 210 Schumann: Lebenswege politischer Häftlinge, S. 338 f u. 348. 211 Förster, Andreas: Er war einmal der Gefangene des Monats. Ein Satiriker, für dessen Freilassung aus DDR-Haft sich Amnesty International einsetzte, lebt heute vergessen in Hamburg. In: Berliner Zeitung v. 27.7.1998. 212 Der Aspekt der psychischen Haftfolgen ist im zurückliegenden Jahrzehnt verstärkt in das Blickfeld der Forschung gerückt, siehe z. B. Beer, Kornelia; Weißflog, Gregor Joachim; Frewer, Andreas: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen. Göttingen 2011; Plogstedt, Sibylle: Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung. Gießen 2010; Trobisch-Lütge, Stefan; Birthler, Marianne: Das späte Gift. Folgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre Behandlung. Gießen 2004. 213 Plogstedt: Knastmauke, S. 403 f.
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Was im Häftlingsjargon als »Knastmauke« bezeichnet und von Unkundigen häufig als »Stimmungsschwankungen« abgetan wurde, ist mittlerweile als psychische Erkrankung unter der Bezeichnung »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS) anerkannt.214 Erst 1980 wurde die PTBS als eigenständige diagnostische Kategorie etabliert.215 Das Krankheitsbild zeigt im Wesentlichen drei Merkmale:216 Erstens das ständige, ungewollte Wiedererleben der traumatischen Ereignisse, beispielsweise in Träumen oder plötzlich aufbrechenden Erinnerungen. Ehemalige Häftlinge berichten, dass sie in diesen Situationen beispielsweise den Moment ihrer Verhaftung, das Gefühl der völligen Ohnmacht oder andere, als stark belastend empfundene Ereignisse während ihrer Haftzeit wiedererleben. Damit einher geht zweitens die gezielte Vermeidung von Gegenständen oder Dingen, die an das Trauma erinnern und den Prozess des Wiedererlebens auslösen können. Dabei kann es sich um an sich harmlose, alltägliche Gegenstände, Geräusche, Bilder und selbst Gerüche handeln. Ein 1978 freigekaufter ehemaliger Häftling schrieb kurz nach seiner Entlassung in einem Dankesbrief an Herbert Wehner, es sei für die Gruppe der in Gießen Eingetroffenen »ein Negativ-Prägungserlebnis« gewesen, dass man ihnen ausgerechnet die gleiche blau-weiß karierte Bettwäsche ausgegeben habe, »die alle jahrelang kennen und [die] somit zum Knast-Symbol geworden ist«.217 Mit Vermeidungsreaktionen kann außerdem ein Gefühl von Betäubtheit oder emotionalem Erstarren, allgemein die »Einschränkung der allgemeinen Reagibilität« (d. h. Fähigkeit, sehr sensibel zu reagieren) verbunden sein. Drittens zeigen sich Symptome eines »erhöhten Erregungsniveaus«, was sich z. B. in Schlafstörungen, leichter Reizbarkeit oder Wutausbrüchen, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Wachheit oder übertriebenen Schreckreaktionen äußert. Da alle vorgenannten Symptome eine »normale« Reaktion auf die Ereignisse darstellen können, insofern sie im unmittelbaren, auf das Erlebnis 214 Gersons, Berthold P.R.; Denis, Doris: Das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung. In: Priebe, Stefan: Eingesperrt und nie mehr frei. Psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR. Darmstadt 1996, S. 3–12, hier 8. 215 D.h. in das »Handbuch psychischer Störungen« der Vereinigung amerikanischer Psychiater, 1992 schließlich in die »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten« der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen; Gersons; Denis: posttraumatische Belastungsstörung, S. 1; Ford, Julian D.: Posttraumatic stress disorder. Scientific and professional dimensions. Amsterdam 2009, S. 18. 216 Für das Folgende siehe Gersons; Denis: posttraumatische Belastungsstörung, S. 9–11; Welsch, Wolfgang: Im Teufelskreis des Traumas – Traumafolgen nach politischer Haft in der DDR. In: Trauma und Gewalt. Forschung und Praxisfelder 3 (2009) 4, S. 355–359. 217 Dankschreiben an Wehner, 22.8.1978; AdSD, NL Wehner, AK-DDR, Mappe 57, FBS 1661; vgl. Häftlingshilfestiftung, Kompass, S. 72.
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folgenden Zeitraum auftreten, muss die Dauer der Störung mindestens einen Monat betragen, damit von einer Posttraumatischen Belastungsstörung gesprochen werden kann. Da die PTBS erst 1980 medizinisch indiziert wurde, waren die vor 1990 behandelnden Ärzte nicht in der Lage, die psychischen Haftfolgeschäden als solche zu diagnostizieren. Ihr Augenmerk richtete sich hauptsächlich auf die Heilung oder Linderung der körperlichen Haftfolgen; über die psychischen Verletzungen wurde hingegen nicht selten mit dem Ratschlag hinweggegangen, der Patient solle sie »einfach vergessen«.218 Wichtig zu erwähnen ist schließlich, dass die Dauer der Inhaftierung in keinem signifikanten Zusammenhang zum Ausmaß der PTBS-Symptomatik steht. Das Erkrankungsrisiko ist bei Personen mit einer vergleichsweise kurzen Haftzeit nicht geringer als bei jenen, die mehrere Jahre in Haft waren.219 Anders formuliert: Die Gleichung »kurze Haft gleich geringe Gefahr einer Traumatisierung« ist schlichtweg falsch. Seit den neunziger Jahren existieren Hilfseinrichtungen für durch Haft Traumatisierte. In Berlin beispielsweise gründete sich 1998 die Beratungsstelle »Gegenwind«. Sie bietet Ratsuchenden professionelle psychosoziale Begleitung und psychotherapeutische Hilfe an.220 Bedauerlicherweise gibt es jedoch zu wenige dieser Einrichtungen, die Nachfrage übersteigt bei Weitem das Angebot. Generell lassen sich Faktoren nennen, die sich positiv auf den Prozess der Bewältigung auswirken konnten und können: Zweifelsohne gehört die soziale Einbindung, das Gespräch mit Angehörigen oder Freunden dazu, ferner die Einsicht in die Akten des MfS, die das »Informationsmonopol des Täters« aufhebt und eine aktive Auseinandersetzung mit den Geschehnissen ermöglicht.221 Schließlich deuten Untersuchungen darauf hin, dass Betroffene mit einem ausgeprägten Kohärenzsinn, d. h. der Fähigkeit, ihre Erlebnisse in einem größeren Zusammenhang zu sehen und ihm dadurch einen Sinn verleihen zu können, eine »vergleichsweise geringer ausgeprägte Symptomatik haben«.222 218 Bohlken, Amanda: Die dritte Dimension der Tränen. DDR-Flucht, Haft und Trauma, Heilungswege. Leipzig 2007, S. 14. 219 Maerker, Andreas; Schützwohl, Matthias: Posttraumatische Belastungsstörungen bei ehemaligen politischen Inhaftierten der DDR: Symptomatik, verursachende und aufrechterhaltende Faktoren – die Dresden-Studie. In: Priebe, Stefan: Eingesperrt und nie mehr frei. Psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR. Darmstadt 1996, S. 45–56, hier 53. 220 http://www.beratungsstelle-gegenwind.de, download 29.2.2012. 221 Süß, Sonja: Die Rolle der Psychiatrie bei politischer Haft in der DDR. In: Priebe, Stefan: Eingesperrt und nie mehr frei. Psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR. Darmstadt 1996, S. 23–34, hier 32. 222 Maerker; Schützwohl: Posttraumatische Belastungsstörungen, S. 51.
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Ungeachtet der bedrückenden psychischen Folgen der Haft nennen manche Inhaftierte auch positive Erfahrungen, die sie in der Haft, nach dem Freikauf im Westen oder nach der Wiedervereinigung gemacht haben. Dankbarkeit spricht aus den Zeilen eines Briefes von Manfred Bahra über die nach 1989/90 erfahrene Anerkennung: »Mir fällt [dazu] noch ein: Die Bundesrepublik kaufte uns frei, entschädigte uns nach Rehabilitation und zahlt eine monatlich Rente obendrauf.«223
223 Manfred Bahra an den Verfasser, 15.3.2011.
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Schluss
In der Geschichte des Häftlingsfreikaufs spiegelt sich der Prozess der schrittweisen Annäherung sowie zunehmenden Verflechtung der beiden deutschen Staaten zwischen Mauerbau und Mauerfall wider. In seinem Verlauf loteten die Akteure im Westen die Spielräume und Grenzen einer Zusammenarbeit zwischen der demokratischen Bundesrepublik und der SED-Diktatur aus. Dabei nahm der Freikauf eine Vorreiterrolle ein: Die erste Freikaufsvereinbarung wurde noch vor dem Passierscheinabkommen vom Dezember 1963 geschlossen, das in vielen Darstellungen zur deutsch-deutschen Thematik oft als erster Schritt auf dem Wege der Annäherung genannt wird. In den Folgejahren wuchs allmählich das gegenseitige Vertrauen, was sich wiederum förderlich auf die Bereitschaft der Bundesregierung auswirkte, weitere Schritte der Annäherung in der Deutschlandpolitik zu wagen. Der Annäherungsprozess setzte allerdings weder zwangsläufig ein, noch verlief er geradlinig, denn seiner Entstehung lag keine unausweichliche Notwendigkeit zugrunde und die Bundesregierung lehnte es zunächst ab, den Freikauf zu einem dauerhaften Programm zu machen. Anders als bisher angenommen, war der Beginn des Freikaufs nicht in erster Linie humanitär motiviert, sondern fußte auf einer Initiative der DDR, für die das ökonomische Motiv ausschlaggebend war. Vor dem Hintergrund des Kreditwunsches der DDRFührung an die Bundesregierung im Jahr 1962 und nach einigen Freikäufen durch Privatleute wurde 1963 das erste, wahrscheinlich als »Versuchsballon«1 gedachte Freikaufsangebot seitens der DDR über die beiden Rechtsanwälte Jürgen Stange und Wolfgang Vogel an die Bundesregierung herangetragen. Welche Motivkonstellation die DDR-Führung 1963 im Detail dazu bewegten, die erste Freikaufsvereinbarung mit der Bundesregierung anzustreben, ist zwar nicht mit letzter Sicherheit rekonstruierbar, doch zweifellos gaben die ökonomischen Vorteile den Ausschlag. Grundsätzlich ist die Entstehung des Freikaufs vor dem Hintergrund des Entstalinisierungsprozesses in der DDR infolge des XXII. Parteitages der KPdSU vom Oktober 1961 zu sehen. Die Bundesregierung ging erst auf die Offerte ein, nachdem sich der Pressemagnat Axel Springer in Bonn dafür einsetzte, das Angebot ernsthaft zu prüfen. Maßgeblich auf kirchliches Engagement ging die erste Entlassungswelle im Sommer 1964 1
Vermerk Rehlingers, 3.9.1963; DzD BesBem Bd. 1, S. 59.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
zurück: Über eigene Freikäufe und das Angebot an die Bundesregierung, das kirchliche Warentransfersystem zu nutzen, überwanden die evangelische und katholische Kirche die Widerstände innerhalb der Bundesregierung und bewegten sie dazu, die von der DDR geforderte Kopplung des Freikaufs an den Agentenaustausch zu akzeptieren. Die allmähliche Verstetigung des Freikaufs im Laufe der sechziger Jahre war von Grundsatzkonflikten zwischen den Akteuren im Westen überschattet. Bestand anfangs noch Einigkeit darüber, dass der Freikauf eine einmalige, zeitlich und qualitativ begrenzte Maßnahme sein sollte, drängten die Kirchen und der Berliner Senat mehr und mehr auf eine Fortführung und Ausdehnung des Freikaufs auch auf Häftlinge mit »niedrigeren« Strafen, wogegen insbesondere der Staatssekretär im Gesamtdeutschen Ministerium Widerstand leistete. Erst in der Amtszeit Herbert Wehners rückte die Bundesregierung von ihrer anfänglichen Skepsis gegenüber einer Verstetigung ab. Der »point of no return« – jedenfalls solange es keine grundsätzliche vertragliche Regelung des Verhältnisses zur DDR gab – war spätestens Ende 1967 überschritten. Seitdem konnte jeder politische Häftling grundsätzlich in den Freikauf einbezogen werden. Wehners Nachfolger Egon Franke führte diese Politik seines Vorgängers fort. Mit Unterzeichnung des Grundlagenvertrages beabsichtigte die Bundesregierung, den bisher inoffiziell vereinbarten Freikauf durch ein »legalisiertes« Verfahren zu ersetzen, zumal der bisherige Bonner Vorbehalt gegen offizielle Verhandlungen, d. h. die Politik der Nichtanerkennung der DDR, durch das Konzept der »Neuen Ostpolitik« obsolet geworden war. Für die DDR stellte der inoffizielle Verhandlungskontakt über die Anwälte indes den einzig gangbaren Weg für derartige Übereinkünfte dar. Schließlich konnte sie nach ihrem Selbstverständnis als eigenständige, sozialistische deutsche Nation per se nur insgeheim mit einer auswärtigen Macht über den Verkauf ihrer eigenen Bürger verhandeln. Herbert Wehners Besuch bei Erich Honecker in der DDR im Mai 1973, der zugleich das erste Treffen eines Bonner Spitzenpolitikers mit dem SED-Generalsekretär war, endete daher mit der Übereinkunft, das bisherige inoffizielle Verfahren weiterhin parallel zu den neu etablierten, offiziellen Kontaktebenen fortzusetzen. Fortan wurde der Freikauf auf Basis dieses »gentleman’s agreement« auf höchster Ebene durchgeführt. Die Strukturen, innerhalb derer sich der Freikauf bewegte, blieben daher über den gesamten Zeitraum von 1963 bis 1989 im Wesentlichen konstant, was den pragmatisch und ergebnisorientierten Charakter des diskreten Kommunikationsskanals unterstrich und die notwendige Diskretion gewährleistete. Ferner leitete Wehners Besuch bei Honecker die Phase der Ausweitung und Konsolidierung des Freikaufs ein, der in den siebziger Jahren allmählich zu einem festen Element der sozialliberalen Deutschland- und Entspannungspolitik wurde. Die gegenseitigen Zugeständnisse, darunter die quantitative Erhö-
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hung der Freikaufszahlen und die Pauschalierung der Gegenleistung, trugen zur atmosphärischen Entspannung des deutsch-deutschen Verhältnisses insgesamt bei und festigten das gegenseitige Vertrauen, das sich auch durch die regelmäßigen Kontakte zwischen den Regierungsspitzen weiter vertiefte. Seit Mitte der siebziger Jahre wurden die Verhandlungen über den Freikauf, den Agentenaustausch sowie die Familienzusammenführungen nur noch selten von Grundsatzkonflikten überschattet. Auch nach dem Regierungswechsel 1982 wurde der Freikauf von der christlich-liberalen Bundesregierung fortgeführt, die somit die grundsätzlichen Entscheidungen und Absprachen mit der DDR aus der sozialliberalen Ära übernahm. Indes stieß die Kooperationsbereitschaft an Grenzen. Der Freikauf, der sich von Beginn an auf einem schmalen Grad zwischen Kumpanei mit dem SED-Regime einerseits und pragmatischer Kooperation zum Wohle der Betroffenen andererseits bewegte, drohte in eine Kollaboration mit dem SEDRegime abzugleiten. Die rapide steigende Zahl verhafteter Ausreiseantragsteller in den Jahren 1983/84 verstärkte die von Beginn an vorhandenen Befürchtungen im Westen, dass der Freikauf die DDR zur absichtlichen »Produktion« von Häftlingen animieren könnte. Tatsächlich legen interne Dokumente des MfS den Schluss nahe, dass die Verhaftungswelle des Jahres 1984 maßgeblich ökonomisch motiviert war. Zwar kaufte die Bundesregierung 1984/85 mit jeweils über 2 000 Personen die doppelte Anzahl politischer Häftlinge frei, versuchte in den darauffolgenden Jahren jedoch, die Gegenleistungen für verhaftete Antragsteller zu senken. Im Frühjahr 1989 wurde der Freikauf auf eine Weisung des Kanzleramtes hin auf verurteilte Fluchtwillige eingeschränkt. Im Herbst des Jahres 1989 endete das Freikaufsprogramm mit einer abschließenden Pauschalvereinbarung, zumal durch den Mauerfall und den Demokratisierungsprozess in der DDR das Problem der politischen Inhaftierungen obsolet wurde. Betrachtet man die Wechselwirkungen des Freikaufs im Prozess der Annäherung, so ist festzustellen, dass das offene politische System der Bundesrepublik weitaus besser mit dem »Fremdkörper« eines abgeschirmten Bereichs diskreter Abmachungen mit der SED-Diktatur umgehen konnte, als dies umgekehrt in der DDR der Fall war. Die für das Freikaufprogramm bedrohliche, weil öffentliche Behandlung des Vorgangs in den Medien hatte nämlich zugleich eine Art »immunisierende« Wirkung. Die Verletzung der Geheimhaltung schadete dem offenen System an sich nicht, im Gegenteil: Mit dem allmählichem Bekanntwerden des Freikaufs profilierte sich die Bundesrepublik als »die wahre und einzig legitime Interessenvertreterin aller Deutschen«, wie es Wolf Biermann pointiert formuliert hat, gerade das, »was sie in den Augen
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der Welt und im Bewußtsein der Bürger sein« wollte. Der Freikauf war somit zugleich »die langfristig populärste und – billigste! – PR-Investition des Westens im Wettkampf der Systeme«.2 Umgekehrt galt dies für die DDR nicht: Das Häftlingsgeschäft widersprach ihrem Selbstverständnis, das »bessere Deutschland« zu sein. Die Wesensfremdheit des Häftlingsgeschäftes gegenüber dem geschlossenen politischen System der DDR bestand nicht in seiner Geheimhaltung, sondern vielmehr darin, dass die DDR damit gegen ihre eigenen politischen Grundsätze verstieß. Bildlich gesprochen begann der »Fremdkörper Freikauf« langfristig sogar das »Immunsystem Staatssicherheit« selbst zu schädigen. Allerdings hatte das Häftlingsgeschäft weder von Beginn an noch ausschließlich diese negative Wirkung. Das SED-Regime konnte einen wirtschaftlichen Vorteil aus dem Verkauf politischer Häftlinge ziehen, indem es die gelieferten Waren dem Wirtschaftskreislauf zuführte oder die Erlöse für Zwecke der Liquiditätssicherung verwendete. Der Befund, dass in den sechziger Jahren über 40 Prozent aller freigekauften Häftlinge in die DDR und nicht wie bisher angenommen in die Bundesrepublik entlassen wurden, ferner ein großer Anteil der Westentlassenen sowieso Bundesbürger waren, deutet darauf hin, dass das SED-Regime eine durchaus erfolgreiche Strategie der ideologischen »Schadensbegrenzung« verfolgte. Wenn Bundesbürger in den Westen, DDR-Bürger hingegen an ihren früheren Wohnort entlassen wurden, konterkarierte der Häftlingsverkauf schließlich nur in weitaus geringerem Maße den Sinn und Zweck der Mauer, da er eben nicht zwangsläufig die Entlassung des Häftlings zum »Klassenfeind« in den Westen miteinschloss. Die negativen Folgewirkungen des Häftlingsgeschäftes erschienen den Entscheidungsträgern offenbar beherrschbar, unter den Bedingungen der sechziger Jahre stellte es ein willkommenes Zubrot zu insgesamt akzeptablen Konditionen dar. Die SEDFührung agierte daher durchaus rational, da die Vorteile die Nachteile des Häftlingsgeschäftes überwogen und den eigenen Interessen in einem weitaus geringeren Maße widersprachen, als bisher angenommen. Die große Zahl an Entlassungen in die DDR sowie der in zahlreichen Fällen gelungene Betrug an der Bundesrepublik durch »Verrechnung« bereits entlassener Häftlinge und Kreation von »Phantomfällen« stärkte zudem die ideologische Binnenlegitimation des Häftlingsgeschäftes innerhalb des Repressionsapparates. Die potenziellen negativen Folgewirkungen für das internationale Ansehen der DDR waren in den sechziger Jahren gleichfalls begrenzt, da die Westmedien nur selten über den Freikauf berichteten und er dadurch weitgehend gegenüber der eigenen Bevölkerung in der DDR konspiriert werden konnte. 2 Biermann, Wolf: Sehr geehrter Genosse Honecker, sehr geehrter Dr. Kohl, liebe Katja ...: fünf Briefe aus gegebenen Anlässen. Frankfurt 2006, S. 25.
