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German Pages [194] Year 2013
Beiträge zu Grundfragen des Rechts
Band 12
Herausgegeben von Stephan Meder
Simon Kanwischer
Der Grenzbereich zwischen öffentlichem Strafanspruch und intimer Lebensgestaltung Verschiebungen in der historischen Entwicklung – aufgezeigt am Beispiel der Strafbarkeit des Inzests (§ 173 StGB)
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0129-1 ISBN 978-3-8470-0129-4 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stand der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorgehensweise / Methodik / Quellenlage . . . . . . . . . . . . .
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B. Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beginn der öffentlichen Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die ersten komplexen strafrechtlichen Normsysteme in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bambergensis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Carolina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Codex Juris Bavarici Criminalis . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Entwicklung und Einordnung . . . . . . . . . . . . . III. Ideengeschichtlicher Hintergrund vor 1871 . . . . . . . . . . . . 1. Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hugo Grotius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hobbes’ Strafrechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einfluss Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Trennung von Rechtspflichten und Tugendpflichten . bb) Freiheit als Bezugspunkt für die Rechtsbegründung bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Relativierung der Freiheitsmaxime und Folgerungen für das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weiterentwicklung, Bedeutung für die Naturrechtskodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Philosophie und Strafrechtsdogmatik bei Feuerbach . bb) Dogmatik und Sittlichkeitsdelikte bei Cesare Beccaria
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6
Inhalt
IV.
V.
cc) Das Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern von 1813 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafbewehrtes Sexualverhalten im 19. Jahrhundert . . . . . . . 1. Die Naturrechtskodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Code P¦nal, 1810 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 . . . . . . aa) Die Sittlichkeitsdelikte im Gesetzestext . . . . . . . . bb) Entwicklung bis 1851 (Motive, Revision, zeitgenössische Kritik bis 1851) . . . . . . . . . . . . (1) Entwurf von 1828 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Veränderungen bis 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die abschließende Beratung des Vereinigten ständischen Ausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die »Revolutionsentwürfe« 1848/49 . . . . . . . . . . (5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 . . . . . . . . . . . a) Die Sittlichkeitsdelikte in der gerichtlichen Praxis (1851 – 1871) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sächsisches StGB, 1855 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kulminationspunkt der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verschiedene Territorialstrafgesetze . . . . . . . . . . . . . . a) Großherzogtum Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Königreich Hannover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Königreich Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Weitere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund / Reichsstrafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung seit 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Rechtsgutsbegriff und seine Auswirkung auf das Sittlichkeitsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskussion während der Strafrechtsreformzeit 1909 – 1919 . . a) Die Sittlichkeit als Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zielrichtung des Sittlichkeitsstrafrechts und konzeptionelle Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . bb) Abstrakte Lösungsansätze und systematische Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 38 38 38 42 43 47 52 56 62 69 71 73 74 74 75 83 86 88 93 94 94 95 95 95 97 97 101 101 102 102
7
Inhalt
b) Folgerungen in Bezug auf § 173 . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Kurt Hiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einfluss der Kriminalanthropologie und Ideologisierung in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Forderungen der Sozialreform, Aufkommen der »Sozialhygiene« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vordringen der Eugenik und Forderungen der Kriminalanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verlauf der Reform des Sittlichkeitsstrafrechts bis 1933 . . a) Höhepunkt der Liberalisierungskämpfe im Sexualstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Reformstimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Parlamentarische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . VI. Sittlichkeit und Strafrecht im Nationalsozialismus . . . . . . . VII. Entwicklungen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Beratungen der großen Strafrechtskommission . . . . . a) Verwandtenbeischlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verschwägertenbeischlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sodomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der E 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der E 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kritik und wissenschaftliche Diskussion bis 1969 . . . . . . a) Belebung des Rechtsgutsbegriffs durch Jäger . . . . . . . b) Kritik an den Entwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) § 173 StGB innerhalb der Liberalisierungsdebatte der späten 60er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Alternativentwurf 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Entwicklungen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Situation heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Neuere Tendenzen in der Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . IX. Entwicklung in der Rechtsprechung seit 1945 . . . . . . . . . X. Der Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abkehr vom Rechtsgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorgehensweise des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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142 143 145 146 147 150 152
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153 154 156
8
Inhalt
a) Schutz von Ehe und Familie nach Maßgabe des Art. 6 GG . b) Schutz der sexuellen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . c) Eugenische Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wirkkräftige gesellschaftliche Überzeugung von der Strafwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Systematik des Gerichts bei der Grenzziehung . . . . aa) Zur Einschätzung der Notwendigkeit von Rechtsgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Moralschutz durch Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . b) Zu den vom BVerfG angeführten Strafgründen . . . . . . . aa) Der Schutz von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . bb) Eugenische Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . cc) Schutz der sexuellen Selbstbestimmung . . . . . . . . dd) Manifestation der kulturhistorischen Tabuisierung . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156 156 157 157 158 158 158 160 161 161 164 168 170 172
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175 175 177 180 180 181
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgerungen in Bezug auf § 173 StGB . . . . . III. Jüngste Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . 1. Das deutsche Inzestverbot vor dem EGMR 2. Aktuelle Diskurse und Ausblick . . . . . .
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Vorwort und Danksagung
Die Idee zu dieser Arbeit ist entstanden, als der Verfasser in einem auf dem Flohmarkt erstandenen alten StGB (Stand 1956) blätterte und überrascht feststellte, wie viele Tatbestände darin enthalten waren, die Verstöße gegen Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit zum Gegenstand hatten. Gerade, als Erleichterung darüber aufkam, dass diese Zeiten in Deutschland lange und endgültig vorbei seien, kam das Bundesverfassungsgericht in seinem viel beachteten Beschluss vom 26. Februar 2008 zu der Erkenntnis, dass die Legitimation einer Strafnorm sich durchaus aus der kulturhistorischen Überzeugung von der Strafwürdigkeit eines Verhaltens speisen könne. Es verkündete ferner, dass der Strafgesetzgeber keinesfalls gehalten sei, mit Strafnormen immer auch bestimmte Rechtsgüter zu schützen. Diese zeitlich zusammenfallenden Ereignisse erweckten beim Verfasser die Neugier darauf, zu erfahren, wie das Verhältnis von staatlicher Strafe und Privatheit in der Vergangenheit gestaltet war, wie es sich entwickelt hat, wodurch diese Entwicklung beeinflusst wurde und warum dieses Verhältnis auch heute noch unklar und dem akademischen (und gesellschaftlichen) Streit ausgesetzt ist. Mein herzlichster Dank gilt zunächst meinem verehrten Doktorvater RiBGH Prof. Dr. Henning Radtke, der es mir zunächst ermöglicht hat, aus meiner persönlichen Neugier diese Arbeit entstehen zu lassen, der in jeder Phase der Arbeit unkomplizierter und kritischer Ansprechpartner war, stets ein motivierendes Wort fand und die Entstehung der Dissertation von Anfang bis Ende wohlwollend begleitet hat. Daneben bedanke ich mich auch ganz herzlich bei Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier für die Erstellung des Zweitgutachtens, bei Prof. Dr. Hermann Butzer als Dekan und Vorsitzendem der Prüfungskommission und bei Prof. Dr. Stephan Meder für seine Unterstützung und Anregungen im Vorfeld der Erstellung dieser Arbeit. Mein Dank gilt auch all jenen, die als Kollegen und Freunde durch Kritik und Anregungen diese Arbeit bereichert und mich in schwierigen Phasen ertragen und ermutigt haben. An Stelle Vieler möchte ich hier Kristina Herwig, Michel
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Vorwort und Danksagung
Lehmensiek und Nora Bertram hervorheben, die eine Durchsicht des Manuskripts auf sich genommen haben. Besonderer Dank gebührt schließlich meiner ganzen Familie, insbesondere meiner Schwester Christina und meinen Eltern Elena und Alexander Kanwischer, ohne deren Unterstützung in allen Bereichen die Abfassung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
A. Einleitung
»Das Rechtsgut der Sittlichkeit ist ein Phantom. Mit der ›Moral‹ hat die kriminelle Gerichtsbarkeit nichts, hat nur die Bezirksklatsche zu schaffen. Was die Justiz hier erreichen kann, ist der Schutz der Wehrlosigkeit, der Unmündigkeit und der Gesundheit. Auf diese noch arg verwahrlosten Rechtsgüter werfe sie die Sorge, die heute das Privatleben von staatswegen belästigt«1.
Dieser von Karl Kraus im Jahre 1902 formulierte Satz wirft ein Schlaglicht auf eine Thematik, die das Strafrecht – nicht nur in Deutschland – seit seinen ersten Anfängen begleitet: Wie weit darf ein Staat seine Bürger mit den Mitteln des Strafrechtes – also unter der Androhung von Sanktion – dazu zwingen, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen bzw. gerade nicht an den Tag zu legen. Wie ein Zitat aus einem aufsehenerregenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 belegt, hat diese Frage auch heute ihre Aktualität nicht verloren. So heißt es in jenem Beschluss: »Vielmehr rechtfertigt sich die angegriffene Strafnorm in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit…«2.
In dieser Arbeit soll nun versucht werden, die verschiedenen Ansätze zur Beantwortung dieser Frage herauszustellen und die historische Entwicklung, die das deutsche Strafrecht hinsichtlich der Durchdringung mit Vorstellungen von Sittlichkeit und Sozialmoral genommen hat, nachzuvollziehen. Wo hört die Privatsphäre auf, wo beginnt die Zulässigkeit der Strafandrohung und warum? Diese Frage wird in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich beantwortet, und ihre Beantwortung hängt von vielerlei Faktoren ab. Es soll hier nun dargestellt werden, in welcher Weise bei der Ausgestaltung strafrechtlicher Normsysteme Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit, also 1 Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, S.13. 2 BVerfGE 120, S. 224 (248 f.).
12
Einleitung
beispielsweise Fragen von Weltanschauung, Religiosität und Sexualität Einzug in die Gesetze gefunden haben. Besondere Beachtung findet dabei der historische Kontext, so dass die Entwicklungslinien möglichst klar nachgezeichnet werden und schließlich unter Berücksichtigung der historischen Aufarbeitung eine Diskussion aktuell bestehender Streitpunkte geführt wird. Hierzu ist es notwendig, zunächst das ideengeschichtliche Fundament darzustellen, auf dessen Basis das Strafgesetzbuch entstanden ist, um sodann die Intention des Gesetzgebers in verschiedenen Zeiten herauszuarbeiten. Besondere Beachtung bei den Betrachtungen wird dabei aus aktuellem Anlass der oben angeführte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots in §173 StGB finden. Hier hat das BVerfG Stellung genommen zu der Frage nach dem öffentlichen Strafanspruch im Grenzbereich zur privaten Lebensgestaltung und dadurch die hierüber seit Jahren zumeist im Hintergrund geführte kontroverse Debatte in der Strafrechtswissenschaft neu befeuert. Nicht erst in diesem Beschluss zeigt sich die Brisanz, die dieser Frage innewohnt: Die Frage, inwieweit eine gesellschaftlich konsentierte Vorstellung von Moral und Sittlichkeit zum Maßstab öffentlicher Strafe werden darf, ohne dass es ein durch dieses Verhalten in seinen Rechtsgütern geschädigtes Opfer gibt, ist nichts anderes als die grundsätzliche Frage danach, welche Anforderungen an die Legitimation einer Strafnorm in einem Rechtsstaat gestellt werden müssen. Diese Frage wurde seit der Entstehung des StGB von 1871 stets kontrovers diskutiert. Dabei wurde die Notwendigkeit, ein bestimmtes, tabuisiertes Verhalten um seiner selbst willen mit Mitteln des Strafrechts zu verhindern, lange Zeit stillschweigend als gegeben angenommen und erst dann hinterfragt, wenn sich Interessengemeinschaften bildeten, die politisch auf eine Änderung der Gesetzeslage drangen. Auch dieser Prozess, der nach und nach zu einem Zurückdrängen von Moralvorstellungen aus dem Strafrecht geführt hat, soll hier näher betrachtet werden. Dabei sollen auch Entwicklungen außerhalb Deutschlands, namentlich in Frankreich mit einbezogen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden. Der § 173 StGB, dessen Abs. 2 den Gegenstand des genannten verfassungsgerichtlichen Beschlusses bildete, soll bei der Untersuchung die Projektionsfläche bilden, auf der die Entwicklungslinien nachgezeichnet werden. Dabei ist nicht die zentrale Frage der Arbeit, ob § 173 StGB ganz oder teilweise abgeschafft werden sollte, vielmehr stellt diese Norm einen steten Bezugspunkt der Untersuchung dar und dient als konkretisierender Faktor der abstrakten Fragestellung. Dennoch wird am Ende dieser Arbeit auch auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Norm einzugehen sein, die dann auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse nach eingehender Diskussion des jüngsten verfassungsgerichtlichen Beschlusses beantwortet werden wird. Im Vordergrund soll jedoch die Methodik stehen, vermittels derer der Anwendungsbereich des Strafrechts begrenzt werden kann.
Stand der Wissenschaft
13
Es wird dabei keine Revolution der Rechtsgutslehre geben, jedoch stellt auch die Entwicklung dieser Figur als ein Konzept zur Begrenzung des Strafrechts einen bedeutenden Teil der Untersuchung dar. Die Frage nach der Tauglichkeit dieses Konzepts, seine Entstehung, seine verschiedenen Ausprägungen und seine »Würdigung« durch das Verfassungsgericht werden daher einen zentralen Faktor bei der Ausleuchtung des Grenzbereichs zwischen privater Lebensgestaltung und öffentlichem Strafanspruch bilden. Auf der Basis der durch die historische Betrachtung gewonnenen Erkenntnisse soll schließlich am Schluss auch ein Vorschlag zur Neufassung des § 173 StGB stehen.
I.
Stand der Wissenschaft
Es bestehen bereits eine Reihe von Untersuchungen, die sich aus der einen oder anderen Perspektive dem Inzesttatbestand nähern und mal den einen, mal den anderen Aspekt in den Fokus stellen. Die meisten der zum Thema verfassten Arbeiten sind während der Reformzeit der 60er Jahre entstanden3. Die zitierte Rechtsprechung des BVerfG scheint jedoch die Diskussion wieder angestoßen zu haben und gab Anlass zu einer Reihe kleinerer und größerer Beiträge zur Inzeststrafbarkeit. Die in jüngster Zeit erschienene Forderung Karsts nach einer »Entkriminalisierung des § 173 StGB«4 stellt in dieser Hinsicht den aktuellsten Beitrag dar und gibt ihrerseits Anlass zur Diskussion. Verfassungsrechtliche Aspekte beleuchtete zuletzt Klöpper in einer Studie in den 1990er Jahren5. In historischer Hinsicht liefert Wittmann6 einen ausgezeichneten Überblick über die Normgenese aus kriminologischer Perspektive unter Einbeziehung soziologischer Faktoren (bis 1953). Palmens im Vorfeld der Strafrechtsreform 1969 erschienene Dissertation befasst sich mit kriminologischen Aspekten im Zusammenhang mit der Inzeststrafbarkeit7, Maisch nähert sich dem Phänomen des Inzests aus psychologischer und familiensoziologischer Sicht8, Karkatsoulis befasst sich aus kriminalpolitischer Sicht mit der Thematik9. In gewisser Weise soll sich auch die vorliegende Arbeit in den Kanon dieser Beiträge einreihen, die Diskussion um den § 173 StGB bereichern und das Ihrige zu einem besseren Verständnis dieses Tatbestandes leisten. Wie im Vorwort bereits angedeutet, soll 3 Zur Reform des Sexualstrafrechts 1969 insgesamt vgl. Hanack, Zur Revision des Sexualstrafrechts in der Bundesrepublik (1969). 4 Karst, Entkriminalisierung des § 173 (2009). 5 Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG (1994). 6 Wittmann, Die Blutschande (1953). 7 Palmen, Der Inzest (1968). 8 Maisch, Inzest (1968). 9 Karkatsoulis, Inzest und Strafrecht (1987).
14
Einleitung
dabei jedoch vor allem ein Beitrag zur Erhellung der im Hintergrund stehenden dogmatischen Fragen bei der aktuellen Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des § 173 II StGB geleistet werden. Die Strafnorm steht als Bezugspunkt der Untersuchung im Fokus, jedoch soll auch das ihr zugrunde liegende Problemfeld unter Einbeziehung soziologischer und historischer Ansätze vor allem dort beleuchtet werden, wo eine Beschränkung auf die juristische Perspektive einen Erkenntnisgewinn hinderte.
II.
Vorgehensweise / Methodik / Quellenlage
Im Vordergrund steht die Frage danach, wie eine Grenzziehung zwischen der Freiheit privater Lebensgestaltung innerhalb der Intimsphäre und staatlichem Strafanspruch erreicht werden, und wie eine solche für die aktuelle Diskussion fruchtbar gemacht werden kann, so dass am Ende dieser Arbeit ein darauf basierender Vorschlag zum Umgang mit dem § 173 StGB gemacht werden kann. Eine detaillierte Darstellung der Inzeststrafbarkeit in Altertum, alttestamentarischen und Stammesrechten erscheint für das Ziel dieser Arbeit nicht erforderlich, so dass hier mit Verweis vor allem auf die Forschungen Wittmanns insofern lediglich eine kurze Einführung gegeben wird. Von Interesse ist weniger die bloße historische Entwicklung als vielmehr die Auseinandersetzung mit dem Inzesttatbestand im Rahmen der Gesetzgebungsprozesse in Verbindung mit einer Analyse der hier erkennbar werdenden Diskurse selbst. Damit das Problem der Grenzziehung vollständig erfasst werden kann, erfolgt eine eingehende Darstellung der ideengeschichtlichen Hintergründe der modernen Strafgesetzgebung. Der im ausgehenden Mittelalter einsetzende Diskurs über die Stellung des Menschen in der Welt, sein Verhältnis zu höheren Mächten und weltlichen Autoritäten, der damit einhergehende Wandel des Staatsverständnisses in Europa, das Entstehen der modernen Modelle von Bürger und Staat werden bei dieser Arbeit insofern eine Rolle spielen, als hier entscheidende Grundlagen für die Entwicklung von Strafkonzepten gelegt wurden, deren Prinzipien bis in unsere Zeit hinaus strahlen. Der eigentliche Startpunkt der Betrachtung liegt daher dort, wo der Prozess der Verwissenschaftlichung des Rechts auf der Ebene der Strafgesetzgebung gerade beginnt, wobei der Epoche der Aufklärung besondere Beachtung zuteil und dem Zeitalter der Kodifikationen als der Phase der Realisierung theoretischer Modelle ein Schwerpunkt der Analyse gewidmet werden wird. Die legislative Entwicklung des Inzestverbots ist nicht klar zu trennen von derjenigen anderer Sittlichkeitsdelikte. Vor allem wenn bei den Beratungen vor Erlass eines neuen Strafgesetzbuchs mehrere Delikte gemeinsam behandelt wurden, fließen auch diese Delikte in die Untersuchung mit ein, sofern bei ihnen die Frage nach der Begrenzung staatlicher Regelungsgewalt von In-
Vorgehensweise / Methodik / Quellenlage
15
teresse ist. Dies gilt insbesondere für die Verbote der Sodomie und der Homosexualität, mit Einschränkungen auch für die Strafbarkeit von Ehebruch oder Kuppelei. Die Bezeichnung der Delikte wurde im Rahmen der historischen Normgenese jeweils so übernommen, wie sie während der zeitgenössischen Gesetzgebungsprozesse benannt worden waren. Um auch einen Eindruck von den Auswirkungen der theoretischen Grundlagen der Gesetzgebung auf die Lebenswirklichkeit zu vermitteln, wurde auch das zugängliche Material der Justizbehörden in die Untersuchung mit einbezogen. Die Quellenlage muss insgesamt als unübersichtlich und je nach untersuchter Zeitspanne unterschiedlich reichhaltig bezeichnet werden. Vor allem die gut dokumentierten Gesetzgebungsprozesse in Preußen und deren zeitgenössische Kommentierung in der Rechtswissenschaft ab Inkrafttreten des PrALR 1794 wurden detailliert geprüft. Hierzu wurden auch staatsanwaltliche Akten, ministerielle Weisungen und interne Schriftwechsel zwischen 1808 und 1871 aus dem geheimen preußischen Staatsarchiv in Berlin gesichtet und ausgewertet. Wo Primärquellen in Form von Gesetzgebungsmaterialien, ministeriellen oder königlichen Weisungen, gerichtlichen oder staatsanwaltlichen Akten oder sonstigen die Entstehungsgeschichte erhellenden Texten zugänglich waren, wurden sie ausgewertet und ggf. dargestellt. Auf Sekundärquellen wurde nur dort Bezug genommen, wo Meinungsstände wiedergegeben oder bereits bestehende wissenschaftliche Beurteilungen dargestellt wurden. Das Inzesttabu hat zu allen Zeiten in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen den Gegenstand mehr oder weniger fundierter Veröffentlichungen dargestellt. Diese wurden hier berücksichtigt, sofern ein Bezug auch zu den juristischen Abgrenzungsfragen erkennbar war und sie nicht lediglich religiös-ideologischer Auseinandersetzung dienten oder bloße persönliche Meinungsäußerungen namenloser Autoren darstellen. Die soziologisch-feministische Literatur zur politischen Instrumentalisierung des Inzesttatbestandes wurde aufgrund ihrer nach Ansicht des Verfassers tendenziösen Stoßrichtung nur knapp und kritisch eingearbeitet. Gerade ältere Monographien und Beiträge wurden im Rahmen weltweiter Digitalisierungsprojekte online zugänglich gemacht und konnten dadurch umfangreich berücksichtigt werden. Ein rechtsvergleichender Blick geht insbesondere nach Frankreich, weil hier auf Basis der selben ideengeschichtlichen Fundamente eine unterschiedliche Ausprägung des Sittlichkeitsstrafrechts und insofern auch eine andere Herangehensweise an die Grenzziehung zwischen individueller Freiheit und öffentlicher Strafe entstanden und bis heute erhalten geblieben ist. Auf eine umfassende rechtsvergleichende Darstellung der die Sittlichkeitsverbrechen regelnden Normsysteme in anderen Ländern wurde hier verzichtet, weil eine solche die der Arbeit zugrunde liegende Fragestellung nicht zu erhellen vermocht hätte. Ein besonderes Interesse gilt der Zeit zwischen 1871 und 1933 und zwar zum einen deswegen, weil hier mit dem Rechtsgutsbegriff nicht nur eine
16
Einleitung
der wesentlichen dogmatischen Figuren der Strafrechtswissenschaft entwickelt und für die Begrenzung staatlichen Strafanspruchs fruchtbar gemacht worden ist, zum anderen aber auch deswegen, weil eine breite Bewegung für Strafrechtsreform entstand, sich zu organisieren begann, kritische Zeitschriften gegründet wurden und eine Vielzahl wissenschaftlich gehaltvoller Beiträge veröffentlicht wurde. Die während dieser Zeit vor dem politischen Hintergrund der zerreißenden Weimarer Republik entstandenen dogmatischen wie kriminalpolitischen Argumentationslinien wurden während der 60er Jahre zum Teil wieder aufgegriffen, ohne dass die damalige Qualität wieder erreicht wurde. Insbesondere die in der Strafrechtswissenschaft weitgehend unbekannte Monographie Kurt Hillers »Das Recht gegen sich selbst« wurde auf Grund der dort geschilderten modernen Strafrechtskonzeption ausführlich und mit einer gewissen Faszination behandelt. Ein abschließender Schwerpunkt liegt schließlich in einer Diskussion der derzeitigen strafrechtlichen Begrenzungsmodelle, deren Bezugspunkt der angesprochene Beschluss des BVerfG bilden wird.
B. Hauptteil
I.
Beginn der öffentlichen Strafe
Über eine Bestrafung des Beischlafs unter Verwandten bei den Völkern der Antike herrscht mangels validen Quellenmaterials keine Einigkeit. Gesichert ist jedoch, dass die Strafbarkeit des Inzests bis in die ältesten Strafgesetze zurück reicht. Im ersten Buch Mose (Genesis) findet sich ein »Fallbeispiel« in Form des Beischlafs zwischen Lot und seinen Töchtern10. Für ein Verbot des Beischlafs unter Verwandten existieren im Alten Testament zahlreiche Belegstellen. Die im Buch Levitikus aufgeführten Konstellationen gelten dabei als nur unvollständige Wiedergabe älterer und noch weiter reichender Vorgaben des jüdisch-hebräischen Rechts11. Dieses »mosaische Recht« bildet dann auch den Ausgangspunkt für den Eingang der Inzestverbote zunächst in das kanonische und später auch in das weltliche Recht des Abendlandes. Im dritten Buch Mose (Levitikus) wird der intime Kontakt zwischen leiblichen Verwandten, in Stief- und Schwiegerverhältnissen verboten12, die Strafe ist die Todesstrafe, für den Geschwisterinzest ist in der Lutherübersetzung »Ausrottung« vorgesehen13. Bei diesem Begriff ist jedoch unklar, ob eine Tötung der Beteiligten gefordert wird oder lediglich eine Aussonderung aus der Gemeinschaft im Sinne einer Verbannung14 Rechtsfolge sein soll. In jedem Falle tritt bereits hier ein struktureller Unterschied des Geschwisterinzests zu den übrigen Konstellationen in leiblicher Verwandtschaft hervor. Als Besonderheit ist hier noch hervorzuheben, dass ein Beischlaf im Schwiegerverhältnis im mosaischen Recht an anderer Stelle nicht nur gestattet, 10 1. Buch Mose, Kap. 19, Vers 30 – 36. Zur Wertung dieses Vorkommnisses in der Bibel vgl. Rappaport, Der gerechte Lot. Bemerkung zu II Ptr 2 7. 8., in: ZStW 1930, S. 299 – 304. 11 Schon Grotius geht davon aus, dass die mosaischen Inzestverbote auf nicht erwähnte jüdische Ehegesetze zurückgehen, vgl. Grotius, de jure belli ac pacis, Buch I, S. 26. 12 3. Buch Mose, Kap. 18, Vers 6 – 18. 13 3. Buch Mose, Kap. 20, Vers 11 – 17. 14 Vgl hierzu: Lohfink, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. III, Sp. 192 – 213.
