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German Pages 87 [88] Year 2012
Zeitgeschichtliche Forschungen
Der Freikauf von DDR-Häftlingen Der deutsch-deutsche Menschenhandel
Helmut Jenkis
Duncker & Humblot · Berlin
45
HELMUT JENKIS
Der Freikauf von DDR-Häftlingen
Zeitgeschichtliche Forschungen Band 45
Der Freikauf von DDR-Häftlingen Der deutsch-deutsche Menschenhandel
Von Helmut Jenkis
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagbild: Bautzen – ehemaliges Stasi-Gefängnis, Sommer 1993 (© ullstein bild – Albert Foss) Alle Rechte vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-13866-1 (Print) ISBN 978-3-428-53866-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-83866-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
I. Der Umfang des deutsch-deutschen Menschenhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
II. Die Reichsfluchtsteuer des Deutschen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
1. Der Ursprung der Reichsfluchtsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
2. Die Reichsfluchtsteuer – ein politisches Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
III. Die ökonomischen und juristischen Grundlagen des Häftlingsfreikaufs . . . . .
17
1. Die ökonomische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
a) Der Mangel an Devisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
b) Die mikro-ökonomischen Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
c) Die makro-ökonomischen Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
2. Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf von DDR-Häftlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
1. Die ersten humanitären Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
2. Der erste Häftlingsfreikauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
3. Trotz des kalten Krieges: Ideologiefreie Ost-West-Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
4. Die Einschaltung des Diakonischen Werkes in Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
a) Das Kirchengeschäft A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
b) Das Kirchengeschäft B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
c) Die technischen Probleme des Freikaufverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
d) Die Vereinbarungen des Diakonischen Werkes mit der KoKo . . . . . . . . . . . . .
48
e) Die Abwicklung der Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
5. Die Franke-Hirt-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
6. Der Häftlingsfreikauf als Finanzierungsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
V. Das ‚1503-Verfahren‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
1. Die Privatinitiative der Brigitte Klump . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
2. Die Entwicklung des ‚1503-Verfahrens‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
6
Inhalt 3. Probleme des ‚1503-Verfahrens‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
4. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
VI. Versuch einer Bewertung des deutsch-deutschen Menschenhandels . . . . . . . . .
70
1. RA Wolfgang Vogel: Ein marxistischer Humanist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
2. War die Bundesrepublik erpreßbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
3. Humanität oder Ökonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Anhang: Überlegungen zum Ursprung des Freikaufs der DDR-Häftlinge . . . . . . . . . . .
83
Einleitung Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der SBZ / DDR bestanden Spannungen, während des kalten Krieges sogar feindliche Nicht-Beziehungen, die mit dem Mauerbau von 1961 und den Schüssen an der Mauer den Tiefpunkt der gegenseitigen Aversionen dokumentierten. Aus der Sicht der DDR war die Bundesrepublik ein kapitalistischer Staat, der das Proletariat ausbeutete und insbesondere während des kalten Krieges revanchistische und militaristische Ziele verfolgte; aus der Sicht der Bundesrepublik war die DDR ein sozialistischer Staat sowjetischer Prägung, der als Satellit der Sowjetunion keine pluralistische Demokratie kannte, dessen Wirtschaft planwirtschaftlich organisiert war, der weder die Freizügigkeit seiner Bürger noch abweichende politische Meinungen akzeptierte. DDR-Bürger, die von dieser Doktrin abwichen und das Land verlassen wollten – in der DDR ‚ungesetzlicher Grenzübertritt‘ genannt –, wurden inhaftiert und im Extremfall beim Fluchtversuch erschossen. Unterhalb dieser schablonenhaften Skizze entwickelten sich – von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und auch heute noch verschwiegen – kooperative OstWest-Beziehungen: Im Osten dominierten die ökonomischen Sachzwänge, im Westen humanitäre Gesichtspunkte. Zu diesen Kooperationen gehörte der Freikauf von DDR-Häftlingen, der sich zu einem regelrechten Menschenhandel entwickelte. Aus vorsichtigen und kleinen Annäherungen entstand ein florierendes Geschäft: Menschen (Häftlinge) gegen Devisen. Für rund 3,4 Mrd. West-Mark hat Bonn nahezu 32.000 Häftlinge freigekauft. Es soll der Versuch unternommen werden, den Ursprung, die Entwicklung und den technischen Ablauf dieses Freikaufgeschäftes darzustellen. Allerdings wird dieses Thema in einen größeren Zusammenhang gestellt. Sowohl das Dritte Reich mit der Reichsfluchtsteuer als auch die DDR hatten mit dem Freikauf von Häftlingen gleichgerichtete Ziele: Einmal wollte man dem jeweiligen System ‚fremde‘ Elemente loswerden, zum anderen aus dieser ideologischen Situation Gewinn erzielen, das heißt, knappe Devisen erwirtschaften. Das Dritte Reich konnte sich eines Rechtsinstrumentes der Weimarer Republik bedienen, die DDR mußte eigene Gesetze schaffen, um nichtkonforme Bürger zu kriminalisieren, sie zu verurteilen und schließlich an Bonn zu verkaufen. Abgesehen von diesen Unterschieden haben beide Diktaturen ähnliche Strukturen entwickelt und daraus ein Geschäft gemacht. Allerdings hat die DDR ihren Devisenhunger dadurch kaschiert, indem sie die These aufstellte, der sozialistische Staat habe die Ausbildungskosten finanziert, die DDR-Bürger, die freigekauft wurden, haben ihre im Sozialismus erworbenen Kenntnisse dem Klassenfeind im Westen zur Verfügung gestellt und da-
8
Einleitung
mit zur Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in der Bundesrepublik beigetragen. Diese mikro-ökonomische Argumentation ist vordergründig, denn durch die Flucht und durch den Freikauf hat die DDR vor allem junge Arbeitskräfte verloren, was die DDR an den Rand des ökonomischen Kollaps brachte. Nicht die Ausbildungskosten, sondern der Verlust an Fachkräften war der entscheidende Grund für das ‚stille‘ Angebot an Bonn, Häftlinge gegen materielle Leistungen freizugeben. Das Angebot der DDR, ein Freikaufgeschäft zu initiieren, führte zu einer kontroversen Diskussion in Bonn: Einerseits wollte man aus politischen Gründen nicht das SED-Regime finanziell unterstützen, andererseits wollte und mußte man in Not geratenen Landsleuten helfen, sie aus der Haft befreien. Es obsiegte der humanitäre Gedanke und man willigte in den Freikauf ein. Wahrscheinlich hat es auch in OstBerlin Diskussionen gegeben, doch es dürfte der Primat der Devisenbeschaffung den Vorrang gehabt haben. Dann entstand in Bonn das Problem, daß es keine offiziellen oder auch nur offiziösen Beziehungen zur DDR-Regierung gab, jede Kontaktaufnahme auf Regierungsebene hätte als Anerkennung des zweiten deutschen Staates gewertet werden können. Da das Diakonische Werk (DW) der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) bereits im kirchlichen Bereich ‚Geschäfte‘ mit der DDR machte, wurde das DW als weisungsgebundener Beauftragter eingeschaltet, das formell die Verhandlungen mit der von Schalck-Golodkowski geleiteten KoKo (Kommerzielle Koordinierung) führte und finanztechnisch abwickelte. Dieses ‚Kirchengeschäft B‘ haben wir als das ‚amtliche Verfahren‘ bezeichnet. Daneben wurde von Frau Brigitte Klumpp das ‚1503-Verfahren‘ – auch UN-Verfahren genannt – entwickelt und praktiziert, das auf einer Resolution des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) der Vereinten Nationen basierte. Dieses komplizierte politische, juristische, ökonomische und nicht zuletzt humanitäre Geflecht – für das es kein formelles Abkommen gab – ist außerordentlich problematisch. Je nach dem subjektiven Standpunkt und den eigenen Leitbildern wird man den deutsch-deutschen Menschenhandel unterschiedlich bewerten. Der Staatssekretär im innerdeutschen Bundesministerium, Ludwig Rehlinger – der maßgeblich das Freikaufgeschäft gestaltete –, hat rückblickend festgestellt, daß er sich auch heute für den Freikauf entscheiden würde. Der Devisentransfer von West nach Ost war in der DDR willkommen, hat aber die DDR nicht vor dem wirtschaftlichen und politischen Kollaps gerettet, wohl aber nahezu 32.000 Häftlingen die Freiheit gebracht. Ein über alle Zweifel erhabener humanitärer Erfolg. Die Ermittlung der Sachverhalte und die Systematisierung des Freikaufkomplexes gestaltete sich schwierig, weil es sich um ein sperriges Thema handelt und weil die wichtigsten Akteure nicht mehr leben oder nicht geneigt waren, Auskunft zu geben. Nicht zuletzt unterliegen sowohl die Archive des Bundes als auch die des Diakonischen Werkes Sperrfristen. Auf der DDR-Seite waren RA Wolfgang Vogel und Manfred Seidel die beiden wichtigsten Verhandlungspartner:
Einleitung
9
Die ergiebigste Quelle für Auskünfte wäre Wolfgang Vogel gewesen, der sich nach der Wende in Schliersee niedergelassen hatte. Wir haben mit ihm sowohl schriftlich als auch telefonisch Kontakt aufgenommen und gebeten, die ursprüngliche Fassung dieser Untersuchung kritisch durchzusehen. Er hat dieses mit der Bemerkung abgelehnt: ‚Genug ist genug‘. Wir gewannen den Eindruck, daß er ‚des Kampfes müde war‘; er ist 2008 verstorben. Manfred Seidel – der gleichfalls nicht mehr lebt – war der Stellvertreter von Schalck-Golodkowski. Er hat 1967 das Konto 528 eingerichtet, auf dem die Devisenerträge aus den Geschäften mit den westdeutschen Kirchen, die Gelder aus dem Häftlingsfreikauf, die Erträge der von der Stasi gesteuerten Auslandsbeteiligungen usw. verbucht wurden. Aus diesem Konto wurden nicht nur die Spitzel des MfS, sondern auch die Wünsche nach westlichen Gütern der Nomenklatura in Wandlitz finanziert. Er war der Devisenbeschaffer und Finanzierungsfachmann. Auf westlicher Seite waren es der Direktor der Inneren Mission / des Diakonischen Werkes in Stuttgart, Direktor Ludwig Geißel, und der RA Jürgen Stange, die gleichfalls nicht mehr leben. Geißel war der Wirtschaftsdirektor des Diakonischen Werkes, der bereits Ende der 50er Jahre von Bischof Kunst die Vollmacht erhielt, mit den Behörden der DDR über humanitäre Fragen zu verhandeln und wirtschaftliche Vereinbarungen abzuschließen. Das war das Kirchengeschäft A, auf dem das Freikaufgeschäft – das Kirchengeschäft B – aufgebaut wurde. Dieses hat der westdeutsche RA Jürgen Stange ‚eingefädelt‘, indem er berichtete, daß man ihm in Ost-Berlin signalisiert habe, daß gegen materielle Leistungen Häftlinge in den Westen ausreisen könnten. Aufgrund der Hallstein-Doktrin konnte und wollte die Bundesregierung keine offiziellen Kontakte zur DDR aufnehmen. Daher wurde das Diakonische Werk als Verhandlungspartner eingeschaltet, es war ein weisungsgebundenes und ausführendes Organ des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen. Entscheidender Akteur war der Staatssekretär (später Senator in West-Berlin), Ludwig A. Rehlinger. Er sah sich nicht in der Lage, auf unsere Anfrage zu antworten, da es sich um eine komplizierte Materie handelte. Unter Beachtung der Sperrfristen der Archive ist es offenkundig, daß die Quellenlage undurchsichtig und dürftig ist. Dieses hat zur Folge, daß Lücken und Unzulänglichkeiten vorliegen. Dennoch hoffen wir, daß es uns gelungen ist, einen systematischen Überblick über das Freikaufgeschäft zu geben. Zugleich haben wir Fragen aufgeworfen, die die weitere Forschung beantworten möge. Die Grundzüge dieser Untersuchung haben wir Anfang März 2011 im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung im Roten Rathaus in Berlin vorgetragen. Diese Untersuchung widmen wir den Akteuren in Ost und West, die trotz der politischen Spannungen humanitär dachten und handelten, sowie den Häftlingen, die aus dem Unrechtssystem in die Freiheit entlassen wurden.
I. Der Umfang des deutsch-deutschen Menschenhandels Bis zur Wende 1989 / 90 war der Freikauf von DDR-Häftlingen in der damaligen DDR ein Staatsgeheimnis, in der Bundesrepublik wurden diese Aktivitäten totgeschwiegen, um dieses ‚Geschäft‘ nicht zu gefährden. Dennoch war es in interessierten Kreisen bekannt und wurde in beiden Teilen Deutschlands kolportiert. Wann immer DDR-Bürger wegen geplanter oder mißlungener Republikflucht oder anderer Vergehen inhaftiert wurden, hat man westdeutsche Verwandte oder Bekannte mobilisiert, um diese Fälle dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen zu melden, um sie auf die Freikauflisten zu setzen. Weder bis zur Wende noch danach ist der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, wieviele Personen die Bundesrepublik freigekauft und welchen Preis sie gezahlt hat. Daher wird der Untersuchung eine Übersicht vorangestellt, die Auskunft über den deutsch-deutschen Menschenhandel gibt.1
Tabelle 1 Freigekaufte DDR-Häftlinge Jahr
Haftentlassene
Gesamtkosten für die Bundesregierung (in DM)
1963
8
340.000,00
1964
888
35.320.000,00
1965
1.541
41.297.270,29
1966
424
52.599.461,70
1967
531
32.274.063,95
1968
696
15.301.668,71
1969
927
48.957.448,27
1 Diese Übersicht ist entnommen aus: Wolfgang Brinkschulte / Hans Jörg Gerlach / Thomas Heise: Freikaufgewinnler – Die Mitverdiener im Westen, Ullstein Buch 36611, Frankfurt-Berlin 1993, S. 23 f. (künftig zitiert: Brinkschulte, S. …); Falco Werkentin (Recht und Justiz im SED-Staat, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, zweite Aufl. 2000, S. 91) bringt exakt die gleichen Zahlen für die freigekauften Häftlinge, nennt aber nicht die Freikaufsummen.
I. Der Umfang des deutsch-deutschen Menschenhandels
1970
888
52.866.855,73
1971
1.375
92.023.373,33
1972
731
70.013.393,73
1973
631
34.846.373,60
1974
1.053
109.043.361,78
1975
1.158
104.590.005,26
1976
1.439
131.098.785,00
1977
1.475
144.574.827,11
1978
1.452
168.753.033,63
1979
890
107.552.963,82
1980
1.036
133.776.616,36
1981
1.584
179.984.763,11
1982
1.491
179.274.196,71
1983
1.105
104.246.450,57
1984
2.236
390.095.143,17
1985
2.669
209.100.710,38
1986
1.450
249.430.170,48
1987
1.209
207.840.679,91
1988
1.048
234.161.985,58
1989 Insgesamt
1.840
269.973.532,46
31.775
3.399.337.134,64
11
Es dürfte überraschen, daß die Bunderepublik nahezu 32.000 Häftlinge für 3,4 Mrd. DM freigekauft hat. Das bedeutet, daß von 1964 bis 19892 in 25 Jahren jährlich rund 1.270 Häftlinge pro Jahr die DDR-Zuchthäuser bzw. Gefängnisse verlassen konnten. Diese Werte relativieren sich, wenn man die Zahl der Freigekauften zu der Zahl der politischen Häftlinge in Beziehung setzt. Es bereitet Schwierigkeiten, die Zahl der jährlich aus politischen Gründen Inhaftierten zu ermitteln; denn: „Die Zahl der wegen politischer Delikte Verurteilten und Inhaftierten läßt sich nur näherungsweise ermitteln, sie fiel jedoch erst 1956 unter die Schwelle von zehntausend pro Jahr. Vorzeitige Entlassungen und Verurteilungen wegen geringfügiger Vergehen wechselten sich im Laufe der Jahre ab“.3
2 Die 1963 freigekauften acht Häftlinge werden nicht berücksichtigt, da es sich um den ‚Probelauf‘ handelte. 3 Klaus Schroeder unter Mitarbeit von Steffen Alisch: Der SED-Staat – Partei, Staat und Gesellschaft 1949 – 1990, München / Wien 1998, S. 109.
12
I. Der Umfang des deutsch-deutschen Menschenhandels
Werkentin unterscheidet für die Jahre 1953 bis 1961 zwischen den Strafgefangenen und den wegen ‚Staatsverbrechen‘ einsitzenden Häftlingen:4 Tabelle 2 Wegen „Staatsverbrechen“ einsitzende Häftlinge je Quartal 1953 bis 1961
Häftlinge insgesamt
davon: Strafgefangene
wegen Staatsverbrechen
wegen Staatsverbrechen Verurteilte in Prozent aller Strafgefangenen
1953 / IV
43.116
36.186
12.520
34,6
1954 / I
37.668
32.422
11.607
35,8
Jahr
1954 / II
40.001
34.768
12.447
35,8
1954 / III
40.911
36.018
12.966
36,0
1954 / IV
45.812
39.488
14.097
35,7
1955 / I
48.411
42.180
14.214
33,7
1955 / II
48.396
41.433
13.631
32,9
1955 / III
48.914
42.645
13.988
32,8
1955 / IV
47.693
39.920
13.014
32,6
1956 / I
48.747
41.940
13.127
31,2
1956 / II
31.806
29.442
11.129
37,8
1956 / III
25.885
22.500
8.115
39,9
1956 / IV
22.343
20.191
6.044
33,9
1957 / I
22.362
20.211
5.902
29,2
1957 / II
24.854
21.000
4.965
26,1
1957 / III
26.727
23.000
5.149
24,9
1957 / IV
27.777
22.760
5.167
22,7
1958 / I
30.957
25.000
5.381
23,3
1958 / II
36.769
27.500
6.097
23,4
1958 / III
42.035
33.000
7.913
24,0
1958 / IV
36.889
31.850
4.681
14,7
1959 / I
35.992
31.000
6.695
21,6
1959 / II
34.362
29.000
6.257
21,6
1959 / III
34.569
28.500
6.065
21,3
1959 / IV
34.172
28.739
6.021
21,0
1960 / I
34.979
29.442
5.783
19,6
4
Werkentin, S. 101.
I. Der Umfang des deutsch-deutschen Menschenhandels
1960 / II
34.125
28.754
5.934
13
20,6
1960 / III
35.160
29.046
6.257
21,5
1960 / IV
23.414
18.198
7.183
39,5
1961 / I
24.303
20.314
–
–
1961 / II
23.237
18.821
– (keine Angaben) –
1961 / III
31.718
22.746
–
–
1961 / IV
37.866
28.960
8.117
26,9
Quelle: Interne Zählung der Hauptverwaltung Strafvollzug des MdI der DDR.
Bis zum zweiten Quartal 1956 schwankte die Zahl der ‚Staatsverbrecher‘ zwischen 11.000 und 14.000, das waren gut ein Drittel sämtlicher Strafgefangenen. Ab drittem Quartal 1956 ging zwar die absolute Zahl der ‚Staatsverbrecher‘ auf 8.115 zurück, deren Anteil stieg aber auf 39,9%; bis 1961 waren es durchschnittlich etwa 25% mit zwei statistischen Ausreißern: Im vierten Quartal 1958 waren es nur 14,7%, aber Ende 1960 39,5 %. Man kann davon ausgehen, daß bis zur Wende 1989 keine wesentlichen Änderungen eingetreten sind, das heißt, daß jährlich etwa 5.000 bis 6.000 oder mehr ‚Staatsverbrecher‘ verurteilt wurden. Da die Bundesrepublik ab 1961 / 62 nur durchschnittlich 1.270 Personen pro Jahr freigekauft hat, war es nicht einmal ein Drittel des jährlichen Zugangs an Häftlingen. Diese Relation muß erhebliche psychologische Rückwirkungen auf die politischen Häftlinge gehabt haben; denn von drei Inhaftierten hatte maximal nur einer die Chance, freigekauft zu werden. Dagegen hatte die DDR eine große Auswahlmöglichkeit und sie war stets ‚lieferfähig‘. Das bedeutet, daß die DDR sich in einer Monopolposition befand, in der sie die Geschäftsbedingungen bestimmen konnte. Die Bundesrepublik hatte nur die theoretische Möglichkeit, die ‚Geschäftsbeziehungen‘ abzubrechen, in der Hoffnung, daß die DDR aufgrund des Devisenmangels zu Konzessionen bereit gewesen wäre. Soweit wir sehen können, hat Bonn aus humanitären Gründen diese Karte nicht gespielt, so daß es sich nur um eine theoretische Überlegung handelt.
II. Die Reichsfluchtsteuer des Deutschen Reiches In der finanzwirtschaftlichen Literatur ist die Reichsfluchtsteuer nahezu in Vergessenheit geraten, obgleich sie von 1931 bis 1953 erhoben wurde.1 Vorläufer der Reichsfluchtsteuer war das von Kaiser Wilhelm II. am 26. Juli 1918 erlassene ‚Gesetz gegen die Kapitalflucht‘, das durch die Verfassungsgebende Nationalversammlung am 24. Juni 1918 ergänzt wurde. „Die Inflation machte jede Kalkulation unmöglich, das Gesetz wurde im August 1926 sang- und klanglos aufgehoben.“ (S. 1) 1. Der Ursprung der Reichsfluchtsteuer Am 24. Oktober 1929 – dem ‚schwarzen Freitag‘ – brach die Weltwirtschaftskrise aus. Als die ausländischen Gläubiger 1930 / 31 ihre Kredite aus Deutschland abzogen, mußten die deutschen Banken am 13. Juli 1931 ihre Zahlungen einstellen; Deutschland war international zahlungsunfähig und mußte ein Moratorium für seine kurzfristigen Auslandsschulden erklären. Die Verordnung vom 15. Juli 1931 und die am 18. Juli 1931 ergangene Kapitalfluchtverordnung sollten die Kapitalflucht – insbesondere in die Schweiz – zumindest bremsen. Das war die Geburtsstunde der Reichsfluchtsteuer. Im Siebten Teil, Kapitel III der ‚Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens‘ vom 8. Dezember 1931 sind die Reichsfluchtsteuer und sonstigen Maßnahmen gegen Kapital- und Steuerflucht enthalten:2 Deutsche, die nach dem 31. März 1931 und vor dem 1. Januar 1933 ihren inländischen Wohnsitz aufgegeben hatten (§ 1), mußten eine Reichsfluchtsteuer in Höhe eines Viertels des gesamten steuerlichen Vermögens entrichten (§ 3). Die Strafen waren drastisch: Das Finanzamt erließ gegen den Steuerpflichtigen, der die Steuer nicht entrichtet hatte, einen ‚Steuersteckbrief‘, wonach dieser im Inland festzunehmen war, zur Sicherung der Steuer konnte das inländische Vermögen beschlagnahmt werden, die Verordnung vom 18. Juli 1931 sah in besonders schweren Fällen Zuchthausstrafen von bis zu 1 Dorothee Mußgnug: Die Reichsfluchtsteuer 1931 – 1953, in: Schriften zur Rechtsgeschichte, Heft 60, Berlin 1993 (aus Gründen der Vereinfachung erfolgt die Seitenangabe im Text). 2 Der vollständige Text der Reichsfluchtsteuer ist abgedruckt bei Mußgnug, S. 76 – 83, im Anhang, Anlage 1.
2. Die Reichsfluchtsteuer – ein politisches Instrument
15
10 Jahren vor. „Die ‚Kapitalflüchtlinge‘ streng zu bestrafen, fand allgemeine Zustimmung“ (S. 23). Nach dem Sturz des Reichskanzler Brüning (Mai 1932) hat sein Nachfolger, Kurt von Schleicher (1882 – 1934, ermordet), die Reichsfluchtsteuer nicht geändert, sie aber bis Ende 1934 verlängert. Mit der Machtergreifung durch Hitler am 30. Januar 1933 wurde aus der Kapitalfluchtsteuer ein politisches Instrument.
2. Die Reichsfluchtsteuer – ein politisches Instrument Durch das ‚Gesetz über die Änderungen der Vorschriften der Reichsfluchtsteuer‘ vom 18. Mai 1934 wurden die Bestimmungen verschärft (z. B. die Freigrenze von 200.000,– RM auf 50.000,– RM gesenkt), eine Verlängerung der Reichsfluchtsteuer angekündigt, „denn vor allem Nichtarier hätten sich auch durch die strengen Bestimmungen nach dem 30. Januar 1933 nicht von der Auswanderung abschrecken lassen. Die Steuer solle erst aufgehoben werden, wenn die Abwanderungen von kapitalkräftigen Personen nur noch auf Ausnahmefälle beschränkt bleibe“ (S. 31). Die Nichtarier – Juden – sollten nicht an der Auswanderung gehindert werden, aber sie müßten zu „einer letzten großen Abgabe herangezogen werden“ (S. 30). Durch Änderungen der Einkommensteuer- und des Steueranpassungsgesetzes 1934 traten weitere Verschärfungen ein, so z. B. wurde 1937 bestimmt, daß rückwirkend ab 1931 Schenkungen von insgesamt mehr als 10.000,– RM der Reichsfluchtsteuer unterworfen wurden. Begrifflich wurde aus der Reichsfluchtsteuer ein Reichfluchtsteuergesetz; es erfolgte eine Verlängerung um jeweils ein Jahr, ab 1942 ‚bis auf weiteres‘. Der Geltungsbereich dieses Gesetzes wurde auf Österreich, die Sudentendeutschen Gebiete, das Memelland, Danzig, Eupen-Malmedy und Moresnet ausgedehnt. Nach der Machtübernahme 1933 wurden die Kontrollen verschärft, die sich vornehmlich gegen Juden richteten. Die Finanzämter in Berlin hatten eine ‚enge Fühlungnahme‘ mit der Post, Polizei, Kreisleitung der NSDAP, NSV, Devisen- und Zollfahndungsstelle, den Hauptzollämtern, dem Paßamt, der Geheimen Staatspolizei, den Devisenbanken, Industrie- und Handelskammern und den Bezirksämtern aufgenommen. Die Überwachung war – wie bei der Republikflucht – perfektioniert. In einem Verfahren vor dem Reichsfinanzhof erklärte der Reichsfinanzminister: „Die Reichsfluchtsteuer sei keine Steuer, die den Vermögensbesitz als solchen belasten solle, sie sei vielmehr eine letzte große Abgabe, die der Auswandernde als Ausgleich dafür zu zahlen habe, daß dem Reich ‚unter dessen Schutz er sich im Wirtschaftsleben betätigen konnte‘, seine Steuerkraft verloren gehe“ (S. 37, Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.): Substantiell hat die DDR beim Freikauf von Häftlingen ähnlich argumentiert.