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Mit der Ausweitung und Verstetigung des Freikaufs sowie der Vereinbarung, dass die Häftlinge im Regelfall in den Westen entlassen werden sollten, traten die negativen Folgewirkungen des Häftlingsgeschäftes seit Mitte der siebziger Jahre für die DDR allerdings immer deutlicher hervor. Seit Verabschiedung des Grundlagenvertrages rückte der Freikauf verstärkt ins Blickfeld der westdeutschen Öffentlichkeit und wurde von den Print- und Rundfunkmedien regelmäßig thematisiert. Die teils internationalen Medienberichte beeinflussten die »gutnachbarlichen Beziehungen« zwischen beiden Staaten zwar nicht, doch führten sie in Verbindung mit den Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen und den privaten Kontakten zwischen Ost und West dazu, dass der Freikauf seit Mitte der siebziger Jahre breiteren Kreisen der (ausreisewilligen) DDR-Bevölkerung bekannt wurde. In den achtziger Jahren gewannen die Prozesse zunehmend an Eigendynamik. Die jährlichen Erlöse aus dem Häftlingsgeschäft einschließlich der Familienzusammenführung lagen seit 1975 durchgängig im dreistelligen Millionenbereich, wodurch das Häftlingsgeschäft zu einer beachtlichen Einkommensquelle wurde. Seine Einstellung erschien den Verantwortlichen fortan weder ratsam noch möglich, hätte die ohnehin angespannte finanzielle Lage weiter verschärft. Immer öfter wirkte sich der Freikauf kontraproduktiv auf die Abschreckungswirkung der Haft aus. Aus der Sicht einer zunehmenden Zahl von Ausreisewilligen schien er sogar derart berechenbar, dass sie eine Verhaftung in Kauf nahmen oder sogar »provozierten«, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Die destabilisierende Wirkung des Freikaufs lag vor allem darin, dass er der anschwellenden Flucht- und Ausreisebewegung ein legales Schlupfloch in der Mauer eröffnete. Ein Freikauf zog den nächsten nach sich und übte dadurch eine zunehmende »Sogwirkung« auf Antragsteller aus. Die Schwächung des oppositionellen Potenzials in der DDR durch eine »geräuschlose« Abschiebung von Oppositionellen in den Westen nebst Einstreichung der Gegenleistung konnte die Freikaufsmethode immer weniger bewirken, da die meisten freigekauften Häftlinge in den achtziger Jahren nicht mehr wegen Widerstands- oder Oppositionsdelikten im engeren Sinne, sondern wegen Fluchtversuchen und aufgrund ihrer Ausreiseaktivitäten verurteilt wurden. Neben dieser »Sogwirkung« auf Ausreisewillige hatte der »Fremdkörper« Freikauf eine geradezu »zersetzende« Wirkung auf das Repressionssystem der DDR, indem es die Sinnhaftigkeit der Autorität der operativen Mitarbeiter auf allen Ebenen des Apparates konterkarierte. Schleichender Autoritätsverlust gegenüber den »Gegnern« der DDR und auch Glaubwürdigkeitsverlust der politischen Führung waren die Folge. Eine ergebnisoffene Auseinandersetzung über die Folgen dieser Politik fand nicht statt, Forderungen nach Einstellung des Freikaufs begegnete die Führung mit offener Missachtung und Überheblichkeit gegenüber den Mitarbeitern an der Basis. Das System verlor durch die
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dadurch ausgelöste Frustration zugleich an Bindekraft gegenüber seinen eigenen Trägern. Aus der Sicht der Bundesrepublik wurde der Freikauf tendenziell immer »erfolgreicher«, d. h. die »Freikaufquote« stieg seit 1963 kontinuierlich an und lag in den achtziger Jahren bei knapp der Hälfte aller politischen Häftlinge in der DDR. Zudem sanken das durchschnittliche Strafmaß sowie die durchschnittliche Verbüßungsdauer, d. h. der Anteil der bis zum Freikauf abzusitzenden Strafe, auf zuletzt ein Jahr und sieben Monate bzw. knapp 40 Prozent der Gesamthaftstrafe ab; die tatsächliche Haftzeit konnte im Extremfall sogar bei »nur« einem halben Jahr liegen. Ferner verschob sich das Deliktgruppenprofil der freigekauften politischen Häftlinge. War in den sechziger Jahren noch die absolute oder relative Mehrheit wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Spionage, Oppositions- und Widerstandsdelikten im weitesten Sinne sowie aufgrund Fluchthilfetätigkeit verurteilt worden, standen in den siebziger Jahren hauptsächlich Fluchtversuche, in den achtziger Jahren zunehmend Verhaftungen im Zusammenhang mit Ausreisebemühungen im Vordergrund. Für die freigekauften Häftlinge war der Freikauf das bestimmende Thema während der Haft, das Ziel ihrer Hoffnungen und Wünsche. Die Entlassung via Bus in den Westen, die das MfS seit circa 1966/67 über das größte StasiUntersuchungsgefängnis der DDR auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt abwickelte, war für die meisten einer der emotionalsten Momente des Lebens. War der deutsch-deutsche Häftlingsfreikauf eine historisch singuläre Erscheinung oder gibt es Erscheinungsformen des Geschäftes »Mensch gegen Ware«, die in ihrer Dimension und Bedeutung vergleichbar sind? Ein Blick über die Grenzen der Zeitgeschichte hinaus zeigt, dass die Auslösung von Gefangenen gegen Geld kein Phänomen nur der Neueren oder Neuesten Geschichte ist. Bereits in Altertum und Vormoderne waren Geiselnahmen zwecks Lösegelderpressung gang und gäbe. Das prominenteste Beispiel aus der Antike ist wohl die Gefangennahme Cäsars durch Piraten im Jahre 75/74 v. Chr., die ihn erst nach Zahlung eines hohen Lösegeldes freiließen; ein bekannter Fall aus dem Mittelalter ist die Gefangennahme des englischen Königs Richard I. (»Löwenherz«) im Jahr 1192/93 durch Herzog Leopold V. von Österreich und Richards spätere Auslösung gegen mehrere Tonnen Silber. Eine »Ökonomie des Loskaufs« entwickelte sich gar im Kontext des Gegensatzes zwischen Orient und Okzident seit den Kreuzzügen. Die Expansion des Osmanischen Reiches im Mittelmeerraum und auf dem Balkan im Spätmittelalter ging mit Kaperkriegen und Razzien einher, in denen die muslimischen Eroberer christliche Gefangene machten, diese teils versklavten, teils auch
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gezielt zur Erpressung von Lösegeldern entführten. In der Folge wurde das Freikaufsgeschäft »ein gleichsam ›natürlicher‹ Teil des Handels mit der Levante und dem Maghreb«.3 Religiöse Orden, beispielsweise der 1218 gegründete Mercedarierorden (»Orden Unserer Lieben Frau von der Barmherzigkeit vom Loskauf der Gefangenen«), für die der Freikauf wesentlicher Ordenszweck war,4 »spezialisierten« sich gleichsam auf die Gefangenenauslösung. In den europäischen Kriegen der frühen Neuzeit und noch während der Kriegshandlungen auf dem nordamerikanischen Kontinent im 18. Jahrhundert war zudem die Praxis üblich, Kriegsgefangene gegen Lösegeld, eine »Ranzion«, zu entlassen und dafür eine nach dem jeweiligen militärischen Rang abgestufte Gegenleistung zu fordern.5 Mit der zunehmenden Verrechtlichung zwischenstaatlicher Kampfhandlung im 19. Jahrhundert verschwand diese Praxis von den europäischen Schlachtfeldern, die Entlassung der Kriegsgefangenen wurde fortan im Rahmen der Friedensverträge umfassend geregelt, ohne dafür noch »pro-Kopf« Gegenleistungen zu verlangen.6 Ebenso wenig findet sich ein geeigneter Vergleichsgegenstand aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwar gab es in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges Verhandlungen zwischen Vertretern des NS-Terrorapparates und jüdischen Repräsentanten über die »Loslösung von Juden gegen Devisen«.7 In einigen Fällen gelang es sogar, verfolgte Juden auf diesem Wege vor dem sicheren Tod zu bewahren: 1944 stimmte Adolf Eichmann der Auswanderung von knapp 1 700 ungarischen Juden für eine Gegenleistung von 1 000 US-$ pro Person zu. Es blieb jedoch bei dieser einmaligen Vereinbarung, nicht zuletzt aufgrund der sich abzeichnenden Kriegsniederlage.8 Jedoch unterschied sich der Häftlingsfreikauf von diesen Vorläufern in mehrfacher Hinsicht. Geiselnahmen erfolgten und erfolgen in der Regel be3 Kaiser, Wolfgang: »Sprechende Ware. Gefangenenfreikauf und Sklavenhandel im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum«. In: Zeitschrift für Ideengeschichte III/2 (2009), S. 29–39, hier 30–33. 4 http://www.mercedarier.org/index.php/geschichte-spiritualitaet, download 22.6.2012. Noch heute engagiert sich der Orden in der Gefangenenseelsorge. 5 Autorenkollektiv: »Ranzion«. In: Meyers Konversationslexikon. 13. Bd: Phlegon – Rubinstein. 4. Aufl., Verlag des Bibliographischen Instituts. Leipzig und Wien 1885–1892, S. 577. 6 Siehe z. B. die Bestimmungen des Zweiten Pariser Friedens von 1815, des Dritter Pariser Friedens von 1856 (Krimkrieg), des Frankfurter Friedensvertrags von 1871 sowie die Art. 214–224 des Versailler Vertrages. 7 Wildt, Michael: Freikauf gegen Devisen? Die Verhandlungen zwischen dem »Dritten Reich« und jüdischen Repräsentanten. In: Die Zeit v. 13.12.1996. 8 Bauer, Yehûdā: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945. Frankfurt/M. 1996; Löb, Ladislaus: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden. Köln 2010. Auch die »Schindlerjuden« wurden in gewisser Weise freigekauft, setzte Schindler doch sein Vermögen ein, um sie vor der Vernichtung zu retten.
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reits in der Absicht einer späteren Lösegelderpressung,9 wohingegen der Häftlingsfreikauf eher den erkauften Verzicht auf einen mehr oder weniger »legalen« Strafanspruch darstellte und demnach eher den Charakter der Korruption trug. Der vormoderne Freikauf von (christlichen) Sklaven ist ebenfalls nur bedingt vergleichbar, da der dingliche Rechtsstatus eines Sklaven per se dessen Käuflichkeit begründete. Auch die Auslösung von Kriegsgefangenen unterscheidet sich vom Häftlingsfreikauf insofern, da die Gefangenenauslösung meist ein einmaliger Vorgang ist, der nur gefangene gegnerische Soldaten und damit einen fest umgrenzten Personenkreis betrifft, außerdem erst nach Friedensschluss erfolgt. Zudem grenzen den Häftlingsfreikauf die zahlenmäßige Dimension, die lückenlose Kontinuität über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg und die Tatsache, dass es sich um Vereinbarungen zwischen staatlichen Akteuren handelte, von den vorgenannten Varianten der Gefangenenauslösung ab. Der Häftlingsfreikauf hatte jedoch insofern Merkmale eines Kriegsgefangenenaustausches, als dass er während des – faktisch einen angespannten Friedenszustand darstellenden – »Kalten« Krieges praktiziert wurde. Zudem betrachtete die DDR nicht nur die Westdeutschen, sondern auch die eigenen Staatsbürger unter den verkauften Häftlingen insofern als »Feinde«, als dass sie von der »politisch-ideologischen Diversion« des Westens beeinflusst worden waren und – ideologisch betrachtet – gegnerische »Kombattanten« waren. Neben dem Freikauf der gefangenen Exilkubaner durch die USA aus Kuba im Herbst 1962, der faktisch ein Loskauf von Kriegsgefangenen war, gibt es ähnliche Vorgänge aus der Geschichte des Kalten Krieges, die die Singularität des deutsch-deutschen Häftlingsfreikaufs zumindest in Teilaspekten relativieren. In jedem Falle zeigen sie, dass es zwischen Ost und West kein gänzlich unüblicher Vorgang war, neben dem Austausch von Agenten gegnerische »Kombattanten« für wirtschaftliche Leistungen freizugeben, wobei sich diese Form der Kooperation allerdings auf den europäischen Schauplatz der Systemkonkurrenz beschränkte.10 Drei Vorgänge bieten sich für einen Vergleich an. Wenig bekannt ist der sogenannte »Freikauf von Rumäniendeutschen«, über den zwischen 1967 und 1989 rund 200 000 Auswanderungswillige – unter ihnen auch Inhaftierte – in die Bundesrepublik ausreisten. Die Gegenleistungen in Form von Bargeld summierten sich dabei auf die geschätzte Summe von über einer Milliarde DM, die die rumänische Seite zur Begleichung von Schulden im Ausland einsetzte, ähnlich wie die DDR die Gelder 9 Beim Häftlingsfreikauf stand beides nicht notwendigerweise in einem kausalen Zusammenhang, abgesehen von der in Kap. IV.2 thematisierten möglich »Produktion« von Häftlingen zum Zwecke ihres Verkaufs. 10 Im geteilten Korea gab und gibt es keinen Häftlingsfreikauf, lediglich einige wenige Agentenaustauschvorgänge.
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aus dem Häftlingsfreikauf. Parallelen zeigen sich auch in den Strukturen: Rechtsanwalt Heinz-Günther Hüsch (MdB) verhandelte im Auftrag der Bundesregierung unter der Auflage strenger Geheimhaltung mit einem Offizier der rumänischen Geheimpolizei Securitate über die jeweilige Zahl der Ausreisen und die Höhe der Gegenleistung. Ähnlich wie beim Häftlingsfreikauf wurden auch diese Vereinbarungen in den siebziger Jahren, hier 1978 mit dem Treffen zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Rumäniens Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu, auf eine gleichsam »offizielle« Ebene gehoben. In der Praxis ging damit eine Erhöhung der jährlichen Ausreisequote einher; zudem wurden die bisher nach dem jeweiligen Ausbildungsgrad gestaffelten »Preise« von 1 800 DM für den »Normalfall« bis 11 000 DM für »Akademiker mit Abschluß« durch eine Pauschalsumme ersetzt.11 Einer der seinerzeit zuständigen Offiziere der Securitate rechtfertigte diese Verhandlungsstrategie in einem Interview mit der Deutschen Welle noch dazu mit exakt demselben Argumentationsmuster, das die DDR im Falle des Freikaufs heranzog: »Es ist natürlich so, dass wir für einen Ingenieur, Mediziner oder Rechtsanwalt, die hier umsonst auf unsere Kosten studiert haben, wesentlich mehr verlangen mussten als für den einfachen Bauern aus dem Banat.«12 Ein der Größenordnung nach vergleichbares Ausreiseabkommen schloss die Bundesrepublik am 9. Oktober 1975 mit der Volksrepublik Polen. In einem beigefügten Protokoll versicherte die polnische Seite, »dass etwa 120 bis 125 000 [deutschstämmige, JPW] Personen im Laufe der nächsten vier Jahre die Genehmigung ihres Antrages zur Ausreise erhalten würden«.13 Zwar kein Junktim, aber doch ein »paralleles« Zugeständnis der Bundesregierung war die Zahlung von 1,3 Milliarden DM »zur wechselseitigen Abgeltung sämtlicher Ansprüche im Bereich der Renten- und Unfallversicherung«. Ferner erhielt die Bank Handlowy Warszawa S. A. in Warschau die Option, bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) einen Kredit über eine Milliarde DM aufzunehmen.14 Zudem beschlossen die Vertragspartner ein Programm zur engeren 11 Meinhardt, Ernst: Der Freikauf der Rumäniendeutschen – Was sagen deutsche Politiker dazu? Was geben die Archive her? Zit. nach: http://www.kulturraum-banat.de/Kriegsfolgen/Freikauf.htm, download 4.7.2012. 12 »Der größte Freikauf der Geschichte«. Deutsche Welle (TV), 26.6.2010; http://www.youtube.com/watch?v=O5OZERreY0E; Dobre, Florica/Consiliul Național pentru Studierea Arhivelor Securității (Romania): Acțiunea »Recuperarea«. Securitatea și emigrarea germanilor din România (1962–1989). București 2011; Hüsch, Heinz-Günther; Baier, Hannelore; Meinhardt, Ernst (Hg.): Kauf von Freiheit. Heinz-Günther Hüsch im Interview mit Hannelore Beier und Ernst Meinhardt. Hermannstadt 2013. 13 Szatkowski, Tim: Die CDU/CSU und die deutsch-polnischen Vereinbarungen vom Oktober 1975. Humanität oder Konfrontation? In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011) 1, S. 53–78, hier 66. 14 Ebenda.