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Hauptteil
sondern für den Fall, dass die Schwägerin eines Mannes Witwe wird, sogar unter Androhung einer Ehrenstrafe verlangt wird15. Die mit strengen Strafen belegten Regeln des Zusammenlebens im mosaischen Recht gehen später in den kirchlichen Eheverboten auf, die im Laufe der Zeit immer mehr, schließlich bis zum 7. Grad der Verwandtschaft erweitert werden16. Im römischen Recht ist die Rechtslage unübersichtlich. Wittmann bietet einen groben Überblick über verschiedene Quellen des römischen Rechts, wobei auch hier nicht geklärt werden kann, ob lediglich die Eingehung einer Ehe unter Verwandten verboten war oder ob inzestuöse Verhältnisse auch per se bestraft wurden17. Fest steht, dass die Bestrafung des Inzests während des Rezeptionsprozesses Eingang in das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen fand.
II.
Die ersten komplexen strafrechtlichen Normsysteme in Deutschland
In diesem Abschnitt werden jene auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches im Spätmittelalter entstehenden Strafkataloge Beachtung finden, die das gemeine (römische) Recht und die lokalen Rechtstraditionen abzulösen beginnen. Wenngleich in diesen Strafrechten nicht eine weltanschauliche Revolution zum Ausdruck kommt, so gelten sie doch zu Recht als Beginn einer im Werden begriffenen Ära des wissenschaftlich reflektierten Strafrechts. Die vorherrschende strenge Orientierung am römisch-kanonischen Recht wird aufgebrochen und eigene, durch die jeweiligen Territorialherrscher für ihr Herrschaftsgebiet geschaffene Regelungen ersetzt.
1.
Bambergensis
In der von Johan Christian von Schwarzenbach entworfenen Bambergischen Peinlichen Halsgerichtsordnung von 1507 wird in Art. 142 die Strafbarkeit der Blutschande geregelt. Hier heißt es: »Item so ein unkeuscht mit seiner Stifftochter / mit seines suns eeweyb / oder mit seiner Stiffmutter / soellche unkeusch solle dem eebruch gleych / wie an dem hundertsten und funffundvierzigsten artickel von dem eebruch geschrieben stet / gestrafft werden / Aber von neher unkeusch wir tumb Zucht und Ergernuß willen zu melden unterlassen / wo 15 5. Buch Mose, Kap. 25, Vers 5 – 10. 16 Wittmann, Blutschande, S. 34, 35. 17 Ebd., S. 40, 41.
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19
aber noch nehere und boeßlichere unkeusch geuebt wurdt / So sol die straff derhalb nach Radt der verstendigen beschwerdt werden«18.
Strafbar waren also der intime Verkehr zwischen Schwiegervater und -tochter, Stiefvater und -tochter, Stiefmutter und -sohn und derjenige mit Personen, zu denen ein näherer Grad der Verwandtschaft bestand. Da für den Ehebruch in Art. 145 der Tod durch das Schwert vorgesehen war19, galt durch den entsprechenden Verweis diese Strafe auch für die Blutschande in den Stief- und Schwiegerverhältnissen. Der Hinweis auf die nach »Rat der verständigen« zu beschwerende Strafe findet sich auch in anderen Rechtsordnungen der Zeit20 und bedeutet die Verhängung einer qualifizierten Todesstrafe, deren genaue Bestimmung in das Ermessen der Rechtskundigen gestellt wurde. Interessant ist die Frage, wie in dieser Abstufung der Geschwisterinzest einzuordnen bzw. ob auch hier Todesstrafe vorgesehen ist. Im Kommentar Blumbachers zur Bambergensis findet sich die erhellende Anmerkung, dass, »da die Blutschande unter Geschwistern nicht so greulich ist, […] die Strafe Relegation und Fustigation21 [ist]22«. Diese Kommentierung lässt darauf schließen, dass bereits in der Bambergensis ein struktureller Unterschied zwischen dem Inzest in gerader Linie und solchem in der Seitenlinie gesehen wurde. Dem Schluss Wittmanns, dass hierin eine vom Normgeber gewollte systematische Unterscheidung liege23, ist daher beizutreten.
2.
Carolina
Auch wenn die Bedeutung der 1532 in Kraft getretenen peinlichen Halsgerichtsordnung Karls des V.24 für die die Entwicklung des deutschen Strafrechts insgesamt umstritten sein mag25, findet sie hier Beachtung als das »erste deut18 Constitutio Criminalis Bambergensis, Art. 142. Online verfügbar unter : http://www.unimannheim.de/mateo/desbillons/bambi.html. 19 Constitutio Criminalis Bambergensis, Art. 145. 20 Hierzu Wittmann, Blutschande, S. 56 mit Verweis auf die »Brandenburgica« in Fn. 26. 21 »Relegation« in der Bedeutung: Ausschließung, Verbannung; »Fustigation« zu übersetzen mit Prügelstrafe. 22 Blumbacher, Commentatius zur Peinlichen Halsgerichtsordnung, S. 232. 23 Wittmann, Blutschande, S. 57 mit Verweis auf die Entstehungsgeschichte der Norm und mit weitergehenden Argumenten in Fn. 27: »…so können wir gerade aus der Nichterwähnung der Geschwister in der CCB folgern, dass Schwarzenberg […] mit Absicht die Geschwister nicht anführte […]«. 24 Im Folgenden »Carolina« genannt. 25 Hierzu statt vieler Rüping, Die Carolina in der strafrechtlichen Kommentarliteratur, in: Strafrecht, Strafprozess und Rezeption: Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, S. 161 – 176.
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Hauptteil
sche Strafgesetzbuch«26, das überregionale Bedeutung erlangte und bis ins 19. Jahrhundert hinein Geltung beanspruchte. Die Carolina basiert auf der Bambergensis und übernimmt auch im Bereich der Sittlichkeitsdelikte ihren Duktus. So findet sich in § 117 die Bestimmung über die Strafbarkeit des Inzests unter dem Titel »Unkeusch mit nahenden gesipten freunden«: »Item so einer Unkeusch mit seiner Stieffdochter, Mit seines Sones eewyb, oder mit seiner stieffmutter treybt, jnn sollichen und noch nehern sippschafften solle die straff, wie darvor jnn Unnserer Vorfaren und Unnseren keyserlichen geschriebnen Rechten gesetzt, gepraucht Und derhalbby den Rechtsverstendigen Rate gesucht werden«27.
Die Norm entspricht weitestgehend Art. 142 der Bambergensis, es wurde lediglich der Verweis auf die Ehebruchstrafe durch einen Verweis auf die gemeinen und kaiserlichen geschriebenen Rechte ersetzt. Hierdurch sollte bei der Bestrafung des Inzests der Möglichkeit einer Befreiung von Ehehindernissen Rechnung getragen werden, wobei die genauen Hintergründe für das Abrücken vom Verweis auf den Ehebruch ungeklärt sind28. Die Carolina galt in Preußen bis zur Einführung des ALR 1794 und in anderen Teilen Deutschlands noch darüber hinaus.
3.
Codex Juris Bavarici Criminalis
Der Codex Juris Bavarici Criminalis vom 06. Januar 1756 enthält im »sechtsten Capitel« die Bestimmungen über die Blutschande. Das Strafgesetz löste im Königreich Bayern das Gemeine Recht als primäre Rechtsquelle ab und beruhte auf der CCC. Es ist in erster Linie Ausdruck des absoluten Herrschaftsanspruchs des Königs und enthält keine nennenswerte Umsetzung des Humanitätsgedankens, sondern vereinheitlicht vielmehr die bereits geltenden Sitten29. Die Strafen sind streng, leibliche Verwandte in gerader Linie werden mit dem Feuertod, Geschwister mit dem Tod durch das Schwert, Stiefeltern, -kinder und -geschwister mit Staupenschlag bestraft30. Verschwägerte werden ebenso wie 26 Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 11: Strafrechtsgeschichte, S. 328. 27 Constitutio Criminalis Carolina, Art. 117. Online verfügbar unter : http://daten.digitalesammlungen.de/~db//0002//bsb00029222/images/. 28 Vgl. hierzu Wittmann, Blutschande, S. 57 mit Hinweis auf zeitgenössische Kommentarliteratur sowie die römisch rechtlichen Quellen der Carolina im Fußnotenapparat. 29 Dannecker, Das intertempolare Strafrecht, S. 57. 30 CJBC, Sechstes Capitul, §. 1. »Fleischliche Vermischung zwischen so nahen Bluts-Verwandten oder verschwägerten Personen, daß nach geistlichen Rechten keine gültige Ehe unter ihnen bestehen mag, wird folgender massen gestrafft, und zwar so viel die BlutsVerwandt betrifft, seynd die Blutschänder und Blutschänderinnen in gerader auf- oder absteigender Linie mit dem Feuer, in der Seiten-Linie unter Geschwisterten mit dem
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Geschwister mit dem Tod durch das Schwert bestraft31, je entfernter der Grad der Verwandtschaft war, desto gemäßigter sollte die Strafe ausfallen32.
4.
Weitere Entwicklung und Einordnung
Zum Ausgang des Mittelalters begann eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der Stellung des Menschen in der Welt, die zu grundlegenden philosophischen Arbeiten führen sollte, die auch für die Strafrechtswissenschaft von entscheidender Bedeutung waren. Als Ausdruck des politischen Weltbildes des Mittelalters ist der Staat nicht mehr als das Werkzeug der göttlichen Ordnung und das Strafrecht als Instrument des Staates somit orientiert an der Durchsetzung dieser Ordnung. Die Sünde ist dadurch identisch mit dem Verbrechen und das Verbrechen eine Verletzung der göttlichen Ordnung33. Das Mittelalter kennt eine doppelte Moral in sexuellen Dingen. Einerseits sieht man in Keuschheit und ehelicher Treue höchste Gebote, andererseits ist man gegen Verfehlungen nicht überempfindlich34. Aus der systematischen Einordnung der Sittlichkeitsdelikte in der CCC zwischen öffentlichen Glauben und öffentlichen Frieden kann man erkennen, dass hier eher Gemeinschafts- denn Individualgüter geschützt sind35. Es widerstreiten hier die Prinzipien der Verletzung geistlichen Rechts und der Verletzung der obrigkeitlich angeordneten Sittlichkeit36. Bei der Blutschande besteht sowohl Unklarheit über den Tatbestand als auch über das hier geschützte Rechtsgut37. Mit dem Aufkommen des Naturrechts beginnt eine Art der Auseinandersetzung mit der Materie des Strafrechts, die die teilweise irrationalen Regelungen und grausamen Strafen der CCC als einen unreflektierten und inhumanen Strafkatalog erscheinen ließen. Berner führt hierzu mit einem Anflug von Lyrik aus: »Die fortgeschrittene Humanität fängt indeß bereits allgemein an, die übergroße Härte der PGO lebhaft zu empfinden«38. Mit dem Beginn der Epoche
31 32 33 34 35 36 37 38
Schwerdt, unter weiteren Collateral-Befreundten und zwar solchen, welche an Elteren Statt seynd, wie Vatter oder Mutter, Bruder und Schwester, oder Schwester- und Bruders-Kind und Encklen, mit dem Staub-Besen, unter den übrigen Seiten-Verwandten aber, mit der Landes-Verweisung auf ewig oder gewisse Jahr oder sonst arbitrariÀ, nachdem die Freundschaft näher oder weiter ist, abzustraffen.« CJBC, Kap. 6, § 2. CJBC, Kap. 6, § 1 a.E. V. Hippel, Deutsches Strafrecht I, S. 467. Bühler, Die Kultur des Mittelalters, S. 291 f. mwN. Würtenberger, Das System der Rechtsgüterordnung in der deutschen Strafgesetzgebung seit 1532, S. 46. Würtenberger beschreibt diese Situation als die »Geburt des Polizeistaates«, aaO, S. 47. Hierzu vgl. Hanke, Rechtsgüter bei Sittlichkeitsverbrechen, Diss. Jur., Marburg, 1926. Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 68.
22
Hauptteil
des Naturrechts beginnt auch in Bezug auf den Umgang mit den Sittlichkeitsdelikten ein neues Zeitalter.
III.
Ideengeschichtlicher Hintergrund vor 1871
Um die Problematik staatlichen Strafens im Grenzbereich privater Lebensgestaltung erörtern zu können, ist es notwendig, das rechtsphilosophische Fundament, aus dem sich die Fragestellung entwickelt, darzustellen. Es bedarf einer Betrachtung dessen, was als theoretische Grundlage den Ausgangspunkt der späteren Entwicklung bis zu den aktuellen konkreten Fragestellungen bildet. Die abstrakten Denkmuster sollen zunächst kurz dargestellt werden, um dann anhand konkreter Fragestellungen die Entwicklungen nachzuvollziehen, die bis heute die Grundlage für legislative Lösungsansätze bilden. Die Trennung von Ethik und Recht beschäftigt die Rechtsphilosophie seit der Antike. Bei der antiken Philosophie anzusetzen bedeutete aber den Rahmen der Arbeit zu sprengen. Denn erst in der Zeit des Naturrechts und der Aufklärung wurden jene Grundlagen gelegt, die bis heute unser Verständnis von Recht und Gerechtigkeit prägen. Daher soll hier der Ausgangspunkt die Epoche des Vernunftrechts sein.
1.
Naturrecht
Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 endete in Deutschland auch die Vorherrschaft religiös-autoritären Denkens39. Die damit zusammenhängende Verbreitung der Ideen der Aufklärung und der stärkere Geltungsanspruch der Naturwissenschaften beeinflussten die weitere Entwicklung des Rechtswesens. a)
Hugo Grotius
Als Grundwerk dieser auch als Naturrecht40 bezeichneten Epoche gilt »De iure belli ac pacis libri tres«41 von Hugo Grotius42, das eine »Emanzipation« der Rechtswissenschaft sowohl von theologischen Dogmen als auch von römischrechtlichen Traditionen einleitete43. Das anzuwendende Recht sollte seinen 39 Coing, Epochen, S. 69, Conrad, Bd. II, S. 374. 40 So der allgemeinere geisteswissenschaftliche Terminus, vgl. Luig, Vernunftrecht, in: HRG, Bd. 5, Sp. 781 – 782 (781). 41 Veröffentlicht 1623. 42 Kroeschell, Bd. III, S. 56 f. 43 Luig, Vernunftrecht, in: HRG, Bd. 5, Sp. 781 – 782 (782).
Ideengeschichtlicher Hintergrund vor 1871
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Geltungsanspruch nicht länger allein daraus beziehen, dass es aus Sitte und Tradition entstanden ist, daraus, dass es auf die kaiserliche Autorität bzw. das corpus iuris civilis zurückzuführen ist44. Es sollte vielmehr aufgrund einer dem Wesen und Gerechtigkeitsempfinden des Menschen selbst entspringenden Geltungskraft, auf Basis menschlicher Vernunft und Rationalität geschaffen werden und bestehen können45. Dabei ist zu beachten, dass die Grundlage des Naturrechts das römische Recht darstellte, das im 17. und 18. Jahrhundert gelehrt wurde46. Das römische Recht besitzt auch für Grotius Vorbildwirkung und Autorität aufgrund seiner rationalen Qualitäten, es zeige eine »bewundernswerte Gerechtigkeit«47 und sei deswegen auch von den meisten Völkern rezipiert worden48. Selbst aus der scholastischen Methode hervorgegangen49, löst das Vernunftrecht das römische Recht als im Zweifel allgemeinverbindliche Rechtsquelle ab und etabliert nicht nur eine eigene Methode der Rechtsgewinnung, sondern wird zum »sinngebenden Mittelpunkt der Rechtsphilosophie«50. In dieser Zeit entstanden jene rechtsphilosophischen Modelle, die bis heute unser Verständnis von Staat und Recht prägen. Hier soll insbesondere die Staatslehre Thomas Hobbes’ Beachtung finden, die bereits wesentliche Grundzüge noch heute gültiger Staats- und Straftheorie begründet. Den Schwerpunkt dieses Teils der Arbeit soll dann die Rechtslehre Kants bilden, der mit der Entwicklung seiner freiheitsbezogenen Rechtstheorie einen für die Zeit bahnbrechenden Ansatz zur Rechtsbegründung vertritt, der nach wie vor die Diskussion um Rechts- und Straftheorien beeinflusst. Eine genauere Betrachtung der Rechtslehre Kants erscheint daher für das Verständnis der Thematik unerlässlich.
b)
Hobbes’ Strafrechtsphilosophie
Hobbes geht bei seinen Betrachtungen von einem Urzustand der menschlichen Zivilisation aus, der bestünde, wenn es keinerlei regulatives Element des Zusammenlebens, keine Regeln im weitesten Sinne gäbe und keine autoritäre Gewalt, die steuernd auf das Verhalten aller Individuen einwirkt. Von einem Zustand, in dem »jeder zur Entfaltung seiner selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu etwas beizutragen scheint, tun kann«51. 44 45 46 47 48 49 50 51
Dahm, Deutsches Recht, S. 129 f. Ebd., S. 130; vgl. auch Meder, Rechtsgeschichte, S. 266 f. Voppel, Einfluß des Naturrechts, S. 180. Zit. nach Straumann, Hugo Grotius und die Antike, S. 122. Straumann, Hugo Grotius und die Antike, S. 123. Kroeschell, Bd. III, S. 57; Dahm, Deutsches Recht, S. 131. Wolf, Große Rechtsdenker, S. 313. Hobbes, Leviathan, Kap. 14, S. 118.
24
Hauptteil
Hieraus folge für den Einzelnen auch das Recht, »sich zu erhalten, auch das Recht für ihn, alle Mittel zu gebrauchen und alle Handlungen zu tun, ohne die er sich nicht erhalten kann«52. Ein Zustand also, worin ein Mensch alles tun darf, was seinem Willen entspricht, solange er nicht von einem anderen mit Gewalt daran gehindert wird. Diesen Zustand nennt er den »Naturzustand«. Dieser Zustand sei durch das Wesen des Menschen selbst gekennzeichnet: »Aber seine Triebkräfte führen zu einem allgemeinen Streben nach Lustmaximierung und Machtakkumulation, die zum Konflikt führen«53. Die Hauptursachen dieses Konfliktes sieht er in Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht54. Der Naturzustand sei daher ein Zustand »gewaltbereiten Misstrauens«55, oder, wie es Hobbes selbst am prägnantesten formuliert, »der Zustand des Krieges aller gegen alle«56. Den Ausweg aus dieser Situation sieht Hobbes darin, dass die Einzelnen wechselseitig darauf verzichten, zur Selbsterhaltung jedes beliebige Mittel einzusetzen, unter der Bedingung, dass andere dies auch tun57. Dieser wechselseitige Verzicht bilde die Voraussetzung, den Konflikt des Naturzustandes zu überwinden. Nach Art eines gegenseitigen Versprechens wird dieser Vorgang als »Gesellschaftsvertrag« bezeichnet. Damit der Inhalt dieses Vertrages aber auch praktisch umgesetzt werden und nicht nach Belieben aufgekündigt werden könne, bedürfe es einer obersten Zentralgewalt, der die Einzelnen ihren Willen unterwerfen und sich der Freiheit begeben, einen anderen daran zu hindern, den Nutzen aus seinem Recht hierauf zu ziehen58. Allein der Souverän, der die legislative Gewalt innehabe, habe das Recht, »kraft Autorität […] gemeinsame Regeln oder Maßstäbe zur Unterscheidung von gut und böse aufzustellen«59. Diese Konzeption einer von allen anzuerkennenden Autorität stellt die zentrale Institution des gesellschaftlichen Zusammenlebens dar ; diese Institution heißt »der Staat«, und ihre Errichtung als Kernelement der Hobbesschen Staatstheorie bedeutet gleichsam »die Geburt des großen Leviathans oder des sterblichen Gottes«60. Die Setzung von Recht bildet hierbei das Steuerungsmittel des Staates gegenüber den einzelnen »Untertanen«61. Somit liegt auch für Hobbes das Strafmonopol beim Staat62, da »niemand ein geeigneter Schiedsrichter in eigener
52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Hobbes, De Cive, Kap. 1, Ziff. 8. Hobbes, Leviathan, S. 95. Ebd., S. 64. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 64. Hobbes, Leviathan, Kap. 13, S. 117 (the war of every man against every man). Hobbes, Leviathan, Kap. 17, S. 155. Hobbes, Leviathan, Kap. 14, S. 100, vgl. auch De Cive, Kap. 2, Ziff. 3. Hobbes, Leviathan, Kap. 20, S. 160. Hobbes, Leviathan, Kap. 17, S. 155. Lampe, Grenzen des Rechtspositivismus, Vorwort. Kremkus, Andreas, Die Strafe und Strafrechtsbegründung von Thomas Hobbes, S. 23.
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Sache« sei63. Die Frage, die sich hieran auf den ersten Blick logisch anschließen muss, ist die Frage danach, wie diese Gesetze bestenfalls gestaltet sein müssten und wie sie sich legitimieren. Hierzu äußert Hobbes sich knapp: »Deshalb widerstreitet es besonders der Pflicht der Herrscher, und verantwortlichen Gesetzgeber, wenn der Gesetze mehr sind, als das Wohl der Bürger und des Staates unbedingt erfordert64. Es gehört daher zu den Aufgaben des Gesetzgebers, […] die Gründe klarzulegen, weshalb das Gesetz erlassen wurde, und das Gesetz selbst so kurz, aber in so treffenden und bezeichnenden Worten abzufassen, wie möglich«65. Eine besondere Legitimierung der durch die souveräne Zentralinstanz geschaffenen Normen ist für Hobbes schon deswegen überflüssig, weil die Existenz der Zentralinstanz auf einem Konsens aller beruht und folglich auch die aufgestellten Normen letztlich dem Willen aller entsprechen mit der Folge, dass es keine ungerechten Normen geben kann, da niemand gegen sich selbst ungerecht sein kann. Für Hobbes ist das Verhältnis der Einzelnen zum Souverän, zum Staat, das Entscheidende. Seine Überlegung heißt nicht: Welche Anforderungen sind nun an diese Gesetze, die Lenkmittel der Autorität, die ein jeder zu befolgen durch den »Gesellschaftsvertrag« zugesichert hat, zu stellen. Die Frage danach, welches Verhalten aus welchen Gründen für strafbar erachtet werden kann, darf, bzw. sollte, tritt hinter die Frage zurück, welcher Mittel (Strafe) sich die Staatsgewalt bedienen muss, um die Einhaltung des Gesellschaftsvertrages durchzusetzen, und welche Zwecke mit der Strafandrohung verbunden sind. Sein Augenmerk liegt daher eher auf einer Analyse der Strafzwecke durch die Entwicklung von Straftheorien, auf dem Wirksystem der Strafandrohung zur »Verhaltenssteuerung« der Normadressaten, als auf der Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung der Strafgesetze selbst. Die einzige Beschränkung, welcher der Gesetzgeber unterliegt, ist bei Hobbes die Beschränkung auf das »Notwendige«66. Gerecht ist alles das, was der Gesetzgeber für gerecht hält: »Denn vor Schaffung von Abmachungen und Gesetzen gab es bei den Menschen keine Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit, noch auch einen Wesensbegriff des allgemeinen Guten oder Schlechten, ebenso wenig wie bei den Tieren«67. Strafrecht ist bei Hobbes in erster Linie ein Mittel des Staates, seine Macht zu erhalten, ein »bloß äußeres Machtverhältnis, in dem die Wohlinteressen der einen gegen andere nach bloßer Zweckmäßigkeit durchgesetzt werden«68, und mithin letztendlich das Mittel zur Erhaltung des Staates selbst69. Was aus heutiger Sicht 63 64 65 66 67 68 69
Hobbes, Leviathan, Kap. 15, S. 120. Hobbes, De Cive, Kap. 13, S. 214 f. Hobbes, Leviathan, Kap. 30, S. 265. S.o., Hobbes, De Cive, Kap. 13, S. 214 f. Hobbes, De Homine, Kap. 10, Ziff. 5 a. E. Köhler, Strafrecht allgemeiner Teil, S.45. Vgl. auch Kremkus, Strafe und Strafrechtsbegründung von Hobbes, S. 116.
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befremdlich wirkt, stellt sich für Hobbes als unausweichliche Notwendigkeit dar70, um ein friedliches Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten: »Durch die Auflösung des Begriffes »ungerecht« in eine Handlung wider das Gesetz, und des Begriffes »Gesetz« in den Befehl dessen, oder derjenigen, die die Macht und erzwingbare Gewalt besitzen, und des Begriffs »Macht« in den Willen der Menschen, die eine solche Gewalt des Friedens wegen einsetzen, wird man schließlich zu dem Ergebnis gelangen, dass die Triebe und Seelenregungen der Menschen von irgendeiner Macht in Schranken gehalten werden müssen, weil die Menschen sich sonst gegenseitig bekriegen würden71.
Obwohl die Frage nach dem legitimen Inhalt eines Strafgesetzes bei Hobbes mangels eines »apriorischen Rechtsgesetzes«, durch das die »Rahmenbedingungen für den staatlichen Rechtszwang bestimmt werden können72, nicht im Kern diskutiert wird, bildet seine Staats- und Strafphilosophie die Basis für die Beantwortung dieser Frage; einen Rahmen, den maßgeblich Immanuel Kant ausfüllen wird.
2.
Aufklärung
Im Zeitalter der Aufklärung findet eine intensive Auseinandersetzung mit den althergebrachten Anschauungen von der Stellung des Menschen in der Welt statt. Hieraus werden Ansprüche an das von einem Menschen zu fordernde Handeln abgeleitet, auf die später noch eingegangen werden wird. Das Strafrecht war als eigene wissenschaftliche Disziplin noch im Entstehen begriffen und bildete sich erst in dieser Phase als eigenständiges Rechtsgebiet heraus. Als entscheidend ist hierbei die Ablösung von dem vorherrschenden Menschenbild der Moraltheologie zu sehen. Die (auch rechtliche) Qualifizierung eines Verhaltens als Recht oder Unrecht bemaß sich dort nach der Übereinstimmung mit dem »gottgewollten« Verhalten, letztlich also mit kirchlichen Dogmen. Erst mit dem Gedanken an den Staat als autonomen Normgeber entwickelt sich die Idee, eine staatliche Strafe ausschließlich mit der Verletzung einer durch ihn aufgestellten Norm zu begründen. Hieraus folgt dann auch nach und nach die Trennung einer rein rechtlichen Ebene, deren Maßstab staatliche Verhaltensvorschriften sind, von der sittlich-moralischen Ebene, deren Maßstab der göttliche Wille, mithin ein Zustand vollkommener Tugendhaftigkeit ist.