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II. Die Reichsfluchtsteuer des Deutschen Reiches
Für die Politisierung der Reichsfluchtsteuer spricht die Zahl der Steuersteckbriefe, d. h. derjenigen Auswanderer, die gesucht wurden (S. 38): Sie stieg von 14 (1932) auf 151 (1934), dann auf 185 (1936), erreichte 1939 mit 195 Fällen den Höhepunkt, um 1943 bzw. 1944 / 45 auf 2 zurückzugehen. Auch die Devisenbestimmungen wurden verschärft: Das bis Juni 1934 zulässige Transfergeld von 10.000,– RM wurde auf 2.000,– gekürzt. Außer dem Umzugsgut konnten die Auswanderer nur Werte bis 1.000,– RM mitnehmen. „Die Beschränkungen hatten einen solchen Umfang angenommen, daß das RWiM (Reichswirtschaftsministerium) 1941 schätzte, jüdische Auswanderer könnten ihr im Inland befindliches Vermögen in der Regel nur in der Höhe von 4 v.H. ins Ausland überweisen“ (S. 39). Im Oktober 1941 verfügte Heydrich, daß die Auswanderung von Juden zu verhindern sei. Da die Reichsfluchtsteuer vor allem nach dem Vermögen bemessen wurde, ist bemerkenswert, welchen Anteil diese an der Vermögensteuer hatte (S. 84 – 86): Im Rechnungsjahr 1932 / 33 = 0,08 %, 1933 / 34 = 5,72%, 1935 / 36 = 14,96%, 1938 / 39 = 87,67 % und 1939 / 40 = 51,82%. An dieser Entwicklung des Aufkommens der Reichsfluchtsteuer kann man einmal die Verschärfung des Gesetzes und zum anderen die Auswanderung wohlhabender Juden erkennen. Das Reichsfluchtsteuergesetz galt nach dem 9. Mai 1945 fort, da es kein NSRecht war, sondern aus der Weimarer Republik stammte. In den drei westlichen Besatzungszonen wurde diese Steuer unterschiedlich gehandhabt. Über die Fortgeltung bzw. Abschaffung – die Länder sprachen sich für die Beibehaltung aus – wurde lebhaft diskutiert. Durch das ‚Gesetz zur Aufhebung überholter steuerrechtlicher Vorschriften‘, das am 10. August 1953 in Kraft trat, wurde das Reichsfluchtsteuergesetz ersatzlos aufgehoben. Das Reichsfluchtsteuergesetz ist ein Beispiel dafür, wie ein – zumindest aus damaliger ökonomischer Sicht – sinnvolles Gesetz zu einem politischen Instrument umgestaltet wurde. Es ist auch ein Beispiel dafür, wie juristische Regeln pervertiert und mißbraucht werden können. Offensichtlich neigen Diktaturen jeglicher Couleur dazu. Zwischen der Abschöpfung des Vermögens der auswanderungswilligen Juden und der Politik der DDR bei der Familienzusammenführung – die nicht mit dem Häftlingsfreikauf identisch ist – bestand ein innerer Zusammenhang: DDR-Bürger, die eine Familienzusammenführung in der Bundesrepublik anstrebten, mußten ihr Vermögen – insbesondere Immobilien – zu historischen Preisen des Jahres 1936 verkaufen, faktisch kam dieses einer Enteignung gleich. Besonders tragisch waren die Fälle des Jahres 1989, da diese nach dem Fall der Mauer ohne Verkauf ihres Eigentums in die Bundesrepublik umziehen konnten. Diktaturen beuten ihre Bürger aus, wenn diese das Zwangssystem verlassen wollen.
III. Die ökonomischen und juristischen Grundlagen des Häftlingsfreikaufs Während das Dritte Reich ein Gesetz der Weimarer Republik pervertierte, hat die DDR eine eigenständige Gesetzgebung und Rechtsprechung entwickelt, um Dissidenten (‚Politquerulanten‘) und Grenzverletzer zu kriminalisieren, sie zu verhaften und (im begrenzten Umfang) an die Bundesrepublik zu verkaufen. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte eine ökonomische Begründung entwickelt werden, aus der dann die Gesetzgebung und Rechtsprechung abgeleitet werden konnten. Ideologische Prämisse war, daß der Staat das Recht besaß zu bestimmen, ob und unter welchen Bedingungen die Bürger die DDR verlassen durften. Die freie Entscheidung der Menschen war der Allmacht des Staates untergeordnet.
1. Die ökonomische Begründung Die DDR hatte mehrschichtige ökonomische Gründe und Begründungen für den Verkauf der Häftlinge, die allerdings nicht in dieser Offenheit diskutiert wurden. Zuerst ging es darum, den Devisenmangel zumindest zu mildern, was man allerdings nicht der Öffentlichkeit mitteilte. Die Devisen benötigte man, um einmal westliche Technologien zu kaufen und zum anderen, um die sozialistische Ideologie zu exportieren und um Spionage zu treiben. Auf der Mikro-Ebene wurde als Hauptargument vorgetragen, daß die DDR die Ausbildungskosten für qualifizierte Fachleute getragen hat, aber die freigekauften Häftlinge hätten zur Produktivität der Bundesrepublik beigetragen, folglich habe Bonn die Ausbildungs-(‚Produktions-‘) kosten zu erstatten. Und schließlich bestand auf der Makro-Ebene die Gefahr, daß durch die Abwanderung von Ärzten und anderen Fachleuten die eigene Versorgung gefährdet wurde. Überwiegend waren es ökonomische Zwänge, die die DDR veranlaßten, nach DDR-Recht rechtskräftig Verurteilte gegen Devisen von der vollständigen Verbüßung der Haftstrafe zu befreien und aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu entlassen. a) Der Mangel an Devisen In den Akten des Bundesarchivs befindet sich eine Zusammenfassung mit der Überschrift: ‚Übersicht über die wesentlichen Valutaeinnahmen aufgrund von Re-
18
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs
gelungen und Vereinbarungen mit der BRD bzw. Westberlin, die durch aktive Mitwirkung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung erreicht wurden‘.1 Gemäß dieser Übersicht hat die KoKo für die DDR insgesamt 22,694,6 Mrd. DM hereingeholt.2 Es handelt sich um 18 Positionen (die Position 16 ist doppelt genannt), aus denen nur die wichtigen zitiert werden: Tabelle 3 Valutaeinnahmen der KoKo – in Mio. DM – Gegenstand der Regelungen und Vereinbarungen
Vereinbarte Zahlungen und Zeitraum
Gesamteinnahmen
1. Transitpauschale – Vereinbarung vom 19. 12. 1975
jährlich 400,0 (1976 – 1979)
1.600,0
– Vereinbarung vom 16. 11. 1978
jährlich 525,0 (1980 – 1989)
5.250,0
– Vereinbarung vom 5. 10. 1988
jährlich 860,0 (1990 – 1999)
8.550,0
2. Pauschale für die Abgeltung von Straßenbenutzungsgebühren – Vereinbarung vom 31. 10. 1979
jährlich 50,0 (1980 – 1989)
500,0
– Vereinbarung vom 5. 10. 1988
jährlich 55,0 (1990 – 1999)
550,0
3. Abgeltung der Leistungen im Post- und Fernmeldeverkehr – Vereinbarung vom 19. 10. 1977
jährlich 85,0 (1977 – 1982)
– Vereinbarung vom 15. 11. 1983
jährlich 200,0 (1983 – 1990)
510,0 1.600,0
5. Grunderneuerung der Autobahn Berlin-Marienborn – Vereinbarung vom 19. 12. 1975
259,5 (1976 – 1979)
259,5
7. Nordautobahn Berlin-Hamburg – Vereinbarung vom 16. 11. 1978
1.100,0 (1978 – 1982)
1.100,0
9. Baumaßnahmen an der Grenzübergangstelle Wartha – Vereinbarung vom 30. 4. 1980
200,0 (1980 – 1984)
200,0
1 Diese Übersicht ist offensichtlich in der KoKo angefertigt worden, sie trägt keinen Briefkopf, keine Unterschrift und auch kein Datum. 2 Als Fußnote ist vermerkt: „Bei den aufgeführten Gesamteinnahmen sind die Aufwendungen für Importe zur Realisierung dieser Vorhaben (z. B. Baumaschinen und Ausrüstungen) abgesetzt. Es handelt sich somit um Nettowerte“.
1. Die ökonomische Begründung
19
16. Fortleitung von Abwasser aus Westberlin – Vereinbarung vom 12. 12. 1974
jährlich rd. 25,0 (1975 – 1984)
250,0
– Vereinbarung vom 15. 2. 1985
jährlich rd. 22,0 (1985 – 1989)
110,0
16. Abnahme von Abfallstoffen aus West-Berlin – Vereinbarung vom 11. 12. 1974
jährlich rd. 50,0 (1975 – 1984)
500,0
jährlich rd. 70,0 (1985 – 1989)
350,0
gesamt 180,0 (ab 1981)
180,0
17. Abnahme von Abfallstoffen auf der Deponie Schönberg – Kommerzielle Verträge
Diese unvollständige Übersicht macht deutlich, daß die damalige DDR jede sich bietende Gelegenheit benutzte, um von der Bundesrepublik Gebühren in harten Devisen zu erhalten. Bei den jeweiligen Prolongationen hat sie Steigerungen durchgesetzt. Beispiel dafür sind die Post- und Fernmeldegebühren, die von jährlich 85,0 auf 200,0 Mill. West-Mark erhöht wurden. Bemerkenswert ist, daß akribisch die einzelnen Positionen aufgeführt wurden, aber die Devisenerträge (rund 3,4 Mrd. West-Mark) aus dem Freikauf der Häftlinge nicht erwähnt wurden. Da vermutlich die Übersicht nach der Wende angefertigt wurde, hätte man diesen Devisenertrag erwähnen müssen. Offensichtlich hat man sich an die Geheimhaltung dieses Geschäftes gehalten, vielleicht auch geschämt, den Menschenhandel betrieben zu haben.
b) Die mikro-ökonomischen Gründe Bei der ökonomischen Begründung, die Bundesrepublik müsse eine ‚Gebühr‘ für jeden freigelassenen Häftling zahlen, ist zwischen der mikro- und der makro-ökonomischen Komponente zu unterscheiden. Alexander Schalck-Golodkowski (Jahrgang 1932, in der DDR nur ‚Schalck‘ genannt), war der Chef der KoKo, die die Verhandlungen über den Freikauf mit dem Diakonischen Werk führte. Er hat nicht nur das ‚Menschengeschäft‘ gekannt, sondern auch die ideologische Begründung für die ‚Freikaufgebühr‘ – allerdings nur für die mikro-ökonomische Version – gegeben:3 „Ab 1966 war ich (Schalck-Golodkowski) als Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung zuständig für die ökonomische Seite der Kirchengeschäfte. In diesem Zusammenhang ist immer wieder der Vorwurf des ‚Menschenhandels‘ erhoben worden – auch gegen mich. Für mich war die DDR der bessere Staat, und ich sah in einem Ausreiseantrag auch einen 3 Alexander Schalck-Golodkowski: Deutsch-deutsche Erinnerungen, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2000, S. 167 f. (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.).
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III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs Akt der Undankbarkeit. Ich konnte für die, welche die DDR verlassen wollten, kein Verständnis aufbringen. In meiner Funktion habe ich diese Vorgänge vornehmlich unter politischen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Unter denen, die es in die Bundesrepublik drängte, waren viele gut und teuer ausgebildete Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter und andere qualifizierte Werktätige. Jeder Bürger, der über die Grenze ging, stellte für unsere Gesellschaft einen volkswirtschaftlichen Verlust dar. Der Verlust war umso größer, je beruflich qualifizierter der Betreffende war, je mehr also die DDR in seine Ausbildung investiert hatte. Erst später … habe ich in Gesprächen mit bundesdeutschen Politikern ein stärkeres Gefühl für die Problematik entwickelt … So eröffnete sich mir die menschliche Dimension dieser Vorgänge – ohne allerdings etwas an meiner grundsätzlichen Einstellung zu ändern. … Darunter (unter den Republikflüchtlingen, Jk.) waren gewiß viele politisch Andersdenkende. Für sie vermochte ich genauso wenig Verständnis aufbringen wie für die Ausreisewilligen, denn ich war überzeugt, daß wir die einzig richtige Politik machten“.
Schalck-Golodkowskis Begründung für die ‚Kopfgeldgebühr‘ enthält eine politische und eine mikro-ökonomische Komponente: Es ist bemerkenswert, daß Schalck-Golodkowski zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung – im Jahr 2000 – weiterhin der Ansicht war, daß die DDR der bessere Staat gewesen sei und daß diese die einzig richtige Politik machte. Wenn das seine politische Überzeugung war, dann erhebt sich die Frage, warum er unter Benutzung seines Diplomatenpasses aus der DDR geflüchtet ist. In seinen ‚Deutsch-deutschen Erinnerungen‘ beschreibt Schalck-Golodkowski seine persönliche Situation und seine Flucht in die Bundesrepublik wie folgt:4 „Meine Angst steigerte sich zu einer regelrechten Panik. Nach diesem Anruf (von Schwanitz, seit November 1989 Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit, Jk.) war ich mir sicher, daß mein Leben in der DDR bedroht war. Ich brauchte Hilfe von einem Anwalt. Also rief ich Wolfgang Vogel an, … Schließlich sagte er uns: ‚Ihr habt noch zwei Stunden Zeit, dann werdet ihr verhaftet‘. … Die Vogels gingen. Nun stand mein Entschluß fest. Ich wollte, mußte die DDR verlassen. … All die Jahre waren wir durchgewunken worden. Diesmal ging der Grenzoffizier mit den Pässen ins Abfertigungsgebäude. … Der Mann kehrte zurück: ‚Gute Fahrt!‘. Wir waren im Westen. Ich war wie betäubt“.
Sicherlich befand sich Schalck-Golodkowski in einer sehr prekären Situation und ihm ist die Flucht zum kapitalistischen Klassenfeind gelungen. Aber er erklärte mit keinem Wort, warum er trotzdem noch immer die untergegangene DDR als den besseren Staat bezeichnete. Hier sind erhebliche Zweifel an seiner intellektuellen Redlichkeit angebracht. Als Begründung für das Freikaufgeschäft und für die Kopfgebühr führt SchalckGolodkowski die betriebswirtschaftliche Rentabilitätsrechnung an, die als ‚Return on Investment‘ bekannt ist. Es handelt sich um den Rückfluß des eingesetzten Kapitals. Diese Form der Rentabilitätsrechnung kann nur auf der betrieblichen Ebene ermittelt werden, denn sie dient dazu, den Erfolg verschiedener Investitionen zu er-
4
Ebenda, S. 26 – 29.
1. Die ökonomische Begründung
21
mitteln bzw. zu vergleichen. Makro-ökonomisch – für die gesamte Volkswirtschaft – ist der Return on Investment ungeeignet, da die individuellen Investitionen in die Ausbildung nicht ermittelt werden können. Daher hat man einen willkürlichen Pauschbetrag (rund 95.000,– West-Mark) je Häftling gewählt. Zutreffend hat der westdeutsche Volkswirt Gert Leptin die ökonomische Bewertung der Republikflüchtlinge wie folgt abgelehnt:5 „Von verschiedenen Seiten ist versucht worden, die wirtschaftliche Bedeutung der Fluchtbewegung zahlenmäßig zu erfassen, sozusagen den Kapitalverlust jedes arbeitsfähigen Flüchtlings zu ermitteln und so einen Gesamtverlust für die DDR zu errechnen. Abgesehen davon, daß diese Ermittlung eines durchschnittlichen Menschenwertes seltsam anmutet und völlig unüblich ist – kein Mensch hat je danach gefragt, wieviel Kapital in Form von Auswanderern den Vereinigten Staaten aus Europa zugeflossen ist – ist die Berechnung wohl hinsichtlich der statistischen Unterlagen als auch besonders der angewandten Methoden völlig unhaltbar.“
Die völlige Unhaltbarkeit der Erstattung der Ausbildungskosten kann am Lebensweg des Raketenspezialisten Wernher von Braun (1912 – 1977) demonstriert werden: von Braun wurde in Wirsitz bei Posen (in Polen) geboren. Ab 1932 hat er im Heereswaffenamt und ab 1937 in Peenemünde geforscht, das in der späteren DDR liegt. Bereits im September 1945 gelangte er in die USA und wurde 1950 US-Bürger. Die damalige DDR konnte von den USA keine Kostenerstattung verlangen, da diese die Rechtsnachfolge für das Deutsche Reich strikt ablehnte, in der Bundesrepublik ist nie ein Erstattungsanspruch in Erwägung gezogen worden, obgleich von Braun den USA Millionen oder sogar Milliarden an Forschungsausgaben erspart hat. Unabhängig davon hat die Bundesrepublik das mikro-ökonomisch begründete Kopfgeld akzeptiert, weil sie offensichtlich davon ausging, daß der Häftlingsfreikauf sonst nicht realisiert worden wäre, was allerdings nicht getestet worden ist. Wahrscheinlich hat Schalck-Golodkowski erkannt, daß Bonn aus humanitären Gründen konzessions- und zahlungsbereit war, was er zum Vorteil der DDR ausnutzte. Aus der Sicht der DDR war das eine rationale Politik, aus der Sicht der Bundesrepublik waren es humanitäre Gründe, für zu Unrecht Verurteilte eine Gebühr zu zahlen.6 Ist das westdeutsche Humanitätsideal dem rationalen Kalkül der DDR erlegen?
c) Die makro-ökonomischen Gründe Die makro-ökonomische Version für den Freikauf hat eine außenwirtschaftliche und zugleich auch eine innerstaatliche Komponente: Die fehlenden Devisen und die 5 Gert Leptin: Die deutsche Wirtschaft nach 1945 – Ein Ost-West-Vergleich, Opladen 1970, S. 61 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 6 Nach Rehlinger (S. 21) bestand die Gegenleistung der Bundesregierung nur ‚in schnödem Mammon‘.
22
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs
Abwanderung der Leistungsträger beeinträchtigten die innerstaatliche Funktionsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit, weil wegen fehlender Devisen die DDR nicht am internationalen Wissenschaftsaustausch und technischen Fortschritt teilnehmen konnte. Wie ‚hungrig‘ die DDR nach Devisen war, hat Rolf Kühnert (Stellvertretender Leiter der Abteilung Bauwesen des ZK der SED) beschrieben:7 „Ökonomisch nicht vertretbare Exporte von Zement, Fliesen und anderen Baustoffen in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet. Zeitweilig wurden von 12 Millionen Tonnen Zement 2 Millionen exportiert, der größte Teil zu Schleuderpreisen, die nicht einmal den Inlandsaufwand bei devisenwertigen Energieträgern, Grundstoffen und Leistungen deckten. Hauptsache cash, cash, cash – egal was es kostete; …“
Bemerkenswert ist, daß diese Aussage in einer Schrift enthalten ist, die Hans Modrow herausgegeben hat. Dieses ist ein Zeichen dafür, daß man nach der Wende sich zum Devisenmangel bekannt hat. Dieses erklärt auch, warum man Häftlinge – gegen Devisen – an den Klassenfeind verkauft hat. Neben dem Devisenmangel stand die DDR vor einem anderen Problem: Es war die Abwanderung (einschließlich Freikauf) von jungen, gut ausgebildeten Ärzten, Ingenieuren und anderen Fachkräften. Dabei ging es nicht um die Ausbildungskosten, sondern um die innerstaatliche Funktionsfähigkeit, z. B. der Krankenhäuser. Es ist bemerkenswert, daß die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR zu dieser Frage eine sachliche Analyse durchgeführt hat:8 In der DDR wurde 1950 und am 31. Dezember 1964 eine Volkszählung durchgeführt, die eine exakte Bestandsaufnahme der Bevölkerung ermöglichte. Die Bevölkerungsbewegungen zwischen den beiden Stichtagen waren entscheidend durch die Ost-West-Wanderungen gekennzeichnet. Dann folgen den nüchternen statistischen Feststellungen obligatorische kritische Bemerkungen über die Bundesrepublik: „Die Bevölkerungsbewegung über die Grenzen der Republik war in der Vergangenheit wiederholt Gegenstand ausländischer – insbesondere westdeutscher – Untersuchungen und stand im Mittelpunkt einer zügellosen Hetze gegen unsere Republik“. (S. 1)
Die folgenden Thesen könnten auch als Begründung für die Freikaufgebühr herangezogen werden (S. 2): „Unter Ausnutzung der offenen Grenze hat der westdeutsche Imperialismus bis zum Jahre 1961 alle ihm zu Gebote stehenden Mittel, die wirtschaftlichen Störmaßnahmen, Abwerbung, Sabotage, Diversion, psychologische Einflüsse durch Radio und Fernsehen u. a. angewandt, um die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR zu stören. Die genaue Einschätzung des Verlustes, der durch die offenen Grenzen für unsere Volkswirtschaft entstand, ist 7 Rolf Kühnert: Bauen in der DDR – Anspruch und Realität eines Programms, in: Hans Modrow (Herausg.): Das Große Haus – Insider berichten aus dem ZK der SED, 2. Aufl., Berlin 1995, S. 165 – 168, zitiert S. 167 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 8 Siehe: Die Wanderung über die Grenzen der DDR 1952 bis 1964, Bundesarchiv, DE 2 / 22422, darin 0035508 (Maschinenschrift, 40 Blatt).
1. Die ökonomische Begründung
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nur schwer möglich. Nach noch nicht vollständigen Berechnungen schuldet die Bundesrepublik der DDR annähernd 120 Milliarden (Ost-)Mark. Ein großer Teil dieses gewaltigen Betrages ist der Abwanderung nach Westdeutschland und Westberlin, der Grenzgängerei, dem Schwindelkurs und dem Schmuggel nach Westberlin geschuldet. Während sich der westdeutsche Imperialismus an dieser riesenhaften Summe bereicherte, ging sie der DDR für den Aufbau der Volkswirtschaft verloren“ (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.).
Diese Argumentation ist nur dann überzeugend, wenn man das Menschenrecht auf Freizügigkeit – auch über die Staatsgrenzen – dem ökonomischen Kalkül unterordnet und die internationalen Rechtsnormen wie die der UN-Menschenrechtserklärung ausklammert, wenn man verschweigt, daß es bis 1945 ein Deutsches Reich gab, in dem die Freizügigkeit eine Selbstverständlichkeit war und seit 1989 / 90 wieder ist. Aber vielleicht haben die DDR-Statistiker ihrer nüchternen Analyse der Daten pflichtgemäß einen ‚ideologischen Vorspruch‘ vorangestellt. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Wanderungsbewegungen von 1952 bis 1964: Tabelle 4 Die Wanderung über die Grenzen der DDR, darunter von und nach Westdeutschland und Westberlin 1952 bis 1964 Wanderung über die Grenzen der DDR darunter Wanderung von und nach Westdeutschland und Westberlin Jahr
Zuzug
Wegzug
Saldo
Zuzug
Wegzug
Saldo
1952
27.951
187.242
-159.291
23.134
185.778
-162.644
1953
36.301
297.250
-260.954
31.792
296.174
-264.382
1954
81.261
226.905
-145.644
75.867
226.355
-150.488
1955
75.892
315.812
-239.920
72.858
315.235
-242.377
1956
79.734
364.560
-284.826
73.707
363.661
-289.954
1957
98.157
352.684
-254.527
77.902
351.668
-273.716
1958
66.280
21.410
-150.130
54.846
215.530
-160.684
1959
68.316
145.387
-77.071
63.152
144.225
-81.073
1960
45.827
203.668
-157.841
42.943
202.711
-159.768
1961
37.109
214.1391
-177.030
34.039
212.8141
-178.775
1962
17.801
23.770
-5.969
14.472
21.762
-7.290
1963
10.252
48.880
-38.628
7.001
46.676
-39.675
38.544
-28.405
7.010
36.314
-29.304
2.635.2561 -1.980.236
578.773
1964 Zusammen 1
10.139 655.020
ohne Karteibereinigung
2.618.9031 -2 040.130
24
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs
Wenn immer von der Wanderung zwischen den Besatzungszonen und später zwischen beiden deutschen Staaten gesprochen wird, dann wird darunter die Flucht aus der SBZ / DDR verstanden. In der Bundesrepublik ist kaum bekannt, daß es auch eine West-Ost-Wanderung gegeben hat. In den Zeitraum 1952 bis 1964 entfiel der überwiegende Teil der Wanderungen (= 97,2%) zwischen den beiden deutschen Staaten: In diesem Zeitraum sind 578.773 Personen in die damalige DDR zugezogen, aber 2.618.903 weggezogen (geflüchtet), so daß sich ein negativer Saldo für die DDR von 2.040.130 Personen ergab; dieser Bevölkerungsverlust entsprach der Bevölkerungszahl des Bezirkes Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Hinsichtlich der West-Ost-Wanderung war bis 1958 ein nahezu konstanter Zuzug in die DDR zu vermerken, der sich zu zwei Dritteln aus Rückkehrern und zu einem Drittel aus erstmalig Zuziehenden zusammensetzte; seit 1958 ging die Zahl der Zuzüge – ab 1962 rapide – zurück. Bei den Rückkehrern dürfte es sich in erster Linie um die Familienzusammenführung gehandelt haben, was bei erstmalig Zuziehenden in geringerem Maße der Fall gewesen sein dürfte. ‚Echte‘ politische Flüchtlinge, die die Bundesrepublik aus ideologischen Gründen verlassen haben, dürften die Minderheit gebildet haben. So interessant diese Daten auch sind, sie sind ein Randproblem für unser Thema. Für die makro-ökonomischen Gründe für den Freikauf von Häftlingen ist die Ost-West-Wanderung von Bedeutung, das heißt, wieviele Personen und welche Berufe die DDR verlassen haben: Den Höhepunkt der Flucht aus der DDR erreichten die Jahre 1953 (Arbeiteraufstand am 17. Juni) und die Jahre 1955, 1956 und 1957. Die DDR-Statistiker haben auf der Basis der Flucht 1952 (= 100) die Schwankungen der Wanderungsverluste dargestellt (siehe Tabelle 6 auf S. 26). Die DDR-Statistiker monieren, daß der „von westdeutscher Seite gegen unseren sozialistischen Aufbau geführte Klassenkampf in besonderer Schärfe im Zusammenhang mit den Ereignissen am 17. Juni 1953, der Vorgänge während des konterrevolutionären Putsches in Ungarn sowie der Umgestaltung der Landwirtschaft in der DDR entfachte (1961)“ (S. 4). Dieses ist nur bedingt richtig; denn 1960 (= 98) und 1961 (= 110) war die Fluchtbewegung nach dem Westen weit geringer als Mitte der 50er Jahr, dennoch wurde die Mauer erst 1961 gebaut. Hierfür wird keine Begründung gegeben. „Bis zum Jahre 1961 erfolgten rund 71 % aller Wegzüge nach Westdeutschland und Westberlin illegal (Republikflucht)“. Es ist bemerkenswert und geradezu erstaunlich, daß eine zentrale DDR-Behörde nicht den Begriff des ‚ungesetzlichen Grenzübertritts‘, sondern den der ‚Republikflucht‘ gebraucht. Mit dem Mauerbau ging die Abwanderung rapide zurück, 1964 erfolgten rund 91% aller Wegzüge auf legalem Wege. Im Vergleich dazu: Von 1954 bis 1964 sind durchschnittlich nur 16% legal, aber 84% illegal weggezogen.
insges.
32.668
44.512
56.330
47.042
37.355
21.019
34.150
36.531
629
226
197
310.659
Jahr
1954
1955
1956
1957
1958
1959
1960
1961
1962
1963
1964
Zus.
158.604
120
152
343
18.587
17.557
10.744
19.021
23.965
28.811
22.697
16.607
männlich
unter 15 Jahren
152.055
77
74
286
17.944
16.593
10.275
18.334
23.077
27.519
21.815
16.061
weiblich
1.400.180
2.841
3.705
7.035
151.146
137.308
91.607
145.281
249.971
249.669
217.217
144.400
insges.
705.291
2.311
2.982
5.234
77.010
69.783
46.365
67.664
131.609
121.955
112.214
68.164
männlich
694.889
530
723
1.801
74.136
67.525
45.242
77.617
118.362
127.714
105.003
76.236
weiblich
15 bis unter 60 bzw. 65 Jahren
Illegaler Wegzug nach Westdeutschland und Westberlin nach Altersgruppen und Geschlecht 1954 bis 1964 – absolute Zahlen –
Tabelle 5
80.652
334
43
383
13.686
10.067
7.813
11.438
8.293
10.313
8.337
9.945
insges.