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wirtschaftlichen und industriell-technischen Zusammenarbeit. Die jeweiligen Zusagen wurden von beiden Seiten penibel eingehalten: Im Sommer 1980 stellte das Auswärtige Amt »die reibungslose Abwicklung des Ausreiseprotokolls« fest, 1981 bis 1986 reisten weitere rund 167 000 Menschen aus Polen aus, 1989 stieg die Zahl gar auf über 250 000 an.15 Die Vereinbarung war aufgrund der öffentlichen Verhandlung sowie der Trennung von Leistung und Gegenleistung weit weniger polemischen Angriffen ausgesetzt als der Häftlingsfreikauf, doch keinesfalls unumstritten. Während die Abgeordneten der sozialliberalen Koalition dem zugrunde liegenden Gesetz zustimmten, kritisierte CSU-Chef Franz Josef Strauß die Vereinbarung als »Musterbeispiel von Pseudo-Menschlichkeit und Pseudo-Entspannung«,16 wohingegen Rainer Barzel unter Verweis auf den von ihm initiierten Häftlingsfreikauf auf die Annahme des Gesetzes durch die unionsregierten Länder im Bundesrat drängte.17 Die Bundesregierung spielte mit dem Häftlingsfreikauf aus der DDR, dem Freikauf von Rumäniendeutschen und schließlich den deutsch-polnischen Ausreisevereinbarungen womöglich sogar den Vorreiter für jene Abmachungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion aus dem Jahr 1979, aufgrund derer einige tausend russische Juden gegen Weizenlieferungen in die USA ausreisen durften. Die Hintergründe, Motive und Details der Absprachen sind jedoch nicht erforscht, dürften aber im Zusammenhang mit dem Jackson-Vanik-amendment stehen, das der US-Kongress 1975 verabschiedete. Auf Grundlage des Gesetzes konnte Handelspartnern – insbesondere der UdSSR – der Status der »most favoured nation« (dt. Meistbegünstigungsklausel) im gegenseitigen Handel teilweise entzogen oder eingeschränkt werden, wenn sie ihren Bürgern das Recht auf Auswanderung vorenthielten.18 Während sich der Freikauf von Rumäniendeutschen, die Ausreise Deutschstämmiger aus Polen und die Auswanderung sowjetischer Juden zwar in ähnlichen Strukturen wie der Häftlingsfreikauf abspielten, handelte es sich jedoch hauptsächlich um Ausreisen ohne eine vorherige Inhaftierung, sodass die Vereinbarungen eher den deutsch-deutschen Familienzusammenführungen glichen. Der Häftlingsfreikauf hingegen grenzte sich von diesen (Ausreise-)vereinbarungen durch seine besondere Bedeutung für den Prozess eines schrittweisen Paradigmenwechsels in der (Gewalt-)Kultur des Kalten Krieges ab, ein Prozess, der Voraussetzung für die Entstehung des Freikaufs war und den er umgekehrt 15 Ebenda, S. 77. 16 Zit. nach: ebenda, S. 67. 17 Zit. nach: ebenda, S. 69. 18 Vgl. Baron, Salo W.: The Russian Jews under Tsars and Soviets. 2. Aufl., New York 1987; Luks, Leonid (Hg.): Der Spätstalinismus und die »jüdische Frage«. Köln 1998.
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IX Schluss
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seinerseits beeinflusste. Generell war der Freikauf Teil des allmählichen Prozesses der Abkehr von massiver körperlicher Gewalt als Mittel staatlichen Handelns, den die meisten Staaten im kommunistischen Einflussbereich im mittelund osteuropäischen Raum in der Phase des Poststalinismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchliefen.19 Dieser Prozess lässt sich interessanterweise sogar am Werdegang des Hauptprotagonisten aufseiten der DDR nachverfolgen. Mielkes Sonderbeauftragter für das Häftlingsgeschäft Heinz Volpert war am Beginn seiner Karriere in den fünfziger Jahren noch an mindestens acht gewaltsamen Entführungen von Westdeutschen oder Westberliner Bürgern in die DDR beteiligt.20 Die offensive und gewaltsame Bekämpfung von »Feindorganisationen« wie der Westberliner »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« gehörte zum gängigen Methodenarsenal des MfS. Demgegenüber vollführte das MfS in den sechziger Jahren im Auftrag der SED eine Kehrtwende vom »Auftrag Menschenraub« hin zum »Auftrag Menschenhandel«. Entführungen, die in MfS-Dokumenten u. a. unter der Rubrik »Bekämpfung von Spionage« firmierten, wurden fortan nicht mehr angeordnet, sondern vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt, indem selbst zahlreiche der vormals entführten Personen an den Gegner ausgeliefert wurden – selbstverständlich nicht ohne eine entsprechende »Entschädigung« materieller Art zu fordern. Dabei avancierte ausgerechnet Heinz Volpert vom vormaligen Entführer zum Hauptorganisator des Häftlingsgeschäftes. Nachweislich kehrten in den sechziger Jahren mindestens 40 der zwischen 1951 und 1963 entführten und später zu hohen Freiheitsstrafen verurteilten Personen über den Freikauf in die Bundesrepublik zurück.21 Dieser Prozess setzte sich auch in den siebziger und achtziger Jahren insofern fort, als dass die freigekauften Häftlinge ihren Entlassungsort nunmehr frei wählen und sich damit dem Ort ihrer Gewalterfahrung gänzlich entziehen konnten. Der Freikauf stellte damit den »gewaltfreieren« Zustand der fünfziger Jahre in dem Sinne wieder her, dass er den freigekauften politischen Häftlingen die Ausreise in den Westen ermöglichte. Vor dem Mauerbau war es schließlich vergleichsweise einfach gewesen, nach der Haftentlassung über die offene Grenze in den Westen zu flüchten, eine Möglichkeit, die etliche der entlassenen Häftlinge genutzt hatten.
19 Sabrow, Martin: Vorwort. In: Ders. (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen 2012, S. 7 f. 20 Muhle, Susanne: Auftrag: Menschenraub. Das Ministerium für Staatssicherheit und seine inoffiziellen Mitarbeiter im speziellen Westeinsatz. Dissertation Universität Münster, 2012. 21 Ein weiterer Inhaftierter verblieb nach der Entlassung im Jahr 1965 wahrscheinlich nur deshalb in der DDR, weil seine Frau dort wohnte und er daher keinen Anspruch auf eine Westentlassung hatte. Mein besonderer Dank gilt Susanne Muhle für den Datenabgleich.
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Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989
Zweifellos wirkte sich der Freikauf auch auf die Haftbedingungen aus, da erstens die Strafmaße und verbüßten Haftzeiten sanken und zweitens die im Westen eingetroffenen freigekauften Häftlinge gegenüber Mitarbeitern der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen Salzgitter Angaben über in der Haft erlittene Misshandlungen machten. Insbesondere seit der Aufnahme in die Vereinten Nationen war die DDR darum bemüht, körperliche Misshandlungen in der Haft zu unterbinden, um den Kritikern des DDRHaftregimes im Westen keine Argumente zu liefern, an denen sich der Strafvollzug anprangern ließ. Den Freikauf im Rahmen des Wandels der physischen Gewaltkultur zu interpretierten, greift jedoch insofern zu kurz, als dass er die psychische Gewaltdimension außer Acht lässt. Während der Freikauf die Inhaftierten aus der körperlichen Haft befreite, stellte er nicht zwangsläufig eine »doppelte Befreiung«, d. h. zugleich eine aus der »psychischen« Haft dar. Bis heute leiden viele der freigekauften politischen Häftlinge unter traumatischen Hafterfahrungen, wenngleich der Anteil der dauerhaft Geschädigten unter den freigekauften und in den Westen entlassenen Häftlingen tendenziell niedriger sein dürfte als bei ihren in der DDR verbliebenen früheren Mitinhaftierten. Dennoch half der Freikauf den Betroffenen aus ihrer existenziellen Notlage und verschaffte zugleich dem gemeinsamen Ziel aller Regierungen der alten Bundesrepublik, das durch Teilung und Diktatur verursachte menschliche Leid zu lindern, glaubhaft Geltung.22 Unter dem Strich lässt sich der Freikauf in der Formel zusammenfassen: Die DDR handelte mit Menschen, die Bundesrepublik mitmenschlich, wenngleich mit politischen Hintergedanken. Die persönliche Bilanz eines Freigekauften mag am Ende stehen: »Die Haftjahre haben einiges zurechtgerückt, was wichtig im Leben ist und was nicht. Ich begriff den Wert der Freiheit nachhaltig.«23 Volker Pilz, freigekauft 1965
22 23
Wölbern, Jan Philipp: Für unsere Republik. In: FAZ v. 4.8.2011. Erlebnisbericht Volker Pilz, 2.11.2007.
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Quellen- und Darstellungsverzeichnis Ungedruckte Quellen
Archiv des Deutschen Anwaltvereins Interview Felix Busse mit Wolfgang Vogel, 12./13.9.2007 Interview Felix Busse mit Wolf-Egbert Näumann, 4.9.2007 Archiv der Sozialen Demokratie, Bonn (AdSD) Willy-Brandt-Archiv (WBA) Helmut-Schmidt-Archiv (HSA) Nachlaß Dietrich Spangenberg Nachlaß Herbert Wehner Gesamtdeutsches Ministerium Gesamtdeutscher Ausschuss Allgemeine Korrespondenz – DDR (AK-DDR) Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin (ADW) Hauptgeschäftsstelle, Stuttgart (HGSt) Archiv des Erzbistums Köln (AEK) Zug. 683 (Katholisches Büro Bonn) »Aktion de redemptionis captivorum« Archiv Helmut Schmidt, Hamburg (AHSH) Ordner DDR, 1966–1974, Bd. 2 Axel Springer Unternehmensarchiv Barzel an Springer, 30.8.1964 Bundesarchiv, Berlin (BArch-B) und Koblenz (BArch-K) B 137 (Berlin und Koblenz) N 1174 (Nachlaß Franz Thedieck, Koblenz) N 1253 (Nachlaß Kurt Behling, Koblenz) N 1371 (Nachlaß Rainer C. Barzel, Koblenz) DL 2 (Berlin) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), Berlin DY 30, Büro Honecker DY 30, Protokolle des Politbüros Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) Zentralarchiv, Berlin: Abteilung XIV (Abt. XIV) Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG) Büro der Leitung (BdL) Hauptabteilung IX (HA IX) Hauptabteilung XX (HA XX) Juristische Hochschule (JHS) Kadersachen der HA Kader und Schulung (KS) Sekretariat des Ministers (SdM) Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG)
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Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG) Außenstellen: Chemnitz, Rostock, Halle, Erfurt, Suhl, Leipzig und Gera
Akten aus dem Vorzimmer des Büros von Oberst Volpert (sämtlich HA IX) 1753 (Übergabeprotokoll an das Büro für 341 (1974) Sonderaufgaben der HA IX), Bl. 5–7 13648 (1975) 366 (1964) 13649 (1975) 368 (1964) 1748 (1975) 4341 (1964) 8506 (1976) 367 (1964) 17943 (1976) 371 (1965) 17877 (1976) 3356 (1965) 23403 (1977) 13658 (1965) 13650 (1978) 13659 (1965) 18737 (1978) 13659 (1966) 23404 (1979) 13660 (1966–1967) 17267 (1980) 23401 (1967/1968) 17268 (1980–1981) 3354 (1968) 17266 (1980–1981) 3353 (1969) 13651 (1981–1982) 18026 (1969–1972) 17613 (1982–1983) 18437 (1969–1970) 17612 (1982) 18030 (1969–1972) 4512 (1983) 19013 (1970) 4511 (1983) 18029 (1970–1972) 18778 (1983) 234 (1971) 1750 (1983) 13661 (1971–1974) 1751 (1983–1984) 3350 (1972) 13652 (1984) 23402 (1973) 4508 (1985) 1746 (1974) 4509 (1985) 1747 (1974) 13653 (1985)
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Vermerke Volperts über die Treffen mit Vogel sowie Berichte Vogels »Georg-Akte« (GA); BStU, MfS, AIM 5682/69, inbes. Bde. 7 u. 8 (abgek. BStU, GA, Bd.-Nr.). Bericht Volperts über das Treffen Vogels mit Wehner am 11.6.1968, 14.6.1968; DzD BesBem Bd. 1, S. 535–537. Bericht Vogels über eine Unterredung mit Wehner, 1.5.1969; DzD BesBem Bd. 1, S. 621–624. Bericht Vogels über eine Unterredung mit Wehner, 21.10.1974; DzD VI/3 (1973/74), Dok. Nr. 238, S. 783. Vermerk Vogels über die Unterredung mit dem Bundeskanzler v. 9.12.1981 (»streng geheim!«); Potthoff: Bonn und Ost-Berlin 1969–1982, S. 645–649. Vermerk über eine Unterredung [mit Herbert Wehner] v. 9.12.1981, 11.12.1981 (»streng geheim!«); Potthoff: Bonn und Ost-Berlin 1969–1982, S. 649–651. Vermerk Vogels »Unterredung vom 24.5.1982 mit Egon Franke und Hirt«, 26.5.1982 (»streng geheim!«); BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 200. Vermerk Vogels »Unterredung v. 15.9.1982 in Weimar mit StM Wischnewski«, FS der BV Karl-Marx-Stadt i. A. von Oberst Volpert an den Minister; BStU, MfS, BV KarlMarx-Stadt, Leiter, Nr. 117, Bd. 1, Bl. 247–249. Vermerk Vogels »Unterredung mit Rehlinger v. 26.1.1983« (»streng geheim!«), 28.1.1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 17613, Bl. 44 f. Vermerk Vogels »Löwenthal (ZDF-Magazin) eventuelle rechtliche Schritte«, 7.9.1987 (»streng geheim!«); BStU, MfS, HA IX, 13941, Bl. 160 f. Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg (DRA) Digitalisierte Sendemanuskripte »Der schwarze Kanal«, http://sk.dra.de/grape/ seite6.htm Deutsches Rotes Kreuz, Suchdienst München (DRK) H – Suchdienst Hamburg Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA) 742 (Nachlaß Hermann Kunst) 644 (Nachlaß Walter Hammer) Hannah-Ahrendt-Institut, Dresden (HAIT) Fippel-Literaturdatenbank SMT-Datenbank Mitgliederkartei VOS Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, Dresden (HGWS) Humanitäre Fragen (HF) Landesarchiv Berlin (LArchB) Akten der Senatskanzlei, B Rep. 002 Der Senator für Bundesangelegenheiten, B Rep. 003 Rechnungshof von Berlin, B Rep. 091 Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin (PA) Protokolle des Ausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen (AGBF) 12. Wahlperiode, 1. Untersuchungsausschuß (»KoKo«), 1993 Pressedokumentation
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Staatsanwaltschaft Berlin Verfahren der Staatsanwaltschaft II am LG Berlin gegen Wolfgang Vogel wegen Erpressung; 2 Js 353/91. Stadtarchiv Gießen Foto- und Bildersammlung Bestand 7/3-008 (Notaufnahmelager) Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert, Potsdam Haftkartei der Gedenkstätte Bautzen II Zeitzeugenbörse der Stiftung Gedenkstätte Hohenschönhausen, Berlin
Zeitzeugeninterviews, Telefonate, Hintergrundgespräche und schriftliche Auskünfte Karl Alich, Berlin, 6.10.2009 Werner Arnold an den Verfasser, 23.8.2007 Manfred Bahra an den Verfasser, 15.3.2011 Heinz Dörr, Gießen, 30.12.2009 Alfred Ganzer (Telefoninterview), 20.8.2009 Peter Hampe an den Verfasser, 7.7.2010; Interview in Berlin, 25.3.2011 Jan Hoesch, Berlin, 22.5.2008 Helga Hommel an den Verfasser, 19.6.2009; Telefoninterview am 25.6.2009 Hans-Dieter Junge (Telefoninterview), 20.3.2009 Hermann E. J. Kalinna, Bonn, 25.7.2010 Ralf Knechtel (Telefoninterview), 17.6.2010 Gerhard Kunze, Berlin, 13.11.2009 Christian Landgraf (telefon. Auskunft), 25.5.2011 Horst Lison, Hannover, Februar 2008 Wolf-Egbert Näumann (†), Berlin, 8.4.2009 Sigrid Paul (†) (Telefoninterview), 6.9.2009 Volker Pilz an den Verfasser, 1.7.2009; Telefoninterview am 10.7.2009 Peter Przybylski (telefon. Auskunft), 12.11.2009 Hellmuth Puschmann, Dresden, 16.5.2008 Ludwig A. Rehlinger, Eichwalde, 27.3.2008, 17.5.2011 Rainer Scheck, Berlin, 30.10.2008 Jürgen Schönnagel, Potsdam, 14.3.2010 Reymar von Wedel, Kleinmachnow, Dezember 2007 Wolfgang Welsch (Telefoninterview), 14.11.2009 Günter Wetzel (Telefoninterview), 3.4.2008 Hans-Georg Wieck an den Verfasser, 19.4.2010
Gedruckte Quellen Bahr, Egon: »Das musst du erzählen«. Erinnerungen an Willy Brandt. 4. Aufl., Berlin 2013. Bahr, Egon: Zu meiner Zeit. München 1996.
