Der heilige Bund der Freiheit: Frankfurt – Athen – Jerusalem: Eine Reise 9783495999981, 9783495999998


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Table of contents :
Cover
Vorwort
A. Eröffnung und Zugang
I. Einleitende Eröffnung als Grundlegung
II. Ergänzender Anlauf zum Zugang
III. Vertiefender Anlauf zum Zugang
B. Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums
I. »Ordnung der Freiheit«
II. Dynamische Prozessontologie
III. Weltphänomenologische Hermeneutik
IV. Gottlose Metaphysik
V. Demiurgische Maschine?
VI. Der Bund als Anker
VII. Überpositives Recht
VIII. Verantwortliche Freiheit
IX. »Stern der Erlösung«?
C. Ende und Ausblick
I. Fazit
II. Zurück zu dem »ergänzenden Anlauf zum Zugang«
III. Eine De-Chiffrierung des Untertitels
Nachwort
Literaturverzeichnis
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Der heilige Bund der Freiheit: Frankfurt – Athen – Jerusalem: Eine Reise
 9783495999981, 9783495999998

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Fermenta philosophica

Frank Schulz-Nieswandt

Der heilige Bund der Freiheit Frankfurt – Athen – Jerusalem: Eine Reise

https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Frank Schulz-Nieswandt Der heilige Bund der Freiheit

FERMENTA PHILOSOPHICA

A

https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Frank Schulz-Nieswandt

Der heilige Bund der Freiheit Frankfurt – Athen – Jerusalem: Eine Reise

Verlag Karl Alber Baden-Baden https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Frank Schulz-Nieswandt The Holy Covenant of Freedom Frankfurt – Athens – Jerusalem: A Journey The post-metaphysical theory of deliberative democracy based on the rationality of communicative discources and on the non-discriminative reciprocity of appreciation by the modern critical social theory is characterized by a deep gap of social-ontological foundations. The idea of the social state of law must include the transcendental notion of the secular sacredness of the inherent dignity of personhood as non-contractual precondition of the modern society of diversity.

The author: Frank Schulz-Nieswandt, * 1958, Professor of Social Policy, qualitative social research and cooperative economics of common welfare, First Vice Dean of the Faculty of Management, Economics and Social Sciences, University of Cologne.

https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Frank Schulz-Nieswandt Der heilige Bund der Freiheit Frankfurt – Athen – Jerusalem: Eine Reise Die Theorie der deliberativen Demokratie kommunikativer Rationalität und gegenseitiger Anerkennung der jüngeren Generation der Kritischen Theorie versteht sich als nach-metaphysisch. Die Abhandlung plädiert dafür, die säkulare Sakralität der personalen Würde im Modus eines eidgenössischen Bundes in das Denkgebäude des sozialen Rechtsstaates der sozialen Freiheit einzubauen.

Der Autor: Frank Schulz-Nieswandt, * 1958, Professor für Sozialpolitik, Qualitative Sozialforschung und Genossenschaftswesen, Erster Prodekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.

https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-495-99999-8 (Print) ISBN 978-3-495-99998-1 (ePDF)

https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.

Eröffnung und Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Einleitende Eröffnung als Grundlegung . . . . . . . . . II. Ergänzender Anlauf zum Zugang . . . . . . . . . . . . III. Vertiefender Anlauf zum Zugang . . . . . . . . . . . .

9 17 21 72 83

B.

Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums . . 193

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

»Ordnung der Freiheit« . . . . . . . . Dynamische Prozessontologie . . . . . Weltphänomenologische Hermeneutik Gottlose Metaphysik . . . . . . . . . Demiurgische Maschine? . . . . . . . Der Bund als Anker . . . . . . . . . . Überpositives Recht . . . . . . . . . . Verantwortliche Freiheit . . . . . . . »Stern der Erlösung«? . . . . . . . . .

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193 300 303 309 319 325 337 352 356

Ende und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zurück zu dem »ergänzenden Anlauf zum Zugang« III. Eine De-Chiffrierung des Untertitels . . . . . . . .

. . . .

. . . .

369 370 374 377

C.

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

7 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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Vorwort

Ich möchte im Vorwort einen ersten kurzen, dichten Anlauf nehmen, um zu skizzieren, worum es mir in meiner essayistischen Abhandlung geht. Um welche Idee, um welche Entwicklungsaufgabe des Denkens und der Theoriebildung drehen sich meine Darlegungen? Ist Essay 1 der richtige Ausdruck, um die stilorientierte Gestalt der Abhandlung auf den Begriff zu bringen? Die exakte Antwort lautet: ja und nein. Ein Essay, so kann man recherchieren, soll geistreich sein. Soll ich das abstreiten in aller Bescheidenheit? Wiederum muss die Antwort aus einer als Mischung aus selbstbewusster Ehrenrettung und Ehrlichkeit lauten: ja und nein. Letztendlich müssen das Dritte beurteilen, die sich die Abhandlung im lesenden Verstehen anzueignen bemühen. Der Gegenstand ist die soziale Wirklichkeit und die Reflexion darüber, wie diese zu rekonstruieren ist, um auch modallogisch etwas über die Möglichkeiten des geschichtlichen »Wohin denn nun« der gesellschaftlichen Reise des Lebens als ein Drama zu skizzieren. Die Abhandlung ist in der Tat eine persönliche Auseinandersetzung des Autors mit dem Thema. Dies weniger, weil einige autobiographische Aspekte ab und zu eingefügt sind und daher aufscheinen. Im Kern ist es eine persönliche Auseinandersetzung, weil meine theoretische Position, die sich über einen langen Zeitraum in einer nicht immer schwankungsfreien Art und Weise, dann aber jedoch wie ein roter Faden entwickelte, die Thematisierung signifikant prägt. Die Analyse trägt also meine Signatur. Das ebenso eingebrachte Kriterium, die Wissenschaftlichkeit im Sinne einer methodologisch-methodischen Selbstregulierung der Erkenntnisproduktion des Essayisten könne vernachlässigt werden, würde ich nicht vertreten wollen, auch dann, wenn ich mir relativ große Freiheiten in der Art und Weise der nicht-scholastischen Argumentationsarchitektur und vor allem der kompilativen Literaturrezeption als m. E. mögliche, produkSchärf Chr (2016) Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. zu Klampen Verlag, Springe.

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Vorwort

tive und daher sinnvolle Eklektik leiste. Und ich beziehe eine politische Position. Typisch essayistisch ist jedoch meine Art, mich in produktiver Redundanz dem Kernproblem, um das es mir geht, in immer wieder neuen oder etwas anderen Zugängen anzunähern, also dergestalt das Kernproblem zu umkreisen und dadurch besser in den Griff zu bekommen. Mag sein, dass mitunter Vernunft, Gefühl und Phantasie zusammenspielen. Aber das ist bereits Teil des Themas. Da Vernunft, Gefühl und Phantasie das Leben der Menschen prägen, sollte doch wohl auch jegliche Theorie des menschlichen Zusammenlebens diese Dimensionen aufgreifen und theoriebildend nutzen, also in die Theoriebildung und somit in die Modellierung der Art und Weise, wie Gesellschaft – auch gerade als »gutes Leben« – funktioniert, integrieren. Komme ich zum Thema und zu der Problemstellung. Frankfurt am Main liegt mehr oder weniger in der Mitte von Deutschland. Griechenland liegt an der südöstlichen Peripherie der Europäischen Union. Israel in der Levante zählt zu dem vorderasiatischen Raum, oftmals auch als Naher Osten oder Vorderer Orient bezeichnet. Die Begriffsbildungen sind im Lichte moderner kulturwissenschaftlicher Studien strittig, weil sie Indikatoren für Prozesse von Othering-Praktiken sein können. Da hilft auch keine kindliche Begeisterung für Ali Baba und die 40 Räuber, eine Zahl, die in westlichen Demokratien meist auch der Zahl der Ministerien nahekommt, wie Bachtins »Volkskultur« witzelt. Die epistemologische Tiefengrammatik dieser scheinbaren einfachen und unschuldigen Geographie ist also schnell aufgedeckt. Es sind Hierarchien, aber auch Ausgrenzungen mittels Abgrenzungen durch ein Fremdeln. Das Problem besteht darin, dass diese Konstruktionen von Landkarten nicht nur in der Geographie raumtheoretisch problematisierbar sind 2, sondern diese psychomotorischen Dynamiken auch genealogisch problematisch sind. Abgesehen davon, dass immer wieder verschiedene Wege nach Rom führen: Das mittelwesteuropäische Frankfurt am Main ist am Theodor W. Adorno-Platz, so auf meiner Kaffeetasse mit einem Zitat aus »Minima Moralia« abgebildet, vom Geist der Metaphysik der griechischen Antike erfüllt, da es um die Möglichkeit eines wahren Lebens in einer unwahren Welt geht, so dass Athen und mit ihr die antike hylemorphe Metaphysik, die ich Dammann F & Boris M (Hrsg) (2022) Handbuch Kritisches Kartieren. transcript, Bielefeld.

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Vorwort

noch mit Blick auf Goethes Gestaltlehre der Metamorphosen bis hin zu Ernst Blochs dynamischer Prozessontologie des Noch-Nicht aktualisieren werde, mitten in Frankfurt einwohnt. Aber Israel nimmt nicht nur in europäischen Fussballwettbewerben teil. Israel ist der Raum der alttestamentlichen Ursprünge des hellenistischen Kulturkontextes der Kindheit des Christentums, dem man jedoch, um mit der Pädagogik von Erich Kästner zu sprechen, schnell die schöne Kindheit ausgetrieben und das öde, entfremdete und autoritäre Leben der Erwachsenen eingebläut hat. Und die soziale, kognitive wie moralische sowie politische Evolution, die sich im Raum des alttestamentlichen Reflexionstextes, auf dessen Textentwicklungsgeschichte 3 und Methodendebatte hier nicht eingegangen werden braucht, ereignete, verweist uns auf eine globalere »Achsenzeit« der Entstehung einer Ethik der sozialen Dichte des räumlichen Zusammenlebens der Menschen. Darauf werde ich nochmals einzugehen haben. Mit dem Erwachsen der Idee der Freiheit erwächst die Idee der Ethik der Verantwortung, die sich an diese Freiheit knüpft. Parochialer Altruismus einerseits und Ethos des auserwählten Volkes eines gelobten Landes andererseits – man merke aber die tiefen Spannungen in dieser Frühphase der Zivilisationsgeschichte – werden überwunden, einerseits zur personalen Ethik, andererseits zum geographisch ungebundenen Universalismus der Nächstenliebe. Und früh schon wurde vom Menschen erkannt: Diese zu verantwortende Freiheit muss geordnet werden. Das Politische der Daseinsgestaltung kristallisiert sich heraus. Ordnung braucht jedoch Prinzipien und Kriterien. Die Idee der Gerechtigkeit prägt die Politisierung der Ordnungsbedürftigkeit des menschlichen Zusammenlebens. Hier liegen rechtsgeschichtlich frühe Wurzeln einer Rechtsphilosophie verborgen, die von Anbeginn an in einer komplexen Religionsgeschichte eingebettet war. Heute muss sich diese Rechtsphilosophie des sozialen Rechtsstaates von der Religion und ihren Kirchen als Privatangelegenheit strikt trennen. Dennoch basiert, wie zu zeigen und zu problematisieren sein wird, der soziale Rechtsstaat transzendentallogisch auf Ideen, die aus der Einheit von Rechts- und Religionsgeschichte stammen, sich aber im Zuge der Säkularisierung aus der variantenreichen Tradition der politischen Theokratie durch Differenzierung befreien musste. Dennoch bleiben Ideen, die uns heilig sein sollten. Herrmann W (2004) Theologie des Alten Testaments. Geschichte und Bedeutung des israelitisch-jüdischen Glaubens. Kohlhammer, Stuttgart.

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Vorwort

Das wird mein Thema sein. Und diese heiligen Ideen knüpfen sich an onto-anthropologische Überlegungen, damit auch an ein Menschenbild, die bzw. das zu verstehen sein werden bzw. wird. Es wird uns um die Heiligkeit der Würde als Wesenskern des Prinzips der Personalität im Lichte des personalistischen Menschenbildes gehen. Jenseits des vermeintlich möglichen Verdachts auf Kollektivismus als verborgener Daimon dieser Sicht, eignet sich diese Positionierung, um die pathogenen Formen des Individualismus und eben auch deren kapitalistische Formbestimmtheiten zu problematisieren. Diese moderne Metaphysik des Naturrechts der personalen Würde eignet sich, um die Daseinsproblematik der Entfremdung als zentrales Thema Kritischer Theorie aufzugreifen. Ich komme hierbei nicht daran vorbei, mich und mein Denken in Beziehung zu setzen zu verschiedenen Strömungen und Generationen Kritischer Theorie. Die Spuren dieser Kulturgeschichte als Vor-, Gründungs- und Entwicklungsgeschichte des Personalismus, die zugleich a) eine Psychohistorie und eine Mentalitätsgeschichte darstellt, und die natürlich b) immer verbunden war mit den sozialen Fragen, die aus dem Wandel der klassengesellschaftlichen Formationen resultierten, und die c) die Privateigentumsfragen oftmals mit Generationen- und Gender-Ordnungen verknüpften, und die d) eingelassen waren in Insider-Outsider-Grammatiken, wenn die sozialen Austauschbeziehungen transregionale Begegnungen mit dem Fremden, auch infolge von Migrationsdynamiken des Menschen als ubiquitärer homo migratus, umfassten, lassen sich bis heute in die Moderne verfolgen, die die Versprechen von 1789 noch nicht eingelöst hat, so dass sich die Frage nach dem notwendigen Abgesang auf die Moderne heraus-kristallisierte. Kann eine Idee aufgegeben werden, wenn sie ihr Versprechen über zu lange Zeit nicht einhält? Ist es eine Frage der akzeptablen Dauer des Wartens, das ja als Warten-Können eine Tugend ist, die man Geduld nennt? Muss man nicht nach einem hinreichenden Verständnis des Erklärens und Verstehens des Ausbleibens fragen, bevor die Idee aufgegeben wird? Kann man eine ontologisch wahre Idee überhaupt aufgeben? Gibt es denn überhaupt ontologische Wahrheit? Kann ich denn die Idee der personalen Würde, wie sie in den Grundrechtskonventionen des Völkerrechts der UN verankert ist, verwerfen, wo sie doch im Art. 1 GG zum Tabu-Thema erklärt worden ist und in diesem Lichte der Art. 1 GG zu dem ersten und dem zwanzigsten Ewigkeitsartikel des Grundgesetzes zählt? Wäre ich dann nicht verfassungswidrig? Verwirft man die Idee der Liebe, weil sie uns als 12 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Vorwort

konkrete Menschen im Drama des Alltages oftmals nicht gelingt oder nur unvollkommene Formen annimmt? Verwerfe ich dann nicht auch das sittliche Gebot der empathischen Rücksichtnahme, das im ebenso ewigen Art. 2 GG verankert ist, und das fanatische Impfgegner (w/w/d) mit pathologisch verzerrten Wahrnehmungsmustern in ihrer Öffnung hin zu malignen rechtsextremen Milieus des »ewigen Faschismus«, von dem Umberto Eco schrieb, einfach übergehen? Um diese Debatte der Moderne geht es. Kritische Theorie verschiedener Generationen ist für mich ein über die Zeit hinweg in ihrer Bedeutung schwankendes, letztendlich unentbehrlich wertvolles Kraftfeld in dieser Diskurslandschaft. Sie hat einen mythischen Ursprungsort: Frankfurt am Main, bei Adorno auch Neapel. Indem ich eine problemgenealogische und daseinsthematische Reise von Frankfurt am Main über Athen nach Jerusalem (und zurück) unternehme, werde ich das Problem der Ordnung der Freiheit in den Mittelpunkt rücken. Es wird sich dabei in der Folge mein hybrides Denken abzeichnen. Die unvollendete Moderne kann ihr Noch-Nicht nur dann einlösen, wenn sie einen neuen Bund eingeht, der jedoch auch eine etwas andere Moderne als die der instrumentellen Vernunft anvisiert, die subjektkritisch mit der prometheischen Hybris der instrumentellen Vernunft der »negativen Freiheit« bricht. Diese die Ansprüche der kulturell einbettenden Sozialität weitgehend abweisende, also die notwendigen grammatischen Regeln des Zusammenlebens nur als »ärgerliche« Minimalstandards akzeptierende Ego-zentrierte und somit negative Sicht auf die Freiheit muss sich dem Mitmenschen öffnen und ist dergestalt zu transformieren in eine »soziale Freiheit«, die jedoch, über die Philosophie der Anerkennung hinausgehend, als personalistische »Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung« zu codieren ist. Jedoch, und dies ist mein zentrales Argumentationsanliegen: Entgegen einer im Sinne von Charakterneurosen »verstiegenen«, weil den ganzen Menschen halbierenden Fokus auf die (ich übertreibe natürlich in meiner terminologischen Strategie) fixe Idee einer reinen Vernunft sind sakrale Voraussetzungen des säkularen Rechtsstaates einer deliberativen Demokratie und ihrer kommunikativen Rationalität sowie ihrer Philosophie der Anerkennung transzendentallogisch zu durchdenken. Sakralität ist hierbei jedoch post-theo-logisch zu denken und basiert weiterhin auf der Trennung von Kirche und Staat. Diese Sakralität, die dem Prinzip der Personalität eigen ist, und die 13 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Vorwort

sich an der Idee der personalen Würde knüpft und damit eine ontologische Wahrheit im Rahmen einer soziogenetischen Strukturontologie des Noch-Erst-Werdens zum Ausdruck bringt, werde ich mit Blick auf die für den sozialen Rechtsstaat unabdingbare transzendentale Voraussetzung der sakramentalen Idee eines eidgenossenschaftlichen und somit »heiligen« Bundes ausformulieren. Damit gewinnt die Kritische Theorie des wahren Lebens eine Mystik zurück, die es ihr ermöglicht, erfahrungswissenschaftliche Sozialtheorie mit der ontologischen Skalierungskraft einer konkreten Utopie der Gestalt-Entelechie zu verknüpfen. Denn, wohl wissend um die vielfältigen Strömungen und Formen, die Mystik ist auf die imaginative Erfahrung der Möglichkeit einer Gestalt-wahren Wirklichkeitsganzheit ausgerichtet. Sie mag ins Innere gehen, aber auf ein Überschreiten äußerer Grenzen abzielen. Es geht mir daher nicht um Eskapismus, vor allem nicht um einen elitären Eskapismus, der sich aus zivilisationskritischem Ekel heraus von der sozialen Wirklichkeit der vermeintlichen Masse der menschlichen Insekten abwendet. Es geht mir um eine Mystik, die aus dieser Stärke heraus sich in liebender Weltoffenheit dem Mitmenschen zuwendet. Dies ist an theistische Religion nicht gebunden, wohl aber an die Fähigkeit staunender Ehrfurcht vor dem Leben, das respektvoll zu achten ist. Die Solidarität, die diese verantwortete Freiheit im Miteinander bedarf, ist keine generöse Moral, sondern resultiert aus dem Staunen angesichts der Aura des Antlitzes des Anderen und entfaltet sich (rekonstruiert als responsive Phänomenologie aktiver Passivität des dezentrierten Subjekts) als respektvolle Achtung angesichts der Unverfügbarkeit des Anderen. Der »heilige« Bund, der sich aus dieser Erfahrung ergibt, setzt eine Selbsttranszendenz des ikarischen Subjekts, das noch über die selbst erschaffene Skyline 4 seiner Wolkenburg hinein frei sein wollte, voraus. Zu dieser Soziogenese als metamorphotische Selbstentwicklung, die auf ein neues Werden und auf Korrektur gerichtet sein kann, ist der Mensch prinzipiell fähig. Gerade am Fremden kann der Mensch zu neuen Ufern aufbrechen, sich über Begegnungen, die die eigene Identität erschüttern mögen, sehnsuchtsvoll auf einen Neu- und Wiederbeginn, auf eine Wanderschaft begeben. Da der Mensch dies mitunter nicht unbedingt isoliert schaffen kann, bedürfen wir eines kollektiven Lernens, definiert als sozialer Prozess. Bleibt diese Metamorphose des Subjekts aus, dann kreist 4

Damisch H (1997) Skyline. Architektur als Denkform. Passagen, Wien.

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Vorwort

nicht mehr die Eule der Minerva, die als Metapher von mir noch auszulegen sein wird, sondern es kreisen die Geier am Himmel. Die Botschaften der Götter bleiben aus. Delphi bleibt geschlossen. Und die Menschen hören das Kichern der Hyänen 5. Dann begleitet uns nicht mehr liebevoll die Göttin Athena. Und Hermes 6 bleibt als Reiseführer aus. So käme dann Odysseus nicht ans Ziel, die Odyssee als Epos psychodynamisch auslegend. Er würde weiter herumirren, nicht nur alle seine Kameraden, sondern am Ende auch sich selbst verlierend, also doch nicht aus seinem Labyrinth herausfindend, um nach Hause, zur Liebe, zu kommen.

Krajewski M & Maye H (Hrsg) (2010) Die Hyäne. Lesarten eines politischen Tiers. Diaphanes, Zürich. 6 Herter H (1976) Hermes: Ursprung und Wesen eines griechischen Gottes. Rheinisches Museum für Philologie 119 (3): 193–241. 5

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A. Eröffnung und Zugang

Wenn der Mensch in Geschichten verstrickt ist 1 und daher seine Identität eine narrative 2 Selbstkonzeption ist, da er, auf diese Formulierung des Autors vom Kleinen Prinzen und auf ihren Ursprung ist noch mehrfach zurückzukommen, weil er zugleich die Idee der sozialen Freiheit auf den Begriff bringt, als Individuum der Knotenpunkt seiner sozialen Beziehungen ist, dann ist der Alltag der sozialen Wirklichkeit offensichtlich eine Erzählung eines Dramas 3. Ich werde argumentieren, dass dieses Drama aber keine Theo-Dramatik, sondern eine Onto-Dramatik ist, die in der geschichtlichen Zeit spielt, also in der Geschichte als Zeitlichkeit des seienden Seins des Menschen. Das gilt bereits für primordiale Kulturen. 4 Das gilt aber noch prägnanter und signifikanter, wenn, erst langsam auch als beginnende Geschichtsschreibung der alten Griechen 5 erwachsend, die Zeit 6 als Geschichte 7 zum Gegenstand des Machens durch den Menschen begriffen wird, sich herausschälend aus den kosmologischen, mythologischen und schöpfungs- und schicksalstheologischen Strukturen des Denkens. Das Denken der Zeit als Kreislauf der ewigen Wieder-

Schapp W (1953) In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Ding und Mensch. Hamburg, Meiner. 2 Ricœur P (1988) Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Fink, München; Ricœur P (1989) Zeit und Erzählung, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung. Fink, München; Ricœur P (1991) Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit. Fink, München. 3 Marx P (Hrsg) (2012) Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Metzler, Stuttgart – Weimar. 4 Müller K E (1999) Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen. Wallstein, Göttingen. 5 Schadewaldt W (1982) Tübinger Vorlesungen. Bd. 2: Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 6 Gloy K (2006) Zeit. Eine Morphologie. Alber, Freiburg i. Br. – München. 7 Dux G (2017) Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. 3. Aufl. Springer VS, Wiesbaden. 1

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Eröffnung und Zugang

kehr 8 findet sich auch im Alten Testament, aber nicht in einer alles dominierenden Art und Weise als Weltbild. 9 Im Altes Testament wirken natürlich auch naturreligiöse Mythen, gemeinorientalische Schöpfungsmythen, die Heilige Hochzeit der Götter, das Ahnenkultdenken u. a. m. Dabei geht es mir nicht um die Historiographie des deuteronomischen Geschichtsdenkens, die heute doch im Sinne einer identitätspolitischen Mythenbildung als geklärt gelten darf. Doch die Semantik des Machens wird sich als Problem erweisen, das Differenzierungen benötigt. Biblisch (hier vor allem schon auf das Denken im Alten Testament abstellend) gesehen findet sich die Idee der Verantwortung verankert. Von Gott delegiert, hat der Mensch vom Schöpfungsbeginn an Verantwortung für den ganzen Kosmos, für alle Weltverhältnisse, für sein Volk und für jeden Menschen. Das Paradigma eines relationalen Musters von Verantwortung zeigt sich im vertikalen Resonanzund Respondenzgeschehen zwischen Gott einerseits und den Menschen andererseits, wobei sich diese Vertikalität horizontalisiert in Form des dialogischen Aufrufs zur Bewahrung der Schöpfung, mitunter vermittelt über die prophetische Mahnung zur Verantwortung für den Mitmenschen und den vulnerablen Menschen (für Witwen und Waisen und, asylkulturgeschichtlich 10 bedeutsam, für die verfolgten Menschen, auch gerade als Fremde). Es interessieren mich jetzt nicht primär die Chancen einer auf Ethik 11 abstellenden, sozialgeschichtlich 12 aufgeklärten, bibelhermeneutisch 13 fundierten christEliade M (1953) Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Diederichs, Düsseldorf. 9 Gese H (1958) Geschichtliches Denken im Alten Orient und im Alten Testament. Zeitschrift für Theologie und Kirche 55 (2): S. 127–145; Seeligmann I L (1963) Menschliches Heldentum und göttliche Hilfe: die doppelte Kausalität im alttestamentlichen Geschichtsdenken. Theologische Zeitschrift 19 (6): S. 385–411; Smend R (1968) Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens. EVZ-Verlag Zürich. Sodann heute: Witte M (2006) Art. Geschichte/Geschichtsschreibung (AT) In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 31. Dezember 2021. 10 Dietrich Chr (2008) Asyl. Vergleichende Untersuchung zu einer Rechtsinstitution im Alten Israel und seiner Umwelt. Kohlhammer; Traulsen Chr (2004) Das sakrale Asyl in der Alten Welt. Mohr Siebeck, Tübingen. 11 Erbele-Küster D (2013) Art. Ethik (AT) In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 31. Dezember 2021. 12 Crüsemann F u. a. (Hrsg) (2009) Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. 2. Aufl. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh. 13 Krispenz J, Lanckau J & Fieger M (Hrsg) (2013) Wörterbuch alttestamentlicher 8

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Eröffnung und Zugang

lichen Sozialethik. 14 Dies ist die Geburtsstunde der universalen Nächstenliebe im Modus einer Idee der Verbindung 15, die ich als heiligen Bund säkularisiert denken möchte. Mitmenschliche Verantwortung manifestiert sich somit im Hören – in der Modalität des »hörenden Herzens« verankert 16 – auf Gottes Wort und Vertrauen auf diese Beziehung, eingebunden zwischen Freiheit und Gesetz. Verantwortung im biblischen Sinne ist existenziell gedacht mit Blick auf die Daseinsführung. Wenn nun Wissenschaft, abgegrenzt vom (variantenreichen) Sozialkonstruktivismus 17, definiert wird als Rekonstruktion der Wirklichkeit 18 (im Sinne eines rekonstruktiven Realismus: 58 19), so müsste ihr zu Bewusstsein kommen, dass sie selbst eine Erzählung ist: Sie wäre eine Erzählung über die Erzählung der verstrickten Geschichten. Dann benötigt sie auch eine eigene Poetik als Strategie, was man dann wohl Methodologie nennt. Und ihre Rekonstruktion ist demnach methodisch kontrolliert. Wissenschaft verläuft nach einem Drehbuch von Regeln, um das Drama des Lebens, dass von den Alltagsmenschen in ihren Kontexten der geschichtlichen Formbestimmtheit ihres sozialen Zusammenlebens 20 durch Tun, Erfahren, Verstehen und Gestalten inszeniert wird, zu rekonstruieren. Das Leben läuft jedoch selbst nach grammatischen Regeln des Zusammenlebens ab 21 und wird durch die Kreativität der Menschen verändert. Dabei ist die Wissenschaft in komplizierter Weise mit dieser Lebenswelt der Menschen verknüpft. Wissenschaft und Lebenswelt sind in einem ge-

Motive. wbg Academic in WBG. Darmstadt sowie Herrmann V u. a. (Hrsg) (2010) Theologie und Soziale Wirklichkeit. Grundbegriffe. Kohlhammer. 14 Heimbach-Steins M & Steins G (Hrsg) (2012) Bibelhermeneutik und Christliche Sozialethik. Kohlhammer, Stuttgart. 15 Serres M (2021) Das Verbindende. Ein Essay über Religion. Suhrkamp, Berlin. 16 Janowski B (2017) Das hörende Herz. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 17 Gergen K J (2002) Konstruierte Wirklichkeiten. Eine Hinführung zum sozialen Konstruktionismus. Kohlhammer, Stuttgart. 18 Gloy K (2015) Was ist die Wirklichkeit? Fink, München. 19 Ich beziehe mich im Text auf eine durchnummerierte Auswahl von eigenen Publikationen im Literaturverzeichnis (Quellenziffern Nr. 1 bis 76), weil die zahlreichen Verweise sonst den Textapparat aufblähen würden. Zugleich habe ich in dieser Art auch eine kleine Liste ausgewählter neuerer Aufsätze (1* bis 17*) im Text einbezogen. 20 Straub J (Hrsg) (1998) Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 21 So aus sozialkonservativer Sicht: Pieper J (1933) Grundformen sozialer Spielregeln. Herder, Freiburg i. Br.

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Eröffnung und Zugang

meinsamen geschichtlichen Milieu und Sinnhorizont eingestellt, was man Totalität (vgl. in 60) 22 nennen kann: Totalität = {Geschichte: Milieu + Sinnhoriziont → (Einheit der Differenz von Wissenschaft [Subjekt] und Lebenswelt als Gegenstand [Objekt])}. Im vorliegenden Problemkreis und daseinsthematischen Feld (vgl. auch in 64) ist es das Milieu und der Horizont einer Epoche, die mit sich selber ringt: die Moderne. Es geht um ihre Idee, um ihre Mythen, ihre Krise, ihre Perspektiven. Sie ringt damit, dass sie eine unvollendete Idee verkörpert und ein Projekt ist, dessen Verlauf widerspruchsvoll ist. Ihre Entelechie ist ins Stocken geraten, sie hat Regressionen totalitärer Art erfahren, sie ist längst selbst auf der Couch gesellschaftskritischer Psychoanalyse gelandet, wird in ihrem universalen Wahrheitsanspruch – die Differenz zwischen ontologischer Wahrheit, erfahrungswissenschaftlicher Richtigkeitswahrheit und konsensualer Geltung wird mich noch beschäftigen müssen – im globalen Zusammenhang bestritten und bekämpft. Die einleitende Eröffnung mit der Funktion der Grundlegung, woraus sich auch die Länge von A. I erklärt, soll den Essay 23 eröffnen, inhaltlich ebnet aber das Kapitel A. III »Vertiefender Anlauf zum Zugang«, dabei in kumulativer Art und Weise Kapitel A. I und A. II aufnehmend, den gesuchten Zugang zum thematischen Raum. Unter Zugang verstehe ich – ich schreibe weitgehend in der Ich-Form, weil ich meine Position zu entfalten suche, doch manchmal wechsle ich absichtlich in einen Wir- und Uns-Modus, weil ich doch mit dem Angebot die Möglichkeit öffnen möchte, andere Menschen mit auf diese Reise zu nehmen – einen Text als Schlüssel, der den Raum aufschließt, aber noch nicht vollumfänglich erschöpfend ausleuchtet. Ich möchte in dem Kapitel »Ergänzender Anlauf zum Zugang« (A. II) aber zunächst mit einigen persönlichen Bemerkungen beginnen. Sie betreffen die Art und Weise der textlichen Entfaltung meiner Argu-

Eine Weltimmanenz, definiert als Innenraum ohne einen transzendenten Andersraum, wohl aber mit externem Allzusammenhang. 23 Balmer H P (2008) Montaigne und die Kunst der Frage. Grundzüge der »Essais«. Francke, Tübingen. Ferner: Westerwelle K (2002) Montaigne. Die Imagination und die Kunst des Essays. Fink, München. Doch will ich mich nicht mit Montaigne vergleichen. Zu ihm: Burke P (2004) Montaigne zur Einführung. 3., überarb. Aufl. Junius, Hamburg. 22

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

mentation in Bezug auf die Problematik als Fragestellung in dem Kapitel »Vertiefender Anlauf zum Zugang« (A. III). Erst der Teil B, in dem das Thema in immer wieder umrundenden Anläufen umkreist wird durch die Verarbeitungsansätze aus verschiedenster Perspektive, leuchtet den Raum aus. Ob man dann alles klar sehen wird, wird sich zeigen. Der Gegenstand ist ein Raum der Polaritäten, aufgespannt von Vektoren und definiert bzw. codiert von Kräftefeldern, die miteinander ringen. Ohne Theorie 24 ist der Zugang nicht zu sichern, der verschlossene Raum bleibt dann dunkel. Anläufe zur Generierung von Zugängen kennzeichnen also meinen Start in Abschnitt A. In Abschnitt B geht es um die Bausteine der Umkreisungen, um spiralförmige Annäherungen an den Kern der Problematik, die Umfelder abschälend, in den Innenraum der Problematik vordringend. Dies sind erste poetische Hinweise zu meiner Poetologie 25, mit der ich den Text forme. Der Abschnitt C ist auch ein Fazit, aber auch ein Ausblick und letztendlich immer noch suchende Umkreisungen und ist verbunden mit einer gewissen Emergenz weiterer Aspekte. Zum Ende meiner Abhandlung hin merke ich, wie unabgeschlossen das Denken ist und wie sehr ich am Ende immer noch eher am Anfang bin.

I.

Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

Was ist das Thema? Ist die Moderne 26 unvollendet? Ist sie ad acta zu legen? Ist sie bereits vorbei und abgelöst von der (allerdings widersprüchlichen und instabilen 27) Postmoderne? Dieser These werde ich nicht folgen wollen, wohl wissend, dass man das Kinde nicht mit dem Bade ausschütten darf und (etwa mit Zygmunt Bauman 28) schauen

Zima P V (2004) Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Francke, Tübingen. 25 Winkler M (2012) Poetologie zur Sozialpädagogik. Über die Möglichkeiten von Belletristik für die Soziale Arbeit. Juventa in Beltz, Weinheim. 26 Zima P V (1997) Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Francke, Tübingen. 27 Reckwitz A (2006) Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist. 28 Platt K (Hrsg) (2020) Fehlfarben der Postmoderne. Weiter-Denken mit Zygmunt Bauman. Velbrück, Weilerswist. Dazu auch Kastner J (2000) Politik und Postmoderne. Libertäre Aspekte in der Soziologie Zygmundt Baumans. Unrast Verlag, Münster. 24

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Eröffnung und Zugang

muss, was Richtiges mit einem falschen, wenngleich magischen Begriff der Postmoderne trotz aller Diffusität gemeint ist. 29

1.

Abgesang der Moderne?

Einerseits wird die maligne Moderne als prometheisches Projekt gesteigerter Hybris als eskalierende Krise im Anthropozän diagnostizert (so auch in 57; 70), andererseits werden neue und andere Konfigurationen von Mensch und Welt diskutiert: so z. B. Konzepte des Posthumanismus und des Transhumanismus. Das Thema kann demnach in sehr weite Horizonte der Problematisierung eingestellt werden. Im Zentrum der kontroversen Diskurse ist lange schon das Subjekt zu einem Thema der Ambivalenzen geworden. Identität und Subjekt – nach einer kulturarchäologisch rekonstruierten Genealogie von überaus langer Dauer 30 zum Dreh- und Angelpunkt unserer Epoche 31 geworden – werden in Strategien der Identitätspolitik der »Singularitäten« 32 transformiert. Das Thema ist aber keine reine individualpsychologische Problematik, die sich auf der Ebene der Praktiken der Stigmatisierung mit Blick auf das »monströse« Andere als Strategie der überhöhten Selbstinszenierung in privaten Alltagswelten abspielt. Die Bühne ist weit und komplex und hat den globalen, von einem neuen post-kolonialen Diskurs geprägten Horizont einbezogen. Der globale, durch die digitale Transformation (44) nochmals beschleunigte Turbo-Kapitalismus und die Transformationen der Sozialstruktur und ihre Dynamiken im Weltsystem werfen schattierungsreiche Fragen der nachhaltigen Kohäsion angesichts a) eines (ökonomisierten und technizistischen) Fortschrittsmodernismus 33 in Modellen von Zentren, Semiperipherien und Peripherien und b) apokalyptischer Szenarien, die um die Klimakrise zentriert sind, auf. 34 Welsch W (2012) Unsere postmoderne Moderne. 7. Aufl. De Gruyter, Berlin. Schöttler P (2015) Die »Annales«-Historiker und die deutsche Geschichtswissenschaft. Mohr Siebeck, Tübingen. 31 Zur Geschichtstheorie: Rüsen J (1983–1989) Grundzüge einer Historik. 3 Bde. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen. 32 Reckwitz A (2017) Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp, Berlin. 33 Müller K E (2018) Verhängnis Kultur. Der Mythos vom menschlichen Fortschritt. Böhlau, Köln u. a. 34 Chomsky N (2021) Kampf oder Untergang! Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen. Westend, Berlin sowie Chomsky N (2021) Rebellion 29 30

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

Wie steht es um soziale Inklusion versus soziale Exklusion, um Ungleichheit, Prekarität, Marginalität, um Differenzierung, Heterogenität und Diversität. Aus europäischer bzw. »westlicher« Sicht steht die Frage an, wie es um die Varianten liberaler Demokratie steht. Aus komparativer wohlfahrtsstaatssoziologischer Sicht werden dabei mitunter die Folgen defizitärer Dekommodifizierung und ausbleibender Effekte auf die überkommenden Stratifikationsmuster beklagt. Auch hier werden neue diagnostische Visionen wie z. B. die einer Post-Demokratie in die Diskurslandschaft eingebracht und diskutiert. Die Formen der Verknüpfung autoritärer Regime mit neoliberalen Formen des Kapitalismus verbinden sich mit geopolitischen Spannungsfeldern. Die Welt ist nach wie vor von vielen Kriegsschauplätzen geprägt. Themen des Terrorismus und der religiösen Fundamentalismen prägen eine Epoche, die das »westliche« Projekt der Moderne in vielfacher und komplex verschachtelter Weise in grundsätzlicher Weise hinterfragen lässt. Ist die Idee der Moderne passé? Brauchen wir eine »andere« Moderne? Wie steht es um den Universalismus im Lichte des Vorwurfs des Eurozentrismus? Die kriegerische Konfrontation der Kulturen als entgegengesetzte Modelle von Zivilisation – morphologisch im Kern definiert über das relationale Gefüge von Individuum und Gesellschaft, Privatheit, Zivilgesellschaft, Staat und Religion, Wissen und Wahrheit im geopolitischen Kontext der globalen Verteilung der Ressourcen von politischer Macht und wirtschaftlichen Reichtum – prägt die Diskurslandschaft.

2.

Die bleibende Bedeutung einer etwas anderen großen Erzählung

Das Thema, das ich behandeln werde, und die poetische Art und Weise, wie ich es behandeln werde, ist ohne das Einstellen in diese Milieus und Horizonte des Verstehens nicht angemessen zu verorten. Und dennoch klammere ich diese brodelnde Großküche ein, bediene mich also der phänomenologischen Idee der Epoché als eidetische Reduktion. Ich konzentriere mich ganz auf die Frage, wie es um die Ermöglichung der inkludierenden Gesellschaft liberaler Demokratie auf der Grundlage der Logik einer kapitalistischen Marktwirtschaft (definiert als gegenüber alternativen Grammatiken der Sorgekultur dominante oder Untergang! Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation. Westend, Berlin.

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Eröffnung und Zugang

Form des Wirtschaftens) angesichts der Dynamiken ihrer Sozialstruktur steht. Ich entfalte meine Idee auf der Grundlage eines komplexen Weiterentwickelns der Theorie eines mehrdimensionalen, auf Kohärenz abstellenden Zivilisationsmodells 35 (60). Da ich in einem menschenrechtskonventionellen Sinne naturrechtlich denke (27; 31), erhebe ich einen möglichen Universalismusanspruch, wobei ich mich der Grenze stelle, dass dies, als Stufenlehre eskalierender Kritik zu lesen, a) problematisiert, b) bestritten, c) abgelehnt und d) in postkolonialen Varianten identitätspolitischer Kämpfe sogar zur Kriegserklärung angesichts dieser meiner vermeintlichen »epistemischen Gewalt« 36 führen kann. Dabei wird a) deutlich, wie schwierig heute 37 eine »linke« Position zu definieren ist. Und b) wird ebenso deutlich, dass diese Schwierigkeit in der Frage nach dem theoretisch durchdachten Zusammenspiel von Politischer Ökonomie und einer Kulturtheorie 38 der sozialen Praktiken begründet liegt. Im Hintergrund spielt aber noch eine etwas anders gelagerte Schicht des Unvernehmens 39 eine Rolle: Aus der Schnittfläche zwischen Postmodernismus, Post-Strukturalismus und Dekonstruktivismus 40 – wohl bemerkt: Es geht um Schnittflächen, nicht um deckungsgleiche Identität – resultiert eine von mir nicht nur nicht geteilte, sondern von mir signifikant ablehnende Haltung der rigorosen Ablehnung seitens des radikalen Postmodernismus, wonach eine »große Erzählung« in der Wissenschaft nicht mehr möglich sei. Ich habe kein Problem damit, dass meine Position auf latente Subtexte 41 verweist. Ich habe auch in anderen Publikationen die These vertreten, dass sich Wissenschaft selbst immer einem psychoanalytischen Selbstverstehen unterziehen Senghaas D (1994) Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 36 Brunner C (2020) Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. transcript, Bielefeld. Vgl. auch Mignolo W D (2019) Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Turia + Kant, Wien – Berlin. 37 Dazu Zizek S (2021) Ein Linker wagt sich aus der Deckung. Ullstein, Berlin. 38 Reckwitz A (2000) Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist. 39 Damit auf eine Debatte anspielend: Honneth A & Rancière J (2021) Anerkennung oder Unvernehmen? Eine Debatte. Suhrkamp, Berlin. 40 Zima P V (1994) Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Francke, Tübingen. 41 Kuhn K (2018) Subtexte der Menschheitsgeschichte. Zur Literarisierung von Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. transcript, Bielefeld. 35

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

sollte. 42 Wissenschaft, sofern sie ihre eigenen projektierten Ängste in der Theoriebildung 43 in verstiegender Distanz zum verdinglichten Gegenstand der wissenschaftlichen Begierde in der Griff bekommt und sich stattdessen offen und mutig als Teil der Welt ihres Forschungsgegenstandes versteht, ergreift sodann dergestalt im sorgenden Interesse der Welt für Ideen Partei 44, und sollte dies auch reflektieren (35). Soweit ich das schwierige Feld der dekonstruktivistischen »Grammatologie« von Derrida überhaupt hinreichend gut durchdrungen habe, frage ich mich angesichts der Hinwendung von Derrida zu Themen der Religion und insbesondere zur jüdischen Traditionsgeschichte 45, ob Derrida tatsächlich einem postmodernen Relativismus in Bezug auf die Ablehnung einer großen Erzählung zugeschrieben werden kann. Es ist ja richtig, dass die dekonstruktive Methode auf Spurensuche verborgener Zusammenhänge und verschwiegener Hierarchien in der Tiefe der Schichtungen von Texten geht. Aber geht dadurch die Möglichkeit verloren, über Epochen hinweg die Geschichte einer Idee (im Zusammenhangskreis von Ideenpolitik und Ethik 46) in all ihren verschlungenen Spuren gerade im Modus einer endlosen Kette von kritischen Befragungen zu rekonstruieren? Nacherzählen ist mit Sinnverschiebungen verbunden. Und es ist richtig, dass man einem objektiven Produktionssinn eines geschichtlich kontextualisierten Akteurs (m/w/d) immer nur in der Intertextualität mit dem eigenen Rezeptionssinn rekonstruieren kann (58). Der Gegenstand, der nicht ohne Kommentar 47 möglich ist, ist, was ich weiter oben bereits als Totalität (vgl. auch in 60) bezeichnet habe, von der Einheit der Einheit und der Differenz Einheit = (Einheit + Differenz) Bachelard G (1978) Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 43 Devereux G (1984) Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 44 Meints-Stender W (2014) Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. transcript, Bielefeld. 45 Vgl. auch in Weber E (Hrsg) (1994) Jüdisches Denken in Frankreich. Gespräche mit Jacques Derrida, Emmanuel Lévinas, Jean-François Lyotard u. a. Jüdischer Verlag, Berlin. 46 Derrida J (2011) Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Hanser, München. 47 Dazu auch Kilcher A & Weissberg L (Hrsg) (2018) Nachträglich, grundlegend. Der Kommentar als Denkform der jüdischen Moderne von Hermann Cohen bis Jacques Derrida. Wallstein, Göttingen. 42

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Eröffnung und Zugang

geprägt: »Sind wir Juden? Sind wir Griechen? Wir leben im Unterschied des Jüdischen und des Griechischen, der vielleicht die Einheit dessen ist, was wir Geschichte nennen«. 48 Es kann kein eindeutiger Ur-Text in einem einfachen Richtigkeitswahrheitsverständnis nacherzählt werden. Dennoch kann dekonstruierend eine Geschichte erzählt werden. Diese ist bei mir jedoch subjektkritisch 49 und somit gegenüber der neuzeitlichen idealistischen Metaphysik skeptisch, nicht linear, aber von einem messianischen Geist des Heils erfüllt, ohne einen Messianismus als automatische Entelechie eines Geschichtsdeterminismus zu behaupten (48). 50 Aber ist eine dekonstruktive Lesart messianisch aufgeladener Geschichte deshalb das Ende der Metaphysik? Hat die große Erzählung vom Heil als Personalisierung des Menschen im Modus der Universalisierung der Würde des Menschen an ontologischer Wahrheit (30) verloren, wenn die Demütigung in der geschichtlichen Erfahrungswelt oftmals die Idee der Würde dominiert (60; 70)? Ist damit der Leitstern einer durchaus dekonstruktiven Art und Weise des Lesens der Geschichte als Text passé, ad acta zu legen, gar falsifiziert? Kann man ontologische Wahrheit überhaupt erfahrungswissenschaftlich falsifizieren? Ich habe die große Geschichte Europas nie als reine Vernunftsgeschichte verstanden. Die Form der »heißen« Kultur 51, die Europa in ihrer Kultur kollektiver Praktiken angenommen hat, definiert sich über einen technisch-ökonomischen Fortschrittsmythos von Innovativität als Kreislauf ewig neuer Märkte als Zyklen eines destruktiven Todestriebes (57; 70), der vom Geist instrumenteller Vernunft beherrscht wird. Wenn man diese einseitige Geschichte als Verfehlung, an der sich die Menschen im Allzusammenhang schuldig machen, verwirft, so fragt sich, welche alternative Geschichte nun der Maßstab eines sozialen Fortschritts sein soll. Der radikale Postmodernismus dekonstruiert nicht den Idealtypus der Moderne, sondern die beschleunigte Hitze, die das System bis zur Explosion zu überhitzen Derrida J (1976) Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp, Frankfurt am Main: S. 234. 49 Dabei interessieren mich weniger die theoretischen Chimären der Neurowissenschaften als die Einwände innerhalb der Philosophie: Viertbauer K & Kögerler R (Hrsg) (2014) Das autonome Subjekt? Eine Denkform in Bedrängnis. Pustet, Regensburg. 50 Derrida J (2003) Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. 6. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 51 Lévi-Strauss: Claude (1981) Das wilde Denken. 4. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt. 48

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

droht. Ich teile also die Kritik der verfehlten Pfade der Modernisierung. Das ist meine Kulturkritik der technisch-ökonomischen Modernisierung. Glauben und Wissen sind Kategorien, die die Theoriebildung der Rekonstruktion der Geschichte Europas prägen. Antagonismen von Kräften der Statik und der Dynamik, Progressionen und Regressionen sind wirksam, Widersprüche statt Eindeutigkeit signieren die Dynamik, zweierlei Quellen sind wirksam: Griechenland und Israel, Athen und Jerusalem treiben die Dynamik im Wandel der Konturen an. Die Wege sind nicht immer eindeutig, die Bahnungen ergebnisoffen. Ohne Aporien ist die Geschichte nicht zu verstehen, selbst bei Derrida nicht: Handelt es sich um einen Atheismus in den Spuren Gottes? 52 Die Kritik der Moderne kann nicht ersetzt werden durch eine desintegrierte Diversität, die die Modernisierung ersetzt durch die performative Inszenierung auf einer Bühne der permanenten Modenschau der Viefalt. Die Welt funktioniert nicht als bunte Gummibärchentüte (57), die zur neuen Monadologie von identitätspolitischen Individualisten und neotribalem Segmentarismus führt. Ohne auch nur in irgendeiner Weise an »kalte« Kulturen als Alternative zu »heißen« Kulturen des ständigen sozialen Wandels zu denken, wird »nur« die Frage nach einer integrativen Klammer der Regulierung der diastolisch-systolischen Zentrifugalkraft (zur individuellen wie kollektiven Psychodynamik: 12; 15; 16) gestellt. Dann kann der Wandel um den Mittelpunkt der Idee der personalen Würde kreisen, denn die zentripetalen Kräfte, die ein eidgenössischer Bund bewirkt, führt den Körper der Gesellschaft der vielen diversen Individuen auf die Kreisbahn und verhindert die reine Außenausdehnung als Ego-zentrierte Ideologie der erobernden Verfügung der Welt. Diese Fliehkraft der von der instrumentellen Vernunft in ihrer Totalität tiefengrammatisch signierten Form der Moderne ist die Trägheitskraft der einmal eingeschlagenen Pfadentwicklung, die keine Verankerung mehr in einem Mittelpunkt eines Kreises hat, auf dessen Bahn die Gesellschaft als Körper sich in nachhaltiger Ausgeglichenheit bewegen könnte, wenn ein Anker die Bahnung des Körpers zentripetal als Kraft zum Mittelpunkt hin reguliert. Die Metapher des Kreises meint hier keine vollständig kalte Kultur, die sich in der mythischen Zeit-

Valentin J (1997) Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida. Matthias-Grünewald, Mainz.

52

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Eröffnung und Zugang

auffassung der ewigen Wiederkehr bewegt. Man könnte sich bei einem gewissen Überhang der zentrifugalen Kraft (Zf) gegenüber der zentripetalen Kraft (Zp) auch eine gewisse Form der nach dem Außen hin ausdehnenden Spirale mit Zf > Zp, aber tendenziell Zp ~ Zf vorstellen, ohne dass diese Fliehkraft explosiver Art ist. Wenn man jenseits einer Dichotomie in der Realgeschichte von hybriden Formen einer mischenden Verbindung heißer und kalter Strukturen und Elementen ausgeht, so kann die Idee der Menschenrechte als kaltes, weil stabilisierendes und integratives Bauelement einer ansonsten dynamischen Ordnung der Differenzierung verstanden werden. Das ist genau mein Standpunkt. Dass die Menschenrechte nicht universal anerkannt und immer wieder als persönliche, also nicht ontologisch wahre, sondern nur geltungsfähige Werte-Standpunktabhängigkeit relativiert werden, zeigt ja gerade, dass unter der Wirksamkeit des Prinzips repressiver Toleranz die Kohärenz der Diversität nicht gewährleistet werden kann, weil das Unterlaufen der Achtung vor dem unverfügbaren Anderen zum Definitionsraum der Toleranz gezählt wird. Das Telos bzw. die Sinnfunktion des Prinzips der Toleranz 53 ist an die ontologische Wahrheit der von allen Gesellschaftsmitgliedern einzuhaltenden Grundrechte gebunden. Das erfordert von der wehrhaften Demokratie des sozialen Rechtsstaates als politische Ordnung auf der Grundlage der Grundrechte im menschenrechtskonventionellen Status eine legitime Intoleranz gegenüber maskierten Formen der Verletzung der Grundrechtsordnung durch Individuen, die ihre sozial ungebundene negative Freiheit auf Kosten Dritter auszulegen versuchen und sich dergestalt sittenwidrig über das Verbot negativer Externalitäten hinwegzusetzen versuchen. Wenn die Gewalt gegen die Grundrechte der Anderen selbst als Daseinsführungspräferenz von Individuen, die sich auf ihre Souveränität im Sinne negativer Freiheit berufen, als vermeintliche grundrechtliche Freiheit eingefordert wird, dann ist das Denksystem der Diversität als inklusive Anerkennung auf Gegenseitigkeit nicht mehr Wolff R P, Moore B & Marcuse M (1966) Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt am Main. Vgl. auch Fisahn A (2008) Repressive Toleranz und der »Pluralismus« der Oligarchien. PROKLA. zeitschrift für kritische sozialwissenschaft 38 (3) Nr. 152: S. 355– 377.

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

gewährleistet. Damit sind nun aber nicht nur die totalitären Grenzfiguren der liberalen Demokratie gemeint. Der ganz normale Wahn ist gemeint. In der Gewalt z. B. gegenüber zukünftigen Generationen durch die zu hohe Zeitpräferenzrate der instrumentellen Vernunft des innovationsfreudigen homo consumens des Durchschnitt-Normal-Menschen des Alltags unserer vom Wohlstandsverständnis des kapitalistischen Geistes beherrschten Kultur wird bereits deutlich, dass es der zentrifugalen Dynamik des Körpers der Gesellschaft gegenüber an der stabilisierenden Richtungsregulierung der zentripetalen Kraft fehlt. Fliehkraft und Trägheitsgewicht müssen zusammenspielen. Im Begriff der Zentrifugalität ist bereits angedeutet, dass sonst die Welt aus den »Fugen« geraten kann. Die Verankerung des Stils des Wirtschaftens und der Implementation der Möglichkeitsräume des technischen Fortschritts in eine in den Grundrechten verankerten Idee der personalen Würde als universale, dekommodifizierende Inklusion würde der Zivilisation eine andere Temperatur geben. Diese Zivilisation würde einen sinnvollen sozialen Wandel nicht ausschließen, sondern begrüßen und fördern, aber nicht ohne Sinn zum Überkochen bringen, so dass der Kessel explodieren würde. Hier kann eine Verknüpfung mit der Studie von Ruth Benedict 54 zu den »patterns of cultures« vorgenommen werden, die uns auf die Unterschiede apollonischer und dionysischer Formen des Zusammenlebens verweisen kann, aber eben auch auf mögliche Gleichgewichte im Rahmen hybrider Formen. 55 Daseinswahre Freiheit beginnt dort, wo sie in der demütigen Rücksichtnahme aus der Haltung der ehrfürchtigen Achtung der unverfügbaren Anderen wurzelt. Daher kann keine Form der kolonialen Begierde als ein exploitatives Verfügen-Wollen über die Umwelt, die im Lichte instrumentellen Denkens zur Ego-zentrierten Um-Welt codiert wird, zum Definitionsraum sozialer Freiheit zählen. Hier ist der grammatische, sowohl auf institutionelle Strukturen, auf soziale Praktiken wie auf Wahrnehmungsskripte und auf Wissensordnungen (also auf Dispositive im Sinne von Foucault) abstellende Funktionskomplex von Kapitalismus, Kolonialismus, Rassimus und Sexismus und die Formen der Übergänge zur faschistoiden Kultur gemeint.

Benedict R (1955) Urformen der Kultur. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. Ruttkowski W V (2014) Typen und Schichten: Zur Einteilung des Menschen und seiner Produkte. 2. Aufl. Igel Verlag, Hamburg.