20.144
84
8
83
3.158
2.540
1.894
2.747
2.057
2.708
2.142
2.723
männlich
60.508
250
35
300
10.528
7.527
5.919
8.691
6.236
7.605
6.195
7.222
weiblich
60 bzw. 65 Jahre u. darüber
1. Die ökonomische Begründung 25
26
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs Tabelle 6 Wanderungsverluste der DDR
Jahr 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964
Wanderungsverlust (Flucht) absolut 1952 = 100 162.644 100 264.382 163 150.488 93 242.377 149 289.954 178 273.716 168 160.684 99 81.072 50 159.768 98 178.775 110 7.290 4 39.675 24 29.034 18
Die DDR-Statistiker haben auch die Altersstruktur des illegalen Wegzuges (Flucht) nach Westdeutschland und Westberlin dargestellt, sich allerdings dabei eines groben Rasters bedient. Das Altersraster des Statistischen Amtes der DDR ist zu grobmaschig, um Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zu erschließen. Dagegen hat uns das Statistische Bundesamt in Wiesbaden eine Statistik über die Wanderungen von Ost- nach WestDeutschland für den Zeitraum 1965 bis 1988 zur Verfügung gestellt, die für das Jahr 1989 aussagekräftiger ist: Von Mauerbau 1961 bis zur Maueröffnung am 9. November 1989 war die Zahl der Republikflüchtlinge und die der legalen Ausreise gering (1988 = 43.314 Personen), 1989 hingegen 388.396 Personen, davon die meisten nach dem 9. November. Da wir die Altersstruktur in jeweils Fünfjahresschritten untergliedern, lassen sich die Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt ablesen: Tabelle 7 Zuzüge aus den neuen Bundesländern und Ost-Berlin 1988 – zusammengefaßt zu Altersgruppen – Altersgruppen: 1. Kinder und Jugendliche bis unter 20 Jahre 2. Ausgebildete Arbeitskräfte 20 bis unter 40 Jahre 3. Qualifizierte Fachkräfte 40 bis unter 65 Jahre 4. Senioren 65 bis über 90 Jahre Insgesamt
Personen 115.435 212.375 49.834 10.727 388.371 (a)
(a) Gegenüber der Tabelle des Statistischen Bundesamtes liegt eine Differenz von 25 Personen vor.
1. Die ökonomische Begründung
27
Selbst wenn man für 1989 – wie für 1988 – rund 43.000 Personen (Republikflucht und legale Abwanderung) ansetzt, handelt es sich um rund 345.000 Übersiedler, die innerhalb von zwei Monaten die DDR verlassen haben, weil sie offensichtlich befürchteten, daß die Mauer wieder errichtet wird. Man kann unterstellen, daß – wenn 1961 keine Mauer gebaut worden wäre – Hunderttausende aus der DDR geflüchtet wären. Das hätte bedeutet, daß die DDR ‚ausgeblutet‘ wäre, zumal es sich vornehmlich um Personen im produktiven Lebensalter von 20 bis 65 Jahren handelte; selbst die hohe Zahl der Kinder und der Jugendlichen hätte mittelfristig die DDR-Wirtschaft negativ beeinflußt. Neben diesem quantitativen Aspekt ist der qualitative zu beachten, das heißt, es war für die DDR von Bedeutung, welche Berufe in den Westen gingen. In der bereits zitierten Analyse der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR ist eine Statistik enthalten, die die Zuzüge und die Wegzüge nach Berufsgruppen enthält: Tabelle 8 Zuzüge und Wegzüge nach Berufsgruppen 1952 – 1963
Berufsgruppe Arbeiter insgesamt darunter in der Industrie im Bergbau Angestellte
Zuzug
Wegzug
Wanderungsverlust
241.279
726.602
- 485.323
74.590 11.336
243.470 20.771
-168.880 -9.435
43.972
310.106
-266.134
Ausgewählte Berufe der Intelligenz darunter Ingenieure, Techniker und Chemiker Ärzte u. Zahnärzte
8.193
66.524
-58.331
2.737 1.095
23.961 7.745
-21.224 -6.650
Bauern
3.535
28.347
-24.812
10.520
55.140
-44.620
Handwerker und Gewerbetreibende
Der Wanderungsverlust in der Berufsgruppe ‚Arbeiter‘ belief sich auf rund 485.000 Personen, darunter dürfte es sich sowohl in der Industrie als auch im Bergbau um qualifizierte Facharbeiter gehandelt haben, dieses dürfte auch für die Gruppe der Angestellten gelten. Von besonderer Bedeutung sind die Intelligenzler, die Ingenieure, Techniker und Chemiker mit rund 21.000 und die Ärzte und Zahn-
28
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs
ärzte mit 6.650. Selbst die Wanderungsverluste bei den Bauern sowie Handwerkern und Gewerbetreibenden müssen negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR gehabt haben. Bemerkenswert ist die Kommentierung der DDR-Statistiker zur Abwanderung der Ärzte und Zahnärzte: „Der in den Jahren von 1952 bis 1961 entstandene Wanderungsverlust an Ärzten und Zahnärzten betrug fast 45% des Bestandes der im Jahre 1961 in der DDR tätigen Ärzte und Zahnärzte. Dieser Wanderungsverlust entspricht etwa der Zahl der Absolventen der Fachrichtung Medizin und Zahnmedizin der Jahre 1957 bis 1961 zusammengenommen“. (S. 6)
Hier wird deutlich, daß die medizinische Versorgung in der DDR an ihre Grenzen gestoßen war. Wörtlich heißt es in der DDR-Analyse: „Daß die Ausbildung von Medizinern und Pädagogen in der DDR die durch die Abwanderung bis zum Jahre 1961 entstandenen Lücken in ihrem Bestand gar nicht oder nur zum Teil ausfüllen konnten, zeigt die folgende Tabelle“. (S. 7) Tabelle 9 Je 100 Absolventen der betreffenden Fachrichtung sind abgewandert Jahr
Ärzte und Zahnärzte
Chemiker
Pädagogen
1953
84
–
179
1954
44
–
180
1955
58
–
91
1957
34
–
116
1958
101
–
84
1959
45
12
27
1960
81
15
48
1961
63
34
76
1962
4
1
1
1963
2
–
1
Den stärksten Wanderungsverlust hatten die Pädagogen zu verzeichnen, zum Teil verließen in den 50er Jahren mehr Lehrer die DDR als neue ausgebildet wurden. Daß Ende der 50er Jahre die Republikflucht nachließ, mag darauf zurückzuführen sein, daß die nachrückende jüngere Generation indoktriniert und daher regimetreu war. Den Mangel an Pädagogen konnte man zumindest zum Teil durch ‚Junglehrer‘ ausgleichen, nicht aber die Ärzte und Zahnärzte. Die Republikflucht und der Freikauf von Häftlingen führten zu Engpässen in der innerstaatlichen Grundversorgung der Bevölkerung und nicht zuletzt in der Ausbildung der nächsten Generation, um mit der internationalen dynamischen technisch-
2. Die rechtlichen Grundlagen
29
wissenschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten. Unter Mißachtung humanitärer Regeln und völkerrechtlicher Normen – es wird auf die UN-Erklärung der Menschenrechte verwiesen – hat die DDR die Mauer gebaut, um die Abwanderung zu stoppen und den Verkauf der Häftlinge initiiert, um Devisen zu erwirtschaften. Die von der DDR vorgetragene mikro-ökonomische These, die Bundesrepublik habe die Ausbildungskosten der freigekauften Häftlinge zu erstatten, ist ein vordergründiges Argument; denn gemäß Art. 13 der UN-Menschenrechtserklärung wird nicht nur die Freizügigkeit innerhalb eines Staates, sondern auch über die Staatsgrenzen postuliert. Entscheidend waren die makro-ökonomischen Gründe: der drohende Kollaps der DDR.
2. Die rechtlichen Grundlagen Sowohl der Devisenmangel als auch die mikro- und die makro-ökonomischen Sachzwänge sind die Ursachen für die rechtlichen Regelungen, die die Freizügigkeit – insbesondere über die Staatsgrenze – einschränkten und sie letztlich unmöglich machten. Wer gegen diese sozialistischen Gesetzesnormen verstieß, wurde in der Regel mit Gefängnis bestraft. Dieses Verbot, die DDR zu verlassen, wurde schrittweise entwickelt: Das besiegte Deutsche Reich wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die drei westlichen Besatzungszonen wurden schrittweise 1949 zur Bundesrepublik Deutschland ‚vereinigt‘ (mit der europäischen Integration wurde die europaweite Freizügigkeit eingeführt). Dagegen blieb die SBZ (Sowjetische Besatzungszone) separiert, wozu sowohl die Währungsreformen im Juni 1948 als auch die Berlin-Blockade entscheidend beitrugen. Die DDR hat mit dem Mauerbau ihre Bevölkerung im wahrsten Sinne des Wortes ‚eingemauert‘. Die DDR schuf sich am 15. September 1954 ein eigenes Paß-Gesetz, durch das das Reichsdeutsche Paßgesetz in der Fassung vom 5. November 1923 und die dazu ergangenen Novellierungen aufgehoben wurden. Das Gesetz von 1954 wurde durch das Paß-Gesetz vom 28. Juni 1979 ersetzt. Gemäß § 1 Ziff. 2 dieses Gesetzes war ‚für jeden Grenzübertritt ein im Paß eingetragenes Visum erforderlich‘. Damit war nicht nur psychologisch, sondern auch politisch selbst für diejenigen DDR-Bürger eine Maßregel eingeführt worden, die nur ihre Verwandten in der Bundesrepublik besuchen und zurückkehren wollten. Abgesehen davon, daß spätestens mit dem Mauerbau am 13. August 1961 derartige Visa nicht erteilt wurden, mußte man sich wegen der Westkontakte vor dem Arbeits- und Parteikollektiv rechtfertigen. Faktisch war die Reisefreiheit in den anderen Teil Deutschlands oder in das westliche Ausland – ausgenommen sogenannte ‚Reisekader‘ – ausgeschlossen. Mit dem Strafgesetzbuch 1968 / 1974 wurde in § 213 der Begriff des ‚Ungesetzlichen Grenzübertritts‘ eingeführt:
30
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs Strafgesetzbuch der DDR (1968) § 213. Ungesetzlicher Grenzübertritt. (1) Wer widerrechtlich in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eindringt oder sich darin widerrechtlich aufhält, die gesetzlichen Bestimmungen oder auferlegte Beschränkungen über Ein- und Ausreise, Reisewege und Fristen oder den Aufenthalt nicht einhält oder wer durch falsche Angaben für sich oder einen anderen eine Genehmigung zum Betreten oder Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik erschleicht oder ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder in dieses nicht zurückkehrt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder öffentlichem Tadel bestraft. (2) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn 1. die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführen dazu geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird; 2. die Tat durch Mißbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertrittdokumenten, durch Anwendung falscher derartiger Dokumente oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt; 3. die Tat von einer Gruppe begangen wird; 4. der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist. (3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar. Anmerkung: Zuwiderhandlungen gegen die gesetzlichen Bestimmungen oder auferlegte Beschränkungen über Ein- und Ausreise oder Aufenthalt können in leichten Fällen als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. Durch Gesetz vom 19. Dezember 1974 wurde im § 213 Abs. 1 zusätzlich die Haftstrafe als weitere Maßnahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufgenommen. In der Neubekanntmachung vom 19. Dezember 1974 wurde im § 213 Abs. 1 nach dem Wort „Bewährung“ das Wort „Haftstrafe“ eingefügt.
Der § 213 DDR-StGB ist im ‚guten‘ Juristendeutsch abgefaßt, den ein ‚Normalbürger‘ kaum versteht: Es wird erst aufgezählt, wer widerrechtlich in das Gebiet der DDR eindringt, sich darin widerrechtlich aufhält usw. Ein juristisch nicht geübter Leser gewinnt den Eindruck, daß der ‚ungesetzliche Grenzübertritt‘ darin bestand, daß in großer Zahl Ausländer (Bundesdeutsche?) widerrechtlich die DDR heimsuchten. Dabei wird verschwiegen, daß es durchaus West-Ost-Übersiedlungen gab: Es konnte sich um Familienzusammenführungen ober um berufliche Übertritte (so der Vater der Bundeskanzlerin, der als evangelischer Pfarrer in die DDR ging) oder um ‚Überzeugungstäter‘ handeln, die die DDR als das ‚bessere Deutschland‘ ansahen. Dann folgt – gleichsam nebenbei – der entscheidende Halbsatz: „… oder ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt“. Da eine staatliche Genehmigung zur Ausreise nicht erlangt werden konnte, blieb nur der illegale Weg der Republikflucht. Wer diese Form des ungesetzlichen Grenzübertrittes – auch über ein Drittland – versuchte, der wurde mit Freiheitsstrafe bis zu zwei, in schweren Fällen bis fünf Jah-
2. Die rechtlichen Grundlagen
31
ren bestraft. Die dem sozialistischen Staat verpflichtete und ergebene Justiz sah häufig den ‚schweren Fall‘ als erfüllt an, so daß langjährige Haftstrafen verhängt wurden. Durch Gesetz vom 28. Juni 1979 wurde der § 213 wie folgt geändert: – die Abs. 1, 2 und 3 erhielten folgende Fassung: „(1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik rechtswidrig nicht oder nicht fristgerecht in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt oder staatliche Festlegungen über seinen Auslandsaufenthalt verletzt. (3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn 1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet; 2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt; 3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird; 4. die Tat durch Urkundenfälschung (§ 240), Falschbeurkundung (§ 242) oder durch Mißbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt; 5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird; 6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.“ – der bisherige Absatz 3 des § 213 wurde Absatz 4. Durch Vertrag vom 18. Mai 1990 wurde der § 213 aufgehoben. Durch Gesetz vom 29. Juni 1990 wurde der § 214 weggelassen.
Die 1979 erfolgte Änderung des § 213 DDR-StGB verschleiert in noch stärkerem Maße den ‚ungesetzlichen Grenzübertritt‘ von Ost nach West: Euphemistisch heißt es, daß „wer widerrechtlich die Staatsgrenze der DDR passiert“, der wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei, in schweren Fällen bis zu acht Jahren bestraft. Die Aufzählung der ‚schweren Fälle‘ ist so vage (zum Beispiel: „die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird“), so daß Haftstrafen bis acht Jahren die Regel wurden. Damit hatte die DDR ihr Repressionsinstrumentarium perfektioniert, um diejenigen DDR-Bürger zu drangsalieren bzw. zu kriminalisieren, deren Republikflucht scheiterte. Jeder Staat besitzt die Hoheit, im Rahmen seiner Verfassung und – häufig unausgesprochen – seiner ideologischen Grundlagen Gesetze zu erlassen. Diese Gesetze sind positives Recht und sind von den Gerichten anzuwenden. Der Heidelberger Rechtsprofessor Gustav Radbruch (1878 – 1949) hat nach 1945 festgestellt, wenn ordnungsgemäß zu Stande gekommene Gesetze Menschenrechte verletzen können, dann sind sie Unrecht (Radbruch’sche Klausel). Beispiel hierfür waren die Nürnberger Rassengesetze und der ‚ungesetzliche Grenzübertritt‘ der DDR.
32
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs
Daß der § 213 des DDR-StGB Unrecht war, bestätigen grundlegende Regeln der Vereinten Nationen: Sowohl die Bundesrepublik als auch die damalige DDR wurden am 18. September 1973 als Mitglieder in die UNO aufgenommen. Nicht nur das Statut der Vereinten Nationen ist für die Mitglieder bindend, sondern auch die ‚Allgemeine Erklärung der Menschrechte‘ vom 10. Dezember 1948.9 In Art. 13 heißt es: „1. Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort zu wählen. 2. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“
Es ist eindeutig, daß die DDR gegen diese Prinzipen verstoßen hat. Allerdings hat die UN-Menschenrechtserklärung keinen Gerichtshof geschaffen, wie die ‚Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten‘ des Europarates vom 4. November 1950 (Neufassung vom 30. Juni 1998) installiert hat. Das hat zur Folge, daß Verletzungen der UN-Menschenrechtserklärung nicht richterlich nachgeprüft werden können. Dieses ist eine Schwäche, die aber in der Zwischenzeit durch andere UN-Regeln zum Teil behoben worden ist.10 Die DDR hat neben der strafrechtlichen Norm des ‚ungesetzlichen Grenzübertritts‘ weitergehend Straftatbestände geschaffen, um die DDR-Bürger zu kriminalisieren: Strafandrohungen des StGB-DDR:11 Das Strafgesetzbuch der DDR enthält eine Reihe von Strafandrohungen für Vergehen, die in demokratischen Staaten zu den Grundfreiheiten gehören: § 99: Landesverräterische Nachrichtenübermittlung
§ 100: Landesverräterische Agententätigkeit
(1) Wer der Geheimhaltung nicht unterliegende Nachrichten zum Nachteil der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik an die in § 97 genannten Stellen oder Personen übergibt, für diese sammelt oder ihnen zugänglich macht, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zwölf Jahren bestraft.
(1) Wer zu den im § 97 genannten Stellen oder Personen Verbindung aufnimmt oder sich zur Mitarbeit anbietet oder diese Stellen oder Personen in sonstiger Weise unterstützt, um die Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
(…)
(…)
9 Bundeszentrale für politische Bildung (Herausg.): Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen, 4. Aufl., Bonn 2004, S. 54 – 59, zitiert S. 56. 10 Zur völkerrechtlichen Problematik der UN-Menschrechtserklärung und den weitergehenden Regelungen siehe Eibe Riedel: Der internationale Menschenrechtsschutz – Eine Einführung, ebenda, S. 11 – 40. 11 Entnommen aus Werkentin, S. 102 – 103.
2. Die rechtlichen Grundlagen § 106: Staatsfeindliche Hetze (1) Wer die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik angreift oder gegen sie aufwiegelt, indem er 1. die gesellschaftlichen Verhältnisse, Repräsentanten oder andere Bürger der Deutschen Demokratischen Republik wegen deren staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit diskriminiert; 2. Schriften, Gegenstände oder Symbole zur Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, von Repräsentanten oder anderen Bürgern herstellt, einführt, verbreitet oder anbringt; 3. die Freundschafts- und Bündnisbeziehungen der Deutschen Demokratischen Republik diskriminiert; 4. Verbrechen gegen den Staat androht oder dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten; 5. den Faschismus oder Militarismus verherrlicht oder Rassenhetze treibt, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu acht Jahren bestraft. (2) Wer zur Durchführung des Verbrechens mit Organisationen, Einrichtungen oder Personen zusammenwirkt, deren Tätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik gerichtet ist oder das Verbrechen planmäßig durchführt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren bestraft. (…) § 214: Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit (1) Wer die Tätigkeit staatlicher Organe durch Gewalt oder Drohungen beeinträchtigt oder in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise eine Mißachtung der Gesetze bekundet oder zur Mißachtung
33
der Gesetze auffordert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer gegen Bürger wegen ihrer staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit oder wegen ihres Eintretens für die öffentliche Ordnung und Sicherheit mit Tätlichkeiten vorgeht oder solche androht. (…) § 217: Zusammenrottung Wer sich an einer die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung von Personen beteiligt und sie nicht unverzüglich nach Aufforderung durch die Sicherheitsorgane oder andere zuständige Staatsorgane verläßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, mit Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. (…) § 219: Ungesetzliche Verbindungsaufnahme (1) Wer zu Organisationen, Einrichtungen oder Personen, die sich eine gegen die staatliche Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik gerichtete Tätigkeit zum Ziele setzen, in Kenntnis dieser Ziele oder Tätigkeit in Verbindung tritt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf Bewährung oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft 1. wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, im Ausland verbreitet oder verbreiten läßt oder zu diesem Zweck Aufzeichnungen herstellt oder herstellen läßt;
34
III. Grundlagen des Häftlingsfreikaufs 2. wer Schriften, Manuskripte oder andere Materialien, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, unter Umgehung von Rechtsvorschriften an Organisationen, Einrichtungen oder Personen im Ausland übergibt oder übergeben läßt.
(…) § 220: Öffentliche Herabwürdigung (1) Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tode bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer Schriften, Gegenstände oder Symbole, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische Zusam-
menleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen, verbreitet oder in sonstiger Weise anderen zugänglich macht. § 249: Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten (1) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigt, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer der Prostitution nachgeht oder in sonstiger Weise die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch eine asoziale Lebensweise beeinträchtigt. (…) Quelle: Strafgesetzbuch der DDR
An Stelle einer Bewertung dieser strafrechtlichen Vorschriften soll auf einen Fall aus dem Jahr 1977 verwiesen werden, den die Deutsche Sektion der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte dokumentiert hat:12 Ein DDR-Ehepaar hatte 1977 erklärt, daß es die DDR verlassen möchte, „da es uns unmöglich ist, unsere Grundrechte auf Reisefreiheit in Anspruch zu nehmen“. Die Familie war nicht bereit, ihren Ausreiseantrag zurückzunehmen, der Ehemann wurde von der Stasi verhaftet. Ein Major teilte der Ehefrau mit: „Wegen eines Ausreiseantrages wird bei uns niemand verhaftet, aber wenn man wolle, fände man schon etwas“.
Ein Studienkollege und Freund dieser Familie wurde wegen ‚Staatsfeindlicher Hetze‘ zu drei Jahren Gefängnis verurteilt; sein Verteidiger forderte vor Gericht eine um ein Jahr höhere Haftstrafe als der Staatsanwalt. Das Rechts- und das Justizsystem der DDR kann nicht besser als durch die drohende Feststellung des Majors und das Verhalten des Verteidigers umschrieben werden.
12 Internationale Gesellschaft für Menschenrechte – Deutsche Sektion: Menschenrechte als Opfer ‚Innerdeutscher Beziehungen‘ – Dokumentation (Maschinenschrift), S. 20 f.
2. Die rechtlichen Grundlagen
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Die SED-Führung verwahrte sich gegen die Bezeichnung ‚politische Häftlinge‘. Der nachmalige Justizminister Max Fechner (1892 –1973)13 hat diese Häftlinge als ‚kriminelle Verbrecher‘ bezeichnet14. „Die faschistischen Gewalthaber haben Zehntausende aufrechte Antifaschisten in die Gefängnisse, Zuchthäuser und Konzentrationslager geworfen. Es genügte, eine andere politische Überzeugung zu haben, den Faschismus abzulehnen, Mitglied oder Funktionär einer Arbeiterbewegung gewesen zu sein, um verfolgt, mißhandelt und der Freiheit beraubt zu werden. Für diese Opfer des Faschismus gebrauchen wir die Bezeichnung ‚politischer Häftling‘. Heute wird niemand seiner Gesinnung wegen inhaftiert. Wer unsere antifaschistische und demokratische Ordnung angreift, wer den Aufbau unserer Friedenswirtschaft stört, begeht eine strafbare Handlung und wird seiner verbrecherischen Taten wegen bestraft. Die Strafgefangenen dieser Art sind deshalb auch keine politischen Gefangenen, sondern kriminelle Verbrecher. Die Bezeichnung dieser Strafgefangenen als politische Häftlinge wird daher untersagt.“
Als Fechner 1953 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde: Hat er sich als krimineller Verbrecher oder als politischer Häftling gefühlt? Gleichgültig, ob es sich um die braune oder um die rote Diktatur handelte: Entweder hat man das vorhandene juristische Instrumentarium pervertiert oder entsprechende Strafvorschriften geschaffen, um die Bürger ihrer Freiheit zu berauben und sie zu kriminalisieren. Das Dritte Reich hat bei der Ausreise die Juden auf der Grundlage der Reichsfluchtsteuer faktisch enteignet, die DDR hat die Häftlinge der Bundesrepublik zum Kauf angeboten, um die Devisenbilanz aufzubessern. Diktaturen unterscheiden sich nicht im Prinzip, sondern nur in ihren Techniken.
13 Max Fechner war in der Weimarer Republik SPD- bzw. USPD-Mitglied, Abgeordneter im Preußischen Landtag, nach 1945 im Parteivorstand bzw. Zentralkomitee der SED, 1949 bis 1953 Minister für Justiz. Nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 sprach sich Fechner in einem Interview gegen die Strafverfolgung streikender Arbeiter aus, er wurde als ‚Feind des Staates und der Partei‘ seines Amtes enthoben und aus der SED ausgeschlossen, am 15. Juli 1953 verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, im April 1956 entlassen und amnestiert, im Juni 1958 erfolgte die Wiederaufnahme in die SED, 1972 erhielt er den Karl-Marx-Orden. Aus: Wer war wer in der DDR?, S. 201. 14 Zitiert nach Schroeder, S. 110 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.).
IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf von DDR-Häftlingen Der sogenannte ‚amtliche‘ Freikauf von DDR-Häftlingen ist weder durch eine formelle Vereinbarung – wie zum Beispiel der Transitpauschale, den Warenverkehr usw. – zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der nachmaligen DDR noch durch unmittelbare Kontakte auf Regierungsebene entstanden. Vielmehr handelte es sich darum, daß humanitäre Notlagen zu informellen Kontakten – insbesondere der Kirchen – führten, die stillschweigend von beiden Regierungen gebilligt und sogar gefördert wurden. Als das gegenseitige Mißtrauen abgebaut war, wurde der Menschenhandel zu einem florierenden Geschäft ausgebaut. Nicht formal, aber de facto bestanden Übereinkommen, die vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollten, aber unter den DDR-Häftlingen und ihren Angehörigen in Ost und West durchaus bekannt waren. Aber offiziell liegt noch heute ein Schleier über dem Freikaufgeschäft. 1. Die ersten humanitären Kontakte Erste humanitäre Kontakte knüpften bereits 1947 die evangelische und die katholische Kirche zu ostdeutschen Dienststellen; auch private Helfer – wie der Verleger Axel Cäsar Springer – bemühten sich um Kriegsgefangene und Zivilinternierte.1 Der spätere Bischof Kurt Scharf erreichte in zahlreichen Fällen die Entlassung oder zumindest die Hafterleichterung für kirchliche Mitarbeiter und Pfarrer. Auch nach der Gründung der beiden deutschen Staaten gingen die kirchlichen und privaten Bemühungen weiter, zumal die Bundesrepublik, die das Alleinvertretungsrecht beanspruchte, nicht offiziell mit der DDR verhandeln konnte, um einer Anerkennung der DDR Vorschub zu leisten (Hallstein Doktrin). Der erste Deutsche Bundestag richtete den ‚Ausschuß für Gesamtdeutsche Fragen‘ ein, dessen Vorsitzender Herbert Wehner wurde, der aufgrund seiner politischen Vergangenheit Kontakte in Ost-Berlin hatte; einer seiner Gesprächspartner war der Altkommunist Erich Glückauf (1903 – 1977), der seit Anfang der 50er Jahre für die SED die Westkontakte pflegte. Ab 1949 hat sich Wehner als stiller Vermittler um die bedrängten Menschen im Ostteil Deutschlands bemüht. Mitte der 50er Jahre wurde von den Wohlfahrtsverbänden, den Industriellen und Verbandsvertretern die Hilfsgemeinschaft ‚Helfende Hände‘ gegründet, die die unkonventionelle Hilfe organisierte. 1
Brinkschulte, S. 14 – 17.