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Barzel, Rainer: Ein gewagtes Leben. Erinnerungen. Stuttgart 2001. Barzel, Rainer: Ein Patriot. In: Springer, Friede (Hg.): Axel Springer. Die Freunde dem Freund. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1986, S. 55–57. Barzel, Rainer: Es ist noch nicht zu spät. München 1976. Bath, Matthias: 1 197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft (1981 u. d. T.: Gefangen und freigetauscht. 1 197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft). Berlin 1987. Bauersfeld, Alexander W.: Freigekauft vor zwanzig Jahren. Rückschau eines Betroffenen. In: Die politische Meinung 49 (2004) 420, S. 57–61. Beckert, Rudi: Glücklicher Sklave. Eine Justizkarriere in der DDR. Berlin 2011. Behn, Hans Ulrich: Die Regierungserklärungen der Bundesrepublik Deutschland. München 1971. Berger, Gabriel: »Mir langt’s, ich gehe«. Der Lebensweg eines DDR-Atomphysikers von Anpassung zu Aufruhr. Freiburg i. Br. 1988. Bilke, Jörg Bernhard: Der Hund des Odysseus. In: Ballarin, Werner (Hg.): Vor dem Tor. Ein anthologisches Lesebuch. Simmern 2005, S. 37–44. Boelling, Klaus: Die fernen Nachbarn. Erfahrungen in der DDR. Hamburg 1983. Bohlken, Amanda: Die dritte Dimension der Tränen. DDR-Flucht, Haft und Trauma, Heilungswege. Leipzig 2007. Bölling, Klaus: Der Mann, der aus der Kälte kam. In: Wedel, Reymar von (Hg.): Wolfgang Vogel. Eine Festgabe zum 80. Geburtstag. Berlin 2005, S. 9–13. Brandt, Willy: Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975. Hamburg 1976. Dellmuth, Rainer: Ausflüge im »Grotewohl-Express«. Operativ-Vorgang »Lehrling«: Eine Jugend wird zerstört! Berlin 1999. Dokumente des KSZE-Prozesses 1973–1989. Berlin 1990. Dokumente zur Deutschlandpolitik. IV. Reihe, Bd. 9: 1. Januar bis 31. Dezember 1963. 2. Halbbd.: 1. Juli bis 31. Dezember 1963. Bearb. von Gisela Biewer und Werner John. Frankfurt/M. 1978, abgek. DzD IV/9.2 (1963). Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 2: 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1972. Die Bahr-Kohl-Gespräche 1970–1973 (einschl. Dok.-CD). Bearb. von Hanns Jürgen Küsters. München 2004, abgek. DzD VI/2 (1971/72). Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 3: 1. Januar 1973 bis 31. Dezember 1974. Bearb. von Helmut Altrichter. München 2005, abgek. DzD VI/3 (1973/74). Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 4: 1. Januar 1975 bis 31. Dezember 1976. Bearb. von Helmut Altrichter. München 2007, abgek. DzD VI/4 (1975/76). Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Bd. 5: 1. Januar 1977 bis 31. Dezember 1978. Bearb. von Helmut Altrichter. München 2011, abgek. DzD VI/5 (1977/78). Dokumente zur Deutschlandpolitik. Besondere Bemühungen der Bundesrepublik. Bd. 1: 1962–1969. Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch. Bearb. von Elke-Ursel Hammer. München 2012, abgekürzt DzD BesBem Bd. 1. Eberhardt, Andreas: Verschwiegene Jahre. Biographische Erzählungen von Gefangenschaft und dem Leben danach. Berlin 1998. Ebert, Dorothea; Proksch, Michael; Martens, Ina-Maria: Und plötzlich waren wir Verbrecher. Geschichte einer Republikflucht. München 2010.
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Eppler, Erhard: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Frankfurt/M. 2001. Faust, Siegmar: Der Provokateur. Ein politischer Roman. München 1999. Franke, Egon: Beiträge zur Deutschlandpolitik. Bonn 1977. Franke, Uta: Sand im Getriebe. Die Geschichte der Leipziger Oppositionsgruppe um Heinrich Saar, 1977 bis 1983. Leipzig 2008. »Freikauf – Das Geschäft der DDR mit politisch Verfolgten«. Spitzengespräch zwischen Ludwig A. Rehlinger und Jürgen Engert. In: Apelt, Andreas H. (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR. Halle/Saale 2011, S. 85–100. Furian, Gilbert: Mehl aus Mielkes Mühlen. Schicksale politisch Verurteilter. Berlin 1991. Garve, Roland: Unter Mördern. Ein Arzt erlebt den Schwerverbrecherknast. Berlin 1999. Geißel, Ludwig: Unterhändler der Menschlichkeit. Erinnerungen. Stuttgart 1991. Gesellschaft für Menschenrechte (Hg.): Menschenrechte als Opfer »Innerdeutscher Beziehungen«. Dokumentation. Frankfurt/M. 1980. Görlach, Manfred: Eingemauert. Erinnerungen an Potsdam und Brandenburg, 1961– 1964. Erftstadt-Liblar 1991. Gottschalk, Jürgen: Druckstellen. Die Zerstörung einer Künstler-Biographie durch die Stasi. Leipzig 2006. Gursky, André: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR. Frankfurt/M. 2011. Darin: Interview mit Hermann Kreutzer. Guttenberg, Karl Theodor zu: Fußnoten. Frankfurt/M. 1972. Hampe, Peter: Die DDR – mein Absurdistan. Innenansichten und Dokumente aus einem Überwachungsstaat. Berlin 2013. Hehl, Ulrich von (Hg.): Akten deutscher Bischöfe seit 1945. DDR, 1957–1961. Paderborn 2006. Hellström, Peter: Die Postkontrolle der Staatssicherheit. Aus der Sicht eines Zeitzeugen. Berlin 2010. Herrmann, Frank-Joachim; Zimmermann, Brigitte; Oschmann, Reiner: Der Sekretär des Generalsekretärs. Honeckers persönlicher Mitarbeiter über seinen Chef. Ein Gespräch. Berlin 1996. Hoesch, Jan: Diskussionsbeitrag. In: Parak, Dorothea: Freiheit und Unfreiheit als deutsche Erfahrung. 20. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig, 7. und 8. Mai 2009, Dokumentation. Leipzig 2009, S. 31–51. Hoffmann, Frank: Erinnerungsbericht. In: Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt (Hg.): Vom Roten Ochsen geprägt (2). Berichte politisch Inhaftierter in den achtziger Jahren (Betroffene erinnern sich, Bd. 4). Magdeburg 1996, S. 44–56. Honecker, Erich: Moabiter Notizen. Letztes schriftliches Zeugnis und Gesprächsprotokolle vom BRD-Besuch 1987 aus dem persönlichen Besitz Erich Honeckers. Berlin 1994. Horchem, Hans Josef: Auch Spione werden pensioniert. Herford 1993. Hünerbein, Wolfgang: Mit 16 im »Roten Ochsen«. Magdeburg 2000. Interview mit Hermann Kreutzer. In: Gursky, André: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR. Frankfurt/M. 2011.
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Nitz, Jürgen: Unterhändler zwischen Berlin und Bonn. Nach dem Häber-Prozeß: zur Geschichte der deutsch-deutschen Geheimdiplomatie in den 80er Jahren. Berlin 2001. Österreich, Tina: Ich war RF. Ein Bericht. Stuttgart 1977. Parak, Dorothea: Freiheit und Unfreiheit als deutsche Erfahrung. 20. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig 7. und 8. Mai 2009; Dokumentation. Leipzig, Friedrich-Ebert-Stiftung Büro Leipzig (2009), darin: Diskussionsbeitrag von Jan Hoesch. Paul, Sigrid: Mauer durchs Herz. Berlin 2008. Pieper, Bernd: »Roter Terror« in Cottbus. 17 Monate in Gefängnissen der DDR. Berlin 1997. Piesiur, Rudolf: Ich bin ein Spion und weiß es nicht. Als angeblicher Geheimagent im Stasi-Knast Gera (1977/78). Erfurt 2000. Plück, Kurt: Der schwarz-rot-goldene Faden. Vier Jahrzehnte erlebter Deutschlandpolitik. Bonn 1996. Posser, Diether: Anwalt im Kalten Krieg. Deutsche Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. Bonn 2000. Potthoff, Heinrich: Bonn und Ost-Berlin 1969–1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente. Bonn 1997. Praschl, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011. Puschmann, Hellmut: Arbeit und Bedeutung der Zentralstelle Berlin des Deutschen Caritasverbandes. In: Kösters, Christoph (Hg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945– 1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen. Paderborn 2001, S. 47–58. Rauschning, Dietrich: Rechtsstellung Deutschlands. Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte: Atlantik-Charta, Potsdamer Abkommen, Deutschlandvertrag, Viermächteabkommen über Berlin, Transitabkommen, Moskauer Vertrag, Prager Vertrag, Grundvertrag mit der DDR, Stand: Juli 1985. München 1986. Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963– 1989. Berlin, Frankfurt/M. 1991. Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963– 1989. Halle 2011. Richter, Alexander: Das »Lindenhotel«. Oder: Sechs Jahre Zuchthaus für ein unveröffentlichtes Buch. Böblingen 1992. Roggemann, Herwig (Hg.): Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung der DDR mit Nebengesetzen. 2., überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1978. Saczewski, Kurt: Unter braunen Teufeln und roten Göttern. Ein deutscher Arbeiter erzählt. Karlsruhe 1976. Sauer, Stefan: Der missglückte Versuch, aus mir einen brauchbaren Menschen zu formen. Magdeburg 2002. Schalck-Golodkowski, Alexander: Deutsch-deutsche Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg 2001. Schmalfuß, Karl-Heinz: Innenansichten. Dreißig Jahre im Ministerium des Innern der DDR. Ein General meldet sich zu Wort. Aachen 2009. Schmidt, Andreas: Leerjahre. Leben und Überleben im DDR-Gulag. Böblingen 1986. Schmidt, Helmuth; Weischer, Heinz: Zorn und Trauer. Als politischer Gefangener in Zuchthäusern der DDR. Essen 2006.
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Schmidt-Pohl, Jürgen: Strahlungen in dunkler Zeit. Glaubenserfahrungen aus Haft und Diktatur 1945–1989. Gedichte und Prosatexte. Schwerin 2003. Schwarz, Hans-Peter: Konrad Adenauers Regierungsstil. Bonn 1991. Schwarz, Josef: Bis zum bitteren Ende. 35 Jahre im Dienste des Ministeriums für Staatssicherheit. Eine DDR-Biographie. 2. Aufl., Schkeuditz 1995. Seidel, Karl: Berlin-Bonner Balance. 20 Jahre deutsch-deutsche Beziehungen. Erinnerungen und Erkenntnisse eines Beteiligten. Berlin 2002. Seifert, Uwe: Fenster zur Welt. Jugendjahre im Schatten der Stasi. Böblingen 1990. Shackley, Theodore; Finney, Richard A.: Spymaster. My life in the CIA. Dulles 2004. Skribanowitz, Gert: »Feindlich eingestellt!« Vom Prager Frühling ins deutsche Zuchthaus. Sindelfingen 1991. Stern, Joachim R.: Und der Westen schweigt. Erlebnisse, Berichte, Dokumente über Mitteldeutschland, 1945 – 1975. Preußisch Oldendorf 1976. Stiftung für Ehemalige Politische Häftlinge (Hg.): Kompass für den ehemaligen politischen Häftling. 6. Aufl., Sankt Augustin 1986. Stiller, Werner: Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten. Berlin 2010. Storck, Matthias: Karierte Wolken. Lebensbeschreibungen eines Freigekauften. Moers 1993. Strauß, Franz Josef: Die Erinnerungen. 2. Aufl., Berlin 1989. Strauß, Franz Josef: Entscheidung für eine alternative Politik. Fragen zur Zeit. In: Politische Studien (1980) 251, S. 214–220. Suckut, Siegfried: Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Göttingen 2009. Thiel, Heinz Dietrich: Aufgaben und Handlungsspielräume der Hauptvertretung des Deutschen Caritasverbandes in Berlin. In: Kösters, Christoph (Hg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945–1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen. Paderborn 2001, S. 37–46. Thiemann, Ellen: Der Feind an meiner Seite. Die Spitzelkarriere eines Fußballers. München 2005. Thiemann, Ellen: Stell dich mit den Schergen gut. Erinnerungen an die DDR. Meine Wiederbegegnung mit dem Zuchthaus Hoheneck. München 1990. Veith, Ines: Wo ist Dirk? Entführt von der Stasi – eine Frau kämpft um ihr Kind. 2. Aufl., München 1991. Vogel, Wolfgang: Erinnerungen an meine anwaltlichen Kontakte zum Deutschen Caritasverband. In: Kösters, Christoph (Hg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945–1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen. Paderborn 2001, S. 137–144. Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 15: 1962, München 2005. Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 16: 1963, München 2006. Weber, Hartmut (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Bd. 17: 1964, München 2007. Wedel, Reymar von: Als Anwalt zwischen Ost und West. Prozesse, Gefangene, Aktionen. Berlin 2005. Wedel, Reymar von: Als Kirchenanwalt durch die Mauer. Erinnerungen eines Zeitzeugen. Berlin 1994.
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Wedel, Reymar von: Kurt Scharf – Kämpfer und Versöhner. Berlin 2010. Welsch, Wolfgang: Ich war Staatsfeind Nr. 1. Fluchthelfer auf der Todesliste der Stasi. Frankfurt/M. 2001. Wettig, Gerhard; Karner, Stefan: Chruschtschows Westpolitik 1955 bis 1964. Bd. 3: Kulmination der Berlin-Krise (Herbst 1960 bis Herbst 1962). Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen. München 2011. Widmann, Joachim: »Dich kriegen wir weich«. Berichte aus dem Alltag einer Diktatur. Bonn 1997. Winkler, Karl: Zur Klärung eines Sachverhalts. Berlin 1990. Wissing, Wilhelm; Höller, Karl R.: Gott tut nichts als fügen. Erinnerungen an ein Leben in bewegter Zeit. Mainz 2001. Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. 3. Aufl., München 1999. Zilli, Timo: Folterzelle 36 Berlin-Pankow. Erlebnisbericht einer Stasi-Haft. Sonderauflage für die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin. Berlin 1993.
Darstellungen Ahrberg, Edda; Hertle, Hans-Hermann; Hollitzer, Tobias (Hg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Münster 2004. Alisch, Steffen: Berlin-Berlin. Die Verhandlungen zwischen Beauftragten des Berliner Senats und Vertretern der DDR-Regierung zu Reise- und humanitären Fragen, 1961–1972. Berlin 2000. Alisch, Steffen: Strafvollzug im SED-Staat. Das Beispiel Cottbus. Frankfurt/M. 2014. Ansorg, Leonore: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg. Berlin 2005. Apelt, Andreas H. (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR. Halle/Saale 2011. Aris, Nancy; Heitmann, Clemens (Hg.): Via Knast in den Westen. Das KaßbergGefängnis und seine Geschichte. Leipzig 2013. Baring, Arnulf; Görtemaker, Manfred: Machtwechsel. Die Ära Brandt – Scheel. Stuttgart 1982. Baron, Salo W.: The Russian Jews under Tsars and Soviets. 2. Aufl., New York 1987. Bastian, Uwe; Neubert, Hildigund: Schamlos ausgebeutet. Das System der Haftzwangsarbeit politischer Gefangener des SED-Staates. Berlin 2003. Bauer, Babett: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971– 1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History. Göttingen 2006. Bauer, Yehûdā: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945. Frankfurt/M. 1996. Becker, Hubertus: Ritual Knast. Die Niederlage des Gefängnisses. Eine Bestandsaufnahme. Leipzig 2008. Beckert, Rudi: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR. Goldbach 1995.