54 55

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Eröffnung und Zugang

Voraussetzung zur Mitgliedschaft in diesem menschenrechtskonventionell codierten Definitionsraum gehört die einbettende Metamorphose der negativen Freiheit in die Idee der gemeinsam verantworteten Miteinanderfreiheit als Rücknahme aller negativen Externalitäten in intra- und inter-temporaler Perspektive. Angesichts der conditio humana als ein Komplex, der auch Schuld und Fehlbarkeit umfasst, sei angefügt: im Rahmen des Machbaren. Denn nur das Machbare ist zu verantworten. Damit wird der Definitionsbereich der Idee der Inklusion deutlich: Wie in der Mathematik verstehe ich unter dem Definitionsbereich die Menge mit ganz genau jenen Elementen, auf die hin die Funktion (hier der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung) MF = f (MV) definiert ist und die Aussage (soziale Freiheit sei möglich) erfüllbar ist. Kulturtheoretisch gelingt die MF für »Alle«, wenn alle Individuen ihre negative Freiheit kritizistisch reflektieren und so zu einer demütigen Auffassung empathischer Rücksichtnahme als Haltung der respektvollen Achtung vor der Unverfügbarkeit des vorgängigen Mitmenschen in der Rolle des Anderen kommen. Das war schon das Thema von Hexis und Paideia in der antiken Polis. Diese Haltung wird im eidgenössischen Bund sakramental verankert. Das wäre der kalte Anker einer ansonsten tendenziell heißen Kultur, die dergestalt aber ein apollinisch-dionysisches Gleichgewicht (60) erlangen kann. Diese Idee als Teil einer großen Geschichte einer etwas anderen Moderne will ich in der vorliegenden Abhandlung skizzieren. Sie ist weniger originell als vielmehr relevant, gerade weil sie nicht en vogue ist. Der Anachronismus-Vorwurf ist zu erwarten, von mir aber auszuhalten und kritisch einzubringen in das Spiel der Maskerade, hinter der sich die partikularen Interessen der negativen Freiheit der Begierde des Besitzindividualismus verbergen: das Fetischartige Haben-Wollen: Ich habe, also bin ich. »Alle« meint die denkbar größte Inklusionsmenge von Menschen, deren soziale Wohlfahrt (sW) interdependent als Zustand des Miteinanders (M), definiert als soziale Freiheit, ist. Wohlfahrt meint hier die auf die Chance abstellende Befähigung zur humangerechten, d. h. personalen Daseinsführung in Würde als Funktion der Einheit von Freiheit (F) und Verantwortung (V). sW = M (F; V) für und durch alle i = 1 … n. 30 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

Ich nähere mich nochmals anders der ganzen Problemstellung. Man könnte mit Lotman 56 mit Blick auf eine erzähltheoretische Sicht 57 auf die Gesellschaft als Text auch darüber nachdenken, ob das Problem, das mich beschäftigt, nicht kultursemiotisch als Kohärenzproblem der Semiosphäre definiert werden kann. Dann würde es um die innere Kohäsion des Weltinnenraums des Miteinanders gehen. Übertragen werden demnach die Gedanken zur Struktur eines künstlerischen Textes 58 auf die Textur (definiert als »Gewebestruktur«) der Gesellschaft. 59 Wie in der Musik 60 handelt es sich um die als Motiv konstitutive Melodie der sozialen Verhältnisse, die variiert werden kann, aber dem Grunde nach als grammatischer und somit generativer Grundrhythmus gleichbleibt. Dieser Raum ist topologisch codiert über die Dimensionen der Höhe und Tiefe und des Breitenspektrums (links – rechts) und konstituiert das Innen (der gesellschaftlichen Semiosphäre) und das Außen (anderer Kulturen oder der Biosphäre). In diesem Raum spielen sich die semantischen Dramen ab, die von Gegensatzpaaren geprägt sind: Gemeint sind die Spannungsfelder zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Vertrauten und dem Fremden, dem Eigenen und dem Anderen, des Natürlichen und des Künstlichen etc. Durch das Zusammenspiel von Topologie und Semantik kommt es auch zu topographischen Strukturen wie z. B. Himmel und Hölle. Das Sujet 61 in der Texttheorie von Lotman entspricht dem, was ich die Daseinsthemen der Menschen nenne. Das ist der Stoff, aus dem das Leben besteht und verweist auf Motive, die die Erzählungen des Dramas der Menschen antreiben. Lotman ist nun vor diesem Hintergrund seines Modells der Meinung, dass jede kulturelle Ordnung der sozialen Welt topologisch strukturiert und somit organisiert ist. Wirtschaftliche, soziale, politische, Lotman J M (2010) Die Innenwelt des Denkens: Eine semiotische Theorie der Kultur. Suhrkamp, Frankfurt am Main; Lotman J M (2010) Kultur und Explosion. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 57 Martinez M & Scheffel M (2020) Einführung in die Erzähltheorie. 11., überarb. u. aktual. Aufl. Beck, München. 58 Lotman J M (1973) Die Struktur des künstlerischen Textes. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 59 Vgl. auch Schmitz H-G (2011) Die Textur des Sozialen. Schlüsselbegriffe einer Philosophie der Gesellschaft. Kohlhammer, Stuttgart. 60 Sorgner St L & Fürberth O (Hrsg) (2003) Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung. Metzler, Stuttgart – Weimar. 61 Andronikashvili Z (2009) Die Erzeugung des dramatischen Textes: Ein Beitrag zur Theorie des Sujets. Erich Schmidt, Berlin. 56

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Eröffnung und Zugang

religiöse, moralische Modelle, deren Interdependenz als Verschachtelungsmodus ich betonen möchte, werden über räumliche Codes konzeptualisiert. Was wäre nun meine applikative Transferidee? Die Verfassung der Freiheit, die im Sakrament des Bundes ritualisiert wird, ist selbst als metaphorische Textur zu verstehen. Verfassung verweist auf ein Gefäss. Ein Gefäss, ich entnehme das Beispiel einer Internetrecherche und formuliere es aus, hat einen Boden im Unten und eine InnenAußen-Wand. Im Gefäss mag Wasser oder Wein sein, beides zwei heilige Getränke und Symbole des Lebens. Ohne das Gesetz der Schwerkraft würde der Behälter mit seiner Öffnung nach oben mit seinem Inhalt seine Funktion (z. B. als Trinkglas oder auch als Opfergefäß im Kontext von Trankopfer) nicht erfüllen können. In der Topographie dieser Verschachtelung von umfassendem Gefäß einerseits und semantisch komplexem Inhalt, der als Erzählung des Lebens (man denke an das Hochzeitsfest von Kana, bei dem es um Wasser 62 [vgl. u. a. auch in 10 sowie in 59] und Wein 63 als Bausteine eines komplexen Zeichen-Sinn-Zusammenhangs 64 ging 65) zu entfalten ist, andererseits wird die Gewebestruktur der Totalität des Sinnzusammenhangs des Phänomens verständlich. Der Raum als ein organisierender Behälter für das soziale Zusammenleben schliesst die eher sozialkonstruktivistische Sicht nicht aus, dass erst das aktive Tun die Räume des Individuums erzeugt. Aber selbst in diesem erzeugten und praktisch gelebten Raum ist der Raum der Rahmen für das soziale Zusammenleben in der Begegnung in unterschiedlicher Dichte der urbanen oder ruralen Muster sozialer Beziehungen. Insofern meint der in der Sozialpolitikforschung (62) grundlegende Begriff des Sozialraums die Netzwerkwelt, in der das Individuum eingebettet ist. Und das Sozialkapital ist der bedeutungsvolle Nutzen (soziale Integration, soziale Unterstützung, Orte der Selbmann S (1995) Mythos Wasser, Symbolik und Kulturgeschichte. Badenia, Karlsruhe. 63 Becker L (1999) Rebe, Rausch und Religion: eine kulturgeschichtliche Studie zum Wein in der Bibel. LIT, Münster. Ferner: Kircher K (1970) Die sakrale Bedeutung des Weines im Altertum. (1910). De Gruyter, Berlin. 64 Kermani N (2015) Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. München: Beck: S. 21 ff. 65 Eisele W (2009) Jesus und Dionysos. Göttliche Konkurrenz bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2, 1–11). Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 100 (1): S. 1– 28. 62

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

engagierten Generativität) der Netzwerke für das Individuum (2*) in seiner Bedürftigkeit und Vulnerabilität (64). Die Kohärenz einer Gesellschaft der Diversität auf Grundlage der gegenseitigen Anerkennung als topologische Konzeptualisierung eines Innenraums der Inklusion bedarf daher einen moralischen Code von Gut und Böse, um das Soziale als Gegenstand der politischen Ordnung durch das Recht transzendentallogisch zu konstituieren. Innerhalb dieses soziosphärischen 66 Raums der Kultur, des Sozialen, des Miteinanders finden kommunikative Prozesse statt. Hier wird bereits ansatzweise deutlich, wie ich mir die transzendentallogische Einbettung der deliberativen Diskurse in einen eidgenössischen Bund vorstelle, der die Idee der personalen Würde zum Anker des Funktionzusammenhangs sW = M (F; V) für und durch alle i = 1 … n. machen soll. Die MF beruht daher auf einer Codierung klassifikatorischer Grenzen, die den legitimen Definitionsbereich der Mitgliedschaft in der MF = f (MV) ermöglicht. Überschreitungen der klassifikatorischen Grenzen sind nur zulässig, sofern der Anker dieser Ordnung der Freiheit nicht erodiert wird. Sozialer Wandel ereignet sich. Ein Ereignis ist eine Situation, die durch Dynamik in Richtung auf eine Veränderung charakterisiert ist. Sofern keine Ereignisse eintreten, besteht ein stabiler Zustand. Anders formuliert: Ein Ereignis besteht darin, dass ein Übergang von einem gegebenen Zustand in einen neuen, also in einen möglichen und somit anderen Zustand stattfindet. Das ist eben auch und insbesondere die Begegnung mit dem Fremden, denn das Andere ist das Mögliche gegenüber dem Zustand des Subjekts der Erfahrung aus dem Innenraum etablierter Semisphäre. Ich bin nun allerdings nicht der Meinung 67, dass hier eine Substanzontologie durch eine Ereignisontologie ersetzt wird: Vielmehr ist die Substanz immer nur das »entelechele« Potenzial, dass sich jedoch erst noch als ein Werden in der metamorphotischen Formbildung als Form zur sozialen Wirklichkeit begreifen lässt. Der schein-

Es gibt gewisse Ähnlichkeiten zu den historischen Formen des Sphären-Begriffs bei Sloterdijk: Sloterdijk P (1998) Sphären I – Blasen. Suhrkamp, Frankfurt am Main; Sloterdijk P (1999) Sphären II – Globen. Suhrkamp, Frankfurt am Main; Sloterdijk P (2004) Sphären III – Schäume. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 67 Badiou A (2016) Das Sein und das Ereignis. Diaphanes, Zürich. 66

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Eröffnung und Zugang

bare Widerspruch zwischen Substanzontologie und Ereignisontologie 68 wird aufgelöst im Rahmen einer dynamischen Prozessontologie des Werdens des Noch-Nicht. Ich rezipiere Lotman daher eben nicht im Lichte postmoderner Absagen 69 an Fragen der apollinischen Ordnung zugunsten der Dionysik der subversiven Brüche und Diskontinuitäten, die ich ja nicht verneine, sondern stattdessen ordnend einzubauen versuche. Was in der Literatur »Sattelzeit« (Koselleck) oder »Epochenschwelle« (Hans Blumenberg) genannt wurde, wird kulturkritisch unterschiedlich eingeschätzt. Kann man mit der »Dialektik der Aufklärung« wirklich das Kinde (die Moderne) mit dem Bade (der problematisierenden Kritik) ausschütten? Dieses Problem bei Koselleck hat Habermas erst etwas später 70 in seiner Rezeption von Koselleck erkannt. Weiter unten werde ich diese Frage mit kritischem Blick auf Kosellecks Pathogenese der bürgerlichen Moderne verneinen. In durchgängiger Weise begleitet mein Denken die Einschätzung, dass die »Dialektik der Aufklärung« bei Horkheimer und Adorno ja dem Noch-Nicht der Vollendung der Moderne gilt. Die Moderne ist nicht schlicht aufzugeben. Sie bleibt für uns eine gestellte Aufgabe. Der Mythos ist nicht tot. Am Mythos muss der Mensch arbeiten. Der Mythos ist nie tot, sondern lebt in seiner ewigen Remythisierung, weil im Mythos das Potenzial daseinsthematischer Wahrheit verborgen ist. Das ist meine mythostheoretische Position. Deshalb mag der Kampf zwischen der Idee der personalen Würde und den historischen Praktiken der Demütigung der Person ein ewiges Ringen sein. Aber soll der Mensch sich der Gewalt der Demütigung resignierend hingeben? Oder hat er sich dieser Sisyphosarbeit zu stellen? Ich folge hier keinem nihilistischen (sondern einem heroischen) Begriff der Absurdität, der Sinnlosigkeit meint. Das Absurde verweist nur auf das fehlende Ende des ewigen Ringens zwischen der Idee der Liebe und der Gewalt in der Geschichte. Die personalistische Philosophie als sozialeschatologische Philosophie der Personalisierung als Telos 71 Rölli M (Hrsg) (2004) Ereignis auf Französisch. Von Bergson zu Deleuze. Fink, München. 69 Frank S K, Ruhe c & Schmitz A (Hrsg) (2012) Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited. transcript, Bielefeld. 70 Habermas J (1977) Kultur und Kritik. 2. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main: S. 355 ff. 71 Drobe Chr (2021) Was ist der Sinn der Geschichte? Theologische Reflexionen zur Eschatologie von Paul Tillich. De Gruyter, Berlin. 68

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

der Geschichte (48) ist eine die conditio humana akzeptierende humanistische Soteriologie 72 ohne Apokalypse. Die Idee der personalen Wahrheit ist kerygmatisch: Sie ist ewig wahr. Ihr geschichtliches Schicksal ist jedoch kontingent. Lyotard 73, auf den ich nochmals zurückkomme, wies die große Erzählung von Vernunft in der Geschichte zurück. Wobei zu bedenken sein wird: Die scheinbar selbstevidente Delegitimation der »großen Erzählungen« – Lyotard spricht ja von einem »Bericht« in Bezug auf seine Deklaration des postmodernen Wissens 74 – wie die der Moderne und die der Idee des Sozialismus bei Lyotard ist selbst eine, wenngleich andere große Erzählung, nämlich die der Heterogenität, eine Narration der nicht-linearen Diskontinuität statt des Fortschritts und der vielen Andersheiten. Lyotard geht nicht von einer quasigöttlichen Allmacht der Vernunft in der Geschichte aus. Er nimmt den Ausgangspunkt im Gegenteil der Vernunft ein: in den nichtrationalen Strukturen des menschlichen Wissens und Verhaltens. Damit beendet er die universale Anspruchshaltung des Humanismus des Subjekts in seiner klassischen modernen Form. Die Idee des humanen Fortschritts hielt Lyotard angesichts des technologischen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen Desasters des 20. Jahrhunderts für überholt. Es fragt sich, ob eine solche Theorie vom Walten der Nicht-Rationalität nicht eben auch eine große – keine positive, sondern eine negative – Erzählung ist. Sie handelt nicht vom Guten, sondern vom Bösen. Darauf werde ich noch eingehen. Nicht vom Apollinischen, sondern von den abgründig-dunklen Formen, die das Dionysische annehmen kann, muss zugleich gehandelt werden. Gewiss: Im Dionysischen ist das Ur-Schöpferische erkannt worden: bei Walter F. Otto 75 wie bei Kerényi 76. Doch Dionysos 77 war vielschichtiger. 78 Der Rausch, Flasche R (1993) Heil. In Cancik H u. a. (Hrsg) Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 3, Kohlhammer, Stuttgart: S. 66–74. 73 Reese-Schäfer W (2022) Lyotard zur Einführung. 3., überarb. Aufl. Junius, Hamburg. 74 Lyotard J F (2019) Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. 9., überarb. Aufl. Passagen, Wien. 75 Otto W F (1933) Dionysos – Mythos und Kultus. Klostermann, Frankfurt am Main. 76 Kerényi K (1976) Dionysos: Urbild des unzerstörbaren Lebens. Langen Müller, München – Wien. 77 Seaford R (2006) Dionysos. Routledge, London – New York. 78 Schlesier R & Schwarzmaier A (Hrsg) (2008) Dionysos. Verwandlung und Ekstase. 72

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der hier zum Ausdruck kommt 79, kann sich bis zum Wahn steigern: Gewalt tut sich auf. Die Epiphanie des Dionysos, den die Panflöte ankündigt, ist durch und durch numinos. Sie fasziniert und verängstigt. Und bekanntlich ist der große Pan nicht tot. Mit dieser Einheit der Einheit und Differenz des Apollinischen und des Dionysischen (vgl. in 60 80) ist, wie in der Komplementarität von Yin und Yang, bereits die Ergebnisoffenheit der großen Erzählung definiert. Wahlverwandt zur Yin-Yang-Komplementarität als polare Einheit werde ich mich auch noch dem Code von Gut und Böse 81 widmen müssen. Die Polarität (23) ist eine Struktureigenschaft des Seins, also eine ontologische Kategorie 82. Meine große Erzählung ist als ein ewiges Ringen der Kräftefelder der Idee der Würde und Geist und Praktiken der Demütigung als Verachtung des Anderen eine Geschichte der Daseinsgestaltqualität des seienden Seins und somit von hybriden Konturen. Doch Hybridität (dazu auch in 70) ist nur zu definieren vor dem Hintergrund der binären Codierung von Polarität. Meine Geschichte handelt ja gar nicht von der Dominanz der Vernunft, sondern von der Möglichkeit der Liebe 83. Diese ist als Kraftquelle des Werdens einer humangerechten Gestaltwahrheit des

Schnell + Steiner, Regensburg; Bernabé Pajares A (Hrsg) (2013) Redefining Dionysos. Walter de Gruyter, Berlin. 79 Heinemann A (2016) Der Gott des Gelages. Dionysos, Satyrn und Mänaden auf attischem Trinkgeschirr des 5. Jahrhunderts v. Chr. De Gruyter, Berlin 80 Nochmals zur Orientierung: Ich beziehe mich im Text auf eine durchnummerierte Auswahl von eigenen Publikationen im Literaturverzeichnis (Quellenziffern Nr. 1 bis 76), weil die zahlreichen Verweise sonst den Textapparat aufblähen würden. Zugleich habe ich in dieser Art auch eine kleine Liste ausgewählter neuerer Aufsätze (1* bis 17*) im Text einbezogen. Sie sind im Literaturverzeichnis aufgelistet und bieten einen schnellen Überblick und eine weniger aufwendige Einsicht in mein Denken und Argumentieren. Damit habe ich kein einheitliches, sondern ein zweigeteiltes Literaturverzeichnis aufgebaut. Ich meine, dass es so aber einfacher ist, die Quellen nachzuschauen. Deshalb habe ich mir sogar den Luxus erlaubt, die Literaturbezüge als Bezug auf Dritte, die im Literaturverzeichnis nochmals zusammengestellt sind, zugleich vollständig in den Fußnoten anzuführen, so dass die Leserschaft (m/w/d) nicht blättern muss. 81 Ernst W W (2014) Das Böse, die Trennung und der Tod. Eine Theorie des Bösen. Passagen, Wien. 82 Damit sind relativ komplexe Zusammenhänge transportiert: vgl. auch Fritz E u. a. (Hrsg) (2012) Kategorien zwischen Denkform, Analysewerkzeug und historischem Diskurs. Winter, Heidelberg. 83 Viola F I (2014) Der Kairos der Liebe. Das Konzept der Gerechtigkeit bei Emmanuel Levinas. Schöningh, Paderborn.

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

seienden Seins gar nicht auf Vernunft zu reduzieren. Liebe ist eine nicht auf Rationalität reduzierbare Form des öffnenden Weltverhältnisses. Sie folgt nicht der Logik der Zweckrationalität im Sinne einer instrumentellen Vernunft (70) der Verfügbarkeit der Umwelt des Subjekts. Die Liebe zur Welt verweist vielfach auf eine respektvolle Achtung des Anderen als Modus der Welt, in die das Subjekt eingestellt ist und auf die hin das Subjekt eine responsive Haltung einnehmen muss. Diese in Sorge ausmündende Offenheit angesichts der staunenden Ehrfurcht vor dem Leben, dessen Aura am Antlitz des Anderen hängt, rückt eine entsprechende nicht-generöse Ethik in den Mittelpunkt des dramatischen Geschehens im seienden Sein. Davon handelt die hier erzählte große Geschichte der unvollendeten Moderne.

3.

Der metaphysische Bedarf der Moderne

Meine im Lichte mancher aktuellen Denkströmungen konservativ 84 (vgl. auch 33) anmutende Analyse ist eine Poesie, die auf meiner Poetologie einer Werte-orientierten, normativ skalierenden, in ontologischer Wahrheitssuche (30) eingebetteter Erfahrungswissenschaft aufbaut und diese zum Ausdruck bringt (35). Aber ich bemühe mich, diese Poetologie meiner Poesie poetisch zu reflektieren. Gerade an der Poesie ist abzulesen, dass es um den Geist geht, der als Daimon eben diese Poesie treibt. Ist es eine Poesie der Liebe? Oder eine Poesie des Bösen, des Mordens, der autoritätsfürchtigen Hörigkeit, oder der Blumen, die der Psalmen oder die von Rimbaud erlebte oder erzählte oder auch erlebt-erzählte Poesie und so weiter. Ein wohl unendliches Feld liegt vor uns, in dem die Poesie es sogar schafft, die Unendlichkeit in eine gewisse Nähe zu bringen, obwohl diese sich ja doch ständig entfernt. Ja, sie wird in die Nähe der Mathematik gebracht. Sie wird mitunter zur lyrisch-romantischen Seite der Soziologie, weil diese letztendlich auch eben nur Geschichten des Lebens erzählt. Es ist noch nicht so lange her und doch schon eine

Exemplarisch für sozialkonservative Versuche einer Metaphysik des Sozialen sind Hildebrand D von (1955) Metaphysik der Gemeinschaft. Josef Habbel Verlag, Regensburg sowie Hengstenberg H-E (1949) Grundlegungen zu einer Metaphysik der Gesellschaft. Glock und Lutz, Nürnberg.

84

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ältere Debatte, dass Lyrik als symbolische Handlung diskutiert worden ist. 85 Und Literatur wird auch als Lust diskutiert. Die Strategie meiner Erzählung ist immer noch einer philosophischen Anthropologie einer humanistischen Geschichtsphilosophie (47) verpflichtet. Es macht m. E. eventuell Sinn, sich älteren Traditionen zuzuwenden, um das Aktuelle auf ein gutes Ziel in der Zukunft zu lenken: »Gerade das etwas fremd Gewordene aus vergangenen Zeiten hat oft die Kraft, die eigenen Haltungen, das eigene Denken zu bereichern und in unverhoffte Richtungen zu lenken.« 86 Eine Konsequenz, die ich aus der Beobachtung verkürzt verstandener Säkularisierung 87 der Moderne als Modernisierung aller Lebensbereiche und menschlichen Erfahrungsschichten lernend ziehe, ist allerdings die, dass – jenseits einer (kirchlichen) Theo-Logie – die affektuellen und emotionalen, religiösen und spirituellen Tiefenstrukturen auch des modernen Menschen, die mitunter als »archaisch« bezeichnet werden, als bedeutungsvoll zu beachten sind. Unter Archaismus 88 versteht Jung 89 psychische Inhalte und Funktionen im Kontext ihres langfristigen entwicklungsgeschichtlichen Charakters. Diese Sichtweise anerkennt die explikative Bedeutung von sozialevolutionären Relikten aus früheren Stadien der phylogenetischen und der dazu korrelierenden ontogenetischen Entwicklung, ohne hier klären zu müssen, ob es sich um Gene oder Meme handelt. Die verborgene Archaik betrifft im Kern die Situation der Begegnung mit den Dingen und den Anderen als ein Fremdes 90. Hier entscheidet sich das Ringen zwischen Würde und Demütigung (60), zwischen Freiheit und Teilhabe einerseits und Bevormundung, Kränkung und Ausgrenzung andererseits. Diese große Erzählung vom Schicksal des Zusammenhangs von Geschichte und Naturrecht als Drama des Seins – wie in den Bildern des Guten und Bösen bei MarBurke K (1966) Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 86 Lewitscharoff S (2012) »Vom Guten, Wahren und Schönen«. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen. Suhrkamp, Berlin: S. 178. 87 Vgl. insgesamt in Schmidt Th & Pitschmann A (Hrsg) (2014) Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart – Weimar. 88 Vgl. auch Lévy-Bruhl L (1927) Die geistige Welt der Primitiven, München: F. Bruckmann. 89 Jung C G (1995) Gesammelte Werke. Bd. 6. Psychologische Typen. Walter-Verlag, Düsseldorf: u. a. S. 442 ff., S. 479 f., S. 504. 90 Heinrichs H-J (Hrsg) (2018) Das Fremde verstehen. Gespräche über Alltag, Normalität und Anormalität. Psychosozial-Verlag, Gießen. 85

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tin Buber 91 – in seinen erfahrbaren Formen des seienden Seins wird mich begleiten in diesen vielen produktiv-redundanten Zugängen, Annäherungen, Umkreisungen, Reformulierungen, die ich im Rahmen der von mir gewählten poetischen Strategie unternehmen will. Dabei wird jedoch bei mir keine »Herrlichkeit Gottes« – auch entgegen den oftmals angeführten Romano Guardini (23; 33) argumentierend – aufscheinen, sondern die Herrlichkeit der Aura des Menschen im Antlitz des Anderen, dem das Subjekt begegnet und auf den sich das Subjekt antwortend in ein Verhältnis setzen muss. Dies gilt im Lichte der Vulnerabilität des Menschen als Wesenszug der conditio humana, wenn der Andere in seinem expressiven »Schrei« als homo patiens wahrgenommen wird, sich der Blick des zur Antwort gezwungenen Menschen nicht wegwendet, er die Augen nicht schließt oder er sich die Ohren nicht zuhält. Die Augen und das Sehen, das Ohr und das Hören, der Blick und die Hin- oder Abwendung, das sind nochmals ganz andere Haltungen der Sinne und des Körpers in seiner Motorik als der verstiegene Fokus auf die ideale Sprechsituation und auf die kommunikative Kompetenz im Diskurs der Vernunftsordnung. Es geht hierbei also einerseits um die empathische Offenheit als Grundlage der Sorge (5) für den Anderen als Fremdsorge, doch die Selbstsorge ist im Sinne der achtsamen Hermeneutik als Selbstverstehen gefragt, weil es nicht um die Haltung der generösen Moral, die Nietzsche 92 schon (»genealogisch« »jenseits von Gut und Böse«) dekonstruiert hat, sondern um eine Verantwortung, die aus der respektvollen Haltung der Achtung vor der unverfügbaren Unbedingtheit des vorgängigen, immer schon bereits als Gegebenheit seienden Anderen geht. Es ist eine responsive Ethik inverser Phänomenologie der Begegnung, die in ihrer fundamentalen ontologischen Struktur überhaupt erst zu begreifen ist, bevor die grammatische Ordnung der Reziprozität als pragmatisches System des Gebens und Nehmens (19; 34; 61) zur Entfaltung kommt. Bei aller herstellbarer Einheit von Ontologie einerseits und Soziologie andererseits, die daraus resultiert, dass wir das Sein immer nur als seiendes Sein haben, ist die Differenz ontologischer Gestaltwahrheitsanalyse einerseits und empirischer Sozialforschung andererseits zu betonen. Das ist der UnterBuber M (2003) Bilder von Gut und Böse. 5. Aufl. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh. 92 Stegmaier W (2011) Nietzsche zur Einführung. Junius, Hamburg. 91

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schied zwischen der Gabe und dem konkreten Geben/Nehmen, des Politischen und der konkreten Politik, der Agape und der konkreten Philia mit oder ohne Libido. Wenn das Böse in der politischen Theorie rekonstruiert wird 93, so ist der Schluss, der dahingehend gezogen wird, Politik solle (wie auch bei Bolz 94 verkürzt argumentiert, weil positivistisch von der moralischen Substanz des Rechts, vor allem im Lichte des überpositiven Rechts abgesehen wird) von Moral freigehalten werden, deshalb problematisch, weil damit eine Moralisierung gemeint ist, die abzugrenzen ist von dem sittlichen Gehalt, die den Verfassungsstaat in seiner anthropologisch fundierten Rechtsphilosophie des Personalismus prägt. Doch von billiger Moralisierung spreche ich nicht. Es geht um die Sittlichkeit als objektiver Geist des gelingenden Zusammenlebens. Und diese Sittlichkeit verweist auf die Gestaltwahrheitswerdung des Menschen in seinen symbolischen Formen. Und hier ist das Recht nicht frei vom Mythos eines Friedens im Lichte sozialer Gerechtigkeit. Der Mensch hat durch und durch eine Sehnsucht nach hylemorpher Wahrheit. Ganz ist die Welt der Metamorphosen in Goethes Weltbild in der verkorksten Moderne des »Man« nicht verschwunden. Die Bedeutung des Träumens und der Visionen begleiten die Moderne, weil diese Moderne eben unvollendet ist. Weil diese Unvollendetheit eine bleibende und zunehmend schmerzhafte individuelle und kollektive Erfahrung wurde, hat sich die Vision mitunter in einem autoritären Gemeinschaftswahn verstiegen. Die Übergangszonen zwischen beiden Formen der träumenden Visionen sind schnell durchschritten. Dies kann an den tiefen Ambivalenzen der Jugendbewegung in der Übergangszeit zwischen beiden Weltkriegen beobachtet werden. Aufbruch ist kein Alleinstellungsmerkmal des Humanismus der Aufklärung. Aufbruch zu neuen Ufern kann in einer Odyssee ausmünden, kann zum kolonialen Abenteuer führen, kann entgrenzter Innovations-Kapitalismus meinen, Science-FictionMythen generieren, kann zur faschistoiden Landnahme und zum heiligen Krieg mutieren. Aufbruch kann aber auch die Form der Formbildung sozialer Freiheit bedeuten. Aufbruch ist so polyvalent und polyform wie die vielen Formen der Metamorphosen bei Ovid, die ja Blanke Th (2006) Das Böse in der politischen Theorie. Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen. transcript, Bielefeld. 94 Bolz N (2021) Keine Macht der Moral! Politik jenseits von Gut und Böse. Matthes & Seitz, Berlin. 93

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

auch nicht ohne Gewalt sind. 95 Mag Eros das durchgängige Thema sein, so doch als die vielen Formen, die eben auch die hässliche Gestalt der sexuellen Gewalt annimmt. Der Raub wird zum bösen Archetypus der Begierde des Haben-Wollens als Objektbesetzung: Dies kann als Reflexionen der Geburtsstunde des Besitzindividualismus verstanden werden. Besitz beginnt mit Gewalt instrumenteller Vernunft. Was uns der Mythos der Verwandlung erzählt, wandelt sich heute zum Wahn technologischer Absichten. 96 Und erneut wird die Unverfügbarkeit des Anderen zum ethischen Thema. Die schönen Metamorphosen des Menschen sind von den Akten des Bösen zu unterscheiden. Die Versteinerung erfolgt aus dem Anblick der gorgonischen Medusa. Auch in der Bibel werden wir analog fündig: So erstarrte Lots Frau zur Salzsäule, als sie bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha trotz des Verbotes zurückblickte (vgl. in Genesis 19). Die Menschen projizieren manche Daseinsthemen in ihre Bilder von den rachsüchtigen Göttern, wie wir sie als Furie, als rachsüchtige Göttin der römischen Mythologie kennen, in der griechischen Mythologie als Erinnyen. Die Würde der Person ist also immer bedroht, vom Menschen, der diese Selbst- und Fremderfahrung in Mythen verkleidet, um über diese Phänomene zu reflektieren. Trotzdem bleibt der Traum von der Würde. Geschichtsphilsophisch nennt man dieses Träumen Hoffnung, auch dann, wenn sie als remythisierende Erinnerungsarbeit an die (Wahrheit der) alten Mythen Gestalt annimmt. Über diese unverfügbare personale Würde handelt der transzendentallogisch gedachte Bund, den die Subjekte, die eine entsprechende Paideia inkorporiert haben, eidgenossenschaftlich eingehen, um ihre Miteinanderfreiheit miteinander zu verantworten. Dieser Bund ist – eine UrGestalt der Wahrheit jüdischen Denkens des genossenschaftlichen Formprinzips – die nicht-kontraktuelle Voraussetzung der deliberativen Demokratie und insofern »heilig«, weil er die sakramentale Grundlage des Verfassungsstaates einer deliberativen Demokratie darstellt (31). Ob man diese Idee des heiligen Bundes in Bezug auf die naturrechtliche Idee der personalen Würde als Fluchtpunkt der funktionsfähigen, weil in diesem »Geiste« auch wehrhaften RechtsHaas M. (2021) Gewalt und Verbrechen. In Möller M (Hrsg) Ovid-Handbuch. Metzler, Stuttgart – Weimar: S. 171–275. 96 Dorschel A (2009) Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten. V&R unipress, Göttingen. 95

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staatlichkeit der deliberativen Demokratie für eine wissenschaftlich akzeptable, also hinreihend begründete »Letztbegründung« hält, kann bereits als Fragestellung problematisiert werden, weil die Frage selbst schon epistemologisch zweifelhafte Diastasen von Faktizität versus Geltung aus einem ontologischen Dualismus von Empirismus und Normativität ableitet, die letztendlich aus dem treibenden Motiv resultieren, die Rationalität der Moderne als nach-metaphysisch zu definieren. Das werde ich als verkürzte Philosophie der Vernunft problematisieren. Ohne Metaphysik kommt eine Moderne nicht aus. 97 Immer wohnt der Mensch dichtend 98 und somit mythisierend, aber dabei nicht einfach rückblickend, sondern visionär 99 aus der Jetzt-Zeit nach vorne in seiner Welt. Deshalb konnten die griechischen Landschaften als Landschaften der Mythen erfahrbar werden (66). Der Humanismus der personalistischen Auffassung von der conditio humana will den ganzen Menschen in seiner Strukturschichtung von Geist, Seele und Körper mit auf die Reise der großen Erzählung eines Miteinanders im sozialen Frieden nehmen. Das ist ein sozialer Lernprozess. Die rationalistische Diskurstheorie der deliberativen Demokratie verkürzt den Menschen auf eine Vernunft im Medium der Sprache. Diese ist aber nur ein Teil des Menschen. Auf einer Logik der kommunikativen Rationalität der Diskursordnung idealer Sprechsituationen (quasi als demiurgische Maschine der konsensualen Gemeinwohlproduktion) allein ist die Hoffnung auf das Gelingen des humangerechten Miteinanders in einer Welt der Diversität aber nicht hinreihend aufzubauen. Ich werde stattdessen ein mehrschichtiges Modell transzendentallogischer Ebenen von Voraussetzungen und Bedingungen skizzieren. Der verkürzte Rationalismus wird selbst noch, wenn auch nur andeutungsweise, psychodynamisch hinsichtlich seinen mitunter verstiegen anmutenden Verdrängungen und Verschiebungen einen Spiegel vorgehalten bekommen: Ohne Nächstenliebe und ohne die Universalisierung dieser zwischenmenschlichen Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben im AllzusamDazu aus nochmals anderer Perspektive: Böhr Chr (Hrsg) (2020) Dazu auch Metaphysik. Von einem unabweislichen Bedürfnis der menschlichen Vernunft. Rémi Brague zu Ehren. Springer VS, Wiesbaden. 98 Gaier U (Hrsg) (2017) Wozu braucht der Mensch Dichtung? Anthropologie und Poetik von Platon bis Musil. Metzler, Stuttgart – Weimar. 99 Guardini R (1946) Vision und Dichtung. Der Charakter von Dantes göttlicher Komödie. Rainer Wunderlich Verlag (Hermannn Leins), Tübingen – Stuttgart. 97

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

menhang wird das Zivilisationsprojekt 100 eines sozialen Friedens in sozialer Freiheit, die von sozialer Gerechtigkeit 101 geordnet wird, nicht nachhaltig funktionsfähig. So hatte Erich Fromm formuliert: Der Mensch könnte wie Gott sein. Das Wie verweist auf eine Ähnlichkeit, die approximativ zu verstehen ist und nicht eine Identität im Sinne der deckungsgleichen Einheit meint. Wie einst im Alten Testament, so baut auch die säkularisierte, aber an die »Sakralität der Personalität des Menschen« (31) glaubende Moderne auf einem heiligen Bund auf. 102 Diesen Bund kann man mit Paul Tillich (47) durchdenken, analog zur transzendentallogischen Ordnung von 1789, auf die ich noch eingehen werde und der sich als Entelechie schreiben lässt als Solidarität → Gleichheit der Chancen → Freiheit, weil bei Paul Tillich der Zusammenhang gedacht ist als Wirkzusammenhang Kraftquelle der Liebe → im Lichte sozialer Gerechtigkeit → demokratische Macht als Ordnung → Telos der Personalisierung in der Geschichte. Mit Werner Stegmaier 103 können gerade im Rückgriff auf die Weisheit des Alten Testaments die von der neueren kritischen Theorie wenig beachteten Dimensionen der Tugenden wie Aufgeschlossenheit, Unbefangenheit, Wohlwollen, Freundlichkeit, Vornehmheit und Güte zu ihrem theorierelevanten Recht gebracht werden. Solche republikanisch akzentuierten Aspekte einer Tugendethik und einer entsprechenden lebensweltlichen Auffassung von der Polis und ihrer Paideia sind einzubauen in eine Theorie der Funktionsfähigkeit deliberativer Demokratie. Solche Traditionsbindungen und die Verknüpfung verschiedener Theorieströme, die ich gleich nochmals auf den Punkt zu bringen versuchen werde, haben Folgen für die klassifizierende Einschätzung der vorliegenden Abhandlung durch die Leserschaft (m/w/d). Und hier wird sich zeigen, dass ich im Gefüge des Generationenwandels im Lichte meiner an Bloch und Benjamin an-

Müller K E (2012) Die Grundlagen der Moral und das Gorgonenantlitz der Globalisierung. 2. Aufl. Herbert von Halem Verlag, Köln. 101 Assmann J, Janowski B & Welker M (Hrsg) (1998) Gerechtigkeit. Fink, München. 102 Instruktiv dazu: Fromm E (2020) Das jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diaspora-Judentums. Psychosozial Verlag Gießen. 103 Stegmaier W (2002) Levinas. Herder, Freuburg i. Br. u. a. 100

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knüpfenden endogenen negativen 104 Dialektik von Geschichte und Naturrecht (48) der älteren Kritischen Theorie zuneige (47; 60; 70) und entsprechend dem »Othering« als »alter, weißer Mann« unterzogen werde. Dies ist eine dreifache, dreidimensionale Diskriminierung mit intersektionaler Komplexität, die ich aber aushalte. Und ich überlasse es anderen Subjekten, sich selbst zu inszenieren. Auch meine vorliegende Abhandlung wird sich als komplizierte Felddynamik von Übertragungen und Gegenübertragungen erweisen.

4.

Theoriekubismus

Es wird sich zeigen, dass das Thema im Kern eine sozialontologische Problemstellung ist. Das besagt: Gefragt werden muss in einem transzendentallogischen Sinne nach den Strukturen und Mechanismen, die eine Gestaltqualität des seienden Seins dergestalt signieren können, dass eine gewisse Humangerechtigkeit möglich wird. Dazu knüpfe ich nach wie vor an die Idee von »Solidarität, Gleichheit, Freiheit« als Wertekomplex der Tradition der französischen Revolution an und stelle die Frage der Gestaltwahrheit des seienden Seins in den skalierenden Referenzrahmen einer menschenrechtskonventionellen Naturrechtslehre der personalen Würde (27) als Kern einer philosophischen Anthropologie der auf Freiheit angelegten conditio humana. Ich verknüpfe 105, was für den Resonanzraum mitunter unvereinbar sein mag: a) eine politische Theologie der Hoffnung auf Befreiung »ohne Gott« als dynamische Prozessontologie des Noch-Nicht, b) eine marxistische Tradition der Gesellschaftsformationen und der damit verknüpften Psychoanalyse der Inskriptionen in Verbindung mit c) einer Dispositiv-Theorie sowie der dazugehörigen gouvernementalen Habitus-Hermeneutik, d) eine philosophische Anthropologie der conditio humana, e) eine responsive Phänomenologie, Dazu auch instruktiv: Köller W (2016) Formen und Funktionen der Negation. Untersuchungen zu den Erscheinungsweisen einer Sprachuniversalie. De Gruyter Mouton, Berlin. 105 Instruktives auch in Kühn R (2020) Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens. Alber, Freiburg i. Br. – München. 104

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

f)

eine neo-aristotelische Variante der Polis im Lichte einer Lehre von der vita activa, g) eine kommunitäre Theorie des »guten Lebens«, h) eine Sicht der Notwendigkeit des Einbaus von republikanischen Dimensionen in die Theorie der deliberativen demokatischen Gesellschaft und i) eine in der modernen Theorie der Befähigung verbundene Auffassung von der Schlüsselrolle der Paideia. Eine andere Moderne als Vollendung der Ur-Idee der Moderne bedarf eben einer anderen Theorie, die sich nach kubistischem Vorbild aus einer andersartigen Zusammensetzung elementarer Bausteine des Lebens ergibt. Wenn hier ein Konsistenz-, Kohärenz- oder Vereinbarkeitsproblem gesehen wird, so mag dies positiv gewendet werden. Die Transgressivität der Epoche bedarf eben auch hybride Theoriebemühungen, die die Eigenschaften von Übergangsphänomenen mit der sozialen Wirklichkeit als ihrem Gegenstand, deren Teil sie sind, aufweisen. Die jetzigen gesellschaftszeitgeschichtlichen Verhältnisse verstehe ich als Wendekreis, als eine Einheit von Raum und Zeit, in der die entscheidenden Weichenstellungen anstehen. Viele mögliche Pfade sind als endogenes Potenzial im seienden Sein angelegt. In dieser unübersichtlichen Landschaft (im Tal fehlt die Chance zum Weitblick, auf den niedrigeren Bergspitzen ist es der Nebel, auf den höheren Bergspitzen ist alles bewölkt) wird dem Gott Kairos selbst schwindelig. Was könnte hier ein philosophischer Kompass sein?

5.

Subjektkritik

Aufgrund der externalitätstheoretisch fassbaren ubiquitären Interdependenz des Menschen ist diese Freiheit m. E. aber nur als solidarische Freiheit, nicht als »negative«, sondern nur als »soziale« Freiheit, also als »Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung« zu haben. Vier Stufen sind zu unterscheiden, wobei die zweite Stufe eine transgressive Zone der mutativen Metamorphose ist, wobei die Sequenzlogik in der schematischen Darstellung zu beachten ist, denn es handelt sich nicht um eine monodirektionale lineare Formentwicklung, weil Transformationsvoraussetzungen 3a) und 3b) eingebaut sind:

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Eröffnung und Zugang





1) Negative Freiheit 2) kritizistische Selbstreflexion → →

3) soziale Freiheit → 4) MF = MF (MV) 3a) Das Antlitz des Anderen → 3b) Einbettung in den eidgenössischen »heiligen« Bund. 3b) ist transzendentallogischer Art und ermöglicht die Transformation von 3) in 4): 3b) [als Lerneffekt von 3a] → [Stufe 3 → Stufe 4 auf der Grundlage der durch Stufe 2 korrigierten Stufe 1]. Von fundamentalkonstitutiver transzendentaler Bedeutung ist allerdings 3a) als die Umkehrung der Phänomenologie des Subjekts zur responsiven Phänomenologie der auratischen Expressivität des vorgängig gegebenen Anderen. Der Weg von 1) nach 3) erfolgt als Phänomenologie des Subjekts, das aber de-zentriert wird und den Modus aktiver Passivität einnimmt, weil 3a) die Responsitivität erzwingt. 3a) induziert 2) und transformiert 1) in 3), die aber erst zu 4) wird durch 3b). Diese Darstellung führt demnach dergestalt zum Verständnis der transzendentallogisch gefassten Idee des »›heiligen‹ Bundes« der Freiheit. Da es um die Achtung als Respekt vor dem Anderen geht, ist die solidarische Freiheit eine unbedingte Solidarität und von fundamentalkonstitutiver Bedeutung. Sie fügt sich keinem strategischen Kalkül. Sie resultiert aus der Struktur des Seins 106, dessen Sinn die verantwortete Miteinanderfreiheit ist. Der Sinn muss aber erst noch den Prozess des Wirklich-Werdens durchlaufen. Und daher ist das Wesen da, als Potenzial einer Substanz. Doch erst in der Form wird die Substanz wirklich hervorgebracht. Hier lehne ich mich an den Begriff der »Konkreativität« von Rombach an. Denn in der Figur des Anderen ist das Sein selbst eine unbedingte Gabe, das als Anfrage an den Menschen aufgegriffen und zu Formen des seienden Seins als Daseinsführung werden muss, denn der Mensch wird erst durch die fremde Alterität zur eigenen Identität befähigt. Und nochmals sei betont: Rombach H (1971) Strukturontologie: Eine Phänomenologie der Freiheit. Alber, Freiburg i. Br. – München.

106

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

Post-theo-logisch ist die Vertikalrelation zwischen Gott und Mensch ausgeklammert, und die Metamorphosen spielen sich nur noch in der Horizontalität der zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Dieser Weg des Denkens charakterisiert die Logik dieser Horizontalität: Vollzogen wird hierbei eine Gestalt-relevante Revision des Subjekt-Verständnisses. Und dies drückt sich in einer Inversion der Phänomenologie zugunsten einer Weltphänomenologie des responsiven Subjekts aus. Man könnte von einem gefesselten Cartesianismus sprechen: Ich verdanke »mein Ich, das da ist« dem vorgängigen Ereignis des Anderen, der das dialogische Du-Mich-IchGeschehenserfahrungsspiel eröffnet. Die Welt selbst entfaltet sich über die Anrufung des Anderen über den zur Responsivität aufgeforderten Menschen, der sich dergestalt erst subjektiviert. Die Frage ist, in welchem mimetischen Stil er in dieser aktiven Passivität reagiert. Ist die Art und Weise signiert durch die welteröffnende und sodann sorgende Liebe zur Welt, welche die Selbstsorge einschließt? Der korrelative Komplex ergibt sich aus der epiphanen Aura des Antlitzes und dem staunenden Respekt aus der Haltung der ehrfurchtsvollen Achtung heraus. Meine zentrale Anfrage an die Theorie der kommunikativen Rationalität deliberativer Demokratie lautet: Wie soll diese Demokratie denn funktionieren, wenn eine solche Haltung der Achtung nicht das kollektiv geteilte Gut eines eidgenossenschaftlich geschlossenen Bundes ist? Das kommunikative Walten der Vernunft als zivilgesellschaftliches Diskursgeschehen im Rahmen des Verfassungsstaates muss kulturell eingebettet sein. Im Werk von Jürgen Habermas wird dies mit Blick auf das Sozialisationsgeschehen durchaus gesehen. Damit ist das Walten der kommunikativen Rationalität aber in die Lebenswelt des ganzen Menschen verankert, die selbst aber nicht als Ort der Vernunft definiert sein kann, sondern der sozialcharakterlichen Öffnung des Weltverhältnisses überantwortet ist. Die Ordnung der Freiheit im sozialen Rechtsstaat wurzelt in der vorgängigen Lebenswelt der Menschen, aus der heraus mit Haltungen zu rechnen ist, die eben diese Freiheit im Miteinander in einem fundamentalkonstitutiven Sinne überhaupt erst ermöglichen. Wäre die Welt der Geschehensort des Waltens reiner Vernunft, so wäre jegliche Lebenswelt ausgelöscht. Solange aber der Mensch eine komplexe Schichtung von Geist, Seele und Körper hat, kann die Vernunft nur eine, wenngleich überaus bedeutsame Dimension des gelingenden Zusammenlebens darstellen. Will man aber dieses Zusammenleben erklären und verstehen, so sind auch jenseits der Ver47 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Eröffnung und Zugang

nunft die weiteren Dimensionen von Geist, Seele und Körper theoriebildend zu berücksichtigen. Diese epistemologische Verschiebung ist aber eine Verschiebung des sozialontologischen Weltbildes und korreliert mit einer radikal anders konzipierten Idee der Ethik, die von der Vorgängigkeit des unbedingten Anderen ausgeht und insofern das Subjekt zur Demut aufruft, denn die Welt, in die das Subjekt eingelassen ist, ist keine UmWelt, die unter dem Dispositiv der Verfügbarkeit im Sinne von besitzindividualistischen Objektbesetzungen gestellt werden darf. Die diskurstheoretische Vorstellung von der funktionsfähigen Moderne geht immer noch vom Subjekt aus, die sich zum demiurgischen deus ex machina der offenen Interferenz der Intersubjektivität verschiebt. Doch diese Intersubjektivität ist nicht molekularer Natur. Es ist eine Konstellation isolierter Atome. Intersubjektivität ist wie ein Sternenhimmel ohne Sternenbilder zu verstehen. Denn die Transformation der Sterne zu narrativen Sinnzusammenhängen von Sternenbildern 107 als Zeichensysteme setzt eine molekulare Verknüpfung zu einer kohärenten Einheit der Bausteine voraus. Die Sternenbilder erzählen im Modus der Mythen ja Geschichten. Erst die Idee des Bundes knüpft diese molekularen Einheiten. Erst im Bund bewirkt die Vorgängigkeit des Anderen die oben formalisiert dargelegte Transformation [3 → 4]. Was Jürgen Habermas nicht richtig auf den Punkt bringen kann, das ist die Angewiesenheit des sozialen Rechtstsaates auf die transzendentallogische Metaphysik der personalen Würde, die in der staunenden Offenbarungserfahrung des epiphanen Ereignisgeschehens der Aura des Antlitzes des unverfügbaren Anderen wurzelt. Habermas kann dies nicht verarbeiten, weil es nicht in den Hyperrationalismus seiner Diskursmaschine passt. Aber einig bin ich mit der Philosophie der deliberativen Demokratie auf anerkennungstheoretischer Grundlage dort, wo es um die notwendige Metamorphose [1 → 3] der negativen Freiheit zur sozialen Freiheit geht. Die politische Geometrie der Verfassung verschiebt sich von der Konfiguration des Individuums im Gegenüber zum Staat hin zur Konfiguration des personal versittlichten Indivduums im und durch den sozialen Rechtsstaat, der die soziale Freiheit ermöglicht, zu

Schadewaldt W (1956) Die Sternsagen der Griechen. Fischer, Frankfurt am Main – Hamburg.

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

dieser Ermöglichungsfunktion aber jedoch selber wiederum auf Ermöglichungsvoraussetzungen (3a → 3b → [3 → 4]) basiert, die ich transzendentallogisch auslegen werde. Ich spiele dabei mit Theoriefiguren, indem ich das Böckenförde-Diktum im Lichte der Soziologie von Durkheim »links von der Mitte« auslege (31). Dies bedeutet auch, dass ich nochmals die Differenz zwischen 3) und 4) betone: Soziale Freiheit ist zu überführen in die Idee der MF als Funktion der MV, die in einem sakramentalen Bund durch einen Eid besiegelt wird. Die entscheidende Frage, um die sich alle meine kreisenden Annäherungen drehen, lautet: Wie kann diese Voraussetzung einer Moderne der Miteinanderfreiheit als Miteinanderverantwortung möglich werden, wenn vom Subjekt, epistemologisch im Post-Strukturalismus de-zentriert, auch mit Blick auf seine Praktiken der Daseinsführung eine Selbsttransformation abverlangt werden soll. Diese Selbsttransformation ist eine Metamorphose, die psychodynamisch tief einwirkt auf die intra-individuellen Arbeitsapparate der Subjekte. Geradezu kastrierend muss doch diese Fesselung des prometheischen 108 Narzissmus 109 des faustischen Subjekts als Bedrohung erlebt werden. Ein speziell für diesen Wahn ausgelegter Pan 110 wird im Rahmen von Verlustängsten imaginiert: Wo bleibt die sirenenhafte 111 Melodie der Panflöte? Das Subjekt soll seine ikarische 112 Hybris aufgeben. Es muss – u. a. im Rückgriff auf Otto Rank 113 – daran erinnert werden, dass in den klassischen Mythen 114 bereits die Geburt der Peters G (2016) Prometheus. Modelle eines Mythos in der europäischen Literatur. Velbrück, Weilerswist. 109 Ermann M (2020) Narzissmus. Vom Mythos zur Psychoanalyse des Selbst. Kohlhammer, Stuttgart. 110 Adami M (2000) Der grosse Pan ist tot!? Studien zur Pan-Rezeption in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Universität Innsbruck: Institut für Germanistik. 111 Böhm St (2020) Sphingen und Sirenen im archaischen Griechenland. Symbole der Ambivalenz in Bildszenen und Tierfriesen. Schnell & Steiner, Regensburg. 112 Koerner J L (1983) Die Suche nach dem Labyrinth. Der Mythos von Dädalus und Ikarus. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 113 Rank O (1909) Der Mythos von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung. Deuticke, Leipzig. 114 Campbell J (1999) Der Heros in tausend Gestalten. Insel, Frankfurt am Main. Aktualisierend: Bröckling U (2020) Ein Zeitbild. Suhrkamp, Berlin. 108

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Eröffnung und Zugang

Subjektivität an dem in der Regel maskulinen Helden geknüpft war (vgl. auch in 70). Darüber – über diese Schwierigkeiten, aber auch über die Möglichkeiten – wird phänomenologisch zu handeln sein. Diese Idee wird sich nicht ohne theoretische Strategien der Abgrenzungen entfalten lassen. Vor dem Hintergrund meiner Ablehnung eines radikalen Postmodernismus ist es eine kritische Auseinandersetzung mit der Theorie deliberativer Demokratie, die geleitet ist von einer Philosophie der Anerkennung auf der Grundlage der Theorie kommunikativer Rationalität. Die deliberative Theorie liberaler Demokratie muss diesen Schritt im Denken der oben als theoriekubistisch anmutend bezeichneten Idee in ihrer hinreichend begründeten argumentativen Entfaltung mitgehen, wenn die nachhaltige Funktionsfähigkeit der liberalen Demokratie als ermöglicht eingeschätzt werden soll.

6.

Responsive Weltphänomenologie

Die Sequenz der Stufen 1) bis 4) hat ermöglichende Voraussetzungen (3a und 3b) eingebaut bekommen. Das ist eine Inversion der Phänomenologie, die ich bereits angesprochen habe. Das Problem der Heiligkeit der personalen Würde ist zwar auf das Subjekt als dessen Natur bezogen, doch beginnt die phänomenologische Analyse nicht beim Subjekt, sondern beim Anderen. Mit Bezug auf Durkheim, auf Bourdieu und auf Foucault ist dies eine epistemologisch fundierte Soziologie (58), die sozialontologisch den »Tod« des Subjekts methodologisch, nicht wörtlich gemeint haben, weil die Gesellschaft über (vermittels) der Subjekte funktioniert, also durch die intra-individuellen Arbeitsapparate (hindurch). So geht es um die Codierungen der Praktiken der Subjekte, um die Habitualisierung, um das Regieren der Mentalitäten, um die Subjektivierungsformierungen durch Dispositivordnungen. Insofern ist für mich dieser post-strukturale Blick schlicht eine Theorie der Vergesellschaftung. Dabei bleibt es zunächst völlig offen, mit welchem politischen Weltbild sich der Post-Strukturalismus verbindet. Deshalb sprach ich davon, es gäbe Schnittflächen zwischen Post-Strukturalismus, Dekonstruktivismus und Postmodernismus. Aber die post-strukturalistische Methodologie kann sich m. E. durchaus verbinden mit einem Humanismus als große geschichtliche Erzählung. Spannt Foucault nicht auch den Bogen von der Antike über die Tradition christlicher Pastoralmacht bis hinein in 50 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

die Kritik heutiger Dispositivordnungen? In seiner späten Fokussierung auf die Idee der Selbstsorge, die mitunter einerseits als Variante des Neoliberalismus verstanden wurde, mitunter andererseits auch auf den Spuren von Nietzsche und Bataille wandelt, wodurch außerordentlich heterotope (26; 1*) Positionierungen möglich werden, die sich sicherlich kaum in das Weltbild eines sozialkonservativen Humanismus (33) einfügen lassen, geht Foucault keinen Weg, der sich leicht vermitteln lässt zu einer Rechtsphilosophie und Ethik des sozialen Rechtsstaates. Die Daseinsthematiken fallen hierbei doch weit auseinander. In der vorliegenden Arbeit wird die post-strukturale Theorie der Kultur mit der Philosophie der conditio humana als Onto-Anthropologie jedoch so vermittelt, dass ich über die Philophie der Geschichte als messianisch aufgeladene Jetztzeit des modernen Naturrechts eine große Geschichte der Moderne als Idee erzählen kann. Die Bedeutung der Arbeiten von Scholem 115 sind hier für eine kritische Theorie als messianische Geschichtsphilosophie nicht zu übersehen. Und für mich ist die Idee nicht obsolet, weil die soziale Wirklichkeit die Idee mit den Füßen tritt. In meinem Verständnis lautet die große Erzählung ja nicht, die Moderne sei – als Faktizität – eine Welt der reinen Vernunft. Ich sage nur, die Moderne sei im Sollwert im Lichte der Idee der Freiheit der Person als Maßstab ontologischer Wahrheit definiert. Die Kritik der Moderne verschiebt sich zur Frage, ob an diesem Maßstab als Orientierung noch festgehalten werden kann. Oder sind diese Idee und somit die Vision der Moderne zu verwerfen? Einig bin ich mit der These, man könne die Welt nicht vom Subjekt her hinreichend verstehen. Überhaupt ist die Alterität 116 der zentrale Ausgangspunkt, mit dem die weltphänomenologische Analyse der responsiven Ethik beginnt. Erst an der Alterität kann sich Identität entwickeln. Das ist systemtheoretisch ein logisches Problem: Wenn in einem eindeutigen Sinne gilt: A = A und B = B, dann kann nur gelten A 6¼ B. In dieser Distinktion liegt überhaupt kein Diskriminierungsproblem vor. Es handelt sich um identitätslogische Klassifikationen. Solche Klassifikationen können diskriminierende Codierungen sein, wenn mit der

Scholem G (2000) Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main sowie Scholem G (1998) Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 116 Gloy K (2018) Alterität. Das Verhältnis von Ich und dem Anderen. Fink, Paderborn. 115

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Eröffnung und Zugang

Zuschreibung des Andersartigen exkludierende Insider-OutsiderOrdnungseffekte bzw. hierarchische oder asymmetrische Relationen abwertender Art verknüpft sind. In jedem Erkenntnisprozess liegt jedoch – im Spektrum zwischen ikonograpischer und ikonologischer Zeichenanalyse – ein beschreibender, definierender, klassifizierender, verstehender bzw. erklärender Zugriff auf das Objekt der Betrachtung vor. Wie anders sollte man die Welt erschließen? Der Tag ist hell, die Nacht dunkel. Erst wenn das Helle mit der apollinischen Lichtmetaphysik positiv verknüpft wird, und wenn die Nacht numinos voller Ambivalenzen wird, schwingen mit der Binärik der Codes auch normativ relevante Grundgestimmtheiten mit. Die Binärik 117 liegt in der Natur des menschlichen Geistes 118 verankert. Man wird unterscheiden müssen zwischen der anthropologischen Form und den historischen Formbestimmtheiten. Es ist die Geschichte der Kultur der Menschen, die darüber entscheidet, welche normativen Konnotationen aus den Systemen binärer Klassifikationssysteme und der hybriden Übergänge generiert und zur politisch relevanten sozialen Wirklichkeit getrieben werden. Insofern ist auch die Theorie poststrukuraler De-Zentrierung des Subjekts zunächst einerseits eine onto-anthropologische Universalie, denn immer gibt es den Menschen nur als vergesellschaftetes Subjekt einer zeitgeschichtlich konkretisierten Epoche, in der Dispositive herrschen und gouvernementale Einschreibungen dergestalt geschehen, dass es zu Subjektivierungsformen kommt. Andererseits ist es die jeweilige historische Formbestimmtheit, die erst Gegenstand einer Kritischen Analyse werden kann. Die Verschachtelungen – die Faltung – der onto-anthropologischen Universalie einerseits und der historischen Formbestimmtheit andererseits ist die Grundlage, um einerseits zu verstehen, dass der Mensch immer an den Mechanismus gegenseitiger Alteritätserfahrung als generative Dialektik von anrufender Alterität und responsiver Identität gebunden ist, andererseits erst in der konkreten Analyse der sozialen Praktiken und der Semantik ihrer Narrationen geklärt werden kann, welche Erfahrungen aus diesen transaktionalen Geschehensprozessen erlebt werden können. Einige Strömungen kritischer Kulturwissenschaft halten die beiden Ebenen in ihrer sozialBateson G (1981) Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 118 Kauppert M & Funcke D (Hrsg) (2008) Wirkungen des wilden Denkens. Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss. Suhrkamp, Berlin. 117

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

ontologischen Differenz und in ihrer konkret-geschichtlichen Einheit als Problem der Einschätzung der empirischen Befunde des seienden Seins nicht auseinander. Das ist ein gravierendes Problem in der Qualität der wissenschaftlichen Debatten. Skripttheoretisch muss, allerdings durch dokumentarische Analyse anspruchsvoll und substanzreich, erst validiert werden, welches intra-individuelle Drehbuch isolierte Sprechakte und soziale Prakiken grammatisch steuern. Da reicht induktiv kein einzelner Aufgriffstatbestand. Dazu gehört vielmehr eine komplexe morphologische Kontextanalyse und einzelfallübergreifende Betrachtungen zur Bildung eines typologisch fassbaren Musters, das sich als generalisiertes Bild im Sinne von strategischen Motiv-Verhalten-Ausdruck-Komplexen validieren lässt. Oftmals fallen auch sog. linke identitäre Akte hinter diesen simplen wissenschaftlichen Ansprüchen zurück. So wie die responsive Phänomenologie nicht nur eine Methodologie, sondern auch eine sozialontologische Weltsicht und ferner eine eigenständige ethische Blickweise generiert, so kann die skizzierte post-strukturale Sicht der Analyse der verschiedensten Formen der Vergesellschaftung analytisch dienen. Die Kulturtheorie des de-zentrierten Subjekts muss daher gar nicht apologetisch mit dem postmodernen Weltbild verknüpft sein. Diese Kulturtheorie des PostStrukturalismus kann die postmoderne Gesellschaftsidee ebenso diskutieren helfen, wie die Subjektivierungsformen des autoritären Neoliberalismus, der faschistischen 119 Maschine oder eben auch die Idee des Bundes als heiliger Geist einer personalistischen Moderne. In der Selbstsorge des späten Foucault mag man, den Spuren von Nietzsche 120 und Bataille 121 folgend, einerseits eine trans-republikanische Gegenposition zur antiken Polis der kommunitären Paideia erblicken, andererseits kann sie auch rezipiert werden in Richtung auf meine Idee der selbstachtsamen Begrenzung der prometheischen Hybris, damit der Fall des Ikarus nicht so tragisch endet.

Eco U (2020) Der ewige Faschismus. 5. Aufl. Hanser, München. Bernardy J (2014) Warum Macht produktiv ist. Genealogische Blickschule mit Foucault, Nietzsche und Wittgenstein. Fink, München sowie Saar M (2007) Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Campus, Frankfurt am Main – New York. 121 Neuenhaus-Luciano P (1999) Individualisierung und Transgression. Die Spur Batailles im Werk Foucaults. transcript, Bielefeld. 119 120

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Eröffnung und Zugang

7.

Das doppelte Wahrheitsverständnis im Theoriekubismus

Meine Analyse – und dies wäre mein Beitrag zur Antwortfindung in Bezug auf die Frage 122, was die Sozialtheorie heute zu leisten habe – scheint eine merkwürdige hybride Gebildeform anzunehmen. Aufbauend auf einem doppelten 123 Wahrheitsverständnis (20; 23; 30) 124 wird anvisiert eine post-strukturale Rekonstruktion generativer Mechanismen sozialer Wirklichkeit (58) auf der Basis der eher klassischen Sichtung der conditio humana der philosophischen Anthropologie. Ich thematisiere die Frage der Skalierung der humangerechten Gestaltwahrheit der geschichtlichen Formen des seienden Seins im Rahmen einer großen Erzählung der dialektischen Entelechie der Metamorphosen einer universalistischen Zivilisationsidee, die sich als Vollendung der Moderne erweisen soll (48). Mit dem doppelten Wahrheitsverständnis ist einerseits die Richtigkeitswahrheit der Empirie des Seienden mit der ontologischen Wahrheit der auf die Gestalt des Persons-Seins abstellenden Seinsanalyse andererseits gemeint (35). Ist dieser Theoriekubismus mit hinreichendem Grund als denkbar zu vertreten? Ich benutze diese Einerseits-Andererseits- und Hin- und HerFormulierungen, wobei der intendierte Anschluss an die geometrisierende Abstraktion der Form im Kubismus zunächst nicht offensichtlich ist. Aber die kubistische Art (Stil) der Theorieproduktion (das Kunstwerk) ist begründet in dem absichtlichen Versuch, die Elemente der Theorie zu zergliedern und die Bausteine als Elemente einer Neukonfiguration miteinander in Einklang zu bringen. Aus der Deformation durch isolierte Behandlung einzelner Theoriebausteine erwächst die neue Synthese zur Form in einem spezifischen Geist. Die frühe Kritische Theorie der Entfremdung hat an dem Marx’schen Denken dort angeschlossen, wo der frühe Karl Marx der berühmten Pariser Manuskripte noch eine anthropologische Ausarbeitung des Menschen als ein Baumeister seiner Welt diskutiert. In dieser Sicht fühlte sich der Mensch noch verbunden mit seinem Werk. Aber er entfremdete sich durch die sozialen Verhältnisse der Warenproduktion von dieser Einheit (60). Diese frühe Kritische Reckwitz A & Rosa H (2021) Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp, Berlin. 123 Bollnow O F (1975) Das Doppelgesicht der Wahrheit. Kohlhammer, Stuttgart. 124 Gloy K (2004) Wahrheitstheorien. Eine Einführung. A. Francke, (UTB), Tübingen. 122

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

Theorie war sodann mit dem späteren Karl Marx der Kritik der politischen Ökonomie des Kapitals dergestalt verknüpft, dass die »theologischen Mucken« des Warenfetischismus aufgegriffen wurden, wodurch sich die Verbindung mit der Psychoanalyse als notwendig erklärt. Marx wie Adorno handelten von der ideologischen 125 Vergesellschaftung, die zur Skalierung unabdingbar den Maßstab der unentfremdeten menschlichen Natur benötigten. Auch meine vorliegende Abhandlung will auf diese onto-anthropologische Sicht nicht verzichten, sondern sie vielmehr kreativ einbauen in den Theoriekubismus.

8.