70 Diesselhorst, Naturzustand und Sozialvertrag bei Hobbes und Kant, S. 53. 71 Hobbes, De Corpore, Kap. 6, Ziff. 7. 72 Hüning, Von der Tugend der Gerechtigkeit zum Begriff der Rechtsordnung: Zur rechtsphilosophischen Bedeutung des suum cuique tribuere bei Hobbes und Kant, S. 53 (77).
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a)
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Einfluss Kants
Das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit ist eines der großen Themen in Kants Philosophie. Maßgeblich in seinem Spätwerk »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre« entwickelt er eine eigene Rechtstheorie, in der er das Verhältnis von Recht und Moral grundlegend untersucht. Voraussetzung dafür, dieses Verhältnis zu bestimmen, ist es, zunächst den Inhalt dieser Begriffe zu Bestimmen. aa) Trennung von Rechtspflichten und Tugendpflichten Den Rechtsbegriff bestimmt Kant als »…das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluss haben können«73betreffend. Alle lediglich inneren Vorgänge können nach Kant nicht Bestandteil des Rechtsbegriffs sein: »Ein striktes (enges) Recht kann man also nur das völlig äußere nennen«74. Es stellt eine Grundvoraussetzung des Rechts dar, dass ein solches handelndes Einflussnehmen auf einen anderen nicht lediglich in Vorsatz, einer Absicht, der Meinung oder Gesinnung bestehen kann75, was zur Folge hat, dass dem Staat der Zugriff auf die Moralität seiner Bürger verwehrt ist76. Ein Rechtsgesetz, das die Gesinnung der Rechtsunterworfenen regeln wollte, stellte unter diesem Gesichtspunkt einen unzulässigen Kompetenzmissbrauch seitens des Staates dar und bedingte, dass sich Richter und Staatsanwälte von »Wahrern des Rechts« zu »Hütern der Moral« wandeln77. Dem (strikten) Recht als solchem solle »nichts Ethisches beigemischt« und es »nicht mit Tugendpflichten vermengt« sein78. Kant bezeichnet entsprechend auch die äußerlichen Pflichten als »Rechtspflichten«, denen er die innerlichen »Tugendpflichten« gegenüberstellt. Den wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Pflichten erblickt Kant darin, dass zur Befolgung rechtlicher Pflichten ein »äußerer Zwang moralisch-möglich« sei, während Tugendpflichten »auf dem freien Selbstzwange allein« beruhten79. In dieser Unterscheidung zwischen innerer und äußerer
73 Kant, AA, Bd. VI, MdS/RL, S. 230. 74 Ebd., S. 232. 75 Deggau, die Aporien der Rechtslehre Kants, S. 47, hierzu auch Jacobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, in: ZStW 1985, S. 751, 761 f. 76 Zacyk, Gerechtigkeit als Begriff einer kritischen Philosophie im Ausgang von Kant, in: ARSP Beiheft 56 (1994), S. 105 (115). 77 Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 88. 78 Kant, AA, Bd. VI, MdS/RL, S. 232. 79 Kant, AA, Bd. VI, MdS/TL, S. 383.
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Verpflichtung liegt bei Kant die erste deutliche Grenze zwischen Recht und Moralität80. Aus dieser Unterscheidung folgert Kant, dass »alle Pflichten […] entweder Rechtspflichten (officia iuris) [sind], d.i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis, s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist…«81. Das Recht ist für Kant daher »…der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«82. bb) Freiheit als Bezugspunkt für die Rechtsbegründung bei Kant Da es wie gezeigt nicht ethische Pflichten sind, die bei Kant Inhalt des Rechtsbegriffs sind, bedarf es eines anderen Elements, das Bezugspunkt für die Unterscheidung von Recht und Unrecht sein kann. Dieses Element ist in der kantischen Rechtslehre die Handlungsfreiheit des Einzelnen, die er definiert als die Freiheit, sein Verhalten nicht dem Willen eines anderen zu beugen, als »Freiheit von eines anderen nöthigender Willkür«83. Dies ist auch der Maßstab, an dem Kant die Begriffe von Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit definiert: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc. Wenn also meine Handlung, oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut mir der Unrecht, der mich daran hindert…«84.
Es ist also nicht das »Wohl«, sondern das »Recht« des Mitmenschen Thema des kantischen Rechtsbegriffs85. Hierin ist eine entscheidende Beschränkung dessen zu erkennen, was ein Gesetzgeber dem Normadressaten abverlangen darf, nämlich nicht sittlich wertvolles, vernünftiges oder kluges Handeln86, sondern nur, dass die Freiheitssphäre eines anderen nicht verletzt wird. Vielmehr muss man nach Kant auch »die Freyheit haben, nach seinem Belieben thorigt zu sein«87. Diese Beschränkung durch die Orientierung an dem jedem Menschen natürlicherweise 80 Kühl, Die Bedeutung der Kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität sowie von Rechtspflichten und Tugendpflichten, S. 146. 81 Kant, AA, Bd. VI, MdS/RL, S. 239. 82 Ebd., S. 230. 83 Kant, AA, Bd. VI, MdS/RL, S. 237. 84 Ebd., S. 230. 85 Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, S. 68. 86 Vgl. auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 146. 87 Kant, AA, Bd. XV, Reflexionen zur Anthropologie, S. 230
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»kraft seiner Menschheit« zustehenden Freiheitsrecht88 stellt gleichsam die Weiterentwicklung der hobbesschen Staatslehre dar, denn sie bildet eben jenes Prinzip, anhand dessen sich die Legitimation von Gesetzen ableiten lässt, das Hobbes nicht liefern konnte89. Das Fehlen eines solchen metaphysischen Prinzips der Freiheitsbeschränkung bei Hobbes ergibt für Kant daher einen »despotischen« Charakter der Hobbesschen Staatstheorie90. Die dargestellte Einteilung menschlicher Verhaltenspflichten in Rechts- und Tugendpflichten, die damit einhergehende Scheidung von Moralität und Legalität bedingt die Einstufung der Rechtslehre Kants als freiheitsrechtlicher Rechtsbegründung. Allerdings durchbricht Kant selbst dieses Prinzip durch die Konstruktion eines an sich systemwidrigen Korrektivs. cc) Relativierung der Freiheitsmaxime und Folgerungen für das Strafrecht Das Prinzip der Maximierung der Handlungsfreiheit des Einzelnen gilt bei Kant nicht uneingeschränkt. Es finde seine Grenze in den »Pflichten gegen sich selbst«, die »schlechterdings nothwendige Pflichten in Ansehung des Rechts der Menschheit« darstellten91. Die Existenz solcher Pflichten gegen sich selbst leitet Kant antagonistisch her, indem er ein »Recht der Menschheit« als bestehend voraussetzt, dass einem jeden Menschen inne wohne. Dieses »Recht der Menschheit« als Inbegriff des Menschseins könne durch bestimmte Handlungen verletzt werden, nämlich durch solche, durch die ein Mensch an sich selbst die Würde der Menschheit als solche verletzt. Hierfür liefert er auch explizit Beispiele: So sei es eine »Verletzung der Menschheit«, wenn ein Mensch »seinen Körper einem Andern zur unmittelbaren Befriedigung seiner Lust an demselben d. i. zum Genuß […] hingiebt […] und zwar im Puncte des Rechts überhaupt«92. Strafbare Verbrechen an der Menschheit überhaupt seien darüber hinaus »z. B. das der Nothzüchtigung, imgleichen das der Päderastie, oder Bestialität«93. Derartige Verbrechen hießen unnatürlich, weil sie »an der Menschheit selbst« begangen würden94. Dieses »Recht der Menschheit« nicht zu verletzen sei also eine »Pflicht gegen uns selbst«. Genau hierin liegt auch der Widerspruch zur oben dargestellten These, dass das Recht stets etwas Äußeres und mit Zwang Durchsetzbares sei. Denn Pflichten gegen uns selbst sind, wie Kant selbst sagt, 88 Kant, AA, Bd. VI, MdS/RL, S. 237. 89 Vgl. hierzu Hüning, Von der Tugend der Gerechtigkeit zum Begriff der Rechtsordnung: Zur rechtsphilosophischen Bedeutung des suum cuique tribuere bei Hobbes und Kant, in: Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, S. 53 (75 f.). 90 Hüning, in: Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, S. 53 (75). 91 Kant, AA, Bd. XXIII, Vorarbeiten MdS, S. 380. 92 Ebd., S. 358. 93 Kant: AA VI, MdS/RL – Anhang, S. 363. 94 Ebd.
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ethische Pflichten95. Während die Strafbarkeit von Notzucht96 und Pädasterie auch nach Kants Maßstab des Eingriffs in die Freiheitsspähre eines anderen selbstverständlich erscheint, wird der Widerspruch am Beispiel der »Bestialität«97 sehr deutlich, denn bei diesem Delikt wird keinesfalls in die Freiheitssphäre eines anderen Menschen eingegriffen. Über das Mittel der »Pflichten gegen uns selbst« weicht Kant die theoretisch sehr scharfe Grenzziehung zwischen Sittlichkeit und Recht wieder auf. Dieser unauflösliche Widerspruch soll indes nicht das Konzept der kantischen Rechtsphilosophie als solches in Frage stellen, sondern vielmehr die Problematik im Umgang mit extrem außerhalb unserer Vorstellungen liegendem menschlichen Verhalten aufzeigen, die mit einer konsequent freiheitsorientierten Rechtstheorie verbunden ist98. Ausgehend von der Forderung an den Staat, durch Strafgesetze jedem Bürger einen maximalen Grad von Freiheit zu gewährleisten und ihn nicht auf sittlicher Ebene zu »seinem Glück zu zwingen«99, muss der Anspruch an die Ausgestaltung von Strafrechtsnormen näher präzisiert werden. Einen entscheidenden Beitrag hierzu leistet in der Folgezeit Paul Johann Anselm von Feuerbach100.
b)
Weiterentwicklung, Bedeutung für die Naturrechtskodifikationen
Kants Abhandlungen zur Rechtslehre in der »Methaphysik der Sitten« haben maßgeblichen Einfluss auf alle weiteren Beschäftigungen mit der Strafrechtsdogmatik gehabt. So auch auf Feuerbach, der bekanntlich das deutsche Strafrecht maßgeblich mitgestaltet hat. Feuerbach war Zeitgenosse Goethes, Napoleons und Kants, er lebte in einer Zeit101, in der auf allen Gebieten der Geisteswissenschaften neue Ideen sich Bahn brachen, es war »die Zeit im Übergang zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen Naturrecht und Positivismus, in der die modernen Staaten entstanden«102 und in der auch in der Strafrechtswissenschaft wegweisende Umbrüche anstanden. Feuerbach war maßgeblicher Gestalter dieses Umbruchs. Er entwickelte die Rechtslehre Kants weiter, strebte den Übergang ins Praktische an, der bei Kant nicht stattfindet103, und beein95 96 97 98 99 100
Kant, AA, Bd. XXIII, Vorarbeiten MdS, S. 380. i. S. von Vergewaltigung. i. S. von Sodomie. Vgl. hierzu auch Mosbacher, S. 102. Moosbacher, S. 107. Cattaneo, Die Idee des Naturrechts und der Menschenwürde bei Kant und Feuerbach, in: Die Bedeutung P.J.A. Feuerbachs (1775 – 1833) für die Gegenwart, S. 9. 101 Geboren am 14. 11. 1775 in Jena, gestorben am 29. 05. 1833 in Frankfurt am Main. 102 Cattaneo, Die Idee des Naturrechts und der Menschenwürde bei Kant und Feuerbach, in: Die Bedeutung P.J.A. Feuerbachs (1775 – 1833) für die Gegenwart, S. 9 (16). 103 Haney, Philosophie bei Feuerbach, in: Die Bedeutung P.J.A. Feuerbachs (1775 – 1833) für die Gegenwart, S. 17 (30).
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flusste die Entstehung der ersten modernen Strafrechtskodizes – nicht zuletzt durch die Federführung bei der Erarbeitung des bayrischen Strafgesetzbuches von 1813. Gustav Radbruch nannte ihn daher den »Begründer des Rechtsstaates für das Gebiet der Justiz, insbesondere der Strafjustiz«104. Feuerbach spielt daher auch für das Thema dieser Arbeit eine wichtige Rolle, wobei auch hier der Fokus auf dem Bereich der Reibungspunkte zwischen Recht und Sittlichkeit liegen soll. aa) Philosophie und Strafrechtsdogmatik bei Feuerbach In seiner im Jahre 1800 erschienen Schrift »Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts« skizziert er seine Vorstellungen von den Prinzipien, die Grundlage eines komplexen Strafrechtssystems sein sollten. Er nimmt hierbei deutlich Bezug auf die Vorarbeiten der Aufklärungsphilosophie, namentlich Kants, ohne sich damit zu begnügen, auf eben diese Autorität zu verweisen105. Die dringlichste Aufgabe bei der Konzeption eines umfassenden Strafrechtssystems sieht er darin, eben jenes Verhältnis zwischen moralischem Anspruch und staatlicherseits gebotener Selbstbeschränkung beim Erlass von Strafrechtsnormen zu entwirren, da »die Verwechslung des moralischen und des rechtlichen Standpunktes, des inneren und des äußeren Forums, der bürgerlichen und der moralischen Strafbarkeit der Handlungen […] hier die größte Verwirrungen verursacht…«106 habe. Feuerbach stimmt mit Kant in der Scheidung von Moralität und Legalität mit dem Inhalt der inneren Pflicht einerseits und des äußeren, dem Zwang zugänglichen Rechts überein107. Er definiert das Recht als »eine Zwangsmöglichkeit solcher Handlungen, wodurch ein anderes vernünftiges Wesen nicht als beliebiges Mittel zu beliebigen Zwecken behandelt wird«108. Er zieht daraus in Bezug auf das Strafrechts auch die gleiche Schlussfolgerung wie Kant, indem er behauptet, dass ein Gesetzgeber solche Handlungen nicht bestrafen dürfe, die nicht äußerlich erkennbar werden und somit auch keine Rechtsverletzung, vielmehr lediglich die Ausübung eines Rechts darstellten, die »den Bürgern in dem Unterwerfungsvertrage unbedingt vorbehalten ist«109. Feuerbachs Rechtsphilosophie ist geprägt von dieser scharfen Trennung von Recht und Moral; der Gedanke, dass das Recht sittliches Handeln zwar ermöglichen, jedoch nicht erzwingen dürfe, ist bis heute ein 104 Radbruch, Eine Feuerbach-Gedenkrede, S. 7 (gehalten anlässlich Feuerbachs 100. Todestag am 29. Mai 1933). 105 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts – Vorrede, in: Haney (Hrsg.), Naturrecht und positives Recht – Ausgewählte Texte von Johann Anselm von Feuerbach, S. 59. 106 Ebd., , S. 65. 107 Feuerbach, Kritik des natürlichen Rechts, S. 289. 108 Ebd., S. 295. 109 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. II, S. 13.
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bedeutsames Kernstück des freiheitlichen Rechtsstaates110. Hier sind sich Kant, Feuerbach und Humboldt einig, was die »Wohlfahrtsdespotie« angeht. Als straflos mangels Äußerlichkeit bezeichnet er beispielhaft Zauberei, eine dem Staate gefährliche Meinung oder einen der Staatsreligion widersprechenden Glauben111. Feuerbach formuliert selbst prägnant und eindeutig: »Es ist nicht das Pflichtwidrige und Sündige, sondern allein die Gefährlichkeit und Schändlichkeit der That, (für den rechtlichen Zustand) welche der Staat bestraft«112. Folglich spricht Feuerbach dem Staat – ausgehend von dem bereits von Kant herausgearbeiteten Gedanken der Negation allgemeingültiger ethischer Gesetze, also auf der Basis des Begriffs einer subjektivierter Ethik – sowohl das Recht als auch die Fähigkeit ab, den moralischen Wert der Handlungen seiner Bürger zu beurteilen113. Es sei daher letztendlich auch die einzige Aufgabe, die der Staat gegenüber seinen Bürgern habe, die Sicherheit der Rechte (des Einzelnen) zu gewährleisten114. bb) Dogmatik und Sittlichkeitsdelikte bei Cesare Beccaria Einer der bedeutendsten und zugleich im Bereich der Strafrechtsdogmatik einflussreichsten Juristen seiner Zeit war Cesare Beccaria. In seiner Abhandlung »Über Verbrechen und Strafen« stellt er seine Thesen zur Gestaltung eins strafrechtlichen Normenkanons dar. Viele der hier geäußerten Ansätze fanden Eingang sowohl in den französischen Code P¦nal von 1804 als auch in das preußische ALR von 1794. Eingangs unterscheidet er drei verschiedene Klassen von Tugend und Laster : die religiöse, die natürliche und die politische.115 Diese drei dürften zwar nie miteinander in Widerspruch stehen, jedoch sei zu beachten, dass sich »…nicht alle Forderungen und Pflichten, die sich aus der einen ergeben [auch] aus den anderen [ergeben]«.116 Hieraus ergibt sich für ihn der Schluss, dass die Verbrechen nach dem »der Gesellschaft zugeführten Schaden« bemessen werden sollen.117 Weiter führt er aus: »Jedes Verbrechen, mag es noch so privat sein, verstößt gegen die Gesellschaft, aber nicht jedes Verbrechen zielt unmittelbar auf ihre Zerstörung ab«118. Er leitet daraus ein Modell ab, nach dem 110 Radbruch, Eine Feuerbach-Gedenkrede, S. 9 (gehalten anlässlich Feuerbachs 100. Todestag am 29. Mai 1933). 111 Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 19. 112 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 66. 113 Ebd., S. 29, vgl. auch Hess, Zum Verhältnis von Recht und Sittlichkeit im Rechtsdenken des 19. Jahrhunderts, S. 43 f. 114 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 31. 115 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, Vorwort. Hier vorliegend in der Übersetzung der Auflage von 1766, Übersetzt von Wilhelm Alff, dort S. 45. 116 Beccaria, S. 45. 117 Ebd. 118 Beccaria. S. 61.
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sich alle Handlungen, die als Verbrechen zu klassifizieren seien, in eine »Stufenleiter von Störungen« einfügen, innerhalb derer die oberste Stufe aus denjenigen Verbrechen besteht, welche unmittelbar zur Zerstörung der Gesellschaft führen, während die unterste das geringstmögliche Übel darstellt, das einem einzelnen Mitglied der Gesellschaft zugefügt wird. Beccaria stellt fest: »Innerhalb dieser Endstufen liegen sämtliche gegen das öffentliche Wohl gerichteten Handlungen, die man Verbrechen nennt und die in kaum merklicher Abstufung vom Erhabenen bis hinab zum Niedrigsten reichen«119. Keine nicht innerhalb dieser Grenzen einbegriffene Handlung könne daher als Verbrechen bezeichnet oder als ein solches bestraft werden.120 Der Unrechtsgehalt »privater« Verbrechen ist nach Beccaria jedoch nicht nur aufgrund der problematischen Grenzziehung zur Unmoral zweifelhaft, sondern vor allem wegen ihres schwierigen Nachweises. Der Bereich der »privaten« Verbrechen stellt für Beccaria die Gruppe der am schwersten zu beweisenden Verbrechen dar. Am Beispiel des Ehebruchs, der griechischen- und der attischen Liebe121 stellt er zunächst den gesellschaftsschädigenden Charakter dieser Handlungen in Frage122 und gibt darüber hinaus zu bedenken, welche Begleitschäden eine eingehende Untersuchung dieser privaten Verbrechen haben kann: »Und dennoch sind der Ehebruch und die griechische Liebe, die so schwer erweisliche Verbrechen sind, zugleich jene, die den überkommenen Grundsätzen zufolge tyrannische Vermutungen […] zulassen und bei denen die Folter ihre grausame Herrschaft über die Person des Angeklagten, über die Zeugen und schließlich über die ganze Familie eines unglücklichen ausübt […]«.
Etwas verklausuliert äußert Beccaria Zweifel an der Notwendigkeit, solch »abscheuliches« privates Sexualverhalten zu pönalisieren, denn seiner Ansicht ist »…der Schaden der Straflosigkeit um so geringer zu werten, […] als die Häufigkeit dieser Verbrechen von anderen Gründen herrührt, denn der Gefahr der Straflosigkeit…«123. cc) Das Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern von 1813 Man könnte daraus schließen, dass auch das von Feuerbach maßgeblich gestaltete »Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern« von 1813 von diesem Geist 119 120 121 122
Ebd. Ebd. Hier zu verstehen als Homosexualität. Beccaria, S. 126, 127: »Es [das Verbrechen des Ehebruchs] entsteht aus dem Mißbrauch eines beständigen und der ganzen Menschheit gemeinsamen Bedürfnisses, das älter als die Gesellschaft, ja ihr Begründer ist, während die anderen Verbrechen, die sie zu zerstören geeignet sind, einen mehr von augenblicklichen Leidenschaften als von einem Naturbedürfnis bestimmten Ursprung haben«. 123 Beccaria, S. 126.
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des Rechtsverletzungsdogmas durchdrungen ist. Dies trifft jedoch nur eingeschränkt zu, wie noch zu zeigen sein wird. Bevor im Einzelnen auf das StGB für das Königreich Baiern von 1813 eingegangen wird, soll kurz dargestellt werden, vor welchem gesetzgeberischen Hintergrund dieses Strafgesetzbuch entstanden ist. In weiten Teilen Deutschlands galt die peinliche Halsgerichtsordnung Karls des IV von 1532124 bis ins 19. Jahrhundert125. Sie wurde in Bayern 1616 modifiziert durch die sog. Malefizordnung. Diese beruhte allerdings nach wie vor auf der CCC und stellt insofern keine wesentliche Neuerung dar126. Auch der von Kreitmaier verfasste Codex Iuris Bavaricus von 1751 fußte noch auf der CCC127. König Maximilian selbst erkennt aufgrund der unübersichtlichen Zersplitterung in den Territorien einen dringenden Handlungsbedarf für die Reform der veralteten Strafgesetzgebung. Nachdem das von Kleinschrod nach dem Vorbild des ALR entworfene Gesetzbuch 1802 aufgrund seiner überladenen Kasuistik und inhaltlicher Widersprüche128 sich massiver Kritik ausgesetzt sah, beeindruckte die Kritik Feuerbachs den Gesetzgeber derart, dass jener selbst mit der Erstellung eines Entwurfes für ein Strafgesetzbuch für das gesamte Königreich Bayern beauftragt wurde129. Diesen Entwurf stellte er im Jahre 1807 fertig. 1810 wurde er als offizieller amtlicher Entwurf von einer 1. Kommission beraten, der ab dem 26. 05. 1811 eine 2. Kommission folgte130. Über den überarbeiteten Entwurf Feuerbachs wurde dann in insgesamt vier Debattenreihen beraten, bis er schließlich am 1. 10. 1813 als Gesetz in Kraft trat. In den Anmerkungen zum StGB von 1813 wird ganz im Geiste Feuerbachs proklamiert, worin sich das neue Strafgesetzbuch von seinen Vorläufern unterscheiden soll: »Die älteren Gesetze haben gar oft das Unmoralische mit dem Rechtswidrigen verwechselt, und die Immoralität der Handlung zum Maßstab angenommen, wornach sie den Karakter der Strafe bestimmt haben«131. Die Tatbestände der Hexerei, Sodomie, Unzucht, Unglauben, Ketzerei, Blasphemie seien zwar missbilligenswert, solange jedoch »keine Verletzung der Rechte des
124 Auch bekannt als Constitutio Criminalis Carolina, im Folgenden »CCC«. 125 Lieberwirth, Constitutio Criminalis Carolina, in: HRG Bd I, Sp. 885. Online verfügbar unter : http://www.HRGdigital.de/HRG.constitutio_criminalis_carolina. 126 Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern nach den Protokollen des königlichen geheimen Rats, Bd. 1, S. 4. 127 Anmerkungen, Bd.1, S. 7. 128 Hier sei nur darauf hingewiesen, dass der Entwurf 1563 §§ umfasste und unter anderem den widersinnigen Tatbestand einer fahrlässigen Bigamie enthielt. 129 Rosenberger, Das Sexualstrafrecht in Bayern von 1813 – 1871, S. 43. 130 Rosenberger, S. 47. 131 Anmerkungen, Bd. 1, S. 25.