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Beer, Kornelia; Weißflog, Gregor Joachim; Frewer, Andreas: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen. Göttingen 2011. Behlert, Wolfgang: Die Generalstaatsanwaltschaft. In: Rottleuthner, Hubert: Steuerung der Justiz in der DDR. Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Hg. vom Bundesministerium der Justiz. Köln 1994, S. 287–350. Beleites, Johannes: Abteilung XIV: Haftvollzug (MfS-Handbuch, III/9). Hg. BStU. Berlin 2004. Beleites, Johannes: Der Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000, S. 433–466. Beleites, Johannes (Hg.): Ehemalige Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Berlin, 2000. Beleites, Johannes: Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Schwerin. Schwerin 2001. Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. 3. Aufl., München 1995. Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. München 1993. Biermann, Wolf: Sehr geehrter Genosse Honecker, sehr geehrter Dr. Kohl, liebe Katja ...: fünf Briefe aus gegebenen Anlässen. Frankfurt/M. 2006. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat. München 1967. Boll, Friedhelm: Paul, Hermann und Dorothee Kreutzer. In: Fricke, Karl W.; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes: Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder. München 2002, S. 102–109. Boll, Friedhelm: Sprechen als Last und Befreiung. Holocaust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur. Bonn 2001. Booß, Christian: Der frühe Schattenmann. Die Rolle des jungen Wolfgang Vogel. In: Horch und Guck 20 (2011) 71, S. 60–65. Brinkschulte, Wolfgang; Gerlach, Hans Jörgen; Heise, Thomas: Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen. Frankfurt/M. 1993. Brunner, Detlef: »… eine große Herzlichkeit«? Helmut Schmidt und Erich Honecker im Dezember 1981. In: Deutschland Archiv 44 (2011) 4, S. 508–517. Buchna, Kristian: »Diplomat im Lutherrock«. Anmerkungen zu Leben und Wirken des Stiftsberger Pfarrers Hermann Kunst als EKD-Bevollmächtigter in Bonn. In: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford, Bielefeld (2011) 19, S. 36–54. Buchstab, Günter; Kaff, Brigitte; Kos, Franz-Josef: Verfolgt und entrechtet. Die Ausschaltung christlicher Demokraten unter sowjetischer Besatzung und SED-Herrschaft 1945–1961. Eine biographische Dokumentation. Düsseldorf 1998. Budde, Heidrun: »Freikauf« im Zwielicht. In: Recht und Politik (2010) 3, S. 157–163. Budde, Heidrun: Gestohlene Seelen. Norderstedt 2008. Bude, Heinz: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation. Frankfurt/M. 1987.
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Anhang
Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz. Leipzig 1994. Jansen, Hans-Heinrich: Erich Mende. Skizzen für eine Biographie und eine biographische Skizze. In: Jahrbuch zur Liberalismusforschung (1999) 11, S. 158–167. Jenkis, Helmut: Der Freikauf von DDR-Häftlingen. Der deutsch-deutsche Menschenhandel. Berlin 2012. Judt, Matthias: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDRWirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski. Mythos und Realität. Berlin 2013. Judt, Matthias: Deutschland- und Außenpolitik. In: Ders. (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin 1997. Judt, Matthias: Häftlinge für Bananen? Der Freikauf politischer Gefangener aus der DDR und das »Honecker-Konto«. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007) 4, S. 417–439. Judt, Matthias: Schalcks KoKo. Mythos und Realität des Bereichs Kommerzielle Koordinierung. In: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. München 2009, S. 307–315. Kahl, Werner: Spionage in Deutschland heute. München 1986. Kaiser, Monika: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972. Berlin 1997. Kaiser, Wolfgang: »Sprechende Ware. Gefangenenfreikauf und Sklavenhandel im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum«. In: Zeitschrift für Ideengeschichte III/2 (2009), S. 29–39. Kalinka, Werner: Schicksal DDR. Zwanzig Porträts von Opfern und Tätern. Berlin 1997. Kalinna, Hermann E. J.: Verbindungsstellen zwischen Staat und Kirchen im Bereich der evangelischen Kirche. In: Listl, Joseph (Hg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland. 2., grundl. neubearb. Aufl., Berlin 1995, S. 181–195. Kaminsky, Annette; Gleinig, Ruth (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. Leipzig 2004. Kimmel, Elke: Das Notaufnahmeverfahren. In: Deutschland Archiv 38 (2005) 6, S. 1023–1032. Kittan, Tomas: Das Zuchthaus Cottbus. Die Geschichte des politischen Strafvollzugs. 2., erw. Aufl., Cottbus 2010. Kittel, Manfred: Franz Josef Strauß und der Milliardenkredit für die DDR 1983. In: Deutschland Archiv 40 (2007) 4, S. 647–656. Klein, Michael: Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-ParteienMentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963. Tübingen 2005. Klein, Thomas: »Frieden und Gerechtigkeit!« Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln 2007. Kleßmann, Christoph: Konturen und Entwicklungstendenzen der DDR-Forschung. Herausforderungen zeithistorischer Promotionsthemen. In: Hechler, Daniel (Hg.): Promovieren zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Ein Handbuch. Berlin 2009, S. 40–54. Klier, Freya: Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand. Berlin 2007.
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Knoll, Thomas: Das Bonner Bundeskanzleramt. Organisation und Funktionen von 1949–1999. Wiesbaden 2004. Koch, Alexander: Die Rolle der Kirchen im deutsch-deutschen Häftlingsfreikauf. In: MKiZ 7 (2013), S. 169–180. Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989. Stuttgart 1998. Kösters, Christoph: Staatssicherheit und Caritas 1950–1989. Zur politischen Geschichte der katholischen Kirche in der DDR. Paderborn 2001. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Gegenkräfte: Opposition und Widerstand in der DDR – begriffliche und methodische Probleme. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 47–82. Krieger, Wolfgang: Franz Josef Strauss. Der barocke Demokrat aus Bayern. Göttingen 1995. Krüger, Dieter: Gerhard Wessel (1913–2002). Der Ziehsohn Gehlens an der Spitze des BND. In: Krüger, Dieter; Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 264–283. Kühn, Detlef: Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit. 2., überarb. Aufl., Berlin 2008. Kunze, Gerhard: Grenzerfahrungen. Kontakte und Verhandlungen zwischen dem Land Berlin und der DDR 1949–1989. Berlin 1999. Laak, Jeannette van: Das Notaufnahmelager Gießen. DA-online, 31.3.2013. Laak, Jeannette van: Die Geschichte des Notaufnahmelagers in Gießen zwischen 1946 und 1961. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen. 97. Bd., Gießen 2012, S. 305–318. Labrenz-Weiß, Hanna: Die Hauptabteilung II: Spionageabwehr (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 1998. Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen 2005. Lemke, Michael: Vor der Mauer. Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961. Köln 2011. Lepp, Claudia: Tabu der Einheit. Göttingen 2005. Lepp, Claudia; Nowak, Kurt (Hg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. Göttingen 2001. Lindenberger, Thomas: Geteilte Welt, geteilter Himmel? Der Kalte Krieg und die Massenmedien in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive. In: Arnold, Klaus; Classen, Christoph (Hg.): Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR. Berlin 2004, S. 27–46. Lindheim, Thomas von: Bezahlte Freiheit. Der Häftlingsfreikauf zwischen beiden deutschen Staaten. Baden-Baden 2011. Lindheim, Thomas von: Juristische Probleme beim Freikauf von politischen Häftlingen, 1963–1989. In: Deutschland Archiv 43 (2010) 6, S. 1002–1007.
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Morsey, Rudolf: Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969. 5. Aufl., München 2007. Müller, Albrecht: Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie. Beobachtungen zum Bundestagswahlkampf 1998 im Spiegel früherer Erfahrungen. Opladen 1999. Müller, Jörg: Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR: Sachsen in der Ära Ulbricht. Göttingen 2012. Müller, Klaus-Dieter: Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen. Berlin 1998. Müller-Enbergs, Helmut: Hauptverwaltung A (HV A). Aufgaben – Strukturen – Quellen (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2011. Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1998. Müller-Enbergs, Helmut; Wielgohs, Jan; Hoffmann, Dieter (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Berlin 2000. Münkel, Daniela: Willy Brandt und die »Vierte Gewalt«. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren. Frankfurt/M. 2005. Nakath, Detlef: Deutsch-deutsche Grundlagen. Zur Geschichte der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik in den Jahren von 1969 bis 1982. Schkeuditz 2002. Neubert, Ehrhart: Typen politischer Gegnerschaft. In: Veen, Hans-Joachim; Eisenfeld, Peter; Kloth, Hans Michael u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin 2000, S. 15–19. Neubert, Ehrhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München 2008. Neubert, Ehrhart: Was waren Opposition, Widerstand und Dissidenz in der DDR? Zur Kategorisierung politischer Gegnerschaft. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 17–46. Niedhart, Gottfried; Bange, Oliver: Die »Relikte der Nachkriegszeit« beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415–448. Otto, Heike: Beim Leben meiner Enkel. Wie eine DDR-Flucht zum Familiendrama wurde. Hamburg 2011. Parak, Dorothea: Freiheit und Unfreiheit als deutsche Erfahrung. 20. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig, 7. und 8. Mai 2009, Dokumentation. Leipzig 2009. Passens, Katrin: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989. Berlin 2012. Plogstedt, Sibylle: Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung. Gießen 2010. Pohl, Dieter: Diener vieler Herren. Die Geheimdienstkarrieren des Heinz Felfe. In: Bauer, Theresia (Hg.): Gesichter der Zeitgeschichte. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert. München 2009, S. 165–177.
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Pollack, Detlef: Bedingungen und Möglichkeit politischen Protests in der DDR. Der Volksaufstand von 1953 und die Massendemonstrationen 1989 im Vergleich. In: Ders. (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt/M. 1997, S. 303–331. Pollack, Detlef: Von der Volkskirche zur Minderheitskirche. Zur Entwicklung von Religiösität und Kirchlichkeit in der DDR. In: Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Hartmut (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 271–294. Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Opposition, Widerstand und widerständiges Verhalten in der DDR. Forschungsstand – Grundlinien – Probleme. In: Dies.: Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 9–26. Potthoff, Heinrich: Die »Koalition der Vernunft«. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. München 1995. Potthoff, Heinrich: Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990. Berlin 1999. Pötzl, Norbert F.: Basar der Spione. Die geheimen Missionen des DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel. 3. Aufl., Hamburg 1997. Pötzl, Norbert F.: Ein abstruser Stasi-Vermerk und eine spekulative These. In: Deutschland Archiv 41 (2008) 6, S. 1032–1035. Praschl, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011. Preul, Reiner: Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der evangelischen Kirche. Berlin 1997. Przybylski, Peter: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski (Tatort Politbüro, Bd. 2). Berlin 1992. Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker. Berlin 1992. Pursch, Günter; Hasselfeldt, Gerda: Das parlamentarische Schimpfbuch. Stilblüten und Geistesblitze unserer Volksvertreter in 60 Jahren Bundestag. München 2009. Puschmann, Hellmut: Ein Mensch, der für viele die einzige Hoffnung war. In: Wedel, Reymar von (Hg.): Wolfgang Vogel. Eine Festgabe zum 80. Geburtstag. Berlin 2005, S. 73–77. Quillfeld, Henrik von: Dissidenten für Devisen. Häftlingshandel zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland. Erfurt 2010. Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers. Köln 2000. Raschka, Johannes; Kuhrt, Eberhard: Zwischen Überwachung und Repression. Politische Verfolgung in der DDR, 1971 bis 1989 (Am Ende des realen Sozialismus, Bd. 5). Opladen 2001. Reusch, Christiane: »Man war kein Mensch mehr«. Alfred Ganzer – wegen Republikflucht verurteilt. In: Schute, Claudia: Schicksal Bautzen. Politische Häftlinge der SBZ/DDR erzählen – junge Journalisten porträtieren. Sankt Augustin 1999, S. 46– 50. Rödder, Andreas: Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990. München 2010. Röder, Hendrik: Die Knarre haben wir! Ein Schauprozeß gegen die Evangelische Studentengemeinde. In: Grabner, Sigrid (Hg.): Potsdam 1945–1989. Zwischen Anpassung und Aufbegehren. Potsdam 1999.
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Rosskopf, Annette: Friedrich Karl Kaul. Anwalt im geteilten Deutschland (1906–1981). Berlin 2002. Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953 in Görlitz. Dokumentation zum Volksaufstand. 2., bearb. u. erw. Aufl., Bautzen 2003. Roth, Heidi; Fricke, Karl Wilhelm: Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Köln 1999. Roth, Jürgen; Freitag, Thomas; Gremliza, Hermann: Sie Düffeldoffel da! Herbert Wehner, ein komischer Heiliger. Ein Jahrhundertleben in Originaltönen (CD-Rom). München 2010. Rottleuthner, Hubert: Zum Aufbau und zur Funktionsweise der Justiz in der DDR. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000, S. 25–42. Sabrow, Martin (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen 2012. Sabrow, Martin; Zündorf, Irmgard: Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Bonn 2007. Sälter, Gerhard: Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere durch das MfS und die DDR-Justiz (1954–1966). Dresden 2002. Sarotte, Mary Elise: Dealing with the devil. East Germany, détente, and Ostpolitik, 1969–1973. Chapel Hill 2001. Scharf, Kurt: Brücken und Breschen. Biographische Skizzen. Gütersloh 1980. Scharrer, Manfred: Der Leserbriefschreiber. Tatwaffe »Erika«. Berlin 2005. Scheer, Udo: Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition. Berlin 2007. Schemann, Anne: »Feindzentrale Onkel Theo«. Eine private Hilfsaktion für DDRBürger und ihre politischen Dimensionen. Magdeburg 2004. Scherrieble, Joachim: Der Rote Ochse, Halle (Saale). Politische Justiz 1933–1945; 1945–1989. Berlin 2008. Schmid, Günther: Politik des Ausverkaufs? Die Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel. München 1975. Schmidt, Heidemarie; Wagner, Paul Werner: »... man muss doch mal zu seinem Recht kommen ...«. Paul Othma – Streikführer am 17. Juni 1953 in Bitterfeld. Magdeburg 2002. Schmidt, Karin: Zur Frage der Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Die »Pflicht zur Arbeit« im Arbeiter- und Bauernstaat. Hildesheim 2011. Schmidt, Robert: Religiöse Selbstbehauptung und staatliche Repression. Eine Untersuchung über das religiös-vermittelte, alltägliche und konspirative Handeln der Zeugen Jehovas unter den Bedingungen von Verbot und Verfolgung in der SBZ/DDR 1945– 1989. Fallstudien aus der Stadt Leipzig und der Region Zittau/Oberlausitz. Berlin 2003. Schmidt, Ute: Spätheimkehrer oder »Schwerstkriegsverbrecher«? Die Gruppe der 749 Nichtamnestierten. In: Hilger, Andreas; Schmidt, Ute; Wagenlehner, Günther (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001, S. 273–350. Schmidt, Wolfgang: Zur Sicherung der politischen Grundlagen der DDR (HA XX im MfS/Abt. XX der BV). In: Grimmer, Reinhard; Irmler, Werner; Opitz, Willi, et al. (Hg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Bd. 1, Berlin 2002, S. 580–668.
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Schmidthammer, Jens: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West. Hamburg 1987. Schmidt-Pohl, Jürgen; Nolte, Ernst: DDR-Haftzwangsarbeit politischer Gefangener. Dokumentation mit den Materialien der Tagung für die Entschädigung politischer DDR-Haftzwangsarbeit, 10/11.5.2002 in Schwerin. Schwerin 2003. Schmiedebach, Heinz-Peter: Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR. Der Widerstand gegen die Umwandlung der Greifswalder Medizinischen Fakultät in eine militärmedizinische Ausbildungsstätte im Jahr 1955. Stuttgart 2001. Schnell, Gabriele: Das »Lindenhotel«. Berichte aus dem Potsdamer Geheimdienstgefängnis. Berlin 2005. Schröder, Gerhard: Der Freiheit verpflichtet. Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. Marburg 2000. Schroeder, Friedrich-Christian: Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch Sowjetische Militärtribunale. In: Hilger, Andreas (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003, S. 37– 58. Schuller, Wolfgang: Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968. Ebelsbach 1980. Schumann, Karl F.: Die Lebenswege politischer Häftlinge nach Freikauf oder Ausreise. In: Ders.; Dietz, Gerhard-Uhland; Gehrmann, Manfred (Hg.): Private Wege der Wiedervereinigung. Die deutsche Ost-West-Migration vor der Wende. Weinheim 1996, S. 333–357. Schwarz, Hans-Peter: Axel Springer. Die Biographie. Berlin 2008. Seiffert, Wolfgang; Treutwein, Norbert: Die Schalck-Papiere. DDR-Mafia zwischen Ost und West. Die Beweise. Wien 1991. Sélitrenny, Rita: Doppelte Überwachung. Geheimdienstliche Ermittlungsmethoden in den DDR-Untersuchungshaftanstalten. Berlin 2003. Soell, Hartmut: Helmut Schmidt, 1969 bis heute. Macht und Verantwortung. München 2008. Sonntag, Marcus: Die Arbeitslager in der DDR. Essen 2011. Staadt, Jochen: Die geheime Westpolitik der SED, 1960–1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation. Berlin 1993. Staadt, Jochen; Voigt, Tobias; Wolle, Stefan: Operation Fernsehen. Die Stasi und die Medien in Ost und West. Göttingen 2008. Steiner, André: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Berlin 2007. Stephan, Gerd-Rüdiger: Deutsch-deutsche Beziehungen vor dem Hintergrund von »Glasnost« und »Perestroika« (1982–1990). In: Pfeil, Ulrich (Hg.): Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen, 1949–1989. Berlin 2001, S. 117–134. Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg. 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters. München 2007. Suckut, Siegfried: Generalkontrollbeauftragter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? Probleme der Funktionsbestimmung des MfS in den sechziger Jahren. In: Ders. (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 151–168.