Naturrecht und »Entitlement« in der Rechtsphilosophie

Letztendlich handelt es sich bei dem vorliegenden Thema um ein demokratietheoretisches 126 Problem, das aber nicht rein politikwissenschaftlich abgehandelt werden kann. Aber Demokratie ist ja auch, jenseits eines Empirismus, kein Problem allein der Politikwissenschaft. Das Politische ist zugleich eine Kategorie der Ontologie und beschäftigt die anthropologische Reflexion. Zwischen Soziologie und Psychologie, zwischen Rechtsphilosophie und philosophischer Anthropologie, überhaupt in einem interdisziplinären Gewebe eingebunden, muss ich die Kernproblematik freilegen und in mehrfacher Hinsicht zu entfalten versuchen. Wenn die Wirklichkeit ein komplexes Gewebe ist, so muss auch die rekonstruktive Theorie eine komplexe Gewebestruktur haben. Und dies ist nur interdisziplinär zu haben. Und ferner geht es hier um Sozialtheorie, nicht um Theorien geringer Reichweite, wo der experimentell gesicherte Zusammenhang zwischen zwei sozialpsychologischen Konstruktvariablen ausreicht, um ein Paper in einem Journal unterzubringen. Der Kern der Problemstellung lautet: Die individualisierte Moderne kann nicht aus der Individualität ihrer ungebundenen Subjekte heraus im Modus der Inter-Subjektivität als Praxis kommunikativer Verständigung zusammengehalten werden. Folglich nochmals anders formuliert: Auch die Moderne benötigt in einem transzendentallogischen Sinne eine kollektiv geteilte Kofler L (1975) Soziologie des Ideologischen. Kohlhammer, Stuttgart u. a. Agamben G u. a. (2012) Demokratie? Eine Debatte. 3. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

125 126

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Eröffnung und Zugang

Wertbasis, ein Fundament, eine Einbettung, die ich als Idee eines eidgenössischen Bundes darlegen möchte. Es geht in Bezug auf die Wertelandschaft aber nicht um letztendlich triviale private Präferenzen im Alltag der Menschen. Das ist das Niveau des letztendlich konsumtheoretischen Ökonomismus. Doch selbst die heilige Kommunion des alltäglichen Konsums der Massen ist Maskerade, denn das Drehbuch ist ein Akkumulationsregime: eine Logik des destruktiven Todestriebes ewig neuer, also geborener und sodann sterbender Märkte (57; 70). Obwohl demnach also auch in diesem Alltag vieles gar nicht trivial ist, wenn man bedenkt, dass auch die Kleidung religiöser Symbolträger sein kann und in bestimmten Kontexten auch ist, ebenso mancher Schmuck. Und, um ein anderes Beispiel aus dem Arbeitsrecht zu nehmen, die Tätowierungen können verfassungswidrig sein. Das allerdings ist auch vernünftig. Aber gemeint mit Trivialität ist die Frage, ob man Pizza mag oder nicht. Auch diese Frage mag ein Aspekt gesundheitswissenschaftlicher Diskurse sein. Auch die Wahl der Automarke interessiert hier nicht, wenngleich Statussymbole durchaus ja dazu dienen können, distinkte Strategien in Insider-OutsiderOrdnungen zu schaffen. Wenn von kollektiver, also gemeinsam geteilter Wertbasis die Rede ist, so meine ich jedoch auf einer ganz anderen Abstraktionsebene vielmehr einen zentralen Anker, den das Schiff auswerfen muss, wenn es nicht sinnlos dahintreiben soll, bis es womöglich an irgendwelchen Klippen zerschellt. Der soziale Wandel ist dann die Reise, die ein Schiff immer wieder antreten muss. Immer geht es in der Geschichte um Prozesse zwischen Dynamik und Statik, um die dionysische Kraft und um die apollinische Kraft, die ein Gleichgewicht in diesem bipolaren Kräftefeld finden müssen (60). Aber ebenso immer wieder wird das Schiff den Anker auswerfen müssen. Was ist die Idee, die in dieser Metapher des Ankers und seinen Bildkorrelaten symbolisiert wird? Die Antwort, die die Grammatik der Gesellschaft in einem sozialontologischen Sinne, jedoch uno actu in der passungsoptimalen geschichtlichen Formbestimmtheit betrifft, lautet: An die Heiligkeit der Würde der menschlichen Person muss geglaubt werden. Oder anders, aber im intentional gemeinten Sinn identisch, ausgedrückt: Auch im säkularisierten sozialen Rechtsstaat wird man an dieser sakramentalen Ordnung des Glaubens an die Unbedingtheit der Personalität 127 des Menschen nicht vorbeikommen 127

Vgl. auch Diehl U (1999) Personalität und Humanität. Winter, Heidelberg.

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

können (31). Diese These, die nicht in das hyperrationalistische Modell von Jürgen Habermas passt, hängt mitunter vom Verständnis der Säkularisierung ab. Darauf komme ich noch zurück, mitunter dazu auch religionsphänomenologische Kategorien nutzend. Diese Überlegung begründet sich, und dies ist die Herausforderung des argumentativen Denkens, bei dem es um den hinreichenden Grund und nicht um beliebige Meinungen geht, in der Unverfügbarkeit des »Anderen«. Er, der Andere, bekommt von keinem (methodologisch oder normativ zum Ausgangspunkt definierten) Subjekt im Modus generöser Moralität seine Würde geschenkt. Der Anbeginn der Sozialtheorie ist nicht das schenkende Subjekt, sondern das dankbare Mich angesichts der Aura des Anderen. Das ist der Kern des Reichtums des Erbes jüdischen Denkens. Der gläubige Jude wird sagen: Am Anfang stand und steht Gott. In der säkularisierenden Ausklammerung der Vertikaldimension wende ich mich aber allein der Horizontalperspektive zu: Am Anfang jeder Dialektik steht der Andere. Erst dann entwickelt sich die Dialogik und die Ordnung der Reziprozität emergiert. Schenken – nicht selten eben nicht ohne Ambivalenzen 128 – ist eine wertvolle Eigenschaft des menschlichen Zusammenlebens. Und ich komme auf die Anthropologie der Gabe (61) immer wieder zurück. Doch meine Überlegung setzt onto-anthropologisch eine Stufe tiefer, also fundamentaler, an: Denn vielmehr hat er, der Andere, sie, die Würde, von Natur aus, wobei unter der kritisierten Generosität hierbei nicht der bis auf die Antike zurückgehende und dort positiv konnotierte Großmut gemeint ist. Der Andere bekommt seine Würde nicht geschenkt. Die negative Konnotation, mit der hier die generöse Moral phänomenologisch verknüpft wird, orientiert sich hermeneutisch eher an dem Verständnis von Hochmut 129. Ich möchte diese Sicht als »Problem der nicht-zuschreibenden Zuschreibung« von Grundrechten im menschenrechtskonventionellen Sinne aufgreifen und problematisieren. Es handelt sich, quasi ethnomethodologisch, also auf die Methoden der Herstellung sozialer Wirklichkeit abstellend, gesehen, um eine Sprechaktpraxis, die jedoch Starobinski J (1994) Gute Gaben, schlimme Gaben: die Ambivalenz sozialer Gesten. Fischer, Frankfurt am Main. 129 Kolnai A (2007) Ekel Hochmut Haß. 2. Aufl. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. 2. Aufl. Suhrkamp. Frankfurt am Main. Ferner: Badura B A & Kreuzer T F (Hrsg) (2014) Superbia – Hochmut und Stolz in Kultur und Literatur. PsychosozialVerlag, Gießen. 128

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Eröffnung und Zugang

nur ein Etwas als soziale Wirklichkeit von Rechtsansprüchen (Entitlement) im Sinne eines Phänomens generiert, was, ontologisch gesehen, von Natur aus bereits besteht, dabei natürlich mitbedenkend, dass auch dieses Wissen um das Naturrecht selbst wiederum ein kognitives Konstrukt des Menschen in seiner Welt der Sprache 130 und somit der Praktiken des Entitlements ist und genealogisch eine lange Entwicklungsgeschichte des Erkennens voraussetzt. Der Nominalismus des Entitlement ist also kein reiner Nominalismus, sondern Replikation des objektiven Naturrechts des Menschen. Reiner Nominalismus wäre die sprachphilosophische Variante eines reinen radikalen Konstruktivismus. Auch muss Beachtung finden, dass wir hierbei demnach ein spezifisches Verständnis von Naturrecht meinen, was angesichts des historischen Wandels der Vielfalt der Naturrechtsverständnisse wichtig ist, betont zu werden. Es gibt keine Sklaven oder Knechte von Natur aus und ebenso auch keine Herrenschicht. Es ist kein Fatum, wenn man mit der Geburt in eine bestimmte Lebenslage hineingeboren wird. Das gehört aber dem Seienden der geschichtlichen Zeitlichkeit des menschlichen Daseins an. Eine vor jedem Seienden zu klärende Seinsstruktur kann keine Eigenschaften einer historischen Formbestimmtheit menschlicher Beziehungen aufweisen. Zwar zählt die Vulnerabilität zur Seinsstruktur. Aber sowohl Form als auch Verarbeitungsmodi sind Teil des seienden Seins. Widerspricht eine demütigende Lebenslage (vgl. in 2) der personalen Würde, so ist es vielmehr die Aufgabe der gestaltenden Gesellschaftspolitik (62), dies zu ändern. Die Lebenslage ab Geburt ist kein »Kasten« 131-förmiger Käfig. Ein Naturrecht, das soziale Ungleichheit und soziale Ausgrenzung, Marginalisierung, Demütigung, Ausbeutung rechtfertigt, ist hier nicht gemeint. Wir halten uns angesichts des positiven Rechts in Bezug auf solche sozialen Verhältnisse an das überpositive Recht des Grundrechtsdenkens des Völkerrechts (27) 132, an die Grundrechtscharta der EU (12) und an das bundesdeutsche GG, weil ich wohl-

Trabant J (1998) Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 131 Saalmann G (2017) Soziale Ungleichheit in Indien. Von Dumont zu Bourdieu. Springer VS, Wiesbaden. 132 Instruktiv auch: Bindig A (2015) Humanitäres Völkerrecht als symbolische Form. Zur Normativität humanitären Völkerrechts im Spiegel der Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers. Mohr Siebeck, Tübingen. 130

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

wissend bin um das Theorem von Gustav Radbruch 133, wonach positives Recht fundamentales Unrecht sein kann. Dieses moderne Naturrecht der Freiheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit aus der Kraftquelle der Liebe zur Sorge um die personale Würde – um das Denken von Paul Tillich 134 etwas zu beleihen (48) – kann keine ideologische Rechtfertigungslehre der Unterdrückung und Erniedrigung sein, sondern ist eine anthropologisch, nämlich personalistisch fundierte Rechtsphilosophie der Befreiung. Die Wahlverwandtschaft zu einer Theologie der Befreiung ist mit der Kategorie der Hoffnung gegeben. Die Differenz bleibt im Theismus begründet, nicht aber in der geteilten Auffassung von einer messianisch aufgeladenen geschichtlichen Jetzt-Zeit, wonach der geschichtliche Weltinnenraum der (wenngleich immer unvollkommene) Geschehensort der sozialen Gerechtigkeit aus der Kraftquelle der Liebe sein kann. So sehe ich in dieser Idee des überpositiven Naturrechts der Würde die Basis für ein angemessenes onto-anthropologisches Verständnis der Natur des Menschen, die die Gesellschaft antreibt, diesem normativen Maßstab der Humangerechtigkeit im geschichtlichen Zeitstrom folgen zu müssen. Es geht also um eine post-theologische Onto-Dramatik, nicht um eine Theo-Dramatik der menschlichen Geschichte. Ich verstehe nicht, warum die Moderne auf diese Metaphysik verzichten sollen muss. Welcher verstiegene Rationalismus treibt hier das Denken daimonisch an? Gewiss: Es gehört mit zur Natur des Menschen, dass er das Wissen um die Beschaffenheit seiner Natur erst im historischen Geschehensprozess über die Epochen (und über die Epochenschwellen hinweg kollektiv erinnerend und im kulturellen Gedächtnis abspeichernd) hinweg erlernen musste. Damit bleibt auch diese ontologische Wahrheit der Personalität ein kognitives Konstrukt reflexiver Vernunft. Aber ist dies erst einmal erkannt, kann man die Welt auf diesem Fundament bauen. Es ist nicht mehr der Fels, auf den Petrus sein Weltbild aufbaute, wobei es ja Gott war, der wiederum auf Petrus bauen wollte. Der Mensch muss auf sich selber aufbauen. Das ist eine wackelige Angelegenheit. Aber eine Alternative gibt es nicht. Oder doch: Aber diese Alternative wäre regressiv. Es wäre ein Fels, an den die Menschen gekettet würden. So wie einst Prometheus. PromeBorowski M & Paulson St L (Hrsg) (2015) Die Natur des Rechts bei Gustav Radbruch. Mohr Siebeck, Tübingen. 134 Tillich P (1991) Liebe – Macht – Gerechtigkeit, de Gruyter, Berlin. 133

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Eröffnung und Zugang

theus war nicht ganz ohne Schuld, betrieb er doch eine frech-dreiste Geschichte gegen den henotheistisch hohen, Blitze schleudernden 135, zornigen Zeus (mit dem römischen Jupiter 136 als angepasstes Analogon), über den, als indogermanischer Himmelsgott 137, nur noch das Schicksal stand, das durch seine Töchter, die Moiren 138, anthropomorph personalisiert wurde. Mitleidend mit dem Schicksal von Prometheus, wirkt die Strafe unverhältnismäßig. Noch stand das Schicksal (vgl. auch in 67), dem Menschen entzogen, über alles. Auch in der etruskischen Welt, in der die Vorstellung von der menschlichen Vergänglichkeit betont wurde, waren es Moiren, deren Name man nicht aussprechen durfte 139, die über den Zeitpunkt der Endlichkeit herrschten. Es dauerte, bis die aufgekommene Erlösungsreligion den Mythos abänderte und Prometheus das schmerzvolle Leiden nahm. Die regressive Alternative, um die es jetzt gehen würde, wäre aus der Unfähigkeit zur sittlichen Freiheit geboren. Es ist die sittliche Freiheit, die die Humanität des Menschen betont: das Schicksal, von dem religionsgeschichtlich soeben die Rede war, ist in säkularisierender Weise demaskiert worden. Nun rückt die Verantwortung für das Tun der Menschen in den Vordergrund, denn die Ethik der Verantwortung ist die unabdingbare Kehrseite der Freiheit der Entscheidungen, dabei aber sicherlich immer die Umstände, also die Bedingungen der Entscheidungssituationen, mitbedenkend.

9.

Leitstern, Geist, Telos

Trotz meiner post-theo-logischen Sicht gilt: Die Idee des in den Himmel der uns orientierend leuchtenden Gestirne als in zentraler Weise aufgestiegene leitende »Stern« des heiligen Prinzips der Personalität

Jacobsthal P (1906) Der Blitz in der orientalischen und griechischen Kunst. Weidmann, Berlin. 136 Wissowa G (1902) Religion und Kultus der Römer. Beck, München: S. 100 ff. 137 Motz L (1998) The Sky God of the Indo-Europeans. Indogermanische Forschungen 103: S. 28–39. 138 Giannoulis M (2010) Die Moiren. Tradition und Wandel des Motivs der Schicksalsgöttinnen in der antiken und byzantinischen Kunst. Aschendorff, Münster. 139 Prayon F (2004) Die Etrusker. Geschichte – Religion – Kunst. 4. Aufl., Beck, München: S. 79. 135

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

öffnet das »Tor« zu einem sozialen Fortschritt (dazu auch in 57; 70). Diese Idee des sozialen Fortschritts ist säkularisiert u. a. auch in der Präambel der EU, dort als nicht identisch mit einem ökonomischen Fortschritt verstanden, kodifiziert (12). Damit wird ein »Tor« geöffnet, das auf den vom »Stern« ausgeleuchteten Pfad einer humangerechten Zukunft mit dem Telos der Personalisierung (Paul Tillich) verweisen kann. Mit den Metaphern des Tores und des Sternes greife ich vor. Beide Metaphern aus dem Umkreis eines jüdischen und christlichen Existenzialismus werden mich noch beschäftigen, wenngleich ich bereits hier erneut, wenngleich penetrant, konstatieren muss, dass ich einen säkularisierten Weg der Hermeneutik dieser metaphorologischen Sprache in meiner poetischen Strategie vertreten werde (48). Der Mensch selbst macht durch die Freiheit seiner Entscheidungen seine eigene Geschichte, die er dann allerdings auch verantworten muss. Soeben handelte ich ja noch über das Schicksal, figuriert in den Moiren der Griechen und Etrusker. Dieser auch biblische »TunErgehens-Zusammenhang« ist, ich komme nochmals darauf zurück, uralt schon bedacht worden und prägte die aufkommende Ethik der Gerechtigkeit im Kontext des Alten Testaments. Daran knüpft sich die sog. Goldene Regel, die ich mit Blick auf das Sittengesetz unserer Verfassung noch umfassend bemühen werde. Ich werde auch zeigen, wie dies das Externalitätsproblem in der zwischenmenschlichen Interdependenz, auch in trans-generationeller Hinsicht (3), prägen wird. Die Frage ist: In welchem »Geist« trifft der Mensch seine Entscheidungen und macht dadurch Geschichte? Was ist der Daimon, der ihn treibt? Welcher habituelle Sozialtypus von Mensch wird von welcher Art von kulturellem Skript getrieben? Das sind die relevanten Fragen, weil davon die humangerechte (oder eben auch seinsverfassungsverfehlende) Art und Weise des sozialen Zusammenlebens abhängig ist. Das Thema ist zugleich rechtsphilosophisch zu verstehen, da das Prinzip der Personalität das Verbindungsstück darstellt zwischen der Seinsverfassung der conditio humana einerseits und andererseits der metaphysisch verankerten Textur der konstitutionellen Verfassung des sozialen Rechtsstaates. Das, was ich unter Personalisierung verstehe, ist demnach eine höhere qualitative Prädikatsstufe des Individuums. Und deshalb ist sie als heilig axiomatisiert in der Verfassung des GG. Man merke, dass ich eine andere Begriffssystematik hinsichtlich Individuation und Personalisierung habe als z. B. im Fall von Carl 61 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Eröffnung und Zugang

Gustav Jung. 140 Doch will ich solche begriffssystematisch-komparativen Überlegungen nicht aufgreifen und ausführen. Wir müssten dazu breit in die Theoriegeschichte der Sozialphilosophie, der Soziologie und der Sozialpsychologie der Identität eintauchen und den verästelten Baum dieser Wissenschaftsgeschichte nachzeichnen. Dazu gibt es auch bereits viele Beiträge. Ich gehe auch nicht auf die verästelte Entwicklung der personalistischen Strömungen in der Geschichte der Philosophie und der Theologie und sodann auch der Psychologie sowie der kulturkritischen Sozialphilosophie und Gesellschaftslehre ein. Doch was ist denn dann hier in spezifischer Weise gemeint? Da ich mich dem Personalismus (30; 62; 64), der 141 mich hier in seiner Vielfalt der Entwicklungslinien an ein Delta als ausufernde Flusslandschaft erinnern mag, nicht rekonstruierend zuwenden möchte, ihm jedoch verpflichtet fühle, darf betont werden, dass ich glaube, dass die Theorie des »guten Lebens« nicht ohne eine entsprechende daseinsthematisch orientierte, existenzanthropologisch fundierte Psychologie der Dialogizität der Person auskommt. So können wir theoretisch nicht sinnvoll über die Bedeutung der Sozialraumbildung (62; 64) reflektieren, wenn wir nicht diese grammatische Klammer erkennen und verstehen, die zwischen der Seinsverfassung und der Verfassung des sozialen Rechtsstaates besteht. Dies gilt m. E. gerade auch dann, wenn eine solche Theorie des guten Lebens eine Funktion der Rechtsphilosophie ist, die soziologisch aufgeklärt in eine politische Theorie der Möglichkeit der Demokratie und ihren notwendigen Voraussetzungen und hinreichenden Gründen übergehen muss. In diesem Sinne hatte William Stern 142 treffsicher die Psychologie der Person definiert als Schnittpunktwissenschaft, dabei partizipierend an drei Bereichen, nämlich der Geistes-, der Sozial- sowie der Biowissenschaften. Eine Kulturtheorie – eben auch die Verfassung des Rechtsstaates – ist daher immer auch gebunden an die Seelenlehre der Menschen, die in der Geschichte als Kultur ein Gebilde des

Vgl. z. B. Goldbrunner J (1966) Individuation. Selbstfindung und Selbstentfaltung. 3. Aufl. Erich Wewel Verlag, Freiburg i. Br. 141 Kobusch Th (1997) Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. 2., erw. Aufl. WBG, Darmstadt. 142 Stern W (1918) Grundgedanken der personalistischen Philosophie Reuther & Reichard, Berlin. 140

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

sozialen Zusammenlebens bilden, wie es Frobenius 143 als Paideuma benannte. Dergestalt ist ferner Dilthey zu zitieren: »Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhangs wirksam.« 144

10. Kritische Theorie Die kulturgeschichtliche Genealogie des Individuums als ein Ich war immer schon gebunden an die Entelechie seines Potenzials als Person. Bis heute ist aber die Kluft zwischen Individuum und Person-Sein als ontisch-ontologische Differenz (48) nicht hinreichend gemindert oder gar annähernd geschlossen worden. Das ist die anhaltende Krise der Moderne. Sie hat ihr Versprechen bislang nicht hinlänglich gehalten, ist also wortbrüchig geworden bzw. von Anbeginn gewesen. Hier scheint der Blick der Kritischen Theorie als modallogische Dialektik und somit als Möglichkeitswissenschaft 145 auf, die ich vorliegend einbringe und vertreten möchte. Und diese Kluft von Idee und Realität generiert die Empörung der Kritik (35), ist aber kein hinreichender Grund, um auf die naturrechtlich gefasste Idee, nämlich auf die Idee der personalen Würde, zu verzichten. Eine ontologisch mit hinreichendem Grund gefasste Idee kann nicht erfahrungswissenschaftlich falsifiziert werden. Ich glaube auch nicht an eine post-humane Mutation der menschlichen Natur. Trotz digitaler Transformation (44), trotz Robotik, Prothetik, künstlicher Intelligenz etc., bleibt die Frage nach dem guten Leben des Menschen im Lichte seines von Natur aus personalistischen Status bestehen. Es verschärft sich eher nur die Frage nach neuen Modalitäten der Entfremdung als Vermessung der Kluft. Der Befund, auf den sich eine solche Kritische Theorie bezieht, ist nicht allzu erfreulich: Die Oszillation zwischen Progressionen und Frobenius (1921). Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre. Beck, München. 144 Dilthey W (2006) Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. (1927). Gesammelte Schriften, Bd. 7. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen: hier S. 150. 145 Dazu auch Gantner G (2021) Möglichkeit. Über einen Grundbegriff der praktischen Philosophie und kritischen Gesellschaftstheorie. transcript, Bielefeld. Ferner Voßkamp W, Blamberger G & Roussel M (Hrsg) (2013) Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Fink, München. 143

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Eröffnung und Zugang

Regressionen ist zivilisationsgeschichtlich offensichtlich. Die Metamorphosen 146 des Menschlichen schwanken zwischen dem Pol des liebenswerten, weil liebevollen homo donans einerseits und andererseits dem Pol des monströsen Schreckens der Formen des homo abyssus. Überhaupt scheint die Philosophie des Menschen in seiner Geschichte eine problematisierende Sichtweise des »Einerseits-Andererseits« zu sein. In der Religionsgeschichte ist dies als Binärik von Gut und Böse variantenreich reflektiert worden und hat die Rechtsgeschichte 147 geprägt. Noch, und dann auch überaus prägnant als Tiefensignatur, der Psychoanalyse ist die Erfahrung der Numinosität dieses Schwankungsintervalls des metamorphotischen 148 Menschen anzumerken und hat ferner gerade auch die moderne Kunst zutiefst beschäftigt, etwa im expressionistischen oder im surrealistischen Stil. Und im Kubismus wurde der Mensch zerlegt und in neuen Formen rekonfiguriert. Und im sog. Primitivismus suchte man die Fluchtperspektive in das Ganz Andere, das in erotischer Exotik imaginiert wurde. Ich verzichte auf nähere Ausführungen mit entsprechenden Verweisstrukturen zu diesen Stichwörtern der modernen Kunstgeschichte. Doch könnte man eine umfassende, durchgängige Signatur der Literatur der Moderne geradezu als Arbeit an der Traumadeutung 149 auslegen. Könnte man Rimbauds Ausspruch, wonach das Ich ein Anderer sei, nicht als jene Numinosität des Monströsen verstehen, das schon als das Fremde in der Odyssee 150 ebenso verkörpert wurde wie in der modernen Science-Fiction, aber nun auch auf die Potenziale des eigenen Selbst verweist? Nun, darüber handelt eine Fülle von modernen kulturwissenschaftlichen Studien. Ob als homo donans (19; 34; 61) oder als homo abyssus: Immer ist der Mensch einerseits in seine sozialen Beziehungen und andererseits mit seiner Stellung im Kosmos in den Allzusammenhang der

Dorschel A (2009) Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 147 Otto E (2008) Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Harrassowitz, Wiesbaden. 148 Buxton: R G A (2009) Forms of Astonishment: Greek Myths of Metamorphosis. Oxford University Press, Oxford. 149 Baer U (2002) Traumadeutung. Die Erfahrung der Moderne bei Charles Baudelaire und Paul Celan. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 150 Schulz R (2020) Als Odysseus staunte. Die griechische Sicht des Fremden und das ethnographische Vergleichen von Homer bis Hesiod. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 146

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

Natur eingestellt. 151 Sein Verhältnis zu seiner sozialen Mitwelt, in der er geschichtlich immer schon eingefügt ist, wirft die Frage der generativen Grammatik des Sozialen auf. Welche elementaren, jedoch keineswegs auch einfachen Mechanismen generieren das Zusammenleben, bestimmen Statik und Dynamik dieses Zusammenlebens? Um dies zu erläutern, muss ich relativ weit, also breit, aber auch tief, ausholen. Nur über Umwege kommt man an das Ziel.

Exkurs: Zur Betriebswirtschaftslehre der Philosophie Die bekannte Idee der sehr oft zur Energieeinsparung (als Ökonomik effizienter Mühe) erhofften und angestrebten Abkürzungen bringt uns um den Ertrag der Reise. Dann ist die Effektivität reduziert. Das produktionstechnische Konzept der Effizienz (Ez) diskutiert nur unter Minimax-Bedingungen die Relation von Input (i) und Output (o): Ez = Ez (o [i]). Aber die Effektivität (ZE) bezieht sich performativ auf die finalen Ziele (Z): ZE = ZE (Z [Ez]). Soweit der sehr kleine, aber m. E. wichtige erläuternde Exkurs, der deutlich machen soll: Statt Abkürzung kann ein hoher zu gehender Wegeaufwand notwendig sein, um die Ziele zu erreichen. Gehen wir also diese Verästelungspfade, die ich für sinnvoll erachte. Die Kategorie der Gabe (vgl. im Publikationsverzeichnis: 61; 43; 19) ist in den Gang der Überlegungen einzubauen und wird von mir immer wieder aufzurufen sein. Die Ur-Gabe, die jede Form der Reziprozität als Grammatik des Sozialen generiert, ist nicht ein Geben eines Subjekts, aus der sodann die Dynamik der obligatorischen Gegen-Gabe als Dankesschuld des Nehmens resultiert. Die Ur-Gabe ist bereits das Gegeben-Sein des Anderen in seiner vorgängigen Unbedingtheit und Unverfügbarkeit. Dies ist eine Art von inverser Phänomenologie der Gabe. Die Gabe geht als Kategorie nicht voll auf in Modellen eines methodologischen Individualismus in den verschieIch setzte mich hier aber nicht mit der Position von Bruno Latour auseinander: Gertenbach L & Laux H (2019) Zur Aktualität von Bruno Latour. Einführung in sein Werk. Springer VS, Wiesbaden.

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Eröffnung und Zugang

densten Spielarten erklärender oder verstehender Soziologie. Dies hat Folgen für unsere Fragestellung. Daher ist auch nochmals an das weiter oben betonte Problem zu erinnern, wonach sich Identität immer erst an der Differenz der Alterität entwickelt. Das Subjekt verdankt sich also immer dem Anderen. Den Anderen als Anderen zu erfahren, ist daher nicht a priori identisch mit einem abwertenden Fremd-Machen des Anderen. Ein solches abwertendes Anders-Machen kann die Form sein, die die Begegnung mit dem Andersartigen annimmt. Dies ist aber keine Seinsstrukturfrage, wenngleich das Potenzial der Formbildung 152 dort verborgen ist, sondern eine Frage des Seienden der konkreten Erfahrungswelt, das immer in einer geschichtlichen Formbestimmtheit vorliegt und auf das narrative Motiv in den sozialen Praktiken der Begegnung verweist. Diese epistemologische Differenz ist zu verstehen: Redet man über die Sozialontologie von Alterität und Identität oder über empirische Kulturanalyse der sozialen Praktiken in konkreten sozialen Konstellationen einer Gesellschaft in ihrer zeitgeschichtlichen Ausformung einer Epoche? Das sind zwei verschiedene Abstraktionsebenen, die aber im Modus des seienden Seins zum korrelativen Komplex bis hin zur Verschachtelung getrieben werden müssen. Verschachtelung meint hierbei jedoch eine gespaltene Einheit der Einheit und Differenz: E = (E + D). In einer daseinswahren Form einer jederzeit kontingenten Entelechie des seienden Seins, das hier hylemorph verstanden wird, gilt: Erst die staunende Ehrfurcht vor der erfahrenen Aura der Würde des unverfügbaren Anderen, die im Bund sakramentalisiert wird, sichert die Dominanz des Dispositivs der Würde über das gegenläufige Dispositiv der Demütigung durch Praktiken der Bevormundung, der Kränkung und der Ausgrenzung. Polarität und damit die Gegensätzlichkeit ist ein ontologisches Prinzip im Aufbau der Struktur des Seins der Welt. Aber erst das konkrete seiende Sein ist Gegenstand einer kritischen Sicht der Formen, die das Strukturprinzip der Polarität von Alterität und Identität

Rombach H (1971) Strukturontologie: Eine Phänomenologie der Freiheit. Alber, Freiburg i. Br. – München.; Rombach H (1994) Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer Phänomenologischen Soziologie. Alber, Freiburg i. Br. – München; Rombach H (2012) Strukturanthropologie. »Der menschliche Mensch«. Alber, Freiburg i. Br. – München.

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Einleitende Vorbemerkungen als Grundlegung

annimmt: Würde (W) versus Demütigung (D). Es ist ein Kampf der beiden großen Kräftefelder (W → |Mensch| ← D) in der Kultur als Geometrie des Raumes des Sozialen: Wer ist »oben«, wer ist »unten«? Wer besetzt als Insider die Zentren, wer wird als Outsider in die Peripherien ausgegrenzt? Wer gehört zu der Orthodoxie der Etablierten, wer zur Heterodoxie der Außenseiter, die mitunter der Häresie (in der Theologie und Kirchenpraxis) bzw. der Devianz (in der Geschichte der politisch missbrauchten Rechtspraxis) bezichtigt werden? Formal: [W > D] → Werden der Gestaltwahrheit der Person →



[W D] führt und dadurch [W 0) → (∂ LQ [AE] = 0), dort als Förderung positiver Externalitäten: (∂ LQ [E] > 0) → (∂ LQ [AE] > 0). Reddemann L (2008) Würde: Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie. Klett-Cotta, Stuttgart. 216 Guardini R (1952) Die Annahme seiner Selbst. Werkbund Verlag, Würzburg. 215

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»Ordnung der Freiheit«

Die Selbstliebe, deutlich abzugrenzen von der Selbstsucht im Kontext der Form des destruktiven Narzissmus als Störung der Persönlichkeit 217, schafft ein inneres Gleichgewicht von Bindungserfahrung und Bindungsfähigkeit und schafft dergestalt auf einer zwischenmenschlichen Ebene ein neues Gleichgewicht des gelingenden Miteinanders. Komme ich aus dem Exkurs zurück zu dem Würdebegriff von Bieri insgesamt. Mit seinen Ausführungen differenziert er das semantische Potenzial des Würdebegriffs und könnte sodann sogar noch einige Schritte weiter gehen zu einer Operationalisierung, weil hierbei eine Reihe von psychologischen Konstruktvariablen zur Messung nutzbar wären, die das phänomenologische Erlebniserfahrungsgeschehen in Selbst- wie Fremd-hermeneutischer Perspektive veranschaulichen könnten. Die drei Fragen, die Bieri 218 hier stellt, sind instruktiv: a) »Was alles kann man jemandem wegnehmen, wenn man seine Würde zerstören will?« b) »Welche Muster des Tuns und Erlebens den anderen gegenüber führt zu der Erfahrung, dass ich mir meine Würde bewahre, und mit welchem Tun und Erleben verspiele ich sie?« c) »Welche Art, mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, gibt mir die Erfahrung der Würde?« Ich sehe hierbei aber nicht, warum Naturrecht und Erfahrung im Widerspruch stehen. Gewiss, das Naturrecht der Würde ist eine ontologische Wahrheit, deren Richtigkeitsklärung keine Frage der Erfahrungswissenschaft ist. Die ontologische Idee erweist sich aber im Status eines Idealtypus als zwingend notwendig, weil als hilfreich, um über den Empirismus und Positivismus empirischer Befunde hinwegzugehen und deren Bedeutung zu skalieren. Die poetische Strategie einer Wissenschaft, die Praxeologie betreibt, also nach den sozialen Praktiken der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit durch die Subjekte im Alltag der Menschen fragt, exploriert die Poetologie der Akteure der alltäglichen Poesie, die man die Geschichten nennt, die das Leben schreibt. Wenn sich die Kulturtheorie auf diese Re-Konstruktion des Lebens erfahrungswissenschaftlich Kohut H (1976) Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 218 Bieri P (2019) Eine Art zu leben – Über die Vielfalt menschlicher Würde. 5. Aufl. Fischer, Frankfurt am Main: S. 13. 217

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

beschränkt, dann kann sie in keine Beziehung zur sozialen Wirklichkeit eintreten, die über Es gibt-Sätze über die explorierten sozialen Mechanismen hinausgeht. Doch kann eine Kulturtheorie auf eine Ethik prädikativer Einschätzung der Befunde verzichten? Geht es dann nur um Prädikationen persönlicher Einschätzungen? Oder gibt es Maßstäbe, die sich als Idealtypus humangerechter Gestaltwahrheit erweisen und zur normativen Vermessung der empirischen Befunde eignen? Die in der Philosophiegeschichte und sodann in der Wissenschaftstheorie überwiegend dominierende Wahrheitstheorie ist die Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit. Hierbei meint Wahrheit die Übereinstimmung gedanklicher Vorstellungen (in Form mentaler Modelle und rekonstruktiver Repräsentationen) mit der Wirklichkeit. Propositionen können jedoch ebenso gut von wirklichen wie von möglichen und gedachten Sachverhalten handeln. Aussagen über Möglichkeiten ergeben sogenannte modale Aussagen. Und sie nehmen ebenfalls Wahrheitswerte an. Zur Wahrheit der sozialen Wirklichkeit gehören also auch die Möglichkeiten des Wahrwerdens von Möglichkeiten im Noch-Nicht-Status, die endogen in der Faktizität als faktische Fiktionen angelegt sind. Doch was bedeutet dann Objektivität und Wahrheit der Wissenschaft in Bezug auf die Faktizität sozialer Wirklichkeit? 219 Meine Schlussfolgerung daraus wäre: Ontologische Analysen, die das moderne objektive Naturrecht des Subjekts hinreichend gut begründen, können somit als Teil der Realität zur prädikativen Vermessung der Bedeutung empirischer Befunde normativ herangezogen werden. Die empiristische Ist-Analyse der Praxeologie würde dergestalt zur Soll-Ist-Analyse Kritischer Theorie erweitert werden. Dabei kann die prädikative Normativität innerhalb der Kritischen Theorie zwei Formen annehmen: a) Als Geschichtsphilosophie dynamischer Prozessontologie könnte sie modallogisch argumentieren und die Normativität als Teil der Endogenität des transformativen Wandels verstehen. b) Als Theorie der Entfremdung kann sie das Zusammenspiel von Naturrecht und sozialer Wirklichkeit vermessen, indem sie die Erfahrung auf den Idealtypus bezieht. Zweiter Baustein: Inversion der Transzendentalphilosophie bei Lambert Wiesing: Die Wahrheit der empirischen Wahrheit muss sich Bollnow O F (1962) Die Objektivität der Geisteswissenschaften und die Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Zeitschrift für philosophische Forschung 16: S. 3–25.

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»Ordnung der Freiheit«

existenziell im Lichte der onto-anthropologischen Wesensbestimmung des Menschen erschließen. 220 Wobei auch bei dieser SubjektObjekt-Beziehung das Subjekt, das im Gegenüber zu dem Objekt steht, Teil eines das Subjekt und Objekt übergreifenden Zusammenhangs – Merleau-Ponty betont das Milieu und den Horizont als Rahmen der Subjekt-Objekt-Relation 221 – ist, weil die beobachtbare und manifeste subjektive Wahrnehmung des Subjekts eine als Tiefengrammatik objektiv waltende Wahrnehmungsweise 222 ist 223, die als Schema signierend das Subjekt hat 224: Nicht das Subjekt hat eine Wahrnehmung, die Wahrnehmung hat vielmehr das Subjekt: Dies kommt einer Umkehrung der klassischen egologischen Phänomenologie gleich. 225 Die Subjekt-Objekt-Beziehung ist durch Milieu (M) und Horizont (H) eingeklammert: [ MSubjekt – ObjektH ]. Dies bedeutet, dass das Subjekt nicht in unbedingter Freiheit einem Objekt gegenüber positioniert ist, sondern Subjekt wie Objekt relationierte Teile eines Gesamtzusammenhangs sind. Oder mit Lambert Wiesing argumentierend: Statt die Möglichkeit der Wahrnehmung entweder vom Subjekt (idealistisch-cartesianischer Subjektivismus) oder vom Objekt (objektiver Materialismus) aus zu erklären, argumentiert Wiesing für eine Inversion der Transzendentalphilosophie, weil der Ort des Transzendentalen nicht länger das Subjekt, sondern die Wahrnehmung selbst ist: Nicht das Subjekt konstituiert phänomenologisch das Wahrnehmungsobjekt, sondern die Wahrnehmung konstituiert umgekehrt das Ich als ein Mich. Daher kann in diesem Sinne von einem »Mich der Wahrnehmung« gesprochen werden. Das Subjekt ist ein Mich, weil es eine Folge der Zu Bollnow: Schüz G (2001) Lebensganzheit und Wesensoffenheit des Menschen. Königshausen & Neumann, Würzburg. (vgl. auch in 14; S. 148 ff.) 221 Merleau-Ponty M (1976) Phänomenologie der Wahrnehmung. De Gruyter, Berlin. 222 Gloy K (2011) Wahrnehmungswelten. Alber, Freiburg i. Br. – München. 223 Die Sicht findet sich im Grundsatz auch schon bei Bollnow: Bollnow O F (1970) Philosophie der Erkenntnis. Das Vorverständnis und die Erfahrung des Neuen. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 224 Bollnow O F (1981) Philosophie der Erkenntnis. Das Vorverständnis und die Erfahrung des Neuen. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart. 225 Gondek H-D u. a. (Hrsg) (2011) Phänomenologie der Sinnereignisse. Fink, München. 220

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

Wirkung der Wahrnehmung ist. Folglich ist das Subjekt in seiner Leiblichkeit als affizierbar und somit als ein Teil der Welt zu verstehen: »Meine Wahrnehmung benötigt, um überhaupt meine Wahrnehmung sein zu können, mich als ein sinnliches Subjekt, das von Dingen affiziert werden kann – und genauso ist es für mich, ein Wahrnehmender zu sein. Ich fühle mich nicht nur anwesend, sondern werde in Wirkungszusammenhänge involviert, zu einem Teil im Kausalverkehr der weltlichen Dinge, eben zu einem bewirkten Subjekt.« 226 Das ist sodann kohärent und konsistent auch auf das Phänomen des Selbstbewusstseins zu übertragen. Das »Dritte« ist somit zu denken als ein alles (Subjekt und Objekt) umspannender Sinnhorizont. Im vorliegenden Zusammenhang denken wir dies als das grammatische Integral des Miteinanders, das Freiheit und Verantwortung verklammern kann. Das hat nun wiederum Folgen für den Daseinsstil zwischen Selbsthingabe und Selbstbehauptung, zwischen den, wie es Wiesing nennt, Polen eines »malerischen« Modus eines Mit-der-Welt-verbunden-Seins und eines eher »linearen« Von-der-Welt-distanziert-Seins« 227. Diese Sicht ist sehr nahe an meiner oben vorgenommenen Kulturtypenlehre des Sozialcharakters V (hf) und V (hoi). Das Malerische als Art und Weise der Weltbeziehung stellt eine integrative Gestaltqualität ab, während die lineare Art der Weltbeziehung eher technischer Art ist und eher an eine abstrahierende Skizze als an ein lebendiges Gemälde erinnern mag. Die Umkehrung bisheriger subjektiver Phänomenologie wird auch dort deutlich, wo Lambert Wiesing »Sehen-Lassen« und »Zeigen« entsprechend vermittelt. 228 Für mich übertrage ich dies wie folgt: Der Andere zeigt sich als ein Sehen-Lassen und das Subjekt sieht sich als das Zeigen sehend an und kann sodann auf den lassenden Anderen zeigen. Dies ist eine weltphänomenologische Dynamik von Übertragung und Gegen-Übertragung, die ich weiter oben in der Figuration und Umkehrung diskutiert habe. Das Zusammenleben beginnt mit der Gegenübertragung des epiphanen Anderen. Erst dann

Wiesing L (2009) Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt am Main: Suhrkamp: S. 177. 227 Wiesing L (2020) Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins. Suhrkamp, Berlin: S. 171. 228 Wiesing L (2013) Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 226

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»Ordnung der Freiheit«

kommt es zur respektvoll-achtenden Anerkennung im Sinne von Entitlement seitens der aktiven Passivität des Subjekts. Zwar teile ich nicht Wiesings anti-semiotische Bildtheorie, die hier nicht aufgegriffen, referiert und verhandelt werden soll, aber seine Überlegungen, die knapp und dicht soeben skizziert worden sind, sind für mich ausgesprochen instruktiv und leiten meine Rezeption von Maurice Merleau-Ponty. Dritter Baustein: Phänomenologie der Verflechtung bei Maurice Merleau-Ponty: Merleau-Pontys Philosophie lässt die Phänomenologie in einen intensiven Dialog mit den Denkstilen des Strukturalismus, der Gestalttheorie, der Psychologie und verschiedenen philosophischen Denktraditionen eintreten. Der Schwerpunkt seiner äußerst vielfältigen und weit ausspannenden denkerischen Arbeiten ist dabei die Rolle des Leibes. Der Leib ist der Schlüssel, um zu verstehen, wie sich der Mensch sich selbst und die Welt erfährt. Vor allem problematisiert Merleau-Ponty die Fokussierung auf die Intentionalität in der subjektiven Phänomenologie. Zwischen Subjekt und Welt steht der Leib und integriert diese Schnittstelle und vermittelt Geist und Körper: Der Leib fundiert den Ort des Menschen in der Welt. Dies ist eine Problematisierung des linearen Typs des Weltverhältnisses, der Gefahr läuft, in instrumentelle Vernunft umzukippen. Der Leib und vor allem die Leiberfahrung konstituiert den malerischen Typus, der affiziert wird von der Welt, in der er steht, aber eben auch auf diese Welt reagiert, was ich Responsitivität nenne. Später radikalisiert Merleau-Ponty seine dritte Art von Phänomenologie zwischen Subjektivismus und Objektivismus. 229 In der Kategorie des Fleisches wird die Einheit bzw. Identität und Differenz nicht-subjekt-zentriert gedacht. Er denkt das Alles als »Verflechtung«. Immer ist alles Innen und Außen zugleich.

1.15 Auratische Offenbarung des unbedingten Anderen Was ist in diesem Schritt die Herausforderung des Denkens? Eine psychoanalytische Kategorie mag nutzbar sein, um ein ontologisches Problem verständlich zu machen: Die Offenbarungserfahrung ist als

Merleau-Ponty M (1994) Das Sichtbare und das Unsichtbare. 2. Aufl. Fink, München.

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

Gegenübertragungs-Spiegel des vorgängigen Anderen zu denken. Das hatte ich bereits angedeutet. Eine Reziprozität, die dadurch entsteht, dass der Andere ja selbst ein Subjekt ist, während das Subjekt, das die Aura des gegebenen Anderen in dessen Selbstoffenbarung empfängt, wiederum zu einem Anderen wird, ist daher kein zuteilendes Geben und Nehmen, sondern eine Reziprozität der jeweils direktionalen Spiegel-Gegenübertragung mit Blick auf die unbedingte Selbstübertragung des sich in der Aura offenbarenden Anderen. Lacans 230 Spiegel-Erfahrung des Kindes ist daher weniger eine reine Ich-Erfahrung als eine hermeneutische Auslegung von Rimbauds Ausruf, das Ich sei ein Anderer. 231 Denn die Identität als ein Ich setzt immer schon die Differenz des Anderen voraus. Erst in der Andersartigkeit des eigenen Ich gegenüben dem Anderen bin ich selbst ein Ich. Das Ich und das Du und dieses Du als ein Ich sowie jenes Ich als ein Du sind also ursprünglich immer selbst schon gegebene Andere, die die Würde nicht vom dialogischen Ich zugeschrieben und somit zugeteilt bekommen, sondern vorgängig und daher unbedingt immer schon haben. Das hat für die vorliegende Fragestellung eine bedeutungsvolle Konsequenz: Das Entitlement der Grundrechte ist immer bedingte Zuschreibung von Ansprüchen. Die Ansprüche selbst sind unbedingt. Aber die Sprechakte oder die nonverbalen Praktiken der Zuschreibung sind bedingt, nämlich durch die vorgängige Unbedingtheit des Anderen. Es handelt sich also um bestätigende Zuschreibungen. Das Du hat bereits das Recht, bevor ihm das Recht erteilt wird. Im Moment dieser in Sprache gefassten geistigen Durchdringung erfolgt eine erkennende Zuschreibung, die aber kein generöses moralisches Geschenk ist, sondern nur ein staunendes »Aha«-Erlebnis der Offenbarungserfahrung. Alles bleibt immer in Sprache gefasst. Deshalb habe ich weiter oben den Nominalismusstreit und somit die Universaliendebatte aufgegriffen. Denn mein Theorem der nicht-zuschreibenden Zuschreibung knüpft sich an die hybride Vorstellung des Zusammenspiels von Sprache als Zeichensystem und nicht unmittelbar verfügbarer

Roudinesco E (2011) Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Turia + Kant, Wien – Berlin. 231 Ricœur P (2005) Das Selbst als ein Anderer. Fink, München. 230

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Realität, die als korrelativ gedacht werden kann oder als eine integrative Mitte, in der sich Begriff und Sache treffen. Jede intersubjektive dialogische Verständigung über diese geistige Durchdringung in Bezug auf diese zuteilende Nicht-Zuteilung ist nur ein sekundärer Nominalismus – und folgt der Wirkung von Gefühlen 232, die unmittelbar ein Miteinander ermöglichen – als Erkenntnis der objektiven Seinsstruktur. »Der Andere hat Würde« ist eine symbolische Bezeichnung, die aber auf eine objektive Eigenschaft verweist, weil die personale Würde als Wesenskern der Natur als Seinsbeschaffenheit des Anderen erkannt wird. Selbst wenn auch diese Erkenntnis an die Sprache des Denkens gebunden bleibt: Es ist zugleich eine Erkenntnis über eine Eigenschaft der Sache. Natürlich haben wir die Welt nur im Modus des symbolischen Zeichensystems, die wir Sprache (auch die der Mathematik) nennen, aber es wäre jenseits der Wissenschaft anzunehmen, es gäbe keine Objektivität der Sachen, die im Zeichensystem rekonstruiert werden, denn in einem solchen psychotischen Wahn-Konstruktivismus gäbe es keine Welt, sondern nur die Einbildung dieser Welt, wobei die Einbildung selbst zur Einbildung wird. Rekonstruktion setzt immer die Objektivität einer Sache voraus, die »re«-konstruiert wird. In der Re-Konstruktion liegt der konstruktive Charakter des Denkens verborgen, stellt aber keinen reinen radikalen Konstruktivismus dar. Die Würde ist eine objektive Dimension des Wesens der Natur des Menschen, die, wenn sie erkannt wird, als Idee subjektiv eine sekundäre Spiegelung und somit eine bestätigende Gegenübertragung ist: »Ja, Du bist das, was Du objektiv immer schon warst«, was aber konkret-geschichtlich bedeuten kann: »auch dann, wenn Du es noch nicht seiend bist.« Die formale Identitätslogik muss sich, um dies akzeptierend zu verstehen, zu einer Modallogik dynamischer Prozessontologie (60) als Wissenschaftstheorie der Geschichte entwickeln. Daraus resultiert also das ontologische Phänomen des NochNicht als Kategorie einer dynamischen Prozessontologie hylemorpher Entelechie und folglich die kritische Nachfrage an das Seiende als unvollkommene Form des Seins, wie das Wirklich-Werden dessen, was objektiv immer schon gegeben ist, eine humangerechte Gestaltqualität im Sinne sozialer Wirklichkeit in der Geschichte als Zeitlichkeit des Daseins zwischenmenschlicher Beziehungen als Kultur Schloßberger M (2005) Die Erfahrung des Anderen. Gefühle im menschlichen Miteinander. Akademie Verlag, Berlin.

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des Sozialen entwickeln, also werdend annehmen kann (48). In diesem Sinne ist die geschichtliche Zeit des Menschen immer schon messianisch erfüllt als Hoffnung auf das Sinn-Gelingen, dass im Seienden des Seins sich entfaltend geschehen soll. Und in diesem Sinne verknüpfe ich die beiden oben unterschiedenen Formen Kritischer Theorie, der a) Geschichtsphilosophie als dynamische Prozessontologie in der Methodologie der negativen Dialektik und b) die Kritik entfremdeter Lebensformen im prädikativen Prisma der modernen objektiven Naturrechtslehre des Subjekts als idealtypischen Maßstab zur Vermessung der Erfahrungswelt. Diese komplexe Kritische Theorie kann sodann in Interaktion mit der Praxeologie kritischer Kulturtheorie eintreten.

1.16 Glauben und Bund Was ist in diesem Schritt die Herausforderung des Denkens? Nochmals ist die Heiligkeit des Bundes in Bezug auf die Heiligkeit seines zentralen Themas aufzurufen und vertiefend zu reflektieren. Der Bundesgedanke ist uralt und ist ein axiales Thema im Alten Testament (1). Wird der Bundesgedanke dort auch vertragstheoretisch gedacht, so bis in die Syntax hinein zeitgebunden und daher textredaktionspolitisch in interessanter Weise nach dem Vorbild assyrischer Vasallenverträge im Kontext exilisch-nachexilischer Erfahrung komponiert. 233 Hier konvergieren gemeinaltorientalische Figuren, denn der Bund zwischen dem Gott und seinem auserwählten, aber immer wieder sündigen Volk wird hierarchisch in der Metapher von Hirte und Herde (vgl. auch in 4) zunächst noch sakralköniglich als politisches Repräsentationsmodell, später nur als reine Königsprädikation JHWHs und seinem eventuell schon vor-exilisch datierbaren Thronbesteigungsfest, gedacht. Der Vertrag wurde dort und damals sicherlich nicht im Sinne neuzeitlicher politischer Theorie der Gesellschaft als Vertrag interessierter Markt- und Privatbürger geschlossen, sondern als Bund im Sinne einer Bindung an eine kollektiv geteilte Idee.

Koch Chr (2008) Vertrag, Treueid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium und zur Ausbildung der Bundestheologie im Alten Testament. De Gruyter, Berlin.

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Noch im komparativ validierten historisch-soziologischen Paradigma von Max Weber ist die Einsicht präsent, Interessen müssten von einer kollektiv geteilten Idee als Weltdeutungsmuster gebahnt werden, wenn ein Pfad nachhaltig begangen wird. Es ist nicht ohne Süffisanz – aber nicht gemeint im Sinne eines abwertenden Kommentars aus der überheblichen Haltung eines Hochmuts heraus, der als Praktik der Überlegenheitsinszenierung zu verstehen wäre – zu beobachten, wie in der aktuellen Netzwerkforschung diese klassischen Themen ohne kollektives Gedächtnis 234 kultur- und theoriegeschichtlicher Art terminologisch flacher reformuliert werden als Differenz strategischer Allianzen als »weak ties« einerseits und »Issue«-Netzwerke auf der Grundlage von »strong ties« andererseits, wenngleich schon manche uralte Idee wie die der Amphiktyonie 235 auf hybride Gebilde mit eingebauter strategischer Brüchigkeit verweisen mögen, nicht nur im Alten Testament, in der altgriechischen Welt des Peloponnes und des ägäischen Archipels oder in der KulaRing-Forschung 236 klassischer Südseeethnographie. Vor diesem Hintergrund mag man sich auch noch die aktuelle Kontroverse um die Hybridität der »Europäischen Union« (12) als Verfassungsvertragsverbund zwischen Staatenbund und Bundesstaat anschauen. Jenseits des Funktionalismus der trans-sektoralen »spillover«-Effekte einer Theorie der Stufen einer in Tiefe und Breite differenzierten Binnenmarkt-getriebenen »negativen Integration« (12) wird aktuell an der Rechtsstaatsdebatte mit Blick auf mittelosteuropäische Mitgliedstaaten überaus deutlich, welche archimedische Bedeutung solche meta-ökonomischen Klammerfunktionen einer kollektiv geteilten Werteorientierung, die sich in dem »heiligen« Stiftungstext der Präambel des EUV, auch in der EU-Charta der Grundrechte der Unionsbürger (m/w/d), aber auch im verbindlich geltenden Völkerrecht der UN, findet (27), spielen. Die Bedeutung einer einbindenden Bundesidee wird von einer Soziologie der differenzierten Gesellschaft immer noch modernisieDazu auch: Dimbath O & Heinlein M (Hrsg) (2014) Die Sozialität des Erinnerns. Beiträge zur Arbeit an einer Theorie des sozialen Gedächtnisses. Springer VS, Wiesbaden. 235 Usener K & Kreuzer S (2007) Art. Amphiktyonie In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 21. Dezember 2021. 236 Malinowski B (2001) Argonauten des westlichen Pazifik: Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von MelanesischNeuguinea. 2. Aufl. Klotz, Eschborn. 234

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rungstheoretisch allzu früh und vorschnell verabschiedet als Sozialgebilde traditioneller Gemeinschaften. Aber dieses sequenzielle Denken einer dichotomen Chronologie von Vergangenheit und Aktualität ist selbst ein Problem und bröckelt in verschiedensten kulturwissenschaftlichen Kontroversen. Die Renaissance der Ritualforschung 237 gehört hier ebenso genannt wie die Diskussionen zum kollektiven (kulturellen) Gedächtnis 238, zur Bedeutung der Erinnerungsarbeit, zur Rolle der Mythen und der Remythisierungsarbeit auch in der Moderne. Ein besonders brisantes Thema in dieser Agenda-Dynamik ist die Problematisierung der Säkularisierungstheorie 239 im Lichte der Dynamiken von religiösem Fundamentalismus mit Blick auf die politische Arena und der Formen von Spiritualität mit Blick auf die oftmals biographisch bedeutsame Sinnproblematik in der Biographiearbeit in privaten Lebenswelten. Auch Fragen nach Trends der NeoTribalisierung spielen hier in die Diskursfelder ebenso hinein wie kulturalistische Phänomene radikaler identitärer Fragmentierungskämpfe komplizierter Othering- und Gegen-Othering-Mechanismen im Linksextremismus (vgl. in 60 und in 72) wie im faschistoiden Segment der Neuen Rechten, die wohl kaum ohne eine kritische Psychoanalyse kulturtheoretisch angemessen tief zu verstehen sein werden. Gerade dann, wenn die Hasskultur in Bezug auf eine performative Theorie der Politik als Diskursordnung diskutiert wird 240, muss, darüber sprach ich schon mehrmals, die linke Theorie achtsam sensibel sein für eigene pathogene Mutationen. Der traditionelle Bund ist ritualistisch durch einen Eid auf die Treue begründet. Dabei wird eine große Geschichte erzählt, wenn der Treueschwur nicht leeres Ritual sein soll und folglich der Bund sich als nicht tief verankert erweist. Hier wurzelt die klassische RitualMythos-Kontroverse 241 in der ethnographisch geprägten AltertumsBelliger A & Krieger D J (Hrsg) (1998) Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Westdeutscher Verlag, Opladen. 238 Pethes N (2013) Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. 2., überarb. Aufl. Junius Verlag, Hamburg. 239 Dalferth I U (2015) Transzendenz und säkulare Welt. Lebensorientierung an letzter Gegenwart. Mohr Siebeck, Tübingen. 240 Butler J (2006) Haß spricht. Zur Politik des Performativen. 6. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 241 Ackerman R (2013) The Myth and Ritual School. J. G. Frazer and the Cambridge Ritualists. Routledge, London. 237

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forschung, in der kritisch gefragt wurde, was Ei bzw. Henne sei. Im vorliegenden Zusammenhang spricht, sofern diese Ei-Henne-Paradoxie historiographisch im Horizont einer historischen Epistemologie überhaupt Sinn macht, vieles für die Vorgängigkeit des Mythos, der sich sodann ritualistisch performiert, also bis hin zu Tanz und Musik und sich in den Formen des komischen und tragischen Theaters mit Maskerade, im Chor sedimentiert. Dabei geht es um eine katharsische Pädagogik im Ringen der archetypischen Kräfte einer apollinischen Ordnung und einer dionysischen, heterotope Räume eröffnenden (26) Transgressionsdynamik (22; 23; 41; 60). Auch Formen eines Ahnenkults können hier, aus einer komparativen Sicht heraus auf funktionale Äquivalente hinweisend, ebenso wirksam sein wie die Emergenz von Formen der Religion, wobei religionsgeschichtlich wie religionsphänomenologisch mit Blick auf Animismus und Fetischismus, Anthropormorphismen und Polytheismen oder Monotheismen, mit Blick auf das Verhältnis von Magie und Religion etc. viele berühmte Fässer aufgemacht werden. Das »Heilige« als Phänomen zu begreifen und dabei den TabuCharakter im Zusammenhang von Vorstellungen sowie Praktiken in Bezug auf Reinheit und Unreinheit zu verstehen, ist hilfreich, um den Zusammenhang von Bund und Glauben zu durchdringen. Allerdings wird man zu diesem Zwecke zunächst auch auf die Risiken der ambivalenten Kategorie schauen müssen. Reinheit ist auch ein Element im Weltbild von Faschismus, Rassismus und Sexismus. Vor allem die Idee der Unreinheit im Modus der Hybridität wird mitunter als Verrat stigmatisierend ausgelegt und daher durch Ausgrenzung sanktioniert. Dennoch kann man mit Blick auf das Tabu der Erosion des Axioms der personalen Würde die Kategorie der Reinheit gerade als Bollwerk gegen die missbräuchliche Ideologisierung nutzen. Es gibt also erneut einen dichotomen Code, hier zwei Typen der Reinheit, die mit Licht und Dunkelheit sowie mit Gut und Böse korrelieren. Die Würde soll eben nicht von marschierenden brauen Stiefeln und Schwarzhemden geschunden werden. Reinheit kann also hässliche Formen annehmen. Da passt der Begriff »pures Gift«. Viele kulturanthropologische Studien können uns den Weg zeigen, Reinheitsgebote jenseits derartiger Verwerfungen zu verstehen. Man wird ja den Wert der Reinheit des Wassers epidemiologisch nicht in Frage stellen wollen? Aus der Kulturgeschichte ist diese Heiligkeit des Wassers (10) im kulturellen Gedächtnis in der Abfolge der Generationen und Epochen evident. Mag man das Reinheitsgebot des Bieres wegen 271 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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der Profanität des Getränks weniger ernst nehmen wollen, so teilt doch der Wein das sakrale Schicksal des Wassers. Und es mag schmerzen, zunehmend zu erfahren, dass das reinste Olivenöl der Welt, das aus der ostkretischen Sitia-Region stammt, wegen Überschussproduktion und Absatzproblemen mit billigem Öl anderer Regionen verschnitten wird. Die Angst vor bzw. die Erfahrung von malignen Formen der Erosion eines Bundes thematisieren die soziale Kohärenzbedürftigkeit, psychodynamisch auch die Geborgenheitsbedürftigkeit des Menschen in seiner Kontingenzerfahrung. Das ist eher phänomenologisch auf seine ganze Leiblichkeit in der Strukturschichtung von Geist, Seele und Körper verstehend abzustellen als auf einen versteckten flachen Funktionalismus. Die oftmals antisemitisch motivierte Kritik an der jüdischen Gesetzesreligion verkennt das Problem, dass analog dazu in der christlichen Sozialisationstheorie der Inskription der Lehre in der Figur des »heiligen Geistes« kein Bund ohne Glauben auskommt. Auch das Christentum findet in der Trinitätslehre ihren Weg, Hirt-Herde-Denken, göttliches wie weltliches Elterngebot, Wort- und Schrift-fundierte Dogmatik tiefer zu fundieren in einer Glaubenslehre. Bilderverbot, Rolle von Tanz und Musik, Architekturfragen der Gotteshäuser, Kleidungsordnungen und Geschlechterverhältnisse etc. mögen im Zuge der komplizierten Identitäts-AlteritätsSpiele der auf Kirchenbildungen abstellenden Theologismen differieren, doch bedarf der Bundesgedanke der intra-individuellen Tiefe des Glaubens. Damit gelangen wir schnell in die ebenso komplex differenzierte Welt der Phänomenologie der Religionspsychologie 242, deren Bedeutung evident wird, wenn man religionssoziologische Kultmechanismen wie Initiationsrituale (wie z. B. Formen der Taufe 243 und der Kommunion als »Gott essen« oder auch mit Blick auf die Sinnfunktion von Bußpraktiken) in die Analyse der Amts- und Organisationsentwicklung von Religionsgemeinschaften und Kirchenbildungen im Lichte der »Pastoralmacht« und der Genealogie der diakonisch-caritativen Sorgearbeitskultur einbezieht.