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Staates oder eines Privaten« damit verbunden sei, lägen sie »ausser der Sphäre eines Strafgesetzbuches«132. Vollständig entfällt dann konsequenterweise auch die Strafbarkeit der Gotteslästerung, was Feuerbach in seinem Lehrbuch wie folgt begründet: »Dass? die Gottheit injuriert werde, ist unmöglich, dass sie wegen Ehrbeleidigung an Menschen sich räche, undenkbar ; dass sie durch Strafe ihrer Beleidiger versöhnt werden müsse, Torheit«133. Andere Handlungen, die nach der genannten Definition Feuerbachs keine Rechtsverletzungen darstellen, weil sie lediglich ethische Pflichten verletzen, ohne in den subjektiven Rechtsbereich eines anderen einzugreifen, stehen im bairischen StGB von 1813 jedoch sehr wohl unter Strafe. Zwar findet sich keine eigene Klassifizierung für sie, wie etwa »Sittlichkeitsdelikte« o. ä., jedoch wird im Abschnitt »Von Beschädigungen und andern Misshandlungen an der Person« überraschenderweise gerade der Inzest, der für Feuerbach in der Theorie kein Verbrechen darstellt134, in Art. 206, 207 mit Strafe bedroht135. Bei Art. 206 ergeben sich keine Widersprüche, da hier Kinder vor sexuellem Missbrauch geschützt werden sollen136. In Art. 207 jedoch wird neben verschiedenen Konstellationen eines Abhängigkeitsverhältnisses in der ersten Variante auch der Inzest zwischen erwachsenen leiblichen Geschwistern bestraft137. Dabei handelt es sich – entgegen der missverständlichen Behauptung Palmens – auch nicht um die Verletzung eines Pflichtverhältnisses138, dies kann insoweit nur für die weiteren Varianten des Tatbestandes des Art. 207 gelten. In der ersten Variante der Vorschrift des Art. 207 ist vielmehr ein eindeutiger Bruch der Gesetzessystematik und des Rechtsverletzungsdogmas zu sehen. Der Grund für diesen Systembruch ist in der Entstehungsgeschichte der Norm zu suchen. Diese gibt dabei ein gutes Beispiel dafür, wie sehr damals wie heute emotionale Faktoren den 132 133 134 135
Ebd. Feuerbach, Lehrbuch, S. 250. Vgl. auch Palmen, Der Inzest, S. 58. Das Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern ist online verfügbar unter http://www. koeblergerhard.de/Fontes/StrafgesetzbuchfuerdasKoenigreichBaiern1813.pdf (innerhalb des Dokuments: S. 98). 136 Art. 206: »Aeltern und andere Blutsverwandte inaufsteigenderder Linie, welche mit ihren Kindern oder andern Abkömmlingen den Beischlaf vollziehen, oder dieselben sonst zur Wollust mißbrauchen, sollen aller öffentlichen Aemter und Würden unfähig, aller älterlichen Rechte verlustig, zur gesetzlichen und testamentarischen Erbfolge in das Vermögen dieser ihrer Kinder schlechterdings unfähig, und überdieses der geschärften Strafe des Arbeitshauses auf zwei bis sechs Jahre schuldig seyn.« 137 Art. 207: »Leibliche eheliche Geschwister, welche mit einander Unzucht treiben, desgleichen Stief- oder Pflegeältern, Vormünder, Schullehrer, Erzieher, welche ihre Untergebenen zur Unzucht mißbrauchen, sollen, nebst der Unfähigkeit zu allen öffentlichen Aemtern und Würden, mit ein- bis vierjährigem Arbeitshause bestraft werden.« 138 Vgl. die Ausführungen Palmen, Der Inzest, S. 58 – 60.
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Hauptteil
Umgang mit der Inzestproblematik im Strafrecht beeinflussen. Im Entwurf des Jahres 1810139 war die erste Alternative des späteren Art. 207 noch nicht enthalten. Stattdessen war dort in den Art. 213, 217 und 218 von Unzucht mit Abhängigen, bzw. dem »Mißbrauch der Privatgewalt« die Rede. Art. 213 bestraft allgemein denjenigen, der die »Privatgewalt«, die ihm über eine andere Person zusteht, zu deren Misshandlung missbraucht. Art. 217 bestraft den Missbrauch von Abkömmlingen zur Unzucht und Art. 218 den Missbrauch von anderen »Schutzbefohlenen«. Gemeinsam ist diesen Tatbeständen, dass der Missbrauch eines Autoritätsbzw. Abhängigkeitsverhältnis sanktioniert wird. Ob und wieweit hierdurch Jugendschutz bezweckt oder lediglich der Missbrauch einer Rechtsposition als solcher geahndet werden soll, und ob diese Konstruktion »den feuerbachschen Rechtsbegriff diskriminiert«140, kann an dieser Stelle dahinstehen. Jedenfalls haben aber diese Normen die Verletzung eines besonderen Pflichtverhältnisses zum Inhalt. Von Blutschande oder Inzest ist im E 1810 indes nicht die Rede. In der letzten Beratungsphase der Kommission wurde die ursprüngliche Beschränkung auf den »Mißbrauch der Privatgewalt« dann jedoch aufgegeben und auf Antrag des Kommissionsmitgliedes Arco aus der konservativen altbajuwarischen Partei der Art. 207 dann gegen den Willen Feuerbachs doch noch um den von Pflichtverhältnissen losgelösten »klassischen« Inzesttatbestand erweitert. Dies, wie sich aus den Beratungsprotokollen ergibt141, wohl auch vor allem deshalb, weil König Maximilian es für nötig hielt, aus Gesichtspunkten des »gesunden Volksempfindens« und zur Wahrung der Sittlichkeit diesen Tatbestand einzuführen142. Die nach der Vorrede in den Anmerkungen und der Lehre Feuerbachs widersprüchliche Existenz eines Inzestverbots im bairischen StGB von 1813 ist also in erster Linie nicht das Ergebnis rechtwissenschaftlicher Diskussion, sondern ist vielmehr – wenn auch nur latentem – politischem Druck geschuldet. Im Hinblick auf die zugrunde liegende Dogmatik scheint ferner bemerkenswert für das bairische StGB von 1813, dass auch die »Verführung zum Beischlaf durch das Versprechen der Ehe« in Art. 375 mit Strafe bedroht war. Hierin ist allerdings keine Systemwidrigkeit zu erblicken, da der Strafgrund für diesen Tatbestand nicht in der Unsittlichkeit des Verhaltens, sondern nach Feuerbachs Argumentation vielmehr in der Ähnlichkeit zum Betrug zu sehen ist. Für Feuerbach ist die Ehe das Ergebnis einer gegenseitigen vertraglichen Verpflichtung. Somit ist für ihn auch der Ehebruch mit einem Vertragsbruch zu 139 Im Folgenden E 1810 genannt. 140 So Rosenberger, S. 137. 141 Ein Teil der Protokolle wurde während des Krieges vernichtet, sie können hier daher nur indirekt aus Rosenbergers Auswertung wiedergegeben werden. 142 Zum Verlauf der betreffenden Sitzung mit detaillierter Beschreibung, Rosenberger, S. 180.
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vergleichen, wodurch auch die Strafbarkeit solchen Verhaltens begründet wird143. Auch aus den Beratungsprotokollen ergibt sich, dass sich die Strafbarkeit des Ehebruchs nicht auf Sittlichkeitserwägungen gründet und daher auch systematisch folgerichtig an anderer Stelle steht144. Das StGB von 1813 kennt, wie eingangs angedeutet, keine eigene Kategorie von »Fleischesverbrechen«145. Abgesehen von den oben geschilderten Ausnahmen wurde die feuerbachsche Konzeption also weitestgehend durchgehalten. Jedoch fallen Theorie und Praxis auseinander. Klassische Sittlichkeitsdelikte wie Sodomie und Unzucht146 finden sich zwar nicht im Strafkatalog, dennoch war es möglich, wegen derartigen Verhaltens bestraft zu werden. Aus dem Bereich der Sittlichkeitsdelikte finden sich nämlich zahlreiche strafbare Tatbestände, die ehemals Bestandteil des CCC und anderer Vorläufer des bayrischen StGB von 1813 waren, nun innerhalb der sogenannten Polizeigesetze wieder. Die Polizeigesetze nehmen in der damaligen Zeit eine Art Zwischenstellung zwischen den gesetzlichen Normen und sozialen Verhaltensregeln ein. Sie sind am ehesten vergleichbar mit dem, was wir heute als Ordnungswidrigkeiten bezeichnen, jedoch völlig anders strukturiert. Die paradoxe Folge hieraus, dass einige Handlungen, die sowohl von Feuerbach als straflos erachtet, als auch in den Anmerkungen zum StGB von 1813 explizit für straflos erklärt werden, dennoch bestraft werden können, erklärt sich aus der ambivalenten Staatsvorstellung des 19. Jahrhunderts, in der die Gewaltenteilung aus der Aufklärung heraus zwar als Zielvorstellung vorhanden, jedoch nicht konsequent in der Praxis umgesetzt war. Das bayerische Strafrecht wurde 1861 neu gefasst, wobei das Rechtsverletzungsdogma aufrechterhalten worden ist. Allerdings wurde die grundsätzliche Straflosigkeit der Blutschande aufgegeben und der Beischlaf innerhalb naher verwandtschaftlicher Verhältnisse unter Strafe gestellt147. Die Aufrechterhaltung der weitgehenden Straflosigkeit der Sittlichkeitsdelikte erfolgte gegen den Trend der damaligen Gesetzgebungen auf deutschem Territorium, die – maßgeblich vorgegeben durch die Strafgesetzbücher Sachsens und Preußens – zur Mitte des Jahrhunderts wieder ein umfassendes Sittlichkeitsstrafrecht umfassten148. 143 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (1.Aufl.), S. 329. 144 Anmerkungen, Bd.1, S. 33: »Ehebruch ist Verletzung durch Untreue und daher keine Unzucht«. 145 So die damalig häufigste Bezeichnung für die Sittlichkeitsdelikte. 146 Hier zu verstehen als Homosexualität. 147 Bay. StGB v. 1861, Art. 208 – 211. 148 Kritisch zur »tadelnswerten« Konzeption des bayerischen StGB von 1861 Obertribunalsrat von Lippelskirch, Das Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern vom 10. November 1861 in seinem Verhältnisse zum Preußischen vom 14. April 1851, in Archiv für Preußisches Strafrecht (APS), Bd. 12 (1864), S. 730 (732).
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Hauptteil
Die Konzeption des Bayerischen StGB von 1813 strahlte auch auf das zu dieser Zeit noch im Entstehen begriffene Preußische Strafgesetzbuch aus.
IV.
Strafbewehrtes Sexualverhalten im 19. Jahrhundert
Nachdem bisher der rechtstheoretische und philosophische Diskurs bis zum Abschluss der Aufklärung dargestellt wurde, soll im Folgenden nun erörtert werden, welche Ausprägungen die Sittlichkeitsdelikte in den seit Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden Gesetzeswerken gefunden haben. Die Betrachtung des Bayrischen StGB von 1813 wurde hier vorweggenommen, weil es thematisch die engste und nachvollziehbarste Verknüpfung mit den zugrunde liegenden theoretischen Vorarbeiten, maßgeblich Feuerbachs, aufweist. Nachfolgend wird in chronologischer Reihenfolge zunächst eine Übersicht über das Sittlichkeitsstrafrecht in den großen Naturrechtskodifikationen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gegeben. Die zeitgenössischen Stellungnahmen in Rechtswissenschaft und Lehre werden in die Darstellung mit einbezogen. Die Zeit der preußischen Strafrechtsreform von 1794 – 1851 ist dabei von größtem Interesse für die Thematik dieser Arbeit, da hier so klar wie vorher und später nicht mehr die Hintergründe, vor denen die Grenzbestimmung zwischen öffentlichem Strafanspruch und sich diesem entziehender intimer Lebensgestaltung erfolgt, erkennbar werden.
1.
Die Naturrechtskodifikationen
a)
Code Pénal, 1810
Die Entstehung des französischen Code P¦nal basiert wie auch das PrALR auf der freiheitlichen Rechtsphilosophie der Aufklärung. Anders als bei den Reformbemühungen in Preußen unter Friedrich II. ist die Entwicklung in Frankreich eng verknüpft mit den geistigen und politischen Machtkämpfen der französischen Revolution. Fruchtbarer Boden für den Einfluss der Aufklärungsphilosophie war hierbei vor allem der Zustand der Strafgerichtsbarkeit. So habe die »unüberschaubare« königliche Gerichtsorganisation zu einer Kompetenzenverwirrung geführt, die »mit dem babylonischen Sprachendurcheinander zu vergleichen« sei149. Eine ausufernde Sondergerichtsbarkeit, die Zuständigkeiten an sich ziehen konnte und deren Urteile keiner Appellation zu149 Alkalay, Das materielle Strafrecht der Französischen Revolution und sein Einfluss auf Rechtsetzung und Rechtsprechung der Helvetischen Republik, S. 14, mit Verweis auf das zeitgenössische Zitat eines unbekannten Verfassers in Fn. 25.
Strafbewehrtes Sexualverhalten im 19. Jahrhundert
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gänglich waren, während gleichzeitig die sog. Kabinettsjustiz des Königs auch die Urteile der Obergerichte kassieren konnte, entwickelte sich zunehmend zum Repressionswerkzeug der Obrigkeit150. Diese Zustände beförderten den Wunsch nach mehr Rechtssicherheit. Aber nicht nur die Organisation des Gerichtswesens, auch seine Vertreter selbst trugen durch Willkür in der Urteilsfindung sowie durch ihre Abhängigkeit von der Politik zu einer zunehmenden Unzufriedenheit mit dem gesamten System des Strafrechts bei151. Die Vertreter der französischen Aufklärungsphilosophie mit Voltaire, Rousseau und Montesquieu an der Spitze152 erreichten mit ihren Forderungen alle Stände und zunehmend auch Vertreter des Adels153. Die Grundpfeiler dieser Strömung stellen eine säkulare Staatstheorie, das Modell des Gesellschaftsvertrages sowie als zentrales Kernthema das Humanitätsideal dar, das an die Stelle des Autoritätsglaubens trat154. Aus der abstrakten Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern entwickelte sich die Forderung nach Veränderung auch auf dem Gebiet des Strafrechts. Ullmann fasst diese Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts anschaulich zusammen: »Während noch die naturrechtliche Schule Recht und Moral voneinander scheidet, wird nunmehr die Idee der Wesenhaftigkeit des Sittlichen verneint. Im Rechte wie in der Moral wird das Individuum nur als ein bestimmtes Glied in der Reihe der Naturprodukte betrachtet, dem sein Wohl das einzige und höchste Gesetz sei, und welches eben in dem Bestreben, sein Wohl zu realisieren, auf die Anerkennung gewisser moralischer und rechtlicher Gesetze, und insbesondere auf die vertragsmäßige Errichtung des Staates geführt werde. Die subjektive Willkür des Individuums werde zum Ausgangspunkte und Prinzip des Rechts wie der Moral gemacht: beides erschien nur als ein Mittel zur Befriedigung des einseitigen Nutzens des Individuums. Auf Grund dieser Anschauungen konnte auch der Staat nur als ein Mittel zur Befriedigung individueller Zwecke des einzelnen erscheinen«155.
Montesquieu äußert sich im Rahmen der Neubestimmung des Verhältnisses der Bürger zum Staat auch zum Verhältnis von Verbrechen und Strafen, wobei er vier verschiedene Arten von Verbrechen unterscheidet:
150 Alkalay, S. 15. 151 Ebd. 152 Brandt, Die Entstehung des Code P¦nal von 1810 und sein Einfluß auf die Strafgesetzgebung der deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns und Preußens, S. 16. 153 Alkalay, S. 22. 154 Fischl, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie, S. 27. 155 Ullmann, Über die Fortschritte in der Strafrechtspflege seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, S. 8.
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»Es gibt vier Arten von Straftaten. Die der ersten verletzen die Religion, die der zweite die Sitten, die der dritten die Ruhe und die der vierten die Sicherheit der Bürger«156.
Unter den sittlichen Verbrechen versteht er hierbei die »Verletzung der öffentlichen oder privaten Sittlichkeit, das heißt der Ordnung, in welcher Art man sich der Vergnügungen erfreuen darf, die mit dem sinnlichen Genuß und der körperlichen Vereinigung verbunden sind«157.
In Bezug auf die Sittlichkeitsdelikte schlägt Montesquieu eine deutliche Abmilderung der Strafen vor, so seien hier Geld- und Ehrenstrafen hinreichend und sollten derlei Vergehen der Polizeigerichtsbarkeit zugewiesen werden158. Sodomie159 solle ebenso wie Ketzerei und Zauberei nicht länger mit dem Tod durch Verbrennen, sondern lediglich mit Geldstrafe geahndet werden, da dieses Delikt nur selten klar beweisbar sei und häufig eine Verurteilung auf zweifelhaften Zeugenaussagen beruhe160. Ferner sei davon auszugehen, dass dieses Verbrechen »in einer Gesellschaft niemals große Fortschritte machen wird, wenn das Volk sich nicht durch irgendwelche Gewohnheit dazu angereizt findet«161. Unter dem Eindruck der wachsenden Unzufriedenheit mit der bestehenden Strafrechtordnung lobten zahlreiche wissenschaftliche Akademien und Gesellschaften sowie vereinzelt Landesherren Preise für Vorschläge zur Reformierung des Strafrechts aus162. Die auf dieser Basis geführten Debatten im Vorfeld der Revolution bildeten die Grundlage für die Arbeit des sogenannten »comit¦ de l¦gislation criminel«, das am 14. 09. 1789 von der Nationalversammlung mit der Erstellung eines Entwurfs für ein reformiertes Strafrecht beauftragt wurde163. Ein Teil des materiellen Strafrechts war bereits in das die Regelungen des zukünftigen Prozessrechts enthaltende »Lois e latif l’organisation d’ une police municipale et correctionelle« vom 19. 07. 1791 integriert164. Nach verschiedenen personellen Wechseln legte das Gesetzeskomitee schließlich am 23. 05. 1791 der Nationalversammlung mit dem »Code P¦nal« einen Katalog des materiellen Strafrechts als Gesetzentwurf vor165, der nach ausführlicher Debatte vom 25.09. – 06. 10. 1791 als Gesetz verabschiedet wurde166. Der Code P¦nal von 1791 enthielt, 156 Montesquieu, De l’esprit de lois, hier vorliegend in der Übersetzung von Ernst Forsthoff »Vom Geist der Gesetze«, Buch XII, Kap. 4. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Hier bezeichnet als »Verbrechen wider die Natur« i. S.v. Unzucht mit Tieren. 160 Montesquieu, De l’esprit de lois, Buch XII, Kap. 4. 161 Montesquieu, De l’esprit de lois, Buch XII, Kap. 6. 162 Alkalay, S. 21. 163 Ebd., S. 24. 164 Ebd., S. 26. 165 Brandt, S. 28. 166 Alkalay, S. 26.
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wie auch schon das »Lois e latif l’organisation d’ une police municipale et correctionelle« vom 19. 07. 1791, zwar Vorschriften über solche Sittlichkeitsverbrechen, die mit Gewalt gegen eine Person verbunden waren, jedoch keine Vorschriften über Ehebruch, Zuhälterei und Inzest167. Der Code P¦nal von 1791 blieb knapp zwei Jahrzehnte bis zum Inkrafttreten des napoleonischen Code P¦nal von 1810 in Kraft168. Der Code P¦nal von 1810 kennt eine eigene Kategorie der Sittlichkeitsdelikte unter dem Abschnitt »Attentats aux moers«169. In den Artikeln 330 – 340 wird jedoch nur eine sehr beschränkte Anzahl von Verhaltensweisen unter Strafe gestellt, darunter die »typischen« Konstellationen sexuellen Missbrauchs, der Zuhälterei und Prostitution170. Die Strafe für sexuellen Missbrauch war geschärft für den Fall, dass zwischen Täter und Opfer ein besonderes Autoritätsverhältnis bestanden hatte, wofür beispielhaft Lehrer, Hausangestellte, Beamte und Priester als taugliche Täter genannt werden171. Der Ehebruch ist für beide Ehepartner strafbar – für den Mann jedoch erst bei Bestehen eines manifesten häuslichen Konkubinats, hinsichtlich der Frau bereits bei der ersten Verfehlung172. Eine Gefängnisstrafe von einem halben bis zu zwei Jahren war für denjenigen vorgesehen, der Personen unter 21 Jahren zu Ausschweifungen oder zur Sittenlosigkeit gewöhnlich anreizte oder ihre unzüchtige Lebensart oder Sittenlosigkeit begünstigte oder erleichterte173. Den Abschnitt beschließt das Verbot der Bigamie in Art. 340. Weder der Inzest noch Homosexualität oder sonstige üblicherweise im Sittenstrafrecht geregelte Verhaltensweisen stehen als Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen explizit unter Strafe. Allerdings findet sich am Anfang des Abschnitts in Art. 330 eine Generalklausel, die eine Strafbarkeit desjenigen bestimmt, der ein öffentliches Ärgernis erregt174, und eine Geldstrafe von 16 bis 200 Francs oder Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr vorsieht.
167 Brandt, S. 88. 168 Ebd., S. 95. 169 Liv. III, Tit. II, chap. I, sect. IV, Art. 330 – 340 C.P. 1810. Online verfügbar unter : http:// www.koeblergerhard.de/Fontes/CodeP¦nal1810.htm. 170 Vgl. hierzu Brandt, Die Entstehung des Code P¦nal von 1810 und sein Einfluß auf die Strafgesetzgebung der deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns und Preußens, S. 203 ff. 171 Brandt, S. 204. 172 Liv. III, tit. II, chap. I, sect. IV, Art.336 – 339 C.P. 1810. 173 Brandt, S. 204. 174 Liv. III, tit. II, chap. I, sect. IV, Art. 330 C.P. 1810: »Toute personne qui aura commis un outrage public la pudeur, sera punie d’un emprisonnement de trois mois un an, et d’une amende de seize francs deux cents francs«.
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Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794
Das Preußische Allgemeine Landrecht ist die erste umfassende Kodifikation, die die Errungenschaften der Aufklärung in sich trägt. Vor allem die Veröffentlichung von Montesquieus »De l‹esprit des lois« im Jahre 1748 hatte maßgeblichen Einfluss auf die spätere Ausgestaltung des ALR175. Im vielzitierten § 83 der Einleitung kommt entsprechend eine der aufklärerischen Leitideen in Form einer mahnenden Bezugnahme auf die natürliche Entfaltungsfreiheit zum Ausdruck: »Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freyheit, sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Anderen, suchen und befördern zu können«176. In dieser Bezugnahme auf die Freiheit des Einzelnen, deren immanente Begrenzung in der Rücksichtnahme auf die Freiheit der Anderen besteht, liegt gleichzeitig eine wenigstens indirekte Begrenzung der strafrechtlichen Willkür des Gesetzgebers. Die Entstehung des ALR fällt maßgeblich in die Regierungszeit Friedrichs des Großen und wurde von ihm bis zu seinem Tode 1886 maßgeblich beeinflusst. Berühmtheit erlangte vor allem die »Cabinetts-Ordre« zur Verbesserung des Justizwesens vom 14. April 1780177. Hierin äußert er seine Vorstellung von dem neu zu schaffenden Gesetzeswerk: »…Ihr müsst also vorzüglich darhin sehen, daß alle Gesetze für Unsere Staaten und Unterthanen in ihrer eigenen Sprache abgefasst, genau bestimmt und vollständig gesammelt werden«. Die Verfasser des strafrechtlichen Teils des ALR, Johan Heinrich von Cramer, Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein, arbeiteten eng zusammen und gestalteten das Gesamtwerk nach den Vorstellungen Friedrichs, der sich von den Fortschritten stets berichten ließ und zum Teil selbst an den Beratungen teilnahm178. Eine klare alleinige Zuständigkeit für den Bereich des Strafrechts kann keinem der Verfasser zugesprochen werden. Klein wurde in der Vergangenheit teilweise als der alleinige Verfasser des strafrechtlichen Teils gesehen179. Heute wird jedoch der stete Austausch unter den dreien wieder in den Vordergrund gerückt180, wobei Klein der maßgebliche Einfluss zugeschrieben wird181. Das genaue Maß des Einflusses der mit der Anfertigung des strafrechtlichen Teils befassten Autoren ist aber nach wie vor 175 Birtsch, Friedrich der Große und die Aufklärung, S. 31. 176 § 83 EALR. 177 Hier vorliegend als Nachdruck in »Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten«, hrsg. v. Hans Hattenhauer. 178 Ramm, Die friderizianische Gesamtkodifikation und der historische Rechtsvergleich, S. 1 – 30, in: Das Preußische Allgemeine Landrecht. 179 Zum Streitstand hierüber vgl. Gneus, Mörder, Diebe, Räuber. Historische Betrachtung des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch, S. 136. 180 So auch schon Stölzel, der in seinem Standardwerk zur Entstehungsgeschichte zum ALR den Arbeitsprozess detailliert wiedergibt, dabei jedoch auch betont, dass der erste Entwurf jedenfalls von Klein ausgearbeitet worden sei. Stölzel, Carl Gottlieb Svarez, S. 223, Fn. 1. 181 Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, S. 92, Rn. 198.
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ungeklärt182 und soll auch in dieser Arbeit nicht festgestellt werden. Auch die unter Rechtshistorikern leidenschaftlich diskutierte Frage, ob das Strafrecht des ALR aufgeklärt-liberal modern oder eher Gängelwerkzeug eines Polizeistaates war183, wird hier keine Beantwortung finden. Die bei diesem Streit im Hintergrund stehende Divergenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich des strafrechtlichen Teils hat jedoch auch für diese Arbeit Bedeutung. So wird im Fokus des Interesses stehen, wie im Bereich der Sittlichkeitsdelikte das Verhältnis von privater Lebensgestaltung und staatlicher Kontrolle im ALR ausgestaltet war, von welchen Motiven die Bearbeiter sich bei der Konzeptionierung des Sittenstrafrechts haben leiten lassen und welche Entwicklung das Sittenstrafrecht in Preußen bis zum Inkrafttreten des RStGB im Jahre 1871 genommen hat. Im Folgenden werden zunächst der Gesetzestext der einschlägigen Paragraphen in der Fassung von 1794 dargestellt und sodann hinsichtlich des Sittlichkeitsstrafrechts die Hintergründe der Entstehung und die Auswirkungen auf die Lebenswelt der Bevölkerung beleuchtet. aa) Die Sittlichkeitsdelikte im Gesetzestext Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 enthält in Teil 2, Titel 20 »Von den Verbrechen und deren Strafen« die Regelungen des Strafrechts. Unter dem 12. Abschnitt sind die Sittlichkeitsdelikte normiert. Im Anspruch, »durch Belehrung und Bestrafung nicht nur Verbrechen verhüten, sondern auch das Wohlbefinden der Bevölkerung heben zu können«184, widmet sich das ALR in den §§ 992 – 1072 mit 80 detailreichen Vorschriften auch den »fleischlichen Verbrechen«. § 992 lässt dabei den angeklungenen Präventionsgedanken deutlich erkennen: »Aeltern und Erzieher müssen ihre Kinder und Zöglinge gegen das verderbliche Laster der Unzucht durch wiederholte lebhafte Vorstellungen der unglücklichen Folgen desselben warnen, und sie zu einem ehrbaren sittsamen Lebenswandel ernstlich anweisen«. Besonders akribisch ist unter der Überschrift »Gemeyne Hurerey.« die Prostitution geregelt. Es besteht nicht etwa, wie man annehmen könnte, ein allgemeines Verbot der Prostitution, sondern vielmehr eine komplex differenzierende Regelung. Der Ausgestaltung dieses Unterabschnitts liegt dabei der Ge182 Ausführlich zum Streitstand und zur Rolle Kleins bei der Entstehung des ALR vgl. Kleensang, Das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft bei Ernst Ferdinand Klein, S. 19 – 27. 183 Beispielhaft hier angeführt der Vortrag von Schild im Rahmen eines Symposiums der juristischen Gesellschaft zu Berlin vom 27.–29. 05. 1994 anlässlich des 200 jährigen Jubiläums des Inkrafttretens des ALR mit dem Titel »1577 Paragraphen aufgeklärter Strafrechtsvernunft. – Zum ALR als philosophischem Strafgesetzbuch«, in: Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 41 – 101 und die Diskussion hierüber (ebd., S. 102 – 107) sowie Blasius, Das Strafrecht des ALR in: Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft – Zweihundert Jahre Preußisches Allgemeines Landrecht, S. 341 – 357 (S. 341). 184 Von Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, S. 161.