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Anhang
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Anhang
Bildnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5 Abb. 6: Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34
BStU LArchB, Foto: F Rep. 290, Nr. 0124463/Horst Siegmann Alexander Czechatz BArch, B 145 Bild-F 019970-011 AdSD, Sammlung Telegraf, 6/FOTA-075728/picture alliance/dpa BArch, Z 5/10/Ingeborg Lommatzsch N.N. KNA-Bild, KNA 257785 KNA-Bild, KNA 266603 Bildarchiv Missio Aachen BArch-Bildarchiv, B 145 Bild-00047639/Lothar Schaack Privatarchiv Wolf Tuchel Klaus Mehner Harald Schmitt, Hamburg BArch, Bild Y 10-0097-91 BStU BStU BStU BStU Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung Dresden DRK-Archiv/Suchdienst München, H 1068 Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung Dresden AdSD, 6/FJHD 021001/J. H. Darchinger picture alliance/dpa (Peter Popp) BArch, B 145 Bild-00012667 BArch-B, DL 226/1147, Bl. 242 Privatarchiv Horst Haitzinger BArch, BRD-Fotodienst 3-1987/Nr. 2339 LArchB, Foto: R Rep. 290, Nr. 312734/Ingeborg Lommatzsch Sammlung Jupp-Wolter im HdG BStU Stadtarchiv Gießen Stadtarchiv Gießen Stadtarchiv Gießen
Darst. 1 Darst. 2
Altersstruktur bis 1982 Deliktgruppen (nach zugrunde liegenden §§) 1964–1971
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535
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Anhang
2 ADN AGBF AGS AI AKG AOP APuZ BBC BfGA BfV/BVSA BfS BGH BKG BMB BMG BMI BMJ BND BPA BStU BV BVfS CDU CIA CIC ČSSR CSU DA DFF DLF dpa DRK DVP EKD epd EV FAZ FDJ FDP FR
537
Abkürzungen
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Ausschuss für gesamtdeutsche und Berliner Fragen Arbeitsgruppe für Sonderaufgaben Amnesty International Auswertungs- und Kontrollgruppe Archivierter Operativer Vorgang Aus Politik und Zeitgeschichte British Broadcasting Corporation Bundesanstalt für Gesamtdeutsche Aufgaben Bundesamt für Verfassungsschutz/Bundesverfassungsschutzamt Büro für Sonderaufgaben (der HA IX des MfS) Bundesgerichtshof Bezirkskoordinierungsgruppe Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (1969–1991) Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (1949–1969) Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Justiz Bundesnachrichtendienst Bundespresseamt Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Bezirksverwaltung (des MfS) Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Christlich Demokratische Union Deutschlands Central Intelligence Agency Counter Intelligence Corps Tschechoslowakische Sozialistische Republik Christlich-Soziale Union Deutschlands Deutschland Archiv Deutscher Fernsehfunk Deutschlandfunk Deutsche Presse-Agentur Deutsches Rotes Kreuz Deutsche Volkspolizei Evangelische Kirche in Deutschland Evangelischer Pressedienst Ermittlungsverfahren Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Frankfurter Rundschau
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538 FSB GBA GBB Gestapo GfM GG GI GM GStA GüSt GVG GVS HA HFZ-Fälle HGSt H-Liste Hs./hs. HV A HvD IGfM IM JHS KD KDfS KfW KGB KgU KMS KoKo KPD KPdSU KSZE LDPD LG MAD MAH/MAI MAN MD MdI MdJ MfS MKiZ MR
Anhang Federal’naja služba bezopasnosti – (russ.) Bundesagentur für Sicherheit Generalbundesanwalt Gesamtberliner Büro Geheime Staatspolizei Gesellschaft für Menschenrechte Grundgesetz Geheimer Informant Geheimer Mitarbeiter Generalstaatsanwalt/-schaft Grenzübergangsstelle Gerichtsverfassungsgesetz Geheime Verschlusssache Hauptabteilung Häftlings-Familienzusammenführungen Hauptgeschäftsstelle Häftlingsliste Handschriftlich(e/r) Hauptverwaltung Aufklärung (MfS) Hilferufe von drüben e. V. Internationale Gesellschaft für Menschenrechte Inoffizieller Mitarbeiter Juristische Hochschule (des MfS) Kreisdienststelle (des MfS) Kreisverwaltung für Staatssicherheit Kreditanstalt für Wiederaufbau Komitet Gosudarstvennoj Bezopasnosti (russ.) Komitee für Staatssicherheit Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Karl-Marx-Stadt »Kommerzielle Koordinierung« im DDR-Außenhandelsministerium Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Landgericht Militärischer Abschirmdienst der Bundeswehr Ministerium für Außenhandel/Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg Ministerialdirektor Ministerium des Innern Ministerium der Justiz Ministerium für Staatssicherheit Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte Ministerialrat
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Anhang MTA NDR NKWD NRZ NS NSDAP NVA NZZ OberhessGV OG OibE OPK OV PTBS RA RIAS SBZ SD SED SMT SPD SRS SS SSD StA Stasi StEG StGB StPO StVE/-A SV SZ TSI TU UA UdSSR UfJ UHA ÜE ÜS ÜSE VDS VEB VgM VL VOS
539
Medizinisch-Technische Assistentin Norddeutscher Rundfunk Narodnyi Kommissariat Wnutrennych Del (russ.) Staatssicherheitsdienst Neue Ruhr Zeitung/Neue Rhein Zeitung Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationale Volksarmee Neue Zürcher Zeitung Oberhessischer Geschichtsverein Gießen Oberstes Gericht Offizier im besonderen Einsatz (MfS) Operative Personenkontrolle Operativer Vorgang Posttraumatische Belastungsstörung Rechtsanwalt Rundfunk im Amerikanischen Sektor Sowjetische Besatzungszone Sicherheitsdienst Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetisches Militärtribunal Sozialdemokratische Partei Deutschlands Selbstständiges Referat Sonderaufgaben Schutzstaffel Staatssicherheitsdienst Staatsanwalt(-schaft) Staatssicherheit Strafrechtsergänzungsgesetz Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafvollzugseinrichtung/-anstalt Strafvollzug Süddeutsche Zeitung Treuhandstelle für den Interzonenhandel Technische Universität Untersuchungsausschuss Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen Untersuchungshaftanstalt Übersiedlungsersuchen Übersiedlung Übersiedlungsersuchende (Antragsteller auf Ausreise) Verband Deutscher Studentenschaften Volkseigener Betrieb Verbrechen gegen die Menschlichkeit Vorschlagsliste Vereinigung der Opfer des Stalinismus
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540
Anhang
VP V-Person VR VS WB WD WDR ZAIG ZdF Z-Fälle ZI ZK ZKG
Volkspolizei Vertrauens-/Verbindungsperson Volksrepublik Verschlusssache West-Berlin Westdeutschland Westdeutscher Rundfunk Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat In den Freikaufsverhandlungen zurückgestellte Fälle Zelleninformator Zentralkomitee (der SED) Zentrale Koordinierungsgruppe
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Tabellen und Dokumente
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8 884 1 555 407 554 693 880 888 1 375 731
1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
Gesamt laut Bundesregierung2 8 888 1 541 424 531 696 927 888 1 375 731
davon davon Anteil Beträge in DM entlassen entlassen Entlassun(Häftlinge und in den in den gen in die FamilienzusammenWesten Osten DDR in % führungen)3 4 4 50,0 205 000,00 500 388 43,6 37 918 901,16 635 906 58,7 67 667 898,52 288 136 32,0 24 805 316,38 335 196 36,9 31 482 433,19 479 217 31,1 28 435 444,15 609 318 34,3 44 873 875,05 592 296 33,3 50 589 774,55 981 394 28,6 84 223 481,52 597 134 18,3 69 457 704,26
1 Tabelle »Zahlungen der Bundesregierung über die Kanäle der Evangelischen Kirche«, beruhend auf Vogels Büroakten; Whitney: Advocatus Diaboli, S. 400. Die Differenz zu den Angaben der Bundesregierung beruht wahrscheinlich auf unterschiedlicher Zählung. 2 Tabelle »H-Aktionen 1963 bis 1989«; BArch-B, B 137/36058. 3 Geißel: Unterhändler, S. 475. Die Höhe des Barzahlung im Jahr 1963 entstammt dem Vermerk Rehlingers, Nov. 1968; BArch-K, B 137/19980, Bl. 48 (ASDzD). Der Zahlbetrag für 1989 enthält eine erst 1990 geflossene Tranche. Es entfielen schätzungsweise ca. 3 Mrd. DM auf den Häftlingsfreikauf, die restlichen 0,4 Mrd. DM auf die Familienzusammenführung.
Gesamt laut DDR1
Freigekaufte Häftlinge, Entlassungsgebiet und Gegenleistungen der Bundesregierung
Jahr
Tabelle 1:
3
Anhang
541
1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 Summen
Jahr
631 1 053 1 158 1 439 1 475 1 452 890 1 036 1 584 1 491 1 105 2 236 2 669 1 450 1 209 1 048 1 775 31 676
Gesamt laut DDR1
Gesamt laut Bundesregierung2 631 1 053 1 158 1 439 1 475 1 452 890 1 036 1 584 1 491 1 105 2 236 2 669 1 450 1 209 1 048 1 840 31 775 davon davon Anteil Beträge in DM entlassen entlassen Entlassun(Häftlinge und in den in den gen in die FamilienzusammenWesten Osten DDR in % führungen)3 578 53 8,3 54 028 288,39 962 91 8,6 88 147 719,74 1 124 34 2,9 104 012 504,93 1 364 75 5,2 130 003 535,00 1 377 98 6,6 143 997 942,27 1 374 78 5,3 168 363 141,86 838 52 5,8 106 986 866,24 947 89 8,5 130 015 131,77 1 451 133 8,3 178 987 210,84 1 379 112 7,5 176 999 590,94 1 036 69 6,2 102 811 953,50 2 135 101 4,5 387 997 305,12 2 518 151 5,6 301 995 568,10 1 371 79 5,4 195 009 307,73 1 132 77 6,3 162 997 921,59 1 032 16 1,5 232 096 191,43 1 757 83 4,5 332 895 746,89 27 395 4 380 Ø 17,3 3 437 005 755,12
542 Anhang
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ca. 33 000
2 087 33 763 ca. 400
ca. 33 000
davon entlassen in den Westen 2 0876 29 482
Gesamt (Vogel) 4 981 7 975
Gesamt (BReg.) 5 015 8 009 2 850 5 020
Westen 2 165 2 989
Osten
Entlassungen West und Ost im Zeitraum 1963–1969/72
Gesamt laut Bundesregierung5 2 087 33 862 ca. 400
Gesamt laut DDR4
Verhältnis West : Ost 56,8 : 43,2 62,4 : 37,3
4 Tabelle »Zahlungen der Bundesregierung über die Kanäle der Evangelischen Kirche«, beruhend auf Vogels Büroakten; Whitney: Advocatus Diaboli, S. 400. Die Differenz zu den Angaben der Bundesregierung beruht wahrscheinlich auf unterschiedlicher Zählung. 5 Tabelle »H-Aktionen 1963 bis 1989«; BArch-B, B 137/36058. 6 Nicht berücksichtigt sind die 1987 und 1989 amnestierten und in den Westen ausgereisten Häftlinge, da aus den verfügbaren Unterlagen nicht hervorgeht, ob die Bundesregierung eine Gegenleistung dafür erbrachte.
1963–1969 1963–1972
Zeitraum
Tabelle 1b:
Amnestie 1972 Zwischensumme Betrugsfälle Schätzungsweise freigekauft
Jahr
Anhang zu Tabelle 1
Anhang
543
7,1 3,5 2,7 8,5
34,1 5,1 5,0 7,3 15,1
3,0
4,0 6,0 3,5
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10,0
6,9
6,0
24,0 12,0 24,5 30,0 7,5
32,1 10,5 49,1 30,1 8,1
84,2 69,5 54,0 88,1 104,0 129,9
6,0
16,9a) 18,3 8,0 11,5 22,0 10,1 4,5 8,0 20,3 12,0 6,0 40,2 8,0 4,6 14,0 20,0 2,0 4,6 1,5 2,5 1,0 7,0 11,0 4,9 4,0 1,0 0,5 3,5 2,0 1,5 4,5 2,5 11,2
1971 1972 1973 1974 1975 1976
7 Die Daten entstammen Volze: Bananenlegende, S. 65. Da ab 1977 die gelieferten bzw. als Äquivalent bereitgestellten Waren generell umgehend in Devisen gewandelt wurden, ist auf eine Auflistung über das Jahr 1976 hinaus verzichtet worden.
50,7
2,0
7,0 7,7 9,8 19,0* 4,0 6,0 5,0 5,0 4,0 1,0 1,0 7,1
31,5 28,4 44,9
1,3
5,2 12,0
11,8 2,8* 2,0* 25,0* 4,3 2,7
U T T U 13,9 T 2,2 2,3 37,9 67,7 24,8
T T Ub) U T U U U U U T
Form 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970
Warenpalette der B-Geschäfte 1964–1976 (Warenwert in Mio. DM)7
Erdöl Diamanten Kupfer Silber Quecksilber Silbernitrat Zinn Rhodium Palladium Stahl- und NE-Metallerzeugnisse Kautschuk andere Rohstoffe c) Mais Kaffee Kakaobohnen Butter Speiseöle Summe (vgl. Tab. 1, Spalte 7)
Ware
Tabelle 2:
544 Anhang
c) es wurden geliefert: 1964 Kadmium 1,0 U, Aktivruß 1,0 U/T und kleinere Partien Quecksilber, Stickstoff und Rutilsand 1965 Molybdän 6,0 U und Wolle 1,3 U 1966 Molybdän 10,0 U, Wolfram 2,6 U, Cordseide 2,0 U und Kabel 0,5 U 1967 Rohasbest 1,8 T, Pergamentersatzpapier 1,2 T, Weißblech 1,0 U, Fichtenzellulose 0,7 U und Rutilsand 0,5 U 1968 Phosphatdüngemittel 12,0 U 1969 Rohasbest 6,2 U und Weißblech 0,7 U 1970 Phenol 2,0 T 1972 Pflanzenschutzmittel 4,5 U und Farbstoffe 1,5 U
b) Kupfer wurde teilweise als Transitware bereitgestellt, dann mit * gekennzeichnet. Ab 1979 wurde Kupfer nur noch in Form einer Transitware überlassen.
a) davon 2,9 Heizöl T und 4,0 Gasöl U.
Quellen: Unterlagen des Diakonischen Werkes Stuttgart; eigene Berechnungen Volzes. Differenzen können sich aus Rundungen und nichterwähnten Kleinpartien ergeben. U bedeutet Warenbegleitschein, T steht für Transitware.
Anhang
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545
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1979
1980
1981
1982
41,05
69,46
41,50
54,03
42,65
44,00
52,05
58,10
60,00
88,15 104,01 130,00 144,00 168,36
400,00
56,45
106,99
575,00
56,00
130,02
575,00
59,35
178,99
575,00
62,30
177,00
8 Berechnet nach den Angaben in Tabelle A 1 »Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland an die DDR in den Jahren 1971–1989«; Dt. Bundestag: Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Art. 44 des GG; 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600. Bonn 1994, 5. Teil, Anhangband C, S. 124– 129. 9 Für die Jahre 1963 bis 1970 bietet o. a. Quelle keine Werte. Die Gesamtsummen in diesem Zeitraum aus Aufwendungen für die »Besonderen Bemühungen« und Anteil an den Kirchengeschäften A+C stammen aus Tabelle 1 sowie von Volze, Armin: Kirchliche Transferleistungen in die DDR. In: DA 24 (1991) 1, S. 59–66. 10 Das Kirchengeschäft A+C wurde zur Hälfte aus dem Haushalt des Innerdeutschen Ministeriums, ergo aus dem Bundeshaushalt finanziert. Volze: Kirchliche Transferleistungen, S. 62. Dieser Umstand ist in der o. a. Ursprungstabelle A 1 nicht berücksichtigt. 11 Die Werte dieser und der nachfolgenden 3 Zeilen entstammen Tabelle A 1 a.a.O. und stellen Teilsummen der Bundeshaushaltszahlungen aus Zeile 1 vorliegender Tabelle dar.
- 234,90 234,90 234,90 234,90 400,00 400,00 400,00
37,70
224,45
-
84,22
285,98
k.A. 228,00 383,95 375,50 382,05 408,70 659,15 725,50 741,00 1 154,15 1 107,20 1 284,55 1 241,30
1963– 19709
Anteil der »Besonderen Bemühungen« an den Transferleistungen aus dem Bundeshaushalt an die DDR8
Zahlungen aus dem Bundeshaushalt (samt 0,5 des Kirchengeschäfts A+C10) – davon BB/Kirchengeschäft B11 – davon 0,5 des Kirchengeschäfts A+C – davon Transitpauschale
Jahr
Tabelle 3a:
546 Anhang
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k.A.
1963– 1970
36,93
1971
18,09
1972
14,38
1973
23,07
1974
25,44
1975
19,72
46,00
1976
19,84
98,40
1977
22,72
81,30
1978
9,27
566,00
1979
11,74
327,50
1980
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1985
1986
1987
1988
1.162,90 985,15 934,00 876,80 913,35
1984
924,25
1989
15 402,05
Gesamt 1971–1989
13,93
454,60
1981
14,25
410,00
1982
12 Berechnet nach den Angaben in Tabelle A 1 »Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland an die DDR in den Jahren 1971–1989«; Dt. Bundestag: Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Art. 44 des GG; 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600. Bonn 1994, 5. Teil, Anhangband C, S. 124– 129.
914,55
1983
Anteil der »Besonderen Bemühungen« an den Transferleistungen aus dem Bundeshaushalt an die DDR12
Zahlungen aus dem Bundeshaushalt (samt 0,5 des Kirchengeschäfts A+C)
Jahr
Tabelle 3b:
– davon Beteiligung an Investition im Berlin-Verkehr Anteil der »Besonderen Bemühungen« in %
Jahr
Anhang
547
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13
30,65
20,00
20,87
77,00
18,59
55,00
25,41
25,00
33,36
63,25
11,24
65,80
118,00
69,00
158,00
70,15
575,00 575,00 575,00 575,00 575,00
63,90
388,00 302,00 195,00 163,00 232,10 1984 1985 1986 1987 1988
575,00
67,75
102,81 1983
36,01
575,00
63,35
332,9013 1989
20,5%
2 436,80
8 289,60
1 074,35
3 151,04 Gesamt 1971–1989
Wert beinhaltet im Jahr 1990 zugeflossene Tranchen (über 65 Mio. DM), die als Teil der Vereinbarungen für das Jahr 1989 erst im Folgejahr fällig wurden.