2. Der erste Häftlingsfreikauf
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Nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 übernahm das Auswärtige Amt die Betreuung der wegen sogenannter Kriegsverbrechen verurteilten Deutschen. Sie schaltete den Rechtsanwalt Kurt Behling ein, sein Auftrag wurde auf den Rechtsschutz der in der SBZ / DDR Verschleppten oder Verhafteten erweitert. Diese Anwaltskanzlei wurde unter der Bezeichnung ‚Rechtsschutzstelle‘ geführt. Behling schied altersbedingt bald aus, an seiner Stelle führten andere Anwälte seine Tätigkeit fort. „Die Einschaltung eines Anwaltsbüros, um in politischen Strafverfahren in der DDR Menschen Beistand zu leisten, erwies sich als überaus erfolgreich. Das Büro wurde rein auf dem anwaltlichen Weg tätig. … Ab 1955 ging die Rechtsschutzstelle auch dazu über, Rechtsanwälte in der DDR als Korrespondenzanwälte einzuschalten. Sie wurden gebeten, die Verteidigung zu übernehmen und sich nach der Verurteilung im Gnadenverfahren um die Mandanten zu kümmern.“2 Einer dieser Rechtsanwälte, die von der Rechtsschutzstelle hinzugezogen wurden, war Wolfgang Vogel,3 der bis zur Wende 1989 den Freikauf von DDR-Häftlingen maßgeblich arrangierte. 2. Der erste Häftlingsfreikauf Durch den Mauerbau 1961 wurden über viertausend Kinder von ihren Eltern getrennt. RA Reymar von Wedel – Referent des EKD-Vorsitzenden Kurt Scharf – erreichte mit RA Wolfgang Vogel, daß zu Weihnachten 20 Häftlinge und 20 Kinder gegen die Lieferung von drei Eisenbahnwaggons Kalisalz als Düngemittel für die DDR-Landwirtschaft freigelassen wurden.4 Aus der Sicht der DDR war dieses der Einstieg in das ‚Freikaufgeschäft‘. Da etwa 12.000 politische Häftlinge in den DDR-Zuchthäusern eingekerkert waren, witterte Ost-Berlin ein glänzendes Geschäft und die Bundesregierung empfand es als ihre moralische Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Mit der Kabinettsumbildung am 14. Dezember 1962 wurde Ernst Lemmer durch Rainer Barzel als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen ersetzt. Neben Ludwig Rehlinger wurde auf bundesdeutscher Seite RA Jürgen Stange aktiv: Da er einen bundesdeutschen Paß besaß, konnte er ungehindert nach Ost-Berlin einreisen. Er wurde von der Rechtsschutzstelle eingeschaltet, um Botschaften an Ost-Berliner 2 Ludwig A. Rehlinger: Freikauf – Die Geschäfte der DDR mit politischen Verfolgten 1963 – 1989, Frankfurt am Main 1991, S. 13 (Rehlinger, Jahrgang 1927, stieg zum Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium auf und war schließlich Senator in West-Berlin). 3 Wolfgang Vogel (1925 – 2008) wurde in Wilhelmsthal (Glatz in Schlesien) geboren, studierte 1945 – 49 Rechtswissenschaften in Jena und Leipzig, legte 1949 sein 1. und 1952 sein 2. Staatsexamen ab. Vogel war 1952 Hauptreferent im Ministerium der Justiz, schied 1953 aus dem Staatsdient aus, er trat 1954 in das Rechtsanwaltskollegium in Ost-Berlin ein, wo er eine eigene Anwaltspraxis eröffnete. 1957 wurde er als Rechtsanwalt auch für West-Berlin – für den Bezirk des Kammergerichtes – zugelassen. Er konnte somit sowohl vor Ost- als auch vor West-Berliner Gerichten auftreten. 4 Brinkschulte, S. 18.
IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
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Anwälte zu übermitteln. Auf diese Weise lernte er RA Vogel kennen, woraus sich eine langjährige Zusammenarbeit und eine enge persönliche Beziehung entwickelte. Der Gedanke, politischen Häftlinge gegen materielle Leistungen zu helfen, stieß im damaligen Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen auf brüske Ablehnung: „Für (Staatsekretär) Thediek kam ein solcher ‚Handel‘ nicht in Frage. Menschen gegen Geld, das trug den Stempel des Unmoralischen, das tat man nicht. Ein Geschäft mit dem Unrechtssystem zu machen, sich mit der SED einzulassen, nein, zu diesem Vorgehen wollte er die Hand nicht reichen.“5 Sowohl die Kirchen als auch der Senat von West-Berlin haben sich in Einzelfällen um menschliche Hilfe bemüht. Hiervon hatte Barzel im Dezember 1962 keine Kenntnis. Um diese Zeit brachte RA Stange die Nachricht von RA Vogel aus OstBerlin mit, daß die DDR bereit sei, in größerem Umfange politische Häftlinge gegen materielle Hilfe freizulassen. Über den Verleger Axel Springer wurde diese Nachricht Minister Barzel übermittelt, der sich des politischen Risikos bewußt war. Nachdem er Bundeskanzler Adenauer und andere führende Politiker unterrichtet hatte, traf er sich in der Karwoche 1963 mit RA Stange. In Ost-Berlin nahm man Barzels Bereitschaft zur Kenntnis, ein konkretes Angebot zu machen. Aus Ost-Berlin kam der Vorschlag, 1.000 Häftlinge gegen Geld freizulassen. Rehlinger ließ sich jede Akte vorlegen und hat diese geprüft, er spielte Schicksal. RA Stange übermittelte dieses der DDR, die die Offenheit für neue Gedanken schätzte, aber ob der konkreten Verhandlungen war man mißtrauisch. Die Ost-Seite schlug vor, mit 500 Häftlingen zu beginnen. Aber auch fünfhundert Häftlinge waren der DDR für den Beginn zu viel. So wurde die Liste auf Forderung der DDR auf hundert, dann auf fünfzig und schließlich auf zehn Inhaftierte zusammengestrichen. Am Ende einigte man sich auf nur acht Häftlinge. „Mit ihnen begann, was in der Öffentlichkeit als ‚Häftlingsfreikauf‘ bekannt geworden ist.“6 Auf Verlangen der DDR mußten 340.000,– West-Mark in bar (rund 42.000,– DM je Häftling) gezahlt werden. Zuerst wurden drei Häftlinge freigelassen, die weiteren Freilassungen verliefen schleppend. Das war der ‚Probelauf‘: Das gegenseitige Mißtrauen wurde abgebaut und hier bewies es sich, daß es – trotz der unterschiedlichen politischen Systeme – zu den deutschen Tugenden gehört, selbst formlose Zusagen einzuhalten. Auf westdeutscher Seite war es „die Beherztheit Barzels, denn er allein hatte die politische Verantwortung getragen und hätte bei einem Scheitern die Konsequenzen auf sich nehmen müssen, (er) hat diese Hilfe für Landsleute in bitterer Not ermöglicht.“7 Nach diesem ‚Probelauf‘ kam man voll ins Geschäft.
5 6 7
Rehlinger, S. 15. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 35 f.
3. Ideologiefreie Ost-West-Kontakte
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3. Trotz des kalten Krieges: Ideologiefreie Ost-West-Kontakte Zwischen den beiden Teilen Deutschlands bestanden während des kalten Krieges keine offiziellen Kontakte. Wie konnte es trotz der ideologischen Gegensätze zum intensiven Freikauf – 1963 waren es 8, 1964 bereits 888 Häftlinge – kommen? Anfang 1964 trafen sich der spätere Staatssekretär Rehlinger und RA Vogel zum ersten Mal. Da aufgrund der Hallstein-Doktrin keine offiziellen Beziehungen bestehen konnten, bestand die Lösung darin, daß Vogel auch in West-Berlin als Rechtsanwalt zugelassen war, das heißt, Rehlinger traf einen West-Berliner Anwalt. Die weiteren Vorteile bestanden darin, daß ein Anwalt zur Verschwiegenheit verpflichtet war und an die Weisungen des Mandatgebers gebunden ist.8 Da RA Stange mit Vogel vertrauensvoll zusammenarbeitete, fand das Treffen in der Kanzlei von Stange statt. „Es herrschte eine Atmosphäre vollständiger Vertrautheit, ja Intimität.“9 Dieses wirkte auf Rehlinger ein wenig befremdlich, denn vom offiziellen gesellschaftspolitischen Antagonismus war nicht viel zu spüren. Es ist immer wieder gerätselt worden, wie RA Wolfgang Vogel als gläubiger Katholik in der DDR lebte, die Interessen dieses Staates vertrat, das Vertrauen der höchsten Parteistellen genoß und zugleich auch das Vertrauen der amtlichen bundesdeutschen Stellen besaß. Der ehemalige US-Botschafter Burton hat Vogel als eine Sphinx bezeichnet, eine zutreffende Charakterisierung. Wolfgang Vogel hat in einem Interview im Dezember 1975 seine ideologische Position wie folgt dargelegt.10 Auf die Frage, ob Vogel Kommunist, Idealist oder Humanist sei, antwortete er:11 „Vor allem bin ich Marxist. Der Marxismus schließt einen Glauben an eine humanistische Haltung nicht aus. Ganz im Gegenteil, er fordert sie. In Wirklichkeit versuche ich, Marxist und Humanist zu sein. Das ist möglich, aber nicht immer leicht. Es kommt zum Beispiel vor, daß ich vor unseren Gerichten westliche Spione verteidige. Das ist eine eher humanitäre Aufgabe, denn ich verteidige ganz eindeutig Menschen. Aber zugleich bin ich verpflichtet, mich als Marxist zu verhalten, und ich muß meinen Mandanten im Geiste der Gesetze eines Staates verteidigen, für den ich mich entschieden habe und der seine eigenen Regeln hat.“
Zu den Geldforderungen der DDR für freigekaufte Häftlinge bemerkte Vogel im gleichen Interview:12 8 Wie wir weiter unten darlegen werden, ist die von Rehlinger erfolgte Gleichsetzung Rechtsanwalt West gleich Rechtsanwalt Ost unzulässig. 9 Rehlinger, S. 43. 10 Michel Meyer: Freikauf – Menschenhandel in Deutschland, Wien / Hamburg 1977. Das Interview ist abgedruckt auf S. 213 – 218 (Michel Meyer ist Elsässer, Jahrgang 1942, der sich wiederholt mit deutschen Problemen beschäftigt hat). 11 Ebenda, S. 215 f. (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 12 Ebenda, S. 214 f. (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.).
IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
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„… (Sie) müssen die politische und die marxistische Einstellung in Betracht ziehen, nach der in einem sozialistischen Staat Delikte beurteilt und bewertet werden. Bei uns wird ein Delikt nach dem Schaden beurteilt, der dem sozialen System und der Gesamtheit zugefügt worden ist. Das ist natürlich eine Denkweise, die jener der kapitalistischen Länder völlig fremd ist.“
Diese Bekenntnisse von RA Vogel erfordern eigentlich eine umfangreiche Analyse, die aber in diesem Rahmen nicht möglich ist, daher sei lediglich auf folgendes hingewiesen: Das Bekenntnis, daß Vogel ein Marxist ist, ist ein Glaubenssatz, der weder bewiesen noch widerlegt werden kann; denn für den Glauben lebt man, für den Glauben kämpft man und für ihn stirbt man, aber man beweist ihn nicht. Es ist Vogel zuzustimmen, daß der Spagat zwischen Marxismus und Humanismus nicht leicht war, zumal er selbst bekennt, daß er seine Mandanten nur im Rahmen „der Gesetze eines Staates verteidigen“ konnte, für den er sich entschieden und der seine eigenen Regeln hatte. Als Humanist konnte er innerlich gegen den Mauerbau, den Schießbefehl und gegen die Bestrafung der Fluchtversuche sein, als Jurist durfte er den Rahmen der bestehenden DDR-Gesetze nicht übertreten. Dazu war er – wie bereits dargelegt – auch aufgrund der DDR-Verfassung verpflichtet. Das ist Rechtspositivismus, nach dem Grundsatz: Gesetz ist Gesetz, dessen Verletzungen bestraft werden mußten. Zynisch könnte man diesen Rechtspositivismus auf die Nürnberger Rassengesetze übertragen und gleichfalls sagen: Gesetz ist Gesetz. Daher sei nochmals auf die Radbruch’sche Klausel verwiesen, daß auch ein verfassungskonform zu Stande gekommenes Gesetz durchaus Grundrechte verletzen und somit Unrecht sein kann. Allerdings kann sich Vogel exculpieren: Er kann argumentieren, daß er lediglich die bestehenden Gesetze anwenden und diese im Rahmen der politischen Entscheidungen – die letztlich Mielke oder Honecker trafen – umsetzen konnte. Dabei konnte er sich sogar als Humanist gerieren, indem er die Freikaufwünsche der Bundesrepublik nachdrücklich begründete und vielleicht dem einen oder anderen Häftling die Freiheit verschaffte, der eigentlich nicht freigelassen werden sollte. Welchen Ermessens- und Verhandlungsspielraum Vogel im konkreten Einzelfall hatte, läßt sich nachträglich nicht ausloten. Auch Vogels Begründung der Geldforderungen für jeden Häftling entspricht der marxistischen Doktrin, daß die Bundesrepublik die Ausbildungskosten zu erstatten habe, da diese die ‚Früchte‘ dieser Ausbildung erntete. Er wie die offizielle Ideologie leugnen, daß die DDR 1961 durch die massenhafte Flucht vor dem Ausbluten und dem ökonomischen Kollaps stand. Angesichts dieser ideologischen Position von Vogel hätte man vermuten können, daß bei den ‚Verkaufsverhandlungen‘ politische Diskussionen entstehen konnten, die den Freikauf torpediert hätten. Beide Seiten haben bewußt hierauf verzichtet. Rehlinger merkt zu der marxistisch-humanistischen Position an:13 13
Rehlinger, S. 44 f. (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.).
3. Ideologiefreie Ost-West-Kontakte
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„Vogel und ich haben über diese Frage (Freikauf der Häftlinge gegen West-Mark, Jk.) auch nie gestritten, wir haben das Thema nicht berührt. Wie wir auch sonst nicht kontrovers politisch philosophiert haben. Unausgesprochen hielten wir es beide für ratsam, diese Themen nicht anzuschneiden. In unserer Zusammenarbeit ging es schließlich nicht darum, den anderen beeinflussen oder zu einer anderen Weltanschauung bekehren zu sollen, sondern konkret ganz bestimmten einzelnen Menschen zu helfen. Die Art unseres Umgangs und die persönliche Wertschätzung, die wir füreinander hegten, verboten ebenfalls, kritische Bemerkungen über Entscheidungen führender Politiker der jeweils anderen Seite zu machen. … Jede Seite trug ihren Hintersinn und verfolgte Nebengedanken. Hierüber zu sprechen schien nicht geboten oder gar ratsam. Dazu standen sich die Systeme doch zu sehr als Gegner gegenüber. … Wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Gegenseitige Sympathie ist vielleicht das richtige Wort, um die Basis unseres Verhältnisses zu beschreiben. … Durch die Vielzahl unserer Gespräche kannten wir uns später so gut, daß wir nur noch wenige Worte zur Verständigung und Abstimmung benötigten.“
Es gehört zum diplomatischen Geschäft, daß zwischen den Verhandlungspartnern ein persönliches Vertrauensverhältnis geschaffen wird, um auch schwierige Probleme zu lösen. Zugleich wird der Versuch unternommen, den Partner – unmerklich – ‚einzuwickeln‘, um daraus in heiklen Situationen Vorteile zu ziehen. Es scheint, daß Wolfgang Vogel in der Psychologie der Verhandlungsführung ein erfolgreicher Meister gewesen ist. Aus rationaler Sicht kann man die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Vogel und Rehlinger dahingehend interpretieren, daß trotz der ideologischen Unterschiede und trotz des kalten Krieges auf technokratischer Ebene – von Jurist zu Jurist – sachlich und ideologiefrei der Menschenhandel abgewickelt wurde. Es war ein Geschäft, das geräuschlos und vertraulich ablaufen mußte. Ideologische Diskussionen oder Auseinandersetzungen konnten sowohl den Osten als auch den Westen stören. Wie weiter unten ausführlich dargelegt werden wird, hatte Vogel nicht unerhebliche materielle Interessen daran, daß das Freikaufgeschäft florierte; Rehlinger als Staatssekretär erhielt sein Gehalt, unabhängig davon ob und wieviel Häftlinge freigekauft wurden. Aus sehr unterschiedlichen Motiven verfolgten alle Parteien gleichgerichtete Interessen: Die DDR brauchte Devisen und entledigte sich der politischen ‚Querulanten‘, die Bundesrepublik konnte Häftlinge aus unmenschlichen Haftbedingungen befreien, RA Vogel genoß den Nimbus des marxistischen Humanisten, der offensichtlich den westlichen Mammon nicht verschmähte, auch RA Stange hatte bei diesem Geschäft keine materiellen Nachteile. Jeder hatte ‚edle‘ Motive, Häftlinge in den Westen zu entlassen.
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
4. Die Einschaltung des Diakonischen Werkes in Stuttgart Nach dem Probelauf entstanden eine Reihe von Problemen, die gelöst werden mußten, um im größeren Umfange Häftlinge freizukaufen: Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bestanden weder offizielle noch offiziöse Kontakte, sie konnten auch nicht aufgenommen werden, um nicht die DDR (indirekt) als zweiten deutschen Staat anzuerkennen. Daher mußte ein vertrauenswürdiger Partner eingeschaltet werden, der sowohl in Bonn als auch in Ost-Berlin anerkannt wurde. Ein weiteres Problem bestand darin, daß die Bonner finanziellen Leistungen – es handelte sich um Millionenbeträge – nicht in bar nach Ost-Berlin transportiert werden konnten; denn es bestand die Gefahr, daß die westoder ostdeutsche Polizei den ‚Geldkurier‘ anhalten und verhaften konnte. Es war auch zu bedenken, daß die DDR diese Devisen dazu benutzen konnte, um strategisch wichtige Güter auf dem Weltmarkt zu kaufen oder aber ihre Spionage im Westen zu finanzieren. Aber nicht nur im Westen, sondern auch im Osten gab es Bedenken, rechtskräftig verurteilte ‚Verbrecher‘ gegen Devisen freizugeben.
a) Das Kirchengeschäft A Die Evangelische Kirche hatte wahrgenommen, daß es bei der Bundesregierung in Bonn Probleme gab, da das gegenseitige Mißtrauen tief saß. In dieser kritischen Situation schaltete sich Bischof Hermann Kunst (Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesregierung) ein, der bereits Erfahrungen mit der (indirekten) Hilfe für die evangelischen Kirchen im Osten hatte: Die Evangelische Kirche hat zwischen 1957 und 1990 Eigentransfers in Höhe von fast 1,8 Mrd. DM, die Katholische Kirche zwischen 0,5 und 1 Mrd. DM erbracht.14 Die Partnerschaftshilfe nahm mit 1.309,7 Mill. DM den Spitzenplatz ein. Geliefert wurden vor allem Textilien, Lebensmittel, Baumaterialien, technische Verbrauchsgüter usw., von 1957 – 1990 sind Waren im Wert von 346,7 Mill. DM transferiert worden. Diese Waren wurden in der Bundesrepublik gekauft und in die DDR ausgeführt; die Bundesregierung beteiligte sich an der Finanzierung mit etwa 50% (aus dem Haushalt des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, Titel 68521: ‚Förderung besonderer Hilfsmaßnahmen gesamtdeutschen Charakters‘). Aber die Kirchen und ihre Einrichtungen in der DDR brauchten nicht nur materielle Hilfsleistungen, sondern auch Geld (Ost-Mark), um die Pfarrer und ihre Mitarbeiter zu bezahlen, da ab 1956 der Einzug der Kirchensteuer abgeschafft und die jährlichen Staatsleistungen halbiert wurden. Den kirchlichen Einrichtungen war untersagt, West-Mark zu empfangen und zu besitzen. Das Transferproblem wurde 14 Armin Volze: Kirchliche Transferleistungen in die DDR, in: Deutschland Archiv, Heft 1 (1991), S. 56 – 66, insbesondere S. 59 f.
4. Die Einschaltung des Diakonischen Werkes
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in einem Spitzengespräch zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, und den führenden Vertretern der Evangelischen Kirche am 3. Dezember 1956 gelöst: Grotewohl forderte zunächst einen Umtausch West-Mark in Ost-Mark im Verhältnis 1:1. „Anfang 1957 konnte dann aber in einem Gespräch zwischen Propst Grüber und dem damaligen Minister für Außenhandel und innerdeutschen Handel, Heinrich Rau, eine Vereinbarung über einen ‚Mischtransfer‘ besonderer Art getroffen werden, der als sog. Kirchengeschäft A bekannt wurde.“15 Das Kirchengeschäft A wurde wie folgt abgewickelt: Die DDR erhielt weder DM noch VE (Verrechnungseinheiten), sondern Rohstofflieferungen. Der ‚Warenkorb‘ wurde von den Beauftragten der westdeutschen Landeskirchen mit dem Ministerium für Außenhandel – ab 1966 KoKo – abgestimmt. Die DDR war in erster Linie an Rohstoffen interessiert, die sie anderweitig nicht günstiger beziehen konnte. Die westdeutschen Landeskirchen ließen über Vertrauensfirmen die Rohstoffe auf dem internationalen Markt kaufen und an die DDR liefern, diese Liefergeschäfte waren von der Umsatzsteuer befreit. „Der Gegenwert der Kirchengeschäfte A wurde vom Außenhandelsministerium der DDR den kirchlichen Institutionen in Mark der DDR zur freien Verfügung gutgeschrieben. … Bei den Gesprächen Anfang 1957 war von der DDR-Seite ein Richtwert von 40 Mio. Mark der DDR pro Jahr genannt worden.“16 Die Jahresraten stabilisierten sich bald auf zwischen 40 bis 50 Mill. DM. Seit 1957 wurden Rohstoffe im Werte von 1,4 Mrd. DM geliefert. Das Kursverhältnis 1:1 wurde von der evangelischen Kirche nicht akzeptiert, durch Boni und Sonderleistungen wurde der Kurs zu Gunsten der DM aufgebessert. Insbesondere für Bauvorhaben reichte der Gegenwert in Ost-Mark nicht aus, daher wurden ab 1966 Gutschriften in Valuta-Mark durchgesetzt. Seit 1966 sind Rohstofflieferungen im Wert von 0,7 Mrd. DM gegen Valuta-Mark-Gutschriften erfolgt. „Beide Kirchen haben im Rahmen der Kirchengeschäfte A Rohstoffe im Wert von 2,8 Mrd. DM in die DDR geliefert. Davon entfielen 2,1 Mrd. DM auf die evangelische und 0,7 Mrd. DM auf die katholische Seite.“17 Die Mittel wurden jeweils von den Kirchen aufgebracht, die Bundesregierung beteiligt sich zu etwa 50%.
b) Das Kirchengeschäft B Nach dem erfolgreichen Probelauf wurde das Freikaufverfahren systematisiert und institutionalisiert, Muster war das Kirchengeschäft A: Bereits 1959 hatte Bischof Kunst Direktor Ludwig Geißel vom Diakonischen Werk bevollmächtigt, im Namen der westdeutschen Landeskirchen Wirtschaftsverhandlungen mit der Regierung der DDR zu führen.
15 16 17
Ebenda, S. 61 (Hervorhebung abweichend vom Original, Jk.). Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 62.
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
4. Die Einschaltung des Diakonischen Werkes
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Ludwig Geißel war aufgrund seiner Stellung und seiner Erfahrungen für die Durchführung des Kirchengeschäftes B prädestiniert. Der Antipode von Geißel bzw. seinen Nachfolgern war RA Wolfgang Vogel, der erst 1969 Vertretungsvollmacht erhielt:18 „Vollmacht für Herrn RA Wolfgang Vogel, 1136 Berlin, Reiler Str. 4. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik bestellt Sie mit sofortiger Wirkung bis auf schriftlichen Widerruf als ständigen Rechtsberater und in besonderen Fällen als Rechtsvertreter. Diese Bestellung erstreckt sich insbesondere auf die Wahrnehmung der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, der besonderen politischen Einheit West-Berlin und gegenüber anderen Staaten.“ Berlin, den 1. 8. 1969 Streit19
Bemerkenswert ist, daß zwar Vogel (und damit die DDR) mit dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen verhandelte, aber die Vollmacht nicht in diesem Ministerium, sondern im Bundeskanzleramt hinterlegt wurde. In der Besprechung am 8. Juli 1964 im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen in Bonn, an der außer Bundesminister Mende, Staatssekretär Krautwig, Generalbundesanwalt Güde, Ludwig Rehlinger, die RA Stange und von Wedel sowie Geißel teilnahmen, wurde der praktisch-organisatorische Grundstein für die wirtschaftlichen Gegenleistungen für den Häftlingsfreikauf durch die Bundesrepublik Deutschland gelegt.20 „Da Bargeldzahlungen nicht mehr erfolgen sollten, wurde Ludwig Geißel beauftragt, ‚in dieser Aktion den Warentransfer für die Gegenleistung verantwortlich zu übernehmen‘. Geißel erhielt dafür die ‚die volle Freiheit über die Abwicklung, die Bestimmung der Lieferfirmen und die Form der Finanzierung‘. Damit übernahm die Evangelische Kirche aus humanitären Gründen ein geheimes Kommandounternehmen, das einzigartig in ihrer Nachkriegsgeschichte ist. Die Bundesregierung sagte jede Unterstützung zu, konnte sie die Aktion doch aus deutschlandpolitischen Gründen nicht selbst durchführen“.
Bereits am 19. August 1964 unterzeichnete Geißel im Ost-Berliner Ministerium für Außenhandel den ersten Vertrag im ‚B-Geschäft‘, wie die Aktion fortan in den Akten in Stuttgart und Bonn bezeichnet wurde. Sowohl auf der West- als auch auf Ost-Seite wurde absolute Vertraulichkeit vereinbart. „Und tatsächlich halten sie bis heute dicht oder können sich nicht mehr genau erinnern.“21 Diese Erfahrung haben wir auch bei der Materialrecherche gemacht.