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danke zugrunde, die Ausbreitung ansteckender (»venerischer«) Krankheiten zu vermeiden. So kann der Prostitution legalerweise in sog. »Hurenhäusern« nachgegangen werden, die unter polizeilicher Aufsicht stehen185. Unter der Überschrift »Verführung« wird zunächst der Beischlaf eines Hausbediensteten mit einer weiblichen Angehörigen des Hausherren sanktioniert, die er wegen des Standesunterschiedes nicht ehelichen kann (»Schwächung«)186. Darüber hinaus fallen unter diesen Unterabschnitt die verschiedenen Konstellationen des Missbrauchs eines Abhängigkeitsverhältnisses187. Herauszuheben ist, dass auch der Beischlaf (»Unzucht«) zwischen Stiefeltern und Stiefkindern im Abschnitt über die Verführung geregelt ist188. Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich bei dieser Konstellation um eine Verhaltensweise handelt, die bislang eine typische Konstellation der Blutschande darstellte189. Hierin zeigt sich ein dogmatischer Unterschied im Verständnis des Delikts der »Blutschande« zu früheren Strafgesetzen, indem der Anwendungsbereich dieses Delikts auf den Kreis derjenigen Personen beschränkt wurde, zwischen denen auch tatsächlich eine Blutsverwandtschaft bestand. Die §§ 1039 – 1047 enthalten schließlich die Vorschriften über die »Blutschande«. Nach der typischen Kasuistik des ALR sind die verschiedenen denkbaren Konstellationen in eigenen Paragraphen geregelt: Bestraft wird der Beischlaf zwischen Großeltern und Eltern mit ihren Enkeln und Kindern190 ebenso wie derjenige zwischen »mannbaren«191 Geschwistern und Halbgeschwistern192. Dabei ist eine geringere »willkührliche« Strafe vorgesehen, falls die Verwandtschaft nicht ehelich ist193, wobei sich aus § 35 des 20. Titels ergibt, dass dann die Strafe höchstens Gefängnis von sechs Wochen oder 50 Taler Geldbuße betragen soll194. Das ALR geht aber in seinem konsequenten Präven185 §§ 999 – 1027. 186 § 1028. § 1029 enthält eine obligatorische Milderungsmöglichkeit für den Fall, dass kein Standesunterschied vorliegt. 187 §§ 1030 – 1038. 188 §§ 1033 – 1036. Hierbei gilt eine widerlegliche Schuldvermutung zu Lasten der Stiefeltern. Kann allerdings nachgewiesen werden, dass die Initiative von den Stiefkindern ausging, sind auch diese strafbar. 189 Vgl. die Ausführungen zum Bay. StGB von 1813 unter B. III. 2. c) cc). 190 § 1039 ALR: »Aeltern und Großältern, welche ihre ehelichen Kinder oder Enkel zur Unzucht mißbrauchen, sollen mit Festungsstrafe, auf drey bis fünf Jahre, belegt werden.«. 191 Der Begriff ist hier wohl im Sinne von »geschlechtsreif« aufzufassen. Zu den verschiedenen Bedeutungen in der Rechtssprache vgl. Ogris, in: HRG, Bd II, Sp. 738 ff. 192 § 1041 ALR: »Unzucht unter schon mannbaren Geschwistern, voller oder halber Geburt, wird mit Festungs- oder Zuchthausstrafe, auf ein bis zwey Jahre geahndet.«. 193 § 1042 ALR: »Blutschande unter unehelichen Verwandten dieser Art, (§. 1039 – 1041.) soll an demjenigen, welcher die Verwandschaft gewußt hat, willkührlich (§. 35.) bestraft werden.«. 194 § 35 ALR: »Wenn die Gesetze eine willkührliche Strafe verordnen: so darf dieselbe nicht über Gefängniß von Sechs Wochen, oder Fünfzig Thaler Geldbuße, ausgedehnt werden.«
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tionsdogma noch weiter. So ist in § 1044 bestimmt: »Um aber dergleichen Unheil mit desto mehrerer Sicherheit zu verhüten, sollen Aeltern mit ihren Kindern verschiedenen Geschlechts, die schon zehn Jahr oder darüber alt sind, nicht in einem Bette schlafen«. § 1045 konstatiert selbiges auch für Geschwister. Bei Verstoß gegen diese Vorschrift soll es bei Ersttätern, solange es noch nicht zur »Unzucht« gekommen ist, bei einem gerichtlichen Verweis an die Eltern bleiben195, während bei vollzogener Unzucht nach den Umständen des Einzelfalls das Strafmaß des § 1040 ganz oder zur Hälfte Anwendung finden soll196. Auffallend ist, dass sexueller Verkehr zwischen Verschwägerten nicht bestraft wird. Der Begriff der Unzucht selbst ist im Tatbestand der Blutschande des ALR nicht näher bestimmt. Eine Beschränkung auf den Beischlaf erfolgte in Preußen im Gesetzestext erst mit der Einführung des RStGB im Jahre 1871. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass neben dem Beischlaf auch andere »unzüchtige Handlungen« unter den Tatbestand der Blutschande fielen. Den Schluss des 12. Abschnitts bilden die Tatbestände der Nothzucht197, des Ehebruchs198, der Bigamie199 und der Sodomie (»unnatürliche Sünden«)200. Von diesen ist im Kontext derjenige der Sodomie am interessantesten, weil er die Widersprüche innerhalb der Kodifikationen des aufgeklärt-positivistischen ALR so deutlich zeigt. So heißt es in § 1069: »Sodomiterey und andre dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abscheulichkeit hier nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung des Andenkens.« Der Tatbestand ist also äußerst unbestimmt und wird sogar explizit verschwiegen. Über die Gründe hierfür gibt eine Anmerkung Kleins Aufschluss, der es als nicht ratsam ansieht, »durch das Gesetz junge Leute mit einem Laster bekannt zu machen, das sie ohne dasselbe nicht gekannt haben würden«201. Die in § 1070 festgesetzte Strafe ist »ein- oder mehrjährige Zuchthausstrafe mit Willkommen
195 196 197 198 199 200 201
Durch einen expliziten Verweis auf diese Norm in einer Kabinettsordre vom 29. 10. 1825 wurde dieser Strafrahmen für § 1042 ALR noch einmal bekräftigt, Vgl. hierzu: GesetzesRevision, Pensum 1, Motive zum ersten Entwurf, Bd. 3, Abt. 2, S. 260. § 1046 ALR: »Die Uebertretung dieser Vorschrift ist, so lange noch kein Verbrechen begangen worden, an den Aeltern durch gerichtlichen Verweis, und im Wiederholungsfalle, mit verhältnißmäßiger willkührlicherGefängnißstrafe zu ahnden.«. § 1047 ALR: »Ist aber zwischen Geschwistern, durch Nachsicht der Aeltern, wirkliche Unzucht veranlaßt worden: so haben letztere, nach Beschaffenheit der Umstände, die den Kindern §. 1040. bestimmte Strafe ganz oder zur Hälfte verwirkt.«. §§ 1048 – 1060. §§ 1061 – 1065. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Strafe für die verheiratete Frau, die den Ehebruch mit einem unverheirateten Mann begangen hat, schwerer ist, als im umgekehrten Fall diejenige für den Mann. §§ 1066 – 1068. §§ 1069 – 1072. Klein, Anzeige zu: K.L.C. Röslin, »Kritische Versuche über Recht und Unrecht«, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten, Bd. 8, S. 389 (391).
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und Abschied«202, wobei der Täter anschließend »aus dem Orte seines Aufenthalts, wo sein Laster bekannt geworden ist, auf immer verbannt, und das etwa gemißbrauchte Thier getödtet, oder heimlich aus der Gegend entfernt werden«203 soll. Das Strafmaß ist also ebenso unbestimmt, die Haftbedingungen sind verschärft und die Dauer der Haftzeit ist nicht begrenzt. Dies entspricht weder der positivistischen Zielsetzung, dass eine jede strafbare Handlung klar als solche beschrieben sein müsse, noch der aufklärerischen Maßgabe, lediglich Störungen der Freiheit eines anderen unter Androhung und Vollzug einer der Verletzungshandlung angemessenen Strafe zu sanktionieren. Dies sind jedoch eben die Ansprüche, die Friedrich II. an das Gesetz204 und dieses in der Einleitung an sich selber stellt205. Diese Inkonsequenz, die das ALR an verschiedenen Stellen aufweist,206 ist in erster Linie dem exzessiven Präventionsanspruch geschuldet, der ihm zugrunde liegt. Im Bereich des Sittenstrafrechts führt dies zu dem Ergebnis, dass zwar vor allem die Strafandrohungen im Gegensatz zur CCC wesentlich abgemildert wurden und nicht mehr jeder uneheliche Beischlaf mit Strafe bedroht war, jedoch gleichzeitig der Bereich individueller Freiheit und familiärer Privatheit aufgrund des starken Präventionsdrucks eingeschränkt wurde. Gerade am Beispiel des Inzestverbots zeigt sich die ambivalente Wirkung, die das ALR durch den dialektischen Widerspruch zwischen aufgeklärter Zurückhaltung des Staates einerseits bei gleichzeitigem prophylaktischem Aktionismus andererseits auf die Lebenswelt der Bevölkerung hatte. Die normative Durchdringung des innerfamiliären Lebens zur Vermeidung verwandtschaftlicher Sexualität führte zu staatlicher Kontrollierbarkeit der konkreten Wohnund Schlafsituation, bis zu einer faktischen Bevormundung der Eltern hinsichtlich der Entscheidung, wo ihre Kinder ab dem 10. Lebensjahr nächtigen sollen, und somit letztendlich zu einer weitestgehenden Verwischung der Grenze zwischen staatlichem Strafanspruch und privater Lebensgestaltung; ein Ergebnis, das der dem Gesetzbuch zugrunde liegenden Konzeption nach gerade hatte vermieden werden sollen. Die umfassenden staatlichen Befugnisse zum Eingriff in die Lebensgestaltung seiner Bürger wurden jedoch auch in späterer Zeit teilweise sehr gelobt. So bezeichnet Quanter in einer 1925 letztmals aufgelegten erschienenen Monographie zu den Sittlichkeitsverbrechen die Präventions202 »Willkommen und Abschied« meint dabei körperliche Züchtigung bei Antritt und Beendigung der Zuchthausstrafe. 203 Klein, Anzeige zu: K.L.C. Röslin, »Kritische Versuche über Recht und Unrecht«, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten, Jhg. 1791 Bd. 8, S. 389 (391). 204 S.o., Cabinetts-Ordre vom 14. April 1780. 205 S.o. vor allem § 83 der Einleitung. 206 Hierzu näher Schild in: Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, der dieses Phänomen als Ausdruck der »Widersprüchlichkeit der Epoche selbst« bezeichnet, S. 41 (49).
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maßregeln des Preußischen Landrechts als »[an sich] vortrefflich«207 und konstatiert, »daß das Preußische Allgemeine Landrecht die besten Bestimmungen, wenigstens für den damaligen Zeitgeist, enthält«208. bb) Entwicklung bis 1851 (Motive, Revision, zeitgenössische Kritik bis 1851) Klein als einer der hinsichtlich des Sittenstrafrechts einflussreichsten Bearbeiter stand der Philosophie Kants sehr nahe und identifizierte sich im speziellen mit dem Rechtsverletzungsdogma, so schreibt er 1789 an Kant: »Längst hatte ich auch im Naturrechte den Grundsatz angenommen: Nur der, welcher die Freyheit anderer stört, kann durch Zwang davon zurückgehalten werden. Dieser Grundsatz gründet sich auf die Gleichheit der Rechte und also auf die Würde der menschlichen Natur. Mein System des Naturrechts verträgt sich also mit keinem besser, als dem Ihrigen«209.
In den »Grundsätzen des gemeynen deutschen und preußischen peinlichen Rechts« von 1796 äußert sich Klein zu den Motiven, die für ihn die Strafbarkeit des Inzests bedingen. Er führt hierzu eine Reihe verschiedener Gesichtspunkte an: »Der Beischlaf zwischen gewissen Personen wird als der natürlichen Ordnung zuwider betrachtet und daher selbst dann gemißbilliget, wenn er auch die Form der Ehe erhalten haben sollte. Die Verhütung des Mißbrauchs der Verwandtenrechte und der frühen, Leib und Seele verderbenden Unzucht ist der Grund der verdorbenen Grade. […] Das Bedürfnis eines nahen ungezwungenen Umgangs und besonders der Zusammenwohnung hat die Ausdehnung des Eheverbotes auch auf andere Verwandten veranlasst«210.
Hieraus lassen sich einige Aspekte erkennen, die auch später immer wieder zur Begründung der Strafandrohung herangezogen werden. Nämlich der Schutz des »ungezwungenen« Familienlebens als solchen, der Schutz der Kinder vor sexuellen Übergriffen durch Ausnutzung innerfamiliär bestehender Autoritätsstrukturen, die ungestörte Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, eugenische Gesichtspunkte sowie »die natürliche Ordnung«. Einzig der letztgenannte Aspekt der natürlichen Ordnung verträgt sich nicht mit der von Klein selbst im Briefwechsel mit Kant postulierten Strafbarkeitsvoraussetzung der »Störung der Freiheit eines anderen«. Der Begriff der natürlichen Ordnung könnte sich hier aber auch als Erklärung für die Beschränkung des Tatbestandes auf nahe ver207 Quanter, Die Sittlichkeitsverbrechen im Laufe der Jahrhunderte und ihre strafrechtliche Beurteilung, S. 201. 208 Ebd., S. 203. 209 Kant, Briefwechsel, Brief 356, Von Ernst Ferdinand Klein, 23. 04. 1789. Online verfügbar unter : http://www.korpora.org/Kant/briefe/356.html. 210 Klein, Grundsätze des gemeynen deutschen und preußischen peinlichen Rechts, S. 284 f.
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wandtschaftliche Beziehungen in dem Sinne deuten lassen, dass ein Beischlaf unter nicht Blutsverwandten deswegen straflos gestellt ist, weil hier im biologischen Sinne gerade keine »widernatürliche Blutsvermischung« stattfindet211. Dieses Argument erscheint zwar auf den ersten Blick insofern als inkonsequent, als eine Strafbarkeit von Stiefeltern und -kindern trotz mangelnder Blutsverwandtschaft in § 1035 ALR sehr wohl mit Strafe bedroht ist. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um eine Konstellation der »Verführung« und nicht um eine solche der »Blutschande« handelt. Darüber hinaus gibt ein Gutachten der Gesetzeskommission aus dem Jahre 1794, das sich mit der Frage der Strafbarkeit von Unzucht zwischen Schwiegereltern- und Kindern befasst, in bemerkenswerter Weise Aufschluss über den Grund der Straflosigkeit der Unzucht in Schwiegerverhältnissen: »Ferner treten die Gründe, welche es nothwendig machen, die Unzucht zwischen Stiefeltern und Stiefkindern nachdrücklich zu strafen, bei Schwiegereltern und Schwiegerkindern nicht ein. Jene wohnen gewöhnlich unter einem Dache. Dieses Zusammenseyn, die daraus entstehende Vertraulichkeit, und die damit verbundene Beiseitsetzung der Scham und Zurückhaltung bieten viele Gelegenheiten zur Unzucht dar, denen das Gesetz abschreckende Motive entgegenzusetzen für nötig fand. Bei Schwiegereltern und Schwiegerkindern trifft das gewöhnlich nicht zu, und es fehlt also der eigentliche Grund zur Bestrafung und darum scheint das Landrecht darüber nichts verordnet zu haben«212.
Was den praktischen Anwendungsbereich der Vorschrift anbelangt, geben diverse Sammlungen von Gerichtsakten, aber auch in Kleins Annalen geschilderte Fälle Auskunft. Ein möglicherweise bestehender Ursachenzusammenhang von soziokulturell-urbaner Lebenssituation und Inzestdelinquenz wurde in jüngster Zeit in sozialwissenschaftlich-kriminologischen Arbeiten untersucht. Besonders Claudia Jarzebowski gibt in ihrer 2005 erschienen Dissertation »Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert« anhand einer umfangreichen Auswertung preußischer Prozessakten über Inzestfälle für die Jahre 1720 – 1780213 einen hervorragenden Überblick über dieses Problemfeld. Festzustellen ist insoweit, dass sich die prozessual dokumentierten Fälle von Blutschande seit Inkrafttreten des ALR in signifikanter Häufung vor allem in zwei bestimmten Bereichen gesellschaftlichen Lebens abspielten: Eine Vielzahl von Fällen ereig211 Dieses Argument nennt Mittermaier als Grund für die Beschränkung auf bestimmte nahe Verwandte. Vgl. Mittermaier, Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit, S. 143. 212 Zit. nach Bode, Gesetzes-Revision, Pensum 1, Motive zum ersten Entwurf, Bd. 3, Abt. 2, S. 259, der das bezeichnete Gutachten zitiert: »Stenglers Beitr. B. 15, S. 212 und Rabe Samml. Th. 2. S. 732«. 213 Jarzebowski, Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert, S. 112 – 256. Für das 19. Jahrhundert vgl. hierzu auch unten unter B. IV. 2. a) bb) Fallbeispiele aus den Akten der Staatsanwaltschaft aus dem geheimen preußischen Staatsarchiv in Berlin.
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net sich im ländlichen Bereich innerhalb der Gruppe ungebildeter und verarmter Kleinbauern und deren Gesinde214. Zum anderen tritt dieses Phänomen mit Einsetzen der Abwanderungsbewegungen in die urbanen Industriezentren im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Arbeitersiedlungen der Städte auf, wo eine wachsende Anzahl meist ungebildeter Menschen in großen Familien auf engem Raum in Armut zusammenleben215. Ein anschauliches Beispiel von den Umständen, unter denen sich typischerweise Fälle von Blutschande zugetragen haben, ohne dass irgendeine Art von Zwang oder institutioneller Abhängigkeit im Vordergrund stünde, gibt ein in Kleins Annalen aus dem Jahre 1789 geschilderter Fall216 : Hier war eine Schweinehirtin angeklagt, Blutschande mit ihrem 12-jährigen Sohn getrieben und diesen darüber hinaus dazu verleitet zu haben, ein 11-jähriges Hirtenmädchen zu schwängern. Die »einige sechszig Jahr« alte Täterin war Zeit ihres Lebens nie zur Schule gegangen. Sie räumte die Tatvorwürfe in der Verhandlung freimütig ein und gab an, dass sie hinsichtlich des Vorwurfs der Blutschande, »da sie schon über das Alter, in dem sie Kinder hätte gebären können, hinweg sey, nicht geglaubt [habe], daß die Verführung ihres Sohnes viel auf sich habe«217. Für die Zeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts liegen einige Studien vor, die das Verhältnis von Wohn- und Lebenssituation zum Inhalt haben. Ihre Auswertung in den oben erwähnten neueren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen lässt allerdings keine Rückschlüsse auf die Frage zu, in welchem Maße die sozialen Lebensverhältnisse und vor allem die Wohnungsnot tatsächlich Einfluss auf die Inzestdelinquenz hatten. So befasst sich die wohl führende Stimme auf diesem Gebiet, Brigitte Kerchner, in erster Linie mit dem Diskurs über diesen Zusammenhang selbst. Sie hält die zeitgenössischen Studien für haltlose politische Agitation und lässt durchscheinen, dass sie die damals häufig vertretene These eines derartigen Ursachenzusammenhangs für ein politisches Mittel zur Stigmatisierung der unteren Klassen, der Arbeiter und Frauen, und letztendlich für einen »Mythos« hält, ohne diese Einschätzung jedoch zu belegen218. Obwohl diese Frage im Rahmen dieser Arbeit nicht vollständig geklärt werden kann, scheint Kerchners These zumindest insoweit fragwürdig, als in den Motiven zur Revision des Strafrechts nicht davon die Rede ist, dass in den Arbeitersiedlungen der zunehmenden 214 Vgl. Jarzebowski, S. 112 – 256. 215 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Wohnsituation und Sittlichkeitsdelikten Ellis, Rassenhygiene und Volksgesundheit (engl. Originaltitel: The Task of Social Hygiene), S. 299 – 356 (Die Wohnung als Milieu- und als Selektionsfaktor); kritisch zu einem derartigen Zusammenhang Kerchner, Wohnungsnot und Blutschande, IWK 4/2002, S. 421 – 454. 216 Anonymer Verfasser, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 4 (1789), S. 31 – 34. 217 Ebd., S. 31 (33). 218 Vgl. hierzu Kerchner, Wohnungsnot und Blutschande, IWK 4/2002, S. 421 (432 – 438).
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Verbreitung inzestuöser Beziehungen entgegengewirkt werden müsse, sondern dass vielmehr mit Blick auf das zu wählende Strafmaß für den Geschwisterinzest dieses mit Rücksicht auf »den Einfluss der Verführung, ferner der beschränkten Wohnungen der ärmeren Klasse, und des dadurch bedingten Anreizes« nicht zu hoch angesetzt werden dürfe219. Anfang des 19. Jahrhunderts kam in der Rechtswissenschaft eine neue Debatte um die dogmatischen Grundlagen der Strafrechtskonzeption in Gang, die sich auch innerhalb der zahlreichen Reformversuche des ALR auf die strafrechtliche Beurteilung der Sittlichkeitsdelikte niederschlug. Einer der zeitgenössischen Kritiker war auch Wilhelm von Humboldt, der als 25-jähriger nach einem Aufenthalt in Paris während des Revolutionsjahres 1789 den Stand der Gesetzgebung kommentierte: »Schon mehr als einmal ist unter den Staatsrechtslehrern gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beachten müsse. Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens hat vorzüglich auf die erstere Behauptung geführt; indes ist die natürliche Idee, daß der Staat mehr als allein Sicherheit gewähren könne und ein Mißbrauch in der Beschränkung der Freiheit wohl möglich, aber nicht notwendig sei, der letzteren das Wort redete. Auch ist diese unleugbar in der Theorie als in der Ausführung die herrschende«220.
Humboldt selbst nahm zu dieser Frage eine eindeutige Position ein: »Um für die Sicherheit der Bürger Sorge zu tragen, muß der Staat diejenigen, die sich unmittelbar allein auf den handelnden beziehenden Handlungen verbieten, oder einschränken, deren Folgen die Rechte anderer kränken, die ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besitz schmälern, oder von denen dies wahrscheinlich zu besorgen ist […] Jede weitere, oder aus anderen Gesichtspunkten gemachte Beschränkung der Privatfreiheit aber liegt außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates«221.
Für das Sittlichkeitsstrafrecht leitet er als Anhänger einer liberalen Staatsidee hieraus ab, dass »keins der sogenannten fleischlichen Verbrechen (die Notzucht ausgenommen), sie möchten Ärgernis geben oder nicht […] bestraft werden [dürfte]«222. Bereits im Jahr 1805 wurde postuliert, dass das im ALR enthaltene Strafrecht
219 Revision des Entwurfs des Strafgesetzbuches von 1843. Zweiter Band (Berlin 1845). Zum zweiten Teil des Entwurfs Tit. 1 – 16. §§ 141 – 401, S. . 220 Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, S. 11. 221 Humboldt, Ideen, S. 128. 222 Ebd., S. 149.
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extrahiert und in einem eigenen Gesetzbuch zusammengefasst werden solle223, was 1851 in Form des Pr.StGB schließlich auch Realität wurde. Von 1825 bis 1848 wurde unter Vorsitz des am Beginn seiner Amtszeit stehenden Justizministers Heinrich von Danckelmann224 der Versuch einer Gesetzesrevision unternommen, die das ALR an den aktuellen Stand der Pandektistik anpassen sollte225. In den in der Folgezeit erstellten Entwürfen eines Preußischen Strafgesetzbuchs während der Revision des ALR wurde auch das Sittlichkeitsstrafrecht – in erster Linie auf Strafzumessungsebene, aber auch materiell – mehrfach modifiziert. Auf Aufforderung Danckelmanns sandten Vertreter aus Rechtswissenschaft und -praxis ab dem 26. Januar 1826 zahlreiche Verbesserungsvorschläge ein, die zunächst durch den Revisor Bode systematisiert und den einzelnen Strafnormen zugeordnet wurden226. Auch wenn diese Revisionsarbeiten nicht zu einer umfassenden Reform des ALR geführt haben, enthalten sie doch die Beweggründe für die Ausgestaltung des Sittenstrafrechts im späteren Pr.StGB. Die Preußische Gesetzesrevision ist insofern von großem Interesse für diese Arbeit, als sie auf Grundlage langjähriger Erfahrungen mit dem ALR und unter Berücksichtigung der zeitgenössisch in der Wissenschaft vertretenen Meinungen Zeugnis ablegt von der Entwicklung der gesellschaftlichen Realitäten und den diesbezüglich bestehenden Lenkungsversuchen staatlicher Gewalt. Im Folgenden sollen daher die das Sittlichkeitsstrafrecht und insbesondere das Delikt der Blutschande betreffenden Änderungsvorschläge innerhalb der verschiedenen Entwürfe dargestellt werden. Im Laufe des Revisionsprozesses war eine Vielzahl verschiedene Personen mit der Ausarbeitung eines neuen Strafrechts befasst, es wurden zahlreiche Kommissionen eingesetzt, die Entwürfe und Gegenentwürfe, Eingaben zahlreicher Monenten, Königliche Ordren, Ministerielle Vorlagen und parlamentarische Beschlüsse berieten, Gutachten erstellten, Fragenkataloge entwickelten und Vorschläge machten. Aus diesen mehr als 20-jährigen Beratungen gingen die wesentlichen Zwischenentwürfe von 1828 und 1830, 1833 und 1836, 1843 und 1847 hervor. Zu diesen Entwürfen existieren wiederum Motive, revidierte Motive, Protokolle und reichhaltige Korrespondenz. Die umfangreiche Quellensammlung von Schubert/Regge ermöglicht einen guten Einblick in 223 Ramm, Die friderizianische Gesamtkodifikation und der historische Rechtsvergleich, in: Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 1 (15). 224 Regge, Chronologische Übersicht über die Reformgeschichte des Straf- und Strafprozeßrechts in Preußen von 1780 – 1879, in: Schuber/Regge, Preußische Gesetzrevision 1825 – 1848, Bd. 1, S. XVI. 225 Eckert, Allgemeines Landrecht (Preußen), in: HRG Bd. 1, Sp. 155 – 162 (162). 226 Regge, Chronologische Übersicht über die Reformgeschichte des Straf- und Strafprozeßrechts in Preußen von 1780 – 1879, in: Schubert/Regge, Preußische Gesetzrevision 1825 – 1848, Bd. 1, S. LXVI.