– davon 0,5 des Kirchengeschäfts A+C – davon Transitpauschale – davon Beteiligung an Investition im Berlin-Verkehr Anteil der »Besonderen Bemühungen« in %
– davon BB/Kirchengeschäft B Jahr
548 Anhang
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42 622 41 866 29 552 24 131 19 573 16 036 16 975 17 519 17 408 17 164 15 189 13 252 16 285
Ausgereiste insgesamt1
762 393 438 405 408 595 911 1 219 1 124 2 450 5 635
Davon FZ + K2
2,57 1,62 2,23 2,52 2,40 3,39 5,23 7,10 7,40 18,48 34,60
Anteil FZ+K in % 4 500 635 288 335 479 609 592 981 597 578 962 1 124
»West«-Freikauf lt. Tab. 1 4 500 1.397 681 773 884 1 017 1 187 1 892 1 816 1 702 3 412 6 759
FZ, K und »West«-Freikauf Gesamt
Entlassungszahlen, Anteil der Ausreisen über »Besondere Bemühungen (BB)«
0,01 1,19 4,70 2,80 3,94 5,50 5,90 6,70 10,86 10,58 11,20 25,74 41,50
3,43
Anteil der Ausreisen über die nach Dekaden BB an allen Ausreisen in %
1 Angaben nach Judt, Matthias: Deutschland- und Außenpolitik. In: Ders. (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin 1997, S. 546, sowie Mayer, Wolfgang: Flucht und Ausreise. Botschaftsbesetzungen als wirksame Form des Widerstands. Berlin 2002, S. 113. Tab. XVIII in: Raschka: Justizpolitik, S. 332, stützt sich auf Akten des MfS mit geringeren Zahlen, was den Anteil der Ausreisen im Rahmen der »Besonderen Bemühungen« erhöhen würde. 2 »Zahlungen der Bundesregierung über die Kanäle der Evangelischen Kirche«, beruhend auf Vogels Büroakten. Whitney: Advocatus Diaboli, S. 400.
1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975
Jahr
Tabelle 4:
Anhang
549
Ausgereiste insgesamt1
15 168 12 078 12 117
12 515 12 763 15 433 13 208 11 343 40 974 24 912 26 178 18 958 39 832 343 854
886 905
Jahr
1976 1977 1978
1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
Summe
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215 019
4 205 3 931 7 571 6 304 5 487 29 626 17 315 15 767 8 225 21 202 69 447
4 734 2 886 3 979
Davon FZ + K2
33,59 30,79 49,05 47,72 48,37 72,30 69,50 60,22 43,38 53,22 20,19
31,21 23,89 32,83
Anteil FZ+K in %
27 395
838 947 1 451 1 379 1 036 2 135 2 518 1 371 1 132 1 032 1 757
1 364 1 377 1 374
»West«-Freikauf lt. Tab. 1
242 414
5 043 4 878 9 022 7 683 6 523 31 761 19 833 17 138 9 357 22 234 71 204
6 098 4 263 5 353
FZ, K und »West«-Freikauf Gesamt
27,33
40,29 38,21 58,45 58,16 57,50 77,51 79,61 65,46 49,35 55,81 20,70
40,20 35,29 44,17
56,07
26,65
Anteil der Ausreisen über die nach Dekaden BB an allen Ausreisen in %
550 Anhang
Anhang
551
Dokument 1: Transkript (Ausschnitt) des Redebeitrags von Erich Mielke auf der MfS-Dienstbesprechung vom 12. Februar 19871 (…) Jetzt komme ich zu den Häftlingen, ja, von der Gesetze, man muß also absitzen, das Gesetz, nicht wahr, wie unsere Klassiker uns gelehrt haben, auch Lenin, nicht wahr, wenn er 'ne Strafe hat muß er sie absitzen. Nu' will ich euch mal was sagen, Genossen: 'ne Haftstrafe muß es nur geben, wenn 'se berechtigt ist, so [unverständlich]. Und wenn se nicht berechtigt ist, kann man keene Haftstrafe machen. Genosse Irmler, äh, Genosse Fister, nicht, dann können wir keene machen [Fister: »Stimmt«]. Aber wenn se gegeben ist, dann isser nach dem Gesetz – und hat sich strafbar gemacht – ist nach dem Gesetz abzuurteilen und hat die Haftstrafe anzutreten. So. Und nun will ich euch [unverständlich] nachdem ich das alles andere gesagt habe, wie wir rangehen wollen, dann ist das eine Sache, keine die Größe mehr, sage ich euch, nicht mehr im Verhältnis zum Gesamtkomplex, große auch noch nicht. Und jetzt frage ich euch, nicht wahr: Wenn also echte Gründe gegeben sind, ja warum soll er nicht da meinetwegen nach 'nem Dreivierteljahr, Vierteljahr oder 'nem halben Jahr oder je nachdem, warum sollen wir den nicht wegjagen? Was soll der denn bei uns hier sitzen? [Lärm] sitzen so viele politische Gefangene und frisst hier bei uns, warum soll der nicht weg? Na, warum soll der nicht weg, ich kann das euch sagen, nicht wahr: Weil ich denke ökonomisch für unsere Republik, Mensch. So steht die Frage! Und keen Schwanz umsonst! [unverständlich] uns hier sich ausgebildet und groß geworden alles, haben auf Kosten der Arbeiter-und-Bauern-Macht ham' sich entwickelt. Das ist eine ganz andere Frage. He, wat se, die Frage ist ooch wer hat [unverständlich] ja gut dann soll sich [unverständlich] vielleicht kriegt er die [unverständlich] vielleicht stirbt er da vorher weg noch [unverständlich] sitzen müssen immer noch sitzen. [unverständlich] Krise [unverständlich]. (…) Das Gesetz, nicht wahr, dass einer seine Strafe eigentlich absitzen soll, dat wees ich ganz genau, damit du weist, will ich euch was sagen: wir haben diesen großen Fall mit dieser Banditin, dieser Spionin, Schumann, wisst ihr alle, nicht, und diesen [Medizin-Professor Wolf-Dieter] Thomitzek, der Bruder von ihr, und ihr wisst, dass dieser hohe Offizier, von der Militäraufklärung der Armee, nicht wahr, dass der ein Verräter war, das wisst ihr, ja, und seit Jahren trommeln die und wollen die die Frau haben. Und die haben einen anderen, Lützel, der hat nur noch een Jahr zu sitzen, und da siehst du wie konsequent wir sind. Ja ja, wir lassen se sitzen, wir lassen das Gesetz seinen Lauf gehen, wenn es notwendig ist. Aber andererseits sind wir natürlich keine Dummköpfe und lassen unsere Gefängnisse voll mit irgendwelchen Schmarotzern, die wir 1
Vgl. BStU, MfS, ZAIG, Tb 47 rot 1.
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552
Anhang
sowieso nicht brauchen [unverständlich]. Da sitzen ja zigtausende Kriminelle drin, stimmt doch [Der Angesproche antwortet kaum wahrnehmbar mit „Ja“.], nicht, die sitzen drin, die sitzen, die können ja, also, als Arbeitskräfte verwandt werden, das andere werden wir sehen, was wir machen.
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Anhang
553
Dokument 2: Rede von Generalmajor Gerhard Niebling, Leiter der ZKG des MfS, vom 2. Juli 1987 vor den Leitern der BKG der BV1 Genossen Leiter der BKG! Ich wähle die direkte Anrede, weil es nur Euch betrifft. Natürlich auch den Leiter der Abteilung 1 in der zentralen Verantwortung. Genosse Minister hat am 12.2.87 vor den Leitern der BV, der STM2, Genosse Generalleutnant Neiber, hat am 18.6.1987 in seinen Ausführungen zur Frage der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD eindeutig Stellung genommen und konkrete Aufgaben gestellt. Heute noch einmal im Klartext folgendes: Angesichts der generellen niedrigeren Übersiedlungszahlen – im Verhältnis zu 1986 sind es 70 % weniger – erhöht sich zwangsläufig die Notwendigkeit der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD. Es geht um Devisen für unsere Republik, die wir schnell und in möglichst großer Höhe benötigen. Das bedarf wohl sicher keiner weiteren Begründung. Ich bin vom Genossen Minister beauftragt, die 2. Folge der Haftentlassungen 1987 abzuwickeln, um nahtlos eine 3. Folge anzuschließen,3 die uns die notwendigen Devisen bringt. D. h. es betrifft den Zeitraum von Ende August bis etwa Anfang Oktober 1987, in dem eine 3. Folge abgewickelt und ein möglicher Nachtrag für den Rest des Jahres nachgeschoben werden könnte. Ich ersuche die Leiter der BKG – ausgehend von der Weisung des Genossen Minister vom …… GVS ……. – die Leiter der BV über diese Aufgabenstellung zu informieren und durch ihre Entscheidungen zu sichern, daß die erforderlichen Überprüfungen so schnell als möglich auf dem vorgesehenen Weg der ZKG/Abt. 1 zugeleitet werden. Es geht vor allem darum: – die geforderten Prüfungen von Versagungsgründen zu den H-Fällen (FS4) beschleunigt zu bearbeiten und abzuschließen, – eigene Vorschläge einzureichen, die für eine Einbeziehung in zentrale Maßnahmen geeignet sind, – die EV der VP mit zu prüfen und entsprechende Vorläufe zu schaffen. 1 Vgl. BStU, MfS, ZKG, Nr. 19112, Bl. 204 f. Titel: Materialien zu Beratungen mit BV und DE, 1987–1988. Hervorheb. i. O. 2 Stellvertretende Minister. 3 Der kursiv gesetzte Satzteil ist im Original unterstrichen. 4 Freiheitsstrafen.
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554
Anhang
Für eine nahtlose Fortsetzung der bekannten Praxis der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD ist es erforderlich, alle in Frage kommenden Personen auf der Grundlage der allen vorliegenden Formblätter zu prüfen und möglichst sofort zu melden.5 Ich erwarte von den Leitern der BKG das traditionelle Engagement bei der Lösung solcher Kampfaufgaben (wir hatten ja schon solche spezifischen Maßnahmen zu realisieren). Jetzt betrachten wir diese Aufgaben als spezifischen Beitrag zur Unterbindung und Zurückdrängung von Übersiedlungsversuchen oder als Ausgleich für die bekannten relativ niedrigen Übersiedlungszahlen.
5
Vgl. Anm. 3.
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555
Anhang
4
Personenregister
Abel, Rudolf 48 Achilles, Heidemarie 129 Adenauer, Konrad 50, 57 f., 61 f., 64, 66, 68, 101, 190, 369 Adler, Fritz 456 Adolph, Walter 102, 111, 182 f., 202 Ahlbory, Martin 81, 83 Albertz, Heinrich 195 Alich, Karl 407 f. Andropow, Juri 327, 341 Apel, Hans 310 Appel, Rainer 394 Arnold, Werner 82 f., 91, 140 Ash, Timothy Garton 409 Auerbach, Thomas 403 Bahr, Egon 30, 32, 221 f., 224, 233–237, 281–286, 288, 290– 292, 315, 344, 368, 370 Bahra, Bob 262 Bahra, Manfred 261, 480, 494 Baier, Adolf 166 f. Baring, Armulf 380 Bartz, Manfred 491 Barzel, Rainer 27, 30, 59, 64–70, 72 f., 82, 101, 117, 317 f., 321, 360, 368–370, 372, 375, 378, 386, 392, 504 Bataschew, Gennadi 326–329 Baumann, Winfried 431 Beater, Bruno 425 Beckert, Rudi 424 Behling, Kurt 27, 42, 60 Behrend, Heinz 61 Behrendt, Heinz 56, 62 Beil, Gerhard 330 Benda, Ernst 211
Bengsch, Alfred 102, 111, 215 Benjamin, Hilde 138, 153 Bethge, Wolf-Dieter 148 Biermann, Wolf 401–403, 497 Binder, Heinz-Georg 114 Block, Willi 255–257 Bock, Uwe 417 Bocklet, Paul 114 Böhler, Wilhelm 110 Bohley, Bärbel 405 Bölke, Joachim 101 Böll, Heinrich 401 Bölling, Klaus 306 Bonnet, Horst 455 Bonnet, Sabine 455 Borchert, Karl-Heinrich 152, 423 Brandt, Willy 51, 53 f., 121, 185– 187, 195, 221 f., 224, 227 f., 235, 281, 286, 288, 292 f., 298, 302 f., 312, 321, 369–371 Breithaupt, Rainer 32 Brentano, Heinrich von 68, 76 Breschnew, Leonid 141, 232, 341, 397, 454 Brodeßer, Karl-Friedrich 86 Brömme, Rudi 148 Burmester, Greta 27, 286, 389 Ceausescu, Nicolae 503 Cetti, Lothar 455 Chamberlain, Neville 201 Chruschtschow, Nikita 23, 46, 52 f., 55, 57, 140 Churchill, Winston 35 Clemens, Hans 205 f. Commichau, Werner 42, 49 Dahlgrün, Rolf 68, 170 Dernier, Jürgen 148
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556
Anhang
Dickel, Friedrich 138 Dinse, Otto 60 f., 63, 69 Döbler, Hermann 169 Dörr, Heinz 32, 415, 485 Dressel, Günter-Maria 270 Dubcek, Alexander 455 Dürrenmatt, Friedrich 401 Ebert, Dorothea 484 Ebert, Mathias 484 Ehmke, Horst 207, 367 Eichmann, Adolf 501 Engel, Wilhelm 456, 457 Engert, Jürgen 125 Enke, Manfred 21, 147 f., 151– 153, 157, 159 f., 250, 254, 271, 333 Eppler, Erhard 109 Erhard, Ludwig 73 f., 78, 84, 87, 92, 104, 164, 166, 170, 185, 234 Faust, Siegmar 455 Fechter, Peter 61 Felfe, Heinz 204–212, 214–218, 220, 226, 274, 308 f. Fischer, Oskar 346 Fischer, Werner 405 Fister, Rolf 250, 413–415, 423, 429 f., 432–434, 551 Foschepoth, Joseph 24 Franke, Egon 24, 28 f., 118 f., 125, 127, 149, 223–226, 289, 291, 293 f., 299, 302 f., 305, 310, 313 f., 318–320, 357, 368– 371, 374–376, 381 f., 385, 388– 392, 496 Frenzel, Alfred 190, 195, 206, 274 Fricke, Karl Wilhelm 26, 384, 395 f., 452 Frömel, Hans 399 f. Fruck, Hans 144, 154 Fuchs, Jürgen 401–403 Fuchs, Lilo 402
Ganzer, Alfred 259 Gaus, Günter 299, 377, 388 f. Gehlen, Reinhard 77, 185, 205, 209, 211 f. Geißel, Ludwig 89 f., 92 f., 97, 154, 438–440 Geißler, Heiner 189 Genscher, Hans-Dietrich 324 Goersdorf, Dieter 306 Göhl, Erhard 275 Gorbatschow, Michail 341 Grabert, Horst 32, 294 Gradl, Johann Baptist 185 Graf, Kerstin 403 Grass, Günter 401 Grauer, Eberhard 90 Gröndahl, Knut 149 Güde, Max 77 f., 93, 95 Guillaume, Christel 311 f. Guillaume, Günter 96, 205, 298, 308 f., 311 f., 314, 326, 373 Guttenberg, Karl-Theodor Freiherr zu 186, 215, 218 Häber, Herbert 330 Hampe, Peter 258, 272 f., 476 Hartmann, Klaus 129 Hase, Karl-Günther von 102 Havemann, Katja 401 Havemann, Robert 401 Heinemann, Gustav 190, 207– 209, 211 f., 214, 235 Heintze, Harald 148 Heinz, Volker 206 Henning, Ottfried 340 Hertle, Hans-Hermann 155 Hess, Werner 362 Hesse, Kurt R. 386 Heuss, Theodor 167 Himmler, Heinrich 376 Hinkeldey, Wolfgang 403 Hirsch, Erich-Hermann 42 Hirsch, Ralf 423
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Hirschman, Albert O. 395 f. Hirt, Edgar 29, 118 f., 127, 303, 307, 309, 311, 313 f., 318–320, 382, 385 Hitler, Adolf 201, 376 Hoensbroech, Benedikt Graf von und zu 76 f., 79, 83–85, 93, 95 f. Hoesch, Jan 32, 118, 123, 126, 189, 224, 225 f., 229, 257, 268, 282, 293 f., 306, 435 Hofé, Günter 76–79, 83–85, 93– 95, 99, 120, 166 Hoffmann, Heinz 420 Holzapfel, Carl-Wolfgang 184 Hommel, Helga 251 f. Honecker, Erich 21, 31, 105 f., 128, 131, 133–135, 138–141, 145, 153, 155, 232–234, 236, 281, 286–294, 296–300, 302, 305–308, 310, 313, 315, 317, 322 f., 325, 338, 341, 343–346, 350, 352, 354, 377, 380, 382, 384, 393, 397, 404, 412, 419 f., 431, 443–445, 454, 485, 496 Horchem, Hans Josef 30, 95 Huonker, Gunter 313 Hüsch, Heinz-Günther 503 Illner, Norbert 406 Irmler, Werner 433, 551 Jablonski, Marietta 258 Jacob, Theo 253 Jaeger, Werner 254 Jahn, Roland 264, 403–405 Jenninger, Philipp 328, 330, 339 Junge, Hans-Dieter 272 Kaiser, Heide 148 Kalinna, Hermann E. J. 32, 109, 111, 279 Kaul, Friedrich Karl 46, 76–79, 81, 83, 87, 103, 135 Kennedy, John F. 58