James W (1997) Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Insel, Frankfurt am Main. Vgl. ferner Pöll W (1965) Religionspsychologie. Formen der reeligiösen Kenntnisnahme. Kösel, München. 243 Heitmüller W (1911) Taufe und Abendmahl im Urchristentum. Mohr (Siebeck), Tübingen sowie Reitzenstein R (1967) Die Vorgeschichte der christlichen Taufe. (1929). WBG, Darmstadt. 242

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Wenn die Rolle der Prophetie oder auch von charismatischen Wanderpredigern wie im Fall von Jesu 244 im Kontext von Religionsstiftung analysiert wird, so kann schnell deutlich werden, wie es um gouvernementale Bemühungen um das Regieren der Individuen steht: Die »Lehre« muss sich einschreiben in das Subjekt, das so erst (im »Zeitalter der Angst« 245 der Antike) formatiert wird. Mag sein, dass das paulinische Christentum hier eine Form der Innerlichkeit 246 generiert hat, die z. B. homerisch 247 noch nicht zu haben war 248 und eine längere genealogische Sozialevolution darstellt. 249 Dennoch teilt der hellenistische Kulturraum des orientalisierten römischen Reichs immer noch, kulturanthropologisch gesprochen, die sozialmorphologischen Grundzüge der »korporativen Persönlichkeit« im Spannungsfeld von Oikos und Polis, von Stadt und Land, von Vereinen, Kultgenossenschaften, Kaiserkult, Ständen und urbaner »melting pot«-Multikulturalität der dynamischen Mobilität im Mittelmeerraum. Der Glauben kann nun verschiedene Modalitäten aus der Sicht einer Religionspsychologie annehmen. Und erst jetzt geht es um den entscheidenden Punkt der Analyse, auf den die Ausführungen über die begangenen verästelten (und dennoch in einer extrem vereinfachten und hoch selektierten Art und Weise) Wege im vorliegenden Essay hingearbeitet haben: Auch dann, wenn sich die Idee des Bundes im Zuge einer post-theistischen Säkularisierung und im Sinne einer Loslösung von der Einbettung des Theismus in kirchliche Ordnungen und sich nunmehr nur als Eidgenossenschaft auf eine kollektiv geteilte Idee – hier die Idee der personalen Würde als heiliger Anker des sozialen Rechtsstaates – fokussiert, bedarf es dennoch einer intra-in-

Schmidt E D (Hrsg) (2018) Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 245 Dodds E R (1985) Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 246 Vgl. insgesamt auch: Kobusch Th (2006) Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität. WBG, Darmstadt. 247 Dietz G & Kick A (2005) Grenzsituationen und neues Ethos. Von Homers Weltsicht zum modernen Menschenbild. Winter, Heidelberg. 248 Berti I (2017) Gerechte Götter? Vorstellungen von göttlicher Vergeltung im Mythos und Kult des archaischen und klassischen Griechenlands. Propylaeum, Heidelberg – München. 249 Vgl. dazu auch Haas E Th (2020) Das Verstummen der Götter und die Erfindung des europäischen Denkens. Psychosozial-Verlag, Gießen. 244

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dividuellen Einschreibung der (rechtsphilosophischen) Idee 250, wobei liturgische Übungen im Sinne von Ritualordnungen hilfreich und von nicht zu unterschätzender Symbolfunktion sind, aber nicht hinreichend sind mit Blick auf den Tabu-Charakters des Dogma »dignity is inherent« (27). Dass der homo patiens in seinen leidvollen kritischen Lebensereignissen, Statuspassagen 251 (2), Grenzsituationen 252 oder auch chronischen Beeinträchtigungen, wie einst im Gebet und in individuellen oder kollektiven Klageliedern und im Opferkult im Sinne der »do ut des«-Logik (1), quasi-magisch 253 auch heute noch die mütterliche Sorgekultur von »Vater Staat« als Hirte seiner Herde anruft, mag uns (eher im Sinne der Jung’schen Archetypenlehre [1; 4] als in einer orthodoxen Freud’schen Trieblehre) deutlich machen, wie sehr wir Menschen heute nicht nur die Daseinsthemen der Menschen der älteren Kulturgeschichte teilen, sondern auch auf den Spuren uralter Bewältigungsmuster auch in der Moderne archaisch gestrickt wandeln. Mag eine solche Randbemerkung nicht ganz unwichtig sein, um die Risiken einer mitunter auch im eudämonistischen Staatsabsolutismus wurzelnden Wohlfahrtsstaatsidee auch im Lichte einer Theorie der autoritären Persönlichkeit für Positionen »deutlich links von der Mitte« in Erinnerung zu behalten, so unterstützt sie hier nun aber die Überlegungen zu der Relevanz der Lacan’schen Idee der Inskription. Womit auch dergestalt zugleich das Durkheim-Theorem, das Soziale könne sich durch das Soziale erklären lassen 254, an Evidenz gewinnt. So wird es möglich, der Idee des Bundes durch die Nutzung post-strukturaler Perspektiven für das Verständnis der Idee der TabuOrdnung der personalen Würde als Glaubensordnung des sozialen Rechtsstaates »von oben« und der von ihm und der von der Zivilgesellschaft (9) der freien Assoziationen »von unten« (69) ausgehenAnregend: Maus I (2018) Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Position der Rechtsprechung in der Demokratie. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 251 Dazu aber auch die spezielle Studie: Kurscheid C & Schulz-Nieswandt F (2007) Die Schuld an der Schuld. Merus, Hamburg. 252 Salamun K (2019) Karl Jaspers. Arzt, Psychologe, Philosoph, politischer Denker. Metzler in Springer, Berlin. 253 Müller K E (2021) Magie. Die verborgenen Grundmuster unseres Denkens und Handelns. Reimer, Berlin. 254 Durkheim E (2011) Die Regeln der soziologischen Methode. 7. Auflage. Luchterhand, Neuwied – Berlin. 250

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den Stiftung der genossenschaftsartigen Bindungen (6; 43) der Gesellschaftsmitglieder als moderne, aber eben auch kultur- und geistesgeschichtlich traditionsbewusste Ordnung der »Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung« zu verstehen. Damit kommt es innerhalb der Analyse zu einem Zusammenspiel von scheinbar unvereinbaren 255 Positionen. Glauben muss jedoch nicht die Form einer autoritätsorientierten Offenbarungslehre einer kirchlichen Dogmatik »von oben« annehmen. Es gehört zum tiefen Humanismus der »anthropologischen Wende« im Werk von Romano Guardini 256 (23; 33), nicht die übliche, etablierte Vertikalität von »oben« und »unten« zu replizieren, sondern die Offenbarung von oben auf ein »Offen« des Menschen, von dem nicht behauptet wird, er stünde unten, hin zu thematisieren. Schon bei Paul Tillich (48) hatte sich die Begegnung zwischen Mensch und dem imaginierten Symbol Gott als einzig zugängliche Maske von Gott als das Ganz Andere (bei Karl Barth 257 diastatisch als autoritärer Supranaturalismus dogmatisiert 258) eher als Dialog zwischen existentialer Frage in expressionistischer Dramatik (wie auch in der komplexen expressionistischen Sprache über die Musik bei Ernst Bloch 259) einerseits und andererseits der Antwort als Perspektive mit Blick auf die daseinsthematischen Nöte als KorrelativSituation demokratisiert. Wolfgang Leidhold 260 hat die Modalität religiöser Erfahrung in ihrer spirituellen Imaginationsleistung abzugrenzen gewusst gegenüber einem materialistischen Empirismus sinnlicher Erfahrung. Ihn interessiert daher weniger die Soziologie religiöser Institutionen, die sich seit der Tradition der Propheten und der Priestereliten als WortWill J Chr (2021) Haltung als Sozialität im Widerstreit. V&R unipress, Göttingen. Biser E (1979) Interpretation und Veränderung. Werk und Wirkung Romano Guardinis. Paderborn, Schöningh sowie Knoll A (1993) Glaube und Kultur bei Romano Guardini. Schöningh, Paderborn. 257 Gockel M, Pangritz A & Sallandt U (Hrsg) (2020) Umstrittenes Erbe. Lesarten der Theologie Karl Barths. Kohlhammer, Stuttgart. 258 Schildmann W (2006) Karl Barths Träume: Zur Verborgenen Psychodynamik Seines Werks. Theologischer Verlag Zürich, Zürich. 259 Schwinning R (2019) Philosophie der Musik in Ernst Blochs frühem Hauptwerk »Geist der Utopie«. Kommentar zu ausgesuchten Stellen des Kapitels »Zur Theorie der Musik« in der zweiten Ausgabe von 1923. universi – Universitätsverlag Siegen, Siegen. 260 Leidhold W (2008) Gottes Gegenwart. Zur Logik der religiösen Erfahrung. WBG, Darmstadt. 255 256

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und Schriftreligion etabliert haben. Es geht eher um meditative Selbstranszendenz, die sich nicht unbedingt an die kirchlich vermittelte Figur des abwesend-anwesenden Gott als unbewegter Beweger knüpft. Wenn die axiomatisierte Idee der heiligen Ordnung der personalen Würde in diesem Sinne einer geistigen Tiefe geglaubt wird, so gelingt das soziale Miteinander auf dieser Grundlage, weil die Menschen einen Stern des Heils als Freiheit im sozialen Frieden in der Weltimmanenz erkennen können. Die Weltimmanenz verstehe ich in Anlehnung an Dietrich Bonhoeffer: »Je ausschließlicher wir Christus als den Herrn bekennen, desto mehr enthüllt sich die Weite seines Herrschaftsbereiches. (…) Die Welt gehört zu Christus und nur in Christus ist sie, was sie ist. Sie braucht darum nichts geringeres als Christus selbst. Alles wäre verdorben, wollte man Christus für die Kirche aufbewahren, während man der Welt nur irgendein, vielleicht christliches, Gesetz gönnt. (…) Seit Gott in Christus Fleisch wurde und in die Welt einging, ist es uns verboten, zwei Räume, zwei Wirklichkeiten zu behaupten: Es gibt nur diese eine Welt.« 261 In diesem Sinne habe ich auch die Kulturphilosophie 262 der Theonomie des religiösen Sozialismus bei Paul Tillich verstanden (48). Diesen Entwurf einer Theologie als Ontologie der Diesseitigkeit und als konkretes Handeln radikalisiert Bonhoeffer in der Haft in Tegel, erstmals dokumentiert in einem Brief an Eberhard Bethge vom 30. April 1944. Auch in weiteren, uns erhaltenen Briefen skizziert Bonhoeffer das Programm einer nichtreligiösen Interpretation biblischer Zusammenhänge und Begriffe und das Programm der Idee einer weltlichen Rede von Gott. Ich weiß um die Kontroverse der Auslegung dieser Problematik im Werk von Bonhoeffer. 263 Doch sehe ich es hier nicht als zwingend an, die theologischen Probleme zu vertiefen. Es bleibt zu bedenken, dass der archimedische Punkt in Bonhoeffers gesamtem Denken genau der Punkt ist, in dem die vertikale Erfahrung der Wirklichkeit Gottes die Horizontale der sozialen Beziehungen der Menschen in der sozialen Wirklichkeit der Welt kreuzt: im Kreuz des Nazareners namens Jesus. Bonhoeffer D (1986–1999) Werke. (DBW) 17 Bände und 2 Ergänzungsbände. Hrsg. von Eberhard Bethge u. a. Kaiser, Gütersloh, hier: DBW 6 (E): S. 53. 262 Allgemeiner: Steenblock V (2018) Kulturphilosophie. Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen. Alber, Freiburg i. Br. – München. 263 Neumann P H A (Hrsg) (1990) Religionsloses Christentum und nicht-religiöse Interpretation bei Dietrich Bonhoeffer. WBG, Darmstadt. 261

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Ich habe meinen archimedischen Punkt in der Idee der Würde gefunden, der die Horizontralisierung in säkularisierender Weise aus der Verikalbeziehung herauslöst. Das ist ein post-theo-logischer Humanismus auf personalistischer Grundlage. Somit tut sich ein Tor in der Welt auf, das einen Pfad des Lichtes weist. Es ist diese Philosophie der Liebe, die aus der Saat dieser heiligen Ordnung des Person-Seins als Fluchtpunkt der Geschichte erwachsen kann. Die Jetzt-Zeit, so wird mitunter der Römer-Brief aktualisiert ausgelegt 264, ist die messianisch aufgeladene geschichtliche Zeit als die Zeitlichkeit des Daseins, dessen euklidischer Raum somit eine Sinnperspektive der Hoffnung erhält, die die Container-Metapher des Sozialraums dynamisiert – verflüssigt – in Richtung auf das Telos des Wahr-Werdens als Wirklich-Werden als seiendes Sein erfüllter Zeit des Miteinanders. Wenn diese Sozialraumbildung demnach die generative Form ist, in dem sich die sich performierende Entelechie Form-bildend in expressiver Form bringt, so entfaltet sich das Recht auf die unbedingte Würde in der Form eines Rechts auf die Sozialraumbildung. Das Recht der Würde vollzieht sich in der Form des Rechts auf die Sozialraumbildung, weil dies die auratisch von Licht und Luft geprägte Landschaft, was ich nochmals an anderer Stelle an einem anderen Material erläutern werde (74), ist, in der sich der Mensch bauend einwohnt. Daher folgt das Recht auf ein gelingendes, weil humangerechtes Wohnen. An diese Metaphysik der Rechte zu glauben, entspricht der Einsicht, wonach der daseinspoetische Mensch immer mythisierend sein Dasein führt.

1.17 Dialogischer Personalismus zwischen Metaphysik und Pragmatismus Was ist in diesem Schritt die Herausforderung, auf die ich Antwortmöglichkeiten finden muss? Trotz der fundamentalen Bedeutung der Dialogizität 265 ist hier nochmals die theoretische Nachrangigkeit des

Agamben G (2006) Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 265 Ein klassischer Beitrag ist der von Theunissen M (1981) Der Andere. Studien zur 264

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dennoch existenzial bedeutsamen dialogischen Personalismus zu konstatieren. Der dialogische Personalismus ist von weitreichender Bedeutung für die wissenschaftliche Fundierung der Theorie und Praxis einer humangerechten Gesellschaftsgestaltungspolitik. Er ist nicht falsch und nicht zu verwerfen. Er hat jedoch die Unbedingtheit des Anderen als radikalhumanistische Idee zur Voraussetzung. Ich wiederhole erneut: Bevor ein vergesellschaftetes und somit konkretes Ich das Du durch Anrufung konstituiert, weil das Du als das Andere in der Mich-Erfahrung sich als ein dergestalt konstituiertes Ich in der Kommunikationsgemeinschaft erfährt, war das konstitutive Ich bereits das unbedingte Andere. Natürlich ist dies Ausdruck des kaum auflösbaren Problems von Henne und Ei. Aber es kann der onto-anthropologisch fundierten Sozialtheorie auch nicht quasi um eine Urknall-Erklärung gehen. Ausgangspunkt des möglichen Denkens ist die Geschichtlichkeit als epistemologisch denknotwendige Vorgängigkeit und somit die Heidegger’sche Geworfenheit des Menschen und seinen kontextualisierten Praktiken des Selbst-Entwerfens. Dies ist eine fundamentalontologische Existenzanalyse (das Tun ist immer im geschichtlichen Sinnhorizont eingebettet, kann sich aber aus diesem heraus neu-entwerfend herausarbeiten), die sich jedoch von der Analyse eines unbedingten Existenzialismus freier Entscheidungen (der einsame individuelle Akt erzeugt ein Sein des Seienden), wie in der Perspektive von Jean-Paul Sartre 266, abgrenzt. 267 Daher ist die Perspektive eine andere, umgekehrte Blickweise, ein »verkehrter« Blick, aber nicht im Sinne des Falschen: Das Ich ist bereits immer schon das Andere. In diese Welt (geworfen) hinzukommend, ist das Verfügbarkeits-orientierte Zugreifen des Ich auf das Du – der Typ 2-Mensch mit der Vitalfunktion V (hoi) – eine Verkennung als Irrglauben, wonach dieses Du doch nur im Sinne eines nicht-zugreifenden Zugreifens vom anrufenden Ich konstituiert wird. Der Andere ist jedoch kraft seiner Würde immer schon – seit seiner Zeugung und/oder Geburt – da.

Sozialontologie der Gegenwart, 2. Aufl. De Gruyter, Berlin. Vgl. ferner Descombes V (1983) Das Selbe und das Andere. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 266 Poirier A (2019) An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940– 1950. Klett-Cotta, Stuttgart. 267 Cremonini A & Bedorf Th (Hrsg) (2005) Verfehlte Begegnung. Levinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen. Fink, München.

278 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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Hase und Igel mögen ein interaktives Spiel spielen. Beide sind aber immer schon vorher da. Das Spiel ist Gegenstand der Soziologie und Psychologie etc. Aber das Spiel ist ein sekundäres Phänomen der Erfahrungswissenschaft, das ohne Metaphysik der vorgängigen Gestaltqualität der Person des immer schon Anderen nicht denkbar ist. Der dialogische Personalismus, so fundamental bedeutsam er ist für die Orientierungsleistung einer Gesellschaftsgestaltungspolitik, hat nicht-dialogische Voraussetzung des Dialogs: Gemeint ist die Unbedingtheit des würdevollen Menschen, der in der Welt immer überall ein Anderer ist, weil mit seiner unbedingten Gegebenheit als ein Sein die Differenz zum Seienden gleichsam a priori mitgegeben ist. Ausgangspunkt der Welterfahrung ist daher das Sehen und Hören des einzelnen Menschen. Aber dieser Ausgangspunkt ist als allererster Ausgangspunkt eine Täuschung. Denn einerseits sind die Menschen vergesellschaftet. Und nicht sie selbst haben Wahrnehmung, sondern die Wahrnehmung hat die Menschen. Hier war im Zuge der Vergesellschaftung die Gesellschaft, die sich einschreibt, geschichtlich immer schon vorgängig. Andererseits ist die Welt, die erfahren wird, bereits schon da. Und dieses »Schon-da-gewesen-sein« im Sinne eines »immer schon« ist der Status des Anderen.

1.18 Das Denken der Gabe und die Erfahrbarkeit des Gebens und Nehmens Und weiter: Was ist nun in diesem Schritt die Herausforderung des weiteren Denkens der Argumentationswege? Das herausgearbeitete Problem ist zu reformulieren als Entbergung einer Seinsstruktur des Seienden als eine Geschehensordnung erfahrbarer Reziprozität. Über verschiedene Stufen von Reziprozitätsordnungen des Sozialraums a) z. B. Selbsthilfegruppen (8; 24; 28) im Sinne des § 20h SGB V oder des § 45d SGB XI über b) nachbarschaftliche Caring Communitys hin zur c) Idee der Kommune als genossenschaftsartige Solidargemeindeordnung im Sinne des Strukturwerts der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse der auch europarechtlich kompatiblen Daseinsvorsorge nach Art. 28 GG muss sich im Schnittbereich von Sozialpolitik (2; 62; vgl. auch 17*) und Gemeinwirtschaft (45) rekonstruieren lassen können, wie bedeutsam es ist, einen Rest der Gabe, der nicht in Reziprozität aufgeht, zwingend zu denken. Es geht,

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um M.A.U.S.S. 268 zu spielen 269, um die schon bei Marcel Mauss 270 angedachte Notwendigkeit eines Gabe-Überschusses, ohne den z. B. keine solidarische, d. h. bedarfswirtschaftlich wirksame re-distributive Sozialversicherung (59: S. 52 ff.) möglich ist. Bin ich deshalb nun ein romantischer »Zauberlehrling« 271? Vertrete ich deshalb eine irrationale 272 Dimension der Moderne? Welche Form der Vergemeinschaftung 273 in welchem Geiste wird hier angedacht? Erneut muss man die onto-anthropologische Formungsidee des Post-Strukuturalismus verbinden mit der Theorie des Anderen von Levinas. Der Mensch wird immer regiert. Aber in welchem Geiste? Zumal er sich in einer genossenschaftsartigen Demokratie der Selbstverwaltung kollektiv selbst regiert. Auch im Anarchismus wird regiert: Dort regieren sich die Menschen in einer Gesellschaft ohne Staat kraft ihrer Sittlichkeit. Der Rest der Gabe besteht in dem vorgängigen Gegeben-Sein des Menschen, dessen personale Würde objektiv schon ist, bevor er sie subjektiv hat, weil er sie als Erkenntnis in Sprechakten zugesagt bekommt. Ist es irrational, daran zu glauben? Oder ist dies nicht vielmehr eine notwendige vor-rationale Voraussetzung gelingender kommunikativer Rationalität? Die Gabe ist demnach eine eidetische Kategorie ontologischer Art, weil die Ur-Gabe in dem Gegeben-Sein der Idee der personalen Würde immer bereits der Geist emergenter Sozialgebilde aus der Dynamik der seienden Formen des Gebens und Nehmens ist. Diese objektive Realität in einem rekonstruktiven Realismus (58) kreativer Aisthesis zu erkennen, ist an einem phänomenologischen Vermögen Vgl. auch https://en.wikipedia.org/wiki/Mouvement_Anti-Utilitariste_dans_les_ Sciences_Sociales. Tag des Zugriffs: 13. Dezember 2021. 269 Caillé A (2022) Das Paradigma der Gabe. Eine sozialtheoretische Ausweitung. transcript, Bielefeld. 270 Mauss M (1990) Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. 12. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 271 Moebius St (2002) Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie 1937–1939. UVK, Konstanz. Dazu auch Hollier D (Hrsg) (2012) Das Collège de Sociologie 1937–1939. Suhrkamp, Berlin. 272 Marroquín C (2005) Die Religionstheorie des Collège de Sociologie. Von den irrationalen Dimensionen der Moderne. Parerga, Berlin. 273 Krause P (2021) Heterodoxe Gemeinschaft: Das Collège de Sociologie (1937–1939) in ideengeschichtlicher und literatursoziologischer Perspektive. In Lessau M, Redl Ph & Riechers H-Chr (Hrsg) Heterodoxe Wissenschaft in der Moderne. Brill/Fink, Paderborn u. a.: S. 159–176. 268

280 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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des Subjekts gebunden, verfährt aber nie im Modus eines unbedingten Konstruktivismus, sondern immer nur im Modus einer Re-Konstruktion als aktiver Passivität. Hier wird evident, warum wir uns weiter oben zumindest in kurzer Dichte mit den Positionen von Wiesing und Merleau-Ponty beschäftigt haben. Die Responsitivität ist zutiefst human: Nicht Gott, sondern der Mitmensch ist eine Offenbarung, auf die das Subjekt in Offenheit reagiert. So sollte, so könnte es sein, so ist es oftmals eben nicht. Aber das resultiert aus der Unvollkommenheit der menschlichen Gottähnlichkeit, die Fehlbarkeit ist, wenn die personalisierende Entelechie, die wir als Ontogenese eine »zweite, sozio-kulturelle Geburt« nennen, nicht gelingt. Der Schlüssel zum Verstehen von Gelingen oder Scheitern des Daseins im Lichte des Sterns des Integrals des Miteinanders als Klammer von Freiheit und Verantwortung ist die Psychodynamik, die aber nicht isoliert ohne Kulturtheorie der Vergesellschaftung zur Erklärung der Muster menschlichen Verhaltens und der Muster des Zusammenlebens herangezogen werden kann: Denn das psychodynamische Werden der Person ist in das Gewebe der sozialen Beziehungen eingefügt. Und diese sozialen Beziehungen sind eingelassen in die Sozialstruktur, den entsprechenden Sozialisationsgeschehnissen und den sozialen Wandel der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge einer gesellschaftsformativen Epoche. Responsive Phänomenologie analysiert somit Begegnungen als Interaktion von Alterität und Identität nicht jenseits des geschichtlichen Kontextes. Die imaginativen Leistungen sind, folgen wir hier dem Werk von Hans-Georg Gadamer 274, eingebunden in dem sich offenbarenden Sinnhorizont der Geschichte, in dem alles eingefügt ist, wenngleich sich das Subjekt im Kraftfeld des inneren Magma schöpferisch aus den Kontexten herausarbeiten kann. Nie darf die Möglichkeit der exzentrischen Positionalität und eine daraus resultierende Plastizität vergessen werden. Eingebunden in das Gewebe seiner sozialen Relationen und den Geist der Gesellschaft als Norm im eigenen Inneren erfahrend, ist der Mensch zur exzentrischen Positionalität dergestalt fähig, dass er sich selbst in seinem Weltverhältnis und somit seine Position und Funktion im relationalen Gefüge reflektierend und folglich kritisch problematisieren kann. In diesem Sinne könnte man im Nietzsche-Kontext den Ausspruch aufgreifen, wonach der Gadamer H-G (1975) Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3., erw. Aufl. Mohr Siebeck, Tübingen.

274

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Mensch ein »nicht festgestelltes Tier« sei. Dies ist im Theorem der »exzentrischen Positionalität« 275 als Voraussetzung wie Schlussfolgerung der ontogenetischen Plastizität verbürgt. Erneut wird deutlich, dass der Mangel 276 in Arnold Gehlens Theorem 277 eher die Stärke des erziehungs- und bildungsbedürftigen Kulturwesens als homo institutionalis ist, sofern man abstellt auf Gehlens Institutionenbegriff, zu dem auch die Religion 278 zählt: Diese sozialevolutive Stärke ist Teil der biologischen Natur des Menschen als homo culturalis, die auf die Fundamentalbedeutung der »zweiten, sozio-kulturellen Geburt« 279 im Sinne der Sozialisation sowohl als Enkulturation wie auch als Akkulturation verweist.

2.

Das Recht auf Sozialraumbildung

Welcher neue Schritt ist nun zu gehen? Ganz neu ist der Gedanke nicht. Ich greife nochmals auf, was bereits angesprochen worden ist. Es geht jetzt um die Möglichkeit einer Perspektive der Rechtsphilosophie des Problems der Sozialraumbildung als Recht zur Entfaltung der Personalität. Welche Bedeutung haben lokale bzw. regionale Agenturen 280 (36; 37; 38; 40; 41; 46; 51) der Bildung von Sozialraumentwicklungen? Das ist eine strategisch zentrale Frage. Und wir wissen, mit Evidenz validiert, die Antwort. Wir haben hier kein Erkenntnisproblem, sondern ein Problem des noch ausbleibenden Tuns. Denn der Sozialraum ist nicht einfach da, sondern muss immer erst gebildet, sodann gepflegt und gefördert werden. Plessner H (1975) Die Stufen des Organischen und der Mensch. De Gruyter, Berlin – New York. 276 Gehlen A (1940) Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Junker und Dünnhaupt, Berlin. 277 Wöhrle P (2010) Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens. Campus, Frankfurt am Main – New York. 278 Müller K E (2020) Verfangen im Fadenkreuz Gottes. Eine kulturanthropologische Fabel. Springer VS, Berlin. 279 Claessens D (1962) Familie und Wertsystem. Eine Studie zur zweiten sozio-kulturellen Geburt des Menschen. Duncker & Humblot, Berlin. 280 Heerdt Chr (2021) Die Zukunft der Langzeitpflege. Agenturmodelle der Sozialraumentwicklung im Mehr-Ebenen-System. Theoretische Grundlagen und praxisbezogene Fundierung. Zeitschrift für Gemeinwirtschaft und Gemeinwohl 44 (3): S. 383–405. 275

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2.1 Raum als Netzwerk Was ist also in diesem Schritt die Herausforderung des Denkens? Aus sozialkapitaltheoretischer Perspektive geht es raumtheoretisch nicht um ein geographisches Container-Denken, sondern um die soziale Unterstützung und um die sozialen Integrationswirkungen von Vernetzungen in der Lebenswelt der Menschen dort, wo sie wohnen (14; 15; 16). Was früher Hilfe-Mix, sodann im bundesdeutschen 7. Altenbericht der Kommission der Bundesregierung (vgl. 5*; 8*) lokale sorgende Gemeinschaften genannt worden ist, wird heute als Caring Communitys diskutiert (vgl. auch 13*). Um die jeweiligen Formen des Wohnens (13; 7) herum siedeln sich sodann im Sinne der sozialen Daseinsvorsorge (vgl. 4*) sozialpolitische Infrastrukturen (u. a. der primärmedizinischen [4] und der pflegerischen [7] Versorgung) der Sozialschutzsysteme an. Um die Gewährleistung der Sicherstellung der Daseinsvorsorge geht es, damit der Alltag funktioniert und die Menschen sich im Lichte sozialer Gerechtigkeit im sozialen Miteinander frei entfalten können (30). Davon handelt das normative Recht vor dem Hintergrund von Art. 2 GG im § 1 SGB I. Und das im Art. 1 GG »fixsternartig« auf die personale Würde axiomatisierte Menschenbild 281 des Art. 2 GG knüpft Freiheit sittlich an soziale Rücksichtnahme. Man wird dazu die auch in den Grundrechtskonventionen der UN sowie die im grundrechtlichen Europarecht (der Charta) der Unionsbürgerschaft verankerten Grundwerte der seit 1789 unvollendeten Moderne – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – in der Kausalkette umgekehrt auslegend lesen und verstehen müssen (27): Solidarität ist die einbettende Voraussetzung für die Chancengleichheit aller Gesellschaftsmitglieder auf das Ziel der freien Entfaltung eben aller zu inkludierenden Gesellschaftsmitglieder im Lebenslauf hin. Deshalb ist der Rechtsstaat seinem Programmcode nach zwingend ein sozialer Rechtsstaat in Art. 20 GG. Diese Idee des sozialen Rechtstaates ist eine ästhetische Idee, denn sie ist wahr und ordnet das Gute als ein Schönes, dessen apollinische Harmonie dennoch an die notwendige agonale Produktionsfunktion deliberativer Demokratie anknüpft. Politik muss sich immer auch diese dionysische Sprungelastizität (41) bewahren. Dies gilt aber nur für das demokratische Spektrum der Parteien und der demokraVgl. insgesamt auch Häberle P (2008) Das Menschenbild im Verfassungsstaat. 4. Aufl. Duncker und Humblot, Berlin.

281

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tisch gesinnten außer- bzw. vorparlamentarischen Zivilgesellschaft 282. Wenn Dichter und Philosophen im Nachgang von 1789 einen Maibaum pflanzten und einen Tanz um ihn herum zelebrierten, so erinnert es uns daran, dass eine neue apollinische Ordnung, die vom Flug der Eule der Minerva modallogisch angekündigt worden ist, auf einen vorgängigen Bocksprung 283 im Rahmen der dionysischen Epiphanie beruht (1*; 9*; 22; 41), der sodann auch vom schönen Reigentanz 284, den die Musik ermöglichend hervorbringt (vgl. auch in 20; 23), begleitet wurde. 285 So geht es nicht um einen ewigen Kreislauf, sondern um den Start zu einem Neubeginn als Fortschritt 286, der allerdings später nur noch linear gedacht worden ist durch die dominante Logik der instrumentellen Vernunft, die die Aufklärung hat dialektisch umkippen lassen. So erinnert uns die jakobinische Schreckensherrschaft selbst in Bezug auf das transgressive Sattelzeitjahr von 1789 an die ewige Gefahr der »Dialektik der Aufklärung«. Denn Dionysos (ein durchgängiges Thema in vielen meiner Schriften: vgl. u. a. in 22; 41; 48; 59; 60; 61; 62) kennen wir auch im Modus seiner rauschhaften schadhaften Schattenseiten. Wiederum darf daran erinnert werden, wie ausgeprägt der altgriechische Götterapparat anthropomorphisiert war. Und welcher entgleitende agonale Streit prägte doch die dialektische Polarität von Apollon und Dionysos in der Wahl des Musikinstruments? Und waren es nicht die Mänaden, die Orpheus 287 zerrissen, weil er sich der Musik 288 des Apollon zuwandte und nicht der Musik des Dionysos? Der neuere Hass auf die Melodie des Rechtsstaates lässt die dionysische Dynamik, die im solidarischen EngageNix A (Hrsg) (2021) Staat und Zivilgesellschaft Permanente Opposition oder konstruktives Wechselspiel? Nomos, Baden-Baden. 283 Herbig R (1949) Pan, der griechische Bocksgott. Klostermann, Frankfurt am Main sowie Walter H (2001) Pans Wiederkehr. Der Gott der griechischen Wildnis. dtv, München. 284 Manakidou E (2017) Frauentänze für Dionysos in der spätarchaischen Vasenmalerei Athens. Akanthus, Kilchberg. 285 Weege F (1926) Dionysischer Reigen. Lied und Bild in der Antike. Niemeyer, Halle/Saale. 286 Mohagheghi Y (2019) Fest und Zeitenwende. Französische Revolution und die Festkultur des 18. Jahrhunderts bei Hölderlin. Metzler, Stuttgarrt – Weimar. 287 Maurer Zenck C (Hrsg) (2004) Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zur Gegenwart. Lang, Frankfurt am Main. 288 Jung H (2018) Orpheus und die Musik – Metamorphosen eines antiken Mythos in der europäischen Kulturgeschichte. Lang, Frankfurt am Main u. a. 282

284 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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ment eine Form finden kann, umkippen in rauschhafte Destruktivität in Fackelzügen, die im Straßenkampf mit der Polizei ausmünden. Nun, auch die Ästhetik des föderalen sozialen Rechtsstaates des Art. 20 GG ist aber noch ein Werden dessen, was als Noch-Nicht kritisch mit Blick auf die Konturen der Lücken und Entwicklungsdefizite, aber dennoch liebevoll, wie Ernst Bloch meinte, nämlich hoffnungsvoll zu thematisieren wäre. Die Vielfalt der Kommunen, eine nicht nur demographische Typenvielfalt von Städten und Landkreisen meinende Landschaft, als mitunter digitalisierte (41; 51; 44) und insofern partiell virtuelle Sozialräume, kommt im Lichte der Verfassungsvorgabe der erwünschten Kohäsion-stiftenden Gleichwertigkeit 289 (nicht Einheitlichkeit als Gleichheit) der Lebensräume zum Ausdruck. Gemeint sind damit im Sinne der Lebensqualität funktionale Äquivalente der Pfade ausgeglichener Funktionsräume in Art. 72 GG im Zuge der kommunalen Daseinsvorsorge in Art. 28 GG, validiert durch Art. 36 EU-Grundrechtscharta und deren Verankerung in EUV/AEUV (ergänzt um das Protokoll Nr. 26), hineingestellt in das Spiel dieser systematisch erschließbaren Gestaltqualität der modernen Gesellschaft (29). Dem möglichst barrierefreien, zumindest barrierearmen und deshalb nicht langweiligen, sondern dennoch aktivierenden Wohnen kommt eine Ankerfunktion im Lebenszyklus und seinen Entwicklungsaufgaben der Menschen zu. Deshalb betonte dieser soeben vorangegangene Satz die Bedeutung der Aktualgenese. Deswegen geht es auch nicht einfach nur um Krankheit und Pflege als Dimensionen existenzieller Sorge, die sich hierbei daseinsthematisch ansiedeln. Der Raum ist, nicht nur als Gegenstand einer Architekturtheorie, sondern, wie schon bei Hölderlin auch als Landschaft 290, lange schon ein Thema der existenzialen Philosophischen Anthropologie geworden. Die Soziologie der Unwirklichkeit der Lebensräume, insbesondere dort, wo Architektur hermetisch wird und das Prinzip der

Beck J, Stember J & Lasar A (Hrsg) (2021) Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Möglichkeiten und Wege der Gestaltung für die öffentliche Verwaltung. Nomos, Baden-Baden; Stielike J M (2018) Sozialstaatliche Verpflichtungen und raumordnerische Möglichkeiten zur Sicherung der Daseinsvorsorge. Nomos, BadenBaden. 290 Guardini R (1946) Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins. Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins. Tübingen – Stuttgart. 289

285 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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Wand 291 nutzt, um abzuschließen, auszugrenzen, Offenheit geradezu zu verhindern, und die auch eine Unwirtlichkeit ist, wenn man Erfahrung an der Daseinswahrheit skaliert, ist längst auch von einer kritischen Psychologie konkretisiert worden als Analyse des Erlebniserfahrungsgeschehens der Menschen in ihren entfremdeten Räumen, denen sie ja transaktional ausgesetzt sind. Es geht um mehr als um den, von bösen Hunden bewachten und die Bettler abweisend signierten, gleichwohl existenzial wichtigen Mikrokosmos »My home is my castle«. Es geht um Verkehr und Mobilität, um Bildung und Kommunikation und um die anderen ökonomisch-technischen public utilities wie Energie, Abfall und Wasser (10). Das aus guten Gründen dominant etablierte Quartierskonzeptdenken des KDA dreht sich zwar traditionsgemäß oftmals um die Vulnerabilität des höheren Alters (5*; 8*) als homo patiens und somit um geriatrische Versorgung und um die Langzeitpflegepolitik (vgl. auch 14*; 15*). Und auch hier indiziert der § 71 SGB XII die SollAufgabe der Kommunen zur Politik einer Befähigung des gelingenden Hineinalterns. Diese beginnt aber schon mit analoger Zielfunktion in der Kindeswohl-zentrierten Kinder- und Jugendhilfe und in der Vereinbarkeits-orientierten Familien- und Gender- und in der Diversitätspolitik unter Gesichtspunkten inkludierender Solidarität als Vermeidung sozialer Exklusion und Minimierung von sozialer Ungleichheit, die abzugrenzen ist von erwünschter Differenzierung und Vielfalt (26).

2.2 Sozialraum als Wirklich-Werden der Person Was ist in diesem Schritt die Herausforderung des Denkens? In diesem nächsten Schritt wird argumentiert, das soeben angesprochene Recht auf die Sozialraumbildung sei als Transformationsrecht des Rechts auf personaler Würde zu definieren. Es geht dem Quartiersdenken demnach um personale Freiheit im sozialen Mit-Sein. Damit ist die an die Gemeinwesenarbeit erinnernde Idee des Quartiersmanagements, wenn es als Sozialraumbildung verstanden wird, Politik der Daseinsgestaltung im Sinne der Förderung einer inkludierenden Sorgekultur (27; 26). Die Langzeitpflege Vetter A K (2019) Hermetische Architektur. Überlegungen zu einer grundsätzlichen Dimension. Fink, München.

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286 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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ist, ganz im Lichte der Alter(n)bilder der differenziellen Gerontologie (2; 29) der vielen Formen des Alterns und der vielen Gesichter des Alters verstanden, nur ein Aspekt, wenngleich eine wichtige Dimension des Feldes. Es geht um das Gelingen des sozialen Miteinanders der Menschen als ein Netzwerkwesen dort, wo Menschen wohnen, arbeiten, pendeln, einkaufen und konsumieren, lieben und sterben, eben leben. Erst in der Dialogizität, also im Modus der »Du meint Mich«-Erfahrung durch das anrufende, aktivierende Du wird der Mensch zum personalen Ich in einer Bedürftigkeit an Generativität. Wenn man das Thema so als ein onto-anthropologisch zu vermessenes Daseinsthema auffasst, dann wird deutlich, dass die Sozialraumbildung ein Menschenrecht (inherent dignity im Sinne von dignity is inherent, lautet es im Völkerrecht [27] und ist so auch im Art 1 GG gemeint) ist. Der Mensch entfaltet sich im Sinne des PersonSeins frei nur in der Form kultureller Einbettung und in der Form des Eingelassen-Seins in seinen sozialen Beziehungen. Geht es im Privaten um Freundschaft und Liebe, so im öffentlichen Raum um gute Nachbarschaft und gesellschaftliche Kohäsion durch eine generalisierte Solidarität als Norm. Was hierbei zugleich deutlich wird, das ist die dadurch zunehmend sich aufhellende Beobachtung, wonach das KDA sein Ankerthema zwar zielgruppenspezifisch zunächst in der sog. »Altershilfe« hat, aber es bei diesem Thema immer schon um die Wohnformen 292 (weit über die baukonzeptionelle »Modernisierung« stationärer Langzeitpflege [25; 52; 63; 64] hinaus) ging und somit um das differenzierte Alter und um das gelingende und entsprechend befähigte Hinein-Altern im Generationengefüge und mit Blick auf die von kultureller Vielfalt geprägte und um die von der Sozialstruktur der sozio-ökonomischen Lebenslagenverteilung sozialer Schichten und sozialer Milieus gebahnten Biographien als Bezugspunkte der Daseinsgestaltungspolitik. So, also dergestalt deduziert, ist z. B. die Pflegepolitik (25; 53) Teil der Alternspolitik und ist Teil der Sozialpolitik, die systematisch integrierter Teil der Gesellschaftspolitik ist. Dabei geht es als Konkretisierung des Würde-Begriffs in Art. 1 GG um die Gewährleistung möglichst selbständiger Selbstbestimmung in Form der Teilhabe am Gemeinwesen (27; 30; 31; 64). Diese Kremer-Preiß U (2021) Wohnen 6.0. Mehr Demokratie in der (institutionellen) Altenpflege. www.kda.de.

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287 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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unbestimmten Rechtsbegriffe sind »produktive Leerformeln«: Sie müssen in der deliberativen Demokratie ausgelegt und gefüllt werden. Genau hier liegen Gefahren der politischen Zielverfehlung als Risiko der zivilisatorischen Regression verborgen, aber eben auch das Potenzial einer progressiven Diskursdynamik, die die sozialen Praktiken in Richtung auf immer höhere Stufen der Personalisierung der Gesellschaftsmitglieder treiben kann. Dies war weiter oben rechtsphilosophisch mit dem Begriff der noch unvollendeten Moderne gemeint. Deutlich wird aber auch die Ergebnisoffenheit von Diskursen. In der Theorie idealer Sprechsituation kommunikativ kompetenter Subjekte soll eben diese kommunikative Rationalität die progressive Ergebnisqualität der Diskurse sichern. Das erscheint mir eine notwendige Voraussetzung. Aber hinreichende Bedingung ist die Inkorporierung der Idee des Bundes der Freiheit als MF = f (MV) als sozialcharakterliche Haltung des Typ 1)-Menschen mit der Vitalfunktion der Form von V (hf). Jenseits dieser Theorieebenen geht es dennoch um sehr praktische Fragen. Es ist Aufgabe der Bundesländer, ihre Kommunen zu einer solchen Politik der Sozialraumbildung verwaltungskulturell zu befähigen. Das BPrävG sieht die Kommune als Lebenswelt eigener Art vor. Und, wenn auch bürokratisch verkompliziert, ist hier eine Landesrahmung der Ermöglichung der partnerschaftlichen Kooperationen von Kommunen und Sozialversicherungen (SGB V; SGB XI) fundiert. Die Beachtung des finanzverfassungsrechtlichen Prinzips der Konnexität stellt hierbei eine wichtige formale Voraussetzung dar. Hinreichende Bedingung ist aber der politische Tugendkomplex sozialer Phantasie und langer Zeithorizonte sowie politischer Wille und Mut (14; 15; 16). Wenn Sozialraumbildung als Aufgabe kommunaler Daseinsvorsorge im föderalen Bundesstaat verstanden wird, so ist dieses Anliegen zwar eine öffentliche Aufgabe, aber dennoch nicht allein staatlich sicherzustellen. Einerseits bedarf es in einem ganz fundamentalen kommunitären Sinne die tragende Mitwirkung der Zivilgesellschaft, aber andererseits auch der kooperativen Mitwirkungsrolle der öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungen. Und ein letzter Aspekt muss eingebracht werden, eröffnet aber ein neues weites Feld: Wir benötigen jenseits der agonalen Marktordnung für die freien Träger der Sozialwirtschaft im regulierten trägerpluralistischen Marktwettbewerb zwischen öffentlichen, gemeinnützigen und privatwirtschaftlichen Segmenten mehr Raum für Gemeinwohlwirtschaft und für die 288 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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Moralökonomik der freien Gemeingüter (Commons) und eine vom Kosten- und Qualitätsdumpingdruck der Privatwirtschaft befreite Ökonomik der Sachzieldominanz (vgl. 6*) öffentlicher und freier (vgl. 3*) Gemeinwirtschaft (18; 45; 59). Jenseits der verhaltenswissenschaftlich pessimistischen Zugangsweise der Mainstream-Ökonomie auf die Probleme öffentlicher Güter, die durch die epistemologische Komplexbildung eines methodologischen und eines normativen Individualismus blickverengend bedingt ist, hat die neuere Literatur zu den Commons das Problem der nachhaltigen Möglichkeit im Lichte einer Theorie sozialer Lernprozesse durchdacht. Das ist nicht selbstverständlich und üblich in den Wirtschaftswissenschaften. Warum eigentlich nicht? Kollektives Erlernen von demokratischer Solidarität als Grundlage gemeinwirtschaftlicher Praktiken des Wirtschaftens wird von der Orthodoxie der Ökonomie als moralische und pädagogische Fragen 293 weitgehend ausgeklammert (psychodynamisch: verdrängt) oder in das angeblich unwissenschaftliche Reich utopischer Visionen verbannt (psychodynamisch: verschoben).

2.3 Die Verfehlungen der orthodoxen Ökonomie Mehr noch: Das Effizienzdenken als Mittelpunkt der ganzen Disziplin ist sehr eng ausgelegt. Mit der marktideologisch bedingten Trennung von Allokation und Verteilung werden Fragen sozialer Gerechtigkeit eher als Achillessehne des wachstums- und konsumfetischistischen Akkumulationsregimes codiert. Dabei geht es doch vielmehr und gerade auch um das Problem der »Allokationsgerechtigkeit«. Fragen des privaten Reichtums bei gleichzeitiger öffentlicher Armut, Fragen der »Myopie« als Pathogenese der kurzen Zeithorizonte 294 und der fehlenden/mangelnden Nachhaltigkeit, die Defizite in der Verantwortung für die Zukunft im Anthropozän u. v. a. m. sind Allokationsgerechtigkeitsfragen, nicht einfach nur monetäre Verteilungsfragen, die die sozialen Kosten nachträglich kompensieren sollen.

Stattdessen: Häberle P (1981) Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, Alber, Freiburg i. Br. – München. 294 Tamoudi N, Faets S & Reder M (Hrsg) (2020) Politik der Zukunft. Zukünftige Generationen als Leerstelle der Demokratie. transcript, Bielefeld. 293

289 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

Exkurs: Zur Krypto-Normativität des Coase-Theorems Das Coase-Theorem 295 war ja indifferent gegenüber der Frage der Wahl zwischen Vermeidung negativer Externalitäten und verteilungspolitischer Kompensation. Es ist im Kern jedoch, abgesehen von der problematisierbaren Annahmen zu den Informationsanforderungen und den Transaktionskosten, nach wie vor eine Theorie der individualistischen Verfügungsgewalt über die instrumentalisierte Umwelt des faustischen Menschen. Damit wird eine entsprechende possessivideologische Rechtsordnung vorausgesetzt. Um ein erweitertes, verantwortungsethisch geprägtes Recht geht es hierbei nicht. Die Schuldfrage hinsichtlich des Schadens wird ebenso instrumentalisiert wie die Haftungsverantwortung folglich ausgeklammert wird. Die Gerechtigkeit wird zur Funktion von regulierten Marktgleichgewichten. Mit Bezug auf dieses Theorem wird a) erneut exemplarisch deutlich, dass eine solche Ökonomie eben nicht, wie immer wieder stipuliert, wertfrei ist. Sie stellt sich zwar dem Problem der Externalität. Von einer erfahrungswissenschaftlich vielfältigen phänomenologischen Durchdringung der Formen und Gestalten von Externalitäten kann hier ferner b) nicht die Rede sein. Im Kontext der Problematik nachhaltiger Umweltpolitik reduziert sich die Sicht auf die Verpreisung der Präferenz für Umweltnutzung. Eine Ethik der Selbstzurücknahme des menschlichen Nutzungs-Verfügungs-Wahns als Gewaltdisposition angesichts des Selbstwertcharakters der Naturzusammenhänge bleibt c) diesem Trieb der Vermarktung der Seinszusammenhänge verborgen. Rechtsphilosophisch und ethisch wird dieses Problem jedoch nicht tiefer und grundlegend reflektiert. Doch prägnant deutlich wird, welche kryptische Werteordnung das Modell beherrscht. Hingenommen wird d) eine possessivindividualistisch codierte Rechtsordnung, damit auch zugleich das implizite prometheische und faustische Menschenbild sowie die damit verbundene kulturelle Grammatik einer instrumentellen Vernunft (70). Es ist die Ökonomie des Typ 2)-Menschen mit der Vitalfunktion V (hoi).

Helmedag F (1999) Zur Vermarktung des Rechts: Anmerkungen zum CoaseTheorem In Wolf D, Reiner S & Eicker-Wolf K (Hrsg) Auf der Suche nach dem Kompaß, Politische Ökonomie als Bahnsteigkarte für das 21. Jahrhundert. PapyRossa, Köln: S. 53–71.

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Zurück aus dem Exkurs, also zurück in den Textfluss der Argumentation. In der Gesellschaftsgestaltungspolitik geht es also immer um die Verteilung und Gestaltung von Lebenslagen, nicht nur um die Verteilung von Einkommen. Die Effizienzmessung der üblichen etablierten Ökonomie als Massenbildungsware der Hochschulen ist demnach völlig verkürzt, ja verunstaltet. Mit dem Nobelpreis an Elinor Ostrom 296 zeigt sich jedoch die Berechtigung heterotopen (26) Denkens. Dass die negative Philosophie Sinn machen kann, kann die negative Dialektik der klassischen kritischen Theorie darlegen. Im Fall der Mainstream-Ökonomie dient die Negativität jedoch der doxischen Präferenzbildung für Marktlösungen. Es gibt aber auch effektive Formen des Wirtschaftens als Sorgekulturen, die nicht an die Logik des Wettbewerbs und nicht an die Grammatik des Marktes gebunden sind. Die Beiträge des neueren wirtschaftsalternativen Denkens haben, vor dem Hintergrund dieser eingebachten Aspekte, eine große Bedeutung für die Gemeinwohlökonomie, für die gemeinwirtschaftliche Daseinsvorsorge, für die Infrastrukturentwicklung als öffentliche Aufgabe der Gewährleistung/Sicherstellung, für die sozialpolitische Idee der inkludierenden Sozialraumbildung.

2.4 Gemeinwirtschaft als Formprinzip Was ist in diesem Schritt die Herausforderung des Denkens? Begreift man die Gemeinwirtschaft als Formprinzip, so ist mit Form die Form des sozialräumlichen Wirklich-Werdens der Person in ihrer Würde zu erkennen. Dieser letzte Aspekt bettet die Problematik nochmals in größere wirtschafts- und sozialordnungspolitische Zusammenhänge ein. Dieses Thema ist hier jedoch nicht zu entfalten (vgl. 10*). Soviel sei jedoch angemerkt: Es wird nicht mehr hinreichen, öffentliche oder freigemeinwirtschaftliche Träger sachzieldominierter Unternehmungen in den u. a. 297 ausschreibungsrechtlich regulierten Wettbewerb (11; 18; 10; 17) mit privatwirtschaftlichen For-Profit-Wirtschaften einOstrom E (1999) Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt. Mohr, Tübingen. 297 Zum Betrauungsakt vgl. Badenhausen-Fähnle E (2017) Die Betrauung. Nomos, Baden-Baden. 296

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zustellen. 298 Sektorale Ausnahmeregelungen müssen hier durch transformatives Recht ebenso angedacht werden wie der Schutz reiner Gemeinschaftsgüter (45; 59). Und neben öffentlicher Gemeinwirtschaft und freigemeinnütziger Formen des Wirtschaftens muss auch die Genossenschaftsidee (50) in ihren gemeinwirtschaftlichen Formen (21; 34) bis hin zur regionalen Vollgenossenschaft gefördert werden (47). Die ordnungspolitische Notwendigkeit der Gemeinwirtschaft (59) wird vor allem vor dem Hintergrund ihrer personalistischen Grundlegung (30) verständlich. Dies gilt besonders für die genossenschaftliche Form des gemeinwirtschaftlichen Handelns. Bedarfsdeckungswirtschaftlich geht es insbesondere um die Sicherstellung der existenzialen Güter und Dienstleistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse (gemäß Art. 28 GG i. V. m. Art. 36 Grundrechtscharta, verankert in EUV/AEUV) im Sinne der Infrastruktur im Rahmen der Idee der Gleichwertigkeit der Lebenschancen im Raum (vgl. in Art. 72 GG). Dabei ist die Gemeinwirtschaft systematisch einzubetten in das Policy-Paradigma der Sozialraumbildung, die aber auf Politics-Mechanismen im Sinne von Governance (u. a. die Ermächtigung der regionalen Strukturplanung der Kommunen und der diesbezüglichen Kooperation der Kommunen mit den Sozialversicherungsträgern durch eine entsprechende Bundeslandgesetzgebung) aufbaut, die vom Polity-Rahmen der föderalen Verfassung des Gewährleistungsstaates vorgegeben ist. Dabei kann die Sicherstellung auch außerhalb von Märkten gedacht werden bzw. sich nicht nur auf die Regulierung von Quasi-Märkten reduzieren. Die Gemeinwirtschaft wird hierbei zu einem Fundamentalbaustein der »Capacity«-Politik im Sinne der Gewährleistung von Möglichkeitsräumen im Kontext der »Capability«-Theorie 299 (2; 61) der Gesellschaftsgestaltungspolitik 300, die sich, als Befähigungspolitik übersetzt, nicht auf eine enggeführte Idee des »Empowerments« der Vgl. auch Rinken A (2020) Demokratie als Organisationsform der Bürgergesellschaft. Nomos, Baden-Baden. 299 Nussbaum M (2015) Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität. Freiburg i. Br. sowie Sen A (2000) Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Hanser, München 2000 300 Nussbaum M & Sen S (Hrsg) (1995) The Quality of Life. Clarendon Press, Oxford. Ferner: Sen A (2020) Elemente einer Theorie der Menschenrechte. Reclam Verlag, Ditzingen. 298

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subjektiven »Abilities« reduzieren darf, sondern, transaktionalistisch gesprochen, die Optimierung der Passung von Kompetenzen einerseits und Möglichkeitsräume andererseits als kumulativ-zirkuläres Wechselwirkungsmodell zum Gegenstand hat (2). Das Ziel ist die Freiheit aller im Zusammenleben, geordnet durch die Idee des Bund als Treueid auf die Idee der personalen Würde.

2.5 »Meritorik« Ich baue nunmehr auf den Exkurs zur Kritik der orthodoxen Ökonomie auf. Was ist in diesem Schritt die Herausforderung des Denkens? Mit dem theoretischen Konzeptbegriff der Meritorik 301 ist der Themenkreis der »Moral Externality« als Kategorie einer Ethik der Rücksichtnahme und der Nachhaltigkeit als Ordnung der Freiheit in der deliberativen Demokratie aufgeworfen. Der mehr oder weniger kryptische normative Individualismus des methodologischen Individualismus nutzen- und präferenztheoretischer Art des ökonomischen Utilitarismus hat die Idee meritorischer Güter immer im Rahmen einer anti-totalitären Kritik des Paternalismus strikt zurückgewiesen. Das war immer schon eine ideologische Groteske.

Exkurs: Der Impfzwang in der liberalen Demokratie Die Corona-Krise als Brennglas der Selbstanalyse der Gesellschaft kann uns zu denken geben (65). Die Impflicht, die mitunter als autoritärer, anti-liberaler Zwang kognitiv verarbeitet wird, ist nicht verfassungswidrig 302, sondern verfassungskonform und geradezu verfassungsgeboten im Kontext einer tödlichen Pandemie. Demokratie ist hier, auch dann, wenn sie auf diskursive Verständigungspraxis über politische Themen basiert, konstitutionell gebunden, also durch

Dazu auch in Finis Siegler B (2021) Entwicklung einer Ökonomik Sozialer Arbeit aus der Retrospektive. Springer VS, Wiesbaden. 302 Vgl. auch Staudinger M (2021) Verfassungsrechtliche Untersuchung der Impfgesetzgebung in Deutschland. Von Information und Aufklärung bis zum Impfzwang. Lang, Frankfurt am Main. 301

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die Verfassungsvorgaben eingebunden: demokratischer Konstitutionalismus 303. Hierbei kann nun überaus deutlich werden, dass Demokratie keine beliebige anything goes- und all is possible-Veranstaltung ist. Es gibt, so meine hinreichend begründete Interpretation, sittliche Vorgaben, die auch nicht beliebig revidierbare kontraktuelle Vereinbarungen sind, sondern die zur Bundesidee gehören. So sind die Artikel 1 und 20 des GG mit einem Ewigkeitscharakter verbunden. Die Ewigkeitsklausel bzw. die Ewigkeitsgarantie (auch Ewigkeitsentscheidung genannt) ist die konstitutionelle Regelung in Art. 79 (3) GG, die eine ewige, also auf unverrückbare Dauer angelegte Bestandsgarantie für verfassungspolitische Grundsatzentscheidungen enthält. 304 Was wird umfasst? Die Grundrechte der Staatsbürger (m/w/d) sowie die demokratischen Grundgedanken in der republikanisch-parlamentarisch regierten Gesellschaft: Alles dies darf sogar im Wege einer Verfassungsänderung nicht angetastet werden: bleibt also »tabu«. Ebenso wenig dürfen die föderale Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung dieser Länder an der nationalen Gesetzgebung berührt werden. Der Tabu-Charakter des Art. 1 GG dieser Ordnung ist der Ausgangspunkt dieses Gebäudes, das von Fixstern-artiger Dauer sein soll. Art. 79 (3) GG lautet: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.« 305 Das bedeutet aber zwingend, dass – implizierend – auch die Begründung der Unantastbarkeit in Art. 79 (3) GG selbst der Ewigkeitsklausel unterliegt. Man wird sich hier um die überpositiv-rechtliche Klärung von Art. 1 GG vor dem Hintergrund der diskutierten Ambivalenz 306 von Viellechner L (Hrsg) (2021) Demokratischer Konstitutionalismus. Dieter Grimms Verständnis von Staat und Verfassung. Nomos, Baden-Baden. 304 Dagegen aber auch: Eggert F (2021) Verfassungsablösung. Zu Theorie und Praxis der verfassungsablösenden Gewalt nach Artikel 146 Grundgesetz. Nomos, Baden-Baden. 305 Vgl. auch Kempen O E (1990) Historische und aktuelle Bedeutung der »Ewigkeitsklausel« des Art. 79 Abs. 3 GG. Zeitschrift für Parlamentsfragen 21: S. 354–366. 306 Przyrembel A (2011) Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne. Campus. Frankfurt am Main – New York sowie Dingeldein A & Emrich M (Hrsg) (2015) Texte und Tabu. Zur Kultur von Verbot und Übertretung von der Spätantike bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld. 303

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Tabu-Ordnungen bemühen müssen. Es macht Sinn, etwas über das Phänomen der Tabu-Idee nachzudenken. Tabu-Ordnungen können durchaus der Ausgrenzung und der Unterdrückung und somit der Politik einer Erzeugung sozialer Ungleichheit dienen, aber eben und ganz anders auch, wie im vorliegenden Diskussionszusammenhang, der Ermöglichung von Freiheit. Ein Tabu kann eben die Feinde der freien Gesellschaft, mit denen man allerdings ebenso humangerecht umgehen muss, regulieren. Tabu-Ordnungen sind nicht »primitiv« und archaisch und stehen nicht im Widerspruch zur Moderne. Die Ritual-Bedürfnisse des Menschen 307 sind längst wieder ein Thema geworden, auch und gerade in der Moderne. Die Literatur dazu ist dynamisch angewachsen. 308 Dies trifft, für uns bedeutsam, auf die Initiationsrituale zu, aber ebenso auf die Idee des Treueides zu Fundierung von Systemen der Mutualität als Form der Solidarität, wobei die clubtheoretische Verkürzung transformiert werden muss zur Offenheit gegenüber Dritten, die dergestalt inkludiert werden. Kritische biopolitische Dekonstruktionen 309 sind hierbei bereits berücksichtigt, weil es um Grundrechtsgüterabwägungen 310 geht. Mag sein, dass dies als »Ordnung des Sozialen« 311 post-struktural besonders fruchtbar rekonstruiert werden kann. 312 Genau darum geht es ja: Freiheit muss geordnet werden, weil es im Lichte der Interdependenz ubiquitärer negativer Externalitäten um die Miteinanderfreiheit geht, die verantwortet werden muss. Das sollte in das Bemühen eingehen, über Demokratieverträglichkeit 313 der Krisenmanagements nachzudenken.