Zitiert nach Rehlinger, S. 48. Josef Streit (1911 – 1987) stammte aus der ehemaligen Tschechoslowakei, war von 1939 bis 1945 im KZ, wurde nach 1945 zum Richter ausgebildet und war von 1961 – 1986 Generalstaatsanwalt DDR, von 1963 – 1987 gehörte er dem ZK der SED an. 20 Brinkschulte, S. 100 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 21 Ebenda, S. 101. 18 19
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
Das Kirchengeschäft B wurde wie folgt abgewickelt: Nachdem RA Stange signalisiert hatte, in welchem Umfang Häftlinge freigegeben werden sollten – was anfangs schwierig, später eine eingespieltes Verfahren war –, wurde in Bonn eine Namensliste zusammengestellt und diese über Stange nach Ost-Berlin übermittelt. Während Bonn insbesondere daran interessiert war, langjährige Strafgefangene freizubekommen, hatte Ost-Berlin ein gegenteiliges Interesse. Wenn die Namensliste nach zähem Ringen abgestimmt war, ging es um die Höhe der Bonner Gegenleistungen. Beim ersten größeren Freikauf am 14. August 1964 orientierte man sich am Betrag des Probelaufes, d. h. rund 40.000,– DM pro Häftling, unabhängig vom Strafmaß, Alter und Ausbildungskosten. Der Pauschbetrag von 40.000,– DM galt bis 1977, danach betrug das ‚Kopfgeld‘ 95.847,– DM.22 Zu Beginn des Freikaufgeschäftes wurde das Kopfgeld von der Bundesregierung in bar bezahlt. Später ging man zur Warenlieferung über, um nicht die DDR mit Devisen auszustatten, die auch dazu benutzt werden konnten, Spionage zu treiben oder kommunistische Organisationen in der Bundesrepublik zu unterstützen. Zu Beginn des Freikaufgeschäftes standen sich auf westlicher Seite Reymar von Wedel – der neben der RA-Kanzlei in West-Berlin eine Dependance in Ost-Berlin hatte – und RA Stange, auf der östlichen Seite Wolfgang Volpert (1932 – 1986)23 und RA Wolfgang Vogel (1925 – 2008) gegenüber. Ursprünglich wurden die Vereinbarungen mit dem Ministerium für Außenhandel, später mit der KoKo (Kommerzielle Koordinierung) – deren Leiter Schalck-Golodkowski (Jahrgang 1932)24 war – getroffen. Auf westlicher Seite wurde das Diakonische Werk (DW) eingeschaltet, deren Verhandlungspartner im Zeitlauf wechselten. 22 Neben dem Freikauf von Häftlingen gab es noch die Familienzusammenführung. Die ‚Gebühren‘ für rund 250.000 Personen waren unterschiedlich hoch: Die DDR stellte Listen mit jeweils 26 Personen zusammen, für die die Bundesregierung bis Anfang der 70er Jahre 300.000,– DM (= 11.538,46 DM pro Person) zahlte. Der Preis stieg dann auf 500.000,– DM, wurde aber im Anschluß an den Grundlagenvertrag auf 10 % davon gesenkt, das heißt, 50.000,– DM für die 26-Personen-Liste (= 1.923,– DM pro Person). Ab 1977 gab es drei Preisstufen: Die vorgenannte Liste über 50.000,– DM, dann eine Liste über 100.000,– DM für 26 Personen und schließlich ab 1981 die ‚Sonderlisten‘ mit 8.000,– DM pro Person. Man mag sich über die Preispolitik wundern, aber man kann der damaligen DDR nicht gewisse marktwirtschaftliche Praktiken im System der Planwirtschaft absprechen. (Zu den Preisangaben siehe Brinkschulte, 24 f., ferner Rehlinger, S. 68 – 73, allerdings ohne Preisangaben). 23 Heinz Volpert war ab 1971 als Sekretär des Ministers mit der Durchführung der Sonderaufgaben Devisenbeschaffung und des Häftlingsfreikaufs beauftragt; 1970 wurde er zusammen mit Schalck-Golodkowski an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche zum Dr. jur. mit dem Thema ‚Vermeidung ökonomischer Verluste und Erwirtschaftung zusätzlicher Devisen‘ promoviert. 24 Schalck-Golodkowski war ab 1966 Leiter der KoKo, ab 1967 Offizier im besonderen Einsatz, 1967 – 75 Stellvertretender Minister für Außenwirtschaft, 1970 Promotion zum Dr. jur., ab 1975 Staatssekretär für Außenhandel, 1983 maßgeblich beteiligt an den Verhandlungen über die Kreditmilliarden der Bundesrepublik, seit 1986 Mitglied des ZK der SED, am 6. 12. 1989 stellte er sich den Behörden in West-Berlin, verschiedene juristische Ermittlungen, 1994 Beendigung der Arbeit des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages gegen die KoKo, im Januar 1996 zu einjähriger Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
4. Die Einschaltung des Diakonischen Werkes
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c) Die technischen Probleme des Freikaufverfahrens Unter Bundeskanzler Erhard mußte Rainer Barzel im Oktober 1963 sein Amt als Gesamtdeutscher Minister an den FDP-Vorsitzenden Erich Mende abgeben. Nunmehr wurde das Freikaufgeschäft voll entwickelt: 1963 wurden nur acht Häftlinge freigekauft, 1964 waren es bereits 888 und 1965 sogar 1.541, das heißt, daß die politischen Wechsel in Bonn nicht zum Abbruch des Häftlingsfreikaufes führten, allerdings schwankten die jährlichen Raten. Der Probelauf 1963 und die ersten Freikäufe erfolgten gegen Bargeld (DM). Aber man wollte nicht riskieren, große Bargeldbeträge direkt an Ost-Berlin zahlen. Außerdem legte Bundeskanzler Erhard Wert darauf, daß aus diesem Handel die DDR-Bevölkerung unmittelbaren Nutzen haben sollte. Daher schlug Bonn vor, in Naturalien zu zahlen und forderte Ost-Berlin auf, Vorschläge zu machen. Ost-Berlin war mit diesem Verfahren einverstanden. Gewünscht wurden:25 Butter, Rohkaffee, Kakao, Südfrüchte, Getreide, Öle und Fette, Medikamente, chemische Produkte sowie Werkzeugmaschinen und Haushaltsgeräte. Diese Wunschliste offenbarte die Mangelsituation in der DDR. Indem Bonn diese Güter gegen Häftlinge lieferte, konnte die DDR ihre knappen Devisen sparen. „Man kann sagen, daß die seit Anfang der sechziger Jahre in den Läden der DDR verkauften Apfelsinen nur Dank dem Verkauf mehrerer Tausend Gefangener angeboten werden konnten.“26 Später wurden Rohstoffe und industrielle Produkte – Erdöl, Kupfer, Silber, Industriediamanten usw. – geliefert. Nachdem an die Stelle des Ministeriums für Außenhandel die KoKo getreten war, wurde Manfred Seidel zum wichtigen Verhandlungspartner des Diakonischen Werkes. Seidel – vom Ministerium für Staatssicherheit abgestellt – war ein enger Vertrauter von Schalck-Golodkowski. Er ließ erkennen, daß aufgrund eines Beschlusses des Ministerrates der DDR „diese Waren in das kapitalistische Ausland zu exportieren (waren), um Valutamittel für die DDR zu erwirtschaften“.27 In den Vereinbarungen mit dem Diakonischen Werk einigte man sich auf ein Warensortiment, das auf dem internationalen Markt zu verwerten – in Devisen ‚umzutauschen‘ – war. Ein anderes Problem war die Transportfrage: Man konnte nicht mehrere hundert oder tausend freigekaufte Häftling – wie acht im Probelauf – mit der S-Bahn von Ost- nach West-Berlin transportieren, das hätte öffentliches Aufsehen erregt. Man entschied sich für Busse und den Grenzübergang Herleshausen. Die freigekauften Häftlinge wurden aus den verschiedenen Haftanstalten im Gefängnis in Karl-MarxStadt (Chemnitz) zusammengeführt und mit westdeutschen Bussen in den Westen gebracht. Allein der ‚Sound‘ der bundesdeutschen Busse und deren Nummernschilder erweckten Aufmerksamkeit. Man verfiel auf einen Trick wie aus dem Film 007: 25 26 27
Meyer, S. 118 f. Ebenda, S. 119. Brinkschulte, S. 106.
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
Wenn die Busse in die DDR einfuhren, erschienen per Knopfdruck ostdeutsche und auf der Rückreise westdeutsche Nummernschilder. Trotz der vereinbarten Geheimhaltung war der Freikauf sowohl bei den Gefängnisinsassen als auch deren Angehörigen durch Flüsterpropaganda bekannt. Vor dem Grenzübergang in Herleshausen wurden die freigekauften Häftlinge von RA Wolfgang Vogel und RA Jürgen Stange geradezu verpflichtet, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen und Interviews zu geben; denn dann hätte die DDR das gesamte Verfahren eingestellt. Es ist offensichtlich, daß die DDR es sich politisch nicht leisten konnte, ‚verurteilte Kriminelle‘ gegen Devisen zu verkaufen. Sowohl die Freigekauften als auch die Presse – die von diesem Geschäft ‚Wind‘ bekommen hatte – haben sich an die Geheimhaltung gehalten.
d) Die Vereinbarungen des Diakonischen Werkes mit der KoKo Im Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministerium wurden Freikauflisten zusammengestellt. Verwandte und Bekannte haben das Bonner Ministerium über ihren Fall unterrichtet und um Hilfe gebeten. Selbstverständlich wurden die Fälle – zum Beispiel über die Kirchen in der DDR – überprüft; denn es bestand die Gefahr, daß die DDR gelegentlich ‚schwere Jungs‘ unterschob. Andererseits hat sich die DDR konstant geweigert, westliche Spione und Fluchthelfer trotz nachdrücklicher Wünsche aus Bonn freizugeben. Während Bonn insbesondere ‚Langzeitsträflinge‘ freikaufen wollte, wehrte sich Ost-Berlin dagegen, politische Fälle ausreisen zu lassen. Trotz des eingespielten Verfahrens gab es immer wieder heftige Dispute über einzelne Personen. Beispiel hierfür ist der DDR-Konteradmiral Winfrid Baumann und Frau Dr. Christa-Karin Schumann:28 Wegen Alkoholkonsums wurde Baumann Mitte der 70er Jahre entlassen, gegen gute Bezahlung arbeitete er für den Bundesnachrichtendienst. Als im Frühjahr 1980 der Boden für ihn zu heiß wurde, bereitete der BND die Flucht von Baumann und seiner Lebensgefährtin Schumann vor, die scheiterte. Am 9. Juli 1980 wurde Baumann zum Tode verurteilt und hingerichtet, Frau Schumann wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Wahrscheinlich wollte die Bundesregierung im Fall Baumann Wiedergutmachung leisten: Staatssekretär Rehlinger bestand 1984 darauf, Frau Schumann in die Bundesrepublik zu entlassen, sonst würde kein Austausch mehr statt28 Siehe Peter Przybylski: Tatort Politbüro – Bd. 2: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Berlin 1992, S. 293 – 303, insbesondere S. 298 – 301 (Przybylski – Jahrgang 1935 – studierte in Leipzig Rechtswissenschaften, trat 1958 der SED bei, war von 1963 – 1990 Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt der DDR, seit 1964 mit der Öffentlichkeitsarbeit betraut, ab 1971 mit der Abfassung der Anklageschrift gegen Staatssekretär Hans Globke und den KZArzt Fischer befaßt, seit den 80er Jahren schriftstellerisch tätig, Sommer 1990 erfolgte die Zulassung als Rechtsanwalt in Berlin).
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finden. „Das Junktim, das Bonn an die Auslieferung von Karin Schumann knüpfte, drohte nun das deutsch-deutsche Arrangement im humanitären Bereiche generell zu belasten. … ‚Die Schumann wird nie ausgeliefert‘, brüllte der Stasi-Chef (Mielke) die Beteiligten an, und daran wagte auch niemand zu rütteln.“29 Wolfgang Vogel wußte, daß eine solche Haltung nicht zum Erfolg führte; denn im Sommer 1968 hatte die DDR darauf bestanden, ihren Spion Heinz Felfe30 freizubekommen. Es kam wieder Bewegung in den Austausch von Spionen und 1984 wurde mit 2.236 freigekauften Häftlingen ein Rekordjahr. Frau Karin Schumann wurde erst im Sommer 1987 ausgetauscht, als Honecker im Hinblick auf seinen Bonn-Besuch ein Zeichen durch eine großzügige Amnestie setzen wollte. Im Gegenzug kamen die TopSpione Lothar Lutze und seine Frau Renate frei, die aus dem Verteidigungsministerium militärische Geheimnisse verraten hatten. Dieses Beispiel belegt, daß trotz des eingespielten Verfahrens und der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Ost und West immer wieder erhebliche Spannungen auftraten. Letztlich waren beide Seiten bemüht, diese Spannungen zu überwinden: Die Bundesrepublik aus humanitären Gründen, die ehemalige DDR wegen Devisenmangel. Unterschiedliche Motive führten zu gleichgerichteten Verhandlungszielen. Nach dem Probelauf 1963 und nach dem Regierungswechsel in Bonn im gleichen Jahr wartete man ab, bis sich Ost-Berlin über RA Stange meldete. Nicht nur in Bonn, sondern auch in Ost-Berlin gab es erhebliche Bedenken und Vorbehalte gegenüber dem Häftlingsfreikauf. Die Begegnung zwischen Rehlinger und Vogel hat viel zur Entkrampfung der Atmosphäre beigetragen:31 „Vogel bewegte sich in Stanges Kanzlei wie in der Dependance seines eigenen Büros. Man duzte sich ringsumher: Stange und Vogel, ebenso aber auch Stanges Mitarbeiter und Vogel. Es herrschte eine Atmosphäre vollständiger Vertrautheit, ja Intimität. … für mich, der ich das System in der DDR doch nur sehr reserviert zu sehen vermochte, ein wenig befremdlich. …“ Und weiter bemerkt Rehlinger: „Wir haben uns von Anfang an gut verstanden. … Durch die Vielzahl unserer Gespräche kannten wir uns später so gut, daß wir nur noch wenige Worte zur Verständigung und Abstimmung benötigten“.
Wenn die ‚Chemie‘ stimmt, dann sind die zwischenmenschlichen Beziehungen ein wesentlicher Schlüssel dafür, daß es trotz der ideologischen und politischen Unterschiede gelungen ist, in den Freikaufverhandlungen letztlich doch zu einem Konsens – einer Vereinbarung – zu gelangen. Ebenda, S. 299. Heinz Felfe, Jahrgang 1918, nahm nach 1947 sein Jura-Studium in Bonn wieder auf, war ab 1949 für den sowjetischen Geheimdienst tätig, 1951 – 1961 Mitarbeiter der Organisation Gehlen bzw. des BND, 1953 Referatsleiter ‚Gegenspionage Sowjetunion‘ in Pullach, am 6. November 1961 Festnahme, Juli 1963 vom BGH zu 15 Jahren Haft verurteilt, am 14. Februar 1969 durch Agentenaustausch gegen 21 Bürger in die DDR entlassen, Dozent an der Humboldt Universität Berlin, 1972 Promotion zum Dr. jur., Professor em. 31 Rehlinger, S. 43 bzw. S. 45. 29 30
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
In der Regel traf man sich zu einem vereinbarten Termin in Ost-Berlin: Die WestVertreter brachten ihre Freikauflisten, die Ost-Vertreter ihre Lieferwünsche mit. Problematisch war die westdeutsche Freikaufliste: Auch wenn Rehlinger den Verhandlungsspielraum von Wolfgang Vogel kannte, hatte Bonn hinsichtlich bestimmter Personen besonderes Interesse, diesen die Freiheit zu verschaffen. Hier stießen – wie der Fall Baumann-Schumann zeigt – die gegenseitigen Interessen auf unüberbrückbare Positionen, die das gesamte Freikaufgeschäft in Frage stellten. Letztlich gelang es dennoch, eine von beiden Seiten akzeptierte Liste abzustimmen, was nicht ausschloß, daß einzelne Personen von Mielke oder sogar Honecker genehmigt werden mußten. Die ost-deutschen Bedarfslisten wurden vom DDR-Außenhandelsministerium mit präzisen Mengenangaben erstellt, es handelte sich vornehmlich um Erdöl, Kupfer, Naturkautschuk, Silber und Industriediamanten, die entweder in der DDR benötigt wurden oder auf dem Weltmarkt verkauft und in benötigte Devisen umgewandelt werden konnten. In Bonn wurde geprüft, ob es sich um Güter handelte, die auf der Embargoliste standen, d. h., ob es sich um strategische Güter handelte, die nicht in den Ostblock exportiert werden durften. Die folgende Kopie der Vereinbarung vom 26. Juni 1989 über 60 Mill. DM ist ein typisches Beispiel für das Ergebnis der Freikaufverhandlung. Die Vereinbarungen dürften im deutschen Geschäftsleben einmalige Urkunden – man kann auch sagen: Stück Papier – sein: Am 26. Juni 1989 wurden Lieferungen über 60 Mill. DM vereinbart, ohne daß erkennbar ist, wer die Vereinbarungspartner sind, denn es werden keine Ministerien oder Behörden einerseits und Institutionen oder Unternehmen andererseits genannt. Vielmehr haben drei Personen unterschrieben (in der Vereinbarung vom 7. Mai 1969 waren es nur zwei Unterschriften: Seidel und Geißel), ohne daß erkennbar ist, für wen sie handeln. Diese zwei bzw. drei Personen vereinbaren, daß genau bezeichnete westdeutsche Firmen festgelegte Mengen an Güter an die Intrac – deren Anschrift nicht genannt wird – in einem bestimmten Zeitraum liefern sollen. Ein unbefangener Leser erfährt nur die Firmenbezeichnungen und die Anschriften der Lieferanten, nicht mehr. Abschließend wird vereinbart, daß die Einzelheiten der Warenspezifikation und der technischen Abwicklung mit dem Außenhandelsbetrieb (damit ist die Intrac gemeint) und den Lieferfirmen vereinbart werden, das spricht dafür, daß man sich kannte. Ein unbefangener Jurist würde diese Vereinbarungen und deren Inhalt nicht nachvollziehen können: Das beginnt damit, daß man nicht einen Vertrag schließt (in dem beide Vertragspartner genau bezeichnet werden), sondern den juristisch diffusen Begriff der ‚Vereinbarung‘ wählt, und endet damit, daß die Lieferfirmen verpflichtet werden, Güter in Millionenhöhe zu liefern, ohne aus der Vereinbarung zu entnehmen, wer diese Lieferungen bezahlen wird. Diese ominöse Form der Vereinbarungen ist nur dann verständlich, wenn man weiß, daß seit dem Probelauf 1963
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
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über das Freikaufgeschäft strenge Vertraulichkeit vereinbart wurde und daß die Insider auch ohne konkrete Angaben wußten, welche Konstruktion vorlag und wie der Verfahrensablauf war. In der uns vorliegenden Vereinbarung vom 7. Mai 1969 über 10 Mill. DM (Kupfer, Rohasbest und Kakaobohnen) taucht nicht das Wort ‚Transit‘ auf, in der Vereinbarung vom 26. Juni 1989 über 60 Mill. DM wird hinter die Positionen Kupfer, Erdöl und Industriediamanten (= 48 Mill DM) ‚Transit‘ vermerkt. Das kann bedeuten, daß ein ‚Transithandel‘ vorlag. Darunter versteht man, daß der Warenverkehr durch ein Land führt, ohne daß die Ware in diesem Land eingelagert, gehandelt oder anderweitig verwendet wird. Wenn das Diakonische Werk im Auftrag der Bundesregierung die Lieferung von z. B. Kupfer und Silber – Transit – an die DDR (KoKo) zusagte, dann blieben diese Waren nicht in der DDR und deckten nicht den Eigenbedarf, sondern wurden von dieser auf dem Weltmarkt verkauft, um zu den dringend benötigten Devisen zu gelangen. Dieses erscheint überzeugend, denn „Schalcks Auftrag bestand darin, Devisen außerhalb der Planwirtschaft zu beschaffen, mit welchen Mitteln auch immer“.32 Selbst wenn die Verhandlungspartner des Diakonischen Werkes nicht das Transitgeschäft erkannt haben sollten, müßte dem BND (Bundesnachrichtendienst) dieses aufgefallen sein. Offensichtlich hat man die Maxime von Ludwig Erhard vergessen: Die aus dem Freikauf resultierenden Deviseneinnahmen der DDR sollten nicht dem SED-Regime, sondern der DDR-Bevölkerung zu Gute kommen. Da das gesamte Freikaufgeschäft unter größter Geheimhaltung abgewickelt wurde, konnte das Diakonische Werk die von der DDR gewünschten Güter nicht auf der Grundlage von öffentlichen Ausschreibungen preisgünstig einkaufen. Vielmehr bediente man sich von Vertrags- oder Vertrauensfirmen. Ob diese die preisgünstigsten Angebote auswählten, läßt sich nicht nachprüfen. Sollte der Einkaufspreis oberhalb des Wettbewerbspreises gelegen haben, dann konnte die KoKo beim Weiterverkauf einen zusätzlichen Gewinn erzielen (Arbitragegeschäft).
e) Die Abwicklung der Vereinbarungen In der Sitzung am 8. Juli 1964 im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen in Bonn wurden die praktisch-organisatorischen Regeln des Häftlingsfreikaufs festgelegt. Bereits am 19. August 1964 unterzeichnete Geißel im Ost-Berliner Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel den ersten Vertrag über das B-Geschäft, das aus Gründen den Geheimhaltung in Stuttgart und in Bonn diese Bezeichnung trug. Die Abwicklung der Vereinbarungen lief nach einem Schema ab, das sich nicht wesentlich änderte:
32
Przybylski, S. 326.
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Bonn legte die Freikaufliste, das Außenhandelsministerium das Warensortiment fest, hierüber wurde die Vereinbarung getroffen. Als Partner für die westdeutschen Firmen wurde auf der Ost-Berliner Seite die Intrac Handelsgesellschaft mbH (International Trade Corporation) benannt.33 Wenn die Warenlieferungen in einer bestimmten Zeit erfolgt waren, bestätigte dieses die Intrac. Dann wurde das Gesamtbzw. Innerdeutsche Ministerium unterrichtet, die A-Kontozahlungstermine und Summen wurden festgelegt, der Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung (Bischof Kunst) und die Lieferfirmen wurden informiert, das Diakonische Werk erhielt die Originalrechnungen, der Bevollmächtigte der EKD veranlaßte die A-Kontozahlungen an die westdeutschen Firmen. Die Warenlieferungen der westdeutschen Firmen an die Intrac waren von der Umsatzsteuer befreit. Am Ende des Jahres erfolgte die Abrechnung mit dem Gesamt- bzw. Innerdeutschen Ministerium. Die Rechnungsprüfung erfolgte nicht durch den Bundesrechnungshof, sondern durch den Leiter des Oberrechnungsamtes der EKD. Der Prüfungsbericht und der Brief von Bischof Kunst wurden dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes übergeben; offensichtlich hat es keine Nachprüfungen durch den Bundesrechnungshof gegeben. Die persönlichen und sächlichen Kosten für die Abwicklung des B-Geschäftes übernahm die Evangelische Kirche. Da sowohl in Ost als auch in West Geheimhaltung vereinbart war, hat man sich darum bemüht, die Zahl der Geheimnisträger so niedrig wie möglich zu halten, was nicht ausschloß, daß in interessierten Kreisen – insbesondre im Osten – dieses bekannt war. Aus diesem Grunde wurden als Lieferfirmen nicht die preisgünstigsten Anbieter durch öffentliche Ausschreibungen ermittelt, sondern man bediente sich eines festen Lieferantenkreises; das Diakonische Werk hat diese Firmen aus ihrem A-Geschäft übernommen. Westdeutsche Lieferfirmen: (1) Essenstahl – Essener Stahl- und Metallhandelsgesellschaft mbH für Kupfer, Silber, Quecksilber (2) Brenntag AG für Naturkautschuk, Erdöl (3) Seefahrt Reederei GmbH für Rohkaffee, Kakao, Industriediamanten (4) Hanielsche Handels GmbH für Wolframkonzentrate, Rohasbest (5) Dietrich Kieselhorst Import-Export für Industriediamanten (6) Hellmetex GmbH für Wolle (7) Verwi für Wolle (8) ab 1982 wurde die Firma Krupp Handels GmbH eingeschaltet. 33 Bemerkenswert ist, daß die Intrac die Rechtsform der GmbH hatte. In der DDR gab es keine ‚kapitalistischen‘ Gesellschaften, nur im Verkehr mit dem NSW (Nicht-SozialistischenWirtschaftsgebiet). In einer maschinenschriftlichen Aufzeichnung vom 4. Dezember 1989, die Manfred Seidel an Dr. Beil (Minister für Außenwirtschaft) sandte, beschäftigte die Intrac 545 Personen, das Gewinnvolumen betrug 1989 = 865,0 Mill. VM (Valuta-Mark = DM). Dazu gehörte auch der Ertrag aus dem Freikaufgeschäft.
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
Sicherlich waren die Mitarbeiter dieser Firmen zur Geheimhaltung verpflichtet. Dieser Überblick über die Abwicklung der Vereinbarungen auf westdeutscher Seite macht deutlich, daß es aus Gründen der Geheimhaltung kein ‚normales‘ Geschäft war. Daher ist es wahrscheinlich, daß nicht die günstigsten Marktpreise ermittelt wurden, so daß die KoKo beim Weiterverkauf zusätzliche Gewinne erzielen konnte. Die Abwicklung in der DDR wurde noch geheimnisvoller behandelt: In jeder Diktatur werden selbst banale Sachverhalte als vertraulich oder geheim eingestuft, dieses galt auch für die nachmalige DDR. Die weiter oben reproduzierte Vereinbarung vom 26. Juni 1989 über 60 Mill. DM wurde von Seidel (KoKo), Neukamm (Präsident des Diakonischen Werkes) und Frau Orth (Referentin des Diakonischen Werkes) unterschrieben. Seidel teilte bereits am 20. Juni – sechs Tage vorher – der Intrac mit: „Entsprechend des unterbreiteten Vorschlags wurde am 26. 06. 1989 im B-Geschäft eine Vereinbarung über … abgeschlossen.“ Bemerkenswert ist, daß Seidel gegenüber der Intrac einen Dienstbogen (Ministerium für Außenhandel – Bereich Kommerzielle Koordinierung) verwendete. Erstaunlich ist, daß Seidel das B-Geschäft als Grundlage für diese Vereinbarung nennt. Man kann unterstellen, daß die Intrac das B-Geschäft – Freikauf von DDR-Häftlingen – kannte. Aus dem Hinweis, „entsprechend des unterbreiteten Vorschlags …“ kann man schließen, daß die Bonner Seite die Warenwünsche des Ministeriums für Außenhandel ohne wesentliche Abstriche akzeptierte. Interessanter ist das kurze Schreiben von A. Schalck(-Golodkowski) vom 23. Juni an den Genossen Honecker: Im Gegensatz zum Schreiben von Seidel wird kein Dienstbogen verwandt, sondern auf einem Blatt Papier lediglich ‚A. Schalck‘ vermerkt, es wird nicht einmal eine vollständige Anschrift genannt. In seinem Schreiben vom 23. Juni wird dem Genossen Erich Honecker mitgeteilt, daß am 26. Juni eine Vereinbarung über 60,0 Mio. VM (DM) unterzeichnet wird. Es wird nicht auf das B-Geschäft oder eine andere Geschäftsgrundlage verwiesen, da offensichtlich Schalck unterstellt, daß Honecker weiß, wer und weshalb die Valuta Mark (DM) bereitstellen wird. Seidel hat seinen Brief an die Intrac ‚Mit sozialistischem Gruß‘, Schalck hingegen ‚Mit kommunistischem Gruß‘ unterschrieben. Kommt darin ein hierarchischer Unterschied zum Ausdruck? Beide Schreiben – insbesondere das von Schalck – sind in ihrer Anonymität Ausdruck der Geheimhaltung bis in die Spitzen der DDR, das heißt, daß man selbst auf dieser Ebene offensichtlich nicht bereit war, von einem Häftlingsfreikauf zu sprechen.
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
5. Die Franke-Hirt-Affäre
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Die Geheimhaltung in West und Ost hatten unterschiedliche Gründe und Intensität: Im Westen hatte man die Presse gebeten, nicht über den Freikauf zu berichten, denn RA Vogel hatte gewarnt, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil dann das ganze Freikaufgeschäft gefährdet würde. Sowohl die amtlichen Stellen als auch die Presse haben diese Geheimhaltung – von wenigen Ausnahmen abgesehen – respektiert, dennoch war es in einschlägigen Kreisen bekannt. Sicherlich hätte die Bundesrepublik dieses Geschäft gern an die große Glocke gehängt, um die DDR zu desavouieren, hierauf hat sie aber im Interesse der Häftlinge verzichtet. Im Osten hatte man Angst, daß bei einem Bekanntwerden eine Freikaufwelle ausgelöst würde; denn nur ein kleiner Teil der politischen Häftlinge – die es offiziell nicht gab – konnte freigekauft werden. Auch die systemkonformen Richter könnten kritisch fragen, warum Republikflüchtlinge, die sie – im Sinne der DDR-Gesetzgebung – ordnungsgemäß verurteilt hatten, gegen Devisen in die kapitalistische Bundesrepublik ausreisen durften. Die DDR-Regierung hätte sich in einem Erklärungsnotstand befunden. Daher wurde die Geheimhaltung strikt eingehalten. Noch problematischer sind die Vereinbarungen über die Bezahlung des Kaufpreises in Naturalien: Jedem Vertrag über den Kauf eines Gebrauchtwagen im Wert von etwa 10.000,– DM/ Euro liegt ein umfangreicher Formularvertrag zu Grunde. Die Vereinbarungen zwischen dem Diakonischen Werk und der KoKo – stellvertretend für die Bundesregierung und die DDR-Regierung – wurden über Lieferungen bis zu 60 Mill. DM auf einem Blatt Papier getroffen, ohne daß eine Nennung der Vertragspartner, der Unterschriftsberechtigten usw. erfolgte. Jeder Jurist müßte über diese Vertragsgestaltung verzweifeln, aber sie hat funktioniert, denn die DDR hat die Häftlinge freigelassen und die Bundesrepublik hat den Kaufpreis in Form der gewünschten Güter und Rohmaterialien bezahlt. Es dürfte ein seltner, vielleicht sogar einmaliger Vorgang sein, daß zwei Staaten über ihre Bevollmächtigten derartige Vereinbarungen getroffen und korrekt erfüllt haben. Trotz der ideologischen Unterschiede entsprach dieses der preußischen Tradition, denn in Ost und West verhandelten und handelten Deutsche.