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das reichhaltige Quellenmaterial, dessen Umfang noch erweitert wird durch die Originalakten im Geheimen Preußischen Staatsarchiv in Berlin, die ebenfalls, soweit erforderlich, eingesehen wurden. Um unnötige Überschneidungen und Verwirrung zu vermeiden, wird auf eine detaillierte Darstellung des gesamten äußerst komplexen und langwierigen Revisionsprozesses verzichtet, und es werden die entscheidenden Veränderungen anhand des ersten Entwurfs von 1828, der Entwürfe von 1836, 1843 und des Abschlussentwurfs von 1848 dargestellt. Aufschlussreich sind hierbei insbesondere die veröffentlichten Motive, Gutachten und Protokolle der Beratungen, die Einblick in das sich wandelnde Verständnis vom Umgang mit den Sittlichkeitsdelikten geben und die Hintergründe der Entwicklung sichtbar werden lassen.
(1) Entwurf von 1828 Das materielle Strafrecht wurde ab dem 29. Januar 1826 vom Kammergerichtsrat Bode bearbeitet, der im Jahre 1828 einen »Entwurf des Criminal-Gesetz-Buches für die preußischen Staaten« vorlegte227. Zunächst wurde die Betitelung des Abschnitts selbst von »fleischliche Verbrechen« in »Verbrechen gegen die Sittlichkeit« geändert228. Der Revisor betont zu Beginn seiner Ausführungen seine Übereinstimmung mit dem Gesetzgeber hinsichtlich der hinter den Sittlichkeitsnormen stehenden rechtsphilosophischen Grundsatzentscheidung im Sinne einer Trennung von Recht und Moral und der Beachtung des Rechtsverletzungsdogmas. Bode führt aus, dass »der Verfasser des Landrechts bei der Entscheidung der allgemeinen Frage: wie weit der Gesetzgeber bei der Bestimmung des Umfanges der und Gebietes der FleischesVerbrechen gehen müsse? und wo er hier die Grenze zwischen blos moralischen und der rechtlichen Strafbarkeit solcher Handlungen zu ziehen sey? von den ganz richtigen, und deshalb ferner beizubehaltenden Grundsätzen ausgegangen ist, dass nicht alle den Moralgesetzen der Keuschheit und Sittlichkeit zuwiderlaufende Handlungen, sondern vielmehr nur diejenigen als bürgerlich strafbar betrachtet werden können, welche entweder auch für andere Personen, als die Täter selbst, unmittelbar nachtheilig gewirkt haben, oder welche durch die Art, wie sie begangen wurden, oder durch die Publizität, welche sie erlangt haben, zu Gegenständen des öffentlichen Aergernisses geworden sind«229. 227 Regge, Chronologische Übersicht über die Reformgeschichte des Straf- und Strafprozeßrechts in Preußen von 1780 – 1879, in: Schubert/Regge, Preußische Gesetzrevision 1825 – 1848, Bd. 1, S. XXXV. 228 Dies begründet der Revisor zum einen damit, dass ihm der bisherige Ausdruck »unedel« erscheine und zum anderen der Eindruck vermieden werden solle, dass eine Abgrenzung zu »geistigen Verbrechen« beabsichtigt sei, vgl. Motive zum ersten E 1828, S. 240. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 900. 229 Ebd.
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Der bedingungslose Präventionsanspruch der Ursprungsfassung wird an vielen Stellen aufgegeben, so wird der die Aufklärungspflicht der Eltern hinsichtlich der verderblichen Folgen des Lasters der Unzucht enthaltende § 992 in Bodes Entwurf aufgehoben, da »…Erziehungsmaximen […] kein Gegenstand der Gesetzgebung seyn können…«230. Ersetzt wurde diese Vorschrift durch die dem Art. 330 des Code P¦nal entnommene Generalklausel, welche die »öffentliche Verletzung der Schamhaftigkeit« zum Gegenstand hat231, die der Revisor als § 1 des Abschnitts der Delikte gegen die Sittlichkeit den übrigen Delikten voranstellte232. Ebenfalls neu eingeführt wurde in § 2 des Abschnitts ein Verbot der öffentlichen Ausstellung oder Verbreitung unzüchtiger Darstellung oder Schriften, das es im ALR ursprünglich nicht gegeben hatte und lediglich Gegenstand der Zensurvorschriften war233. Der Revisor schlägt ferner vor, bei allen »Fleischesverbrechen«, die von Eltern, Vormündern oder Erziehungspersonen begangen werden, den Tätern das Erziehungsrecht zu nehmen beziehungsweise jede betreuende Tätigkeit zu untersagen, was zumindest für den Vater bei Verführung oder Verkuppelung seiner minderjährigen Tochter, oder wenn er mit ihr »Blutschande getrieben« hat, zwingend erforderlich sei234. Darüber hinaus schlägt er eine Erhöhung des Strafmaßes von drei bis fünf auf vier bis acht Jahre Zuchthaus vor235. Bemerkenswert sind die vorgeschlagenen Änderungen der Kuppeleivorschriften (§§ 996 – 998 ALR); der Revisor schlägt hier vor, trotz der anerkannten Straflosigkeit des unehelichen Beischlafs den Anwendungsbereich der Kuppeleivorschriften nicht wie bisher auf Minderjährige und Verheiratete zu beschränken, sondern auch auf unverheiratete erwachsene Personen auszudehnen236. Den Grund hierfür sieht Bode zum einen in einer abstrakten Bedrohung des Staates selbst, »dessen Wohl und Gedeihen von der möglichen Erhaltung der Sittlichkeit seiner Unterthanen so wesentlich abhängt«237, und zum anderen darin, dass dem Kuppler keinerlei entlastende Umstände, wie der Geschlechtstrieb, der auf Seiten des »Lidderlichen« zu berücksichtigen sei, zu Gute kämen238. Der im Landrecht detailliert geregelte und im Ergebnis – wenn 230 Ebd. 231 Ebd.; Titel 2, Abschnitt 9, § 1 des Entwurfs lautet: »Wer sich öffentlich einer groben Verletzung der Schamhaftigkeit schuldig macht, hat einmonatliche bis einjährige Gefängnißoder Arbeitshausstrafe verwirkt.«. 232 Gesetzes-Revision, Pensum 1, Bd. 1, Abt. 1, S. 16; Titel 2, Abschnitt 9, § 1 des Entwurfs: »Wer sich öffentlich einer groben Verletzung der Schamhaftigkeit schuldig macht, hat einmonatliche bis einjährige Gefängniß- oder Arbeitshausstrafe verwirkt. 233 Motive zum ersten E 1828, S. 241. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 900. 234 Motive zum ersten E 1828, S. 243 f. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 903 f. 235 Motive zum ersten E 1828, S. 261. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 921. 236 Motive zum ersten E 1828, S. 245 f.. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 905 f. 237 Ebd. 238 Ebd.
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auch in engen Grenzen – geduldete Betrieb öffentlicher Bordelle wird vom Revisor zumindest in der Art seiner normativen Ausgestaltung als »Mißgriff« bezeichnet und in spottender Entrüstung abgelehnt, wenngleich er betont, sich einer Grundscheidung darüber enthalten zu wollen, ob eine Duldung derartiger Einrichtungen durch »traurige Nothwendigkeit« möglicherweise geboten sei239. Höchst interessant sind schließlich die Ausführungen des Revisors hinsichtlich der von ihm für erforderlich gehaltenen Ausdehnung des potentiellen Täterkreises der Blutschande auf Schwiegereltern und -kinder. Obwohl er die Ausführungen der Gesetzeskommission zur Begründung der Straflosigkeit von Unzucht in Schwiegerverhältnissen240 kennt und zitiert241, führt er aus, dass »alles auf ein Uebersehen dieses Gegenstandes schließen« ließe und im Übrigen die von der Kommission genannten Gründe für die Straflosigkeit »nicht im mindesten überzeugend« seien242. Um die derartig bestehende Strafbarkeitslücke zu schließen, nimmt Bode in § 14 des Entwurfs eine entsprechende Ausdehnung der Strafbarkeit auf verschwägerte Personen vor243 und hält es in der Folge auch für konsequent, eine Strafbarkeit auch dann anzunehmen, wenn eine Person mit dem Ehegatten seines nichtehelichen Kindes Geschlechtsverkehr hat244. Generell stellt für den Revisor die Ehelichkeit der Verwandtschaft, die in der Systematik des ALR von 1794 ein Tatbestandsmerkmal des Grunddelikts darstellte, während sich für nichtehelich Verwandte eine Privilegierung ergab245, keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für eine unterschiedliche Bewertung der Strafwürdigkeit dar246. In den Motiven zum E 1828 äußert Bode sein Unverständnis hierüber und führt zur Begründung aus, dass »der Unterschied zwischen beiden mehr ein juristischer als ein im natürlichen Recht gegründeter« sei247. Der Revisor nimmt auch Stellung zu jenen Präventionsvorschriften, die eine Entfernung der der Blutschande schuldigen Personen voneinander anordnen und es verbieten, dass Eltern mit den eigenen Kindern, oder diese, wenn sie älter als zehn Jahre sind, zu mehreren, in einem Bett schlafen248. Er lehnt diese Regelungen ab, weil sie seiner Meinung nach »zu sehr in das Gebiet der privaten Erziehung ein[greifen]«, und hat die entsprechenden Paragraphen nicht in
239 240 241 242 243 244 245
Motive zum ersten E 1828, S. 249. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 909. S.o. Motive zum ersten E 1828, S. 259. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 919. Ebd. Motive zum ersten E 1828, S. 259. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 919. Motive zum ersten E 1828, S. 261. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 921. Vgl. § 1042 ALR, wo bei nichtehelichen Verwandten der um die Verwandtschaft wissende Teil »willkührlich« zu bestrafen war. 246 Motive zum ersten E 1828, S. 261. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 921. 247 Ebd. 248 Vgl. §§ 1043 – 1045 ALR.
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seinen Entwurf aufgenommen249. Der obskure § 1069 ALR wurde vollständig umgeändert. Der Tatbestand wurde präzisiert und die strafbaren Handlungen näher umschrieben, wobei dem Revisor diese Grenzziehung ebenfalls Schwierigkeiten bereitet250. Er greift hierfür allerdings systematisch korrekt auf jene methodischen Grundsätze zurück, die dem ALR zugrunde lagen und zu denen er sich in den Motiven auch bekennt, indem er eine Beschränkung auf solche Fälle fordert, in denen entweder Rechte eines Dritten verletzt werden oder ein öffentliches Ärgernis erregt wird251. Bode erblickt bemerkenswerter Weise in einer Beschränkung des Tatbestandes sogar eine generalpräventive Wirkung: »In Beziehung auf die bisher stets bestrafte Unzucht mit Tieren (sodom. generis), dürfte das obige Prinzip allerdings die Folge haben, daß einzelne, sehr im Geheimen getriebene, und nur zur Kenntnis weniger Personen gelangt, Fälle der Art unbestraft blieben. M. E. dürfte aber der hiervon vielleicht zu befürchtende Nachtheil durch den Vortheil ausgewogen werden, daß dann auch die sehr gefährliche und leicht schädlich wirkende Kunde von dergleichen Abscheulichkeiten weniger im Publikum verbreitet würde, als es unvermeidlich geschieht, wenn diese Fälle zum Gegenstand einer kriminologischen Untersuchung werden.«252.
Im Ergebnis werden die einstmals vier Sodomienormen des ALR in einer Vorschrift zusammengefasst, die die »widernatürliche Wollust« nur dann bestraft, wenn sie entweder an einer anderen Person unter Zwang oder an einem unter 12jährigen Kind vorgenommen, eine unter 18-jährige Person verführt, oder wenn durch die Handlung ein öffentliches Ärgernis erregt wurde253. Dies ist bemerkenswert, denn es ergibt sich hieraus auch eine grundsätzliche Straflosigkeit der Homosexualität. Der von Bode erstellte Entwurf von 1828 wurde Grundlage der ab 1830 beginnenden Beratungen des Staatsministeriums254. Bei den Beratungen zu den Entwürfen von 1828 und 1830 wurde der Konflikt zwischen »rheinischer Liberalität und Preußischer Rigidität«255 erstmals während der Beratungen ausge249 250 251 252 253
Motive zum ersten E 1828, S. 261. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 921. Motive zum ersten E 1828, S. 278. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 938. S.o. Motive zum ersten E 1828, S. 278. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 938. Gesetzes-Revision, Pensum 1, Bd. 1, Abt. 1, S. 16; Titel 2, Abschnitt 9, § 36 des Entwurfs: »Die widernatürliche Wollust wird bestraft, wenn sie an einer Person unter Verwendung von Zwang verübt wurde, oder der Täter ein noch nicht zwölf Jahre altes Kind dazu gemißbraucht hat; mit Zuchthausstrafe, wenn sie mit Verführung einer noch nicht achtzehn Jahre alten Person geschahe; in allen übrigen Fällen aber, wenn ein öffentliches Ärgernis dadurch veranlaßt wurde, mit Arbeitshausstrafe. 254 Regge, Chronologische Übersicht über die Reformgeschichte des Straf- und Strafprozeßrechts in Preußen von 1780 – 1879, in: Schubert/Regge, Preußische Gesetzrevision 1825 – 1848, Bd. 1, S. XXXV. 255 Lautmann in: Kritische Justiz 1992, S. 295 (298).
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tragen. Die Entwürfe 1828 und 1830 stellen schließlich die auf dem Gebiet der Sittlichkeitsdelikte liberalsten Entwürfe während des gesamten Revisionsprozesses dar. Am 19. Dezember 1830 stirbt Danckelmann, dessen Nachfolger ab 1832 der hochkonservative Karl Albert von Kamptz wird. In der Zwischenzeit ruhen die Revisionsarbeiten. (2) Veränderungen bis 1848 Im revidierten Entwurf von 1833 aus dem Ministerium des DanckelmannNachfolgers Kamptz wurde der Tatbestand der Blutschande leicht modifiziert, so stellt der Entwurf von 1833 im Gegensatz zum Entwurf von 1828 nicht länger auf ein »Unzuchttreiben«, sondern auf die Vollziehung des Beischlafs ab256. Im Strafmaß konnte sich die von Bode vorgeschlagene Erhöhung der Zuchthausstrafe auf vier bis acht Jahre257 nicht durchsetzen, es blieb bei den ursprünglich angedrohten drei bis fünf Jahren Zuchthausstrafe258. Darüber hinaus wurde der Tatbestand auf Drängen des Ministers259 wieder auf Schwiegerverhältnisse erweitert, weil Kamptz der Auffassung war, dass die Gründe der Strafbarkeit »größtenteils auch bei ihnen« vorlägen260. Eine Veränderung erfuhr auch die Norm über die widernatürliche Befriedigung der Wollust; anders als noch im Entwurf Bodes von 1828 wird im revidierten Entwurf von 1833 explizit eine Strafbarkeit auch für denjenigen bestimmt, der »sich zu diesem Vergehen hergegeben«261 hat. Homosexuelle Handlungen unter Männern sollten wieder grundsätzlich strafbar sein. Eine weitere Neuerung stellt auch der zur Begriffsklärung eingefügte § 391 dar, der in der Praxis eine wichtige Rolle spielen sollte: Hierin wird nämlich bestimmt, dass die Blutschande ebenso wie die widernatürliche Wollust nur dann strafbar sei, wenn es zu »körperlicher Vereinigung« komme262. Dieser Vorgang bedeutete allerdings gleichsam die Vollendung des Delikts263. Die von Jarzebowski dargestellten Fälle lassen erkennen, dass die Frage danach, ob es zu körperlicher Vereinigung gekommen ist, in der Praxis häufig der zentrale Streitpunkt in Sittlichkeitsprozessen war264. In den 256 Revidierter E 1833, Erster Theil, S. 65, § 361. Abgedr, in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 3, S. 67. 257 S.o. 258 So auch in der Revidierten Fassung von Kamptz von 1836, auf deren Basis die abschließenden Beratungen stattfanden, Revidierter E 1836, S. 142, § 485, Abgedr. in: Schubert/ Regge, Abt. 1, Bd. 3, S. 942. 259 Hierzu s. o. Motive zum E 1828, S. 259, Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 1, S. 919. 260 Motive zum E 1833, Erster Theil, S. 233. Abgedr, in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 3, S. 491. 261 Revidierter E 1833, Erster Theil, S. 68, § 383. Abgedr, in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 3, S. 70. 262 Ebd., S. 69, Schubert/Regge, S. 71. 263 Ebd. 264 Jarzebowski, Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert, S. 112 – 256.
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Motiven zum revidierten Entwurf von 1833 beschreibt Bode im Vorwort zu den Verbrechen gegen die Sittlichkeit in klaren Worten die Schwierigkeit des legislatorischen Umgangs mit den Sittlichkeitsdelikten am Beispiel des Dilemmas der preußischen Gesetzgebung bei der strafrechtlichen Ausgestaltung der fleischlichen Verbrechen: »Allenthalben hat die Erfahrung gelehrt, daß, wie nachtheilig auch eine, in Gleichgültigkeit übergehende, Gelindigkeit bei Unzuchtsverbrechen, welche zugleich religiöse oder die innersten Familienverhältnisse verletzen, seyn würde, dennoch strenge Strafen gerade hier am Unwirksamsten sind, und daß ihre strenge fiskalische Handhabung auf der einen Seite nicht allein den Zweck nicht erreicht, sondern auch die Bekanntschaft mit diesen Verbrechen erweitert, auf der anderen Seite aber oft wegen eines einzigen unbewachten Augenblicks über ganze Familien Nachtheile verbreitet, welche mit der durch die Strafe beabsichtigten Wirkung außer allem Verhältnisse stehen. Es ist von der neueren Gesetzgebung dabei auch berücksichtigt, dass Vergehen dieser Art nicht aus Bosheit und andrer verbrecherischer Absicht, sondern aus Leidenschaft und aus Uebermaß oder verkehrter Richtung des natürlichen Geschlechtstriebs entstehen, und daß daher diese Gesetze nicht sowohl gegen verworfene und verbrecherische, als vielmehr gegen Personen gerichtet sind, die aus Leidenschaft oder Schwachheit die gesetzlichen Schranken überschreiten, Schranken, welche in Religion, Sittlichkeit und Ehrgefühl weit kräftigeren Schutz finden, als in strengen oder vielfachen Kriminalstrafen«265.
Im Jahr 1836 wird ein weiterer Entwurf erstellt. Die Ausgestaltung des Sittlichkeitsstrafrechts wird darin auf der Basis der Entwürfe von 1830 und 1833 noch einmal schwerpunktmäßig beraten. Hier werden die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kamptz und Bode hinsichtlich der Unzuchtsverbrechen deutlich266. Danach herrscht einige Zeit Ruhe auf dem Feld der Sittlichkeitsdelikte, bis 1843 auf Initiative des Justizministeriums erneute Beratungen einer Kommission des Staatsrates angesetzt267 wurden, bei denen noch einmal deutliche Liberalisierungstendenzen erkennbar wurden, die jedoch letztendlich vom Plenum des Staatsrathes nicht übernommen werden sollten268. Es blieb im Rahmen der Blutschande bei der Ausdehnung des Tatbestandes auf Stief- und Schwiegerverhältnisse269, wobei jedoch im Falle einer nichtehelichen Ver-
265 Motive zum E 1833, Erster Theil, S. 231. Abgedr, in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 3, S. 489. 266 Mit ausführlicher Beschreibung der Aktennotizen und Zwischenentwürfe Lautmann, in: KJ 1992, S. 295 (300). 267 Vgl. hierzu: Berathungs-Protokolle der zur Revision des Strafrechts ernannten Kommission des Staatsraths, über den zweiten Theil des Entwurfs des Strafgesetzbuchs. Zweite Abtheilung, S. 271. 268 Lautmann, in KJ 1992, S. 295 (333). 269 E 1843, S. 63, § 374. Abgedr. bei Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 5, S. 63.
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wandtschaft die Strafe halbiert werden und auch nur dann eintreten sollte, wenn die Verwandtschaft zweifelsfrei feststeht270. Während der Entstehung des Entwurfs gab es jedoch erheblichen grundsätzlichen Widerstand gegen eine Aufnahme der Blutschande in den Strafkatalog, vor allem aus den Rheinprovinzen, wie der Revisor in der Revision des E 1843 konstatiert: »Eine nicht unbedeutende Zahl von Monenten271, der Rheinische Ausschuß, Deuster, Duden, Temme272 und Andere wollen das Verbrechen der Blutschande ganz aus dem Gebiet der Kriminalgesetze in das der Moral und des Gewissens verweisen«273.
Weiter wird vom Ministerium ausdrücklich noch einmal die Notwendigkeit eines umfassenden Sittlichkeitsstrafrechts konstatiert, da hier »die wichtigsten geistigen Interessen des Staates betroffen werden, die öffentliche Sitte, die Heiligkeit der Ehe und Reinheit und Keuschheit der Familienverhältnisse überhaupt, weshalb hierin das öffentliche Interesse vorherrschend ist«274.
Die Vorschriften des Entwurfs von 1843 wurden im revidierten Entwurf von 1845 und später schließlich auch im E 1847 übernommen, wobei die für nichteheliche Verhältnisse vorgesehene halbierte Strafe durch im Gegensatz zu den Bestimmungen bei ehelicher Verwandtschaft verminderte Strafrahmen ersetzt wurde275. Der Entwurf fand im Hinblick auf das Sittlichkeitsstrafrecht in der zeitgenössischen Literatur ein geteiltes Echo. Der Entwurf von 1843 wurde von verschiedenen Vertretern der Rechtswissenschaft kritisiert, so äußert der Vizepräsident des Berliner Oberkammergerichts Strampff: »Man kann also die völlige Verworfenheit einer Handlung anerkennen, sie in religiöser und sittlicher Beziehung für verdammlich und fluchwürdig erklären und sie dennoch mit keinem Strafgesetz bedrohen. […] Gegen die Ausdehnung der Blutschande auf jede Unzucht zwischen Verwandten, denen die Ehe, wegen der Nähe der Verwandtschaft […] verboten ist, wüsste ich nichts zu erinnern. Dieselben Gründe des allgemeinen Wohls, welche gegen die Ehe unter so nahen Verwandten sprechen, daß nicht das Volk durch Heirathen in engen Familienkreisen entnervt werde; alles dies spricht mit noch lauterer Stimme für die Bestrafung der Blutschande. Diese Gründe sind aber nicht 270 E 1843, S. 63, § 375. Abgedr. in Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 5, S. 63. 271 Eine Aufzählung der einzelnen Monenten findet sich bei Schubert/Regge, Gesetzrevision, Bd. 5, Beilage V, S. 226 – 229. 272 Jodocus Donaldus Hubertus Temme war zu dieser Zeit Stadt- und Landgerichtspräsident in Tilsit, er wurde 1848 Staatsanwalt in Berlin und Mitglied der Nationalversammlung, Heinrich Josef Deuster wurde 1850 Präsident des Landgerichts Saarbrücken. 273 Revision des E 1843, S. 159, § 371. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 5, S. 653. 274 Revision des E 1843, S. 159, Einleitung zu § 371. Abgedr. bei Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 5, S. 653. 275 E 1845, S. 31, § 164. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 6, Hb 1, S. 35.
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rechtlicher Natur. Der Staat soll durch Erziehung und Unterricht dahin wirken, daß Religion und Moral jedem unkeuschen und unsauberen Geiste wo möglich in jeder Familie den Eingang verwehren; und Heil dem Staate, welchem dies gelingt! Er hat aber kein juristisches Recht, daß seine Bürger sich der Zucht und Sitte und Gottesfurcht ergeben. Deshalb verletzen sie, wenn sie blutschänderischen Umgang pflegen, sein Recht nicht mehr, als wenn sie in der unglücklichsten Verblendung einen Götzen anbeten«276.