Rüpke J (2021) Ritual als Resonanzerfahrung. Kohlhammer, Stuttgart. Wulf Chr (2014) Bilder des Menschen. Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur. transcript, Bielefeld. 309 Thießen M (2013) Vom immunisierten Volkskörper zum präventiven Selbst. Impfungen als Biopolitik und soziale Praxis vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61: S. 35–64. 310 Grüner A-M (2017) Biologische Katastrophen. Eine Herausforderung an den Rechtsstaat. Nomos, Baden-Baden. 311 Thießen M (2013) Vorsorge als Ordnung des Sozialen. Impfungen in der Bundesrepublik und der DDR. Zeithistorische Forschungen 10 (3). 312 Thießen M (2021) Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Campus. Frankfurt am Main – New York. 313 Lemke M (2021) Deutschland im Notstand? Politik und Recht während der CoronaKrise.q Campus. Frankfurt am Main – New York. 307 308

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So weit, so gut. Aber selbst dann, wenn auf der Grundlage einer personalistischen Anthropologie diese Sicht rechtsphilosophisch korrekt ist, stellt sich die Frage: Wie umgehen mit Impfgegnern 314 in der liberalen 315 Demokratie? Denn dies wäre ein konkreter Anwendungsfall des Prinzipiendenkens. Nimmt diese liberale Demokratie Züge einer deliberativen Diskurskultur an, dann geht es um Aufklärung. Doch was ist, wenn die kognitiven Skripte habituell blockiert sind? Damit sind nicht nur mit Skalen messbare kognitive Beeinträchtigungen im funktionelen Sinne gemeint. Auch eine – über Konzepte der autoritären Persönlichkeit messbare – rechtsextremistische Einstellung ist eine Herausforderung. Falls hier Korrelate der Wahnvorstellungen vorliegen: Auch dies ist mit Skalen messbar. Was, wenn es, ebenfalls messbar, schlicht an Solidarität als Verantwortungsbewusstsein fehlt? Dummheit, Autoritarismus, Wahn, zynischer Egoismus: Wie umgehen mit Impfverweigerungen? Solange Dummheit im Komplexitäts-reduzierenden Vertrauen auf die (Weisheit der) Entscheidungen des Gesetzgebers schlicht rationale Ignoranz ist, ist Dummheit vereinbar mit ökonomischem und sozialem Fortschritt. Aber was, wenn die Ignoranz gegen jegliche Evidenz und entgegen der notwendigen Ethik der Miteinanderverantwortung ausgerichtet ist? Musste Kowalski 316 seine Interpretation im Zuge einer überarbeiteten 2. Aufl. um die neueren Motivkomplexe erweitern, weil rationale Ignoranz das Problem der aktuellen Weltbildkonstellationen von verquerdenkenden Menschen nicht mehr vollauf abdeckt? Von kogntiver Verweigerung ist die Rede, von Unwissen 317, das als Geflecht gepaart ist mit Unvernunft, Unwissenheit, Desinteresse, Einfalt, Vergessen, Ignoranz. Gibt es hierbei sogar einen Zusammenhang in Richtung auf die Emergenz eigenschaftsloser 318 Individuen? Eigenschaftslosigkeit – auf Musils berühmten Roman anspielend 319 – Meyer Chr & Reiter S (2004) Impfgegner und Impfskeptiker. Geschichte, Hintergründe, Thesen, Umgang. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 47: S. 1182–1188. 315 Mers J (2019) Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat. Nomos, Baden-Baden. 316 Kowalski E (2002) Dummheit. Eine Erfolgsgeschichte. Metzler in Springer, 2., aktual. u. erw. Aufl., Berlin. 317 Geisenhanslüke A (2011) Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens. Fink, München. 318 Maaß S (2020) Höflichkeit – Dummheit – Eigenschaftslosigkeit. Die Ethik des Neutrums bei Robert Musil und Robert Walser. Brill/Fink, Paderborn. 319 Neymeyr B (2015) Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Winter, Heidelberg sowie Wolf N Chr (2011) Kakanien 314

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wäre ein Phänomen moderner Entfremdung und verweist uns auf eine gewisse pathologische Reduzierung der Einheit von Geist, Seele und Körper der negativen Freiheit, die nicht mehr weltoffen-teilhabend im sozialen Miteinander eingebettet ist, seinsverloren und seinsvergessen erscheint: eine neoliberale Variante des »Man«? Ist dies die Dummheit des »Man« der vermarkteten Informationsgesellschaft? 320 Der Impfzwang ist kein Fremdkörper, wenn an Versicherungsund Schulzwang gedacht wird. In der tödlichen Pandemie geht es aber nicht nur um die Meritorik der Selbstgefährdung, sondern um die Gefährdung Dritter. Das Recht auf Selbstgefährdung bei hinreichender kognitiver Selbstbestimmungsfähigkeit bleibt unfraglich bestehen. Man denke hier auch an den Grenzfall der grundrechtlichen Freiheit zum Suizid. Doch selbst dieser kann auf Dritte traumatisierend wirken. Aber in der massentödlichen Pandemie geht es zwar nicht um Mord, weil dazu das Strafrecht in falldiagnostischer Sicht ein bösartiges Motiv rekonstruktiv voraussetzt. Aber es geht um grobe fahrlässige Tötung. Dies ist gerade mit Blick auf die Pflegeprofession ein Thema. 321 Sicherlich: Es gibt Impfdurchbrüche, aber dies ist relevant für den Selbstschutz. Sicherlich: Geimpfte können dann immer noch anstecken. Aber Geimpfte sind weniger vulnerabel für schwere Verläufe. Das entlastet das öffentliche Gut der Versorgungskapazitäten. Wenn die Grundgesamtheit geimpft ist, entdramatisiert sich das Mortalitätsgeschehen. Man kann weitere Parameter einrechnen in diese Wirkungsbilanz, etwa die Mutationen. Das ändert nichts in grundsätzlicher Weise an der Evidenz der Argumentation: Impfung ist Bürgerschaftspflicht. Impfung ist kein perfektes Zaubermittel: Das wäre magisches 322 Denken eines Dämonenabwehrzaubers als apotropäische (55; 56; 9*) Haltung. Und mit Blick auf die Komplexität des dynamischen epidemischen Gesamtgeschehens ist die Wissenschaft keine göttlich als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozialanalyse des 20. Jahrhunderts. Böhlau, Köln u. a. 320 Schmidtchen G (2002) Die Dummheit der Informationsgesellschaft. Sozialpsychologie der Orientierung. VS, Wiesbaden. 321 Zeder A (2020) Gesundheitsvorsorge und Impfpflicht, insbesondere beim Pflegepersonal. Dike Verlag, Zürich. 322 Müller K E (2021) Magie. Die verborgenen Grundmuster unseres Denkens und Handelns. Reimer, Berlin.

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unfehlbare Mantik und das RKI kein modernes Delphi, was ohnehin keine Hilfe wäre, weil das Orakel von Delphi 323 in seiner chiffrierten Weissagung die hermeneutische Auslegungskompetenz und Auslegungsmitverantwortung des Menschen bedurfte. 324 Natürlich gilt immer das Verhältnismäßigkeitsgebot, das Gebot zu vermeidender Überreaktion und die Wahl von Maßnahmen, die die Grundrechte am wenigsten einschränken. Optimiert wird so die gemeinsame, keine einseitige Freiheit auf der Grundlage von Grundrechten. Impfgegnerschaften sind dem Typ-2) des Menschen zuzuordnen. Die Vitalfunktion ist V (hoi) der instrumentellen Vernunft. Das Freiheitsverständnis ist das der negativen Freiheit. Dieser Mensch ist verstiegen eogistisch. Die geäußerte Angst, das wäre meine Hypothese, ist in der Regel eine Maskerade. Doch kommt es auch zu Syndrom-artigen Motivkomplex-Bildungen: Dummheit, Wahnvorstellungen der Verschwörungstheorien 325 und rechtsextreme Neigung 326. Man lese über die verfassungsinkonforme Vernachlässigung des Kant’schen Sittengesetzes im zweiten Satzteil von Art. 2 (1) GG. Freiheit des Individuums ohne die empathische Rücksichtnahme auf die Freiheit Dritter, die nach Art. 2 (2) ein Grundrecht auf Unversehrtheit (auf »Leben«) haben, ist die Erosion der rechtsphilosophisch in Art. 2 GG gemeinten Miteinanderfreiheit. Diese Solidarität ist in diesem hermeneutischen Auslegungshorizont folglich eine transzendentale Voraussetzung für die Freiheit als Kerndimension der personalen Würde in Art. 1 GG. Die Rechtsgrundlage für die Impfpflicht ist seit 2001 in § 20 Abs. 6 und Abs. 7 des Infektionsschutzgesetz 327 geregelt. Dieser Paragraph sieht die Einführung der Impfpflicht über eine einfache Rechtsverordnung vor, doch wird deutlich, dass diese grundgesetzlich mit Art. 2 GG achtsamkeitsethisch 328 im Prinzip der Sittlichkeit als die »soziale Freiheit« des moralischen Subjekts verMaaß M (2007) Das antike Delphi. Beck, München. Schadewaldt W (1975) Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 325 Butter M (2018) »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 326 Löwenthal L (2021) Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. Suhrkamp, Berlin. 327 Kluckert S (Hrsg) (2021) Das neue Infektionsschutzrecht. 2. Aufl. Nomos, BadenBaden. 328 Entgegen Schmidt J (2020) Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-WeltModellen eines populären Phänomens. transcript, Bielefeld argumentierend, ist Acht323 324

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ankert ist. Die soziale Freiheit dominiert somit die Einseitigkeit des Ego-zentrierten Denkens der »negativen Freiheit«. Die soziale Freiheit hebt aber die negative Freiheit zugleich dialektisch in sich auf, denn in der diskursiven Vernunft der Meritorik wird die Möglichkeit unterstellt, dass das »kritizistische« Subjekt bei höchster Wohlbedachtheit und tiefster Selbstbesinnung 329 genau zu dieser Selbsttranszendenz der negativen zur sozialen Freiheit gelangt. Aber was, wenn dies als kognitiv-moralische Komplexkompetenz, auch mit Anreizen, nicht gelingt? Es bleibt dann als Resultat von Grundgüterabwägungen nur der legitime Zwang. Auch und gerade in der liberalen Demokratie. Die Ordnung der Diskurslandschaft ist aber von Asymmetrien geprägt: Der Aufschrei der Subjekte der negativen Freiheit war und ist in der Krise beträchtlich. Umso mehr erstaunt, wie wenig über die Grundrechtsverletzungen im Fall der Kasernierung in den Langzeitpflegeheimen im Alter differenziert nachgedacht worden ist (54; 55; 56; 65). Offensichtlich bestätigen sich hier die politikwissenschaftlichen Einsichten, dass Interessen in der pluralistischen Gesellschaft der Moderne sehr unterschiedlich ausgebildet sind im Sinne der Organisations-, Artikulations- und Konfliktfähigkeit. Es verweist aber auch auf die eigenartige Kultur (14; 16), wie unsere Gesellschaft mit dem vulnerablen Alter umgeht. Wir stellen sie als »Verschlusssache« in stille panoptische Räume, und legitimieren diese, die personale Würde verletzende Ausgrenzung noch mit einem generösen Moralismus eines »sicher, sauber, satt, still«-Dispositivs statt im normativrechtlichen Lichte des inkludierenden Menschenrechts auf teilhabende Sozialraumerlebniserfahrung. Zurück aus dem wiederum recht langen Exkurs. Die Situation in der Landschaft der Theoriebildung der Ökonomie hat sich nun in gewissen Grenzen verändert, vor allem durch den Einbau kognitionspsychologischer Befunde, die das Paradigma formaler Zweckrationalität problematisieren helfen. Dennoch wird die Thematik der Meritorik immer noch nicht angemessen verstanden und aufgenommen in einem Bemühen um die sittliche Ordnung der Freiheit im Kontext deliberativer Demokratie, die auf Meta-Präferenz-theoretische Überlegungen kommunikativer Verständigung über die Nützlichkeit des samkeit im Kontext einer ethisch durchdachten Hermeneutik zu verstehen. (Vgl. in 58; 64). 329 Petrak P (1999) Ethik und Sozialwissenschaft. Transfer Verlag, Regensburg.

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Nützlichen im Kontext von nicht nur technologischen, sondern auch moralischen Externalitäten im synchronen wie diachronen Kulturzusammenhang sozialen Miteinanders intra- oder trans-generationeller Art abstellt. Das Myopieproblem z. B. kann heute im Lichte der ubiquitären Nachhaltigkeitsdebatte wohl kaum noch als Anomalie der Rationalitätsmodelle gelten. Die Diagnose der Krankheit wird hier pathologisiert und die Krankheit normalisiert. Was im Lichte eines »cultural turns«, die Perspektive der »cultures of relatedeness« (3) als Ankerfunktion der Theoriebildung aufnehmend, als Theorem der kulturellen Einbettung (»embeddedness«) und der sozialen Verkettung (»connectedness«) in Figurationen 330 vergesellschafteter Subjekte in einer post-neoklassischen Ökonomie modelliert werden muss, wirft im Lichte verfassungsrechtlicher Reflexionen die Frage nach einer empathischen Rücksichtnahme in der Form des Sittengesetzes als ethische Grundlage der inkludierenden Universalisierung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG) im sozialen Miteinander angesichts des Tabu-Charakters des quasi-sakralisierten Axioms der Würde (in Art. 1 GG) auf. So kommt man dem Problem näher, sozialpathologische Verwerfungen der jenseits psychotischer Phänomene angesiedelten charakterneurotischen Verstiegenheiten der Plenexia des bornierten homo oeconomicus (der Typ 2-Mensch mit der Vitalfunktion V [hoi], der oben mit Bezug auf Wiesing als distanziertes Welt- als Umwelt-Verhältnis charakterisiert wurde und bei Spengler kulturkritisch als faustischer Mensch des Beute-Machens diskutiert wurde) zu problematisieren, eventuell auch zu korrigieren.

II.

Dynamische Prozessontologie

Auch zu diesem Problemkreis einer dynamischen Prozessontologie will ich nur einige weitere Überlegungen als kleine Bausteine der Gesamtsichtung ausformulieren. Aufbauend auf meiner apollinischdionysischen Geist-Analyse der Sozialpolitik und der Gemeinwirtschaft (60) im Lichte der im Wachstum (vgl. auch 57) befindlichen Arbeit »Kritik der innovativen Vernunft« (70), die schon in den einElias N (1991) Die Gesellschaft der Individuen. 10. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

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Dynamische Prozessontologie

leitenden Vorbemerkungen als Anläufe zum Zugang mit Blick auf die inneren Zusammenhänge und Komplementarität der Analysen angeführt worden ist, führe ich die Idee der dialektischen Geschichtsphilosophie als konkrete Utopie bestimmter Negation (24; 48) fort. Weiter oben schrieb ich bereits: Geschichtsphilosophisch ist diese Sicht in der dialektischen Modallogik von Wirklichkeit und Möglichkeit 331 als konkrete Utopie des Noch-Nicht eine Metaphysik der Entelechie als dynamische Prozessontologie 332 zu verstehen. Demnach ist geschichtliche Realität (GR) immer eine Realität, die erfahrbare Wirklichkeit (eW) und Möglichkeit (M) zugleich umfasst, wobei die Möglichkeit auch als endogene Dialektik die Alterität der Realität (Я) bedeuten kann: GR = GR (eW; M; M = Я). Die Wirklichkeit wie die Möglichkeit sind beide nur mittelbare Erfahrungen. Allerdings unterscheiden sich die Erfahrungsmodi: eW ist als eher unmittelbare Mittelbarkeit eine rekonstruktive Leistung angesichts der Faktizität von eW. Dagegen ist M eine eher mittelbare Mittelbarkeit der Erfahrung, eine imaginative Erfahrung, da die Imagination ja auch erfahren wird, indem sie eine Imaginationsleistung fiktionaler Art ist, die jedoch an die Faktizität in der Gestaltfigur einer bestimmten Negation durch die Endogenität ein erwachsender, werdender Teil von eW ist, so wie der Traum zwar fiktional, aber Teil von GR ist, immer eW und M integrativ umfassend. M ist die transformative, selbsttranszendente Ergänzung von eW. Das Ganze ist also eine Logik der Verflüssigung von Zuständen, die sich dadurch verändern im Sinne von Zustandsänderungen. Die Möglichkeit M ist – mehr oder weniger – die Negation von eW: M = Я, also Я 6¼ GR. Durch die Endogenität ist sie eine »bestimmte«, keine beliebige, sondern eine aus seinem seienden Sein einer geschichtlichen Wirklichkeit (GR) erwachsende Negation, immer aber zugleich modallogisch schon eine latente fiktionale Teilmenge der manifesten Wirklichkeit Gantner G (2021) Möglichkeit. Über einen Grundbegriff der praktischen Philosophie und kritischen Gesellschaftstheorie. transcript, Bielefeld. 332 Anregend dazu: Auhser F (2015) Die Macht der Form. Versuch einer dynamischen Ontologie. transcript, Bielefeld 331

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

als Faktizität eW. Die eW und M sollten daher in GR gar nicht symbolisch durch ein Semikolon fragmentiert werden, sondern durch eine innere Kopula Ո verknüpft werden: GR = GR (eW Ո M; M = Я; Я 6¼ GR). Neben den beiden Modalitäten eW und M spielen daher prozessontologisch noch zwei Kräfte eine Rolle: die Energeia und die Dynamis 333. Diese Kräfte 334 sind in der Akt-Potenz-Theorie des Werdens und Wachsens als Elemente einer hylemorphen Entelechie zu verstehen. Der Akt ist das Getrieben-Werden als Energeia und bewirkt die Formwerdung als Wirklich-Werden des Potentials, wozu als Potenz ein Vermögen als Fähigkeit vorhanden sein muss: die Dynamis. Wenn sich die Möglichkeit M aus der Wirklichkeit eW als Entelechie E entfalten soll, bedarf es also der Energeia e und der Dynamis d. Die Kopula erweist sich als Transformationsfunktion f

Ո = (eW → M) = f (e; d). Energeia und Dynamis sind transzendentallogisch zu verstehen: Sie ermöglichen die Transformation der endogenen bestimmten Negation. Auch die wissenschaftliche Prognose kennt in ähnlicher Weise die strukturale Umkehrung der Erklärung zur Prognose, lässt also die Zukunft aus der Gegenwart und ihrer Einbettung in Vergangenheit erwachsen. Sie betreibt (stochastische) Trendexplorationen, seien diese nun a) pfadabhängig bzw. pfadimmanente Wandlungen parametrischer Art mit modernisierter Identitätskontinuität oder b) pfadtransformative Mutationen als Systemtransformation, definiert als Identitätsbruch. Ich unterscheide demnach also a) den Typus der Veränderung im Modus von {Pfadabhängigkeit→ parametrische Reformen} und b) den Typus der Veränderung im Modus von {Pfadtransformation →Systembruch}. Hinter der stochastischen Prognose stehen modellierte Faktoren, die der Transformationsfunktion f (e; d) nicht unähnlich sind, denn es bedarf motivationale Dispositionen, ein Tun, ein generatives Ver-

Dazu auch Chiurazzi G (2021) Dynamis. Ontology of the Incommensurable. Springer International Publishing, Berlin u. a. Angekündigt ist: Sahraoui N (2022) Dynamis. Eine materialistische Philosophie der Differenz. transcript, Bielefeld. 334 Vgl. auch Menke Chr (2017) Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Suhrkamp, Berlin. 333

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Weltphänomenologische Hermeneutik

mögen (Fähigkeit) dazu. Das Tun als die pragmatische Dimension verkoppelt die Motivation (als intentionale Kraft) und die Kompetenz (als generative Kraft). Zu bedenken ist hierbei nochmals, dass es sich nicht um ontogenetische Prozesse der selbsttranszendenten Plastizität handelt, sondern um die Selbsttransformation des komplexen, aus interpenetranten Subsystemen (Wirtschaft, Politik, Kultur, Person) bestehenden Systems der Gesellschaft als soziale Figuration von Individuen in der Zeitlichkeit 335 des geschichtlichen Daseins der Kultur des Sozialen. Struktur-genetisch 336 mag hier die moralisch-kognitive Ontogenese allerdings als verkoppelt mit den entsprechenden moralisch-kognitiven Stufen der sozialen Evolution verstanden werden. Die dialektische Geschichtsphilosophie sollte dergestalt in ihren metaphysischen Denkstrukturen nicht verspottet werden. Der Empirismus betreibt ja seine eigenen Szenarienanalysen 337 und ist methodisch kontrollierte Futurologie 338.

III. Weltphänomenologische Hermeneutik Nun soll es um einige Bausteine einer weltphänomenologischen Hermeneutik des responsiven Subjekts gehen. Meine These habe ich bereits vorgetragen: Nicht in der apriorischen Ursprünglichkeit des moralischen Subjekts gegenüber dem Du liegt der Ausgangspunkt der Reziprozität als objektiver Geist der institutionalisierten Gabe, denn der Respekt ist unabhängig vom Ich geboten, weil es bereits mit und in dem Mitmenschen als Anderer als inkorporierte Inhärenz (als völkerrechtliches »inherent dignity«-Axiom) gegeben ist. Dieser These haben meine bisherigen Ausführungen ja bereits vorgearbeitet. Nun geht es um die Konsequenzen hinsichtlich des Gamper M & Hühn H (Hrsg) (2014) Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Wehrhahn Verlag, Hannover. 336 Fetz R L (2020) Strukturgenetische Anthropologie. Menschsein und Personwerden. Alber, Freiburg i. Br. – München sowie Bohmann G & Niedenzu H-J (2020) Historisch-Genetische Theorie. Springer VS, Wiesbaden. Klassisch: Dux G (2017) Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten – Zur Prozessualen Logik im kulturellen Wandel. 4. Aufl. Springer VS, Wiesbaden. 337 Wolfsteiner A (2018) Sichtbarkeitsmaschinen. Zum Umgang mit Szenarien. Kulturverlag Kadmos Berlin, Berlin. 338 Eberspächer A (2018) Das Projekt Futurologie. Über Zukunft und Fortschritt in der Bundesrepublik 1952–1982. Schöningh, Paderborn. 335

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

Verständnisses der passenden Phänomenologie. Wäre es falsch, poststrukturalistisch die De-Zentrierung des Subjekts einzubringen und zu behaupten: Nicht das Ich erschließt sich phänomenologisch die soziale Wirklichkeit als seiendes Sein, sondern das seiende Sein als »strukturierende Struktur« erschließt sich selbstentfaltend, wenngleich das de-zentrierte Subjekt Teil dieser Selbstentfaltung des seienden Seins ist? Diese Selbstentfaltung des seienden Seins in der Figur des Anderen offenbart sich dem Ich, das sich in der Mich-Erfahrung der auratischen Anmutung des Anderen in die Position einer aktiven Passivität der Responsitivität öffnend aufstellt. Die Ausgangsperspektive der phänomenologischen Bewegung ist gegenüber der ego-zentrierten Phänomenologie in der Tradition des frühen Husserl also umzukehren. Der Respekt ist bereits symbolisch verkörpert in der faktischen, nicht erst phänomenologisch in einer vom Ich zu konstituierenden Existenz des Anderen in seiner Gegebenheit. Der Andere wird hier als symbolisch 339 verstanden, weil er Bedeutungsträger ist, wobei es nicht um ein konventionelles Verständnis geht, sondern um chiffrierte Sinnzusammenhänge, die latenter Natur sind und nicht unmittelbar manifest, sondern erst geborgen werden müssen. Dass der Andere das monströse Fremde sei, ist bereits eine rezeptive Übertragungsleistung, die die eigene Unsicherheit verschiebt auf den Anderen als Ursache. Das verängstigte und zur möglichen Gewalt neigende Subjekt – das gleich noch anzuführende Elias Canetti-Theorem der angstbedingten Gewalt als Verhaltensresponsitivität auf das Fremde aufgreifend – muss lernen, die Aura der Unverfügbarkeit des Anderen als Gegenübertragung auf die eigene Übertragung offen aufzunehmen: Der Andere ist für sich und will nur den achtsamen Respekt, der von ihm wiederum auch erwartet werden kann in Bezug auf die Sicht des ängstlichen Subjekts. Ich würde gerne einige ausgewählte Positionen zur Verdeutlichung meiner Reflexionsweise des Problems der Umkehrung gängiger phänomenologischer Auffassungen einbringen. a) Angst und Gewalt bei Elias Canetti: Wenn derlei Übertragungen und Gegenübertragungen (55; 56; 9*) 340 nicht achtsam reflektiert Berndt F & Drügh H (Hrsg) (2009) Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 340 Bettighofer S (2016) Übertragung und Gegenübertragung im therapeutischen Prozess. Kohlhammer, Stuttgart. 339

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und daher sozial friedvoll reguliert werden, kommt es zur Möglichkeit (Wahrscheinlichkeit) von Praktiken der Gewalt, wie sie Elias Canetti in »Masse und Macht« 341 gleich zu Beginn beschrieben hat: Was der Mensch nicht kennt, davor hat er Angst und er erschlägt es. Die Offenheit setzt jedoch psychodynamisch eine durch Vertrauenserfahrung erlernte Fähigkeit der Regulierung der Angst voraus. Es geht nicht um Naivität. Es geht um das rechte Maß. So kann es sein, wie es in der Psychoanalyse lautet, dass beide Seiten der sich ergebenden Interaktion zu einem »Arbeitsbündnis« kommen, wenn die Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik entneurotisiert wird. Man würde einen gemeinsamen Weg des weiteren werdenden Wachstums der Ich-Funktion erwirken. b) Das Selbst als das Fremde bei Julia Kristeva: Vermieden werden muss die stigmatisierende Projektion, in der die verdrängten eigene Ängste übertragen werden. Julia Kristeva 342 sprach von der Angst vor dem eigenen Selbst, das auf den Fremden übertragen wird. Die Stigmatisierung führt zur Ausgrenzung, doch kann die Abneigung auch zu Praktiken der Nichtung führen. Oft ist es ein pathologisch reduziertes inneres Handlungsschema, das sich in den sozialen Praktiken zum Ausdruck bringt. So konnte auch Michel de Certeau 343 argumentieren: Erst durch die Erschütterung durch die Erfahrung des Fremden kann ich beginnen, neue Wege in wandernder 344 Offenheit zu erkennen. Das Ich kann überhaupt erst nachträglich respektvoll die SelbstEvidenz des Anderen bestätigen, nicht konstitutiv anerkennen. Anerkennung ist demnach ein sekundäres Verstärkungs-Ritual einer vorgängigen Wahrheit. 345 Das Subjekt, das von mir problematisie-

Canetti E (1960) Masse und Macht. Claassen, Hamburg. Kristeva J (2001) Fremde sind wir uns selbst. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 343 Certeau M de (2017) Der Fremde oder Einheit in Verschiedenheit. Kohlhammer, Stuttgart. 344 Guardini R (1946) Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins. Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins. Tübingen – Stuttgart. 345 Maßgebend von Bedeutung war dazu meine Lektüre von Marion J-L (2015) Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit. Alber, Freiburg i. Br. – München. Dazu auch Staudigl M (Hrsg) (2020) Der Primat der Gegebenheit. Zur Transformation der Phänomenologie nach Jean-Luc Marion. Alber, Freiburg i. Br. – München. 341 342

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rend als das generöse Ich thematisiert wird, wird epistemisch in diesem Lichte eher in der Rolle aktiver Passivität 346 definiert. 347 Mit einem Bezug zu Bernhard Waldenfels 348 kann ich mit einem dritten Blickwinkel, den ich vorgesehen habe, fortschreiten. Doch c) baut integrativ auf a) und b) auf. c) Responsive Phänomenologie der Welt: Meine Rezeption einer responsiven Phänomenologie validiert sich weitgehend im Lichte der vorliegenden Sekundärliteratur. 349 Während der sprachtheoretisch fundierte kommunikationsrationalistische Ansatz von Habermas immer bei den Subjekten beginnt und erst dann im Vorgriff auf die Philosophie der Anerkennung angesichts der Differenz zur Intersubjektivität als Maschine der Konsensproduktion anlangt, startet Bernhard Waldenfels in seinem großen Werk einer neuen Phänomenologie mit den Antworten, die bereits die Welt der Dinge 350 und die Anderen voraussetzen, die uns auffordern, uns zu ihnen zu verhalten. 351 An der Studie von Li ist die These, das Eigene und das Fremde seien gleichursprünglich, nicht ganz unproblematisch. Natürlich ist das Eigene schon da, sonst könnte es nicht antworten. Aber die Anfrage des Anderen, der auch schon da ist, geht voran. Wenn das Eigene und das Fremde gleichursprünglich wären, so müsste die These zugespitzt werden: Das Eigene, das ebenso wie das vorgängig anfragende Fremde schon da ist, wird sich als Subjekt erst selbst bewusst, wenn es antwortet. Dazu passt eine andere These aus der Studie von Li 352: Ein solches responsives Leben ist an sich, im tieferen Wesenskern, religiös, weil es sich zur Kreativität der Wirklichkeit Sandru A R (2021) Übermaß und Widerstand. Zum Begriff einer dynamischen Erfahrung. Metzler in Springer, Berlin. 347 Vgl. auch Waldenfels B (2015) Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung. Suhrkamp, Berlin. 348 Steinmann J J (2021) Exzess und Selbst. Hyperphänomenologische Bewegungen nach Waldenfels. Cuvillier Verlag, Göttingen. 349 Huth M (2008) Responsive Phänomenologie. Ein Gang durch die Philosophie von Bernhard Waldenfels. Lang, Frankfurt am Main. 350 Därmann I, Ladewig R & Waldenfels B (Hrsg) (2014) Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen. Fink, München. 351 Fischer M, Liebsch B & Gondek H-D (Hrsg) (2001) Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 352 Li J (2016) Leben als kreatives Antworten. Eine Untersuchung der responsiven Phänomenologie von Bernhard Waldenfels im Hinblick auf den Dialog der Religionen in der Lebenswelt. utzverlag, München. 346

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hin öffnet. Man wird genau lesen müssen. Die Wirklichkeit ist kreativ, das Subjekt öffnet sich auf diese Kreativität der Selbstentfaltung des Wirklichen hin. Das ist eine Offenbarungstheorie einer OntoDramatik, nicht einer Theo-Dramatik. Dieser Satz macht nur Sinn, wenn die Selbstentfaltung der Wirklichkeit epiphanisch gedacht ist, ohne im strengen Sinne offenbarungs-theo-logisch zu werden. Gesten des Gebens (also im Antwortverhalten) weisen dabei eine religiöse (spirituelle, anmutende, epiphanische) Aura auf. 353 Was für diese Selbst-Konstitution im Zuge des Antwortens auf die Anfrage des Fremden spricht, ist, dass Waldenfels erwartet 354, dass das sich dabei konstituierende Subjekt in sich selbst hineinschaut, um das eigene Fremde in sich selbst zu entdecken. Pathos meint in einer responsiven Phänomenologie eine erschütternde Erfahrung, die einem Menschen widerfährt. Erst dann, immer mit der für Kausalität von Ursache und Wirkung für die Verarbeitung notwendigen Zeitdifferenz, erfolgt die kreative Antwortarbeit. Intentionalität steht also nicht am Anfang: Sie erfolgt in der Responsivität auf vorgängige Erfahrung von Ereignissen. Das Subjekt ist hier, wie bei Foucault, dezentriert (dazu i. V. 73). Das Subjekt ist nicht tot und verschwunden aus der Theorie. 355 Aber aus der Phänomenologie des intentionalen Subjekts ist nunmehr eine »Weltphänomenologie« geworden. Eine solche Weltphänomenologie modelliert eine hermeneutische Phänomenologie, die das Subjekt die sich selbst entfaltende vorgängige Welt – kreativ, aber responsiv – verstehen lässt. Das Fremde als Alterität 356, dem die Würde 357 zusteht, weil der Andere diese Wür-

Vgl. auch in Waldenfels B (2006) Schattenrisse der Moral. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 354 Schellhammer B (Hrsg) (2021) Zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse. Im interdisziplinären Gespräch mit Bernhard Waldenfels. Nomos, Baden-Baden. 355 Man erkenne beim Lesen die innere spannungsreiche Verwiesenheit von Foucault M (1974) Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main und Foucault M (2009) Hermeneutik des Subjekts. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 356 Schulz R (2020) Als Odysseus staunte. Die griechische Sicht des Fremden und das ethnographische Vergleichen von Homer bis Herodot. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Ferner: Glückhardt Th (2020) Die Wüsten der Griechen. Natur- und Raumkonstruktion im archaischen und klassischen Griechenland. Ergon in Nomos, Baden-Baden. 357 Herczeg P (2021) Das Maß der Würde. Ein Menschenrecht als kommunikative 353

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de bereits hat, ist in diesem Zusammenhang als vorgängig dergestalt zu bezeichnen, dass sich der Andere kraft seiner Unbedingtheit und Unverfügbarkeit selbst entfaltet und dabei sekundär auf die Responsivität im Sinne einer nachträglichen interaktiven Verstärkung bzw. Bestätigung (Entitlement) angewiesen ist. In diese Feldstruktur einer asymmetrischen Interaktion (Responsivität als Verarbeitungsmodus der Anmut, die von der vorgängigen und daher auslösenden Aura des Anderen ausgeht) ist das staunende Subjekt eingestellt. Man mag mir hier eine animistische Auffassung des Ding-Charakters des Anderen gegenüber dem Subjekt diagnostizieren. Der Animismus-Begriff mag hier als Verschiebungsbegriff sogar sinnvoll sein, denn damit kokettiere ich mit einer Argumentationsfigur, die befremdlich ist und vielleicht gerade deshalb aufmerksam macht auf den wirklich gemeinten Zusammenhang, der dann geöffnet ist zur Verstehbarkeit. Denn weder rekurriere ich hier auf die Animismusforschung in der Religionsgeschichte noch auf den Animismus des Kindes im Kontext der Entwicklungspsychologie von Piaget. In der neueren Literaturwissenschaft 358 wird diese Sicht in diversen Werkanalysen fruchtbar genutzt, auch in kulturwissenschaftlichen Studien 359 oder auch in der Ethnographie der Alltagsdinge im hohen Alter z. B. im Kontext der dramatischen, oftmals traumatisierenden Heimübersiedlung 360, doch will ich diese Vergleichsfelder nicht weiter aufgreifen (vgl. u. a. 55; 56). Die cartesianische Asymmetrie zwischen dem Subjekt und dem Objekt wird umgekehrt 361: Das Objekt ist eine vorgängige Gabe und das Subjekt kann es (wenngleich aktiv und kreativ; das nannte ich die

Herausforderung. Facultas, Wien. Ferner: Nußberger A (2021) Die Menschenrechte. Geschichte, Philosophie, Konflikte. Beck, München. 358 Marx B (2015) »Meine Welt beginnt bei den Dingen«. Rainer Maria Rilke und die Erfahrung der Dinge. Königshausen & Neumann, Würzburg. Ferner z. B. Bolterauer A (2015) Zu den Dingen. Das epiphanische Ding-Erlebnis bei Musil, Rilke und Hofmannsthal. Praesens Verlag, Wien. 359 Vgl. auch Balke F & Muhle M (Hrsg) (2012) Die Wiederkehr der Dinge. Kulturverlag Kadmos, Berlin sowie Dörrenbächer J & Plüm K (Hrsg) (2016) Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus. transcript, Bielefeld. 360 Depner A (2015) Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte. Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim. transcript, Bielefeld. 361 Bauer K (2012) Einander zu erkennen geben. Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe. Alber, Freiburg i. Br. – München.

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Gottlose Metaphysik

kreative Aisthesis, wodurch theoria eben keine passive Spiegelung als abbildtheoretische Mimesis ist) anerkennend erkennen. 362

IV. Gottlose Metaphysik Notwendig erscheinen mir nun einige Bemerkungen zu einer »Gottlosen« Metaphysik, die, durchgängig schon angeführt, ebenso nur bausteinmäßig ausfallen sollen. Die Vorgängigkeit des dem Menschen widerfahrenden Schicksalszusammenhangs (in der Geschichte) des Gelingens oder Scheiterns solidarischer Gleichheit der Menschen als liebendes Miteinander in Freundschaft und Frieden will ich aber eben nicht – auch nicht als Minimaltheologie 363 – wieder so verstehen, dass die »Wir-Freiheit« erneut zu einer Gabe Gottes wird 364, den die Kirche scheinbar immer wieder ins Spiel zu bringen versucht, um sich selbst noch am Leben zu halten. Die Gottähnlichkeit, von der ich als Realtypus, skaliert an der Idee Gottes als Idealtypus, sprach, ist nicht zwingend so weit fortzuführen, dass »hinter dem Symbol«, wie Paul Tillich argumentierte, das Ganz Andere als Gott als ein Unbegreifliches steht, wenngleich Tillich bekanntlich in seiner Korrelationsmethode das Ganz Andere nie so diastatisch dachte wie Karl Barth, der vielen gläubigen Andersdenkenden gerne in seinem neurotischen Eifer Häresie vorwarf. Ohne jegliche Herrschaftsinteressen und Machtgelüste zu unterstellen, gilt diese Kritik auch der ontologisch und letztendlich demokratiepolitisch durchaus engagierten anspruchsvollen Religionsphilosophie christlichen Glaubens bei Ingolf U. Dalferth 365, auf den in der vorliegenden Abhandlung weiter oben bereits an verschiedenen Stellen hingewiesen worden ist. Ich greife ihn hier exemplarisch, wertschätzend und respektvoll, aber dennoch ablehnend, als Referenzsystem auf. Es ist in keiner Weise ein zwingend sich aufdrängender Gedanke, hinter der Vorgängigkeit als Gegeben-Sein des Anderen Grundlegend dazu schon die frühe Arbeit von Levinas E (2019) Husserls Theorie der Anschauung. Turia + Kant, Wien. 363 Radaj D (2016) Weischedels Minimaltheologie im Spiegel der Sprachkunst. Bausteine zu einer zeitgemäßen Gotteslehre. Echter, Würzburg. 364 Held M (2017) Gabe der Analogie. Phänomenologische Erkundungen zu einer theologischen Denkform. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig. 365 Dalferth I U (2021) Radikale Theologie. Glauben im 21. Jahrhundert. 4. korr. und überarb. Aufl. EVA, Leipzig. 362

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den unbewegten Beweger Gottes zu stipulieren, der den (in aktiver Passivität 366 auf die Gnade wartenden) Menschen anruft. Der Andere in der Rolle des vorgängigen Mitmenschen nicht nur als Phänomen der Erfahrungswissenschaften zu begreifen, sondern auch ontologisch, bedeutet nicht, dahinter Gott stehend zu sehen, wenngleich gilt: a) Modallogische Strukturanalogien zur Metaphysik als dynamische Prozessontologie der Gott-losen Geschichtsphilosophie bestehen, immer mit Bezug auf eine hermeneutische Methodologie 367, mit Blick auf modallogische Überlegungen zur Möglichkeit des Unmöglichen 368, der Möglichkeit des Seinkönnens 369, also in Bezug auf die Wirklichkeit des Möglichen 370 und auch in Bezug auf die Kategorie der Hoffnung 371 und des Grundvertrauens 372. b) Gleiches gilt ebenso mit Blick auf die Möglichkeit des homo abyssus als das Ganz Andere als das Böse 373 und folglich mit Bezug auf die hybriden Übergangsräume der Sünde 374 zwischen Fehlverhalten (etwa in der Form der fahrlässigen Tötung) und dem Bösartigem (der Mord), dabei das theologische Analogon zur Entfremdung meinend, sowie des Leidens 375 (als theologisches Analogon zur Vulnerabilität). Und es geht

Dalferth I U (2011) Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen. Mohr Siebeck, Tübingen. 367 Dalferth I U (2018) Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte. Mohr Siebeck, Tübingen. 368 Dalferth I U, Hunziker A & Stoellger Ph (Hrsg) (2009) Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs. Mohr Siebeck, Tübingen. 369 Dalferth I U & Hunziker A (Hrsg) (2011) Seinkönnen. Der Mensch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Mohr Siebeck, Tübingen. 370 Dalferth I U (2003) Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie. Mohr Siebeck, Tübingen. 371 Dalferth I U (2016) Hoffnung. De Gruyter, Berlin. 372 Peng-Keller S & Dalferth I U (2013) Grundvertrauen. Hermeneutik eines Grenzphänomens. EVA, Leipzig. 373 Dalferth I U (2010) Das Böse. Essay über die Denkform des Unbegreiflichen. 2. Aufl. Mohr Siebeck, Tübingen. 374 Dalferth I U (2020) Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit. 2., korr. Aufl. EVA, Leipzig. 375 Dalferth I U (2006) Leiden und Böses. Vom schwierigen Umgang mit Widersinnigen. EVA, Leipzig. 366

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c)

d)

strukturanalog auch um die doppelte Form der Wahrheit 376 der Protokollsätze über das Seiende einerseits und des Gestalt-wahren seienden Seins andererseits. Doch gibt es keine zwingende Verweisstruktur des Anderen auf die hinter ihm stehende anwesende/abwesende 377 Gegenwart 378 der konstitutiven Figur Gottes 379.

Exkurs: Das Böse Das Böse – eine daseinsthematische Herausforderung für die Philosophie des Menschen 380 – ist im Kern die Frage nach dem Geist, dem der Mensch folgt und sein Verhalten entsprechend ausrichtet und sich somit aus seinem Inneren heraus charakterlich aufstellt im Verhältnis zum Mitmenschen und zur Welt. Wenn ich mich nun erklären soll, was ich unter dem Phänomen des Bösen meine (ich handelte davon auch schon in 70 und bin in der Einführung zu 60 auch u. a. mit Blick auf Hannah Arendt 381 darauf eingegangen), so eröffnet sich hierbei das viel zitierte weite Feld, sowohl kulturgeschichtlich wie kulturvergleichend. Man kann systematisch 382 an das Phänomen herangehen. 383 Das Böse folgt einem binären Code und ist daher schlicht der Gegenbegriff zum Guten. Dabei wird das Böse als das moralisch Falsche verstanden, kann also nur mit Bezug auf das moralisch Richtige definiert werden. Sofern sich der binäre Code von {gut/richtig : böse/falsch} Dalferth I U & Stoellger Ph (Hrsg) (2004) Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation. Mohr Siebeck, Tübingen. 377 Dalferth I U (2021) Deus Praesens. Gottes Gegenwart und christlicher Glaube. Mohr Siebeck., Tübingen. 378 Dalferth I U (2021) Gegenwart. Eine philosophische Studie in theologischer Absicht. Mohr Siebeck, Tübingen. 379 Dazu bereits Dalferth I U (1992) Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche. Mohr Siebeck, Tübingen. Sodann Dalferth I U (1994) Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie. Mohr Siebeck, Tübingen. 380 Ricœur P (2006) Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie. Theologischer Verlag Zürich, Zürich. 381 Balzer T (2014) Der Begriff des Bösen bei Hannah Arendt. VDG Weimar – Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar. 382 Pieper A (2019) Gut und Böse. 4. Aufl. Bevck, München. 383 Noller J (2017) Theorien des Bösen zur Einführung. Junius, Hamburg. 376

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handlungstheoretisch mit Blick auf ein Tun zum Ausdruck bringt, geht es zugleich um die Kraft, die moralisch falsches oder moralisch richtiges Handeln antreibt. In der Regel bildet sich noch ein mit Blick auf die semantischen Dimensionen komplexerer binärer Code heraus, wenn es zur Ästhetisierung und zur Pathologisierung des Phänomens kommt: {gut/richtig = schön/gesund : böse/falsch = hässlich/krank}. In der Figur der »alten Hexe« (vgl. auch in 4) wird dieser binär codierte Komplex sogar mit einem »Ageism«-Effekt in Verbindung mit einem Gender-Bias zu bringen sein. 384 In der sozialen Praktik der Hexenverfolgung 385 erkennt man zugleich die Antwort auf diese konstruierte Herausforderung als Variante eines nichtenden Dämonenabwehrzaubers aus der Haltung einer apotropäischen Hygieneangst heraus (9*; 55; 56). So erschließt sich das Thema des Bösen auch als Phänomenologie der sozialen Praktiken 386 sowie auch als Ästhetik des Bösen 387. Sodann kann also das Böse handlungstheoretisch auf das Tun abgestellt werden. Dann ist das Phänomen des Bösen eine Kraft, die treibt. Diese Kraft kann man als Energeia im Rahmen einer Ontologie dynamischer Prozesse, auf die ich schon verwiesen habe und auf die ich nochmals zu sprechen kommen werde, verstehen. Damit wäre das Böse in der Ontologie des Ringens von schöpferischer Liebe und Destruktivität im Sinne einer Daseinsverfehlung bereits tiefengrammatisch angesiedelt: Das Böse wäre in einem solchen in Religionsgeschichte und Mythologie verbreiteten Dualismus demnach also, onto-anthropologisch verstanden, ein Vermögen, das zur Naturausstattung des Menschen in seiner conditio humana gehört. Bricht man diese Onto-Anthropologie auf den konkreten Menschen herunter, so ist das Böse im Tun an bestimmte Motive gebunden. Mit der Motiv-abhängigen pragmatischen Dimension kommt in der systematischen Analyse der Aspekt der Schädigung Dritter ins Spiel. Es geht somit um Absicht als Ausdruck des Willens, der dem Dazu etwa exemplarisch: Formanek S (2007) Die »böse Alte« in der japanischen Populärkultur der Edo-Zeit. Die Feindvalenz und ihr soziales Umfeld. Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien. 385 Behringer W (2020) Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung. 7., aktual, Aufl. Beck, München. 386 Wolf J-C (2011) Das Böse. De Gruyter, Berlin. 387 Alt P-A (2010) Ästhetik des Bösen. 2. Aufl. Beck, München. 384

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Willen vulnerabler Dritter entgegengesetzt ist. Bei Kant 388 setzt der Wille zum Bösen daher die Freiheit voraus, stattdessen das gute Sollen zu können, was beim angeführten Ricœur aber gegenüber Kant phänomenologisch und hermeneutisch in Bezug auf die Erscheinungsformen des Bösen komplexer (differenzierter) problematisiert wird 389. Bei Schelling 390 wird das Böse als »Vollzug menschlicher Freiheit« thematisiert. Insgesamt ist das Thema des Bösen in der Tradition der idealistischen Philosopie ein breit erörtertes Problem. Und Safranski bezeichnet entsprechend das Böse als »Drama der Freiheit« 391. Damit wird überaus prägnant deutlich, dass das Böse ontoanthropologisch zur Seinsverfassung als Grundausstattung des Menschen gehört. Wenn also die Freiheit als Wesenskern der conditio humana zählt, so stellt sich bei der fördernden Entfaltung eben dieser Freiheit zugleich die Frage nach den Formen des Zusammenlebens, in denen sich die Freiheit entfaltet und diese Freiheit »Gestalt-bildend« zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne sitzt die Angst vor dem dämonischen Potenzial des Bösen, mit dem immer zu rechnen ist, ontologisch tief. 392 Die Aufsatzsammlungen zum Themenkreis des Bösen sind gerade in den letzten Jahren angewachsen. Die Diskurslandschaft mit ihren vielfältigen Zugängen und Sichtungsweisen ist in gewissen Grenzen unübersichtlich, muss hier aber nicht systematisch und klassifizierend zum Thema werden. Ich beziehe die gesamte Thematik des Bösen auf meine hier im Zentrum stehende Frage nach der Chance der Miteinanderfreiheit und Chance der Miteinanderverantwortung für diese gemeinsame Freiheit. Deutlich wird dann nämlich, dass das Böse zur Entfaltung kommt, wenn die negative Freiheit der instrumentellen Vernunft (57; 70) nicht zur sozialen Freiheit transformiert wird, weil die VorstelSirovátka J (2021) Das Sollen und das Böse in der Philosophie Immanuel Kants. Zum Zusammenhang zwischen kategorischem Imperativ und dem Hang zum Bösen. Meiner, Hamburg. 389 Ehni H J (2006) Das moralisch Böse. Überlegungen nach Kant und Ricœur. Alber, Freiburg i. Br. – München. 390 Egloff L (2016) Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit. Die Neuausrichtung idealistischer Systemphilosophie in Schellings Freiheitsschrift. De Gruyter. Berlin. 391 Safranski R (2019) Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Hanser, München. 392 Strasser P (2016) Ontologie des Teufels. Mit einem Anhang: Über das Radikalgute. Fink, München. 388

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lung von der unendlichen Entfaltung der Freiheit als ein »VerfügenKönnen über (…)« zur Gewalt in ihren vielen Formen 393 führt, denn Freiheit definiert sich über ihre Selbstbeschränkung 394 als Rücksichtnahme aus der Haltung der respektvollen Achtung im Sinne des Art. 2 GG heraus. Aber auch in der Welt der sozialen Freiheit ist der Komplex von Fehlbarkeit und Schuld 395 nicht eliminiert, weil man das Seinspotenzial nicht eliminieren kann, da es immer schon da 396 ist und latent wirksam ist. Die Seinsverfassung des Menschen verändert sich ja nicht. Verändern mag sich die Gestaltqualität des seienden Seins des konkreten, geschichtlich erfahrbaren Menschen (als Ist-Wert: Ist). Und dieser ist am Maßstab der Gottähnlichkeit zu messen, wobei ein Delta (d) zum Idealtypus des absoluten Soll-Wertes (Soll) angesichts der Fehlbarkeit des Menschen bestehen bleibt, wenngleich als zivilisatorischer Fortschritt minimierbar sein kann (dazu in 57; 60; 70): d = (Soll – Ist) → min! Damit kehrt die Betrachtung zurück zu Fragen des Sozialcharakters 397, denn es geht praxeologisch um Affekte und Haltungen, um Praktiken und Motive, ein Blick auf das Problem, dass die Phänomene von Zorn, Stolz, Täuschung, Neid, Habsucht, Frucht, Unersättlichkeit, Lust und Trägheit umfassen muss. Denn dann wird man zu differenzieren haben zwischen dem Bösen und dem Übel, dem Schlechten, dem Fehler und dem Fehlen als ein Mangel, auch in Form der Unterlassung und des Weg-Sehens, des Akzeptierens. Generalisiert man diese Idee des Dritten, der geschädigt wird, so erweist sich das Böse als ungesetzlich, als gegen die Normen (abweichend) sich verhaltend und daher als ein Wertproblem. Das Böse ist daher nicht ohne Werte-Bestimmung möglich. Dadurch entstehen allerdings auch Aporien, wenn man an das überpositive Recht und an Pollmann A (2010) Unmoral. Ein philosophisches Handbuch. Von Ausbeutung bis Zwang. Beck, München. 394 Kobusch Th (2018) »Wer Großes will, muß sich beschränken können«. Vom Wesen des Moralischen. Schwabe Verlagsgruppe AG Schwabe Verlag, Tübingen. 395 Dazu aber auch Grätzel St (2004) Dasein ohne Schuld: Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 396 Ricœur P (2018) Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I. Alber, Freiburg i. Br. – München. 397 Muth C (2012) Der Mensch zwischen Gut und Böse. Mit Texten von Martin Buber über das Böse nachsinnen. ibidem, Stuttgart. 393

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die Radbruch-Formel denkt. Dann könnte das nominalistische Böse das substanziell Gute, weil Richtige sein, da es sich an Kriterien der Humangerechtigkeit (etwa an dem Axiom der Würde der Person) orientiert. Es wäre der zivilgesellschaftliche Ungehorsam gegenüber der Ungerechtigkeit des positiven Rechts. 398 Und der Weg dorthin wäre eine Erziehung zur Mündigkeit. Positives Recht oder vorstaatliche Normen als Grundlage der dualen Grammatik von {gut/richtig : böse/falsch} könnte Unrecht, also selber böse sein. Hinzu kommt noch die Problematik der Gesinnungsethik: Der Zweck heiligt nicht die Mittel (vgl. in 70). Dennoch bleibt mit dem Fluchtpunkt auf die Metaphysik der personalen Würde die hinreichend begründbare Perspektive gegeben, über den Empirismus der Werte und den Positivismus des Rechts hinweg das Gute moralisch bestimmen zu können. Das wäre meine Art, das Böse in der Philosophie 399 zu denken. Wenn man den Relativismus der Werte-orientierten Standpunktabhängigkeit durch den Fluchtpunkt des überpositiven Rechts der Metaphysik der Heiligkeit der Personalität des Menschen vermeiden will, bleibt dennoch Platz für die Kritik böser Praktiken, dort, wo etwa soziale Ausgrenzung bis hin zur Nichtung des A-Normalen als unnatürliche Abweichung des Normalen codiert 400 wird 401: →

das Gute (als das Richtige) = das Schöne/Gesunde/Normale → das Böse (als das Falsche) = das Hässliche/Kranke/A-Normale. Mit dem Bezug zur Metaphysik der sorgenden Liebe aus der Haltung der respektvollen Achtung vor dem Leben rückt eine zum seienden Sein drängende Liebe als Dominanz gegenüber einem zum nichtenden Nichtsein drängender Hass in das Zentrum der Bestimmung des Guten und des Bösen. Böse ist erst der Wille zum Bösen, aber auch die unkritische Hinnahme als Entschuldigung als »repressive Toleranz« (vgl. in 60 sowie in 70) oder auch die Abkühlung der Interessant dazu: Haller A (2020) Mythische Räume der Gesetzlosigkeit in Erzählungen über Robin Hood, Klaus Störtebeker und Jesse James. Ergon in Nomos, Baden-Baden. 399 Neimann S (2004) Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main. 400 Foucault M (2007) Die Anormalen. 5. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 401 Devereux G (1974) Normal und anormal. Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 398

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

eigenen Empörung als resignative Hinnahme 402 des Bösen, das hier der Wille zur Zerstörung der humangerechten Ordnung der Freiheit zum Leben im Miteinander ist. Mit Blick auf das Fehlverhalten des Menschen bleibt dennoch das Gebot der Tugend des Verzeihens bzw. Vergebens bestehen, denn Humangerechtigkeit lässt sich nicht auf die (rechtsethnologisch gesehen: uralte) Logik der Vergeltung reduzieren. Damit wird die Standpunktabhängigkeit, die im Werte-Bezug der Bestimmung des Guten und des Bösen verborgen sei 403, dennoch nicht zur Grundlage eines moralischen Relativismus als Ausdruck eines sog. Realismus. Wir denken Anrufung, wie die des Polizisten als Figur des Staates bei Althusser 404, empirisch, wenngleich die Struktur dieser Relation – vor jeder Empirie – ontologisch zu begreifen ist. Dient die Anrufung des sozialen Rechtsstaates der Freiheit im transzendentalen Kontext solidarischen Friedens? Das ist die Schlüsselfrage, die eine hinreichend fundierte Positionierung ermöglicht. Ob hinter dem idealtypischen Symbol Gottes das unbegreifliche und das unverfügbare Ganz Andere Gottes steht, können Menschen glauben. Kognitionstheoretisch gibt es Gott, dem berühmten soziologischen Thomas-Theorem 405 folgend, weil dann auch das Denken und das Handeln, an Gott sinnhaft orientiert, real werden. Gott ist dann der Kern eines Drehbuches der Lebensführung und Daseinsgestaltung und somit objektiv, über die Einschreibung des Heiliges Geistes in die Subjekte als Sozialisationsgeschehen, real wirksam. Natürlich gilt erkenntnistheoretisch: Auch dann, wenn es keinen einzigen überzeugenden erfahrungswissenschaftlichen Gottesbeweis gibt und daher das Signifikanzniveau der Hypothesenverwerfung als stochastisch niedriger Alpha-Fehler hoch ist, so bleibt der Beta-Fehler, dass diese Hypothese dennoch objektiv richtig ist, obwohl sie verworfen wurde. Fasse ich zusammen: Kersting K (2020) Die Theorie des Coolout und ihre Bedeutung für die Pflegeausbildung. 2. Aufl. Mabuse, Frankfurt am Main. 403 Auch bei Donhauser G (2021) Das Böse bleibt. Philosophische Bewältigungsversuche einer un-heimlichen Erbschaft. new academic press, Wien. 404 Althusser L (1977) Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. VSA, Hamburg 405 Merton R K (1995) Soziologische Theorie und soziale Struktur. De Gruyter, Berlin. Dazu auch Lenk H (1971) Philosophie im technischen Zeitalter. Kohlhammer, Stuttgart u. a.: S. 100 f. 402

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Gottlose Metaphysik

a)

Gott kann als kognitionspsychologisch verhaltenswirksam objektiv eine Kraft sein, wenn der Mensch sich an dieser Idee ausrichtet. b) Wenn die Möglichkeit des Ganz Anderen bislang nicht bewiesen werden kann, ist das Unmögliche als das bislang Undenkbare immer noch nicht endgültig unmöglich. Aber auch unter diesen zwei Bedingungen gilt c) nicht, dass nicht auch ohne Gottesglauben ein vergleichbares moralisches Verhalten aus der Kraftquelle zwischenmenschlicher 406 Liebe als sittliche Ordnung des Miteinanders in Freiheit und sozialen Frieden resultieren kann. Genau darüber handelt die vorliegende Abhandlung in dem Sinne, dass dies ein Aspekt des roten Fadens im Gewebe meines verästelten Denkens ist. Allerdings ist mein Verständnis von der Onto-Dramatik in diesem Sinne explizit Gott-los und in dieser Weise non-theistisch säkularisiert: Die Menschen müssen aus dem Glauben an die personale Würde heraus einen Bund schließen, um den Sternenhimmel von 1789 auf Erden herunterzuholen. Das Sternenbild mag die Menschen dann auf ihren Wegen orientieren. 407 Entscheidend ist die Paideia der Menschen, die in der Folge, wie Erich Fromm sagte, wie Gott sein könnten: Es geht dabei also darum, am Idealtypus ausgerichtet zu sein, allerdings doch schon bereits vollauf zufrieden zu sein, wenn die Menschen nur, aber eben immerhin einen guten Realtypus habituell zustande bringen, wenn die Idee der solidarischen Gewährleistung der Sicherstellung der inkludierenden Chancengleichheit der Freiheit als Telos dieser säkularisiert-messianischen Weltgeschichte das Licht ist, das den Weg der Menschen im Miteinander leuchtet. Insofern hat der späte Michel Foucault diese Selbstsorge mit seiner frühen Kritik an der Subjektivierung durch gouvernementale Fremdsorge der Pastoralmacht gelingend integriert. Beide Seiten der Sichtung der »Ordnung der Dinge« sind wahr: a) Menschsein ist immer – onto-anthropologisch unabdingbar und unhintergehbar – geknüpft an einem Regieren der Menschen,

Löwith K (2016) Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. 2. Aufl. Alber, Freiburg i. Br. – München. 407 Bock W (2000) Walter Benjamin – die Rettung der Nacht: Sterne, Melancholie und Messianismus. Aisthesis, Bielefeld. 406

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das aber, darin auf Punkt b) verweisend, normativ gesehen, ein genossenschaftsartiges Selbst-Regieren sein sollte. b) Denn die Vielfalt der Subjektivierungsformen verweist uns auf den Spannungsbogen zwischen einerseits autoritären oder sogar totalitären und andererseits freiheitlich-demokratischen Formen, zwischen uneigentlichen und eigentlichen Daseinsformen, zwischen Entfremdung und gelingendem personalen Mit-Sein als sittlich geordnete Freiheit in vertrauensvoller Geborgenheit. Insgesamt c) ist es wohl richtig, wenn nachgezeichnet wird, wie wahlverwandt die Nähe von Michel Foucault (in der Werkeinheit seines frühen und seines späteren Denkens) zur klassischen Generation der Kritischen Theorie ausfällt. 408 Dazu gehört es d) zur Aufgabe Kritischer Theorie, die realtypisch fassbare Empirie des Seienden mit Blick auf ein »Gap« zum Idealtypus ontologischer Wahrheit der Personalität in ihrer säkularisierten (Gottlosen) Sakralität zu vermessen. Dabei gelangt man immer an die Schnittstelle der Philosophie und Theologie, bei Dietrich Bonhoeffer vielleicht sogar an die Schnittfläche zu einer Philosophie der Religion ohne Gott, bei Albert Schweitzer zu einer Ethik der Kreatürlichkeit, die sich auch nicht gleich einer Theologie der Kirche in ihrer verborgenen theokratischen Begierde fügt. Doch solche Themen müssen hier nicht weiter und tiefer aufgegriffen werden, um unsere Kernidee zu validieren. Doch deuten diese Bemerkungen nicht nur bösartige Seitenhiebe und die damit verbundene Eröffnung von Nebenkampfplätzen an. Es geht um Positionsabgrenzungen, um die Kernthese einer Gott-losen und in diesem non-theistischen Sinne die säkularisierte Idee der Heiligkeit der menschlichen Person und den sakramentalen Charakter der kulturellen Einbettung dieser Idee in die Idee eines Bundes zu verstehen.

Meyer K (2008) Rational Regieren. Michel Foucault, die Frankfurter Schule und die Dialektik der Gouvernementalität. In Faber R & Ziege E-M (Hrsg) Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945. Königshausen & Neumann, Würzburg: S. 87–102, hier S. 88.

408

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Demiurgische Maschine?

V.

Demiurgische Maschine?