5. Die Franke-Hirt-Affäre34 Der deutsch-deutsche Menschenhandel wurde unter größter Geheimhaltung durchgeführt. Später war er – als in großer Zahl Freigekaufte von Ost nach West transportiert wurden – ein offenes Geheimnis, insbesondre in den Personenkreisen, die die DDR unbedingt verlassen wollten.35 Auch in der Gegenwart ist das Freikauf34 Wir folgen Rehlinger, S. 91 – 102 (Der Franke-Hirt-Prozeß); Brinkschulte, S. 205 – 231 (Verschwundene Millionen: Affäre Franke-Hirt).
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
geschäft vom Geheimnis umwittert, zumal Archivunterlagen noch gesperrt und Zeitzeugen nicht zu Aussagen bereit sind. In dieser Atmosphäre erwuchs die Franke-Hirt-Affäre: Egon Franke (SPD) war von Oktober 1969 bis Oktober 1982 Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen (sein Nachfolger wurde Rainer Barzel). Edgar Hirt war als Ministerialdirektor ein enger Vertrauter von Egon Franke, der – unter Ausschaltung des Staatssekretärs – dem Minister unmittelbar unterstellt war. Franke, der einen bürokratischen Aufwand nicht schätzte, überließ diese Aufgaben Hirt. „Mit solchem Rahmen ausgestattet, konnte Hirt im Ministerium fast nach Belieben schalten und walten.“36 Finanzielle Hilfen für Kirchen und caritative Einrichtungen wickelten das Diakonische Werk und der Deutsche Caritas Verband ab. In den Jahren 1979 bis 1982 erhielt der Caritas Verband 15.152.130 DM zur Anschaffung von medizinischtechnischem Gerät. Hinzu kamen weitere finanzielle Hilfen, um Flüchtlinge aus der DDR zu unterstützen. Der ‚8er-Ausschuß‘ – ein Unterausschuß des Haushaltsausschusses – befaßte sich mit der Verwendung dieser Mittel. „Weder der Bundesrechnungshof (BRH) noch das Ministerium verlangten zunächst schriftliche Nachweise über die Verwendung der dem DW und dem DCV gewährten Mittel des Bundes. Begründet wurde dies mit der ‚besonderen Sensibilität‘ der kirchlichen Arbeit in der DDR und dem sich daraus ergebenden Bedürfnis besonderer Vertraulichkeit“.37 Hirt war bekannt, daß sowohl der Haushaltsausschuß des Bundestages als auch der Bundesrechnungshof keinen umfassenden Einblick in die Mittelverwendung des Ministeriums hatten. Er wandte sich an RA Stange und erklärte,38 daß sein Ministerium einen Weg suche, „Hilfe in besonderen humanitären Fällen zu leisten, die außerhalb der üblichen Vereinbarungen liegen würden. Das Ministerium dürfe jedoch aus Geheimhaltungsgründen nicht öffentlich in Erscheinung treten. Um das Vorhaben zu bewerkstelligen, werde Bargeld benötigt.“
RA Stange wandte sich an den Berliner Caritas-Direktor Heinz-Dietrich Thiel, dem mitgeteilt wurde, das Ministerium werde dem DCV (Deutscher Caritas Verband) zusätzliche Mittel – vor allem zur Beschaffung von medizinisch-technischem Gerät – bewilligen. „Aus diesen Geldern solle der DCV Berlin dann auf Anforderung Stanges Barbeträge an ihn auszahlen. Zur Bekräftigung konstatierte Stange, daß Franke dem Vorschlag Hirts zugestimmt habe. … Nachdem dies alles geregelt war, unterrichtete Hirt seinen Minister Franke 35 RA Wolfgang Vogel hat in einem Fernsehinterview berichtet, daß man ihn gefragt hat: „Was muß ich tun, damit ich (in das Zuchthaus) reinkomme, damit ich (in die Bundesrepublik) rauskomme?“. 36 Brinkschulte, S. 206. 37 Ebenda, S. 208 f. 38 Ebenda, S. 212.
5. Die Franke-Hirt-Affäre
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in dessen Dienstzimmer, daß die Kirchen einspringen würden …“, ohne daß Minister Franke den inneren Zusammenhang erkannte.39
Staatssekretär Rehlinger beschreibt ausführlich,40 daß RA Stange ohne besondere Begründung und Spezifikation dem Ministerium hohe Beträge in Rechnung stellte, die der Bundesrechnungshof nur bedingt akzeptierte. Stange erklärte Rehlinger, daß er den weitaus größten Teil des beim Ministerium angeforderten Betrages an Hirt ohne Quittung zurückgegeben habe, er wisse nicht, wofür Hirt das Geld benötigte. „Im übrigen berief er sich auf ein Schweigegebot von Bundesminister Franke und Hirt.“41 Auch Caritas-Direktor Thiel bestätigte, „daß Hirt unter Berufung auf eine Weisung von Franke bei ihm angerufen und um Rückgabe eines Teiles der Gelder, die das Ministerium dem Caritasverband zur Verfügung gestellt hatte, gebeten habe.“42 Ohne auf die einzelnen Finanztransaktionen einzugehen – die Brinkschulte detailliert beschreibt –, ist die Rückflußsumme interessant:43 „Insgesamt flossen 5,56 Millionen DM an ihn (Hirt) zurück, dazu müssen nochmals 460.000,– DM hinzugerechnet werden, die er an Stange auf dem Weg von ‚Sonderauslagenerstattung‘ in drei Teilbeträgen auf dessen Konto überweisen ließ. … Jedenfalls kam ab da (November 1982, Jk.) der Fall eines veruntreuenden und betrügerischen Spitzenbeamten ans Tageslicht, der von seinem Minister an der ganz langen Leine geführt wurde.“
Um zu vermeiden, daß Vogel und die Regierung der DDR aus der Presse von der Franke-Hirt-Affäre erfuhr und in den Verdacht der Bestechlichkeit kam, hat Rehlinger Vogel in einem Vieraugengespräch unterrichtet. Auf Frage eines Journalisten hat Vogel seine Reaktion wie folgt umschrieben:44 „Wenn ich bei der Mitteilung von Staatssekretär Rehlinger eine Mokkatasse in der Hand gehabt hätte, wäre sie mir aus der Hand gefallen.“ Am 14. März 1984 erhob die Staatsanwaltschaft Bonn Anklage, das Hauptverfahren wurde gegen Bundesminister a. D. Franke und Ministerialdirektor a. D. Hirt wegen Untreue in Tateinheit mit Urkundenunterdrückung vor dem Landgericht Bonn durchgeführt. Nach über hundert Verhandlungen endete der Prozeß 1986 mit einem Freispruch für Franke und einer Verurteilung von Hirt zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Es war ein mildes Urteil, denn das Gericht billigte Hirt zu, daß er 3,01 Mill. (von 6,02 Mill) DM nicht eigennützig verwendet, sondern hilfreich eingesetzt habe. „Der Verbleib der verschwundenen Millionen konnte bis zum heutigen Tag (1991) nicht aufgeklärt werden.“45 39 40 41 42 43 44 45
Ebenda, S. 213. Rehlinger, S. 91 f. Ebenda, S. 93. Ebenda, S. 94. Brinkschulte, S. 227 bzw. S. 229 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). Rehlinger, S. 101. Ebenda, S. 102.
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
6. Der Häftlingsfreikauf als Finanzierungsquelle Die von Schalck-Golodkowski46 geleitete KoKo hatte eine doppelte Funktion: Einerseits sollte sie dringend benötigte Devisen beschaffen47 und andererseits bestimmte DDR-Aufgaben – Unterstützung der DKP in der Bundesrepublik, Beschaffung von Embargo-Güter, Spionage usw. – finanzieren. Entscheidend war die Devisenbeschaffung, auf diesem Gebiet war er kreativ. Allerdings wird seine Bedeutung überbewertet: In den letzten Jahren der DDR hat Schalck-Golodkowski jeweils rund 1,5 Mrd. VM (Valuta-Mark = West-Merk) in den Fiskus ‚eingeschossen‘, er „führte seit Bestehen von KoKo (1966) bis zum Ende (1990) circa 27,8 Milliarden Valuta-Mark an den Staat ab, die er ‚erwirtschaftet‘ hatte.“48 Absolut war es viel, aber im Verhältnis zu den Valutaeinnahmen aus dem regulären DDR-Außenhandel nur etwa ein Siebtel bis ein Achtel. Die gesamtwirtschaftlichen Zahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schalck-Golodkowski immer dann mit Devisen bzw. Westprodukten einspringen konnte, wenn ein Engpaß auftrat oder die Nomenklatura besondere Wünsche hatte. Beispiel hierfür ist die Beschaffung von westlichen Personenkraftwagen. Wie aus dem beigefügten Dokument ersichtlich, wurde in der Ministerratssitzung am 18. August 1976 beschlossen, 20 Autos in Schweden zu kaufen. In diesem Ergebnisprotokoll sind mehrere Punkte bemerkenswert: Die Finanzierung des Aufkaufes von PKW in Schweden erfolgt außerhalb des Planes und wurde durch Sondergeschäfte zusätzlich erwirtschaftet. Zu den ‚Sondergeschäften‘ gehörte der Verkauf von DDR-Häftlingen an die Bundesrepublik. Sowohl für den Import als auch für die Finanzierung war der Leiter der KoKo Schalck-Golodkowski zuständig. Neben dem Vorsitzenden des Ministerrates und seinem Stellvertreter wurde nur noch Schalck-Golodkowski genannt. Abschließend wurde bestätigt, daß die Kaufsumme außerhalb des Planes erwirtschaftet werden konnte, so daß die Finanzierung gesichert war. Es sollten 20 Volvo-PKW zum Preis von je 35.000,– = 700.000,– VM (DM) gekauft werden. Es erscheint plausibel, daß Schalck-Golodkowski an seinen Stellvertreter, Manfred Seidel, die Weisung erteil hat, zusätzlich 10 Häftlinge zu verkaufen
46 Schalck-Golodkowski gehörte zu den schillerndsten Personen der DDR: „Für die einen ist er der gerissenste Gauner der ostdeutschen Republik, der das Ende der DDR voraussah, rechtzeitig diverses Kapital auf die Seite brachte und durch die Wende zum heimlichen Krösus wurde. Andere bescheinigen ihm ehrliches Engagement und effiziente Geschäfte, die nicht nur der Politbürokratie, sondern auch den Menschen in der DDR zugute gekommen seien“. So Przybylski, S. 229. 47 Zur Devisenbeschaffung gehörte auch die Einfädelung der ‚Strauß-Milliarden‘ in Höhe von nahezu 2 Mrd. West-Mark. 48 Przybylski, S. 326.
6. Der Häftlingsfreikauf als Finanzierungsquelle
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IV. Der ‚amtliche‘ Freikauf
6. Der Häftlingsfreikauf als Finanzierungsquelle
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(= rund 950.000,– DM). Damit konnte man nicht nur den Autokauf, sondern auch die Anschaffung von Winterreifen oder Ersatzteilen finanzieren. Bemerkenswert ist folgendes: Die Verfügung des Vorsitzenden des Ministerrates datiert 18. August 1976, Honecker hat sein Einverständnis bereits am 16. August 1976 gegeben, das heißt, daß der Autokauf und seine Finanzierung bereits vorher ‚abgesegnet‘ waren. Daß dieser Kaufvorgang mit Devisen nicht nur plausibel, sondern durchaus real war, bestätigt Przybylski:49 „Noch im Krisenjahr 1989 schlug er (Schalck-Golodkowski) Mittag vor, für die Creme der DDR 160 Autos vom Typ Citroen BX 19 zu bestellen. Die Finanzierung, so gaukelte er angesichts der prekären Devisenlage dem Wirtschaftssekretär vor, könnte ‚aus Wettbewerbsverpflichtungen‘ seines KoKo erfolgen. In Wahrheit bezahlte er die Staatskarossen vom Konto 628, also auch mit Geldern, die aus dem Häftlingsfreikauf stammten.“ Daß der Kauf nicht mehr realisiert werden konnte, lag daran, daß am 9. November 1989 die Mauer geöffnet wurde und die DDR unterging.
49
Przybylski, S. 294.
V. Das ‚1503-Verfahren‘ Neben dem ‚amtlichen‘ Freikaufgeschäft hat Frau Brigitte Klump ein eigenständiges Verfahren ‚entdeckt‘ und entwickelt, das allerdings unterschiedlich bewertet wird. Da es in Kooperation mit den Vereinten Nationen praktiziert wurde, kann man es auch als ‚UN-Verfahren‘ bezeichnen.1
1. Die Privatinitiative der Brigitte Klump Brigitte Klump hat an der Karl-Marx-Universität Leipzig (jetzt: Universität Leipzig) in der Fakultät Journalistik – das ‚Rote Kloster‘ genannt – studiert, es war die Ausbildungsstätte der journalistischen Nomenklatura der DDR. Es wurde versucht, jeden Studenten für die Mitarbeit beim Staatssicherheitsdienst zu verpflichten, die Erteilung des Diploms war abhängig vom Nachweis erfüllter Bewährungsproben für das MfS. Die Aufgabe von Brigitte Klump war, einen Freund an der Freien Universität in West-Berlin zu bespitzeln. Sie ‚dekonspirierte‘ – d. h., sie offenbarte sich ihrem ‚Opfer‘ – und floh im November 1957 nach West-Berlin. Dietrich Spangenberg – später Staatssekretär im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen – fragte Brigitte Klump, ob sie mit einem ihm gut bekannten und vertrauenswürdigen Ost-Berliner Juristen über die Gründe ihrer Flucht sprechen würde. Im Gespräch gab der Jurist zu erkennen, daß er Beauftragter des ZK (Zentralkomitees) der SED sei. Zum Gesprächspartner heißt es lakonisch: „Sein Name: Wolfgang Vogel“.2 – Brigitte Klump legte keinen Wert auf ein Diplom in Leipzig und eine Karriere in der DDR, sondern setzte ihr Studium an der FU in West-Berlin fort. Zwanzig Jahre später brach sie ihr Schweigen über die Erziehungsprinzipien in Leipzig und veröffentlichte das Buch ‚Das Rote Kloster‘, das ein Bestseller wurde. Hieraus ergab sich, daß sie sich für die deutsch-deutschen Beziehungen interessierte. Ende Januar 1979 unternahm ihr Neffe Klaus Klump von Ungarn aus einen Fluchtversuch, der scheiterte. Brigitte Klump wandte sich an die Berliner Außen1 Siehe Brinkschulte, S. 182 – 204; Rehlinger geht auf das ‚1503-Verfahren‘ nicht ein. Frau Klump hat uns ihr umfangreiches Privatmaterial zur Auswertung überlassen und erlaubt, daraus zu zitieren. 2 Brinkschulte, S. 183 (In der Fußnote 1 auf S. 203 heißt es: ‚Informationen nach Gespräch mit Brigitte Klump‘).
2. Die Entwicklung des ‚1503-Verfahrens‘
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stelle des Innerdeutschen Ministeriums und bat um Hilfe bei der Familienzusammenführung. Doch anstatt sich bürokratischen Arbeitsabläufen zu beugen, bombardierte sie bundesdeutsche Dienststellen mit Briefen und Telegrammen. Schließlich wurde ihr Neffe anläßlich des 30. Jahrestages der Gründung der DDR im Rahmen einer allgemeinen Amnestie aus der Haft entlassen, aber die Ausreise nach dem Westen nicht erlaubt. Am 31. März 1980 teilte das Innerdeutsche Ministerium Brigitte Klump mit: „Vor der beabsichtigten Publizitätskampagne muß ich ganz eindringlich warnen. Ich muß darauf hinweisen, daß jede öffentliche Behandlung von Einzelfällen die Chance für eine positive Regelung praktisch zerstört.“3
2. Die Entwicklung des ‚1503-Verfahrens‘ Auf Empfehlung eines peruanischen Diplomaten setzte sich Brigitte Klump mit dem deutschen UN-Botschafter, Rüdiger von Wechmar, in Verbindung, der sie am 17. Juni 1980 in New York empfing und hilfreiche Hinweise gab, er verwies sie an die UN-Menschenrechtskommission in Genf (Center for Human Rights). Dort wurde ihr mitgeteilt, daß der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (ECOSOC = Economic and Social Council) am 27. Mai 1970 die Resolution 1503 (XLVIII) verabschiedet hatte (daher die Bezeichnung ‚1503-Verfahren‘), die sich mit dem ‚Verfahren für die Behandlung von Mitteilungen mit Bezug auf Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten‘ befaßt.4 Brigitte Klump erkannte, daß – wenn sie die groben und systematischen Menschenrechtsverletzungen der DDR vor die Menschenrechtskommission bringen würde – ihre Beschwerden in das UN-Verfahren gebracht werden könnten. Der UN-Wirtschafts- und Sozialrat ermächtigte die Unterkommission für die ‚Verhinderung von Diskriminierungen und für den Schutz von Minderheiten‘ eine Arbeitsgruppe aus fünf Mitgliedern zu ernennen, die einmal im Jahr zehn Tage lang in nicht öffentlichen Sitzungen vor der Tagung der Unterkommission zusammentritt. Diese Arbeitsgruppe solle alle Mitteilungen und die Erwiderungen der Regierungen der Unterkommission „zur Kenntnis bringen, die anscheinend ein Regelbeispiel schwerer und zuverlässig bezeugter, im Rahmen des Mandats der Unterkommission liegender Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten erkennen lassen“, so Ziff. 1 der 1503-Resolution. Die Unterkommission entscheidet, ob die von der Arbeitsgruppe vorgelegten Fälle vor die Kommission für Menschenrechte gebracht werden sollen, diese wiederum entscheidet, ob der Vorgang an den Rat weitergeleitet wird und ob ein ad hoc-Komitee gebildet werden soll, das nur mit Zustimmung des betreffenden Staates vor Ort Untersuchungen durchführen kann.
Ebenda, S. 185. Siehe: Resolution 1503 (XLVIII) des Wirtschafts- und Sozialrates vom 27. Mai 1970, abgedruckt in: Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen, herausg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 4. Aufl., Bonn 2004, S. 94 – 96. 3 4
V. Das ‚1503-Verfahren‘
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Bevor Menschenrechtsverletzungen zu Untersuchungen in dem betreffenden Staat – nur mit dessen Zustimmung – durchgeführt werden konnten, mußten mehrere komplizierte Prüfungen überstanden werden. Auch wenn die meisten Beratungen nicht öffentlich waren, bestand die Gefahr, daß derartige Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gelangten, was für den betreffenden Staat abträglich war. Deshalb haben diese Staaten Verbündete gesucht, um zum Beispiel ad hoc-Komitees zu verhindern. Trotz des sehr begrenzten Aktionsradius der UN-Menschenrechtskommission scheute nicht nur die DDR, daß in der UNO über ihre Menschenrechtsverletzungen beraten wurde; denn das bedeutete, daß der betreffende Staat an den Pranger gestellt wurde. So zum Beispiel hat das Center for Human Rights am 13. März 1981, 2. Juni, 8. Juli, 7. September, 27. Oktober, 5. Dezember 1983, 28. Juni, 20. Juli 1984, 20. März, 2. August 1985, 15. Januar 1986 usw. Brigitte Klump gleichlautend mitgeteilt: „… A copy of your new communication will be sent to the authorities of the country concerned (d. h. die DDR, Jk.) and a summary of it will be confidentially submitted to the Commission on Human Rights and to the Sub-Commission an Prevention of Discrimination and Protection of Minorities.“ Dieser Brief wurde von Jakob Möller, Chief, Communication Unit, unterschrieben.
Diese Übermittlung der von Brigitte Klump der UNO in Genf eingereichten Sammelpetitionen an die DDR dürften diese beunruhigt haben. Auch wenn es sich nicht um unmittelbare politische Konsequenzen handelte, dürften diese Interventionen einen moralischen Druck ausgeübt haben. Dieses wird daran deutlich, daß die DDR in Einzelfällen zu Konzessionen bereit war. Frau Klump hat uns mitgeteilt, daß sie nach der Wende Einsicht in ihre Stasi-Akte bei der Gauck-(Birthler-)Behörde nehmen konnte. Daraus geht hervor, daß sich die Stasi mit ihr sehr intensiv beschäftigte und sie als ‚Staatsfeind‘ bezeichnet hat. Auch dieses ist ein Zeichen dafür, daß Brigitte Klumps Initiativen Wirkung zeigten.
3. Probleme des ‚1503-Verfahrens‘ Das ‚1503-Verfahren‘ erforderte – wie bei den Vereinten Nationen üblich – ein besonderes Procedere: Wichtig war, daß die UN-Menschenrechtskommission sich nicht mit Einzelfällen, sondern nur mit Regelfällen befaßte, d. h., es mußte sich um mehrere Fälle handeln. Nachdem der Spiegel über die ‚Methode 1503‘ berichtet5 und Klump in ihrem Buch das ‚Rote Kloster‘ (September 1980) dieses Verfahren dargestellt hatte, gingen sowohl in Genf als auch bei ihr zahlreiche Anfragen ein. Aus diesen und anderen Quellen hat sie Sammelpetitionen mit jeweils mehr als 20 Ausreiseanträge zusammengestellt und diese in Genf eingereicht. Wie oben dargelegt, wurden diese der DDR zugeleitet. 5
Siehe den Bericht: Methode 1503, in: Der Spiegel, Nr. 36 vom 1. September 1980, S. 28 f.
3. Probleme des ‚1503-Verfahrens‘
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Jeder Ausreisewillige und vor allem Republikflüchtlinge waren Repressalien ausgesetzt und wurden sogar in Haft genommen. Um dieses zu vermeiden, hat Brigitte Klump den DDR-Generalstaatsanwalt Josef Streit (1911 – 1987) mit endlosen Telegrammen geradezu bombardiert und diesen gebeten, daß die Petenten nicht behelligt oder sogar bestraft werden. Streit hat nicht geantwortet, nach Klump aber dafür Sorge getragen, daß diese nicht verfolgt wurden. Auch Erich Honecker soll die Stasi angewiesen haben, die auf den Sammellisten genannten Personen nicht zu kriminalisieren. Dagegen hat uns RA Vogel telefonisch mitgeteilt, daß dieses nicht immer zutraf. Diese widersprüchlichen Aussagen konnten nicht geklärt werden. Der erste Erfolg bestand darin, daß ihr Neffe Klaus Klump und seine Eltern am 13. November 1980 aus der DDR ausreisen konnten, damit war verbunden, daß sie – formal – aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen wurden.6 Damit hatte sie das ‚1503-Verfahren‘ etabliert, mit dem auch anderen Menschen geholfen werden konnte. Aufgrund des Spiegel-Berichtes wurde sie so zahlreich um Hilfe gebeten, daß sie in kurzer Zeit eine Sammelbeschwerde mit 23 Namen zum Thema Sippenverfolgung zusammenstellen konnte. Jede Sammelbeschwerde mußte nicht nur in deutscher Sprache, sondern auch entweder in Englisch oder Französisch in Genf eingereicht werden. Am 26. Januar 1981 reichte Klump ihre zweite Sammelliste mit 23 Petitionen ein. „Und die Frühjahrssitzung der Menschenrechtskommission endet damit, daß die DDR sich auf der Anklagebank der Vereinten Nationen zu verteidigen hat. Erstmalig in der Geschichte der UNO werden die Verhaltensweisen eines Ostblockstaates vor diesem Forum diskutiert“.7 Im April 1981 folgte ihre dritte Sammelbeschwerde. Am 11. April 1981 schrieb Frau Klump an die Division of Human Rights in Genf:8 „… Weitere Petitionen, von mir vorgelegt, werden folgen. Ich sammele diese Petitionen aus eigenem Entschluß, ohne Auftraggeber und ohne finanzielle Hilfe von irgendeiner Seite. Ich bin eine Privatperson, Hausfrau, politisch engagiert in der Literatur, keiner Partei verpflichtet. … Wenn es deutsch-deutsche Abreden gibt, deutsche Angelegenheiten nicht vor das Forum der Weltöffentlichkeit zu tragen, sollten sie für die Vereinten Nationen nicht bindend sein.“ Mit diesem Hinweis auf Öffentlichkeit hat sie, die Hintergründe der deutschdeutschen Verhandlungspolitik noch nicht erkennend, in ein Wespennest gestochen.
Zwischen dem (privaten) UN-Verfahren der Brigitte Klump und dem ‚amtlichen‘ Freikaufverfahren des Innerdeutschen Ministerium bestand ein Spannungsverhältnis: Der Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium, Dietrich Spangenberg, hat in seinem Schreiben vom 27. Februar 1981 an Brigitte Klump hervorgehoben, daß es dem Ministerium darum gehe, sich allein am Einzelschicksal zu orientieren und daß
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Brinkschulte, S. 190 f. Ebenda, S. 191 f. Ebenda, S. 191.
V. Das ‚1503-Verfahren‘
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sich an dieser Arbeit auch künftig nichts ändern werde. Damit war die Politik des ‚amtlichen‘ Freikaufverfahrens festgeschrieben. Das schloß aber nicht aus, daß von amtlicher Seite Frau Klump inoffiziell Zuspruch gezollt wurde. Brigitte Klump war von ihren humanitären Erfolgen so beseelt, daß sie ein Buch unter dem Titel ‚Freikauf hat keinen Preis – Ein deutsch-deutscher Report‘ plante, in dem sie darstellte, daß die Unrechtspolitik der DDR nicht mit Freikaufgeldern belohnt, sondern dieser ihre Rechtsbrüche vorgehalten werden sollten. Plötzlich stellte der Verlag die anlaufenden Werbekampagnen ein, Journalisten waren nicht mehr bereit, Artikel oder Sendungen zu plazieren, Rezensionsexemplare wurden nicht besprochen. Offensichtlich war die Bonner Stillhalte- und Schweigepolitik wirksam. Beide deutsche Staaten, die 1973 Mitglieder der Vereinten Nationen wurden, hatten kein Interesse, das 1503-Verfahren und selbst das ‚amtliche‘ Verfahren publik zu machen. RA Vogel hat die freigekauften Häftlinge geradezu beschworen, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, denn dann würde das gesamte Verfahren eingestellt. Dieses erklärt auch, warum Brigitte Klump gegen die offizielle Mauer des Schweigens gelaufen ist und Rehlinger sie in seinem Buch nicht einmal erwähnt. Diese ‚Schweigespirale‘ ließ Frau Klump nicht beirren und sie erreichte ab September 1987 sogar eine Abkürzung des Verfahrens: Sie teilte vorab jeder Behörde mit, daß neue Petitionen eingegangen seien und sie bat um schnelle Erledigung, um ein formelles Verfahren zu vermeiden. Sie „informiert die UNO in Genf sowie den UNO-Präsidenten der 42. Sitzungsperiode, den Stellvertretenden Außenminister der DDR, Peter Florin, in New York und das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Keiner ihrer Petenten wird von Staatsorganen bedrängt“.9 Brigitte Klump hat – im wahrsten Sinne des Wortes – ‚Himmel und Hölle‘ in Bewegung und Handlungszwang gesetzt, um ihr Ziel zu erreichen, Menschen aus dem Unrechtsstaat DDR zu befreien.
4. Ergebnisse Brigitte Klump war eine ‚Einzelkämpferin‘, deren Aktivitäten weder von der großen Politik noch von Institutionen getragen wurden. Das galt sowohl für die bürokratische Abwicklung der Arbeit als auch für die Finanzierung der damit verbundenen Kosten. Nachdem ihr Familienvermögen aufgebraucht war, erhob sie ab Frühjahr 1982 zur teilweisen Kostendeckung eine Unkostenpauschale von 750,– DM pro Fall.10 Damit mußten die Kosten für die Erarbeitung der Lebensläufe, die Übersetzung ins Englische, die umfangreichen Telefon- und Telegrammkosten, die Reisen zu den verschiedenen Behörden (einschl. der UNO in Genf) usw. gedeckt werden. Der 9 10
Brinkschulte, S. 197. Ebenda, S. 200.