Daher und unter Verweis auf den Code P¦nal, der Straflosigkeit vorsieht und es dennoch zu bezweifeln sei, dass der Inzest in Frankreich »jetzt häufiger angetroffen wird, als in den Zeiten vor 1791«277, fordert er eine Beschränkung des Tatbestandes »auf die Fälle, wo ein öffentliches Ärgernis gegeben [ist]«278. Abegg kritisiert hingegen ganz grundsätzlich die Beschränkung des Verbrechensbegriffs auf Eingriffe in die Rechtssphäre anderer279. Eine derartige Festlegung widerspreche den bekannten römischen und kanonischen Rechtsquellen sowie den Traditionen des gemeinen Rechts280. Gerade das Beispiel der Sittlichkeitsdelikte, im Besonderen der Blutschande, zeige, dass eine solche Betrachtungsweise fehlginge, da ansonsten Verletzungen der Sittlichkeit, die »nach der Erfahrung, nach den Gesetzen, doch strafbar sind, und nach der Sitte es seyn müssen«, nicht als Verbrechen eingestuft werden dürften281. Diese falsche Festlegung habe schon Feuerbach »zu dieser Consequenz getrieben«, deren Nachteile »nicht als geringe zu betrachten« seien282. Der Entwurf erhielt von Abegg daher Zustimmung, wobei er die Ausgestaltung des Sittlichkeitsstrafrechts ausdrücklich lobt: »Auch die Sittlichkeit hat ein Recht, und ist ein solches, welches im sittlichen Gemeinwesen und im Staate gegen die widerstrebende Willkür in Anspruch genommen werden soll«283. Trotz der teilweise auch kritischen Stimmen in der Literatur zeigt sich die Revision unter dem Ministerium Kamptz/v. Savigny weiter von der grundsätzlichen Strafwürdigkeit des Inzests überzeugt: Man könne »…dieser Ansicht nicht beitreten, wenn gleich nicht verkannt werden darf, daß durch Eindringen in die Familiengeheimnisse und Entschleierung der verborgenen Verbrechen, also durch die Untersuchung selbst, Nachtheile entstehen können, sowohl für die betroffenen Familien, als die öffentliche Sittlichkeit, besonders des weiblichen Geschlechts. Sobald einmal ein öffentliches Ärgernis gegeben wird, oder sobald die Rechte 276 277 278 279 280 281 282 283
Strampff, Kritische Briefe, S. 299, 302. Ebd., S. 302. Ebd., S. 304. Abegg, Beiträge zu der Lehre des Verbrechens des Inzests, in: Archiv des Criminalrechts 1846, S. 1 (18). Ebd. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd.
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Dritter verletzt werden, kann die Strafe nicht wegfallen […] Soviel ist gewiß, daß das Verbrechend der Blutschande in keinem Falle im Gesetzbuche fehlen darf.«284
Obwohl das Bestehen eines öffentlichen Ärgernisses hier genannt wird, wurde jedoch der Tatbestand nicht um das Merkmal der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses erweitert. Ein Entgegenkommen fand allerdings insofern statt, als zum einen bei Erwachsenen das Strafmaß im Minimum von drei auf zwei Jahre und bei Minderjährigen von sechs auf drei Monate verringert und zum anderen beim Geschwisterinzest unter minderjährigen Geschwistern die Strafverfolgung an den Strafantrag eines Elternteils oder eines Vormundes geknüpft wurde285. Darüber hinaus wird angeführt, dass die durch die Untersuchung intimer Details für die »öffentliche Sittlichkeit« und für die sittliche Entwicklung Minderjähriger drohenden Gefahren durch engere prozessuale Regelungen vermieden werden könnten. Dies solle geschehen, indem der Staatsanwalt mit »angemessenen Instruktionen zur Verhinderung alles bedenklichen Eindringens in das Innere der Familien versehen werden kann« und er »nur solche Fälle zur Untersuchung ziehen [wird], welche Ärgernis geben und Rechte Dritter verletzen, welche zur Publizität gelangt sind, [und] nur solche Beweismittel gebrauchen [wird], deren Anwendung nicht noch mehr Gefahr für die öffentliche Sitte droht«286. Der Tatbestand der widernatürlichen Unzucht wurde im Entwurf von 1847 wieder auf Personen männlichen Geschlechts ausgeweitet, wobei der Begriff der widernatürlichen Unzucht weiterhin nicht näher bestimmt worden ist287. Auch hier drangen die rheinischen Stände, die eine völlige Straflosigkeit forderten, mit ihrer Kritik nicht durch. In den Motiven heißt es, dass auch ohne das Hinzutreten eines öffentlichen Ärgernisses eine Strafbarkeit unbedingt erforderlich sei, denn derartiges Verhalten sei »von einer solchen Entartung und Herabwürdigung des Menschen« und »so gefährlich für die Sittlichkeit überhaupt und das öffentliche Wohl«288. Nach vehementen Beschwerden aus den Rheinprovinzen, in denen diese eine stärkere Berücksichtigung nicht nur ihres Prozessrechts, sondern auch eine stärkere Vertretung in den Beratungsgremien zum materiellen Teil forderten, wurden vier rheinische Juristen schließlich 1846 in die Immediatkommission des Staatsrates berufen289. Kurz vor Abschluss der Beratungen zum E 1847 des neuen Strafgesetzbuchs, kurz vor den Märzereignissen des Jahres 1848, standen 284 285 286 287 288 289
Revision des E 1843, Bd. 2, S. 159 f. Abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 5, S. 653. Ebd., S. 160, Schubert/Regge, S. 654. Ebd., S. 159, Schubert/Regge, S. 653. E 1847, S. 33, § 183. Abgedr, in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 6, Hb 2, S. 771. Motive zum E 1847, S. 72 f., § 183. Abgedr, in: Schubert/Regge, Abt. 2, Bd. 6, Hb 2, S. 914 f. Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, S. 114.
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sich Gegner und Befürworter eines strengen Sittlichkeitsstrafrechts im vereinigten ständischen Ausschuss, dem der Entwurf vorgelegt wurde, noch einmal gegenüber. Zur besseren Übersichtlichkeit werden hier die Blutschandenormen des E 1847 aufgeführt: § 162: Der Beischlaf zwischen ehelichen Verwandten in aufsteigender und absteigender Linie ist an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den letzteren mit Gefängnis nicht unter drei Monaten oder mit Strafarbeit nicht unter zwei Jahren zu bestrafen. § 163: Der Beischlaf zwischen vollbürtigen oder halbbürtige Geschwistern soll mit Gefängnis nicht unter drei Monaten oder mit Strafarbeit bis zu zwei Jahren bestraft werden. § 165: Der Beischlaf zwischen Stiefältern und Stiefkindern, so wie der Beischlaf zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern, soll mit Gefängnis nicht unter zwei Monaten oder mit Strafarbeit bis zu drei Jahren bestraft werden. § 166: Der Beischlaf eines Ehemannes mit der unehelichen Tochter der Frau, so wie der Beischlaf der Mutter einer unehelichen Tochter mit deren Ehegatten, ist mit Gefängnis nicht unter zwei Monaten oder mit Strafarbeit nicht unter drei Jahren zu bestrafen. Der Beischlaf des vom Vater anerkannten unehelichen Sohnes mit der Ehefrau des Vaters, so wie der Beischlaf eines Vaters mit der Ehefrau seines von ihm anerkannten unehelichen Sohnes, ist mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahre zu bestrafen290. Zunächst blieb der Widerstand liberaler Stimmen gegen die Aufnahme der Blutschande ins StGB erfolglos; in der die Sitzung des Ständischen Ausschusses vorbereitenden »vorberatenden Abtheilung« wurden in der 12. Sitzung am 12. 01. 1848 drei von vier Streichungs- oder Milderungsanträgen von der Mehrheit der 14 Mitglieder abgelehnt291. Die liberalen Ausschussvertreter Naumann292 und von Mylius293 stellen als sich abwechselnde Referenten bei dieser Sitzung noch einmal unter Anführung eines bis dahin in den Beratungen nicht genannten Arguments ihre Sicht der Dinge dar ; im Sitzungsprotokoll der vorberatenden Abteilung heißt es: 290 E 1847, S. 67, abgedr. in: Schubert/Regge, Abt. 1, Bd. 6, Hb 2, S. 1148. 291 Lediglich Vorschlag, auf einen Wegfall des § 166 des Entwurfs anzutragen, fand eine knappe Mehrheit von 8 gegen 6 Stimmen. GehStA Rep. 169 B 2 Nr. 1, Bl. 122. 292 Zu jener Zeit Oberbürgermeister von Posen. 293 Zu jener Zeit Landrat im rheinischen Jülich.
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»Nachdem Referent die §. 162 – 166, welche die Blutschande und deren Strafe betreffen, vorgelesen hatte, warf er die Frage auf: ob Blutschande mit Strafe zu bedrohen sei. Er verneinte sie: denn solche Handlungen könnten nach dem Standpunkte der sittlichen Bildung des Volkes nicht mehr als vorkommend betrachtet, und kämen sie vor, würden sie von der öffentlichen Meinung gerichtet werden. […] Der Staat dürfe die Sittlichkeit der Familie nicht unter seine Strafgewalt ziehen. Die Aufdeckung schändlicher Handlungen durch solche Prozesse werde einen Skandal verbreiten, der den zu erreichenden sittlichen Zweck überwiege. Wenn auch einige Mitglieder dieser Ansicht beistimmten, so wurde von anderen doch hervorgehoben, daß der Staat den Grundsatz der Bestrafung so schändlicher Handlungen nicht aufgeben dürfe; denn die Familien seien die Grundlage des Staates, ihm sei es von hoher Wichtigkeit, daß die Reinheit in den Familien erhalten werde, und dafür mit allen Mitteln zu wirken, sei seine Pflicht; Blutschande müsse daher unter Strafe gestellt werden«294.
Ein Verbleib der Bestimmungen über die Blutschande wurde daraufhin mit 11 gegen 3 Stimmen beschlossen295. Eine redaktionelle Vorgabe, die in der praktischen Anwendung noch erhebliche Bedeutung erlangen sollte, wurde jedoch beschlossen. So einigte man sich darauf, dass die Nennung des Wortes »Beischlaf« in der abschließenden Redaktion des Gesetzes möglichst vermieden werden solle296. Die auf die Beratung der Abteilung folgende Sitzung des Vereinigten Ständischen Ausschusses selbst enthält jedoch noch eine Reihe weiterer Stellungnahmen namhafter Abgeordneter, die über die Strafgründe der Sittlichkeitsdelikte im Allgemeinen und über die Ziele, die mithilfe des Sittlichkeitsstrafrechts erreicht werden sollen, streiten und das Für und Wider der einzelnen Bestimmungen erörtern. Die abschließenden Beratungen kurz vor der Märzrevolution zeigen insofern sehr deutlich, welche Befürchtungen und Überzeugungen hinter dem Sittlichkeitsstrafrecht des Pr.StGB standen, und geben insoweit auch Aufschluss darüber, was letztendlich den Ausschlag gab für eine Fassung des Sittlichkeitsstrafrechts, wie es über lange Zeit in Deutschland bestehen sollte. Die Sitzung ist daher von besonderem Interesse für das Thema dieser Arbeit und wird im Folgenden entsprechende Berücksichtigung finden. (3) Die abschließende Beratung des Vereinigten ständischen Ausschusses In der 17. Sitzung des Vereinigten Ständischen Ausschusses am 10. 02. 1848 werden die Vorschriften über die Blutschande (§§ 162 – 166 des Vorentwurfs) noch einmal abschließend beraten297. Die von Bleich dokumentierten Beratungen des Vereinigten Ständischen Ausschusses vom 10. 02. 1848 sind die letzten 294 Bleich, Verhandlungen des Vereinigten Ausschusses, Bd. I, S. 94; GehStA Rep.169 B 2 Nr. 1, Bl. 120 RS – 121 RS. 295 Bleich, Verhandlungen des Vereinigten Ausschusses, Bd. I, S. 94. 296 Bleich, Verhandlungen des Vereinigten Ausschusses, Bd. II, S. 272. 297 Bleich, Verhandlungen des Vereinigten Ausschusses, Bd. II, S. 270 – 272, Bd. 3, S. 373 – 395.
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und intensivsten durch die Vertreter aus allen preußischen Provinzen, bevor das Plenum des Staatsrates die endgültige Version des StGB beschließen wird. Anwesend sind eine Reihe prominenter Juristen und bedeutende Personen der Zeitgeschichte: Savigny als Gesetzgebungsminister, die Abgeordneten von Camphausen und von Auersbach, die wenige Monate später aufeinanderfolgend als »Märzpräsidenten« agieren sollten, sowie Vertreter der Rheinprovinz (z. B. Freiherrn von Mylius und von Gudenau) und Abgeordnete unterschiedlichster politischer Strömungen, von liberal-demokratisch (z. B. Allnoch) bis konservativ-restaurativ (z. B. von Olfers)298. Neben den Protokollen Bleichs wurden für die Auswertung auch die im Preußischen Geheimen Staatsarchiv zugänglichen Originalprotokolle der Sitzungen eingesehen299. In der Sitzung wird noch einmal umfassend der Umgang mit den Sittlichkeitsdelikten überhaupt und vor allem die genaue Ausgestaltung und Formulierung der Blutschande-Normen diskutiert. Eine ganze Reihe der 99 Ausschussmitglieder äußert sich in Rede und Gegenrede zum Thema, so dass das Protokoll über diese Diskussion insgesamt 23 Seiten umfasst300. Bei diesen Beratungen wird über Änderungsvorschläge abgestimmt, die dem Plenum des Staatsrates zur letzten Entscheidung vorgelegt werden sollten301. Dabei wird zwar mit Verweis auf den bereits am 10. Januar gescheiterten Streichantrag eine vollständige Streichung der Blutschande-Vorschriften nicht mehr ernstlich erwogen302, jedoch werden vier weitere Fragen ausgiebig diskutiert. Zunächst wird vorgeschlagen, die Androhung von Zuchthausstrafe völlig zu streichen303, was jedoch abgelehnt wurde304. Dann findet ein Antrag, statt zwingender Zuchthausstrafe auch Strafarbeit wenigstens fakultativ zuzulassen, eine knappe Mehrheit von 50 zu 44 Stimmen305. Darüber hinaus wird Straflosigkeit für Verwandte in absteigender Linie bis zum 18. Lebensjahr diskutiert306. Vor allem mit Blick auf den Missbrauch einer Tochter durch den Vater307 wird nach dem Vorbild des § 1044 ALR dieser Vorschlag von einer 298 299 300 301 302 303 304 305 306 307
Zur Herkunft der Genannten vgl. Bleich, Verhandlungen, Bd. I, S. 18 – 21. Hier unter Rep. 169 B 2 Nr. 1, insb. Bl. 120 RS – 123. Bleich, Verhandlungen des Vereinigten Ständischen Ausschusses, Bd. III, S. 373 – 395. Bleich, Verhandlungen des Vereinigten Ausschusses, Bd. III, S. 381 ff. Zunächst musste ein Vorschlag von mindestens 8 Mitgliedern unterstützt werden, bevor durch Abstimmung entschieden wurde, ob die Anfrage dem Plenum vorgelegt werden soll. Allerdings wurde eine Abstimmung über den Verbleib der Blutschande eingangs noch einmal mit erneut eindeutig bejahendem Ergebnis durchgeführt. Bleich, Verhandlungen, Bd. 3, S. 377. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 377. Ebd., S. 385. Ebd. Ebd., S. 380 – 385. Ebd., S. 381. Der westpreußische Abgeordnete von Brünneck führt das für die Mehrheit entscheidende Argument an: »Diejenige […], welche keinen aktiven Antheil an dem Verbrechen genommen hat, die ich daher unmöglich als eine Verbrecherin betrachten kann,
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Zweidrittelmehrheit der Anwesenden schließlich befürwortet308. Insbesondere die Frage nach einer möglichen Zusammenfassung der geplanten sechs Vorschriften über die Blutschande zu einem einzigen Paragraphen spaltet den Ausschuss. Der rheinische Abgeordnete von Gudenau schlägt vor, eine Formulierung zu wählen, die die Blutschande und widernatürliche Unzucht in einer Norm zusammenfasse, wobei ein Wortlaut gewählt werden sollte, den der Anstand gebiete und der »eine der Würde des Gesetzes nicht angemessene Casuistik« verhindere: »Die Blutschande zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie, Geschwistern, Stief- und Schwiegereltern, so wie Unzucht gegen die Natur wird mit Strafarbeit oder mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft«309.
Hierdurch würde die überflüssig häufige Verwendung anstößiger Begriffe vermieden, was vor allem vor dem Hintergrund erwogen werden müsse, dass durch die Bestimmungen über die Blutschande ein für die Rheinprovinz unbekanntes Verbrechen »ins Leben gerufen« werde, so dass »mit Rücksicht auf die Rheinprovinzen« zu hoffen sei, »dass, wenn wir auch die Strafbestimmung überhaupt erhalten wollen, man uns doch das Detail erlassen möge«310. Der sich durch die Verkürzung im Vergleich zum Entwurf ergebende erweiterte Strafrahmen für den Geschwisterinzest und sonstige vom Inzest in gerader Linie abweichende Konstellationen sei im Vergleich zu anderen Delikten nicht zu kritisieren311. Hiergegen besteht erheblicher Widerstand, als dessen schärfster Vertreter Savigny hervorzuheben ist, der dogmatisch-systematisch und sehr präzise argumentiert. Savigny führt verschiedene Argumente an, die gegen das Zusammenziehen der einzelnen Tatbestände sprechen. Zum einen würde eine faktische Erhöhung der Strafmaße mit der vorgeschlagenen Änderung eintreten, da für Geschwister dann statt maximal zwei Jahre Strafarbeit Zuchthaus bis fünf Jahre verhängt werden könne312. Eine Beibehaltung der Aufteilung auf verschiedene Normen sei ferner erforderlich, um der Kasuistik der Blutschandedelikte in Bezug auf die tätertauglichen Personen gerecht zu werden, denn es sei hier »nicht von derselben unter verschiedenen Umständen vorgenommenen Handlung die Rede, sondern von Handlungen, die ihrer Natur nach völlig verschieden sind, denn die Blutschande zwischen Vater und Tochter ist etwas ganz anderes als die
308 309 310 311 312
[werden wir] unmöglich noch äußerlich schänden wollen, nachdem sie das Unglück gehabt hat, moralisch geschändet zu werden«. Bleich, Verhandlungen des Vereinigten Ausschusses, Bd. II, S. 272. Ebd., S. 271. So die Unterstützung durch den rheinischen Kollegen von Gudenaus, Frh. v. Mylius. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 388 Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 387. Ebd., S. 386.
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zwischen anderen Verwandten«313. In diesem Zusammenhang betont Savigny auch, dass ein weiter Strafrahmen im Entwurf nur dort gewählt wurde, wo einem in Betracht kommenden unterschiedlichen Maß an Schuld Rechnung getragen werden sollte, bei der Blutschande jedoch Anknüpfungspunkt nicht die Schuld, sondern gänzlich unterschiedliche Tathandlungen seien, so dass ein Vergleich insofern unzulässig sei314. Darüber hinaus müsse die Verhütung schwerer Ungerechtigkeiten Vorrang vor der bloßen Vermeidung von Unannehmlichkeiten haben315. Gegen eine Erweiterung des richterlichen Ermessens spreche auch die Gefahr, dass auf Seiten des Gerichts individuell unterschiedliche, von der Weltanschauung des Richters abhängige Maßstäbe angelegt werden könnten, da »die Anschauungsweise des Richters bei Beurteilung solcher Verbrechen […] nur allzu sehr von seinem Temperamente…« abhinge316. Im Zuge der in Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Verkürzung stehenden Debatte über die angemessene Schärfe der Strafandrohung zeigt sich, welche Vorstellung vom Wesen des Delikts und welches Bild von den potentiellen Tätern die Abgeordneten vor Augen haben. Der gemäßigt liberale Rheinländer und spätere kurzzeitige Ministerpräsident von Camphausen317 betont, dass die Blutschande zutreffender als ein Laster und nicht als Verbrechen zu bezeichnen sei318. Dieser Einschätzung schließen sich weitere Abgeordnete an319, wobei der Ostpreuße und Regierungspräsident von Trier, von Auerswald,320 am deutlichsten äußere Lebensumstände und Mangel an Bildung als Ursache für dieses Delikt benennt, so dass eine überharte Bestrafung vermieden werden müsse: »Wenn man aber annimmt, meine Herren, daß hier von Verbrechen die Rede ist, die gottlob doch mehr Verbrechen der Rohheit sind, die denjenigen Klassen unserer Mitbürger zur Last fallen, die unter dem Fluche der Rohheit, die unter dem Fluche einer schlechten Erziehung, unter dem Fluche der kümmerlichen Lebensverhältnisse stehen, was hat man da für Gründe, die Strafe schärfen zu wollen? […] Obgleich ich nicht verkenne, daß dem Laster entgegengetreten werden muß, so muß ich doch sagen, dass in dieser Schärfung etwas sehr hartes, ja etwas Barbarisches gegen diese unglücklichen Klassen liegt, die fast unzurechnungsfähig in das Verbrechen hineintaumeln. Wir wollen diese doch nicht auf unseren Standpunkt stellen; wir dürfen für uns höhere 313 Ebd., S. 388. So auch Graf von Schwerin und Frh. v. Patow., der den Vater-Tochter-Inzest gesondert erwähnen will. Ebd., S. 390. 314 Ebd., S. 388. 315 Ebd. 316 Ebd., S. 389 f. 317 Vgl. hierzu Wippermann, in: ADB, Bd. 47, S. 425 – 428. 318 Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 386. 319 So der schlesische Abgeordnete Graf von Renard und der Regierungspräsident von Trier, von Auerswald. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 386, 389. 320 Der Königsberger Rudolf von Auerswald war von 1842 bis 1848 Regierungspräsident in Trier und wurde direkt nach der Märzrevolution Oberpräsident von Ostpreußen, zur Person vgl. Bardeleben, in: ADB, Bd. I, S. 651 – 654.
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Strafen bei allen Verbrechen der Unsittlichkeit feststellen; aber wenn wir an diejenigen denken, die am meisten hier straffällig sein werden, so glaube ich nicht, daß wir Grund haben zu einer Verschärfung der Strafe«321.
Bevor es zur Abstimmung kommt, verteidigt von Mylius noch einmal den Kürzungsvorschlag gegen die Kritik Savignys und anderer. Er widerspricht der Annahme, dass die im Entwurf unterschiedenen Tatbestände »Handlungen ganz verschiedenen Charakters« seien und führt aus, dass alle Tatvarianten »…aus grober Roheit und Unsittlichkeit« erwüchsen: »Ob sie zwischen Vater und Tochter oder zwischen Bruder und Schwester vorfallen, thut in der Sache das Wenigste, kurz, es ist dieselbe Wurzel da […]322. Ein Zusammenziehen der Blutschandedelikte auf eine Norm wird dann in der Abstimmung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt323. Nachdem die »Grundkonstellation« des Beischlafs zwischen leiblichen Verwandten beraten worden war, wird die Strafbarkeit in Stiefund Schwiegerverhältnissen diskutiert. Hier kommt erneut Streit über die Systematik der Delikte auf. Nach den Beschlüssen der Vorberatenden Abteilung sollte § 165 des Entwurfs, der Strafbarkeit für den Beischlaf zwischen Stiefeltern und -kindern sowie zwischen Schwiegereltern und -kindern bestimmt, beibehalten, der den Beischlaf auch zwischen unehelichen Kindern und einem Stiefoder Schwiegerelternteil pönalisierende § 166 jedoch gestrichen werden, weil hier der Strafgrund einer Verletzung von zivilrechtlich anerkannten Familienverhältnissen nicht vorliege324. Savigny weist auf die Inkonsequenz hin, die eine Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Verwandtschaft in gerader Linie bedeute, da schließlich auch »die uneheliche Tochter einer Frau immer ihre wirkliche Tochter [ist]« und somit das Verwandtschaftsverhältnis kein Fiktives, sondern vielmehr »die einfache, regelmäßige Realität« sei325. Er greift damit die Begründung Bodes auf, der schon in den Motiven zum Entwurf von 1828 darauf hingewiesen hatte, dass hier nicht ein Vergleich mit den Ehegesetzen angebracht sei, sondern auf die natürlichen Gegebenheiten abgestellt werden müsse326. Es ist wiederum von Mylius, der noch einen letzten Versuch der Rechtfertigung unternimmt, indem er darauf hinweist, dass dem nichtehelichen Kind des Ehepartners die gesetzliche Anerkennung gerade fehle, so dass dann nur »ein natürliches, aber kein gesetzlich garantiertes Verhältnis« vorliege und in der Folge mangels Bestehens einer gesetzlichen Verwandtschaft auch keine Sanktion
321 322 323 324
Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 388 f. Ebd., S. 391. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 391. Dort wurde mit 10:4 Stimmen ein Streichungsantrag hinsichtlich § 165 abgelehnt, für § 166 jedoch mit 8:6 der Streichantrag angenommen. Bleich, Verhandlungen, Bd. II, S. 95. 325 Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 392. 326 Gesetzes-Revision, Pensum 1, Motive zum ersten Entwurf, Bd. 3, Abt. 2, S. 261.
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hierfür erfolgen dürfe327. Der von der Vorberatenden Abteilung eingebrachte Streichantrag wird darauf jedoch von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt328, das Ministerium und die konservative Mehrheit haben sich durchgesetzt. Der konservative westfälische Bankier von Olfers329 fordert dann sogar die Wiedereinführung der Präventionsnormen 1044 und 1045 des ALR, die getrennte Betten für Eltern und Kinder sowie für Geschwister ab 10 Jahren vorschrieben330, da in Anbetracht der verrohten unteren Bevölkerungsklassen nur »…sehr strenge Verordnungen…« das Verbrechen der Blutschande verhüten könnten331. Hierauf reagiert der schlesische Abgeordnete Krause mit Hohn: »Ich weiß wohl, daß der Fall, den das geehrte Mitglied vorgetragen hat, auf dem Lande vorkommt, da lässt sich aber wohl kein anderer Rath geben, als daß dafür gesorgt werde, daß sie 2 Betten haben. Ist die Person in Dienst, so liegt die Sorge dem Brotherren ob, und ist sie sehr arm, so mag die Polizeibehörde oder überhaupt die Ortsbehörde sich um die Moralität kümmern und 2 Betten machen lassen. Das ist das einzige, durchgreifende Mittel, welches wir haben«332.