Sollte die deliberative Demokratie als demiurgische Maschine zu denken sein? Denkt Habermas hier den Mythos der Algorithmen 409 in spezieller Variante? Ist hier die Logik der Regel als Funktionsweise eines Computers 410 inhärent? Vielleicht können wir hier ein Werk und somit dessen Autor, um mit Dilthey zu sprechen, besser verstehen als er sich selbst versteht? Hinter dieser scheinbaren Arroganz steht hermeneutisch der Verdacht von Freud. Oder im Sinne objektiver Hermeneutik (58): die Tiefenschicht latenter Sinnzusammenhänge. Inwieweit mutiert das Axiom der Intersubjektivität und somit ein Apriori der Wechselwirkung (wie wir sie in der Soziologie von Georg Simmel und in der Figurationssoziologie von Norbert Elias ebenso wie in der Theorie der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit bei Peter Berger & Thomas Luckmann finden) wirklich die idealistische Subjektphilosophie? Meine Antwort lautet: Ich glaube nicht an die Funktionsfähigkeit einer demiurgischen Autopoiesis der deliberativen 411 Demokratie als emergente Selbstorganisation, wenn sie keinen »Bund« 412 zum Fundament hat. Eine solche deliberative »Maschine« hat als Denkmodell der Demokratie als Verfahren die idealistische Welt des Subjekts nicht verlassen, sondern nur zum prometheischen Mythos der intersubjektiven Selbsterzeugung mutiert. Die Kommunikation als solche wird zum Urknall des sich ständig ausdehnenden Raums der sozialen Wirklichkeit in der Sozialtheorie. Damit wird auch die Nähe wie auch die Differenz zur Systemtheorie von Niklas Luhmann – die Debatte zwischen Luhmann und

Bächle Th Chr (2015) Mythos Algorithmus. Die Fabrikation des computerisierbaren Menschen. Springer VS, Wiesbaden. 410 Heintz B (1993) Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers. (Nachdruck 2020). Campus, Frankfurt am Main – New York. 411 Velasco J C (2010) Deliberation/deliberative Demokratie. In Hans Jörg Sandkühler H J (Hrsg) Enzyklopädie Philosophie. 2. Aufl. Meiner, Hamburg: S. 360–363. Ferner: Ottmann H & Barisic P (Hrsg) (2015) Deliberative Demokratie. Nomos, Baden-Baden. 412 Zu den alttestamentlichen Wurzeln vgl. in Rüterswörden U (2006) Art. Bund (AT) In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de). Tag des Zugriffs: 7. November 2021. Vgl. ferner: Koch Chr (2008) Vertrag, Treueid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium und zur Ausbildung der Bundestheologie im Alten Testament. De Gruyter, Berlin. 409

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Habermas 413 ist ja in die Geschichte der Soziologie eingegangen – deutlich: Für Luhmann galt als zentrale These, dass soziale Systeme 414 ausschließlich aus Kommunikation bestehen, aber nicht als Kommunikation von Subjekten bzw. Akteuren bzw. Individuen etc. Auch bei Habermas besteht die Gesellschaft aus Kommunikation, aber eben von intersubjektiv kommunizierenden Subjekten. Aber die Identitätsstiftung durch Distinktion einer Form ist, so meine ich, bei beiden gegeben. Form 415, auf Spencer-Brown 416 rekurrierend, gekoppelt an die Logik der Differenz, die an der Trennlinie von Innenseite und Außenseite einer Form sich festmacht, gilt ja für Luhmanns Systeme analog zu Habermas’ Subjekten. Auch Habermas’ Subjekte definieren sich mit ihrer Identität in konstitutiver Differenz zu der Alterität der anderen Subjekte – und umgekehrt. Deshalb kristallisiert sich ja bei Habermas das Problem der notwendigen Verständigungspraxis heraus, weil ja überhaupt erst das soziale Zusammenleben ermöglicht werden muss. Und bei Axel Honneth resultiert daraus die Theorie der gegenseitigen Anerkennung. Das Risiko, eine solche Demokratie als Verfahren der ökonomischen Theorie der Politik als Markt des Austausches von Interessen und Meinungen anzunähern, ist gegeben, wenn kommunikatives Handeln auch nur als Aus- und Abgleich von Interessen ohne kollektiv geteilte Idee über die Gestalt des Zusammenlebens, die sich daraus ergibt, begriffen wird. Die Politik als Agonalität von Ideen, hier der neueren französischen Politiktheoriedebatte 417 um die Differenz des Politischen und der Politik folgend, von Ideen über die Ordnung der Freiheit bahnt ja erst als Strukturation die Politische Ökonomie der Interessen. Schon die Kritik der Aggregationsmechanismen und der Aggregationskriterien in der Welfare Economics 418 und sodann in Public Choice-Modellen bzw. Social Choice-Modellen konnte den Formalismus nicht vertuschen, dass es an hinreichenden Kriterien Habermas J & Luhmann N (1971) Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Suhrkamp, Frankfurt am Main. 414 Luhmann N (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 415 Baecker D (Hrsg) (1983) Kalkül der Form. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 416 Spencer-Brown G (2008) Gesetze der Form. Bohmeier Verlag, Leipzig. 417 Flügel-Martinsen O (2020) Radikale Demokratietheorie zur Einführung. Junius, Hamburg sowie Hebekus U & Völker J (2012) Einführung in Neue Philosophien des Politischen. Junius, Hamburg. 418 Doel H van den (1983) Democracy & Welfare Economics. 2. Aufl. Cambridge University Press, Cambridge. 413

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fehlte, um dem Ziel der Gemeinwohlbildung nahezukommen 419. Dies bezeichnet ein Problem, das heute noch gesteigert ist, wenn es an einem kulturell einbettenden Fundament fehlt, um den inkludierenden Anforderungen einer sozialen Integration und einer Systemintegration in der Welt der Diversität nachzukommen. Das in kommunikatives Handeln des Diskurses verpackte technische Modell der Demokratie als Verfahren spart die Fundamentalfrage aus und reicht nicht hin für eine konsistente Theorie der Möglichkeit des sozialen Friedens in einer Welt der solidarischen Freiheit. Und dies ist zu bedenken, wenn über das »diskursfähige Subjekt« 420 nachgedacht wird. Und es wird deutlich, welche Lücke sich auftut, wenn Empirismus (oder Rechtstheorie 421) ohne Metaphysik 422 stattfindet (35). Dabei geht es nicht, wie Habermas wohl einwenden würde, weil er oft schon so argumentiert hat, um religiöse Schwärmerei. In einem insgesamt sehr ausgewogenen Zeitungsartikel zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas 423 wird diese Lücke übergangen. Habermas diskutiert den Menschen nicht in seiner ganzen Leiblichkeit. Daran hat m. E. auch seine Einmischung 424 in die Bioethik-Debatte nichts geändert. Die Sekundärdebatte zu dieser Einmischung ist komplex angewachsen. Die Leiblichkeitsperspektive wurde signifikant gegen eine geistige (kommunikationsrationale) Verkürzung von Identität eingebracht. 425 Diese Kritik hat sich in der neueren Literatur vertiefter fundiert. 426 Die transgressive Idee eines Bundes überwindet dagegen in einem Hybrid-Raum des integrativen Da-Zwischen die HaberSen A (1970) Collective Choice and Social Welfare. Holden-Day, San Francisco. Edelmayer R (2012) Das diskursfähige Subjekt. Rekonstruktionspfade einer sozialtheoretischen Denkfigur im Werk von Jürgen Habermas. Springer VS, Wiesbaden. 421 Neumann U, Tiedemann P & Liu S-I (Hrsg) (2021) Menschenwürde ohne Metaphysik. Franz Steiner Verlag, Wiesbaden. 422 Anicker F (2019) Entwurf einer Soziologie der Deliberation. Velbrück, Weilerswist. 423 Walther R (2019) »Mit Habermas wurde die Kritische Theorie auf den Boden einer Wissenschaft unter anderen zurückgeholt«. https://www.woz.ch/-9c35: Nr. 23/2019 vom 06. 06. 2019. 424 Habermas J (2005) Die Zukunft der menschlichen Natur Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? 5. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 425 Thürnau D u. a. (Hrsg) (1996) Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. 3. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 426 Gugutzer R (2012) Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. transcript, Bielefeld. 419 420

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mas’schen Diastasen von Faktizität und Geltung und eben auch 427 von Wissen und Glauben. Damit wäre eine sozialinnovative (57) Heterotopie (26) möglich, weil eine höhere Stufe nachhaltiger Form des sozialen Miteinanders gedacht wird. Die Moderne wuchs deshalb von Anbeginn in eine Krise hinein und vollendete sich nur unvollkommen, weil sie die Säkularisierung nicht nur als Verabschiedung öffentlicher Religion in ihrer intervenierenden Rolle in der Politik (Laizismus als verfassungspolitische Trennung von Staat/Recht von Religion/Kirche als Resultante eines binäres Codes »öffentlich ←→ privat«) verstand, was ja auch notwendig erscheint, sondern auch weil sie Säkularisierung als Auflösung der Vergemeinschaftung in der Vertragsgesellschaft meinte. Und genau dies ist eine überaus kritische Problemanzeige. Mir erscheint dies als Folge einer diastatischen Rezeptionsweise der Kategorienlehre von Ferdinand Tönnies 428, die sich heute als hoch problematisch erweist. Die kritische Auseinandersetzung mit Formen der Vergemeinschaftung von Helmuth Plessner 429 schüttet hier in diesem Punkt der Rolle von Gemeinschaft in der Moderne auch das Kinde mit dem Bade aus, und dies trotz des umfassend berechtigten Blicks auf die »Grenzen« der Rolle der Gemeinschaft. Aber dies sind schon theoriegeschichtliche Nebenschauplätze, die ich nicht vertiefen will. Es mag sein, dass die auch in anderen Hinsichten (z. B. transaktionskostentheoretischer Art: Sogar die Größe der Demokratie 430 wird angeführt, oder in Hinsicht auf die Rolle der modernen Medien 431) defiziente Theorie deliberativer Demokratie in ihren Grundzügen eine gute deskriptive und explikative Rekonstruktion der Realität von Strukturen innerhalb der vielen Variationen liberaler Demokratie darstellt. Doch wie steht es um die ontologische Diagnostik des »Gap« zwischen der Wahrheit gelingenden sozialen Miteinanders einerseits und dem unvollkommenen Seienden sozialer Wirklichkeit Habermas J (2001) Glauben und Wissen. 10. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Vgl. auch Gruber F & Knapp M (Hrsg) (20219 Wissen und Glauben. Theologische Reaktionen auf das Werk von Jürgen Habermas »Auch eine Geschichte der Philosophie«. Mit einer Replik von Jürgen Habermas. Herder, Freiburg i. Br. 428 Tönnies F (2010) Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. WBG, Darmstadt. 429 Eßbach W, Fischer J & Lethen H (Hrsg.) (2002) Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹. Eine Debatte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002 430 Jörke D (2019) Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation. Suhrkamp, Berlin. 431 Vgl. die Bände der Reihe »Medien und Kommunikation« in Nomos, Baden-Baden. 427

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andererseits? Diese Wirklichkeit ist ja ein komplexes sozialstrukturelles Gewebe von Diversität, Heterogenität, Differenzierung, Ungleichheit, Exklusion, Segregation, Integration, Segmentierung, Tribalität, von vertikalen Schichtungen, horizontalen Milieubildungen, räumlicher Zentralität und Peripheralisierung. Die Theorien der Postdemokratie 432 indizieren das Gefühl für den weiteren Verfall des Potenzials der deliberativen Demokratie, weil sie an der inkludierenden Kraft in der Welt der Diversität erodiert. Habermas hat früh schon auf die Öffentlichkeit 433 als eine demiurgisches Kollektivsubjekt in der Erzeugung von Konsens in der deliberativen Demokratie gesetzt. Ist hier ein deus ex machina angedacht, also die Epiphanie einer Göttlichkeit mit Hilfe einer Bühnenmaschine wie einst im Drama der altgriechischen Tragödie und Komödie? Heute hat sich eine breite Forschungslandschaft 434 zur Rolle der Zivilgesellschaft 435 entfaltet. Einerseits geht es um den Third Sector (vgl. auch in 9; in 25) als Subsystem der sozialen Wohlfahrtsproduktion durch Non-Profit-Organisationen und kleinere Gegenseitigkeitshilfegebilden, sodann geht es andererseits um die politische Kraft der außerparlamentarischen Diskurse im politischen System, von dem die Regierung im klassischen Sinne nur (noch) ein, wenngleich zentraler Akteur in einem komplexen Feld der Akteurskonstellationen und der Netzwerkbildungen darstellt. Dennoch hat sich gerade auch durch die Stärkung des Rechtspopulismus und der »Neuen Rechte« 436 – soll das gedeckt sein durch eine neue Freiheit der ergebnisoffenen liberalen Demokratie der

Crouch C (2021) Postdemokratie revisited. Suhrkamp, Berlin sowie Wolin Sh (2022) Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Westend, Frankfurt am Main. Blühdorn I (2013) Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Suhrkamp, Berlin. 433 Habermas J (1991) Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 434 Strachwitz R Graf, Priller E & Triebe B (Hrsg) (2020) Handbuch Zivilgesellschaft. Oldenbourg in de Gruyter, Berlin. 435 Adloff F (2005) Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Campus, Frankfurt am Main – New York. 436 Vgl. die Aktualität der klassischen Studie von Löwenthal L (2021) Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. Suhrkamp, Berlin. 432

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»Freiheitsgrade« 437? – gezeigt, dass es auch die dunklen Segmente der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeiten 438 gibt. Ohne die breite Literatur zur Genese dieses Phänomens – zwischen Politischer Ökonomie 439 und multikausalen Modellen 440, Theoreme des Resonanzund Inkludierungsversagens der Demokratie eingeschlossen 441 – aufzugreifen oder gar zu diskutieren, ist allein das Phänomen als Befund ein Indikator für die Unzulänglichkeit, eine deliberative Demokratie, entgegen allen weiteren mechanischen Vorstellungen offener Diskursmaschinen 442, ohne einen transzendentalen Bund zu verstehen, in dem das Subjekt kraft seiner sittlichen Sozialisation, aber eben vor allem auch aus dem affektiven Glauben an die Heiligkeit der personalen Würde und ihren Konsequenzen für die Miteinanderverantwortung für die gemeinsame Freiheit als Miteinanderfreiheit in der Diversität einwilligt. Denn der Streit über die Demokratie ist allein demokratisch nicht zu führen 443, das Führen des Streits ist der Einbindung des Denkens in einem Bund der Miteinanderfreiheit in Miteinandervereinbarung bedürftig. Die Feinde dieses Bundes mögen nicht Werte-orientiert inkludierbar sein, bleiben aber Mitglieder einer von ihnen sodann ungeliebten oder gar verhassten Demokratie. Sie dürfen nur nicht an die Macht kommen.

Möllers Chr (2020) Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik. 3. Aufl. Suhrkamp, Berlin. 438 Dazu etwa Bringt F (2021) Umkämpfte Zivilgesellschaft. Mit menschenrechtsorientierter Gemeinwesenarbeit gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit. Verlag Barbara Budrich, Opladen. 439 Manow Ph (2018) Die Politische Ökonomie des Populismus. 3. Aufl. Suhrkamp, Berlin. 440 Misik R (2019) Die falschen Freunde der einfachen Leute. 2. Aufl. Suhrkamp. Berlin. 441 Huke N (2021) Ohnmacht in der Demokratie. Das gebrochene Versprechen politischer Teilhabe. transcript, Bielefeld. 442 Lafont C (2021) Unverkürzte Demokratie. Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung. Suhrkamp, Berlin; Przeworksi A (2020) Krisen der Demokratie. Suhrkamp, Berlin. 443 Manow Ph (2020) (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Suhrkamp, Berlin. 437

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Der Bund als Anker

VI. Der Bund als Anker Ich denke den Bund demnach als Idee im Sinne einer Anker-Funktion. Als Anker ist der Bund als unabhängige Transzendentalie der davon abhängigen Intersubjektivität zu verstehen. Die Theorie kommunikativen Handelns als Grundlage der Idee der deliberativen Demokratie ist treffsicher als transzendentalpragmatische 444 Theorie und in einem verwandten Sinne als Apriori der Kommunikationsgemeinschaft bezeichnet worden. Aber diese Diskursmaschine ist nur seine sekundäre Funktions-Transzendentalie der Gemeinwohlproduktion in Bezug auf das finale Ziel der personalen Würde aller Mitglieder des Miteinanders. Im Lichte der Debatte um die Unmöglichkeit der Letztbegründung in der säkularisierten Moderne der aufgeklärten Gesellschaft regieren die Subjektivität der Interessen und der Individualismus der zweckrational geordneten Präferenzfunktionen. Die Vernunft erweist sich schnell als doch in ihrer tiefengrammatischen Latenz als instrumentelle Vernunft. Verzichtet diese Theorie auf die Metaphysik des Glaubens an den heiligen Bund der Freiheit im Namen – und dies ist ein uralt-jüdisches Motiv als Wurzel der europäischen Kultur – der personalen Würde aller Gesellschaftsmitglieder, so arbeitet Kritische Theorie nicht an der Vollendung der noch unvollendeten Moderne, sondern gibt sich dem Spiel des postmodernen homo ludens hin. Die erste Generation kritischer Theorie hatte diese Kritik der instrumentellen Vernunft zum zentralen Thema der »Dialektik der Aufklärung« erklärt. Die zweite Generation entwickelte in weitgehender Emanzipation von ihrer Vätergeneration eine Theorie der sozialen Konstruktion von Konsens durch das Apriori der Intersubjektivität als transzendentaler deus ex machina der Kommunikation. Auf dieser Grundlage könne dann die Philosophie der Anerkennung 445 in einer differenzierten Welt der Diversität aufbauen. Mitunter wurde versucht, die Themen der Entfremdung bzw. der Verdinglichung zu aktualisieren. Mit Nancy Fraser 446 wurde der Disput Apel K-O (1998) Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Suhrkamp, Frankfurt am Main. 445 Honneth A (2018) Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Suhrkamp, Berlin. 446 Honneth A & Fraser N (2003) Umverteilung oder Anerkennung? 5. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Fraser N & Jaeggi R (2020) Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie. Suhrkamp, Berlin. 444

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

über die Rolle der Politischen Ökonomie der Umverteilung geführt. Doch das ist ein hier nur kurz erwähnter Seitenpfad. Was hier interessiert, das ist diese Hinwendung zur Autopoietik der deliberalen Demokratie durch die transzendentalpragmatische Logik der kommunikativen Diskursordnung. Doch m. E. funktioniert diese demiurgische Maschine – sofern sie überhaupt hinlänglich funktionieren kann – nicht ohne einen Anker, den ich in der Idee des Bundes auf den Begriff brachte. Der Bund wird in diesem Sinne zu einer Anker-Transzendentalie (als Ermöglichungsvoraussetzung definiert) der sozialen Konstruktion durch die transzendental gedachte Intersubjektivität als Motor der apriorischen Kommunikationsgemeinschaft. Das ist meine These. Wir müssen demnach zwei Ebenen der Transzendentalphilosophie der Kultur des Sozialen unterscheiden: a) Die Anker-Transzendentalie des Bundes ist als cultural embeddedness als eidgenössischer Fixstern der Orientierung zu verstehen. Oder anders ausgedrückt: Sie ist definiert als großer Blumentopf, in dem das werdende Bäumchen der Freiheit eingepflanzt ist. Die Begründung lautet: Die Idee des Bundes ist kein regressiver 447 Rückfall in die uralte Tradition der Regierungslehre eines sakralen Königtums (1; 4; auch in 34; 48; 61), das, metaphorologisch rekonstruierbar, als Mechanik eines guten Hirten seiner Herde (vgl. auch in 62) 448 funktioniert und neuzeitlich als Politik der Sorge des Souveräns 449 selbst noch Spuren im Corona-Krisen-Management (65; auch in 63) hinterlässt. 450 Die soziale Interdependenz der Menschen wird als »spill-over«Raum von Externalitäten rekonstruiert (55; 56). Mag hier einerseits –

Geiselberger H (Hrsg) (2017) Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. 2. Aufl. Suhrkamp, Berlin. 448 Hunziker-Rodewald R (2001) Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis. Kohlhammer, Stuttgart; Jungbluth R (2011) Im Himmel wie auf Erden: Dimensionen von Königsherrschaft im Alten Testament. Kohlhammer, Stuttgart. 449 Wolf B (2004) Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers. Diaphanes, Zürich. 450 Dazu auch Bröckling U (2017) Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. 3. Aufl. Suhrkamp, Berlin. 447

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Der Bund als Anker

in fast schon verstiegender Weise 451 von Giorgio Agamben 452 auf den Begriff gebracht – ein Risiko der Demokratieregression verborgen angelegt sein, so wird doch gerade an dieser Schicksalgemeinschaft (dazu u. a. in 67) der ubiquitären Externalitäten als Interdependenz eher die Idee der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung als Ausdruck des sozialen Rechtstaates evident, der allerdings auf dem Bund der Zivilgesellschaft (in der Rechtsphilosophie von Hegel: der »bürgerlichen Gesellschaft«) als Ermöglichungszusammenhang beruht. Die Idee der Varianten des Gesellschaftsvertrages in der neuzeitlichen (»bürgerlichen«) politischen Philosophie beruhte immer auf dem Ideenkomplex der arbeitsteiligen Marktgesellschaft, dem Privatbürgertum und dem Besitzindividualismus. b) Die Idee des Bundes ist eine Bindung an einer kollektiv geteilten Grundidee, die eine primäre Anker-Transzendentalie erster Ordnung für die darauf aufbauenden kommunikativen Verständigungsprozesse als sekundäre Funktions-Transzendentalie zweiter Ordnung darstellt. Es handelt sich demnach um die Differenzierung zwischen einer primären Transzendentalie und einer sekundären Transzendentalie. Finales Ziel ist die Gesellschaft der Mitglieder, deren personale Würde auf Gegenseitigkeit beruht. Diese deliberative Demokratie könnte als Erzeugungsmechanismus von Gemeinwohlprogrammen dienen und ist insofern eine sekundäre Transzendalie mit Blick auf die Gemeinwohlproduktionsfunktion von Politik. Die Produktionsfunktions-Sequenz würde lauten: Bund: Anker-Transzendentalie 1. Ordnung → Diskurs: Funktions-Transzendentalie 2. Ordnung → Gemeinwohl-Performativität als Resultante, selbst wiederum gewidmet dem Ziel der → Gesellschaft der Gegenseitigkeit der personalen Würde der Mitglieder, die als Telos Gegenstand des sakramentalen Bundes ist, wodurch sich der Kreis schließt. Kirschner M (Hrsg) (2020) Subversiver Messianismus. Interdisziplinäre Agamben-Lektüren. Academia in Nomos, Baden-Baden. 452 Agamben G (2021) An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Turia + Kant, Wien. 451

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

Ohne diesen Bund als Fundament der politischen Maschine der »struggle about ideas« 453 als kommunikative Strukturation des Feldes der Verständigungskämpfe über Interessen und Präferenzen ist das Gebäude der Gesellschaft der Diversität in den Sand gebaut. Es mag mit schönem Ausblick auf die sehnsüchtig gerahmte Weite des Meeres am Strand gebaut sein. Doch das Meer (66; 68) wird in seiner unbändigen Dynamik daran arbeiten, dass der Grund fortgespült wird, die Sandburg zusammenfällt. Dann werden wir, wie immer schon in der Geschichte, die Kinder weinen hören, die Frauen traumatisiert sein, die alten Menschen verzweifelt und hoffnungslos sein. Das Verhältnis von Bund (B), Solidarität (SOL), Gleichheit der Chancen (G) und Freiheit (F) ist eine Hierarchie von modallogisch relevanten, weil auf Transformation (Trafo →) von sozialer Wirklichkeit abstellenden transzendentalen Voraussetzungen auf verschiedenen Ebenen, die aber als Produktionsfunktionszusammenhang (PF) der personalen Würde (pW) verschachtelt sind. Zur verstehenden Lesbarkeit ist hinsichtlich der hierarchischen Anordnung der Ordnungsebenen anzunehmen: { } > ( ) > [ ]. Personale Freiheit und ihr Wesenskern der Freiheit als Produktionsfunktion der conditio humana Dann gilt: pW = PF {B = Trafo 1. Ord → (SOL = Trafo 2. Ord → G = Trafo 2. Ord → [F Fin]}. In der Produktionsfunktion ist die Freiheit F der finale (Fin) Fluchtpunkt der conditio humana. (F) ist die existenziale, weil auf die Entscheidungsprozessstruktur der menschlichen Daseinsführung abstellende Kraftquelle der personalen Würde (pW), die den Wesenskern der conditio humana darstellt. Der Bund (B) ist eine transzendentale Transformationsvoraussetzung (Trafo →) 1. (primärer) Ordnung (1. Ord), die moralökonomische Solidarität (SOL stand auch weiter oben schon für Sittlichkeit, die auch die Solidarität als Teil des objektiven Geistes umfasst) und die Gleichheit der Chancen (G) sind transzendentale Transformationsvoraussetzungen (Trafo →) 2. Ordnung (2. Ord) in Bezug auf den finalen (Fin) Fluchtpunkt der Freiheit (F). Fraser N (2003) Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

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Der Bund als Anker

Die Finalität von F sichert die Humangerechtigkeit der Produktionsfunktion. Der Operator (→) deutet Kausalität als modallogische Funktionalität von transzendentalen Voraussetzungen. In bestimmten Modellen würde er die Eigenschaft eines Differentialoperators fd zur Bildung von Differentialen annehmen: fdxgg . SOL und G sind sicherlich notwendige Voraussetzungen der PF = PF (F). Hinreichende Bedingung ist aber erst der fundamentaltranszendentale Einbau von B. Freiheit ist Miteinanderfreiheit (MF) in Einheit mit der eigenen Grundlage der Miteinanderverantwortung (MV). Wenn F = MV, dann ist MV der generative Motivkomplex für SOL und (Λ) für die Akzeptanz von G. pW = PF {B = Trafo 1. Ord → (MV = [SOL = Trafo 2. Ord Λ G = Trafo 2. Ord] → [F Fin = MF]}. Die Produktionsfunktion ist eine Darstellung der modallogisch gedachten Entelechie, indem Metamorphosen des Werdens der personalen Würde formalisiert sind. In der Geschichte der Menschen ist dieses metamorphotische Werden von pW = pW (MV) brüchig, kann von Stagnationen und von Regressionen geprägt sein, weil die Paideia (als Formung der Person: FdP, also als Sozialisation: Soz) der Generierung des Motivkomplexes der MV mit Blick auf SOL und sodann auf G nicht gelingt: MV = MV (FdP = Soz). Dieses zum Teil republikanische Verständnis der Erziehung zur Verantwortung ist der tugendethische Kern der Idee der Polis. Transformiert man nun diese Zusammenhänge in ein Forschungsdesign der empirischen Sozialforschung, die soziologische und psychologische Konstruktvariablen integriert, würde es um die Vermessung der Lebensqualität (LQ) gehen, die die Dimensionen der Selbstbestimmung als auf das Selbstkonzept bezogene Definitionsmacht (SD), die Selbständigkeit als Kompetenzprofil des Selbstmanagements (SM) und die Teilhabe als teilhabende Partizipation (tP) an den Lebenswelten des Gemeinwesens umfasst: LQ = LQ (SD; SM; tP). 329 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

Unter Empowerment als »Power to the People« (EP) im Lichte der Capability-orientierten Sozialpolitik verstehe ich die Förderung von SD und SM als Kraftquellen zur Teilhabe tP: EP = EP ([SD Λ SM] → tP). Die Frage des Sozialen Fortschritts (Social Welfare: SW) der Gesellschaftsmitglieder (i = 1 … n) wird zur Frage der Vermeidung sozialer Ausgrenzung: ∂ SW = ∂ LQ (EP) > 0 für alle i = 1 … n. Die Freiheit der Vereinbarkeit (konsistente Kompatibilität) der individuellen Lebensformen als Selbstentwürfe ist der Kern der Gemeinwohlidee. Die Interessen sind nicht die grundlegende konstitutionelle Ebene der Gemeinwohlidee. Die Interessen müssen kanalisiert werden durch Ideen über das »gute Leben« als eine Polis der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung. Zu verstehen ist die Landschaft der Politik als Gestaltung der Gesellschaft, die am Horizont ihren Fluchtpunkt in der »Sakralität der Personalität« hat. Und von dort aus wird eine Kultur der inkludierenden Integration der Mitglieder der Gesellschaft in Vereinbarkeit mit einer Differenziertheit im Sinne von Diversität auf der Grundlage der Konsistenz mit dem sozialen Rechtsstaat und dem überpositiven Recht der personalen Würde vorangetrieben. Das Recht auf den Schutz der Lebensstile der Privatheit im Sinne negativer Freiheit verliert ihre Legitimität (bzw. kommt an ihre Geltungsgrenzen) dort, wo infolge negativer Externalitäten die soziale Freiheit als Miteinanderfreiheit gefährdet wird, weil die Verantwortungsrolle angesichts der sozialen Kosten negativer »spill over«Dynamiken der Lebensführung der Privatheit verantwortungslos ist. Denn die Freiheit der Selbstsorge ist eingebettet in die solidarische Mitverantwortung in Hinsicht auf das Gelingen der Miteinanderfreiheit. Dies ist die Pflicht zur Miteinanderverantwortung. Die Selbstsorge (SS) und die Fremdsorge sind immer dann interdependent, wenn die Lebenslage des externen Fremden (eF) unter den Folgen des Tuns des Selbst leidet. Das ist die Definition für eine negative Externalität (nE) im Sinne der Interdependenz der Well-Being-Funktionen der Gesellschaftsmitglieder. Das Problem lautet: nE = {(∂ LQ [SS] > 0) → (∂ LQ [eF] < 0)}, woraus resultiert → »Verhalte Dich so, dass gilt«: 330 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Der Bund als Anker

{(∂ LQ [SS] > 0) → (∂ LQ [eF] � 0 oder > 0)} = ∂ LQ (SS Ո FS) > 0. Das Problem ist nicht trivial, weil es sich eben nicht um eine soziale Dyade handelt, sondern um eine komplexe Figuration von i = 1 … n. Der Formalismus der obigen Explanationen der Gemeinwohlproduktion darf nicht die Wahrnehmung verzerren und sollte die Aufmerksamkeit wachhalten, dass es bei einer phänomenologischen Betrachtung um Bewegungsprozesse als Entwicklungsdynamiken der menschlichen Person geht. Deshalb wurde auch noch eine explanatorische Ebene des Verstehens der Zusammenhänge tiefer angesetzt und die Abhängigkeit der MV von der gelingenden Paideia (als Formung der Person: FdP; Sozialisation: Soz), von der wiederum das Schicksal der MF abhängt, betont, an die Darstellung MV = MV (FdP = Soz) anknüpfend. Die Formulierung einer Rawlsianischen Lösung ∂ LQ (SSm Ո FSn–m) > 0 für alle i = 1 … m … n als Teilmenge aller Pareto-Lösungen, wonach sich alle Mitglieder (i) uno actu in ihrer LQ infolge der Kopula-Verschachtelung als Ineinanderfaltung von SS und FS und somit non m und n–m besserstellen sollen, ist nicht unwichtig, weil so das Sittengesetz zugespitzt wird. Es reichen keine Pareto-Lösungen hin, die den Differenzial-Zusammenhang zwischen SW und der LQ alle i = 1 … n mit »�« definiert, denn hier werden a) in explikativer Hinsicht bedeutungsvolle Befunde empirischer Sozialökonomie (z. B. der »Tunneleffekt« 454), Kultursoziologie 455

Hirschman A & Rothschild M (1973) The Changing Tolerance for Income Inequality in the Course of Economic Development. Quarterly Journal of Economics 87 (4): S. 544–566. 455 Der Klassiker ist Veblen Th (1958) Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Kiepenheuer & Witsch, Köln – Berlin. 454

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

und Sozialpsychologie (insb. vergleichsgruppentheoretischer 456 Art 457) und b) in normativer Hinsicht bedeutungsvolle Einsichten der Ethik verletzt: Auch die »relative Deprivation« (bei Runciman 458 und Townsend 459 sowie Sen 460) als Ausdruck einer Scherenentwicklung zwischen der Besserstellung einer Teilmenge m von n bei gleichzeitiger Stagnation der Dynamik der LQ von (n–m) ist aus der Sicht einer Wohlfahrtstheorie, die die soziale Gerechtigkeit der Allokation berücksichtigt, problematisierbar. Was ist gemeint? Zwar verhindern Pareto-superiore Allokationslösungen die Verletzung von Eigentumstiteln der Individuen (ausgeschlossen ist die » 0 für alle i) anvisiert wird. Die Vermeidung negativer Externalitäten (in Verbindung mit einer allerdings transaktionskostenabhängigen Einstimmigkeitsregel der kollektiven Entscheidung) ist eine hinreichende Bedingung für die Ordnung der negativen Freiheit (im Sinne von »�«-Lösungen), aber reicht nicht hin für die soziale Freiheit Rawlsianischer Lösungen einer Alllokationsgerechtigkeit. Positive Externalitäten werden hier definiert als reziproke Wirkungszusammenhänge der gemeinsamen Besserstellung aller i. Der aktualisierbare Archetypus ist die Genossenschaft (1; 21; 34; 43; 45; 47; 59; 61; 69) als System der Mutualität im Lichte eines förder-»wirtschaftlichen« Auftrags der Sorgekultur, in der MF und MV eine Einheit bilden: Menschen verwalten in Selbstverwaltung der Po-

Konsumsoziologisch klassisch: Duesenberry J (1948) Income-Consumption Relations and their Implications. In Metzler L (Hrsg) Income, Employment and Public Policy. W. W. Norton, New York: S. 54–81. 457 Hyman H H (1968) Reference Groups. In Sills D (Hrsg) International Encyclopedia of the Social Sciences. Bd. 13. Free Press, New York: S. 353–359. 458 Runciman W G (1966) Relative Deprivation and Social Justice: a Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century Britain. Routledge & Kegan, London. 459 Townsend P (1987) Deprivation. Journal of Social Policy 16: S. 125–146. 460 Sen A (1990) Der Lebensstandard. Rotbuch-Verlag, Hamburg. 456

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Der Bund als Anker

lis in gemeinsamer Verantwortung ihre gegenseitig geachtete Freiheit als Miteinanderfreiheit. Phänomenologisch bekomme ich infolge solcher Reflexionen der Gemeinwohlproblematik einen weniger blockierten Zugang zur Öffnung des gordischen Knotens, der die verhaltenswissenschaftlich fundierten Spieltheorien dem Wesen nach eigen sind. Es werden dort eben nicht die Paideia-abhängigen Kulturstile der menschlichen Person beachtet. Stilfragen konstituierten weiter oben aber die beiden 1)- und 2)Typen des Menschen (hf und hoi), die unterschiedliche Weltverhältnisse im Sinne von Wiesing habituell aufweisen. Typ 1) steht mitten in der Welt als ein integriertes Mitsein; der Typ 2) steht distanziert der Welt als Umwelt gegenüber, die unter dem Dispositiv der Verfügbarkeit gestellt wird. Der faustische Typ aus der langen prometheischen Tradition vertritt die Rechtsphilosopie der negativen Freiheit. Der personalistisch inspirierte Typus versteht die liberale Gesellschaft kommunitär als MF = f (MV). Psychodynamisch verweist uns der 1)-Typus des Menschen auf die Beachtung der Fähigkeit des Menschen zu einem transzendentalen Vertrauensvorschuss. Diese Fähigkeit resultiert aus der tugendlichen Kraftquelle des Mutes als »Mut zum Dasein« (Paul Tillich 461), womit das »Wagnis des Scheiterns des Daseins« (im Sinne von Peter Wust 462) von der konkreten Persönlichkeit angenommen wird. Das bedeutet auch in Überwindung der Theorie des kollektiven Handelns des homo oeconomicus in der Theorietradition von Mancur Olson 463, der – in der Rezeption begrenzt radikal kritisiert 464, oftmals unkritisch-apologetisch 465 kommentiert – modellkonsistent nur die Lösungsperspektiven von Anreiz und Zwang sieht. Olson verarbeitet damit den Menschen als reizbare Maschine wie alle anderen Tiere auch. Pädagogische und moralische Perspektiven – de gustibus non Tillich P (1991) Der Mut zum Sein. De Gruyter, Berlin. Wust P (1995) Gewissheit und Wagnis. 2. Aufl. Schöningh, Paderborn. 463 Olson M (2004) Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen. 5. Aufl. Mohr Siebeck, Tübingen. 464 Keller B (1990) Interessenorganisation und Interessenvermittlung. Die Grenzen eines neoklassischen Institutionalismus in Olsons ›Rise and Decline of Nations‹. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (3): S. 502–524. 465 Pies I (1997) Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Der Beitrag Mancur Olsons. In Pies I & Leschke M (Hrsg) Mancur Olsons Logik kollektiven Handelns. Mohr Siebeck, Tübingen: S. 1–26. 461 462

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

est disputandum – einer entwicklungspsychologischen und psychodynamischen Theorie der Sozialisation in Verbindung mit einer habituellen Skripttheorie des de-zentrierten Subjekts werden ausgeklammert, weil sonst die präferenztheoretische Basis des Utilitarismus der ökonomischen Theorie problematisiert werden würde. Man merkt, wie die Fixierung auf einen nutzentheoretischen methodologischen Individualismus nur die Oberfläche für eine versteckte Sinntiefenstruktur darstellt. Und in dieser Tiefenstruktur treffen wir die generative Grammatik des normativen Individualismus der Rechtsphilosophie der negativen Freiheit als Besitzindividualismus 466 an. Dieser treibt hier in der Tiefe sein Unwesen. Alles ist des Teufels, was die negative Freiheit des prometheischen Individuums vor der ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft und vor dem Moloch Staat (der de-distributive Steuerstaat als Raubritter und der reallokative Regulationsstaat als Paternalist) in seiner gorgonischen 467 Maske gefährdet: a) Die Idee einer reflexiven Meritorik des vom Neu-Kantianismus abgeleiteten Kritizismus als Vorbehalt der Prüfung der Präferenzen im Lichte höchster Wohlbedachtheit und tiefster Selbstbesinnung 468 gilt schon als paternalistische Idee, obwohl es eine freiwillige Selbstbindung der Person wäre. b) Der Übergang zur Diskurstheorie intersubjektiver Verständigung steigert diesen Paternalismusverdacht. Hier – in diesen Ängsten der Ideologie vor der Problematisierung ihrer Geltungsansprüche – wird die Differenz zwischen einem neoplexianischen Individualismus einerseits und einem Personalismus andererseits – als Differenz zwischen 1)-Typ und 2)-Typ – überaus signifikant deutlich. Eine Demokratie, die auf einem Bund basiert, ist von einer Genossenschaftsidee geprägt. Diese in einer morphologischen (34), auf Struktur und Sinnfunktion abstellenden hermeneutischen Rekonstruktion der genossenschaftsartigen Gemeinwohlfindung zu begreifen, kann mit Blick auf die gewünschte Performativität in der Gemeinwohlproduktion aus der Diskursqualität einer deliberativen

Macpherson C B (1990) Die politische Theorie des Besitzindividualismus. 3. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main 467 Vernant J-P (1988) Tod in den Augen: Figuren des Anderen im griechischen Altertum: Artemis und Gorgo. Fischer, Frankfurt am Main. 468 Petrak P (1999) Ethik und Sozialwissenschaft. Transfer Verlag, Regensburg. 466

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Der Bund als Anker

Demokratie (2. Ordnungsebene) resultieren. Aber eingebettet ist diese Funktionsmaschine 2. Ordnung in den heiligen Bund auf der Ebene einer 1. Ordnung. Dieser Bund bedeutet: § 1: Ich glaube an mein Grundrecht auf Freiheit. Hinreichende Begründung: Die Freiheit als existenziale Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und das Leben zu gestalten mit Blick auf die Sinnhaftigkeit der Endlichkeit der Lebensspanne, ist der Kern der Daseinsführung des Menschen. § 2: Ich glaube als respektvolle Achtung an das Grundrecht des Anderen auf Freiheit. Hinreichende Begründung: Der Andere hat dieses natürliche Grundrecht, wie ich mein Grundrecht von Natur aus habe. Das Grundrecht des Anderen folgt aus der Faktizität seines Gegeben-Seins, die in seiner Vorgängigkeit unbedingt ist, woraus die Erkenntnis der Unverfügbarkeit des Anderen resultiert. Dies gilt gerade angesichts der Vulnerabilität, das neben der Freiheit ebenso die conditio humana charakterisiert. § 3: Die Würde des Menschen ist tabu. Hinreichende Begründung: Der Anker der Freiheit im Mit-Sein an das heilige Gut der Personalität, das die Miteinanderfreiheit auf der Grundlage personaler Würde meint, beruht auf der Reziprozität der empathischen Rücksichtnahme auf das unverfügbare und unbedingte Grundrecht auf Freiheit des jeweils Anderen in seinem GegebenSein. § 4: Dieser Idee der Miteinanderfreiheit widme ich einen eidgenössischen Bund, der meinen Glauben an die Miteinanderverantwortung für die Miteinanderfreiheit sakramental besiegelt. Das Siegel ist der Ring. Hinreichende Begründung: Denn ich kann nur als ein Individuum frei sein in privater sorgender Geborgenheit und in öffentlicher Anerkennung, Wertschätzung und Förderung (Befähigung). Freiheit ist abhängig von der Einbettung in die solidarisch sorgende Gemeinschaft des Miteinanders freier Bürger (m/w/d) auf einer Mikro-, einer Meso- und einer Makro-Ebene, die als Ebenen ineinander kohärent verschachtelt sind. Kohärenz meint: Die Prozesse auf allen 335 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

Ebenen folgen dem gleichen – individualhabituellen wie institutionellhabituellen – Programmcode. § 5: Ich glaube an die Abhängigkeit der Ermöglichung meiner Freiheit von der Untrennbarkeit von Mit-Freiheit und Mit-Verantwortung. Hinreichende Begründung: Selbst-Bildung ist nur möglich im Knotenpunkt der sozialen Beziehungen des Menschen. Diese Einbettung ist der Geschehensort des Funktions-Nexus von Mit-Freiheit und Mit-Verantwortung. § 6: Ich glaube an die sittliche Funktion des Rechtsstaates. Hinreichende Begründung: Der soziale Rechtsstaat mit seinem Monopol auf legitime physische Gewalt ist der Gewährleistung der Freiheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit verpflichtet. Dies zielt auf die Förderung der gesellschaftlichen, also mitmenschlichen Solidarität als Voraussetzung der Chancengleichheit aller Gesellschaftsmitglieder als Voraussetzung der Freiheit der Person. § 7: Ich glaube an die Pflicht zu einer humangerechten Partizipation der Paideia, und dies sowohl im Geben wie im Nehmen. Hinreichende Begründung: Der Mensch hat ein Grundrecht auf Gewährleistung von aktivierenden Umwelten des gelingenden Aufwachsens und des weiteren Werdens und Wachstums in einer Atmosphäre der Liebe und des Vertrauens, damit ich die Chance auf die Entwicklung der zur Freiheits-Verantwortung notwendigen Sozialcharakterbildung erhalte. § 8: Ich glaube an die Möglichkeit der Friedfertigkeit im Menschen und an die Pflicht, an dieser möglichen Friedensordnung mitzuwirken. Hinreichende Begründung: Die humangerechte Ordnung der Freiheit in einer von sozialer Gerechtigkeit geprägten Verantwortungsgemeinschaft ist nur im Kontext eines sozialen Friedens unter Abwesenheit oder Minimierung aller Formen struktureller Gewalt möglich.

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Überpositives Recht

§ 9: Ich glaube, dass die Idee der gerechten Ordnung der Freiheit eine Pflicht zur Nachhaltigkeit umfasst. Hinreichende Begründung: Die miteinander verantwortete Miteinanderfreiheit umfasst auch die Pflicht zur Nachhaltigkeit im Sinne der Rücksichtnahme auf die Lebenschancen zukünftiger Generationen, weil die Unverfügbarkeit des unbedingten Anderen zwingend ebenso auf zukünftige Generationen zutrifft, die heute noch nicht da sind, aber kommen werden, jedoch sich heute noch nicht konfliktfähig organisieren und artikulieren können. Diese advokatorische Ethik ist nicht generös, sondern eine Pflicht zur ehrfürchtigen Achtung vor dem Leben angesichts der Zeitlichkeit des Daseins im Strom der großen geschichtlichen Dauer. § 10: Ich glaube in Ehrfurcht vor dem Leben. Hinreichende Begründung: Dieser Glauben resultiert aus dem Selbstzweckcharakter der Natur als Allzusammengang humangerechter Sozialraumentwicklung im Sinne der § 1 bis 9. Dies sind die Eckpunkte der hinreichend begründeten Idee eines personalistischen 469 Bundes. Sie sind nicht wie der Dekalog 470 bis in die kulturelle Syntax hinein auf die vertikale Beziehung zwischen der UrLiebe als actus purus der göttlichen Väterlichkeit und seiner Kinder als Knechte eines Vertrages zwischen Hirte und Herde konstruiert, sondern alternativ konstruiert als horizontal strukturierte Genossenschaft als Demokratie des zwischenmenschlichen Beziehungsraums, allerdings im Geist der Kraftquelle der Liebe als Motor des Zusammenspiels von potentia, entelecheia, energeia und dynamis.

VII. Überpositives Recht Ein weiterer Zusammenhang ist ansatzweise aufzurufen: Der Bund kann als Idee als Teil eines Funktionszusammenhangs des überpositiven Rechts im Lichte der apollinisch-dionysischen Dialektik der Geschichte gedanklich eingeordnet werden. Die Idee des Bundes führt

469 470

Mounier E (1936) Das personalistische Manifest. Jean-Christophe-Verlag, Zürich. Köckert M (2013) Die Zehn Gebote. 2. Aufl. Beck, München.

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

mich demnach, in der Tradition von Kant 471 stehend, zur Notwendigkeit eines überpositiven Rechts. Da es sich hierbei um einen kollektiv geteilten Glauben an einer axiomatisierten Meta-Norm handelt, stehe ich nicht vor dem Problem des üblichen Wunsches nach einer normativen Letztbegründung, die logisch konsistent deduziert sein müsste. Ich verfalle damit andererseits auch nicht einem »Emotivismus« 472 als eine Variante einer Metaethik 473. Ich möchte explizit betonen: Ich vertrete eine ontologische Wahrheit, die sich verhaltenswissenschaftlich mit Blick auf die humangerechten Möglichkeitssteigerungen des seienden Seins plausibilisieren lässt. Es handelt sich um eine verhaltenswissenschaftliche, aber nicht behavioristische, sondern eher an die Soziologie und Sozialpsychologie von Durkheim anknüpfende Hypothese. Die Hypothese lautet: Wenn es den Gesellschaftsmitgliedern nicht gelingen sollte, den Sinn dieses Bundes einzusehen und an seine Notwendigkeit zu glauben und sodann das Verhalten an diesem Stern der Orientierung auszurichten, dann fehlt es der Fähigkeit deliberativer demokratischer Prozesse intersubjektiver Konstruktion von sozialer Wirklichkeit an einer zentripetalen Integrationskraft und eröffnet in ihrer ständigen Dynamik von Systole und Diastole der Diskurse eine zentrifugale Kraftrichtung, die nicht sinnvoll zu choreographieren ist und in jegliche denkbare Richtung weisen oder somit sogar heftig in höchst problematische Richtungen ausschlagen kann. Der Idee des Bundes kommt also eine funktionale Rolle zu. Ihre Funktion ist die Wirkung als transzendentale Voraussetzung. Die Idee des Bundes ist selbst kein primärer Wert, wenngleich diese Idee eine andere Idee mit Blick auf ihre Wahrheit als ein Wirklich-Werden – nämlich die der personalen Würde aller Gesellschaftsmitglieder – transportiert. Der Bund ist die Form, in der diese Idee zur Rea-

Vgl. dazu auch Diesenberg N (2021) Grundgesetz und Demokratie. Ein Plädoyer für eine philosophische Grundlegung. Königshausen & Neumann. Vgl. dazu auch Forst R (2021) Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant. Suhrkamp, Berlin. 472 Hare R M (1983) Die Sprache der Moral. 4. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 473 Meggle G & Grewendorf G (Hrsg) (1974) Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 471

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Überpositives Recht

lität wird. Der Formbegriff 474 ist (vgl. auch u. a. in 19; 24) sowohl expressiv wie generativ. Die Form des Bundes ermöglicht die Wirklichkeit der Idee der personalen Würde. Was passiert, wenn es keinen sozialintegrativen und letztendlich auch systemintegrativen Bund gibt? Diskurse sind nicht identisch mit Demokratie. Demokratische Diskurse müssen eine bestimmte Gestaltform annehmen. Das große Schweigen und Verschweigen (als Mechanismen der Verdrängung oder des Ausschließens) in Diskursordnungen ist ein breit diskutierter Kritikpunkt. Denkbar sind aber auch die faschistoiden Regressionen. Die Vitalität von Diskursen ist demnach nicht a priori positiv zu bewerten. Der Gott Dionysos 475 (ein durchgängiges Thema in vielen meiner Schriften: vgl. u. a. in 22; 41; 48; 59; 60; 61; 62), der zu jeder Theorie dynamischer Prozessontologie (48; 60) gehört, ist (auch in der Moderne 476) unabdingbar, doch wissen wir auch um die Möglichkeit seiner dunklen, abgründigen Rauschzustände 477, die er in seiner Epiphanie (66; 68) annehmen kann. Der notwendige Bund ist eine Figur aus der Gestaltlehre des Gottes Apollon (60): Die dionysischen Sprungelastizitäten (1*; 22; 41) müssen geordnet – in die richtige Richtung gebahnt – werden. Der Wegweiser in diese richtige Richtung ist die Naturrechtslehre der personalen Würde, die die bedingte, relationale Autonomie des Menschen in der Reziprozität der Rollen als Mitmenschen in der inkludierenden Teilhabe-Ordnung einfügt in die Idee der miteinanderverantworteten Miteinanderfreiheit, die das Grundrecht auf Freiheit koppelt an die empathische Rücksichtnahme als Grundlage der Verantwortungs-Verantwortung. Das Sittengesetz hat hierbei seine tugendethische 478 Fundierung und achtet auf die »spill over«-Externalitäten im ubiquitären Interdependenzgefüge, das die Gesellschaftsmitglieder in der Zeitlichkeit Dorschel A (2013) Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren. 2. Aufl. Winter, Heidelberg. 475 Schlesier R (Hrsg) (2011) A different god? Dionysos and ancient polytheism. De Gruyter, Berlin, Boston, Mass. Ferner: Heinemann A (2016) Der Gott des Gelages. Dionysos, Satyrn und Mänaden auf attischem Trinkgeschirr des 5. Jahrhunderts v. Chr. De Gruyter, Berlin; Seaford R (2006) Dionysos. Routledge, London – New York. 476 Bohrer K H (2015) Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher. Suhrkamp, Berlin. 477 Detienne M (1995) Dionysos. Göttliche Wildheit. dtv, München. 478 MacIntyre A (2006) Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Campus, Frankfurt am Main – New York. 474

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Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

ihres Daseins, also in der Gegenwart im Lichte der Vergangenheit und angesichts der Zukunft, schicksalshaft, also zwingend, unabdingbar, unausweichlich eingehen. Es handelt sich aber um ein post-homerisches Schicksal, das die limitierten Freiheitsgrade der Akteur*innen (m/w/d) im Epos des Dramas der menschlichen Geschichte bis hin zur fundamentalen Verantwortungsethik des zoon politikon in seiner vita activa 479 ausdehnt (vgl. auch in 64). 480 Hannah Arendt denkt den Menschen politisch als ein Wesen, das aus Freiheit heraus Entscheidungen treffen muss. Er muss dies, und darin liegt bereits seine Verantwortung. Der Mensch muss sodann auch die Folgen seiner Entscheidungen verantworten. Aber in dieser Folgen-Verantwortung ist auch Raum für ein Vergeben und Verzeihen. 481 Diese Menschen, aber auch andere bzw. nachfolgende Menschen haben die Verantwortung, aus solchen Fehlern zu lernen. Der Mensch lebt in diesem seinen Handeln. Er gestaltet 482 seine Welt. Auch wenn der Mensch ein endliches Wesen ist, so könnte die fundamentalontologische Existenzanalyse, die das Sein als ein Sein zum Tode denkt, einen falschen Akzent setzen. Zwar stirbt der Mensch, aber der Mensch wird ja nicht – quasi als Motiv, das dahinterstehen würde – geboren, um zu sterben. Man wird – und das ist das Prinzip der Hoffnung in der politischen Theorie des Menschen bei Hannah Arendt – geboren, um sein Leben zu leben, und d. h., um das Leben durch die Freiheit der Entscheidungen sinnhaft zu führen. In diesem Punkt mag Arendt dem Denken von Jean-Paul Sartre wahlverwandt sein. Im Denken von Arendt fehlt jedoch jede Spur von Absurdität und Sinnlosigkeit, die mancher Existenzialphilosophie eigen ist. Nach Arendt ist der Mensch geradezu aufgerufen, seine Freiheit zu nutzen, um dem endlichen Leben einen Sinn zu geben. Dies ist die Sinnstruktur ihres Prinzips der »Natalität« 483. Der Mensch wird geboren, um durch, mit und im Tun kleine wie auch größere Geschichte zu schreiben. Arendt H (1960) Vita activa oder Vom tätigen Leben. Kohlhammer, Stuttgart. Vgl. auch in Eilenberger W (2021) Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943). 8. Aufl. Beck, München. 481 Dazu auch Ricœur P (2004) Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen. 4. Aufl. Wallstein, Göttingen. 482 Dorschel A (2013) Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren. 2. Aufl. Winter, Heidelberg. 483 Hansen-Löve A A u. a. (Hrsg) (2014) Natalität. Geburt als Anfangsfigur in Literatur und Kunst. Fink, München 479 480

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Überpositives Recht

Ich würde sagen: Das endliche Leben als eine Zeitspanne soll bedeutungsvoll werden. Selbst dann, und dies ist nun einmal zwingend so, wenn dieser Sinnbeitrag sehr klein ist angesichts der Komplexität dessen, was wir menschliche Geschichte nennen, so macht dieser kleine Mitbeitrag 484 den konkreten personalen Menschen unsterblich, auch dann, wenn sich spätere Zeiten an den konkreten Menschen nicht mehr erinnern mögen. Objektiv bleibt dieser Beitrag unauslöschlich. Ob diese Sicht der Dinge (so nennt man Dinge, die gar keine Dinge sind, eben Dinge) den endlichen Menschen trösten kann, soll hier, wie es so schön lautet, dahingestellt bleiben. Dies ist auch der Hintergrund für den nur schwer verständlichen Sinnzusammenhang des Suizids 485. Wie umgehen mit dem Problem, wenn die große ontogenetische Rechnung trotz aller Lebenslügen nicht positiv aufgehen will? Was tun, wenn der Mensch zwar mit dem Mut zum Dasein dieses Wagnis des Daseins als Chance aufgegriffen hat, dann aber das Dasein verfehlt hat, gescheitert ist? Welche Bitternis, welche Verzweiflung muss dem Menschen in der Nähe des Todes ergreifen, wenn er dergestalt bilanzieren muss. Da kann man psychologisch leichter verstehen, welche Funktion die Lebenslüge hat, und welche Bedeutung der Kohärenzzwang besitzt, in der Erinnerung an die Bedeutung der Erfahrung von Ereignissen ein stimmiges Bild zu malen, mit dessen Hilfe sich der Mensch mit sich selbst versöhnen kann. Das große Thema am Ende ist die Frage, wem ich verzeihen kann, wem ich um Verzeihung bitten muss und wer selbst mir gegenüber um Verzeihung nachfragen sollte. Denn auch mit Blick auf die vielen Narben des Lebens gilt die Grammatik von Geben und Bekommen. Ich denke, dass Hannah Arendt hier einen ganz wesentlichen Beitrag zum Problemverständnis geleistet hat, auch gerade dort, wo sie deutlich mit Heidegger bricht. Es gibt dazu allerdings auch gegenläufige Bemühungen, die Kategorie der Liebe im Kontext des Denkens des sozialen Mit-Seins in Heideggers frühem Hauptwerk zu entdecken. 486 Zu bedenken ist ferner, dass das »Das Sein zum Tode«Denken bei Heidegger ja zugleich geknüpft ist an das Sich-Entwerfen,

Oberlin G (2021) Die meiste Zeit existieren wir nicht. Über das Verhältnis von Lebenszeit und Universum. Königshausen & Neumann, Würzburg. 485 Bedenkenswert: Ahrens J (2001) Selbstmord. Der Tod gegen die Ordnung. Fink, München. 486 Tömmel T N (2013) Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 484

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das zwar nicht einer Logik unbedingten Voluntarismus folgt, sondern ein »geworfener Entwurf« angesichts der Einbettung des Menschen in die vorgängige Geschichte als Kulturzusammenhang ist oder, performativ gedacht, darstellen kann. Sonst könnte man auch nicht die Problematik des »Man« bei Heidegger verstehen. Denn dem »Man« geht diese schöpferische Eigenschaft verloren. In der Lebensweise des »Man« wird der Mensch zum Rädchen in einer Maschine, die an einen Ameisenstaat oder ein Bienenvolk – die Insektenmetapher 487 ist ja nicht untypisch für die konservative Kulturkritik im 20. Jahrhundert – erinnern mag. Ein Beispiel aus meinem Forschungsalltag: Die Langzeitpflege (12* bis 16*; 52 bis 57; 63 bis 65) im Geiste des »Man« ist, einem funktionalistisch codierten Algorithmus folgend, dann eine Verrichtungsmaschine, gekoppelt an einen Habitus der Defensivpflege im Lichte des Dispositivs der Sicherheit, der noch die Dimensionen satt, sauber, still aufnimmt: Keine Fehler machen, keine Risiken eingehen, Fälle im Kontext akutmedizinischer Standards klinischer Hygienestandards abarbeiten, erledigen. Statt Orte des gelebten Wohnens zu sein, werden diese Anstalten der Verrichtungsmaschine zu panoptischen Orten der Verwahrung unter Sicherheitsstandards: Das weich gekochte Ei ist aus Sicherheitsgründen in diesem regulierten Regime verboten. Dies, obwohl das weich gekochte Ei ein Stück geliebter Lebensqualität ist und im privaten Haushalt erlaubt ist. Wie kommt es zu dieser Sonderwelt des stationären Langzeitpflegesettings, das wie im Lager das »nackte Leben« zum Gegenstand hat? Hier wird nicht die Ganzheit von Seele, Geist und Körper im Geist einer modernen aktualgenetisch codierten Rehabilitationsidee aktiviert, der Mensch nicht in seiner Generativität befähigt. Die Überwindung der Unterfinanzierung und der Pflegepersonalmangel sind notwendige Voraussetzungen für eine Humanisierung der Geschehensordnung. Hinreichende Bedingung wäre ein Kulturwandel. Dieser Kulturwandel ist eine Sinngestalttransformation und ist auf verschiedenen Ebenen, die ineinander verschachtelt sind, zu definieren: Er ist auf der Mi-

Johach E (2020) Wilde Soziologie. Soziale Insekten und die Phantasmen moderner Vergesellschaftung. Fink, Paderborn sowie Doll M & Kohns O (Hrsg) (2017) Zoologie des Kollektiven. Fink, Paderborn; Werber N (2013) Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte. S. Fischer, Frankfurt am Main; Munk M (2011) Ungeheuerliche Massen. Tierbilder für das Phänomen des Massenhaften in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Böhlau, Köln.