4. Ergebnisse
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Bayrische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß hat wegen Vollstreckungsmaßnahmen beim Finanzministerium vermittelt. Der nachmalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, hat ihr eine Geldzuwendung gewährt. Für ihr Engagement erhielt sie 1984 das Bundesverdienstkreuz. Nachdem das eheliche Vermögen und auch die Rente verbraucht waren, setzte ihr Mann im Januar 1988 die Scheidung durch. „Aber sie machte dennoch weiter, weil unterlassene Hilfe für sie ein Verbrechen wäre.“11 Bis zum Fall der Mauer hat Brigitte Klump 1.003 Fälle mit mehr als 4.000 Personen durch das 1503-Verfahren aus der DDR herausgeholt. Ohne ihre Hartnäckigkeit, ihre Ausdauer und Obsession wäre dieses Ergebnis nicht erzielt worden. Frau Klump ist davon ausgegangen, daß das UN-Verfahren nicht mit dem Freikaufverfahren des Diakonischen Werkes identisch ist, das heißt, daß für ihre Fälle die Bundesregierung keine ‚Kopfgebühr‘ zu zahlen hatte. Aber: „… die Bundesregierung zahlte auch für Fälle, die gar nicht von ihr gelöst wurden. … Der bis zuletzt amtierende innerdeutsche Staatssekretär Walter Priesnitz bestätigte: ‚Es gibt überhaupt keine Fälle, für die wir nicht bezahlt haben.‘“12 Dieses wurde uns auch von RA Vogel bestätigt. Jakob Möller vom Center for Human Rights in Genf fand es bemerkenswert, daß die Bundesregierung für UN-Fälle an die DDR gezahlt hat. Offensichtlich hat man es in Bonn versäumt, in den Verhandlungen mit RA Vogel zwei Listen aufzustellen: Einmal die ‚amtliche‘ Freikaufliste, für die die Bundesregierung das Kopfgeld zahlte, zum anderen die Liste mit den Namen des UN-Verfahrens, die ‚kostenlos‘ in die Bundesrepublik übersiedeln konnten. Weder im Bundesarchiv noch im Archiv des Diakonischen Werkes in Berlin konnten wir feststellen, daß man sich zumindest um eine Trennung der Fälle bemüht hat. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob die DDR am längeren Hebel saß und die Bundesrepublik – humanitär denkend und handelnd – im Interesse der Inhaftierten eine solche Diskussion nicht in Gang setzen wollte. Man kann auch unterstellen, daß die DDR um jeden Preis Devisen brauchte und daher von vornherein eine solche Diskussion abgelehnt hätte.
11 12
Ebenda, S. 201. Ebenda, S. 201 f.
VI. Versuch einer Bewertung des deutsch-deutschen Menschenhandels Bereits in der Einleitung haben wir darauf hingewiesen, daß der deutsch-deutsche Menschenhandel nicht eindeutig einem ‚Fachbereich‘ zugewiesen werden kann: Es handelt sich um politische Fragen, um solche der Justiz, der Ökonomie und nicht zuletzt um die Humanität. Je nach dem subjektiven Standort wird man dem einen oder dem anderen Aspekt den Vorrang geben. Könnte man die damaligen Unterhändler befragen, dann würden die Vertreter des Diakonischen Werkes den Gedanken der Humanität in den Vordergrund stellen, die der DDR würden – eine freie Meinungsäußerung unterstellt – bekennen, daß es um die Maximierung der Deviseneinnahmen ging, die freigekauften Häftlinge dürften dankbar für die Freiheit und die Befreiung aus dem Unrechtssystem sein, die Juristen aus Ost und West dürften eine gespaltene Meinung haben. Es ist ein vielschichtiges und in sich verwobenes Problem. Trotz dieser Problematik wollen wir den Versuch wagen und eine Bewertung des deutsch-deutschen Menschenhandels vornehmen. Hierbei werden wir nur drei Aspekte behandeln: Einmal die schillernde Persönlichkeit des Rechtsanwaltes Wolfgang Vogel, sodann die Frage prüfen, ob die Bundesrepublik durch die DDR erpreßbar war und schließlich, ob das Humanitätsideal sich im Gegensatz zum Ökonomieprinzip der DDR befand.
1. RA Wolfgang Vogel: Ein marxistischer Humanist? Wie weiter oben zitiert, hat Wolfgang Vogel – ein gläubiger Katholik – dargelegt, daß er vor allem ein Marxist und zugleich ein Humanist sei. Vogel1 (Jahrgang 1925) hat in Jena und Leipzig Jura studiert, war kurze Zeit im DDR-Ministerium der Justiz tätig, wurde 1954 Rechtsanwalt in Ost-Berlin und 1957 auch in West-Berlin zugelassen. Ab 1962 wurde er mit der Lösung humanitärer Probleme im Ost-West-Konflikt betraut; 1963 war er staatlicher Beauftragter für den Freikauf und den Austausch von politischen Häftlingen, 1965 für die Zusammenführung getrennter Familien, 1969 offizieller ‚Bevollmächtigter der DDR für humanitäre Fragen bei der Bundesregierung‘, 1973 ‚Persönlicher Beauftragter des Staatsratsvorsitzenden für die Lösung humanitärer Probleme‘.
1
Wer war wer in der DDR?, S. 877 f.
1. RA Wolfgang Vogel: Ein marxistischer Humanist?
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Vogel erhielt am 17. Oktober 1969 die Ehrendoktorwürde (Dr. h. c.) der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg, nachdem die Humboldt-Universität in Ost-Berlin dem Wunsch des Generalstaatsanwaltes der DDR nicht entsprochen hatte. Anläßlich seines 60. Geburtstages wurde Vogel der Titel ‚Professor‘ verliehen (Professur für Strafprozeßrecht an der Akademie in Potsdam).2 Die SED ehrte Vogel ‚anläßlich des 26. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (1975) in Würdigung außerordentlicher Verdienste beim Aufbau und bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und der Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik‘ mit der Verleihung des Vaterländischen Verdienstordens in Gold. Erst 1982 trat Vogel in die SED ein. In einer Verpflichtungserklärung vom 11. November 1953 erklärte sich Wolfgang Vogel bereit, für die Sicherheitsorgane (Stasi) der DDR zu arbeiten:3
Abteilung VI / II
Berlin 11. 11. 1953 Verpflichtungsbericht
Am 10. 11. 1953 wurde Vogel, Wolfgang beschäftigt als Oberreferent im Ministerium der Justiz in das Zimmer 120 bestellt. Mit Vogel wurde eine formale Unterhaltung geführt betreffs seiner Arbeit. Vogel, Wolfgang geb. 30. 10. 1925 in Wilhelmsthal Beruf: Jurist z. Zt. beschäftigt als Oberreferent in der Abtlg. Gesetzgebung im Ministerium der Justiz wohnhaft: Neuenhagen bei Berlin, Kastanienstr. 38 Parteilos Familienstand: verheiratet
… Es ist notwendig, daß in Erfahrung gebracht wird wer diese Personen sind. Ich fragte ihn, ob er bereit wäre den Sicherheitsorganen dabei zu helfen. Dies willigte Vogel ohne Bedenken ein und sagte, daß auch er ein Interesse daran hat, daß alle Elemente, die sich den feindlichen Agenturen zur Verfügung stellen und damit unsere Regierung und das werktätige Volk schädigen, der gerechten Strafe überführt werden. Ich sagte ihm, daß wir uns für alle Dinge interessieren die unserer Regierung und der Partei von Schaden sind. Vogel brachte zum Ausdruck, daß er es als deutscher Mensch als seine Pflicht ansieht, alle diese Elemente zu melden.
2 3
Zu diesen akademischen Auszeichnungen siehe Brinkschulte, S. 65 – 67. Entnommen aus Brinkschulte, S. 264 f.
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VI. Versuch einer Bewertung
Er wählte sich den Decknamen „Eva“ und verpflichtete sich alle seine Berichte mit diesem Namen zu unterschreiben. Vogel bekam die Telefonnummer 55 53 61 App. 287, die er aber nur in dringenden Fällen benutzen soll. Der nächste Treff wurde mit Vogel am 23. 11. 53 – 16:00 Uhr – vereinbart. (Johde) Sachbearbeiter
Mit dieser Verpflichtungserklärung hat Vogel bekundet, daß er Marxist und als solcher ein pflichtbewußter DDR-Bürger war. Am 5. Dezember 1989 wurde Vogel vorübergehend in Haft genommen, ihm wurde der Vorwurf der verbrecherischen Erpressung gemacht. Danach legte er sein Regierungsmandat nieder, 1991 verzichtete er auf die Zulassung als Anwalt. 1992 wurde seine Anwaltskanzlei durchsucht und im März 1992 wurde er wegen Fluchtgefahr verhaftet, nach Stellung einer Kaution durch die katholische Kirche entlassen. Im August 1992 räumte Vogel ein, daß er für die Stasi gearbeitet habe. Im Juli 1993 wurde er wegen des Verdachts der Erpressung ausreisewilliger Bürger in 51 Fällen sowie der Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft genommen, im Oktober 1993 wurde Anklage wegen Meineids erhoben und im Januar 1994 wurde er gegen Kaution aus der U-Haft entlassen. Am 9. Januar 1996 wurde Vogel von der 6. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts wegen Meineids in einem Fall und Erpressung in vier Fällen zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und wegen Falschbeurkundung in fünf Fällen zu einer Geldstrafe von 92.000,– DM verurteilt. Die Verurteilung ging in die Revision: Der 5. (Leipziger) Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat das Urteil des Landgerichts Berlin durch Beschluß vom 22. April 1998 (5 StR 5 / 98) aufgehoben und Wolfgang Vogel freigesprochen.4 Der BGH hat den Freispruch wie folgt begründet: „Wolfgang Vogel hat über mehrere Jahrzehnte in vielen tausenden Fällen Menschen zur Ausreise aus der DDR verholfen. Er ist bis zum Niedergang des DDR-Staatssystems von der Bundesregierung und von zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik Deutschland als zuverlässiger Verhandlungspartner in Ausreiseangelegenheiten in Anspruch genommen worden. Die verhältnismäßig hohe Effektivität Vogels beim Einsatz für ausreisewillige DDR-Bürger setzte eine enge Bindung an das Führungssystem der DDR voraus. … Für seinen Erfolg in Ausreiseangelegenheiten mußte Vogel die von der DDR-Führung vorgegebenen Bedingungen einhalten. … Die vorliegende, vom Bundesgerichtshof für straflos erachtete Fallgestaltung ist ein Auswuchs der menschenrechtswidrigen Verweigerung von Ausreisefreiheit durch das DDR-System …“.
Wie bereits weiter oben zitiert, hat Rehlinger von ihm ein positives Bild gezeichnet: „Wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Gegenseitige Sympathie ist 4 Mitteilung der Pressestelle des Bundesgerichtshofes Nr. 41 / 1998 vom 27. Mai 1998 (Maschinenschrift, 3 Seiten).
1. RA Wolfgang Vogel: Ein marxistischer Humanist?
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vielleicht das richtige Wort, um die Basis unseres Verhältnisses zu beschreiben.“5 In der von dem Kirchenjuristen Reymar von Wedel (Jahrgang 1926) herausgegebenen Festgabe zum 80. Geburtstag von Vogel6 haben unter anderem Klaus Bölling, Hans Otto Bräutigam, Hans-Dietrich Genscher, Lothar de Maiziere, Wolfgang Schäuble, Helmut Schmidt, Manfred Stolpe, Hans-Jochen Vogel und Greta Wehner seine humanitären Verdienste gewürdigt. Stellvertretend sei der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher zitiert:7 „Er war ein Anwalt verschiedener Bundesregierungen und er hat in vielen, vielen Fällen Menschen in Not und in Bedrängnis geholfen. Das ist es, was zählt, das ist es, was bleibt, … Meiner Gratulation und meinen guten Wünschen zur Vollendung des 80. Lebensjahres füge ich meinen Dank hinzu für das, was Wolfgang Vogel im Dienste der Menschlichkeit geleistet hat.“
Sämtliche Autoren der Festgabe haben die humanitäre Leistungen hervorgehoben, Vogel hat hunderte oder sogar tausende Dankschreiben erhalten: Er arrangierte den Freikauf von 33.775 Häftlingen, vermittelte über 250.000 DDR-Bürgern die Ausreise in die Bundesrepublik und den Austausch von rund 150 Agenten (darunter den abgeschossenen US-Piloten Francis Powers gegen den KGB-Spion Rudolf Abel und am 1. Oktober 1981 Günther Guillaume) sowie bei der Besetzung der bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau durch ausreisewillige DDR-Bürger.8 Dieses positive Bild des marxistischen Humanisten Wolfgang Vogel wird getrübt, wenn man berücksichtigt, welche Honorare er (und auch Stange) für seine humanitäre Tätigkeit aus dem Westen erhalten hat. Wir gehen von der Prämisse aus, daß die folgenden Angaben von Brinkschulte9 unwidersprochen zutreffend sind: Danach hat Wolfgang Vogel zuletzt eine jährliche Pauschale von rund 360.000,– DM von der Bundesregierung erhalten, außerdem rechnete er im Jahr 1,5 Mill. Mark (offensichtlich DM) Gebühren bei der Rechtsschutzstelle der Bundesregierung ab. Es erhebt sich die Frage, wieso Vogel – Bürger der DDR und Rechtsvertreter seines Staates – sowohl ein Fixum erhalten als auch (Rechtsanwalts-)Gebühren (vermutlich nach der Gebührenordnung der Bundesrepublik) in West-Berlin oder in Bonn abgerechnet hat? Als Bürger und Rechtsvertreter der DDR konnte und mußte er sein Honorar in Ost-Berlin einfordern. Es dürfte wohl ein einmaliger Vorgang sein, daß die Bundesregierung nicht nur ihren eigenen Rehlinger, S. 45. Reymar von Wedel: Wolfgang Vogel: Eine Festgabe, Berlin, ohne Jahresangabe (2005). Es ist keine klassische Festschrift, denn es fehlt eine Skizze des Lebenslaufes von Vogel und vor allem fehlen jegliche kritische Anmerkungen. Staatssekretär Rehlinger gehörte nicht zu den Gratulanten. 7 Ebenda, S. 40 – 43, zitiert S. 42 f. 8 Aus: Wer war wer in der DDR?, S. 878. Zum Agentenaustausch siehe Brinkschulte, S. 232 – 235. 9 Brinkschulte, S. 87 f. 5 6
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VI. Versuch einer Bewertung
Verhandlungspartner (RA Stange und RA von Wedel) honoriert hat, sondern auch den ‚gegnerischen‘ Anwalt entlohnte. Sofern möglich, müßte aus den Akten in Ost und West herausgefunden werden, wer die Idee hatte, Vogel aus Bonn zu besolden: War es seine Idee, war es Stange oder war man in Bonn auf diesen Gedanken gekommen? Und was hat man mit diesen finanziellen Zuwendungen bezweckt? Wollte man ihn ‚kaufen‘? Wenn diese Absicht bestanden haben sollte, dann hat man das DDR-System verkannt; denn zum einen hat sich Vogel selbst als Marxisten bezeichnet, und zum anderen kannte er die imaginäre rote Linie und hätte niemals sein Wohlstandsniveau aufs Spiel gesetzt, da er jederzeit als Verhandlungspartner abberufen werden konnte. Es gab und es gibt keine rationalen Gründe, den Ost-Anwalt Vogel aus dem Westen zu honorieren. Selbst wenn Vogel in Ost-Berlin auf die Westhonorare 50% Steuern abgeführt haben sollte, konnte er ein erhebliches Vermögen ansammeln:10 Die Berliner Kriminalpolizei stieß bei der Berliner Filiale der Deutschen Bank auf ein Depot, in dem sich Wertpapiere im Wert von etwa 2,7 Mill. DM befanden. Außerdem gehörten zu seinem Vermögen Immobilien im geschätzten Gesamtwert von über 2,5 Mill. sowie ein Bar-, Wert- und Festgeldvermögen von rund 1,5 Mill. DM, höhere Devisenbeträge hatte er bei der KoKo deponiert. „Um die Ausreisegenehmigung aus dem Arbeiter- und Bauern-Staat zu erreichen, mußten in zahlreichen Fällen Geldbeträge gezahlt werden. Nach Berichten von Wolfgang Vogel war ‚im Wege der Gegenleistung‘ die Ausreise aus der DDR möglich.“11 Wurde auch aus dieser Quelle das Vermögen angesammelt? Auch für den (bundesdeutschen) RA Jürgen Stange war die humanitäre deutschdeutsche Tätigkeit nicht von Nachteil:12 Stange, der seit Anfang der 60er Jahre im Rahmen der besonderen humanitären Bemühungen für die Bundesregierung tätig war, besaß kein offizielles Mandat des Bundes, sondern ersatzweise eines der Kirchen. Erst ab 1. Januar 1977 schloß das Innerdeutsche Ministerium mit ihm einen Mandatsvertrag, der bis zum 31. Dezember 1977 lief und sich um jeweils ein Jahr verlängerte. Neben dem Honorar wurden die sonstigen Auslagen sowie die Mehrwertsteuer auf der Basis von Quartalsabrechnungen erstattet. Im Innerdeutschen Ministerium wurde festgelegt, daß Stange ab 1. Oktober 1977 getrennt von den Auslagen zusätzlich notwendige Auslagen abrechnen durfte. Es sollte sich um Auslagen handeln, die durch politische Häftlinge – Zahlungsverpflichtungen in der DDR oder Übergangshilfen – entstanden; hierfür konnte Stange keine Belege beibringen. Die ‚notwendigen Auslagen‘ sollten 15.000,– DM jährlich nicht übersteigen. Allerdings entwickelte sich dieser ‚Sonderauslagenbetrag‘ rasch: Für 1978 rechnete Stange 12.512,– DM ab, 1980 waren es 67.600,– DM, deshalb wurde der Jahresbetrag auf 60.000,– DM erhöht. Aber im 10 11 12
Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 220 f.
1. RA Wolfgang Vogel: Ein marxistischer Humanist?
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selben Jahr rechnete er bereits 107.100,– DM ab und 1982 den Rekordbetrag von 556.200,– DM. Die Bundesregierung – vertreten durch Staatssekretär Rehlinger – kündigte mit Schreiben vom 29. August 1983 mit sofortiger Wirkung Stanges Mandatsvertrag. Kündigungsgrund war die von Stange abgegebene anwaltliche Versicherung im Zusammenhang mit den ‚zusätzlichen notwendigen Auslagen‘, konkret ging es um Abrechnungen in Höhe von 460.000,– DM. Offensichtlich hat Stange dieser Kündigung widersprochen und er und das Bundesministerium fanden hinsichtlich der Beendigung des Mandatsvertrages eine Einigung. Allerdings hatten bereits 1968 Staatssekretär Krautwig und Bischof Kunst eine Ablösung von Stange gefordert, da die Verhandlungsergebnisse mit der DDR nicht befriedigend waren, aber Minister Herbert Wehner entschied sich für Stange.13 Im Vergleich zu den Anwälten Vogel und Stange hat Frau Brigitte Klump im Interesse der in ihrer Freiheit bedrohten DDR-Bürger nicht nur ihre Ehe, sondern sich auch finanziell ruiniert. Staatssekretär Rehlinger betrachtete Vogel als ein Phänomen, das sowohl von der politischen Spitze der DDR akzeptiert als auch von der Bundesregierung nicht nur respektiert, sondern geschätzt wurde; die Festgabe von Reymar von Wedel ist Ausdruck dieser Wertschätzung. Bemerkenswert ist, daß Vogel von 1962 / 63 bis 1989 – Fall der Mauer – diesen Status behalten hat. Rehlinger führt Vogels vermittelnde Position darauf zurück, „weil er im Grunde immer Anwalt geblieben ist, zwar der öffentlichen Beachtung nicht abhold, aber nicht von dem Drang beseelt, eine Karriere in einem öffentlichen Amt zu machen, eine hohe Staatsfunktion anzustreben. So blieb er, obwohl mit dem Apparat der SED eng verbunden, doch in gewisser Weise außen vor, ein Außenseiter im Gefüge, der niemandem im Weg stand, der keinen Stolperstein für andere darstellte und deshalb gelitten wurde. Vogel hatte sicher nicht nur Freunde in der DDR. Er wurde wegen seiner Freiheit und seines Lebensstils wohl auch ein wenig scheel und neidvoll angesehen, aber er bedeutete für keinen Funktionär eine Gefahr. Und, dies sollte nicht vergessen werden, durch ihn erzielte die DDR beträchtliche Einnahmen, für die, wirtschaftlich gesehen, kein Gegenwert aufgebracht werden mußte.“14
Sicherlich enthält diese Charakteranalyse wesentliche Elemente für die in Ost und West geschätzte Funktion als Vermittler, ob sie aber erschöpfend ist, mag man bezweifeln; denn Rehlinger geht nicht der Frage nach, welche Stellung die Justiz im allgemeinen und die Rechtsanwälte im besonderen in der DDR hatten. Entscheidend war auch, ob Vogel als Rechtsanwalt im eigenen Interesse oder als Humanist handelte. In Art. 127 der Verfassung der DDR von 1949 ist bestimmt: „Die Richter sind in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unter13 14
Ebenda, S. 27. Rehlinger, S. 46.
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VI. Versuch einer Bewertung
worfen“. Aber: Bereits im April 1950 waren über die Hälfte der Richter und 86 % der Staatsanwälte SED-Mitglieder.15 In der Verfassung der DDR von 1974 ist in Art. 94 (1) bestimmt: „Richter kann nur sein, wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist …“. Nach sowjetischem Vorbild wurden in der DDR Anwaltskollegien gebildet. 1988 gab es nur noch 26 ‚selbständige‘ Anwälte, dazu gehörte auch Wolfgang Vogel.16 „Vogel seinerseits betonte immer wieder seine Stellung als freier Advocat, … der aber nicht als Funktionär in den Staatsapparat eingeordnet und dessen Zwängen wie dessen Denken unterworfen sei“.17 Rehlinger unterstellt, daß ein ‚selbständiger‘ DDR-Anwalt so frei wie ein West-Anwalt gewesen sei, das ist ein Irrtum. Die ‚Justizfunktionäre‘ der DDR waren ‚unerbittliche Waffenträger der Partei‘, sie unterlagen einer ständigen Kontrolle; denn die SED-Führung duldete keine Sonderrolle oder Unabhängigkeit der Rechtsorgane. Die Organe der Justiz – wozu auch die wenigen ‚selbständigen‘ Rechtsanwälte gehörten – waren Teil des Staatsapparates. Dieses dürfte für Wolfgang Vogel im besonderen Maße gegolten haben, da er ständigen Kontakt zum kapitalistischen Klassenfeind hatte. Man kann unterstellen, daß seine West-Kontakte und seine Verhandlungsführung mit dem Diakonischen Werk ‚observiert‘ worden sind und daß er vertrauliche Gespräche mit der Staatssicherheit und mit der Staatsführung gehabt hat, ohne formell IM gewesen zu sein. Vogel genoß Freizügigkeit in Ost und West, er konnte beliebig nach West-Berlin fahren und sich aufgrund seiner hohen West-Honorare die Konsumgüter leisten, die dem ‚normalen‘ DDR-Bürger verwehrt waren. Wie Literaten und Kabarettisten hatte auch er ‚die Schere im Kopf‘, die ihm sagte, was er zu tun und was er zu lassen hatte. Wenn er die Interessen der DDR verletzt hätte, dann hätte ihm die DDRRegierung jederzeit die Verhandlungsvollmacht entziehen können, damit hätte er seinen Lebensstandard verloren. Berthold Brecht hat treffend gesagt: „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“. Wer will schon seinen angenehmen Wohlstand verlieren? Unabhängig davon, mit welcher Intensität Vogel Marxist war: Er unterlag der ideologischen Kontrolle und genoß die kapitalistischen Privilegien. Das schloß nicht aus, daß Vogel den westlichen Verhandlungspartnern Hinweise – im Westen, wenn sie nicht abgehört wurden – gab und sich durchaus human verhielt. Diese ideologischen Grenzüberschreitungen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß er als Marxist der DDR treu ergeben war und sein mußte, aber sich gleichzeitig um Hilfe für bedrängte Menschen bemühte.
Schroeder, S. 107 f. Auch Rechtsanwalt Wolfgang Schnur (Jahrgang 1944) war ‚selbständiger‘ Anwalt, leitend in der Evangelischen Kirche tätig, der 1988 Oppositionelle verteidigte; nach langem Leugnen gestand er, von 1965 – 1989 IM der Staatssicherheit gewesen zu sein. RA Vogel war von 1953 bis zum 14. März 1957 IM. So Brinkschulte, S. 61. 17 Rehlinger, S. 45 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 15 16
2. War die Bundesrepublik erpreßbar?
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Über RA Wolfgang Vogel kann man das sagen, was Friedrich Schiller im Prolog zu seinem dramatischen Gedicht ‚Wallenstein‘ gesagt hat: Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.