Kielinger, Valentin 51 Kiesinger, Kurt Georg 33, 114, 185–187, 194, 196, 199, 202, 204, 212, 214–217 Kinkel, Klaus 327 f. Kirstein, Marian 403 Kischke, Martina 190 Kittan, Tomas 473 Klein, Wolfram 334 Klier, Freya 405 Knechtel, Ralf 416– 418 Kohl, Helmut 117, 316 f., 321, 324, 327–329, 344 f. Kohl, Michael 233–237, 281, 284–286, 290 Konrad, Hans-Peter 416 Korte, Karl-Rudolf 330 Krause, Fritz 246 Krautwig, Carl 73 f., 77, 93, 99, 103, 124, 127, 164, 167–172, 174–178, 180 f., 183 f., 191, 195–201, 203 f., 210, 219, 315, 361, 378, 439, 496 Krawczyk, Stefan 405 Krenz, Egon 288, 354 Kreutzer, Hermann 49, 118, 149, 223, 226, 291, 391 Krolikowski, Werner 420 Krummacher, Friedrich-Wilhelm 91 Kunert, Christian 402 f. Kunst, Hermann 27, 80–82, 84, 89 f., 92–94, 103, 106–109, 111–113, 124 f., 166 f., 169– 171, 175 f., 178, 185, 198, 201, 206, 210, 215 f., 218, 228, 249, 260, 263, 270, 279, 283, 361 f., 364, 376, 378, 380, 438 Kunze, Gerhard 32 Kurth, Christel 335 f. Kurth, Claus 335 f., 426 Lahnstein, Manfred 311
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Lambsdorff, Otto Graf 338, 340 Landgraf, Christian 49 Lehmann, Gerd 403 Leonhard, Wolfgang 419 Leopold, Kurt 56 f. Loest, Erich 247 Löwenthal, Gerhard 385–388, 390–394 Lübke, Heinrich 76, 167, 190, 217 Ludwig, Hans 113 Lustik, Wilfried 152 f. Lutze, Lothar-Erwin 326, 344, 431 Mackrodt, Werner 148 Mainz, Rolf 456 Maiwald, Reinhard 129 Mangelsdorf, Werner 459 Mapother, John R. 48 Markowsky, Bernd 403 Markwirth, Lothar 459 Marlewski, Gerd 148 Märten, Wilfried 416 Martin, Ludwig 77 f., 99, 211 März, Josef 323, 325 Meier, Walfred 403 Mende, Erich 30, 73–75, 77 f., 84, 86–90, 92, 97, 101–104, 133, 163 f., 176, 183, 202, 219 f., 307, 359, 363–365, 373–376, 378, 439 Meyer, Christoph 17, 188 Meyer, Michel 378, 380–382 Michatz, Winfried 42 Mielke, Erich 11, 21, 31, 37, 46 f., 49, 63, 71, 77 f., 86, 105, 130, 134, 138, 139, 140–145, 148, 151 f., 155–160, 220, 267, 270, 276, 288, 296, 332–335, 345, 348, 350, 389, 405, 411–413, 415, 419 f., 425, 429–433, 441 f., 479, 505, 551
Mischnick, Wolfgang 286 f., 289, 323, 338, 341 Mittag, Günter 138, 154 f., 192, 296, 309 f., 445 Möhring, Hans 306 Müller, Volker 260 Musiolik, Alfred 42, 64, 119, 257, 268 Näumann, Wolf-Egbert 32, 119, 128, 265, 408 Neiber, Gerhard 350, 553 Nelle, Engelbert 50 Neumann, Eva-Maria 383 Niebling, Gerhard 21, 31, 105, 146, 157–159, 332–335, 343, 349–352, 383, 428 f., 433, 553 Nuthmann, Walter 138, 457 Othma, Paul 243 f., 459 Pannach, Gerulf 402 f. Pieper, Bernd 469 Pilz, Volker 251, 506 Plewa, Klaus 32, 118, 278, 306 f., 320, 337 f., 340, 342 Plogstedt, Sibylle 491 Pollack, Detlef 396 Popp, Sabine 400 f. Posser, Diether 30, 81, 96, 103, 124 Potthoff, Heinrich 29 Pötzl, Norbert F. 17 Powers, Francis Gary 48 Priesnitz, Walter 351–354 Przybylski, Peter 32, 420 Raschka, Johannes 18, 352 Reagan, Ronald 341 Rehlinger, Ludwig A. 11, 30, 32, 65, 67, 70–72, 74 f., 84–88, 93, 95, 103, 106, 116–119, 123 f., 127, 135, 143, 163, 164 f., 167, 174, 177–182, 184, 191, 195– 198, 202 f., 206–208, 213, 215, 219, 223 f., 239–241, 256–258,
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262–264, 268, 270, 273, 317, 319–321, 326, 328 f., 337–340, 342–344, 346 f., 351, 359, 364– 367, 380 f., 392, 404, 418, 453, 456, 464 Reichert, Arthur 482 Rex, Erich 247 Rex, Martha 247 Rittberg, Else Gräfin von 109, 178, 260 Roigk, Horst 154 Römer, Gerhard 459 Rührdanz, Hartmut 245 f. Rührdanz, Sigrid 245 f. Rührdanz, Torsten 245 f. Sakowski, Paul 459 Sallmann, Michael 403 Salm, Ülo 119, 128 Sanne, Carl-Werner 236, 374 f. Schalck-Golodkowski, Alexander 20, 31, 144 f., 154 f. , 296, 322– 330, 339 f., 374 f., 442 f., 446 Scharf, Kurt 80–84, 90, 174, 207 f., 375 f., 378 Schau, Günther 403 Schäuble, Wolfgang 339 f., 345, 350 Scheck, Rainer 265 f. Scheel, Walter 220, 286, 369, 370, 373 Schenk, Fritz 388 Schiebel, Hans-Joachim 455 Schierbaum, Hansjürgen 32, 113, 167, 172, 176 f., 180, 255 Schmidt, Andreas 410 Schmidt, Heinz 429 f. Schmidt, Helmut 28, 67, 286, 297– 302, 306, 308, 310, 312 f., 344 f., 358, 388 f., 503 Schmidt, Karl-Heinz 274 f. Schnitzler, Karl-Eduard von 392 Schnur, Wolfgang 404
Schönnagel, Jürgen 270 f. Schreckenberger, Waldemar 326, 328 Schröder, Fritz 425 Schtscharanski, Anatoli 342 Schulz, Kurt 72 Schulz, Ludwig 116 f. Schumacher, Kurt 188, 221, 223 Schumann, Christa-Karin 326– 328, 345, 431 f., 551 Schürer, Gerhard 155, 445 Sehrig, Helmut 63 f., 66, 69, 254 Seidel, Harry 59, 177, 183 f., 364 Seidel, Karl 266 Seidel, Manfred 442 Seifert, Gabriel 484 Shackley, Theodore S. 30 Silberstein, Cäcilie 247 Silgradt, Werner 459 Smolarski, Erwin 457 Spangenberg, Dietrich 51–54, 119, 121 f., 149, 195, 200 f., 207 Springer, Axel 65–69, 372 f., 386 Stalin, Josef 36 Stange, Antonie 29 Stange, Jürgen 22, 29, 49–55, 60, 63, 65–67, 69, 71 f., 75 f., 79, 81–85, 90, 93–96, 98, 100, 102–104, 107, 114, 116, 120 f., 124–127, 130, 132, 143, 151, 157, 166–171, 173–178, 181– 183, 194–199, 201–204, 206, 208–210, 212–214, 216–218, 225–230, 232, 235 f., 239–242, 248 f., 255, 257, 260–262, 265 f., 269–272, 274, 287, 290, 294–297, 307–311, 314, 319, 362 f., 366–368, 371 f., 379, 397, 402 f., 408, 443, 482 f., 495 Starkulla, Dieter 129, 265
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Stoph, Willi 33, 97, 114, 138 f., 153, 196, 202, 204, 420 Strauß, Franz Josef 20, 28–30, 56, 155, 157, 190, 197, 203, 317, 322–329, 338–340, 369 f., 391, 504 Streit, Josef 20, 44 f., 79, 87, 100, 103, 132 f., 138, 151–153, 193, 218, 420 Svingel, Carl-Gustav 210 f., 297 Templin, Renate 405 Templin, Wolfgang 405 Tenhumberg, Heinrich 110 f., 198, 201, 207, 215, 238, 258, 520 Thedieck, Franz 27, 54, 59 f., 62, 64 f., 68, 71, 73 Thiemann, Ellen 132 Thomitzek, Wolf-Dieter 431, 551 Tschernenko, Konstantin 341 Tschirner, Herbert 459 Uckel, Bruno 459 Ulbricht, Walter 36, 46, 52 f., 55, 57, 59, 61 f., 64, 75, 80, 85, 86, 90, 99, 105, 138–140, 142, 153, 186, 188 f., 192, 202, 232, 274, 419 Unbehauen, Kurt 459 Verner, Paul 233, 236 f., 281, 283, 290 Vogel, Hans-Jochen 310, 338 Vogel, Helga 402 f. Vogel, Wolfgang 17, 21–23, 27– 29, 31 f., 44–46, 48–55, 60 f., 63 f., 66–72, 75 f., 78 f., 81–96, 100, 102 f., 105, 111–113, 115 f., 120 f., 124, 126–136, 138 f., 141–143, 146, 151, 155, 157, 166–169, 172–174, 176– 179, 181, 183 f., 190, 193–208, 210–218, 220, 224 f., 227, 229 f., 235 f., 239, 241, 246–249,
25–256, 258–261, 263–265, 269, 271–276, 278, 281, 283, 287, 289–292, 296–303, 306– 311, 313 f., 319–321, 324, 326, 328 f., 338 f., 342–344, 347, 351–354, 362, 366–368, 371– 373, 375, 377, 379 f., 385, 389– 391, 393 f., 397, 402 f., 408, 416–418, 420, 424 f., 441, 443, 457, 465, 470, 481–483, 490, 495, 541, 543, 549 Völckers, Johannes 122, 195 f. Volpert, Heinz 21 f., 25, 45 f., 48–52, 54, 61, 63, 68, 70–72, 78 f., 82–85, 87–89, 96, 105, 113, 123, 126, 129, 130, 133– 136, 141, 143–148, 154–159, 166, 168, 172, 178 f., 181, 183, 193 f., 211 f., 217, 230 f., 239, 250, 256, 267, 270–272, 274– 279, 302, 307, 325 f., 333, 389, 405, 425, 464, 479, 505, 510 f. Wedel, Reymar von 32, 79–84, 88–93, 96, 103, 115, 124, 166, 174, 283, 375 Wehner, Greta 27, Siehe Burmester, Greta Wehner, Herbert 18, 27, 29, 31, 69, 106, 117 f., 122, 127, 133, 136, 139, 185–191, 195–197, 199, 204, 208, 210–220, 223– 226, 281 f., 284–289, 291–294, 296–302, 309 f., 313, 323 f., 326, 365–367, 373, 375, 380, 389, 420, 465, 476, 492, 496 Wehrstedt, Rudolf 454 Weichert, Jürgen 65 Weißgerber, Ulrich 252 f., 263 Welsch, Wolfgang 132, 139, 387, 484 Wessel, Gerhard 212, 217
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Westrick, Ludger 73, 92, 102, 170, 178, 183 Wetzel, Günter 32, 127, 204, 210 Wiechert, Jürgen 173 Wieck, Hans-Georg 32 Wiesner, Hans-Jürgen 99 Wilms, Dorothee 343, 346 Windelen, Heinrich 321 f., 329, 337, 340, 343, 351, 381, 391, 464 Windisch, Gernot 152 f. Winkler, Rudolf 421, 455 Winzer, Otto 236, 281 Wischnewski, Hans-Jürgen 305
Wissing, Wilhelm 103, 106 f., 110 f., 124, 166 f., 170 f., 177 f., 182, 198, 240, 249, 361, 364 Wohlrab, Hinrich 148 Wolf, Markus 21, 31, 70, 141, 143, 220, 310 Wollenberger, Vera 405 Wolter, Jupp 363 Wöste, Wilhelm 114 Zimmermann, Horst 273 f. Zinke, Johannes 45, 50, 81, 91, 111, 177, 241, 258, 264
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Angaben zum Autor
Jan Philipp Wölbern wurde am 5.11.1980 in Marburg/Lahn geboren. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Marburg, danach Geschichte, Wissenschaftliche Politik und Englisch an der AlbertLudwigs-Universität in Freiburg im Breisgau und legte sein 1. Staatsexamen in den Fächern Geschichte, Wissenschaftliche Politik und Englisch ab. Jan Philipp Wölbern lebt in Potsdam und absolvierte am LeibnizGymnasium Potsdam sein Referendariat, das er im Dezember 2013 mit dem 2. Staatsexamen beendete. Im November 2013 erhielt er für seine Arbeit über den Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR den Potsdamer Nachwuchswissenschaftlerpreis.
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Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der BStU
Tobias Wunschik
Knastware für den Klassenfeind
Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-WestHandel und die Staatssicherheit (1970-1989) Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Band 37. 2014. 363 Seiten, mit 31 Abb. und 17 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-35080-5 eBook ISBN 978-3-647-35080-6
Das Buch zeigt, dass viele westdeutsche Konzerne im innerdeutschen Handel von der Arbeit politischer Gefangener in der DDR profitierten. Ikea, Quelle, Aldi – viele westliche Firmen ließen in der DDR produzieren. 250 ostdeutsche Betriebe beschäftigten neben »freien« Arbeitern aber auch Häftlinge, darunter politische Gefangene. Diese verdienten daran kaum, den Profit machten die Westkonzerne sowie SED-Firmen als Zwischenhändler. In Haftanstalten gefertigt wurden etwa Möbel, Strumpfhosen, und Fotokameras. Tobias Wunschik belegt mit neuen Aktenfunden, wie die Gefangenen ausgebeutet wurden und welche Firmen davon profitierten. Er beschreibt das Geschäft mit der Ware aus den DDR-Haftanstalten als Teil des innerdeutschen Handels.
Vandenhoeck & Ruprecht www.v-r.de
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350799 — ISBN E-Book: 9783647350790
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der BStU
Band 35: Lutz Niethammer/ Roger Engelmann (Hg.)
Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression
Ein Kulturkonflikt in der späten DDR Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Band 35. 2014. 362 Seiten, mit 11 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-35035-5 eBook ISBN 978-3-647-35035-6
In diesem von Lutz Niethammer eingeleiteten Band untersuchen mehrere Autoren unterschiedliche Aspekte eines bemerkenswerten Kulturkonflikts in der Spätphase der DDR. Vor dem Hintergrund vermeintlich größerer kulturpolitischer Spielräume entwickelten unkonventionelle Nachwuchskünstler in den frühen 1980er Jahren neue formale und inhaltliche Ansätze. Auch im provinziellen Gera entstand ein kleines Zentrum alternativer Popularkultur, das zum Gegenstand eines bemerkenswerten Kulturkonfliktes wurde. Die verschiedenen staatlichen Akteure zogen an sehr unterschiedlichen Strängen. Während die zuständigen Kulturpolitiker die Künstler förderten oder zumindest tolerierten, bekämpfte die örtliche Staatssicherheit sie von Anfang an mit großem Aufwand.
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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350799 — ISBN E-Book: 9783647350790
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der BStU Band 34: Bernd Florath (Hg.)
Das Revolutionsjahr 1989 Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur 2011. 251 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-35045-4
Die Revolutionen des Jahres 1989 veränderten das Gesicht der osteuropäischen Staaten grundlegend. Wo vorher autoritäre Diktaturen herrschten, bildeten sich demokratische und souveräne Staaten. In den Volksbewegungen, die diese Umwälzungen in Gang setzten, agierten Persönlichkeiten, Organisationen, Gruppierungen und verkörperten sich Energien, Motive und politische Visionen unterschiedlichster Art. Oft über lange Zeiten verdrängte nationale und historische Prägungen gaben den revolutionären Dramen in den einzelnen Ländern ein jeweils spezifisches Angesicht. Inwiefern sie darüber hinaus einander anregten, sich auf unterschiedliche Weise ähnlichen Herausforderungen zu stellen hatten, sich aus den Revolutionen ein offener europäischer Prozess ergab, analysieren die Beiträge dieses Sammelbandes.
33: Lukasz Kaminski / Krzysztof Persak / Jens Gieseke (Hg.) / Andreas Schulze
Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991 2009. 583 Seiten mit zahlr. Abb. und einem Tafelteil, gebunden ISBN 978-3-525-35100-0
Die Geschichte des Kommunismus ist ohne die Geschichte seiner Staatssicherheitsdienste nicht zu verstehen.Dieses Handbuch liefert die erste umfassende Darstellung der Geheimdienste im kommunistischen Europa.
32: Roger Engelmann / Thomas Großbölting / Hermann Wentker (Hg.)
Kommunismus in der Krise
Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen 2008. 478 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-35052-2
Politisches Tauwetter und Krisenentwicklung in den kommunistischen Satellitenstaaten.
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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350799 — ISBN E-Book: 9783647350790
Die DDR im Blick der Stasi Die geheimen Berichte an die SED-Führung Herausgegeben von Daniela Münkel im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU).
Henrik Bispinck (Bearb.)
Die DDR im Blick der Stasi 1977 2012. 320 Seiten mit 5 Abb. und 1 CD gebunden ISBN 978-3-525-37501-3 Roger Engelmann (Bearb.)
Frank Joestel (Bearb.)
Die DDR im Blick der Stasi 1953
Die DDR im Blick der Stasi 1988
2013. 320 Seiten mit zahlr. Abb., Tab. und 1 CD, gebunden ISBN 978-3-525-37500-6
2010. 320 Seiten mit 6 Abb., zahlreichen Tab. und 1 CD, gebunden ISBN 978-3-525-37502-0
Daniela Münkel (Bearb.)
Siegfried Suckut (Hg.)
Die DDR im Blick der Stasi 1961
Die DDR im Blick der Stasi 1976
2011. 320 Seiten mit zahlr. Tab. und 1 CD, gebunden ISBN 978-3-525-37503-7
2009. 320 Seiten mit 4 Abb., zahlr. Tab. und 1 CD, gebunden ISBN 978-3-525-37300-2
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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350799 — ISBN E-Book: 9783647350790