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kro-Ebene (I) ein Habituswandel im Zusammenhang mit primärer und sekundärer (berufsgruppenspezifischer) Sozialisation, auf der (II) Meso-Ebene II.a) der unteren operativen Einrichtung ein vom Führungsstil abhängiger Organisationskulturwandel, auf II.b) der oberen strategischen Trägerebene ein gemeinwohlökonomischer Kulturwandel in Verbindung mit der auf Wohnraumformendifferenzierung abstellenden investiven Sozialraumbildungsorientierung, auf der (III) Makro-Ebene III.a) ein Wandel des Regulierungsregimes des Qualitätsmanagements hin zu einer an der Lebensqualität orientierten Lebensweltermöglichung, III.b) eine Förderung der Gemeinwohlökonomie innerhalb der Wirtschaftsordnung (6*; 10*; 18; 45; 47; 59). Die Pflegewelt des verrichtungsmaschinellen »Man« ist demnach kein Geschehensort einer »guten« Pflege als eine auf Geist, Seele und Körper hin befähigende soziale Interaktionsarbeit als ein »gutes Leben« in Ausschöpfung der Potenziale selbständiger Selbstbestimmung in teilhabender Art und Weise, als Lebenswelt in personaler Würde. Kann über »den« Sektor so pauschal argumentiert werden? Die sowohl habitushermeneutisch wie auch organisationskulturhermeneutisch und dispositivhermeneutisch vorgenommene Diagnostik schließt mit Bezug auf eine durchschnittliche Betrachtung eine verdeckte Heterogenität nicht aus: Es gibt immer Solche und Solche. Statistik meint Alle, aber nicht Jeden. Vor allem gibt es mit Blick auf typologische Clusterungen immer auch hybride Fälle. Es geht also um Trendmuster, Hybridität und Heterogenität. Ich referiere hier nun auch nicht die schlechte Befundelage empirischer Forschung, etwa mit Blick auf Zusammenhänge mit Unternehmensformen (z. B. nationalen bzw. transnationalen Konzernstrukturen oder mittelständischen Unternehmen) und Betriebsgrößen, Trägerschaft und daher strategische Unternehmenspolitik (Sachziel- versus Formalzieldominanz bzw. For-Profit- versus Non-Profit-Orientierung) usw. Aber zurück zur Problematik von Freiheit, Chancen der Daseinsführung und Entfremdung. Zur Differenz zwischen Heidegger und Arendt mag man unterschiedlich Position beziehen können. Es geht ja auch gar nicht um Heidegger selbst. Solche Sichtweisen sollen und können ihn gar nicht rehabilitieren für seine dunklen Seiten abgründiger Art. Hannah Arendt sagte ja auch einmal, Heidegger hätte keinen schlechten Charakter gehabt; er hätte überhaupt keinen Charakter besessen. Er war, ist und bleibt jedoch ein bedeutungsvoller 343 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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Denker. Und jede neue Dissertation mag ihn wieder neu auslegen 488, weil es nicht um ihn geht, sondern um das Aufgreifen zentraler Substanz seines Denkens, das immer wieder neu zeitgemäß fruchtbar gemacht werden kann. Die Freiheit der Entscheidung, die zugleich, wie bei Jean-Paul Sartre, eine unausweichliche Notwendigkeit ist, hat Hannah Arendt sicherlich auch im Modus der Kategorie der Entschlossenheit bei Heidegger vorgedacht gefunden. Aber die Grundgestimmtheit, von der Heidegger handelt, ist eine Kategorie, die man auch auf sein Werk selbst analytisch anwenden kann. Die Sprache von Hannah Arendt ist von liebevoller Offenheit geprägt, trotz des Bösen, von der sie ja auch tiefgreifend und umfassend handelte. Die Kategorie der Sorge ist bei ihr von zentraler Bedeutung, doch wird die Sorge von einer offenen, liebevoll gefärbten Grundgestimmtheit geprägt. Heideggers Sorge im Zulauf auf das Nichts durch den Tod ist eher dunkel: Tendenziell, auch dann, wenn man gegenläufig eher aufhellende Momente in seinem Werk aufdecken können mag. Ich gehe einen Schritt weiter in der Reflexion von Freiheit und Umwelt. Eine Bemerkung zur Kategorie der Notwendigkeit, von der soeben die Rede war, mag sinnvoll sein. Ich greife die berühmte Marxistische Formel auf, wonach Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit sei. Doch was ist Einsicht? Das Verstehen von Geschichte 489 ist hermeneutisch ja keine 490 abbildtheoretisch fassbare Erkenntnis. 491 Ohne das spezifische Verständnis der Dialektik als Bewegungsprinzip der Geschichte zu diskutieren, so sei doch hier eine Variation angebracht. Die Geschichte treibt sich endogen voran und die Möglichkeiten des Weges solcher Veränderungen müssen notwendigerweise in der Geschichte vorhanden sein. Aber kein Automatismus ist hier zu stipulieren. Modallogisch sind die Möglichkeiten als endogene Potenziale der Faktizität zu verstehen, aber die Freiheit besteht in der Wahl, die Möglichkeit aufzugreifen oder eben auch nicht. Es gibt meist auch einen gewissen Korridor von Varianten einer Möglichkeit. Vgl. z. B. auch Menga F G (2018) Ausdruck, Mitwelt, Ordnung. Zur Ursprünglichkeit einer Dimension des Politischen im Anschluss an die Philosophie des frühen Heidegger. Fink, München. 489 Dazu auch Breitling A (2007) Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn. Paul Ricœurs hermeneutisches Denken der Geschichte. Fink, München. 490 Kontrovers, aber bahnbrechend instruktiv: White H (1991) Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Fischer, Frankfurt am Main. 491 Ricœur P (1974) Geschichte und Wahrheit. List, München. 488

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Und sicherlich gibt es die Notwendigkeit des Handelns, wenn sich eine Dringlichkeit der Veränderung erkennbar einstellt. Wenn Freiheit – ohne Freiheitsgrade oder sogar Wahlfreiheiten – nur der Vollzug von Notwendigkeit ist, ist es keine Freiheit. Freiheit ist sicherlich immer eine bedingte, weil Kontext-abhängige Freiheit. Doch das Zusammenspiel von Möglichkeit, Kraft, Tun und die daraus resultierende Dynamik in dem Geschehen der Entelechie ist nicht so mechanisch, wie in der marxistischen Formel zum Ausdruck kommt. Und damit komme ich auf den heiligen oder unheiligen Geist zurück, der expliziert werden muss, wenn es um das Tun aus der Entschlossenheit geht. Von welchem Geist ist das Tun getrieben? Dass der tätige Mensch im Tun (in Wissenschaft, Mythos, Religion, Kunst, Politik) zum Ausdruck kommt, ist ja nur eine formale Eigenschaft des menschlichen Seins (60) und nur eine Voraussetzung für die geschichtliche Konkretisierung. So lese ich hier Cassirer 492 mit Blick auf die Bildung der Formgebilde des objektiven Geistes. Aber dieser anthropologische Formalismus muss ja in seinen konkreten historischen Gestaltfiguren skaliert werden. Denn der Faschismus ist ebenso eine Ordnung des Tuns wie das Tun der Taten des historischen Jesus 493 oder z. B. das Tun von Albert Schweitzer oder das Tun und sodann Erleiden von Dietrich Bonhoeffer. Das humangerechte Tun bei Hannah Arendt ist natürlich gebunden an die Idee der Würde des Menschen (zu deren ontologischen Status als naturrechtliche Kategorie Arendt allerdings eine kritische Haltung 494 einnahm 495), denn es geht ihr um die Freiheit, allerdings in den Grenzen des Gemeinsinns einer demokratischen Polis. Meine Auffassung ist nun die, dass sich in der Polis die Freiheit des einzelnen Individuums an die empathische Rücksichtnahme auf die Idee des unbedingten Grundrechts des Anderen bindet. Dabei ist diese Rücksichtnahme von Logik moralisierender Generosität abgekoppelt. Sie resultiert vielmehr aus respektvoller Achtung. Vgl. auch Kreis G (2009) Cassirer und die Formen des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 493 Schmidt E D (Hrsg) (2018) Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 494 Brunkhorst H (1996) Sind Menschenrechte Aporien? Kritische Bemerkungen zu einer These Hannah Arendts. Kritische Justiz 29 (3): S. 335–343. 495 Vgl. jedoch Rennert K (2017) Hannah Arendt, das Asylrecht und die Menschenwürde. Nomos, Baden-Baden. 492

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Es geht mir um diese große Freiheit, die nicht deshalb kleiner wird, weil sie eine gebundene, in der Rücksichtnahme eingebundene Freiheit ist. Freiheit ist nur so zu haben, weil der Mensch eben kein isoliertes Individuum als homo clausus (Norbert Elias 496), sondern immer nur als homo socialis ein soziales Beziehungswesen ist. Daher ist dessen Identität auch nur als Erzählung einer Geschichte möglich, die als jemeinige Geschichte mit anderen Geschichten der Mitmenschen verstrickt ist. Es geht also um die Entscheidung für die Welt des Typ 1 des personalen Menschen oder des Typ 2 des faustischen Menschen, der sich steigern kann bis zum prometheischen Wahn instrumenteller Vernunft. Am Du konstituiert sich das Ich als Mich-Erfahrung der Anrufung. Eventuell ist hier der Punkt, wo die radikale Idee der unbedingten Vorgängigkeit von Levinas doch mit der Dialogizität 497 (bzw. der Begegnung) bei Martin Buber in einer gewissen Art und Weise vereinbar ist. Und der dialogische Personalismus wäre dann doch nicht völlig tiefengrammatisch codiert von einem cartesianischen Ich der Gabe als ein konstitutives Geben. Immer ist das Du vorgängig. Es gibt – wie der Münchhausen-Mythos uns erzählen möchte, wonach der Mensch sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen könnte – keine Selbstgenese des Ich, auch wenn das Ich in der auratischen Anrufung durch den Anderen eine kreative Mimetik praktiziert. Wenn weiter oben über den Transaktionalismus gehandelt worden ist, so kommt nun eine gewisse asymmetrische Struktur hinein: Das jeweilige Subjekt steht in Wechselwirkung mit der Umwelt und steht somit in einen Wirk-Merk-Kreislauf eingelassen. Aber erst an der Erfahrung der Alterität kann sich ein Ich herausbilden. Erst in der Abgrenzung zum Anderssein des Anderen erschafft sich die Identität meines Selbst. Diese Abgrenzung muss keine abwertende Distinktion sein. Diese Abgrenzung muss nicht die Form der Ausgrenzung des Anderen annehmen. Das Gegenüber ist nicht a priori ein Gegeneinander. Systemtheoretisch ist dies ein Problem formaler Logik: A = A; B = B; A 6¼ B. Aber welche Formen dieses Spiel von Identität und Differenz annimmt, das ist eine geschichtliche Frage des Kräftespiels der weiter Vgl. in Elias N (1976) Über den Prozeß der Zivilisation. Bde. 2., um eine Einleitung vermehrte Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 497 Lachmann R (Hrsg) (1982) Dialogizität. Fink, München. 496

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oben skizzierten Dynamik von W = W (SB; SM; T) sowie D = D (B; K, A) mit der Folge: W > D oder D > W? Gehen wir nicht von der Utopie D = 0 aus, so kann es nur darum gehen: (D → min!) → (W → max!). Darüber, über dieses große Daseinsthema von Gut und Böse, muss der heilige Bund geschlossen werden. Hans Urs von Balthasar 498 hat dieses große Drama der Menschheitsgeschichte (auch gerade in seiner neuzeitlichen Zuspitzung) als »Theodramatik« 499 reflektiert. Ich lese diese Geschichte 500, von der Karl Marx schrieb, es sei bislang eine Geschichte der Abfolge von Klassengesellschaften gewesen, aber nicht als Theodramatik 501, sondern als Onto-Dramatik. Und die »Herrlichkeit«, von der die philosophische Theologie Hans Urs von Balthasar in einer Ästhetik der Theologie 502 sprach, ist nicht die von Gott und seines Bundes 503 mit den Menschen, sondern die in der Geschichte gesellschaftlich vermittelte Selbstentfaltung des würdevollen Antlitzes des Menschen in der Form der Liebe (die hier nicht in Beziehung zu Gott gesetzt wird 504), die sich im sozialen Zusammenleben zur Wirklichkeit bringt. Das Antlitz ist als Pars pro Toto als der expressive Teil der Gesamtpersönlichkeit des Menschen zu verstehen, wobei die Persönlichkeit nicht im Sinne nur der Psychologie, sondern aus der Sicht der Philosophie der Person – wobei Hans Urs von Balthasar mitunter in diesem Punkt auf Konvergenz hin ausgelegt wird 505 – in Kuhr I (2012) Gabe und Gestalt. Theologische Phänomenologie bei Hans Urs von Balthasar. Pustet, Regensburg. 499 Balthasar H U von (1971–1983) Theodramatik. 4 Bde. Johannes, Einsiedeln. 500 Völkner A (2021) Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart. Ein Beitrag zur Hermeneutik der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg. Pustet, Regensburg. 501 Kapp V, Kiesel H & Lubbers K (Hrsg) (2000) Theodramatik und Theatralität. Ein Dialog mit dem Theaterverständnis von Hans Urs von Balthasar. Duncker & Humblot, Berlin. 502 Balthasar H U von (1961–1969) Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. 3 Bände. Johannes, Einsiedeln. 503 Spangenberg V (1993) Herrlichkeit des Neuen Bundes. Die Bestimmung des biblischen Begriffs der ›Herrlichkeit‹ bei Hans Urs von Balthasar. Mohr Siebeck, Tübingen. 504 Völkl St (2016) Gotteswahrnehmung in Schönheit und Leid. Theologische Ästhetik als Lesart der Logik der Liebe bei Simone Weil und Hans Urs von Balthasar. Herder, Freiburg i. Br. 505 Disse J (1996) Metaphysik der Singularität. Eine Hinführung am Leitfaden der Philosophie Hans Urs von Balthasars. Passagen, Wien. 498

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Richtung auf eine Onto-Anthropologie des Prinzips der Personalität hin verstanden wird. Dieses Daseinsthema ist der Gegenstand meiner Onto-Anthropologie, wobei erkennbar wird, dass ich entgegen Heideggers Selbsteinschätzung ihn anthropologisch fortdenke: Die Entfremdung des geschichtlich erfahrbaren seienden Seins des »Man« als seinsverlierende Vergessenheit wird von diesem Ringen von D und W im Vektorraum der Formen des sozialen Miteinanders (SD, SM, T) ←→ (B; K; A) vorangetrieben. Die Zeitlichkeit, die Heidegger in seiner Fundamentalontologie denkt, das ist also nicht einfach nur die Lebensspanne des Individuums, das, von Sorge getrieben und seine existenziale Angst bewältigend, entschlossen sich entwerfen und im Tun aufstellen muss angesichts der Endlichkeit. Zeitlichkeit ist eben die Geschichte des kollektiven, d. h. in der sozialen Evolution interdependenten Menschen. Entscheidend ist nun folgende Einsicht: Aus der Sicht eines Subjekts (Ego) kann die eigene (auf W von Ego = [SD; SM; T] abzielende) Vitalität nur innerhalb einer Grenze verwirklicht werden, die dadurch entsteht, dass gegenüber dem Anderen nicht die Haltung (B; K; A) praktiziert wird, sondern die Haltung der respektvollen Achtung gegenüber dem Anderen (als Alter Ego), also eine responsive Achtung von dessen vorgängig gegebenen Anspruch auf W von Alter Ego = (SD; SM; T) performativ realisiert wird. Die Sequenz ist demnach: a) Auratische Epiphanie von Alter Ego, b) Responsivität von Ego im habituellen Modus der respektvollen Achtung; c) Selbstkonstituierung von Ego als Subjekt in der Mich-Erfahrung infolge der Erfahrung der Differenz des Anderen, der somit zum vorgängigen Du wird. Durch die Achtung wird erst die relationale und sodann auch dialogische Einheit in der Differenz möglich. Das »klammernde Dritte« ist demnach der integrale Modus des Miteinanders durch die Erfahrung der eigenen Achtungswürdigkeit angesichts der Achtungserfahrung als Funktion des Respekts des Anderen. Jedes Subjekt wird erst zum Subjekt, weil es jeweils ein Anderer ist. Im Spiegel, in dem ich mich erkenne, ist das Gesicht des Anderen, sein Antlitz, zu erblicken. Es ist also ein »Einwegspiegel«, um den es geht: Dieser Spiegel ist für Alter Ego ein Fenster zum Ego hin. Ego sieht im Gesicht des Anderen aber nur den Spiegel des eigenen Mich-Selbst. Doch folglich mag es angebracht sein, über den Humanismus, trotz seiner ideengeschichtlichen und auch begriffsstrategischen Viel348 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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falt und daher Komplexität, eine spezifizierende Bestimmungsleistung anzubieten.

Exkurs: Was ist Humanismus? Meine Überlegungen werfen ein gravierend relevantes Licht auf die Frage, was überhaupt Humanismus ist. Humanismus bezeichnet die Haltung, die conditio humana zur Entfaltung zu bringen, denn jede Philosophie des Menschen, die nicht mit der conditio humana rechnet, tut der Natur des Menschen, zu der eben auch die Plastizität im Sinne einer Historischen Anthropologie gehört, Gewalt an. Dabei muss die humanistische Rezeption der conditio humana aber eine Werte-orientierte Gewichtung im Potenzial-Portfolio des Menschen vornehmen, sonst ist sie nicht humanistisch: Sie muss den homo donans 506 über den unausrottbaren homo abyssus als Figur des ganz normalen Bösen in seinen vielen Gesichtern dominieren lassen. Das Ich ist insofern ja immer zugleich ein Anderer, der als Potenzial im Ich schlummert. Der Humanismus ergreift also Partei im Spiel der Kräfte des menschlichen Entwicklungspotenzials, wozu auch die Pfadentscheidung zwischen dem sittlichen Typ 1 und dem instrumentalistischzweckrationalen Typ 2 der Menschen gehört. Damit ist ihm das Prinzip der Hoffnung eigen, das gilt für Gabriel Marcel oder Romano Guardini wie auch für Ernst Bloch. Es sind immer humanistische Denker (m/w/d), die die Paideia und somit die Pädagogik mit einbauen in ihre ontologische Theorie des Menschen als politisches Wesen. Sie tun dies nicht im Sinne einer Erziehungsdiktatur. Denn diese stünde nicht nur im Widerspruch zum Telos der personalen Freiheit, sondern sie wäre unter dem Aspekt der Dauer ohnehin aussichtslos, weil der Freiheitsdrang des schöpferischen Menschen nie auszurotten ist. Wenn das alles stimmig ist, dann arbeitet der Humanismus mit der Idee des de-zentrierten Subjekts und ist eben kein bildungspolitischer Idealismus des apollinisch schönen und heldenhaften homerischen Individuums. Zwar dreht sich hierbei, dies ist epistemisch so als Weltbild modelliert, die Welt um den Menschen, aber er steht dennoch nicht in der kausalen Mitte als Ausgangspunkt der Wir506

Metzger St (2018) Homo donans. Ein Plädoyer für die Gabe: Köln: Launenweber.

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kungskreise. »Über ihn« und (psychodynamisch gesehen: »durch in«) entfaltet sich die Welt, die u. U. auch ohne ihn auskommt. Die Chancen für diese Option einer Welt ohne Menschen stehen nicht so schlecht, auch wenn die Option schlecht wäre aus der Sicht des in diesem Fall eliminierten Menschen. Was ich also als moderne Auslegung der Mimesis als schöpferische Mimetik 507 aktiver Passivität formuliert habe, drückt diesen Humanismus aus. Ja: Der Mensch ist ein homo creator, aber er ist nicht Gott, den ich, wie schon skizziert, nur als idealtypische Symbolreferenzfigur akzeptieren kann, um die Empirie des Seienden als seiendes Sein ontologisch zu skalieren. Der schöpferische Mensch kann exemplarisch an der Fuge von Bach 508 erkannt werden. Oder wir ziehen die Lichtmalerei bei Rembrandt 509 heran. Aber ein Thema ist auch die Malerei von Menschen mit Schizophrenie oder mit schwerem Down-Syndrom 510 als expressive Beispiele. Und natürlich ist der archetypische Urknäuel der Bilder der Kleinkinder die Goethe’sche Urform von Picassos Genie, auch dann, wenn der verschlungene und brüchige Weg dieser Entelechie lang ist. 511 Denn bevor die moderne Kunst die Differenz, die Zerrissenheit, die verlorene Harmonie 512 des Menschen schmerzhaft zum »Schrei« 513 treibt, ist das Weltbild des Kleinkindes noch die unentwirrbare Einheit des Allzusammenhangs. Das ändert sich erst mit der Spiegelphase. Und wieder sind wir voll im Thema: Denn mit der Entwirrung und der Genese der Differenz beginnt mit der Suche nach Liebe als Vereinigung im Modus der nie wieder realisierbaren UrInstruktiv dazu: Engelmeier H & Balke F (2018) Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des »Figura«-Aufsatzes von Erich Auerbach. 2. Auflage. Fink. München. 508 Kruse A (2014) Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach. Psychologische Einblicke. 2. Aufl. Springer, Berlin. 509 Vgl. auch in Kruse A (2017) Lebensphase hohes Alter: Verletzlichkeit und Reife. Springer, Berlin. 510 Vgl. dazu Theunissen G (Hrsg) (2007) Außenseiter-Kunst. Außergewöhnliche Bildnereien von Menschen mit intellektuellen und psychischen Behinderungen. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. 511 Schloßmuseum Murnau, Jansen I. u. a. (2021) Punkt, Linie, Fläche. Die Kinderzeichnung und der Expressionismus. Langemann u. Langemann, München. 512 Flotzinger R (2016) Harmonie. Um einen kulturellen Grundbegriff. Böhlau, Köln u. a. 513 Kauer K (2021) Verzweiflung im 18. Jahrhundert. Eine Diskursgeschichte. Königshausen & Neumann, Würzburg. 507

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erfahrung der Ureinheit von Organismus und Kosmos. Dieser Elementarmodus der Entfremdung ist explizit nicht das Thema Kritischer Theorie, sondern nur der vermeidbare, reduzierbare geschichtliche Überschuss in der Formbestimmtheit von Entfremdung. Wäre der Mensch unmittelbar »eins« mit dem Kosmos, auf die Langeweile des Paradieses ist weiter unten im nächsten Kapitel noch zurückzukommen, wäre nicht nur dieser Essay überflüssig, sondern eine groteske Absurdität, denn es gäbe keine Wissenschaft und Kunst, keinen Mythos und keine Religion. Denn diese symbolischen Formen des Menschen leben ja gerade von der Arbeit an der Brückenbildung bei nicht vermeidbarer Kluft als »Eins-Sein im Getrenntsein«. Diesen Urschmerz kann man dem Menschen nicht nehmen, weil man ihm seine Natur nicht nehmen kann. Da kommt sodann stattdessen die Idee des Trostes als Teildimension der Liebe her. Das bekannte Lied »Liebe ohne Leiden« ist von der conditio humana her gesehen nicht haltbar, gut gemeint, aber eventuell auch riskant. Denn nie wird der konkrete Mensch ohne Schuld durch das Leben gehen. Und nicht immer ist diese Schuld die »schuldlose Schuld« der Tragödie 514. Oft ist es eben schlichtes Fehlverhalten. In diesem Lichte ist der Neoliberalismus mit seinem dispositiven Programmcode der Selbstoptimierung des Menschen nicht nur verlogen, sondern richtig gemein, denn er kann ja nur den Menschen überfordern und ihn in den futuristischen Wahn oder in die dunkle Depression führen. Die Depression als »schwarze Sonne« (Julia Kristeva 515) bringt allerdings eine eindrucksvolle, wenngleich dennoch zugleich schwer verständliche Kreativität hervor 516, während der Wahn des Jugendkörpers, der Schönheit und der Produktivität der Technik – wie im Fall des Futurismus – in die Bahnen des Risikos faschistoiden Denkens überleitet. Mit diesem Exkurs kann ich auch dieses dichte, kurze Kapitel beenden. Ich denke (hoffe), es wird deutlich, dass menschliches Zusammenleben, auch dann, wenn es selbstverständlich von Eigensinn und entsprechenden Interessen geprägt ist, mit Blick auf die Hoffnung auf ein Gelingen einer normativen Einbettung in einer alles inSchadewaldt W (1991) Tübinger Vorlesungen Band 4. Die griechische Tragödie. Aischylos. Sophokles. Euripides. 6. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 515 Kristeva J (2007) Schwarze Sonne. Depression und Melancholie. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main. 516 Vgl. auch Waldenfels B (2019) Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Suhrkamp, Berlin. 514

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tegrierenden, kollektiv geteilten Fundamentalidee bedürftig ist. Hier argumentiere ich gegen Robert Spaemann, der die liberale Demokratie – und auch die EU – dann kritisiert, wenn diese als Rechtsstaat auch eine Wertegemeinschaft sein will. Der genutzte Begriff der Bedürftigkeit ist bewusst eingesetzt. Er deutet eine existenziale Ernsthaftigkeit der Tiefe des Arguments an. Es durstet nach diesem Fundament. Das Leben ist hungrig auf diese Verankerung. Durst und Hunger sind ganz elementare Bedürfnisse einer philosophischen Anthropologie der Leiblichkeit. Archetypisch ist hier das schreiende Kind. Es will gestillt werden. Hier ist, jenseits aller Gender-Ideologien, wirklich die Muttergöttin gefragt. Das kann nicht der Vater. Ich will nicht Spott ausspucken über die Hypothese der Erinnerung an den Uterus. Der Mann scheint wohl unbewusst Minderwertigkeitskomplexe angesichts dieses Monopols der Frau auf die schöpferische Schmerzrolle zu haben, denn er hat, das zeigt die Mythologie und die Religionsgeschichte, sich auf Kopfgeburten spezialisiert, wobei er oftmals gorgonische Medusa-Figuren kreiert. Die Bedürftigkeit verweist uns auf die Kopflastigkeit der Geistzentrierten Welt des Idealismus. Gewiss, der Geist ist das Licht und ordnet apollinisch die dionysische Dynamik. Aber gerade deshalb müssen wir dennoch über die Bedeutung des Dionysischen sprechen, sonst halbieren, dritteln oder vierteln wir, je nach Komplexität einer Variante einer Strukturtheorie der Person, den Menschen. Doch wir verlassen den Weg sowohl der empirischen Wahrheit als auch der die Empirie skalierenden ontologischen Wahrheit, wenn wir nicht mit dem ganzen Menschen rechnen. Das ist, dies darf betont werden, auch eine Messlatte für die Kritische Theorie. Sie ist Kritik der Verhältnisse, muss aber ihren eigenen Analysehabitus kritisch reflektieren.

VIII. Verantwortliche Freiheit Mythopoetisch will ich die These von der Geburt der verantwortlichen Freiheit aus dem Ende des Paradieses wagen. Seit dem Ausgang aus dem Paradies, als Beginn seiner eigentlichen Geschichte, denn das Paradies war nur seine Vorgeschichte, hat der Mensch die Freiheit zur notwendigen Entscheidung als Teil seiner auferlegten Sorgestruktur. Er hat sie und wird sie wieder los. Er kann sie verdrängen, verschieben, vernachlässigen. Aber er wird sie nicht los, denn sie meldet sich 352 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Verantwortliche Freiheit

zurück in der Form des mitunter abgründigen Scheiterns. Selbst der Begriff der Vorgeschichte ist eigentlich falsch gewählt. Geschichte ist eine Funktion der Zeitlichkeit des Daseins. Sie wird gemacht und Dinge entstehen und vergehen, kehren wieder, werden erinnert oder hoffend in die Zukunft projiziert. Im Paradies gibt es keine Geschichte. Weil dort auch keine Entscheidungen zu treffen sind. Das Paradies kennt keine Formen der Tätigkeit, geschweige denn harte Arbeit. Die einzige und zudem dann auch entscheidende Entscheidung ist eben der Ur-Sündenfall, der in der Genesis erzählt wird. Der Sündenfall ist der Urknall der Freiheit in der Geschichtlichkeit des Daseins des Menschen. Von der soeben definierten Leere des Paradieses hergesehen, ist der Eintritt des Sündenfalls gar nicht möglich, denn die Sünde ist ein Tun. Aber der Urknall-Vergleich passt. Er kann auch hier die Entstehung der Geschichte als Daseinsmodus erklären, ist aber selbst nicht erklärbar. Diese Situation ist eine Grenzsituation, denn sie läutet das Ende des Paradieses, den Ausgang aus dem Garten Eden und den Beginn der Geschichte im Sinne der sozialen Evolution ein. Es ist eine atypische Variation von Hegels Eule der Minerva, denn nicht eine Epoche stirbt und generiert eine neue Epoche wie im Rhythmus von Tag, Abenddämmerung, Nacht und Morgendämmerung, wonach ein neuer Tag – eine neue Epoche – anbricht. Der UrSündenfall läutet die allererste Epoche menschlicher Geschichtlichkeit überhaupt ein. Nur in diesem Sinne eines radikalen Bruchs in der ontologischen Verfassung des Menschen kann von dem Garten Eden als zeitloser Ort einer Vorgeschichte gesprochen werden. Es gibt gegenläufig argumentierende Literatur, auch in Hinsicht auf die These, ein unendliches Leben sei langweilig. Aber dennoch vertrete ich die Auffassung, das eigentliche Leben des Menschen, gekennzeichnet durch die Freiheit des Entscheidens, der Kraftquelle der möglichen Liebe, die Haltung der Weltoffenheit, die Erfahrung von Schuld als Kehrseite der Freiheit des Entscheidens, der Aufstieg der Ethik der Verantwortung angesichts dieser Schuldbelastung der menschlichen Daseinsführung – kurz: die conditio humana – beginnt erst infolge dieses Gründungsmythos. Es ist keine Erzählung des Verlustes. Das ist zwar nicht kontraintuitiv, entspricht aber nicht der dominanten Deutungstradition der Ursünde als Verlust des Paradieses. Dies liegt aber darin, dass die kirchentheologisch dominierende Tradition mit der Ursünde den Auszug als Strafe und die sich anschließende geschichtliche Daseinsart der Menschen abwertet als nunmehr immer von der Sünde geprägte Existenz. Aber die gewonnene Frei353 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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heit ist kein Mangel, kein Defizit. Es ist ein Reichtum der schöpferischen Möglichkeiten, aber, das ist richtig, eine Aufgabe mit Risiken des Scheiterns, mit der Wahrscheinlichkeit der Schuld. Die mögliche Gottähnlichkeit der Menschen ist eine Entwicklungsaufgabe, individuell wie kollektiv, wobei die Unterscheidung bereits problematisch ist, denn es läuft im Integral des Miteinanders auf die Fügung des individuellen und des kollektiven Lernens hinaus. Die mögliche Gestaltwahrheit des Menschen bleibt immer unvollkommen. In einem nicht technischen Sinne geht es um Optimierung, um die Passungsoptimalität vom Menschen einerseits und andererseits der geschichtlichen Form der sozialen, also mitmenschlichen Gesellung im großen Naturzusammenhang als ein Allzusammenhang, der auch heute noch als Kosmos (ohne Wohnstätte Gottes in abwesender Anwesenheit) verstanden wird. Es ist die große Erzählung vom Beginn des Lebens des Menschen in Freiheit und Verantwortung, ein Leben, das von Sorge des homo laborans erfüllt ist, aber eben auch von Sinnsuche und Sinnfindung des homo viator. Die Langeweile und somit Sinnleere ist vorbei. Das Leben wird nunmehr in der Metapher der Reise – mit der Odyssee als Paradigma – erfasst. Der Mensch wird zum homo creator. Mitunter wird er als homo ludens definiert. Seine Liebesfähigkeit nimmt die Form des homo donans an. Seine Abgründigkeit macht ihn zum homo abyssus. Er ist durch und durch ein vergesellschaftetes Wesen (homo socialis, homo culturalis, homo institutionalis, homo politicus usw.). Er wird zum technischen Wesen als homo faber, schafft damit Reichtum, verkümmert heute aber zum homo consumens und lässt den homo oeconomicis instrumentalis, von dessen Vitalfunktion V (hoi) weiter oben mehrfach die Rede war, zur dominanten Mutation in dieser malignen Dynamik des sozialen Wandels in der Geschichte werden. Die Dominanz kann aber die humangerechten Potenziale des homo cooperationis bzw. homo reciprocans nicht vollumfänglich austrocknen. Doch ich will hier die Liste der Homo-Epitheta nicht übertreibend erweitern. Vielmehr kommt es mir auf den angedeuteten zentralen Befund an. Der Mensch kann die Freiheit seitdem im Geist der solidarischen Liebe nutzen oder eben auch als homo abyssus. Auch das ist eben die Freiheit: die Freiheit zum Bösen hin. Das Gute und das Böse sind die zwei archetypischen Formen, die die Freiheit annehmen kann, die zwei Modi der Daseinsführung. In diesem Sinne sind das Gute und das Böse gleichursprünglich. Das Drama des Lebens als Onto-Dramatik kann auch die Form einer Tragödie (eventuell auch 354 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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als Geschehensort, wo, genealogisch rekonstruiert, die athenische Selbstverständigung und der verantwortungsvolle Gemeinschaftsbezug aus Jerusalem zusammenkommen 517) annehmen, in dem der Mensch »schuldlos schuldig« wird. Die Schuld (sowie die Sühne) ist aber nur ein Daseinsthema schon in der klassischen Tragödie der Antike und war eingebettet in die allgemeine Frage nach dem Sein, in die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Welt bzw. dem Verhältnis von Menschen und Göttern, von Charakter und Schicksal. Schuld ist nicht immer absichtsvoll »böse« Schuld. Die Unvollkommenheit des Menschen ist Teil seiner unabschüttelbaren conditio humana. Deshalb gehen die Phänomene des Verzeihens und der Vergebung in die Ethik der Kunst des wahren Lebens ein. Denn man wird das malum differenzieren müssen: Nicht als Einheit sind das Böse, das Üble, das Schlechte, der Fehler und das Fehlen zu verstehen. Und so wird man erneut zurückbezogen zu sozialcharakterlichen Fragen von Affekten und Motiven, zu Praktiken und Haltungen: Themen sind Zorn, Stolz, Täuschung, Neid, Habsucht, Frucht, Unersättlichkeit, Lust und Trägheit. 518 Nicht ganz unkontrovers wird, das hatte ich soeben etwas weiter oben angeführt, der Mensch im Paradies als Geschehens-loser Ort der Langeweile philosophisch diskutiert. Die Begrenztheit der Lebensspanne des endlichen Menschen macht das Leben zum Drama, wobei das Drama verschiedene Stilrichtungen annehmen kann. Diese Poesie des Lebens und die dahinterstehende poetologische Strategie mag unterschiedliche Formen annehmen. Aber in prinzipieller Hinsicht wird das Leben zum bedingten Kunstwerk. Es wird durch das schöpferische Tun der Menschen zum geschichtlichen Artefakt, hat ihre gegenständliche Gestalt, drückt sich also in Bildern aus, hat ihre je eigene Musik, aber nicht nur melodische Töne, sondern auch Farben und Farbtöne. So gesehen ist Sozialtheorie, ob als Soziologie oder besser noch als integrative Sozialwissenschaft eine Ästhetik des seienden Seins des homo socialis. Bei dieser großen Inszenierung auf der Bühne der Welt ist der Mensch Produzent, Regisseur, Schauspieler, Zuschauer, Bedienungspersonal, Kassenwart, Chor, Störenfried, Akteur »hinter den Kulissen«, z. B. Beleuchter und Bühnenbauer, KomWogenstein S (2011) Horizonte der Moderne. Tragödie und Judentum von Cohen bis Lévinas. Winter, Heidelberg. 518 Muth C (2012) Der Mensch zwischen Gut und Böse. Mit Texten von Martin Buber über das Böse nachsinnen. ibidem, Stuttgart. 517

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mentator, Kritiker, Ordnungskraft, Brandschutzbeauftragter, mit Blick auf das Theatergebäude: Architekt, je nach Aufführung Dirigent, Orchestermitglied etc. (immer: m/w/d). Auch in dieser theaterwissenschaftlich motivierten Metaphorologie der sozialen Wirklichkeit in der menschlichen Geschichte ist die Freiheit der Entscheidung und des Tuns insgesamt an die Verantwortungsstruktur der Daseinsführung gebunden. Und wieder habe ich durch mein Umkreisen und meine Annäherungen an das Kernproblem die transzendentallogische Bedeutung des Integrals des Miteinanders herausgearbeitet. Folglich ist jegliche kommunikative Verständigungspraxis – und bekanntlich ist NichtKommunikation auch eine Kommunikation – in diese spannungsvolle Polarität von Freiheit und Verantwortung eingelassen. Polarität 519 ist hierbei eine Struktureigenschaft des Seins schlechthin, aber eben auch Entwicklungsaufgabe in der Ontogenese. Daher kann keine Reflexion des Seienden der sozialen Wirklichkeit ohne die bipolare Skala von Gelingen und Scheitern im Lichte ontologischer Wahrheit auskommen. Telos der Entelechie der wahren Form der Daseinsführung des Menschen ist die Idee der Personalisierung (48), deren Träger, die Person, die die unbedingte Würde als natureigenes Merkmal aufweist, ein Merkmal, das uns heilig sein sollte. Der angedachte Bund ist eine Eidgenossenschaft von Menschen, die den Glauben an dieses Telos miteinander teilen. Die wahre Form der personalen Freiheit ist demnach die Genossenschaft.

IX. »Stern der Erlösung« Ist die Idee des Bundes wahlverwandt zum »Stern der Erlösung«? Ich denke, die Idee des Bundes ist die säkularisierende Ablösung der Mystik des »Stern(s) der Erlösung«. Kognitionspsychologisch steht, so argumentierte ich, die Wirklichkeit der Idee Gottes außer Frage. Wir beriefen uns auf das Thomas-Theorem 520. Und wenn Menschen

Blendinger H (1946) Polarität als Weltgesetz. Rainer Wunderlich Verlag (Hermann Leins), Stuttgart – Tübingen. 520 Merton R K (1995) Soziologische Theorie und soziale Struktur. De Gruyter, Berlin. Dazu auch Lenk H (1971) Philosophie im technischen Zeitalter. Kohlhammer, Stuttgart u. a.: S. 100 f. 519

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in ihrem Glauben diese Idee in anthropomopher Gestalt figürlich verdichten, Ikonenstreit hin oder her, so steht dies den Menschen frei. Doch steht es auch den Menschen frei, sich auf ihre aktuelle Stufe der sozialen Evolution zu berufen und solche vermeintlich kindisch anmutenden naiven Bilder zu verwerfen und zu argumentieren: Weil wir die Gesetze des Allzusammenhangs (noch) nicht verstanden haben, so ist diese Tatsächlichkeit der unergründeten Geheimnisse des Lebens keine Grundlage für einen zwingenden Gottesbeweis. Allerdings ist logisch das Gegenteil auch nicht unmöglich. Alpha-Fehler und Beta-Fehler sind hier also jederzeit zu bedenken. Meine Argumentation der Philosophie der Liebe und des eidgenössischen Bundes des Glaubens an diese Grundlage der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung vertritt keine Lehre vom »Stern der Erlösung« 521. Und zu dem »Tor« 522, das den Übergang des endlichen zum unendlichen Sein 523 ermöglicht, habe ich keinen Weg gefunden. Dieser Weg und somit das Tor bleiben mir verschlossen. Allerdings muss ich betonen, dass die Interpretation von Franz Rosenzweigs Hauptwerk schwierig ist und ausgelegt werden muss. Ein Aspekt, der zu mir und meiner vorliegenden Argumentation kongenial ist, ist dessen Kritik an seinem Freund Martin Buber, wonach dieser die Welt als ein »Es« um das dialogische »Ich« idealistisch aufgebaut habe. Erneut lasse ich verwandte theologische Kritiken – etwa als Kritik am prometheischen Idealismus bei Hans Urs von Balthasar 524 – zur Seite. Doch eine andere Einsicht scheint uns hier wichtiger: Gemeinsame Freiheit ist Ausdruck von und zugleich verwurzelt in der Liebe. Insofern ist die Angst vor der Freiheit und damit die Unfähigkeit, sich selbst und den Mitmenschen zu lieben zu betonen. Verschiedene Typen von gestörten Bindungserfahrungen führen zur Bindungsunfähigkeit. Dieser bindungspsychologische Befund ist für die Wirklichkeitschancen des Bundes von grundlegender erfahrungswissenschaftlicher Bedeutung. Die humanistische Idee der Paideia, von der mehrfach die Rosenzweig F (1988) Der Stern der Erlösung. (1921). Suhrkamp, Frankfurt am Main. 522 Peguy Ch (1993) Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung. Johannes Verlag, Freiburg i. Br. 523 Stein E (1950) Endliches und ewiges Sein. Herder, Freiburg i. Br. 524 Balthasar H U von (1937–1939) Apokalypse der deutschen Seele. 3 Bde. Pustet, Salzburg – Leipzig. 521

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Rede war, ist sicherlich einerseits ein fundamentales Element der Tugendlehre der Polis, andererseits verweist sie als Ethik des Politischen auf unübergehbare psychodynamische Problemdimensionen: Wie soll ein soziales Miteinander gelingen (14; 15; 16; 49), wenn die Gesellschaft aus charakterneurotisch verstiegenen Menschen besteht? Und dennoch: Trotz dieser kritischen Betonung der Differenz sprach auch ich von Leitsternen. Und trotz einer langen vorauslaufenden Genealogie beginnt meine Zeitzählung mit 1789. Es war bekanntlich eine Geburt der Freiheit mit Schrecken. Denn Freiheit kann nicht erzwungen werden. Sie muss von allen Menschen gewollt werden. Eine kritische Psychoanalyse 525, an Erich Fromm 526 ist zu erinnern, sprach von der Angst vor der Freiheit. Diese begründete letztendlich auch die Theorie der autoritären Persönlichkeit von Adorno. 527 Der Terror frisst seine Kinder, bevor diese überhaupt geboren sind. Doch die Idee kann von diesem Schatten getrennt gedacht werden. Freiheit, Gleichheit, Solidarität: Das sind verbindliche Werte, die im Glauben an die Unbedingtheit der menschlichen Würde als Kern der Personalität als Telos der Geschichte wurzeln. Die Gleichheit dient als Chancenstruktur dem finalen Ziel der Freiheit, und diese Produktionsfunktion hat eine Ressource zur Voraussetzung: die Solidarität, also die Liebe zum Mitmenschen, die mitmenschliche Liebe. Da diese aber nicht eine Frage generöser Moral ist, sondern geprägt ist von einem fundamentalen Rest, der nicht in der Reziprozität des Gebens und Nehmens aufgeht, ist es die Idee der Unverfügbarkeit der Unbedingtheit des Gegeben-Seins des Anderen, der uns hier zu denken gibt. Diese für uns letztendlich unverfügbare Figur des Mitmenschen hat aus sich heraus eine Würde, die zu respektieren ist; er bekommt sie nicht. In der sprachlich vermittelten, insofern im Sprechakt performierten Reflexion dieses Apriori des unbedingten Selbst-schon-Habens als ein Sein erhält er als nochmalige, eben reflexive Bestätigung diese Würde zugesprochen. Aber dies ist ein ritueller Wiederholungsakt, eine Zeremonie liturgischer Wirklichkeitsproduktion durch Sprechakte, die aber nur bestätigen, was objektiv

Vgl. auch Bock W (2018) Dialektische Psychologie: Adornos Rezeption der Psychoanalyse. Springer VS, Wiesbaden. 526 Fromm E (1993) Die Furcht vor der Freiheit. dtv, München. 527 Klassisch: Adorno Th W (2020) Studien zum autoritären Charakter. 12. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Dazu auch Benicke J (2016) Autorität und Charakter. 2., überarb. Aufl. Springer VS, Wiesbaden. 525

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an sich immer schon da war und ist. Das ist die heilige Ordnung der Freiheit, die den Menschen in seiner Würde ausmacht. Das habe ich in der vorliegenden Abhandlung zu entfalten versucht, in immer wieder neuen Anläufen, Formulierungen, Zugangsweisen und Umrundungen – eine Sequenz produktiver Redundanz. Und dennoch spüre auch ich selbst einen Rest an Unsicherheit, ob ich die gestellte Aufgabe richtig angegangen bin, ob ich wirklich hinreichend gut begründet eine nachhaltig vertretbare mögliche Sicht auf das Problem einer onto-anthropologisch fundierten rechtsphilosophischen Skalierung der Erfahrungswelt des seienden Seins als Neuauflage einer Kritischen Theorie ausgearbeitet habe. Das Denken einer heiligen Ordnung als Bund der Freiheit: Das ist für mich der äußerste Punkt, bis zu dem ich gehen kann, um im säkularisierten Zeitalter der Idee des sozialen Rechtsstaates als Garant der Freiheit die Rolle des Glaubens in der psychodynamischen Welt der Strukturschichtung von Geist, Seele und Körper zu verorten. Es wäre ein verstümmelter Mensch der auf die Ratio reduzierten Moderne, wenn dies als politisch angstmachende Irrationalität gedeutet werden würde. Seit der bahnbrechenden Studie von Kurt Hübner 528 wissen wir, dass der Mythos nicht irrational ist: Er hat seine eigene Wahrheit. So muss die große Erzählung von der personalen Würde als Telos der Geschichte als Stiftungsmythos der Moderne in einem Bund besiegelt werden. Der Glaube in seiner richtigen Richtung ist nicht der Beginn der Erosion einer deliberativen Demokratie, sondern ihre transzendentale Ermöglichung. Ich komme auf meine weiter oben autobiographisch eingespeiste Erinnerung zurück, wonach mir das Werk von Jürgen Habermas immer etwas und auch heute noch unzugänglich blieb. Es ist mir zu kalt. Zu kopflastig gesteuert. Die ganze Kommunikationszentriertheit erscheint mir geradezu technizistisch. Deshalb sprach ich von der demiurgischen Maschine. Es fehlt mir die Ganzheit des Menschen der philosophischen Anthropologie. Und folglich fehlt mir der Mythos. Die universalste Sprache wird ausgeklammert: die Musik. Und dies, obwohl gerade die Musik archetypisch das Spektrum der menschlichen Kulturdramatik umfasst: die apollinische Lyra und die dionysische Flöte. Handelt es sich bei dieser Umgehung der Philosophie der Leiblichkeit um eine protestantische Körperfeindlichkeit? Ist Hübner K (2013) Die Wahrheit des Mythos. 2. Aufl. Alber, Freiburg i. Br. – München.

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diese Umgehung eine Verdrängung, die zu einer Verschiebungsleistung mit Fokus auf die geradezu verstiegene Fixierung auf die kommunikative Rationalität führt? Wenn dies der Wesenskern der unvollendeten Moderne ist, die Habermas immer noch vollenden will, dann graut mir vor diesem Wahn der Ratio. Wo bleibt denn dann die kolonialisierte Lebenswelt? Wo bleibt das konkrete Leben? Wo bleibt die soziale Wirklichkeit des Alltags? Wo bleiben die Mythen des Alltags, die aber bei mir noch im Rahmen großer Erzählungen auf die Bearbeitung ihrer ontologischen Wahrheit warten? Wo bleibt der Mensch zwischen Angst und Sorge sowie Vertrauen und Liebe? Wo bleibt der archaische Mensch im Kleid der Moderne? Jürgen Habermas knüpfte in seiner frühen Zeit ja noch an derartige Fragen im Kontext der Theorie der Lebenswelt an. Der aktive Mitläufer des Dritten Reichs 529, Erich Rothacker 530, arbeitet maßgeblich an einer entsprechenden Philosophischen Anthropologie 531 nach 1945 mit. Wo müssen wir den Menschen nach wie vor aus seinen intra-individuellen Tiefengrammatiken seiner psychodynamischen Arbeitsapparate heraus verstehen? Gewiss: Alle Menschen müssen zur Sprache kommen. Das ist ein Lied, das die Melodie der Philosophie der Inklusion performiert. Aber die Spuren der Tradition der Gründergeneration der Kritischen Theorie, die noch die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte, sind längst weggewischt worden. Denn die Idee, den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen, war das modallogische Denken einer Ontologie der geschichtlichen Hoffnung. Das gilt nun als romantisch. Als Metaphysik, die nicht zur Moderne gehört. Die Moderne sei nach-metaphysisch. Dann wäre sie allerdings tatsächlich nach-humanistisch. Die Spuren einer modernen humanistischen Ontologie sind verflogen: Vom deliberativen Winde verweht: Vom Winde einer reinen Konsensdemokratie als Gemeinwohlproduktionsmaschine, in der der Diskurs ein algorithmisches Verfahren ist, verweht. Wie ist diese meine Empörung zu verstehen? Ist es noch Philosophie, ist es Literatur? Darf in der Wissenschaft keine Musik

Dazu in Stöwer R (2012) Erich Rothacker: sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen. V&R Unipress, Göttingen. 530 Rothacker E (1966) Die Schichten der Persönlichkeit. 7. Aufl. Bouvier, Bonn. 531 Fischer J (2022) Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Neuauflage. Alber, Freiburg i. Br. – München. 529

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sein 532, darf sie nicht die Dinge zum Tanzen 533 bringen? Oder, wenn man dialektisch denkt, was dem Umkreisen eines Problems als Annäherung in abwägender Art, auch den Ambivalenzen auf der Spur zu sein, eigen ist: Darf der sozialen Wirklichkeit der menschlichen Geschichte ihre eigene Melodie vorgespielt werden, wie es einst Karl Marx formulierte? Wieviel melancholische Romantik des Träumens darf Wissenschaft von der sozialen Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten als Modalitätsform haben? Wie ist (vgl. auch in 60; 70) die Eule der Minerva denn auszulegen? Umkreist sie (dann ist sie eher ein Geier, der Hyäne analog) nur den Abgesang der Epoche und zwingt Philosophie nur zur rekonstruktiven Nachschau? Oder verweist die Abenddämmerung nicht auf die Nacht 534 als Geburtsstunde des Neuen, die sodann mit der Morgenröte beginnen mag. Ich denke, die nach-metaphysische Theorie der Anerkennung in einer Welt der deliberativen Demokratie ohne Metaphysik ist seinsvergessen, seinsverlassen, ontologisch obdachlos. Wie sonst sollte diese Generation der Kritischen Theorie, die optimistisch um eine Philosophie der Anerkennung auf der Basis eines herrschaftsfreien Diskurses kreist, mehr sein als eine veränderte Neuauflage der bürgerlichen Theorie der eigentumsrechtlichen Interessensgesellschaft, wenn sich keine überpositive Rechtslehre zur Grundlage der vernünftigen Bahnung der verstandesmäßigen Zweckrationalität (70) in Richtung auf einen heiligen Bund hin mitdenkt und einbaut? Ein herrschaftsfreier Diskurs setzt ja nicht nur die kompetenzzentrierte Fähigkeit, sondern die tugendliche Willigkeit dazu voraus. Und genau dies ist die Idee der sakramentalen Liturgie des Bundes: Wenn man dies mit Blick auf die Probleme der »spill-over«-Externalitäten denkt, dann ist diese Idee eigentlich nur der Glauben an die Unabdingbarkeit des durch die Brille von Levinas gelesenen Sittengesetzes: Ich darf mich nur dann und insoweit selbst frei entfalten, wie dadurch ursächlich das gleiche Grundrecht des Anderen, der schlicht vorgängig bereits gegeben ist, nicht unterlaufen, gemindert, geschäOtto W F (1955) Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens. Diederichs, Düsseldorf – Köln. Ferner: Peterich, E (1947) Das Maß der Musen. Überlegungen zu einer Poetik. Herder, Freiburg im Breisgau. 533 Vietta E (1938) Der Tanz. Eine kleine Metaphysik. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main. 534 Friese H-G (2011) Die Ästhetik der Nacht. Eine Kulturgeschichte. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg sowie Bronfen E (2008) Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. Hanser, München. 532

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digt, geschändet, genichtet wird. Aber dies muss der Mensch auch in intrinsischer Authentizität bejahen. Da nun auch dieser vorgängige, unverfügbare Andere selbst in die Rolle des Subjekts des Haben-Wollens 535 als Ökonomik der Begierde der Selbstentfaltung durch Objektbesetzungen metamorphotisch 536 transgressiert, ist auch er zur Einhaltung des Respekts vor der Existenz des Anderen verpflichtet. Dadurch wird eine die heilige Menschenrechtsordnung unterlaufende Logik »andere Länder, andere Sitten« unterbunden, auch die Idee, die eigene Ehre wäre als Teil der Würde auch dann noch zu rechtfertigen, wenn dies die Unverfügbarkeit des Anderen (z. B. im Fall der männlichen Gewalt als Züchtigung der Frau, im Fall der Kindeswohlgefährdung als Teil des natürlichen Rechts der Eltern auf Erziehung der Kinder usw.) erodiert. So denken wir mit Kant die Bedeutung des überpositiven Rechts an, was später Gustav Radbruch als menschenrechtliches Unrecht geltenden Rechts entlarven konnte. Der reine Rechtspositivismus bleibt also höchst vulnerabel für die geistige Korruption durch einen Autoritarismus 537 und eines legalen, aber eben nicht im Sinne ontologischer Wahrheit legitimen Mehrheitstotalitarismus. Ich will nicht auf die These von der Tyrannei der Mehrheit bei Alexis de Tocquville 538 eingehen. Das Grundrechtsdenken zeigt ja gerade, dass die Maximierung des Glücks der größten Zahl ethisch nicht ohne Vorbehalte im Sinne der Problematisierung von Ambivalenzen vertretbar ist. Doch liegt das Problem insgesamt komplizierter dar. Auch eine Tyrannei der Minderheit ist denkbar. Schnell wird evident, warum der Traum im Votum der Einstimmigkeit liegt, also dort, wo sich kein Veto-Spieler (m/w/d) mehr artikuliert. Transaktionskostentheoretische Überlegungen zur Frage optimaler Zustimmungsregeln verpuffen dort, wo es um die Unvereinbarkeit der Interessen als Weltbilder geht, also dort, wo negative Externalitäten vorliegen, die rechtsphilosophisch

Schaaff H (2021) Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug. Metropolis, Marburg sowie Ungericht B (2021) Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit. Metropolis, Marburg. 536 Buxton R G A (2009) Forms of Astonishment: Greek Myths of Metamorphosis. Oxford University Press, Oxford. 537 Frankenberg G (2020) Autoritarismus. Verfassungstheoretische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 538 Mayer J P (1955) Alexis de Tocqueville. Prophet des Massenzeitalters. 2. Aufl. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 535

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von erheblicher Relevanz sind. Man kann nicht addieren, was unvereinbar ist. Dann ist Selbsttranszendenz im Lichte der Rücksichtnahme durch Demut als Selbstbescheidenheit gefragt. Für die Wohlfahrtsökonomie wäre dies das Thema des Präferenzwandels, das dort wegen der Fetischisierung der Nicht-Diskursivität des normativen Individualismus erst gar kein Thema wird: de gustibus non est disputandum. Doch progressive Wahrheitsspiele, die nicht zur regressionsanfälligen Stagnation des latenten Bürgerkrieges führen sollen, folgen der Logik der Suche neuer, integrativer Wege. Dass dieses durch die Brille von Levinas gelesene Sittengesetz von Kant argumentationslogisch weitgehend identisch ist mit dem Pareto-Kriterium in der ökonomischen Wohlfahrtsökonomik, aber sodann anspruchsvoller kompatibel ist mit Rawls-Lösungen als Teilmengen aller Pareto-Lösungen und übereinstimmt mit der Spiegelneuronen-getriebenen Sympathie bei Adam Smith, soll hier nur angemerkt werden (und ist von mir in verschiedenen Publikationen [vgl. vor allem in 31] dargelegt worden). Es ist ein Armutszeugnis der Mainstream-Ökonomie, dass sie von diesen komplexen Zusammenhängen zwischen Wohlfahrtsökonomie, Ethik und einer Rechtsphilosophie des Art. 2 GG keine Ahnung hat. Denn sonst wüsste sie, dass eine Ökonomie immer eine sittlich eingebundene Disziplin sein muss, weil sie es faktisch immer schon ist, auch dann, wenn sie sich verweigert. Um das Problem etwas mehr zu verdeutlichen, sei ein Exkurs gestattet.

Exkurs: Das Ideologem einer oeconomica pura Die Ökonomie legt ihr Erkenntnisinteresse sehr eng und auch in dieser Blickverengung problematisch aus. Sie ist auf die Effizienz der Allokation mit Blick auf die Ikonik der Sozialproduktdynamik fokussiert. Die Einkommensverteilung, die dabei aus den Investitionen im Kontext der Interdependenz von Vermögens-, Güter- und Arbeitsmärkten und der staatlichen Geld- und Finanzpolitik im EU-Regimegefüge resultiert, wird als politisches Problem immer erst sekundär zum Thema und gilt als nicht wissenschaftlich zu verhandeln, weil Fragen gewünschter Einkommensverteilung Wert-abhängig seien. Aber es werden ja nicht nur Einkommen, sondern, ressourcentheoretisch komplexer gedacht, Lebenslagen verteilt. Und auf dieser Sozialstruktur der Lebenslagenverteilung beruht jede Allokation, aus der 363 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

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wiederum sozialstrukturelle wie auch sozialraumstrukturelle Lebenslagen resultieren. Und insofern ist die Allokationspolitik der Wirtschaft selbst eine Verteilung von Entwicklungschancen der Menschen in ihrer Lebensführung. Die heute sich erneut herausgebildete Situation des privaten Reichtums bei gleichzeitiger Armut an öffentlich relevanten Gütern (in Bezug auf viele Bereiche der Infrastruktur, in Bezug auf das Bildungssystem, in der Wohnraumentwicklung, in der Entwicklung regionaler Disparitäten, in der Kinder- und Jugendhilfe ebenso wie in der Langzeitpflege im hohen Alter usw.) verweist uns auf die investive Allokationsstruktur als Verteilungsstruktur von Entwicklungschancen. Einkommensverteilung ist hierbei ein Korrelat, doch geht es vielmehr um soziale Mechanismen der Lebenslagenverteilung mit Differenzierungen, die Formen sozialer Ausgrenzung und diskriminierender sozialer Ungleichheit annehmen. Und wenn Effizienz nicht nur auf eine triviale Minimax-Regel für Input-Output-Relationen in der technischen Produktionsfunktion reduziert wird, so geht es in einer Volkswirtschaft immer um die Kosten-Effektivität, womit der politische Charakter der Volkswirtschaftslehre überaus deutlich wird, denn für Effektivitätsüberlegungen müssen gesellschaftspolitische Ziele definiert werden im sozialen Konstruktionsprozess der politischen Diskurse einer deliberativen Demokratie: Was ist Lebensqualität eines guten Lebens? Wohlstand für was? Wohlstand für wen? Der Effizienzbegriff verdeckt so das Apriori des genuin 539 politischen Charakters des Wirtschaftens. Und der Allokationsbegriff verdeckt die Chancenstrukturverteilung von Investitionspolitiken. Nicht nur die Theorie der sozialen Kosten, sondern ein ganzer Katalog von Aspekten ist anführbar, um die These zu problematisieren, das Wachstum des Sozialprodukts sei ein hinreichender Indikator für Wohlfahrt (vgl. in 2; 62). Die Ökonomie zieht sich in unhaltbarer Art und Weise aus der politischen Philosophie, aus der Ethik und aus der Frage der Kulturstile des Wirtschaftens heraus, indem sie mehr oder weniger nach wie vor die Position vertritt, wenn das Wachstum hoch genug sei, könne man ja aus diesem Reichtum heraus alle Probleme lösen. Doch die ökonomische Entwicklung ist nur eine notwendige Voraussetzung für die soziale Wohlfahrt, keine hinreichende Bedingung. Und die Art

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Sedláček Th (2013) Die Ökonomie von Gut und Böse. Goldmann, München.

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und Weise der Erwirtschaftung der ökonomischen Entwicklung ist selbst ein Problem. Der ökonomische Imperialismus der im Kern immer noch neoklassischen Mainstream-Ökonomie erweist sich für die in der sozialen Wirklichkeit betroffenen Menschen als schmerzhafte Blamage, denn sie ist ohne jegliche philosophische Selbstvergewisserung auf angemessener, d. h. tief denkender intellektueller Höhe. Das Zivilisationsmodell, das in meinem Essay an die Oberfläche drängt, ist auch ein das ökonomische Subsystem endogenisierendes Kulturmodell des guten Lebens auf der Basis des sozialen Rechtsstaates, der die sittliche Einbettung des Zusammenlebens erfordert. Davon kann man die Ökonomie nicht freihalten. Gegenwärtige Allokationsentscheidungen müssen mit Blick auf die negative Externalitätsstruktur nachhaltig versittlicht werden. Die Wirtschaft hat den Menschen in ihrer Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung zu dienen. Das gilt für alle Märkte der Privatwirtschaft und bedarf in öffentlich relevanten Segmenten wie die der Infrastruktur eine gemeinwirtschaftliche Ausrichtung (18; 45; 47; 52; 59; 63). Die Demokratisierung der Wirtschaft ist daher ein Fundamentalthema der deliberativen Demokratie, die die Gesellschaft als Interpenetrationssystem von Wirtschaft, Politik, Kultur und Person zum Gegenstand ihrer gestaltenden Diskurse hat. Zurück aus dem Exkurs. Diese ganze Deduktion der reziproken Unverfügbarkeit des jeweils Anderen setzt eben nicht am »moralisch generös gebenden« und in diesem Sinne pflichtbewussten Ich an. Das wäre die zitierte cartesianische Monade: Ich gebe, also bin ich ein Ich und konstituiere moralisch das Du. Von Levinas her gesehen, müsste es lauten: Der Andere ist schon da, bevor ich überhaupt moralisch denke. Ich erkenne (als kreative Mimesis) respektvoll an, dass er bereits alle seine Rechte als Mensch besitzt. Ich brauche sie (besser: ich habe sie) ihm erst gar nicht schenken. Man kann einem Menschen nicht schenken, was er von Natur aus immer schon längst hatte. Gefordert wird die Demut des Ichs angesichts der Aura des heiligen Anderen. So macht sich das cartesianische Subjekt der Moral eher lächerlich. Er kommt immer zu spät und glaubt, der moralische Ordnungsgründer zu sein. Ich habe im Zuge der Ausarbeitung gemerkt, dass ich viele Gedanken, die ich mir immer wieder über das Problem der hinreichend angemessenen Rezeption des polyphonen und deshalb so überaus schwierigen Werkes von Nietzsche gemacht habe, mir nur 365 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Bausteine des weiteren Umkreisens des Zentrums

verständlicher geworden sind: Levinas tritt hier eine Lösung eines gordischen Knotens an 540: Wie ist Ethik jenseits generöser Moral möglich? Wie kann eine Ethik gedacht werden 541, die in die ontologische Lücke nach dem Tod Gottes tritt? Welchen Menschentyp – und in diesem Sinne »Übermensch«, weil er zu dieser Lückenfüllung in der Lage sein soll – bedarf die noch ausstehende Zivilisation? Wie bekommen wir die synthetisierende Konvergenz der totalen Selbstentfaltung als Selbstüberstiegenheit des Menschen bei Nietzsche mit der Selbstzurücknahme des Menschen angesichts der Verantwortung für den vorgängigen Anderen gedanklich hin? Eine Antwort wäre: Es wäre eine übermenschliche Leistung, wenn sich das Subjekt des Willens dazu hinsteigen könnte, sich angesichts des Anderen zurückzunehmen, damit es selbst auch zur Freiheit kommt. Das ist keine generöse Moral, aber auch nicht der solitäre Mensch, der nicht als gefesselter Prometheus, sondern als im Integral des Miteinanders ermöglichter Prometheus in Geborgenheit zur Freiheit käme. Die Menschen müssen eidgenössisch einen Bund eingehen, damit ein sozialer Frieden einkehrt. Eine Ordnung des sozialen Friedens dient der Freiheit der Gesellschaftsmitglieder, ist aber ohne soziale Gerechtigkeit nicht möglich. Der einzige Selbstzweck, als zweckloser Zweck, ist die Freiheit, die allerdings auf eine soziale Gerechtigkeit als Funktionsforderung des Baldachins des sozialen Friedens angewiesen ist. Das ist der alles übergreifende und integrative Mythos, der immer wieder remythisierend den Menschen antreibt, aber nicht einfach nur dessen Denken, sondern dessen Glauben. Die Idee der Gabe geht also nicht in Reziprozität auf. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein Kern gelingender Sozietät nicht in der Ordnung der Reziprozität des Gebens und Nehmens begründet wäre. Das wäre falsch, habe ich doch die Form der Genossenschaft und somit den Mutualismus als wahre Form der Daseinsführung des sozialen Miteinanders bezeichnet. Nur ist der Ausgangspunkt dieser kulturellen Grammatik des Sozialen nicht das Ich, sondern die vorgängige unbedingte Gegebenheit des Anderen. Das ist nicht trivial und nicht nur eine Verdrehung ohne tiefe Bedeutung. Diese Umkeh-

Georg J (2012) Ethik des Leibes: Nietzsche und Lévinas. Perspektiven der Philosophie 38 (1): S. 343–361. 541 Pfeuffer S (2008) Die Entgrenzung der Verantwortung. Nietzsche – Dostojewskij – Levinas. De Gruyter, Berlin sowie Piorkowski Chr D (2012) Ethik des Selbst vs. Ethik am Anderen. Kritik und Perspektiven bei Nietzsche und Lévinas. Logos, Berlin. 540

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»Stern der Erlösung«

rung ist post-cartesianisch und eine anti-prometheische Art, um die eigene Freiheit rückzubinden an die emphatische Rücksichtnahme als Glauben an die Bundesgrundlage der Miteinanderfreiheit, sofern sie als Bund in der Miteinanderverantwortung gründet. Im Bund und damit im Glauben an den Bund gründet die Freiheit des Individuums als Person. Die, wenn sie nachhaltig inkludierend für alle Gesellschaftsmitglieder gelten soll, nur als gemeinsame Freiheit einer uno actu-Polis konsistent denkbar ist.