Wolfgang Vogel kann man nicht mehr befragen, wir haben es wiederholt versucht, doch er blieb verschlossen. Daher schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. 2. War die Bundesrepublik erpreßbar? Die Initiative zur Freigabe von Häftlingen gegen materielle Leistungen ging von der DDR aus. Sie bestimmte den Umfang des Austausches und – zumindest anfangs – den Preis, den die Bundesrepublik zu entrichten hatte. Da es sich um ein Geschäft Menschen gegen Geld oder Güter handelte, kann man durchaus ökonomische Prinzipien anwenden:
Offensichtlich befand sich die DDR in der Position eines Monopolisten. Ein Monopolist verfügt über drei Verhaltensweisen (Aktionsparameter): Er kann als Preis-, Mengen- oder Optionsfixierer agieren: Als Preisfixierer setzt er den Preis, daraus ergibt sich die Absatzmenge; als Mengenfixierer bestimmt er die Absatzmenge, woraus sich der Preis ableitet (die erwarteten Mengen bzw. Preise werden als Erwartungsparameter bezeichnet). Der Optionsfixierer kann sowohl den Preis als auch die Menge fixieren und abwarten, ob die Nachfrage das Angebot annimmt oder ablehnt. Wenn man diese Aktionsparameter auf das Angebotsverhalten der DDR und das Nachfrageverhalten der Bundesrepublik überträgt, dann ist zwischen der Anlaufphase bis 1977 und der Zeit danach zu unterscheiden: Die Zahl der verkauften Häftlinge hat die DDR autonom – offensichtlich nach politischen Gesichtspunkten – entschieden (sie agierte als Mengenfixierer). Hinsichtlich des Kopfgeldes (Preisfixierer) griff man auf den Betrag von 42.000,– DM je freigekauften Häftling im Probelauf zurück. Da noch keine Preisvorstellungen vorhanden waren, dürfte es sich um eine diskretionäre Größe gehandelt haben. In der Folge einigte man sich auf ein Kopfgeld von 40.000,– DM, unabhängig von Strafmaß, Alter, Ausbildung und Beruf.18 Neben dem Festbetrag hat es offensichtlich für bestimmte Berufsgruppen erhöhte Kopfgelder gegeben.19 Dieses Durcheinander wurde 1977 durch einen Fest18 Der Potsdamer Doktorand Jan Philipp Wölbern, der seine Dissertation über den Freikauf von DDR-Häftlingen schreibt, hat in der Frankfurter Allg. Zeitung vom 4. August 2011 unter dem Titel ‚Für unsere Republik‘ einen umfangreichen Aufsatz veröffentlicht, der eine lebhafte Diskussion auslöste. Hierbei ging es auch um die Höhe des Kopfgeldes. Seine ‚Entdeckung‘, daß die DDR unterschiedliche Kopfgelder verlangte, ist keineswegs überraschend, wenn man weiß, daß die DDR von der Ausbildungs-(‚Produktions-‘)kostentheorie ausging; denn die Ausbildungskosten eines Masseurs sind niedriger als die eines Arztes. 19 ‚Pro Mann waren das 40.000,– Mark, aber das war der Durchschnittswert, für einen Facharzt wurden auch 200.000,– Mark bezahlt. Pfarrer bekam man fast umsonst, sozusagen
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VI. Versuch einer Bewertung
betrag in Höhe von 95.847,– DM abgelöst (offensichtlich haben Juristen diesen ‚krummen‘ Betrag ausgehandelt). Aber auch hier gab es Ausnahmen, Beispiel hierfür ist der Fluchthelfer Benedickt Graf von und zu Hoensbroech:20 Er wurde erwischt und zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Für ihn setzten sich die Königin Fabiola und der französische Botschafter Seydoux ein, aber die DDR blieb hart und verlangte ein Kopfgeld von zwei Mill. DM. Bundesminister Mende ließ über Stange bei Vogel anfragen, ob ein Graf im Arbeiter- und Bauernstaat fünfzigmal wertvoller als ein Arbeiter sei. Der junge Hoensbroech wurde mit dem nächsten Transport gegen ein Kopfgeld von 40.000,– DM freigelassen. Aber die DDR ließ nicht locker und die Familie Hoensbroech hat noch zusätzlich 410.000,– DM gezahlt. In diesen Fällen wurden die Gespräche mit besonderem Eifer, ja leidenschaftlich und gelegentlich auch erbittert geführt. Beide Seiten standen sich kraß gegensätzlich gegenüber.21 Im Fall Hoensbroech setzte sich die DDR als Preisfixierer durch. Die DDR als Monopolist konnte jederzeit ‚liefern‘, denn es gab genügend politische Häftlinge. Im übrigen ist vermutet worden, daß sie fähig war, aufgrund der vagen Gesetzeslage Häftlinge zu ‚produzieren‘, das heißt, politisch mißliebige Personen zu verhaften. Im Gegensatz dazu befand sich die Bundesrepublik in einer schwachen Position: Sie konnte – wie im Fall Hoensbroech – energisch auftreten und die DDR politisch in eine unangenehme Lage bringen. Die Bonner Verhandlungsbasis war auch deshalb schwach, weil sie sich stets in der Pflicht fühlte, den Menschen im anderen Teil Deutschlands beizustehen, folglich mußte sie im Interesse der in Not befindlichen Menschen Konzessionen machen. Dennoch bestand – zumindest theoretisch – die Möglichkeit, das ‚Liefermonopol‘ der DDR aufzubrechen: Es ist die Frage aufgeworfen worden, aus welchem Grunde die DDR den Häftlingsfreikauf angeschoben und ausgebaut hat. Wollte man nach den Ursachen für dieses Verhalten forschen, dann bieten sich drei Erklärungsansätze an: Erstens, daß man aus humanitären Gründen die Häftlinge in die Bundesrepublik abschob. Dieses Argument ist nicht überzeugend, denn die DDR hätte die Gesetzgebung humanisieren und zum Beispiel die Republikflucht nicht mehr kriminalisieren können. Zweitens konnte die DDR Interesse daran haben, bekannte Dissidenten nicht mehr einzukerkern, sondern – wie Wolf Biermann – 1976 auszubürgern. Und drittens – hier als Beigabe.‘ So Dr. Jörg Bernhard Bilke: Finster wie die Seele von Walter Ulbricht, in: Frankfurter Allg. Zeitung vom 27. August 2011. Dr. med. Reinhard Gnauck (von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte) zitiert Staatssekretär Rehlinger in seinem Beitrag ‚Häftlingskauf: Wie auf dem Viehmarkt‘, in: Frankfurter Allg. Zeitung vom 22. August 2011: Er teilte vertraulich mit: ‚Es geht dabei zu wie auf einem Viehmarkt‘. 20 Rehlinger, S. 65 f. Eine etwas andere Darstellung des Falles Hoensbroech gibt Reymar von Wedel: Als Kirchenmann durch die Mauer – Erinnerungen eines Zeitzeugen, Berlin 1994, S. 67 f. 21 Rehlinger, S. 65.
2. War die Bundesrepublik erpreßbar?
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dürfte der entscheidende Grund für den Häftlingsfreikauf liegen – war man an der Erhöhung der Deviseneinnahmen interessiert, die weder durch die Humanisierung des Strafrechtes noch durch eine Ausbürgerung erreicht werden konnte. Wie stark die DDR unter dem Devisenmangel litt und bei der Devisenbeschaffung sogar zu wirtschaftlich verlustreichen Maßnahmen griff, hat Rolf Kühnert22 drastisch zum Ausdruck gebracht: „Hauptsache cash, cash, cash – egal, was es kostet.“ Noch größer war die Devisennot der DDR, als der Bayrische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß die nach ihm benannten ‚Strauß-Milliarden‘ vermittelte: Anfang der 80er war die DDR aufgrund ihrer Verschuldung, des westlichen Kreditboykotts und der Reduzierung der sowjetischen Erdöllieferungen in eine Liquiditätskrise geraten.23 Negatives Beispiel war die Volksrepublik Polen, die 1982 ihre Zahlungsunfähigkeit erklären mußte. Da sich die DDR in einer existentiellen Notlage befand, mußte unbedingt die Zahlungsunfähigkeit vermieden werden: „Sein oder Nichtsein, das war die Frage. Wir wollten den Sozialismus nicht dem Diktat des Internationalen Währungsfonds preisgeben“.24 In dieser Situation überbrachte der Unternehmer Josef März Schalck-Golodkowski ein Gesprächsangebot des Bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß. Ein erstes Gespräch fand am 5. Mai 1983 statt, in dem ein Kredit in zwei Raten von je 500 Mill. DM ins Gespräch kam. Nach Schalck-Golodkowski war die DDR nicht bereit, als Gegenleistung politische Konzessionen zu machen. Es waren zwei Kreditverträge, die zwischen der Bayrischen Landesbank und westdeutschen Banken einerseits und der DDR-Außenhandelsbank andererseits abgeschlossen wurden: Der erste Kreditvertrag über 1 Mrd. DM wurde am 1. Juli 1983 und der zweite am 25. Juli 1984 über 950.000,– DM unterzeichnet, für den die Bundesregierung bürgte, hierfür hatte die DDR ihre Transiteinnahmen zu verpfänden. Die nachträglich beschönigende Behauptung von Schalck-Golodkowski, die DDR sei nicht bereit gewesen, für Geld ihre Souveränität einzuschränken, stand nur auf dem Papier: „Denn als Gegenleistung begann die SED-Führung Ende 1983 mit dem Abbau der automatischen Selbstschußanlagen, der Erhöhung der Zahl der Häftlingsfreikäufe25 und der Genehmigung einer steigenden Zahl an Ausreisen“.26 Die DDR hat auch die Minenfelder geräumt. Da die DDR die UN-Konvention über das Verbot des Mineneinsatzes gegen die Zivilbevölkerung unterschrieben hatte und diese Verpflichtung am 1. Dezember 1983 in Kraft trat, kann man die Minen-
Kühnert (Stellvertretender Leiter der Abteilung Bauwesen des ZK der SED), S. 167. Die DDR mußte ihren jährlichen Exportgewinn von 5 bis 6 Mrd. DM für Zins- und Tilgungsraten ausgeben. Schalck-Golodkowski, S. 285. 24 Ebenda, S. 285 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 25 Wie wir noch darlegen werden, ist die erhöhte Zahl der Freikäufe keine Gegenleistung für die Kreditgewährung, sondern Ausdruck der dringend benötigten Devisenbeschaffung. 26 Schroeder, S. 268 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 22 23
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VI. Versuch einer Bewertung
räumung nicht als Gegenleistung bezeichnen. Auch die freundlichere Abfertigung an den Grenzübergängen war ein Teil der Gegenleistungen. Wir halten sowohl die Kreditgewährung als auch die Gegenleistungen der DDR – Honecker lud Strauß zu einem Gespräch ein – für bemerkenswert für die Frage, ob die Monopolposition der DDR aufgebrochen werden konnte: Schalck-Golodkowski gibt zu, daß der Kreditboykott der westlichen Banken die sozialistischen Länder empfindlich getroffen hat. Da man nicht – wie Polen – die Zahlungsunfähigkeit erklären und sich dem Diktat des Weltwährungsfonds unterwerfen wollte, verpfändete sie Transiteinnahmen und machte politische Konzessionen. Es ist die Frage, warum die Bundesrepublik nicht das Freikaufvolumen reduziert oder temporär sogar ausgesetzt hat, um gemeinsam mit den Banken die DDR in eine noch größere Devisennot zu bringen. Im Gegenteil: Mitte der 80er Jahre stieg das Freikaufvolumen, um bis 1989 auf hohem Niveau zu stagnieren. Tabelle 10 Freikaufvolumen 1984 bis 198927 Jahr
Haftentlassene
Kosten in DM (Mill.)
1984
2.236
390,095
1985
2.669
209,101
1986
1.450
249,430
1987
1.209
207,841
1988
1.048
234,162
1989 Insgesamt
1.840
269,974
10.452
1.560,603
Es bedarf der Klärung, warum bei reduzierter Zahl der Haftentlassenen die Freikaufsumme auf einem hohen Niveau verharrte. Von 1964 (das Jahr 1963 ist zu vernachlässigen) bis 1989 wurden rund 32.000 Häftlinge für nahezu 3,4 Mrd. DM freigekauft; in sechs Jahren (1984 – 1989) wurden 10.452 Häftlinge für 1,561 Mrd. DM freigelassen, das entspricht nicht ganz 50% der Freikaufsumme für 25 Jahre. Hier wird deutlich, daß die DDR die dringend benötigten Deviseneinnahmen ohne politische Konzessionen realisieren konnte. Nicht aus humanitärer, wohl aber aus politökonomischer Sicht hätte die Bundesregierung den Bankenboykott der DDR begleiten sollen, um das Angebotsmonopol der DDR aufzubrechen; denn dann hätte die Chance bestanden, das Kopfgeld zu 27
Brinkschulte, S. 23 f.
3. Humanität oder Ökonomie?
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senken oder bestimmten Häftlingsgruppen – Spione und Fluchthelfer – zur Freiheit zu verhelfen. Es ist nicht erkennbar, daß man zu einem solchen Schritt bereit war.
3. Humanität oder Ökonomie? Der Freikauf der DDR-Häftlinge hat zahlreiche Aspekte, einer der wichtigsten ist der der Humanität. Es erhebt sich aber die Frage, ob die DDR aus Gründen der Humanität oder der Ökonomie Häftlinge verkauft hat. In der DDR wurde Humanismus als „Streben nach Menschlichkeit (Humanität) und menschenwürdiger Daseinsgestaltung“ definiert.28 Die Humanität beinhaltet jene Ideen und Bestrebungen, die auf die Ausbildung sowie Vervollkommnung und Freiheit des Menschengeschlechts gerichtet sind. Es ist zwischen dem antiken, bürgerlichen und sozialistischen Humanismus zu unterscheiden: Der bürgerliche Humanismus, der sich gegen die Macht der Kirche und feudale Privilegien wandte, blieb im wesentlichen auf den Kreis von Gelehrten beschränkt. Der sozialistische Humanismus bildete eine neue Qualität der humanistischen Ideen heraus: „Um die freie, allseitige Entwicklung des menschlichen Individuums zu ermöglichen (Selbstverwirklichung), muß die Arbeiterklasse die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend verändern und gemeinsam mit allen Werktätigen die sozialistische Gesellschaft aufbauen“ (Hervorhebung im Original, Jk.). Zu den humanistischen Werten gehören „die Rechte und Freiheiten, als gleichberechtigte Bürger das gesellschaftliche Leben mitzugestalten und die schöpferischen Fähigkeiten zu entfalten“. Wenn man diese abstrakten Postulate mit der Realität in der DDR vergleicht, dann wird evident, daß gerade die verweigerte Selbstverwirklichung der Menschen die Republikflucht provozierte und – wenn sie scheiterte – zur Inhaftierung führte. Hätte die DDR das Humanitätsprinzip praktisch angewandt, dann hätte sie die diskriminierenden Vorschriften nicht in das Strafgesetzbuch aufnehmen dürfen. Dann aber wäre die Existenz der DDR gefährdet gewesen. Der Widerspruch zwischen der Theorie und der Alltagsrealität macht deutlich, daß die DDR keine humanitären Interessen hatte. Folglich konnte sie nur materielle Interessen haben, mit der Bundesrepublik ‚ins Geschäft zu kommen‘, um Devisen zu erwerben. Neben dem Devisenhunger dürfte es noch einen politischen Grund gegeben haben: Die DDR konnte sich auf elegante Weise der Systemkritiker und Dissidenten – der Unruhestifter – entledigen. Außerdem soll sie gelegentlich kriminelle Elemente ‚untergeschoben‘ haben. Es wäre auch zu prüfen, ob die DDR nicht damit Haftkosten gespart hat. Hatte die Bundesrepublik humanitäre oder ökonomische Interessen? 28 Stichwort ‚Humanismus‘, in: Kleines Politisches Wörterbuch, Neuausgabe 1988, OstBerlin 1989, S. 392 – 393, zitiert S. 392 (die folgenden Zitate stammen aus diesem Artikel, ohne Seitenangabe).
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VI. Versuch einer Bewertung
Im Gegensatz zur DDR hatte die Bundesrepublik kein materielles Interesse, denn sie hat nicht Geld erhalten – die DDR-Mark war vollkommen uninteressant –, sondern hat harte Devisen gezahlt. Zu dieser Zahlungsbereitschaft bekannte sich Rehlinger:29 „Gewiß, es war ein höchst unschöner Handel: Menschen gegen Geld. Ein Geschäft mit den Unterdrückern, mit denen, die für die Not der Menschen verantwortlich waren. Unter moralischen Aspekten keine feine Sache, wenn es denn zu Verabredungen käme. Aber gab es nicht die Verpflichtung, dem Nächsten gegenüber, der unschuldig leidet? Wer verstieß denn gegen die Moral – der, der Menschen gegen Geld freiläßt, oder der, der bezahlt, um politisch Verfolgten zu helfen? Für mich (Rehlinger) gab es keinen Zweifel und hat es durch all die Jahre hindurch nie gegeben“.
Die Frage, ob Humanität oder Ökonomie das Freikaufgeschäft bestimmt haben, kann nur differenziert beantwortet werden: Die DDR hatte hehre sozialistische Humanitätsideale, die sie mit ihrer Politik permanent verletzte; der Verkauf der Häftlinge an den Klassenfeind hatte ökonomische (Devisen-)Gründe. Im Gegensatz dazu ließ sich die Bundesrepublik ausschließlich von humanitären Motiven leiten, sie gab ‚schnöden Mammon‘ (so Rehlinger), um Menschen aus ihrer Not zu befreien. Über die Parteigrenzen hinweg wurde diese Politik in Bonn akzeptiert.
29
Rehlinger, S. 20 f.
Anhang Überlegungen zum Ursprung des Freikaufs der DDR-Häftlinge Staatssekretär Rehlinger berichtet, daß Rechtsanwalt Jürgen Stange aufgrund seiner persönlichen Kontakte zu Rechtsanwalt Wolfgang Vogel Ende 1962 mitteilte, „daß die DDR bereit sei, in größerem Umfang politische Häftlinge gegen materielle Leistungen freizulassen.“1 Aus diesem vagen Hinweis ist das System des Häftlingsfreikaufs entstanden. Es gibt Anlaß anzunehmen, daß dieser ‚Anstoß‘ von Ost-Berlin über RA Stange an die Bundesregierung in Bonn einen anderen Ursprung hatte: DER SPIEGEL hat im März 1962 berichtet, daß für die DDR bei der Treuhandstelle für den Interzonenhandel ein westdeutscher Kredit in Höhe von drei Mrd. West-Mark ‚eingekommen‘ sei.2 Aufgrund der uns vom Bundesarchiv Koblenz zur Verfügung gestellten Unterlagen ergibt sich ein folgendes Bild:3 „Der für den Interzonenhandel zuständige Delegationsleiter der SBZ (die Bezeichnung ‚DDR‘ war damals noch nicht üblich) hat der Treuhandstelle für den Interzonenhandel gegenüber zum Ausdruck gebracht, daß die SBZ den Wunsch habe, Güter in großem Umfang auf der Grundlage eines langfristigen Kredites zu beziehen“. Es handelte sich um die folgenden Wünsche: (1) Bezug von jährlich 3 Mio. to Steinkohle und Koks auf 10 Jahre = 30 Mio. to, Gesamtwert (2) Bezug von Maschinen und industriellen Ausrüstungen, Gesamtwert (3) Bezug von landwirtschaftl. Erzeugnissen, Chemikalien, Textilien und anderen Gütern, Gesamtwert Insgesamt
2,550 Mrd. DM 0,500 Mrd. DM 0,065 Mrd. DM 3,115 Mrd. DM
Rehlinger, S. 16. Siehe den Artikel: DDR-Kredit – Über die Mauer, in: DER SPIEGEL, Nr. 22 vom 30. Mai 1962, S. 21 – 22. Zitate werden ohne Seitenangabe gemacht. (Den Hinweis auf den DDR-Kreditantrag verdanken wir Alexander Koch, der an der Universität Heidelberg eine Dissertation zum Thema Freikauf von DDR-Häftlingen anfertigt). 3 Bundesarchiv Koblenz: (a) Kabinettsprotokolle aus dem Jahr 1962: 30. Kabinettssitzung am Mittwoch, dem 30. Mai 1962, Editionsband 1962, S. 276 – 280; (b) Wünsche der SBZ auf Abschluß von Kreditabkommen mit der Treuhandstelle für den Interzonenhandel; (c) Entwurf eines Schreibens des Bundeswirtschaftsministeriums (Staatssekretär Dr. Westrick) an den Staatssekretär im Bundeskanzleramt (ohne Datum), offensichtlich handelt es sich um die Vorlage für die Kabinettssitzung. Die zu (b) und (c) genannten Akten waren als VS (Verschlußsache) bzw. geheim klassifiziert. Das Bundesministerium für Wirtschaft hat die VS-Einstufung am 18. Februar 1996 aufgehoben. 1 2
84
Anhang
Der SBZ schwebte vor, die Bezahlung dieser Güter durch Gegenlieferungen in natura – Mineralöl, Braunkohlenbriketts und andere Güter – vorzunehmen. Die Gegenlieferungen sollten 1965 bzw. 1967 beginnen und sich über mehrere Jahre erstrecken. In diesem Aktenvermerk ist nichts über den Zins des Kredites gesagt. In der Vorlage von Staatssekretär Dr. Westrick für die Kabinettssitzung sind die Lieferwünsche der SBZ spezifiziert; wichtig war, daß der Kredit erst 1983 abgedeckt sein würde, es wurde erwähnt, daß er verzinst werden soll, ein Zinssatz wurde aber nicht genannt. Die Liefer- und Kreditwünsche der SBZ wurden sowohl aus politischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht geprüft. Aufgrund von Ressortbesprechungen sollte der Warenkredit an große politische Konzessionen der SBZ geknüpft werden, zum Beispiel Fortfall der Mauer und freien Personenverkehr innerhalb von Berlin. Doch die Ressorts stellten fest: „Mit solchen politischen Zugeständnissen ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu rechnen“. Daß die SBZ dringend westliche Devisen benötigte, um westliche Industriegüter zu kaufen, geht – gemäß Bericht des SPIEGEL – daraus hervor, daß Ost-Berliner Wirtschaftsfunktionäre Anfang März 1962 während der Frühjahrsmesse in Leipzig bei den Engländern um einen größeren Kredit anfragten, aber die Engländer hielten sich an das Prinzip: ‚Trade, not aid‘. Da entschloß sich Ulbricht zum letzten Schritt und fragte über die Treuhandstelle für den Interzonenhandel in Bonn an. Möglicherweise hat Ost-Berlin die gewünschte materielle und finanzielle Hilfe aus Bonn als Kompensation für die Massenflucht vor dem Mauerbau angesehen. Das Bundeskabinett hat sich in seiner 30. Sitzung am Mittwoch, dem 30. Mai 1962 unter dem Tagesordnungspunkt 7 mit dem ‚Wunsch der SBZ auf Abschluß von Warenkreditabkommen mit der Treuhandstelle für Interzonenhandel‘ befaßt: Vor Beginn der Sitzung wurde die Vorlage des Bundesministeriums für Wirtschaft verteilt, zu der Staatssekretär Dr. Westrick Ausführungen machte. Im Kabinettsprotokoll wird festgehalten: „Er (Dr. Westrick) ist der Auffassung, daß der Wunsch der SBZ nur in Erwägung gezogen werden sollte, wenn dafür von der anderen Seite wichtige politische Konzessionen gemacht werden, z. B. hinsichtlich eines freien Reiseverkehr zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetzone. Der Bundeskanzler ist der Meinung, daß die Sowjetzone veranlaßt werden sollte, einen förmlichen Antrag im Sinne ihrer mündlichen Anregungen zu machen, da hierin das offizielle Eingeständnis der schlechten Wirtschaftslage der Zone praktisch enthalten sein würde“. (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.)
Das Kabinettsprotokoll endet ohne einen Beschluß oder eine Empfehlung. Bemerkenswert ist, daß am Ende des Protokolls auf eine Fußnote verwiesen wird. Dort heißt es wörtlich: „Das ‚Neue Deutschland‘ hatte am 30. Mai Berichte über ein Kreditersuchen der DDR als Hetzkampagne qualifiziert und Bezugswünsche der DDR vielmehr als ein Angebot zur Beseitigung der Absatzprobleme der Westdeutschen Steinkohle dargestellt“.
Anhang
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Es war offensichtlich, daß Bonn an die Warenlieferungen zu günstigen Konditionen wesentliche politische Konzessionen knüpfen würde, so den Abbau der Mauer oder zumindest deren Durchlässigkeit, den freien Reiseverkehr innerhalb von Berlin und zwischen beiden Teilen Deutschlands. Angesichts dieser Bonner Forderungen ist Ost-Berlin ‚zurückgerudert‘, damit war der Ost-Berliner Luftballon geplatzt. Dennoch blieb in Ost-Berlin das Problem, daß die SBZ / DDR dringend Devisen benötigte, um ihre veraltete Wirtschaft zu modernisieren. Die folgenden Ausführungen basieren nicht auf Belegen aus den Akten, sondern sind realitätsnahe Plausibilitätsüberlegungen:4 Sowohl in formellen als auch in informellen Beratungen und Gesprächen wurde das Problem der Devisenbeschaffung – möglichst ohne harte politische Auflagen – gewälzt. Es erscheint plausibel, daß in einem dieser Gespräche irgendein Funktionär den Gedanken hatte, man könne gegen materielle Leistungen aus der DDR Häftlinge freilassen. Dieses Tauschgeschäft hätte für die DDR den großen Vorteil, daß keine politischen Auflagen verbunden seien. Sowohl die Kreditgewährung als auch der Verkauf der Häftlinge hatte für die DDR und auch für die Bundesrepublik Vor- und Nachteile: Für die SBZ / DDR bestanden die Vorteile der Kreditgewährung darin, daß kurzfristig erhebliche Devisenbeträge für Investitionen zur Verfügung standen; der Nachteil war, daß Bonn die West-Mark nur gegen politische Auflagen gewährte und daß der Kredit verzinst und zurückgezahlt werden mußte. Der Vorteil des Häftlingsfreikaufs lag darin, daß damit keine poltischen Auflagen verbunden waren, keine Zinsen gezahlt und das Darlehen nicht zurückzuzahlen war. Der entscheidende Nachteil bestand darin, daß der Devisenzufluß nicht sofort in einem Betrag, sondern in Raten über viele Jahre erfolgte. Für die Bundesrepublik war offensichtlich die Kreditgewährung die günstigere Lösung, weil sie dann politische Konzessionen durchsetzen konnte. Da die Lösung nicht konsensfähig war, war der Häftlingsfreikauf aus humanitärer Sicht eine günstige Lösung, allerdings handelte es sich um nicht rückzahlbare Kaufpreise, die die Bundesrepublik ökonomisch tragen konnte. Entscheidend war das Verhalten der SBZ / DDR. Es erscheint überzeugend, daß auf diesem oder einem ähnlichen Wege die Idee des Häftlingsfreikaufes geboren wurde. Man schaltete den RA Vogel ein, der sich 4 Auf Anfrage hat uns Frau Professor Dr. Christa Luft (Jahrgang 1938, Rektorin der Hochschule für Ökonomie sowie nach der Wende Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats und Ministerin für Wirtschaft in der Modrow-Regierung) mitgeteilt, daß sie 1962 junge Assistentin war und keinen Zugang zu den vertraulichen politischen Entscheidungen hatte. Zeitzeugen wie der DDR-Außenhandelsminister Dr. Gerhard Beil und der Co-Vorsitzende des Ausschusses für Innerdeutschen Handel, Prof. Dr. Erich Freund, leben nicht mehr. Daher ist man auf Plausibilitätsüberlegungen angewiesen. DER SPIEGEL teilte mit, daß man Dokumente und Daten nur für den eigenen Bedarf rückwirkend für zehn Jahre sammele, eine umfangreiche Recherche sei personell nicht zu bewältigen.
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an RA Stange wandte, der diesen Gedanken – wie dargestellt – der Bonner Regierung übermittelte. Wie von der DDR erwartet, fiel er in Bonn auf fruchtbaren Boden. Daraus entwickelte sich ein florierendes Geschäft, durch das die DDR die dringend benötigten Devisen erhielt. Es waren die 1962 gewünschten rund 3,4 Mrd. West-Mark.
Es ist bekannt, daß die DDR politische Häftlinge gegen Devisen verkauft hat, aber die Einzelheiten des deutsch-deutschen Menschenhandels sind selbst 20 Jahre nach der Wende noch geheimnisumwittert: Manche Zeitzeugen – wie der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel – leben nicht mehr, andere sind nicht zur Auskunft bereit. Trotz dieser Einschränkungen unternimmt Helmut Jenkis den Versuch, den Ursprung, die technische Abwicklung und den Tausch von Gütern gegen Häftlinge darzustellen. Auf Grund der Hallstein-Doktrin konnte und wollte Bonn keine unmittelbaren Kontakte mit Ost-Berlin aufnehmen, daher wurde das Diakonische Werk eingeschaltet. Zwischen West und Ost wurden Verträge über große Summen abgeschlossen, ohne daß erkennbar wurde, wer die Vertragspartner waren und warum diese Vereinbarungen überhaupt getroffen wurden. Diese Ausführungen werden durch Originaldokumente belegt, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Der deutsch-deutsche Menschenhandel funktionierte nur deshalb, weil trotz der politischen Gegensätze die handelnden Personen Vertrauen zueinander gefunden hatten. Dank dieses Vertrauens hat die Bundesrepublik für rund 3,4 Mrd. DM rund 32.000 Häftlinge freigekauft. Die Bundesrepublik hat den Häftlingen die Freiheit gegeben, die damalige DDR hat Devisen vereinnahmt, die aber ihren Untergang nicht verhindern konnten. Diese Untersuchung erscheint ein halbes Jahrhundert nachdem von der DDR der Vorschlag gemacht wurde, Häftlinge gegen materielle Leistungen freizulassen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Jenkis, studierte ab 1948 Wirtschaftswissenschaften in Hamburg, Brügge, Luxemburg, Bonn und Freiburg, wo er promovierte. Seine berufliche Laufbahn führte ihn sowohl in die praktische als auch in die theoretische Ökonomie: Er arbeitete in der Wohnungswirtschaft, davon nahezu 10 Jahre als UN-Beamter und UN-Wohnungsbauberater in 9 europäischen und außereuropäischen Ländern; seit 1975 lehrte er mehr als 30 Jahre als Professor im Fachbereich Raumplanung der Universität Dortmund, mit Gastprofessuren in Münster, Leipzig und Brisbane (Australien). Die Universität Leipzig verlieh ihm 1997 die Ehrendoktorwürde. Themen der DDR-Planwirtschaft und deren Untergang beschäftigen ihn seit vielen Jahren.