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C. Ende und Ausblick

Am Ende sollte ein Fazit (C. I) stehen. Oftmals mag es nicht gut gelingen, wenn man seine ausschweifenden Verästelungswege selbst noch nicht ganz im Griff hat, weil viele Bausteine und somit Dimensionen und Aspekte des Themenfeldes ausgeführt worden sind, aber dennoch Fragmentierungen im Denken sichtbar sind, ohne das Bild vom Torso 1 zu stark einzubringen. So soll ein Fazit in größtmöglicher Klarheit gezogen werden? Es soll also versucht werden. Einen wirklichen Schluss im Sinne eines Nachwortes nenne ich »Zurück zu den ergänzenden Anläufen zum Zugang« (C. II). Schließlich wurden in den Vorbemerkungen einige Versprechungen verborgen in Aussicht gestellt. Doch fehlt es noch an einem Ausblick. Alle Mängel sind sodann dort nicht anzuführen, sondern pauschal als Gegenstand zukünftiger Publikationen als Defizitbewirtschaftung im Fortgang des Denkens und Argumentierens zu deklarieren. Ich nenne den Abschnitt des Ausblicks aber nicht im Zuge des langweiligen Rituals einen Ausblick, sondern »Eine De-Chiffrierung« (C. III). Denn die Reise von Frankfurt über Athen als Rückkehr nach Jerusalem ist im Verlauf des Themas nie in umfassender Art und Weise explizit ein Thema gewesen, sondern immer implizit und etwas kryptisch. Aber offensichtlich hat diese Reise eine provozierende Symbolik codiert. Die Provokation soll in ihrer riskanten Überspitzung am Ende des Essays nochmals formuliert werden. Die Kernidee des Bundes ist auf den Begriff zu bringen. Der Bund ist die durchgängige Hintergrundidee, um mit der Reiseroute der Kritischen Theorie einen Kurswechsel nahezulegen.

Dieser Kategorie nutze ich im Rückgriff auf den abendlichen Talk mit Andreas Kruse im Rahmen der Benediktbeurer Zukunftsgespräche im November 2021. Vgl. dazu Care Invest 15 (Nr. 24) 2021: S. 1 ff.

1

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Ende und Ausblick

I.

Fazit

Ich bin nicht überzeugt davon, dass eine deliberative Demokratie sich selbst erhalten und nachhaltig in eine Zukunft führen kann, wenn sie nicht eingesteht, dass sie der metaphysischen Grundlage eines Bundes bedürftig ist. Wenn man so will, kann man sagen, dass sogar und gerade der moderne Mensch einer Anleihe in der alttestamentlichen Idee des Bundes bedürftig ist, ein Bündnis nicht wieder mit Gott, denn der ist tot, sondern mit der Idee der personalen Würde der menschlichen Idee als Anker jeder Gesetzgebung der Politik. Es reicht, um mit der Ethik als Erste Philosophie bei Levinas 2 zu denken, nicht hin nur zu argumentieren, das Recht sei Voraussetzung wie Folge der deliberativen Demokratie. 3 Recht ist nicht Recht. Es gibt ein transzendentales Fundamentalrecht und sodann sekundäres Recht. Die deliberative Demokratie muss das fundamentale Recht auf ein Recht 4 der personalen Würde als konstitutionelle Axiomatik ohne Diskurs für sich voraussetzen. Zur Umsetzung und auch in vielerlei anderer Hinsicht erzeugt die Demokratie ein Recht, über das man sodann kontrovers diskutieren kann, aber eben nicht über die substanzielle Heiligkeit der Personalität als Wesenskern der sakramental-liturgischen Heiligkeit der Grundlage des Bundes. Dieses Fazit hat einen Seitenaspekt. Eine tiefe Dankbarkeit im Sinne der geistigen Verwurzelung (auch und gerade des Christentums) an das Judentum 5 kristallisiert sich heraus. 6 Neben der Wurzel der antiken Polis der alten Griechen, und damit niemand sich diskriDazu auch Weber K (2013) Emmanuel Levinas: Ethik und Politik. Versuch über die Politik auf der Grundlage der ethischen Beziehung der Nähe. Akademische Verlagsgemeinschaft München, München. Ferner Hirsch A & Delhom P (Hrsg) (2005) Im Angesicht der Anderen. Levinas’ Philosophie des Politischen. Diaphanes, Zürich. Überaus deutlich: Krewani W N (2006) Es ist nicht alles unerbittlich. Grundzüge der Philosophie Emmanuel Lévinas’. 2. Aufl. Alber, Freiburg i. Br. – München. 3 Gerstenberg O (1997) Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 4 Förster J (2009) Das Recht auf Rechte und das Engagement für eine gemeinsame Welt – Hannah Arendts Reflexionen über die Menschenrechte. In HannaArendt.net. Zeitschrift für politisches Denken 5 (1). https://www.hannaharendt.net/index.php/ han/article/view/146: Tag des Zugriffs: 30. November 2021. Ferner Anlauf L (2007) Hannah Arendt und das Recht, Rechte zu haben. MRM — MenschenRechtsMagazin (3): S. 200–304. 5 Goodman M (2021) Die Geschichte des Judentums. Glaube, Kult, Gesellschaft. 2. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart. 6 Taubes J (2007) Abendländische Eschatologie. 2. Aufl. Matthes & Seitz Berlin. 2

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Fazit

miniert fühlt, könnten wir auch über den Beitrag der Kelten, der Germanen, der Etrusker und den vielen Wahlverwandtschaften im globalen Raum, in dem ich mich nicht gut auskenne, herausarbeiten, verdanken wir dem altorientalischen, vorderasiatischen, sodann aber das werdende Europa prägenden Jerusalem diese Tradition des Denkens: Hier wurzelt die genossenschaftliche Idee der sittlich geordneten Freiheit. 7 Bei Levinas steht jüdische Theologie für ein »Aufstehen gegen Ungerechtigkeit«. 8 Doch heute, nach der irreversiblen Aufklärung, handelt es sich nicht mehr um einen Bund zwischen Gott und den Menschen, sondern zwischen den Menschen, die sich allerdings zur Fundierung auf die ewige Idee der menschenrechtlichen Würde berufen müssen. Und diese Idee sollte ihnen in gottloser Weise durchaus heilig sein. Ein Bund ist kein Vertrag. Es ist ein Eid auf einen kollektiv geteilten Glauben moderner subjektiver Individuen, die aufgeklärt und relativ souverän sind, aber wissen, dass sie sich binden müssen, d. h., einbinden müssen in die Idee des gelingenden Miteinanders. Die Alternative ist ein Scheitern, dessen Eskalation bis hinein in eine erneute Barbarei – worüber auch Henry 9 handelte – führen kann. Das Problem des »Entitlement« erweist sich in der Folge dieser Überlegungen als mehrschichtige rechtstheoretische Problematik: Der Mensch hat ein Recht darauf, Recht zu bekommen. Es geht also um ein Recht auf Recht. Die beiden Rechtsebenen sind aber zu unterscheiden. Der Mensch hat ein Recht darauf, sein natürliches Menschenrecht als Recht anerkannt und somit bestätigt zu bekommen. Das fundamentale Grundrecht hat er immer schon von seinem Sein her, muss es aber in der Welt des Seienden als positives Stigma dennoch erst erhalten, also bekommen, aber nicht primärkonstitutiv geschenkt, sondern sekundär bestätigt bekommen. Er hat ein sekundäres Recht auf sein primäres Recht a priori. Und genau dies ist die Grundlage deliberativer Demokratie. Erst auf dieser Grundlage kann die deliberative Demokratie über allerlei Dinge gesetzesbildend verhandeln. Otto E (2002) Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden. 8 Levinas E (2005) Anspruchsvolles Judentum. Talmudische Diskurse. Neue Kritik, Frankfurt am Main. 9 Henry M (2016) Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Alber, Freiburg i. Br. – München. Dazu auch Schimmer Th (2013) Krise der Kultur. Traugott Bautz, Nordhausen. 7

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Ende und Ausblick

Damit wird im Theoriegebäude der Geltung 10 eine Fundamentaletage eingezogen, wonach also die transzendentale Wertebasis von höchster Kulturbedeutung nicht Teil des ergebnisoffenen Diskurses sein sollte, sondern die metaphysische Wahrheitsbasis des sozialen Rechtsstaates darstellen muss. Dass man heute über den Universalismus der Menschenrechte 11 und seines vermeintlichen Eurozentrismus mitunter in post-kolonialer Kritik dekonstruktiv räsoniert, verleiht dem Theorem der »repressiven Toleranz« von Norbert Marcuse eine Renaissance. So wäre der Werterelativismus auf dem Weg zu einem »Anything goes«-Nihilismus ohne sittlichen Anker, der zur Verantwortung 12 zwingt. »Die Einbeziehung des Anderen« 13 wird nicht ohne ontologische Würde in einer post-metaphysischen 14 Philosophie der gegenseitigen Anerkennung funktionieren. Es gibt einen Rest der Gabe, die nicht in Reziprozität aufgeht. Und diese Gabe, die einst als Ur-Liebe des längst verstorbenen – hier entgegen Levinas 15 argumentiert – Schöpfungsgottes verstanden worden ist, ist keine generöse unbedingte Geschenk-Gabe des monadischen Ich in seiner prometheischen Souveränität an das Du, sondern das unverfügbare Gegeben-Sein des Anderen. Habermas sah sich dann gezwungen, die Kategorie der »Nächstenliebe« zögernd und nicht ohne Unbehagen dennoch anzuführen. 16 Damit gelangt er zum Ausgangspunkt meiner Fragestel-

Habermas J (1992) Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 11 Benhabib S (2016) Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten. Suhrkamp, Berlin. 12 Pfeuffer S (2008) Die Entgrenzung der Verantwortung. Nietzsche – Dostojewskij – Levinas. De Gruyter, Berlin. Ferner Buddeberg E (2011) Verantwortung im Diskurs. Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung im Anschluss an Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lévinas. De Gruyter, Berlin. 13 Habermas J (1996) Die Einbeziehung des Anderen. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 14 Habermas J (1992) Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. 7. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. dazu auch Habermas J (2019) Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. 4. Aufl. Suhrkamp, Berlin. 15 Levinas E (2014) Gott, der Tod und die Zeit. 2., durchgeseh. Aufl. Passagen, Wien. 16 Horster D (2006) Jürgen Habermas und der Papst. Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat. transcript, Bielefeld. 10

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Fazit

lung. Für Hans Albert 17 war dieser Schritt von Habermas scheinbar schon wieder Verrat an die Rationalität. Die Nächstenliebe ist eine Ethik der universalen Solidarität im Eins-Sein im Getrenntsein, die als unbedingte Apriori-Fundamentalnorm die Chancengleichheit auf Freiheit der globalen Gesellschaft ohne Outsider ermöglicht. Diese Nächstenliebe wurzelt in der Idee der personalen Würde. Ausgeschlossen als Outsider sind aber die, die doch Teilmengen der Menschen zu Outsidern definieren. Genau an diesem Punkt ist die Metaphysik der Unbedingtheit des Anderen als Verkörperung der Würde in die Theorie fundamentalontologisch einzubringen. Eine Aporie bringt sich als Figur des »outsidernden Outsiders«, also die faschistoiden Figuren 18, die das Unverstehen der unvollendeten Moderne hervorbringt, ein. Indem er Andere diskriminiert über die Ausgrenzung bis hin zur Nichtung, versteht er nicht, leugnet und negativiert er seine eigene Natur. Hier kommt der Rechtsstaat an »Grenzsituationen« 19 seiner Logik, mit der er selbst wiederum humanistisch umzugehen lernen muss, will man nicht weltweit Krieg führen im Namen der Menschenrechte. 20 Und nochmals muss akzeptiert werden, dass es erhebliche theoretische Konsistenzprobleme gibt, den tiefen Humanismus und Genossenschaftssozialismus des dialogischen Personalismus in der Tradition von Martin Buber mit der radikalen Theorie der Unverfügbarkeit des Selbst-Gegeben-Seins des Anderen bei Levinas zusammen zu führen. 21 Der dialogische Personalismus ist die Philosophie der Reziprozität. Levinas im Lichte von Marion verkörpert den Rest der Gabe, die nicht in Reziprozität aufgeht. Da kann dann auch man-

Albert H (2006) Der religiöse Glaube und die Religionskritik der Aufklärung. Beschränkungen des Vernunftgebrauchs im Lichte kritischer Philosophie. Journal for General Philosophy of Science 37: S. 355–371. 18 Eco U (2020) Der ewige Faschismus. 5. Aufl. Hanser, München. 19 Kick H A (2015) Grenzsituationen, Krisen, kreative Bewältigung. Prozessdynamische Perspektiven nach Karl Jaspers. Winter, Heidelberg. 20 Vgl. dazu auch Maus I (2015) Menschenrechte, Demokratie und Frieden. Perspektiven globaler Organisation. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Dazu auch Gädeke D (2017) Politik der Beherrschung. Suhrkamp, Berlin. 21 Rütter S (2000) Herausforderung angesichts des Anderen. Von Feuerbach über Buber zu Lévinas. Alber, Freiburg i. Br. – München. 17

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Ende und Ausblick

che gut gemeinte Arbeit 22 nicht helfen. 23 In diesem Lichte sah sich ja auch Casper gezwungen, in einer Neuauflage seiner klassischen Studie ein Nachwort zum Einbeziehen von Levinas zu verfassen. 24 Buber hat die Humanität im sozialen Zwischenraum dialogisch gedacht; und auch Levinas denkt das Da-Zwischen, aber anders. 25

II.

Zurück zu den ergänzenden Anläufen zum Zugang

Ich habe den Text weitgehend Mitte Oktober 2021 bis Anfang Januar 2022 geschrieben. Irgendetwas trieb mich dazu. Der Beitrag hat eine längere vor- oder halbbewusste Entwicklungsgeschichte als Reifung, entstand dann jedoch in einer Phase innerer Unruhe, orientierender Suche, eines fehlenden Gleichgewichts, das unzufrieden machte. Obwohl das Semester in einer Doppelstrategie von Präsenz und digitaler Gewährleistung der Alternative erst begann und diesem Start nochmals ein Aufenthalt mit der Familie in unserem Sehnsuchtsort Palekastro/Agathia im abgelegenen Ost-Kreta vorgeschaltet war, war ich bereits ex ante ausgelaucht. Die doch mehr oder weniger flüssige Abfassung des vorliegenden Textes als ein Essay brachte mich, dem Sinn der Paradoxie alle Ehre machend, wieder etwas in Schwung. Im epistemischen Schreiben schwand die Leere, die ich soeben noch als »Ausgelauchtsein« bezeichnete. Vielleicht war es auch ein Ausgehauchtsein: Etwas vom schöpferischen Geist, der auch den Alltag antreibt, war verloren, ausgehaucht, gegangen. Es war eher ein episodisches Stuppner I (2013) Die Metamorphose der Einsamkeit zum Dialog. Ein möglicher Denkweg zwischen Martin Buber und Emmanuel Lévinas. Tectum, Marburg oder Kaminska M (2010) Dialogische Pädagogik und die Beziehung zum Anderen. Martin Buber und Janusz Korczak im Lichte der Philosophie von Emmanuel Levinas. Waxmann, Göttingen. Ferner: Fassbind B (1995) Poetik des Dialogs. Voraussetzungen dialogischer Poesie bei Paul Celan und Konzepte von Intersubjektivität bei Martin Buber, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas. Fink, München. 23 Jedoch Schriever C (2018) Der Andere als Herausforderung. Konzeptionen einer neuen Verantwortungsethik bei Lévinas und Butler. transcript, Bielefeld. 24 Casper B (2017) Das Dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. Um einen Exkurs zu Emmanuel Levinas erweiterte Neuausgabe. Alber, Freiburg i. Br. – München. Ferner Casper B & Levinas E (2020) »Geisel für den Anderen – vielleicht nur ein harter Name für Liebe«. Emmanuel Levinas und seine Hermeneutik diachronen da-seins. Alber, Freiburg i. Br. – München. 25 Levinas E (2007) Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. Hanser, München. 22

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Zurück zu den ergänzenden Anläufen zum Zugang

Empfinden, doch es mag assoziativ so sein, als ob diese Erfahrung mich vorgreifend daran erinnern kann, was wohl als aufkommende Müde im Leben erfahrbar werden kann. Geht Kraftlosigkeit als (körperlich spürbare) Müdigkeit in Geist- und Sinnverlust über? Was generierte dieses unangenehme Gefühl des Ausgelauchtseins? War es das abschreckende und daher ausbremsende und zugleich faszinierende und daher motivierende Numinose des Wiederaufbruchs in die Mobilität nach dem sich abzeichnenden Ende des pandemischen Krisenmanagements, das sodann aber nunmehr doch wieder Fahrt aufgenommen hat? War es die Erfahrung der überaus schönen, nämlich »entschleunigten« (in der Corona-Krise [65] vielfach diskutiert) und dennoch überaus arbeitsfähigen Monate in der Privatbibliothek (klingt schöner als Home-Office), die mir erst Freude und dann doch etwas Müdigkeit bescherte? War es das Ende der langen Pause vom alltäglichen Pendeln zwischen Aachen und Köln und die ersten (ehemals zugesagten und nun nachzuholenden, weil verschobenen) Vortragsreisen, von denen ich mir vorgenommen und der Familie versprochen habe, sie ab 2022 deutlich zu reduzieren und ich mir die nach den letzten vielen Jahren vielleicht doch berechtigte Arroganz erlauben werde, nur noch die Rosinen zu picken? Im Nachdenken über diese Gefühlslage merkte ich, dass es aber auch ganz praktische Impulse gab, mich der Produktion eines essayistischen Textes hinzugeben. So merkte ich bei der Vorbereitung neuer PPP-Materialien für die Präsenz- und für die asynchronen Videos, dass ich manche Denkzusammenhänge nochmals anders als bisher ausformulieren muss. In einem Vorwort zu einer Publikation von Christian Heerdt zum Thema der Notwendigkeit von lokalen/regionalen Agenturen zur Sozialraumbildung wurde ich mir klar, dass das von mir anderswo, auch in einem digitalen Vortrag einer Jahrestagung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt im September 2021 konstatierte »Recht auf Sozialraumbildung« nochmals gründlicher begründet werden muss. Hinzu kam noch, dass ich für einen Vortrag im Rahmen einer verschobenen interdisziplinären Tagung im Frühjahr 2022 in Wien über die »Gabe« mein zeitlich vor der CoronaKrise eingereichtes, aber überlanges »abstract« kürzen musste. Dabei nahm ich mir zugleich die Freiheit, an der Fragestellung noch etwas zu feilen, nachdem ich die Gefahr der Redundanzen zu den anderen bereits gemeldeten Vortragstiteln erkannte. Schnell erkannte ich, wie die Idee der Gabe und ihrer Grammatik, die in Ordnungen der Reziprozität ausmünden kann, im Zusammenhang mit der Idee der per375 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Ende und Ausblick

sonalen Würde nochmals anders zu durchdenken ist, wenn sich hier die Möglichkeit einer onto-anthropologisch fundierten Rechtsphilosophie des Rechts auf die Sozialraumbildung abzeichnen kann. So ist der Essay entstanden. Er ist aus den beiden kurzen Texten, dem Vorwort und dem Abstract, heraus entfaltet worden. Diese mag den überaus vorläufigen, fragmentarischen Charakter erklären, vielleicht aber nicht vollumfänglich entschuldigen. Ein letzter Impuls kam hinzu. Gerade in der Zeit, als ich diese beiden überaus kurzen Texte verfasste, aber das unausgefaltete Gedankenmaterial darin als verborgen spürte, traf das Belegexemplar eines Bandes ein, in dem ich einen Beitrag platzieren durfte: »Verletzbarkeit und Würde« (vgl. 16*). Und wieder war der Spannungsbogen der conditio humana wirksam, der in der vorliegenden essayistischen Abhandlung nochmals neu, nicht ganz anders, wohl aber auf einige komplizierte Verwicklungen einer Phänomenologie der Würde hin fokussiert angegangen werden sollte. Irgendwie spürte ich, dass die Impression, es würde nicht hinreichend sein, vom Ich über die Gabe zur Konstitution des Du fortzuschreiten, weil hierbei der dialogisch geprägte Cartesianismus, als Quasi-Spät-Husserlsche Intersubjektivität, zu einem gönnerhaften Moralismus neigt, gepaart mit einer Art von protestantisch-preußischen Pflichtgefühl. Sicherlich mag dieses selbstkritische Gefühl etwas verstiegen sein. Aber ein gewisser Beigeschmack treffsicherer Ahnung wirkte in mir. Geht der Respekt in seiner Ursprünglichkeit vom empirischen Ich aus? Ich habe diese Frage im Essay mit einem »Jein« zu beantworten versucht. Hatte ich in den Vorbemerkungen zum ergänzenden Anlauf zum Zugang nicht behauptet, ich würde keine autobiographischen, also persönlichen Anmerkungen einspeisen? Doch ist selbst in einem als Wissenschaft sich ausweisenden Essay, der ja mehr oder weniger implizit wie jede symbolische Ausdrucksform als Zeichensystem einer poetischen Strategie der Produktion folgt, nicht die Idee absurd, der Text, ohnehin immer ein intertextueller Dialog, sei von der Persönlichkeit und seinen Kontexten bereinigt? Hatte ich im Text nicht kritisch die naive, oftmals aber (z. B. in den Modellplatonismen und im normativen Individualismus der Formen eines methodologischen Individualismus kryptisiert) ideologisch motivierte Flachheit der Rezeption der Idee der Wertfreiheit reiner Wissenschaft angesprochen? Nun, auch im vorliegenden Essay habe ich vom Einspeisen vieler Verweisstrukturen nicht absehen können, ebenso nicht auf den Bezug auf meine Publikationen. Doch sprach ich ja eingangs auch von einem 376 https://doi.org/10.5771/9783495999981 .

Eine De-Chiffrierung des Untertitels

Kompromiss. Dass ein solcher sich als »fauler« erweisen kann, ist aus der Politik, aber auch aus dem alltäglichen Leben sattsam bekannt. Nun ist die Faulheit ein schillernder Begriff, womit ich nicht den Dichter meine. Denn ich war in den angeführten Tagen nicht faul. Ohnehin wurde die erfüllte Zeit der Faulheit ja auch als ein Recht von Paul Lafargue 26 eingefordert und begründet. Das Thema ist gerade in diesen Tagen, seit geraumer Zeit vorbereitet, wieder breiter rezipiert worden. Die Publikationen sind Legende. Doch bleibt zu vermuten, dass nach Corona wieder vor Corona sein wird. Oder nicht?

III. Eine De-Chiffrierung des Untertitels Über das Thema »Athen und Jerusalem« bzw. Philosophie und Religion wurde nicht wenig publiziert. 27 Vieles 28 trifft aber gar nicht meinen Gang der Überlegungen. Bekannt ist der Spruch, wonach die athenische Demokratie das Nadelöhr war, durch das Europa gehen musste, um das zu werden, was es heute ist. 29 Also Athen. Doch war der Aufstieg des Christentums im Synkretismus des hellenistischen Kulturraums in die Zeit des orientalisierten römischen Reichs gefallen. 30 So führe ich hier nicht die Legende der Forschung, auch nicht die bedeutsamen Beiträge etwa von Peter Brown, Paul Veyne, Eric Robertson Dodds, u. a. und auch nicht die Dekonstruktion des Christentums von Jean-Luc Nancy an, wonach eben das Christentum den historischen Jesus zum Mythos mit erheblicher religiöser Phantasie kreativ kolonialisierte/inHeute noch in vielen Editionen zugänglich ist die kleine Abhandlung »Das Recht auf Faulheit: Widerlegung des ›Rechts auf Arbeit‹« von 1848 zuerst 1880 in der Zeitschrift »L’Égalité« erschienen. 27 Kaiser O (2003) Zwischen Athen und Jerusalem. Studien zur griechischen und biblischen Theologie, ihrer Eigenart und ihrem Verhältnis. Walter de Gruyter, Berlin – New York. 28 Schröder W (2013) Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit. 2. Aufl. frommann-holzboog, Stuttgart oder Schestow L (1994) Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie. Matthes & Seitz, Berlin. 29 Bernett M, Nippel W & Winterling A (Hrsg) (2008) Christian Meier zur Diskussion. Autorenkolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld. Steiner, Stuttgart. 30 Dazu auch Chiai G F u. a. (Hrsg) (2012) Athen, Rom, Jerusalem. Normentransfers in der antiken Welt. Pustet, Regensburg. 26

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Ende und Ausblick

strumentralisierte. Das Christentum war, ebenso bekanntlich, eine vorderasiatische Erlösungsreligion. Kaum etwas, wie auch die Taufe 31, waren religionsphänomenologisch wirklich neue Phänomene. Die Rolle der Mysterienkulte wurde und wird kontrovers diskutiert. Der Orpheus-Mythos (vgl. in 59; 60) ebenso wie die Wahlverwandtschaft von Jesus und Dionysos (vgl. in 60) 32, bis hin zum Denken der klassischen Romantik 33 und dem Werk von Nietzsche, verweisen uns auf die dynamischen Austauschprozesse im Mittelmeerraum. Wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Studien haben die Evidenz für die Austauschdynamik zwischen Griechenland und dem Orient geliefert. 34 Spannende Studien über den Zusammenhang des pharaonischen 35 Denkens und der Christologie in der orientalisierten römischen Kaiserzeit kommen hinzu. Das sind alles nur selektierte Fragmente eines großen Bildes, das sich ausmalen lässt. Jesus 36 war kein Christ, sondern ein charismatischer Wanderprediger, der eine intra-jüdische Sekte anführte. Das Christentum hat sich mythisierend auf ihn berufen. Diese mythisierende Indienstnahme ist heute für die Wissenschaft ein Thema bleibender Entmythologisierungsforschung, die jedoch den anthropologischen Wert des Mythos und seiner narrativ-metaphorischen Bedeutung weiterhin ernst nimmt. Mythisch und dichtend wohnt sich der Mensch in seine Welt ein, auch heute noch, in der Moderne. Wenn Jürgen Habermas in seiner Arbeit an einer nach-metaphysischen Philosophie deliberativer Demokratie herrschaftsfreier Diskurse dennoch erkennt, dass er um die Kategorie der Nächstenliebe nicht umhinkommt, so fragt man sich, ob also neben Athen auch Heitmüller W (1911) Taufe und Abendmahl im Urchristentum. Mohr (Siebeck), Tübingen sowie Reitzenstein R (1967) Die Vorgeschichte der christlichen Taufe. (1929). WBG, Darmstadt. 32 Schlesier R (Hrsg) (2011) A different god? Dionysos and ancient polytheism. De Gruyter, Berlin, Boston, Mass. 33 Frank M (1982) Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, I. Teil. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 34 Dihle A (1984) Antike und Orient. Winter, Heidelberg. Ferner Dihle A (1994) Die Griechen und die Fremden. Beck, München sowie Dihle A (2009) Hellas und der Orient. Phasen wechselseitiger Rezeption. De Gruyter, Berlin. 35 Kügler J (1997) Pharao oder Christus? Religionsgeschichtliche Untersuchung zur Frage einer Verbindung zwischen altägyptischer Königstheologie und neutestamentlicher Christologie im Lukasevangelium. Philo, Bodenheim. 36 Schröter J & Brucker R (Hrsg) (2002) Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung. De Gruyter, Berlin. 31

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Eine De-Chiffrierung des Untertitels

Rom und somit neben dem Ausbreitungsraum des Christentums vor allem auch Jerusalem eine Quelle der europäischen Moderne ist. Denn das Christentum entstammt dem Judentum 37. Also ist Jerusalem aufgerufen. Denn das Neue Testament setzt das Toragebot 38 der Nächstenliebe als bekannt und gültig voraus. 39 Nun ist das alte Israel gar nicht so entfernt von der Idee der Polis. Eine Narration ist möglich. Dies hat mich in vielen Publikationen (1; 4; 16; 19; 34; 43; 45; 47; 48; 59; 60; 61; 62; 64; 69) als kulturgeschichtliche Hintergrundsfolie genealogischer Art begleitet. Gemeint ist das aktualisierende strukturale Framing meiner Studien durch die Otto von Gierke’sche Binärik »Herrschaft und Genossenschaft«. 40 Im Kontext der Durchsetzung der altisraelitischen Variante des gemeinorientalischen Sakralkönigtums gab es Kritik aus der Sicht genossenschaftsartiger Dorfverfassung im Rahmen der regulierten Anarchie segmentierter Gesellschaft. 41 Nach dem Exil verabschiedete sich das alte Judentum von dieser Herrschaftsform 42 und begann seine staatslose Geschichte als Kulturgemeinde unter dem neuen Bund in Verbindung mit der Königsprädikation 43 von JHWE. 44 Diese Bindung war wohl so tief und nachhaltig, dass sich diese Kulturgemeinde über ihre lange Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung überlebte. Eine ungeheuerlich erstaunliche Kulturleistung. Auch das Alte Testament kannte die Idee und Praxis der Polis als Rechtsgemeinschaft der freien waffentragenden Männer. Ob Dorf oder Stadt: Es geht um die Strukturidee der Selbstverwaltung. Scholem G (1970) Über einige Grundbegriffe des Judentums. 9. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 38 Crüsemann F (2005) Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, 3. Aufl. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh. 39 Moenikes A (2007) Der sozial-egalitäre Impetus der Bibel Jesu und das Liebesgebot als Quintessenz der Tora. Echter, Würzburg. 40 Vgl. auch Schröder P (Hrsg) (2021) Der Staat als Genossenschaft. Zum rechtshistorischen und politischen Werk Otto von Gierkes. Nomos, Baden-Baden. Zuvor: Peters M (2001) Die Genossenschaftstheorie Otto v. Gierkes 1841–1921. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 41 Neu R (1992) Von der Anarchie zum Staat. Entwicklungsgeschichte Israels vom Nomadentum zur Monarchie im Lichte der Ethnosoziologie, Neukirchen-Vluyn. 42 Oswald W (2009) Staatstheorie im Alten Israel. Der politische Diskurs im Pentateuch und in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments. Kohlhammer, Stuttgart. 43 Schmidt W H (2013) Königtum Gottes in Ugarit und Israel: Zur Herkunft der Königsprädikation Jahwes. (1966). De Gruyter, Berlin. 44 Lang B (2002) Jahwe, der biblische Gott. Ein Porträt. Beck, München. 37

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Ende und Ausblick

Wir wissen heute, dass der Übergang vom Ethos des parochialen Altruismus zur personalen Ethik der Nächstenliebe bereits seine Wurzeln im Alten Testament hatte. Daran ändert nichts die These, erst im paulinischen Geist sei diese Ethik im Modus tiefer Innerlichkeit des menschlichen Seelenlebens, auch im Vergleich zum homerischen Helden, gesteigert worden. Das ist eine vertretbare These in der psychohistorischen Wechselwirkung von Phylogenese und Ontogenese in einem strukturgenetischen Modell. Noch Hegel schrieb, die »Alten« kannten kein Gewissen. Doch auch dieser Hinweis sei nicht einfach nur so eingeworfen. Er verweist uns erneut auf die Frage, ob und inwieweit unter den Bedingungen der Moderne eine Theorie der Moral des Subjekts mit einer neo-aristotelischen Fundierung von Sittlichkeit theoretisch konsistent zu argumentieren ist. Die Frage ist präzise im Vergleich zum postmodernen Gerede. 45 Alttestamentlich ist aber auch schon das Nachhaltigkeitsdenken im transgenerationalen Sinne. Mag das Vertragsdenken des bundestheologischen Kerns der Alten Testaments bis in die Syntax hinein assyrischen Vasallenverträgen nachgebildet sein 46: Hier beginnt die Idee eines Bundes als Grundlage einer sittlichen Entfaltung der Freiheit als ein gelingendes Miteinander. In den von mir angeführten Schriften habe ich die These entfaltet, wonach man heute, im säkularisierten Rechtstaat (31), diese vertikale Bundesidee horizontalisieren muss zu einer dialogischen Achse in der genossenschaftsartigen Reziprozität der Rolle der Menschen als Mitmensch. Der Gründungsakt einer solchen Genossenschaft als Eidgenossenschaft ist aber der gemeinsame Glauben an eine geteilte Idee, die den Stern des konstitutionellen Bundes darstellt. Die heutige Frankfurter Generation Kritischer Theorie zelebriert zwar im Modus der Philosophie der Anerkennung die sprachphilosophisch durchdachte kommunikative Praxis der Verständigung als Dialogizität menschlicher Existenzführung, hat aber keinen Boden, in dem diese Pflanze verwurzelt sein kann und leidet an dem Risiko, dass sie abgleitet in einen postmodernen Werterelativismus. Zwar adelt diese Idee der deliberativen Demokratie der heroische NihilisWeiß G (2004) Bildung des Gewissens. VS, Wiesbaden. Stattdessen: Kittsteiner H D (1995) Die Entstehung des modernen Gewissens. 3. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 46 Koch Chr (2008) Vertrag, Treueid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium und zur Ausbildung der Bundestheologie im Alten Testament. De Gruyter, Berlin. 45

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Eine De-Chiffrierung des Untertitels

mus, diese Sisyphos-Arbeit einer friedvollen Verständigung ohne Letztbegründung auf sich zu nehmen. Vor diesem diagnostischen Hintergrund muss die Idee des Bundes verstanden werden: Er ist keine Letztbegründung, sondern eine transzendentale Idee, die letztendlich eine soziologische Prämisse vertritt, die wir angeführt hatten (31): Durkheims Diktum der Notwendigkeit non-kontraktueller Voraussetzungen des Kontrakts, ein Diktum, dass ich wahlverwandt zu dem Böckenförde-Diktum ausgelegt habe, aber eben »links von der Mitte«. Und säkularisiert geht es dabei weder um die Religion des Judentums und des Christentums und auch nicht um den religionswissenschaftlichen Befund, dass die Nächstenliebe auch eine Kernidee des weiten Feldes des Islams ist. Es geht um den Bund, durch den die Menschen in die modernisierte Variante der Goldenen Regel 47 des Sittengesetzes des Art. 2 (1) GG vor dem Hintergrund der (auch völkerrechtlichen) Tabu-Ordnung der Würde in Art. 1 GG einwilligen. Wir finden diese Würde sodann in der im EUV/AEUV verankerten unionsbürgerschaftlichen Europäischen Grundrechtscharta. Es gibt in Grenzen die Möglichkeit, diese »soziale Freiheit« noch im begründungslogischen Raum strategischer Zweckrationalität der Klugheit der Implementation regulierter negativer Freiheit des Liberalismus in Grenzen zu denken. Aber es geht nicht um aufgeklärte, regulierte instrumentelle Vernunft (64; 70), sondern um den Glauben an diese Idee des auratischen Bundes. In diesem Sinne hätte der säkularisierte soziale Rechtsstaat eine mystische Grundlage seiner legitimen post-positivistischen Autorität.

Dihle A (1962) Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

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Die Genealogie des modernen Europas als Kulturraum, in dem wir, skripttheoretisch betrachtet, nie wirklich modern gewesen sind, sondern unsere archaischen Strickmuster eher verdrängen, ist nun zum Ende hin nochmals in den Blick zu nehmen. 1 Als ich im Umkreis meiner autobiographischen Analyse (42; 67) über meine Griechenlandsehnsucht handelte, indem ich mit Fokus auf verschiedene Figuren der Sehnsucht nach dem Süden des Mittelmeerraums 2 reflektierte (32; 33, 49, 66; 68), so handelten verschiedene weitere Autoren, die ich allerdings nur am Rande behandelte, weil ich ganz auf Griechenland fixiert war, in ihren Reiseberichten nicht nur über die Linie Italien-Griechenland-Türkei, sondern landeten auch, sich selbst und den Sinn des Daseins suchend, in Israel. Das war gut begründet. Denn neben Athen (ich weiß auch um die Bedeutung von Rom für die Rechtsgeschichte 3) ist das Israel des Alten Testaments in seinem gemeinorientalischen Umfeld der genealogische Ursprungsraum meines heutigen Europas. Jesus 4, das sagte ich bereits weiter oben, war ja kein Christ, sondern ein charismatischer Wanderprediger einer kleinen intra-jüdischen Sekte. 5 Diversität und somit Insider und Outsider, Orthodoxie und Heterodoxie, waren schon damals Themen. Das Christentum wurzelt im Alten Testament. Auf den historischen Jesus hat man sich mythisierend bezogen und hat die für den hellenistischen Raum des Vereinswesens übliche genossenschaftsartige Form des Ur- und Frühchristentums (34; 59: S. 39) Bammé A (2011) Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt Zäsuren abendländischer Epistemologie. Velbrück, Weilerswist. 2 Vgl. dazu auch Polubojarinova L u. a. (Hrsg) (2015) Phänomenologie, Geschichte und Anthropologie des Reisens. Solivagus-Verlag, Kiel. 3 Wesel U (2010) Geschichte des Rechts in Europa. Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon, Beck, München. 4 Schmidt E D (Hrsg) (2018) Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 5 Theißen G (2011) Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt. »Neutestamentliche Grenzgänge« im Dialog. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 1

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später dann verlassen im Zuge des Aufstiegs zum liebespatriarchalischen und somit vertikal-hierarchischen doxischen Anstaltskirchenwesen 6. Doxa – einst als Gloria in der Kirchenliturgie – ist Teil von Herrschaftspraktiken 7. Bei Michel Foucault handelt es sich um Wahrheitsspiele, die hier im Zusammenhang mit den Mechanismen der Pastoralmacht impliziert sind. Es sind epistemische Machtordnungen: »Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchien ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.« 8 Die vom ägyptischen Pharaonenwesen geprägte orientalisierte römische Kaiserzeit 9 war der Gründungs- und Ausbreitungsboden für diese Kirchenbildung des »Zeitalter(s) der Angst« 10. Aus der Kirchenverfolgung wurde eine Verstrickungsgeschichte, die erst später die duale Struktur von Kirche und Staat und den Hintergrund der modernen Säkularisierung abgab. 11 Das heute moderne säkularisierte Naturrecht des Völkerrechts und des Grundrechts des sozialen Rechtstaates hat radikal gebrochen mit dem ständischen 12 Käfig des christlichen Naturrechts der ausgehenden Antike und der Phasen des ORDO-Mittelalters, von dem sich sogar die moderne christliche Soziallehre 13 nur mühsam löste. Und meine Einforderung der ontologischen Wahrheit (der Heiligkeit der menschlichen Person in ihrer Würde) ist eng gebunden an die geschichtliche Formbestimmtheit der Umsetzung im Lichte der Werte von 1789. Andere RehabilitieBrown P (2017) Der Schatz im Himmel. Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs. Klett-Cotta, Stuttgart. 7 Koller A (2009) Doxa. In Fröhlich G & Rehbein B (Hrsg) Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart – Weimar: S. 79–80, hier S. 79. 8 Foucault M (1974) Die Ordnung der Dinge. Suhrkamp, Frankfurt am Main: S. 22. 9 Kügler J (1997) Pharao oder Christus? Religionsgeschichtliche Untersuchung zur Frage einer Verbindung zwischen altägyptischer Königstheologie und neutestamentlicher Christologie im Lukasevangelium. Philo, Bodenheim. 10 Dodds E R (1985) Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 11 Berman H J (1991) Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 12 Duby G (1986) Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 13 Messner J (2018) Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. 2 Teilbände. 8. Aufl. Duncker & Humblot, Berlin. 6

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rungen antiker Philosophie 14 laufen Gefahr, in der kulturkritischen Diagnostik sozialkonservativer Art (33) mit der Kritischen Theorie wahlverwandt zu sein, aber gesellschaftspolitisch eher reaktionär zu wirken. Hier kristallisiert sich nochmals der Spannungsbogen zwischen liberalem und republikanischem Denken heraus. In seiner »Emotionsaversion« ist die kommunikative Rationalität von Habermas eher der liberalen Tradition verbunden. Die republikanische Sicht – und dazu zähle ich auch Wirtschaftsliberalismus-kritische kommunitäre Strömungen – hat eine signifikante »Emotionsaffinität« aufzuweisen. 15 Habermas kommt nicht über das Zugeständnis einer liberalen politischen Kultur des »Verfassungspatriotismus« hinaus, wobei hier ein »Mehr« im Verständnis der Integrationswirkung der Verfassung möglich wäre. 16 Dabei ist unter Affekten eben nicht nur die Angst als Korrelat der Kontingenz des Daseins zu verstehen, die letztendlich eine Gehlen’sche Demokratieidee der Entlastungsfunktion 17 promovieren würde. Das Ergebnis meiner Überlegungen: Ich halte mit Blick auf meine gesamte Argumentationslandschaft, die ich zu entfalten versuchte, fest: a) Allein in explikativer Hinsicht ist die affektive Dimension in die Analyse der Demokratie einzubeziehen. Wie ich ausgeführt habe, soll sie auch gar nicht normativ als Begründungsmechanik theoriestrategisch kalkuliert werden. Sie transportiert nur moralische Einschätzungen. Die metaphysische Fundierung betrifft nun die Wertestruktur, die über diese affektive Dimension transportiert wird. Die metaphysische Fundierung ist eine selbst nicht mehr begründbare Glaubensfrage, die aber – als konstitutive Signatur – in die eidgenössische Bildung des heiligen Bundes eingeht. Machek Chr (2012) Die Rückkehr zu den Ursprüngen der politischen Philosophie. Die katholische Soziallehre, Leo Strauss, Eric Voegelin und die Aktualität des Naturrechts. Schöningh, Paderborn. 15 Vgl. insgesamt dazu: Heidenreich F & Schaal G S (Hrsg) (2012) Politische Theorie und Emotionen. Nomos, Baden-Baden. 16 Schaal G S (2004) Vertrauen, Verfassung und Demokratie. Über den Einfluss konstitutioneller Prozesse und Prozeduren auf die Genese von Vertrauensbeziehungen in modernen Demokratien. VS, Wiesbaden. 17 Zolo D (1997) Die demokratische Fürstenherrschaft. Steidl, Göttingen. 14

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b)

c)

d)

Die »verfahrensrechtliche demokratische Republik« ist somit in diese erfahrungswissenschaftlich fassbaren transzendentalen Mechanismen des eidgenössischen Bundes als Ausdruck der Affektivität als Transportmodus moralischer Gefühle eingebunden, so dass das »ungebundene Subjekt« eingebunden wird in die Ordnung der Freiheit, definiert als »Miteinanderfreiheit in und durch Miteinanderverantwortung«. Erst darauf aufbauend kann es zur Funktionsfähigkeit einer Verfahrensmaschine deliberativer Demokratie kommen, die jedoch immer als relativ unvollkommen einzuschätzen sein wird, weil die Idee der herrschaftsfreien Diskursordnung der idealen Sprechsituation idealtypischen Charakter hat. In diesem Sinne der relativen Unvollkommenheit muss auch die erforderliche Paideia eingeschätzt werden, die die gouvernementale Inskriptionsleistung der Vergesellschaftung in Bezug auf die »ontologische Wahrheit der Sakralität der Personalität« als letzten dispositiven Wertbezug von zivilisatorischer Bedeutungsreichweite im Menschen betrifft.

Diese europäische Geschichte aus dem Ausgang der Spätantike 18 heraus übersieht leicht die vorderasiatischen Wurzeln von Europa. Und dass die Polis der waffentragenden freien Männer keine friedvolle Welt war, sondern auch eine Geschichte der Kolonisation, eine Geschichte der Piraterie und Räuberei, das gehört auch zur Kultur des alten Griechenlands. Selbst Odysseus ist eine schillernde Gestalt. Und seine Abschlachterei der Freier nach seiner Rückkehr zu Penelope auf Ithaka muss mir der humanistische Gymnasiallehrer erst nochmals plausibel erklären und rechtfertigen. 19 Der dionysische Kult hat auch seine rauschhaften Schattenseiten. 20 Die naturreligiösen Wurzeln des altgriechischen Götterapparates auf dem Olymp 21 sind evident. Die griechischen Wurzeln der europäischen Moderne liegen uns in ihrer Andersen P (1981) Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaften. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 19 Resch J (2012) Odysseus’ Wandlung im Nachkriegsdeutschland. Die Figur des griechischen Helden in der deutschsprachigen Erzählprosa. Tectum, Marburg. 20 Insgesamt dazu auch Vollmer Th (2010) Das Heilige und das Opfer. Zur Soziologie religiöser Heilslehre, Gewalt(losigkeit) und Gemeinschaftsbildung. VS, Wiesbaden. 21 Lichtenberger A (2021) Der Olymp. Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde. Kohlhammer, Stuttgart. 18

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ganzen Ambivalenz vor. 22 Und: Schon am Anfang 23 der Entstehung von Privateigentum und Geldwirtschaft stand keine marktförmige Tauschlogik, sondern die Schaffung von Schuldverhältnissen. 24 Das gilt auch für das alte Israel. Die Frage der alttestamentlichen Verwurzelung des Heiligen Krieges ist bis heute ebenso kontrovers (und löste die Debatte über den Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt aus 25) wie die Primitivitäts-Stigmatisierung der hohen Kultur der Philister in der ideologischen Landnahme-Narration. Wie positiv wurde uns als Kinder David dargestellt, wie negativ der monströse Goliath. Und die vielen Gesichter des polyfunktionalen und patriarchalisierten Gottes mit dem Namen JHWE 26 – archäologische Funde lassen vermuten, dass Aschera von den Israeliten als Ehefrau von JHWE verehrt wurde 27, was anknüpfen mag an Erinnerungen an eine Heilige Hochzeit 28 – ist ebenso kontrovers. Diese vorderasiatische Wurzel der europäischen Moderne liegt uns also ebenfalls mit ihrer ganzen Ambivalenz vor. Analoges gilt für das europäische Mittelalter. Wahlverwandt zu der Zeit nach dem Niedergang der mykenischen Epoche mit einer bis heute nicht hinreichend geklärten großräumigen radikalen Veränderung im Mittelmeerraum, der später die Erinnerungsgeschichte in der poetischen Strategie 29 der »homerischen Gesellschaft« 30 folgte, wird auch hier von einem »dunklen Zeitalter« gesprochen. Aber zugleich mögen z. B. im Feudalismus 31 erste Wurzeln des modernen Vernant J-P (2018) Mythos und Denken bei den Griechen. Historisch-psychologische Studien. Konstanz University Press, Konstanz. 23 Graeber D (2012) Schulden: Die ersten 5000 Jahre. Klett-Cotta, Stuttgart. 24 Heinsohn G (1984) Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft, sozialtheoretische Rekonstruktion zur Antike. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 25 Thonhauser J (2008) Das Unbehagen am Monotheismus. Der Glaube an den einen Gott als Ursprung religiöser Gewalt? Eine aktuelle Debatte um Jan Assmanns Thesen zur Mosaischen Unterscheidung. Tectum, Marburg. 26 Lang B (2002) Jahwe, der biblische Gott. Ein Porträt. Beck, München. 27 Frevel Chr (1995) Aschera und der Ausschließlichkeitsanspruch YHWHs: Beiträge zu literarischen, religionsgeschichtlichen und ikonographischen Aspekten der Ascheradiskussion. Beltz Athenäum, Weinheim. 28 Maier Chr M (2011) Art. Heilige Hochzeit In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 27. November 2021. 29 Grethlein J (2017) Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens. Beck, München sowie Szlezák Th A (2012) Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung. Beck, München. 30 Finley M I (1968) Die Welt des Odysseus. WBG, Darmstadt. 31 Duby G (1986) Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Suhrkamp, 22

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Vertragswesens – nicht nur im Lichte von Hegels Phänomenologie der Herr-Knecht-Dialektik und ihrer Reformulierung bei Kojève 32 – liegen. Die Universität als Bildungsgenossenschaft hat im Mittelalter ihre Ursprünge. So unvereinbar die traditionelle Scholastik 33 mit der modernen Philosophie sein mag: Sie überlieferte uns antikes Denken. All dies als ein Einerseits. Andererseits war Europa geprägt von den Kulturleistungen des arabischen Kulturraums. 34 Und um die Bedeutung von Byzanz 35 wissen wir, obwohl der Geschichtsunterricht bis heute der byzantinischen Kultur, die von »langer Dauer« war, mitunter als atmosphärisches Korrelat der kryptischen normativen Schwingungen der Alterität zuordnete. Von unbefleckter Herkunft und Abstammung des modernen Europas kann nicht die Rede sein. Die Idee der Schuld prägte diese lange Kulturgeschichte. Der griechischen Antike verdanken wir hier die Idee der Tragödie 36 als politisches Thema der Polis und der Idee des Theaters 37 als Ort der sozialen Pädagogik der Katharsis. Nicht zuletzt deshalb war die Antike eine inspirative Quelle für Freud, aber gerade bei ihm auch der Monotheismus des alten Judentums. Aber ebenso prägte auch der Schrei der bedrängten Kreatur nach sozialer Gerechtigkeit in dem vorchristlichen Altertum (1) die Kulturgeschichte Europas. Die Schuldknechtschaft (vgl. nochmals in 1) als klassische soziale Frage des vorchristlichen Altertums zwischen Stadtadel und agrarwirtschaftlicher Klassengesellschaft war ein politisches Thema. Die Sozialkritik der Propheten 38 ist ein Klassiker dieser Debatten ebenso wie die Kritik des Sakralkönigtums 39. Frankfurt am Main sowie Bloch M (2019) Die Feudalgesellschaft. 2. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart. 32 Kojève A (1975) Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 33 Pieper J (1991) Scholastik. Gestalten und Probleme der mittelalterlichen Philosophie. 3. Aufl. Kösel, München. 34 Schlicht A (2008) Die Araber und Europa. 2000 Jahre gemeinsamer Geschichte. Kohlhammer, Stuttgart. 35 Lilie R-J (2014) Byzanz. Geschichte des oströmischen Reiches. 6., aktual. Aufl. Beck, München. 36 Schadewaldt W (1991) Tübinger Vorlesungen Band 4. Die griechische Tragödie. Aischylos. Sophokles. Euripides. 6. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 37 Zimmermann B (2015) Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart. Fischer, Frankfurt am Main. 38 Frenschkowski M (2018) Prophetie. Innovation, Tradition und Subversion in spätantiken Religionen. Hiersemann, Stuttgart. 39 Prechel D & Grätz S (2020) Art. König/Königtum (Alter Orient) In Das Wissen-

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Selbst der Mythos von Kreta und das ungelöste Geheimnis der alten minoischen Kultur 40 und ihrer bis heute unverstandenen Linear-A-Schrift verweisen uns »Abendländer« auf unsere »morgenländische« Herkunft und Abstammung. Das Christentum war eine vorderasiatische Erlösungsreligion 41. Die Reise aus Deutschland in der Mitte der Europäischen Union führt uns also nicht einfach nur nach Athen 42, zu jener Polis-Demokratie, die die Idee der politischen Freiheit des Bürgertums, wenngleich in widersprüchlicher, nicht nur ambivalenter, keineswegs reiner Form ausgebildet, zum Organisationsprinzip der Verfassung des sozialen Zusammenlebens machte. 43 Auch schon das antike Griechenland war von der Differenz von Identität und Alterität geprägt. Dazu gehört auch der Gender-Code, bis heute unterschiedlich radikal rekonstruiert 44. Und als ubiquitäres Phänomen war in der griechischrömischen Antike 45 ebenso wie in der Welt des Alten Testaments 46 das Bild des hohen Alters ambivalent. Die Begegnungen mit dem Fremden, zum Teil verarbeitet als das Monströse, zum Teil auch als Narrationen der Gastfreundschaft, ist ein durchgängiges Thema auch in der Odyssee. Spannungsreiche Synkretismen waren in der weiten schaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 27. November 2021 sowie Pietsch M (2014) Art. König/Königtum (AT) In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 27. November 2021. 40 Vgl. Panagiotopoulos D (2021) Das minoische Kreta. Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur. Kohlhammer, Stuttgart. 41 Kippenberg H G (1991) Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 42 Meier Chr (1970) Entstehung des Begriffs Demokratie. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main sowie Meier Chr (1980) Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 43 Snell B (1955) Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. 3. Aufl. Claassen & Goverts, Hamburg. Ferner: Vernant J-P (1980) Die Entstehung des griechischen Denkens. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 44 Wesselmann K (2021) Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen. wbg Theiss in WBG, Darmstadt oder Hartmann E (2021) Frauen in der Antike. Weibliche Lebenswelten von Sappho bis Theodora. 2. Aufl. Beck, München. Ferner Geary P J (2006) Am Anfang waren die Frauen. Ursprungsmythen von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria. Beck, München. 45 Wagner-Hasel B (2012) Alter in der Antike. Eine Kulturgeschichte. Böhlau, Köln u. a. 46 Cramer M & Wick P (Hrsg) (2021) Alter und Altern in der Bibel. Exegetische Perspektiven auf Altersdiskurse im Alten und Neuen Testament. Kohlhammer, Stuttgart.

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Enge des ägäischen Archipels angesichts der relativ leicht machbaren Austauschprozesse 47 nicht überraschend. Im alten Griechenland entwickelte sich auch eine erste Form der Ethnographie. 48 Schon Troia galt als nicht-griechisch, war wahrscheinlich auch dem Hethitischen eng verbunden. Mit diesem Blick über die Levante hinweg landen wir immer in Israel. Symbolisiert mit Jerusalem 49 als das erst relativ spät herausgebildete Kultzentrum 50 liegen hier wesentliche Kulturursprünge Europas. Hier ging das Gruppenethos in eine personale Ethik über, sicherlich: als regionaler Teil der weltweiten 51 achsenzeitlichen Revolution 52, die der neolithischen Revolution folgte. Hier entwickelte sich die Idee des dialogischen Bundes im religionsgeschichtlichen Kontext, determinierte sodann aber die jüdische Gemeinde 53, aus der viel später auch die siedlungsgenossenschaftlichen Ideen eines demokratischen religiösen Sozialismus hervorgehen konnten. Das eschatologische Denken als ein auf die Geschichte und somit auf die Zeitlichkeit des Daseins der Menschen bezogenes Heilsdenken hat hier ihren Ursprung und ist eine Prägefolie für neuere sozialistische Geschichtsphilosophien. Die Koppelung von Freiheit an die Verantwortung in der Geschichte ist im Judentum archetypisch tief verankert. Hier wurzelt die Idee eines solidarischen Bundes, der der nachhaltigen Freiheit im Miteinander gewidmet war.

Dihle A (1984) Antike und Orient. Winter, Heidelberg. Ferner Dihle A (1994) Die Griechen und die Fremden. Beck, München sowie Dihle A (2009) Hellas und der Orient. Phasen wechselseitiger Rezeption. De Gruyter, Berlin. 48 Schulz R (2020) Als Odysseus staunte. Die griechische Sicht des Fremden und das ethnographische Vergleichen von Homer bis Herodot. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 49 Otto E (2008) Das antike Jerusalem. Archäologie und Geschichte. Beck, München. 50 Pietsch M (2017) Art. Josia In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 26. November 2021. Vgl. auch Oswald W (2009) Staatstheorie im Alten Israel. Der politische Diskurs im Pentateuch und in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments. Kohlhammer, Stuttgart. 51 Roetz H (1992) Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Eine Rekonstruktion unter dem Aspekt des Durchbruchs zu postkonventionellem Denken. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 52 Armstrong K (2006) Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen. Siedler, München. 53 Eher konservativ auslegend: Rudnig Th A (2014) Art. Gemeinde (AT) In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de): Tag des Zugriffs: 26. November 2021. 47

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1789 ist zwar die Sattelzeit der Moderne, doch kulturarchäologisch betrachtet, reicht die genealogische Spurensuche viel weiter zurück. Das Christentum war hier lange Zeit keine Triebkraft der Modernisierung, eher Hemmschuh, wenngleich man heute die messianisch aufgeladene Jetztzeit im Römerbrief dekonstruierend auch anders lesen kann. 54 Warum diese dichte Rekonstuktion? Heute ist die uralte Bundestheologie des Volkes mit der Königsprädikation von JHWE vorbei und unter modernen Bedingungen nicht mehr ohne Regression zu haben. Doch die Idee der Würde des Menschen wurde dort geboren. Die Freiheit – es ging immer und früh schon 55 auch um soziale Gerechtigkeit – knüpfte sich jedoch dort schon an das Gesetz als Ordnung der Regulierung des sittlichen Zusammenlebens. Waren alle Kategorien, die ich im vorliegenden Essay zur Phänomenologie des Bundes nutze – die Numinosität, die Achtung, die Ehrfurcht, das Staunen, das Erhabene usw. – der Religionsphänomenologie entlehnt, so ist die Ordnung der Freiheit in der heutigen rechtsstaatlichen Demokratie säkularisiert zu verstehen, wenn ihnen auch die Aura des Heiligen noch anhaftet. Das Staunen über die Aura des Anderen angesichts seiner erhabenen Unverfügbarkeit löst die Achtung aus, die ihm ehrfürchtig entgegengebracht wird. Nur so ist und bleibt die personale Würde von unbedingter Art und wird nicht zum Geschenk generöser Moral. Das Mitleid kommt erst in einem zweiten Schritt ins Spiel, wenn gerade auf der Grundlage dieses Respekts vor der Würde des Anderen dessen Vulnerabilität in eine wahrnehmbare Bedürftigkeit umkippt und der Andere Schutz und Hilfe benötigt. Durch seine Natur als Wesen würdevoller Freiheit hat er aber einen Anspruch, der aber durch die Hilfe nur bestätigt wird als Rechtstitel, den er an sich schon besitzt.

Agamben G (2006) Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 55 Prodi P (2005) Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat. 2. Aufl. Beck, München. 54

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Literaturverzeichnis

In den Vorbemerkungen als »ergänzenden Anlauf zum Zugang« hatte ich zu Stil und Duktus der Abhandlung bereits einführende Worte verloren. Dort nahm ich zur Zitationsweise und zum Verweisapparat bereits Stellung. Daraus resultiert nun diese nachfolgende zweiteilige Struktur (1a und 1b sowie 2) des Literaturverzeichnisses. Weitere und ältere Literatur vom Verfasser findet sich auch in Schulz-Nieswandt F (2016) Im alltäglichen Labyrinth der sozialpolitischen Ordnungsräume des personalen Erlebnisgeschehens. Eine Selbstbilanz der Forschungen über drei Dekaden. Duncker & Humblot, Berlin. Eine schnellere Orientierung zur Architektur des Denkens des Verfassers findet sich in den folgenden neueren Aufsätzen:

1a) Ausgewählte Aufsätze des Verfassers 1*.

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1b) Verzeichnis der angeführten monographischen Literatur des Verfassers Mit den Ziffern 1 bis 76 sind im Text meine eigenen Verweisquellen angegeben. 1. Schulz-Nieswandt F (2003) Herrschaft und Genossenschaft. Duncker & Humblot, Berlin. 2. Schulz-Nieswandt F (2006) Sozialpolitik und Alter. Kohlhammer, Stuttgart. 3. Schulz-Nieswandt F u. a. (2009) Generationenbeziehungen. Netzwerke zwischen Gabebereitschaft und Gegenseitigkeitsprinzip. LIT, Berlin.

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