Obwohl von Olfers noch einmal auf die ausgeprägte »Liderlichkeit« der unteren Klassen verweist, findet sein Antrag ohne weitere Diskussion keine Mehrheit333. In der Folge werden die Ehebruchsstrafen, insbesondere die Frage, ob dem Antrag der Vorbereitenden Abteilung gefolgt und der Ehebruch für straflos erklärt werden soll, diskutiert. Es kommt bei der Erörterung einer der »zartesten und schwierigsten« Fragen des Entwurfs334 zu einer hitzigen Debatte, wobei viele Redner Grundsätzliches zum Sittlichkeitsstrafrecht äußern und dabei häufig auf die Blutschande Rekurs nehmen, weshalb auch dieser Teil der Sitzung hier beleuchtet wird. Es zeigt sich dabei deutlich die der Materie innewohnende Sprengkraft anhand einer deutlich erkennbaren Emotionalisierung der Diskussion und aufkommender Provokationen. Vor allem das streng christliche Lager steht hier den liberalen und demokratischen Ausschussvertretern gegenüber : In einer Vorbemerkung weist zunächst Savigny darauf hin, dass es dem Kern nach beim Ehebruch gar nicht um den Schutz der Sittlichkeit gehe, sondern vielmehr um die strafrechtliche Sanktion eines zivilrechtlichen Vertragsbruchs, weshalb im Gegensatz zur Blutschande der Vorwurf, dass ein »…Übergriff aus dem Rechtsgebiet in das Sittlichkeitsgebiet […] nicht einmal den Schein für sich 327 328 329 330 331 332
Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 393. Ebd. Bleich, Verhandlungen, Bd. I, S. 21. Hierzu s. o. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 394. Die Erwiderung Krauses sorgte laut Protokoll für »anhaltendes Gelächter«. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 94. 333 Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 394. 334 So der schlesische Abgeordnete Frhr. von Gaffron. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 403.
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[habe]«335. Savigny geht in einer eindrucksvollen Vorrede auf alle in Betracht kommenden Kritikpunkte ein, wobei er versucht, den Befürwortern einer Straflosigkeit schon vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Mehrheit von der Notwendigkeit der Strafbarkeit zu überzeugen. Durch eine Straflosigkeit des Ehebruchs würde in seinen Augen »die ganze Grundlage gefährdet […], auf welcher der Übergang aller geistigen und sittlichen Besitztümer einer Nation auf die nächste Generation zur anderen beruht«336. Er äußert sich am Beispiel des Ehebruchs auch grundsätzlich zu im Sittlichkeitsstrafrecht immer wieder auftauchenden Argumentationslinien und weist darauf hin, dass die im Sittlichkeitsstrafrecht populären Argumente mangelnder Präventionswirkung der Strafandrohung, bzw. die Ungewissheit über die tatsächliche Wirkung einer Norm, das Beispiel der Rechtslage in anderen Staaten, sowie der Verweis auf eine historische Tradition der Strafbarkeit zwar berücksichtigt werden müssten, jedoch für sich genommen weder geeignet seien, eine Strafbarkeit zu begründen, noch, sie auszuschließen: »Ich bin weit entfernt davon, aus der bestehenden Gesetzgebung aller Nationen und aller Zeiten folgern zu wollen, dass diese Behandlung der Sache gut und wahr sei, ich verlange nur, dass man dadurch einigermaßen misstrauisch werde gegen die absolute Verneinung dieser Bestimmungen […]. Ob die Fälle des Ehebruchs dadurch werden verhütet oder vermindert werden, lasse ich dahingestellt sein; es wird immer nur Vermuthung bleiben«337.
Während der sich anschließenden Diskussion wird von zahlreichen Abgeordneten ein enormer Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Klassen hinsichtlich ihrer sittlichen Bildung hervorgehoben und darauf hingewiesen, dass ein Abgeordneter nicht die gleichen Ansprüche an die unteren Klassen stellen dürfte wie an seinesgleichen338. Über die Folgen dieses Unterschiedes besteht indessen Streit. Einige Abgeordnete, u. a. Savigny, folgern, dass man den unteren Klassen harte Strafen gar schuldig sei, um ihnen ein sittliches Leben überhaupt zu ermöglichen und ihnen durch die Bestrafung des Ehebruchs »…den größten Dienst…« erweise339. Andere wiederum schließen daraus, dass eine Bestrafung gegenüber den unteren Volksklassen ungerecht sei, da zum einen in den gebildeten Ständen »die Ehefrau sich gern aus vielen Rücksichten dazu bestimmen lassen [wird], [strafbefreienden] Einspruch gegen die Bestrafung zu tun« und zum anderen durch die Gefahr rachebedingter Denuntiationen mit der Ehebruchsstrafe vor allem »eine Strafe für die unteren Volksklassen« geschaffen 335 336 337 338 339
Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 396. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 396. Ebd., S. 398. Ebd., S. 398 – 409. Ebd., S. 399, ähnliche Bemerkungen auf S. 404 f.
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werde340. Hier erreicht die Diskussion ihren Höhepunkt, als der schlesische Abgeordnete Steinbeck in Antwort auf die Vorrede Savignys ausführt, dass der Ehebruch »in das Forum des Gewissens und nicht jenes des Rechts« gehöre, und fragt: »Wie soll durch das Kriminalrecht die Sittlichkeit aufrechterhalten werden, wenn sie durch den Ehebruch verletzt wird?«341. Die Straflosigkeit des Ehebruchs, führt Steinbeck weiter aus, ergebe sich für ihre Befürworter »aus der Freiheit der Gesellschaft und des Einzelnen«, wobei der wahre Skandal darin bestünde, dass er in den höheren Klassen lediglich besser vertuscht würde und insofern das Nichtbestrafen trotz Strafandrohung schlimmer sei als die Straflosigkeit selbst; unter lauten Bravorufen und Beifallsbekundungen wirft er den Gegnern der Straflosigkeit Doppelmoral vor und provoziert die christlichkonservative Mehrheit, indem er schließlich pathetisch aus der Bibel zitiert (Johannes, Kap. 8, Vers 2 – 7, wo die Pharisäer Jesus eine Ehebrecherin vorführen): »Wer von euch frei von Sünde ist…«342. Dennoch erreichen die Abgeordneten um Savigny auch bei der Frage nach der Strafbarkeit des Ehebruchs eine deutliche Mehrheit gegen den Streichungsantrag der Vorberatenden Abteilung343. (4) Die »Revolutionsentwürfe« 1848/49 In seiner detaillierten Chronik der Entstehungsgeschichte des Pr.StGB findet sich bei Berner die Angabe, dass die Märzrevolution von 1848 den Prozess der Gesetzgebung nur kurz unterbrach und, »nachdem die heftigsten politischen Stürme vorübergebraust waren«, man sich »der Aufgabe […] mit Aussicht auf baldigen Erfolg wieder zuwenden« konnte344. Dieser Kontinuitätsgedanke, der die Revolutionsentwürfe übergeht, hatte bis in die jüngste Zeit bestand. Bei Forschungsarbeiten Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre sind jedoch die Entwürfe aus der Revolutionszeit im Hinblick auf die Strafbarkeit von Homosexualität untersucht wurden, die sich diesbezüglich erheblich von den Vorgängerentwürfen unterscheiden. Durch die Arbeiten Lautmanns und Hutters zu den Homosexuellenstrafen im Preußen des 19. Jahrhunderts345 angestoßene Nachforschungen haben ergeben, dass Berners Darstellung von der Entstehung des StGB346 in der Tat unvollständig ist und die Entwürfe der Jahre 1848 und 340 341 342 343 344 345
Ebd., S. 408. Bleich, Verhandlungen, Bd. III, S. 400. Ebd., S. 401. Ebd., S. 410. Berner, Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, S. 239. Lautmann, Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht – Seine Grundlegung in der Preußischen Gesetzesrevision des 19. Jahrhunderts, in: Kritische Justiz 1992, S. 306; Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle homosexuellen Begehrens – Medizinische Definition und juristische Sanktion im 19. Jahrhundert. 346 S.o. Berner, Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart.
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1849, das sog. Einheitsstrafrecht, bislang kaum erschlossen sind. Waldemar Banke, ein Schüler Franz von Liszts, hat im Rahmen eines von von Liszt ins Leben gerufenen Projekts den bis dato verschollenen Entwurf von 1849 und den zugehörigen Vorentwurf von 1848 wiederentdeckt, im Originalwortlaut abgedruckt und mit einer historischen Einordnung begonnen347. Kamptz hatte in der aktenmäßigen Darstellung der Gesetzesrevision behauptet, dass die Geschichte der Gesetzrevision sich ausschließlich aus den Materialien des Ministeriums ergebe348. In den Materialien des Ministeriums tauchen die Entwürfe der Revolutionszeit jedoch nicht auf. Das von Kamptz gezeichnete und von der Rechtsgeschichte lange Zeit übernommene Bild von einem bruchlosen Übergang des Entwurfs von 1847 in das StGB von 1851 ist unzutreffend. Der Fortgang der Entstehungsgeschichte nach Abschluss der Beratungen des Vereinigten Ständischen Ausschusses wird in den bekannten Abhandlungen zum Thema übergangen, und die Beschreibung wird mit dem »fertigen« Gesetzestext, bzw. dem Entwurf desselben von 1851 fortgesetzt349. In der Zwischenzeit hat es allerdings bedeutsame Entwicklungen gegeben, die hinter der vorangegangenen Revisionsgeschichte keinesfalls zurückstehen und daher an dieser Stelle auch nicht fehlen dürfen, denn zumindest für den Bereich der Sittlichkeitsdelikte enthalten die Entwürfe der Revolutionszeit 1848/49 tatsächlich revolutionäre Neuerungen. Der Entwurf 1848 wurde nach den Folgerungen Bankes im Wesentlichen von dem rheinischen Justizrat Bischoff erstellt350, am 27. 12. 1848 eingereicht und im Anschluss von »einer kleinen Anzahl Sachverständiger« überarbeitet, bevor er dem Ministerium und den Kammern zum Beschluss vorgelegt wurde351. Der Vorentwurf von 1848 enthält einen eigenen Abschnitt »Verbrechen gegen die Sittlichkeit«, dieser umfasst bemerkenswerter Weise insgesamt nur noch sieben Paragraphen352. Die Blutschande wird als solche überhaupt nicht und Unzucht nur dann bestraft, wenn sie unter Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses, mit Gewalt oder mit Minderjährigen begangen wird. Geschlechtsverkehr unter Verwandten, sowohl in gerader als auch in seitlicher Linie wird nicht erwähnt. Wie die Blutschande entfallen ist das Delikt 347 Banke, Waldemar, Der erste Entwurf eines Deutschen Einheitsstrafrechts, Bd. I – III. 348 V. Kamptz, Aktenmäßige Darstellung der preuß. Gesetz-Revision, S. 69, zit. nach Banke, Bd. II, S. 1. 349 Neben dem Beispiel Berners, u. a. auch in der umfassenden Abhandlung Hälschers: »Nachdem in den Jahren 1848 und 1849 der Entwurf, vermöge der eingetretenen politischen Ereignisse, liegengeblieben war, wurde 1850 im Justizministerium eine nochmalige Revision desselben vorgenommen«. Hälscher, Geschichte des Preußischen Strafrechts, S. 282. 350 Banke, Bd. II, S. 32 mit Verweis auf entsprechende Hinweise in Koch, Allgemeines Landrecht, Bd. 4, S. 880. 351 Mit Verweis auf die Korrespondenz des damaligen geheimen Justizrates und späteren Justizministers mit dem Ministerium, Banke, Bd. II, S. 33. 352 E 1848, Titel 8, § 99 – 105. Abgedruckt in: Banke, Bd. II, S. 65.
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der widernatürlichen Unzucht sowie die Strafbarkeit des Ehebruchs. Allein erhalten geblieben ist die Generalklausel der öffentlichen Verletzung der Schamhaftigkeit353. Zugehörige Motive sind bedauerlicherweise nicht erhalten. Als Basis für das revolutionäre Projekt einer Reichseinheit sollte ein einheitliches Recht dienen, wobei »…zu betonen ist, dass unter »Rechtseinheit« zunächst gemeinsame Strafgesetzgebung verstanden wurde»354. Ein solches Einheitsstrafrecht wurde jedoch nicht von der Nationalversammlung, sondern, wie Banke zeigt, auf Basis des Preußischen Entwurfs von 1848 erarbeitet355. In diesem als Einheitsstrafrecht356 geplanten Entwurf von 1849 wurde bezüglich der Sittlichkeitsdelikte lediglich der Ehebruch als Straftatbestand wieder hinzugefügt, Blutschande und widernatürliche Unzucht blieben wie im E 1848 grundsätzlich straflos357. Der letzte Entwurf eines preußischen StGB vor seinem Inkrafttreten 1851 enthält also in Gestalt des hier als E 1848 bezeichneten Entwurfs ein extrem liberales Sittlichkeitsstrafrecht und namentlich keinen Tatbestand der Blutschande. Der E 1849 wurde nach dem Scheitern der Revolution vernichtet, und die abschließende Beratung des StGB in den Kammern von 1851 würde wiederum auf Basis des E 1847 durchgeführt. (5) Zusammenfassung Zwischen der Einführung des ALR 1794 und dem Abschluss der Revision im Jahre 1848 mit dem Entwurf von 1847 hat das Sittlichkeitsstrafrecht in Preußen bedeutende Änderungen erfahren. Die aufgeklärt liberalen Stimmen waren zu Beginn der Reformen bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts stark vertreten und haben zunächst, wie sich aus den Motiven ergibt, für eine deutliche Milderung der Vorschriften über die Blutschande und für eine Liberalisierung des Sittlichkeitsstrafrechts insgesamt gesorgt. Die Beispiele des Code P¦nal und des Bayerischen StGB von 1813, die in konsequenter Anwendung des Rechtsverletzungsdogmas eine Strafbarkeit des Inzests überhaupt nicht normiert haben, haben diese Liberalisierung befördert. Dies nicht zuletzt dadurch, dass der fehlende Zusammenhang zwischen Delinquenz und Normschärfe offensichtlich, und insofern auch die Furcht der Autoritäten vor einem staatsschädigenden Verfall der bürgerlichen Sitten gemindert wurde. Warum sich eine völlige Straflosigkeit des Inzests in den preußischen Staaten letztendlich nicht durchsetzen konnte, ist nicht zweifelsfrei zu sagen. Es ist nach Betrachtung der wäh353 E 1848, § 99. 354 Banke, Bd. I, S. 9. 355 Banke, Bd. I, S. 28, 29 und ausführlich in Bd. III (Der Entwurf 1849 als Bindeglied des Deutschen Strafrechts). 356 Banke, Bd. I, S. 28. 357 E 1849, Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit, Zehnter Titel, Art. 100 – 107, abgedruckt bei Banke, Bd. I, S. 67 – 69.
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rend der Gesetzesrevision entstandenen Beratungs- und Verhandlungsprotokolle jedoch zu vermuten, dass auf dem Gebiet des Sittlichkeitsstrafrechts letztendlich – wie in vielen anderen Bereichen der Gesetzgebung auch – ein von verschiedenen Protagonisten bestrittener politischer Konflikt ausgetragen wurde. Die Grenzlinien verliefen dabei sowohl zwischen den politischen Lagern als auch zwischen den streng christlichen und dem gemäßigt christlichen Abgeordneten. Überlagert wurde die gesamte Diskussion von den Spannungen zwischen hochkonservativen altpreußischen Junkern und den für eine möglichst weitgehende Einflechtung ihrer Rechtstraditionen in das neue StGB streitenden rheinischen Juristen, die unterstützt wurden von demokratisch orientierten und politisch links stehenden ambitionierten Spitzenbeamten. Es hat jedoch darüber hinaus auch den Anschein, dass die entscheidenden Gestaltungskräfte im Ministerium, nicht zuletzt Savigny selbst, schlicht davor zurückschreckten, dem König und den den preußischen Staat tragenden konservativen Eliten ein Gesetzbuch zu präsentieren, in dem diese im Verständnis der christlich geprägten ständischen Gesellschaft selbstverständliche Strafnorm fehlt. Vor allem in der Revision des E 1843 wird die ambivalente Haltung des Ministeriums erkennbar. So werden sowohl in der Vorrede als auch zu den konkreten Vorschriften selbst mehr Argumente gegen eine umfassende Strafbarkeit genannt als dafür. Darüber hinaus wirkt der selbst geäußerte Anspruch, nur solche Fälle der Blutschande strafen zu wollen, die entweder Rechte anderer verletzen oder ein öffentliches Ärgernis erregen, und die gleichzeitige Weigerung, diesen Konnex tatbestandlich herzustellen, widersprüchlich und ohne Anschauung der politischen Mehrheitsverhältnisse unverständlich. Da also die Notwendigkeit einer Strafbarkeit mehr affirmativ vorausgesetzt als durch juristische Argumentation begründet wird, erscheint der Satz: »So viel ist gewiß, daß das Verbrechen der Blutschande in keinem Falle im Gesetzbuche fehlen darf« wie das Eingeständnis einer Normsetzung mehr aus politischen Zwängen denn aus juristischer Notwendigkeit. Die in der Revision geforderte Zurückhaltung bei der Strafverfolgung zeigt jedoch auch, dass hier die engste Privat- und Intimsphäre durchaus einen Faktor darstellte, der zur Begrenzung des staatlichen Strafanspruchs herangezogen wurde. Der E 1849 wurde nach dem Scheitern der Revolution vernichtet und taucht in den preußischen Ministerialakten zum Entstehungsprozess des StGB von 1851 nicht auf, dennoch erscheint es als wahrscheinlich, dass bei einem anderen Verlauf der Ereignisse, bei einem Erfolg der Revolution von 1848 im Sinne einer Reichsgründung nach Maßgabe der Paulskirchenverfassung, die weitere Geschichte der Sittlichkeitsdelikte in Deutschland eine völlig andere gewesen wäre.
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2.
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Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851
Im Jahre 1851 trat das preußische Strafgesetzbuch in Kraft. Hier heißt es in § 141 [Blutschande]: »Die Unzucht zwischen leiblichen Eltern und Kindern wird an den Ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den Letzteren, wenn sie das sechszehnte Lebensjahr zurückgelegt haben, mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren bestraft. Die Unzucht zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern, zwischen Stiefeltern und Stiefkindern und zwischen vollbürtigen oder halbbürtigen Geschwistern wird mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren bestraft. Auch kann zugleich auf die zeitige Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Stiefkinder bleiben straflos, wenn sie das sechszehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben«.
Dieses Ergebnis ist zunächst einmal erstaunlich, hat man doch im Vereinigten Ausschuss das Zusammenziehen der Vorschriften auf eine Norm abgelehnt358. Aufschluss vermag insofern –eingeschränkt – der Bericht der Kommission für Prüfung des Entwurfs des Strafgesetzes zu geben359. Dieser Bericht enthält auch eine kurze Erläuterung der letzten Änderungen im Sittlichkeitsstrafrecht. Es wird darauf hingewiesen, dass eine Verkürzung der Norm stattgefunden habe, »…(und zwar, zur Vermeidung einer anstößig befundenen Fassung und einer widrigen Kasuistik…)«360. Ferner wird hervorgehoben, dass, wenn ein Verwandtschaftsverhältnis durch nichteheliche Geburt begründet werde, dies im Strafmaß berücksichtigt werden solle361, so dass mit Blick auf die während der Verhandlungen im Vereinigten Ständischen Ausschuss geäußerten Argumente man eine Berücksichtigung der verschiedenen Konstellationen über das Strafmaß – entgegen der Mehrheit des Vereinigten Ausschusses – doch für ausreichend erachtet hat. Hinzu tritt die Umsetzung der Forderung, auf eine genaue Formulierung der Tathandlung zu verzichten, so dass bei der Blutschande zwar der Beischlaf gemeint, aber der Ausdruck »Unzucht« gebraucht wurde362. Die Altersgrenze der Straffreiheit wird in Angleichung an den allgemeinen Teil von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt363. Die Norm entspricht ansonsten dem Ergebnis der Revision in Form des E 1847 und enthält eine umfassende Strafbarkeit auch der 358 S.o. unter B. IV. 1. b) bb) (3). 359 Bericht der Kommission für Prüfung des Entwurfs für das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, in: Verhandlungen der Ersten und Zweiten Kammer über die Entwürfe des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten und des Gesetzes über die Einführung desselben, vom 10. Februar 1850, S. 44 – 207. 360 Ebd., S. 125. 361 Ebd., S. 126. 362 Verhandlungen., S. 125. 363 Ebd., S. 126.
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in Schwieger- und Stiefverhältnissen begangenen Unzucht. Die Beschlüsse des Vereinigten Ausschusses wurden kaum berücksichtigt. Lediglich die Vermeidung anstößiger Begriff wurde umgesetzt, vor allem fehlt die Alternative der einfachen Gefängnisstrafe oder fakultativ Strafarbeit als Strafandrohung. Die Generalklausel des § 150 sowie die Homosexuellenstrafe wurden mit dem Wortlaut des Entwurfs von 1847 übernommen. Die Vorschriften über Blutschande und widernatürliche Unzucht hatten unverändert Bestand bis zur Schaffung des RStGB von 1871. a)
Die Sittlichkeitsdelikte in der gerichtlichen Praxis (1851 – 1871)
Die Gesetzeslage allein vermag jedoch noch kein vollständiges Bild davon zu vermitteln, wie der juristische Umgang mit den Sittlichkeitsverbrechen im Preußen des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat. Um dieses Bild zu vervollständigen, sollen auch einige Urteile aus der Zeit hinzugezogen werden, die vor allem im Hinblick auf die vorhandenen Generalklauseln Einblick in die Rechtswirklichkeit erlauben. Die Urteile und Urteilszusammenfassungen des preußischen Obertribunals, das 1879 als Obergericht vom Reichsgericht abgelöst wurde, werden dabei größtenteils Goltdammers Archiv für preußisches Strafrecht entnommen. Darüber hinaus werden aber auch der zugängliche staatsanwaltliche Schriftverkehr (Weisungen, Appellationen, Anfragen, etc.) und Ministerial-Reskripten aus dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin herangezogen, soweit sie Einblick in die preußische Rechtspraxis nach Inkrafttreten des Pr.StGB 1851 bis 1871 geben. aa) Ausgangslage In der Anfangszeit des Obertribunals wurden die Tatbestände der Sittlichkeitsdelikte rasch durch eine Reihe von Urteilen näher präzisiert. Vor allem in den Anfangsjahren bis 1854 erging eine Reihe von Entscheidungen, die die Reichweite der Tatbestände, die im Bereich der Sittlichkeitsdelikte häufigen unbestimmten Rechtsbegriffe und den Kreis der tauglichen Täter näher bestimmen. Insbesondere die Strafbarkeit der Blutschande und Unzucht in verschiedensten Konstellationen sowie der widernatürlichen Unzucht und die Erregung eines öffentlichen Ärgernisses waren Gegenstand richtungsweisender Entscheidungen und bildeten den Angriffspunkt einer erstarkten christlich-konservativen Bewegung innerhalb der preußischen Justiz nach 1848364. Die
364 Zur damaligen Organisation und Konzeption der Staatsanwaltschaft vgl. Collin, Peter, »Wächter der Gesetze« oder »Organ der Staatsregierung«? Konzipierung, Einrichtung und
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Rechtsprechung zu § 141 ist in den ersten Jahren geprägt von einer intensiven Debatte über das Verhältnis von Strafrecht und Zivilrecht sowie von einem Streit über die Auslegung der im Sittlichkeitsstrafrecht benannten strafbaren Handlungen. Insbesondere herrschte Uneinigkeit über die durch die Verkürzung auf eine einzige Norm aufkommende Frage, ob geschlechtliche Beziehungen zu nichtehelichen Abkommen des eigenen Ehepartners unter den Begriff der Blutschande fallen. Bei der Feststellung, ob ein unter § 141 fallendes Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Beteiligten vorlag, kommt den Bestimmungen des Familienrechts eine besondere Bedeutung zu. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Staatsgebiet Preußens im Bereich des Zivilrechts regionale Unterschiede bestanden und nebeneinander das Zivilecht des Code Civil, das gemeine Recht sowie das Allgemeine Landrecht galten365, während das Strafrecht durch das Pr.StGB von 1851 vereinheitlicht wurde. Dieser Umstand sollte zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten im gerichtlichen Umgang mit verschiedenen Sittlichkeitsverbrechen führen. So äußert sich ein unbekannter Verfasser im Archiv für Preußisches Strafrecht kritisch zu der von Seiten der Staatsanwaltschaft vertretenen Ansicht, dass im Strafrecht ohne Rücksicht auf das jeweils geltende Zivilrecht ein einheitlicher Begriff gelten müsse366. Unklarheit bestand darüber hinaus, vor allem im Rahmen der Homosexuellenstrafe, aber auch bei der Blutschande, über den Begriff der Unzucht selbst. Trotz der insoweit eindeutigen Materialien, in denen hinsichtlich der genannten Delikte unter dem Wort »Unzucht« Beischlaf verstanden werden sollte367 drängte die Staatsanwaltschaft auf eine Erweiterung der hierunter zu fassenden Handlungen. bb) Rechtsprechung Die Richter des Obertribunals standen bei Anklagen gem. § 141 (Blutschande) vor einem besonderen Problem. Bei der Beurteilung der Frage, ob zwischen den Anleitung der Staatsanwaltschaft durch das preußische Justizministerium von den Anfängen bis 1860. 365 Vgl. hierzu den Beitrag eines unbekannten Verfassers: Der Begriff der Stiefverbindung beim Thatbestande der Unzucht. Ein Beitrag zur Beurtheilung des Verhältnisses vom Civilrecht zum Strafrecht, in: APS Bd. 2 (1854), S. 513 – 521. Zur Unterschiedlichkeit des geltenden Zivilrechts in Preußen zu jener Zeit vgl. auch Hadding/Kießling, Anfänge deutschen Aktienrechts: Das Preußische Aktiengesetz vom 09. November 1843, S. 159. Eine graphische Darstellung zum geltenden Zivilrecht in Deutschland vor Einführung des BGB, die die Uneinheitlichkeit auch für das ehemalige Staatsgebiet Preußens widerspiegelt, findet sich bei Kroeschell, Bd. III, S. 174. 366 N.N., Der Begriff der Stiefverbindung beim Thatbestande der Unzucht. Ein Beitrag zur Beurtheilung des Verhältnisses vom Civilrecht zum Strafrecht, in: APS Bd. 2 (1854), S. 513 (513 f.). Zu den Auswirkungen dieses Streits in der gerichtlichen Praxis s. u. im folgenden Abschnitt unter B. IV. 2. a) bb). 367 S.o.
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Angeklagten ein Verwandtschaftsverhältnis bestanden hat, liegt es nahe, hier an die zivilrechtlichen Bestimmungen zur Verwandtschaft anzuknüpfen. Mag dies bei Verwandtschaftsbeziehungen in gerader Linie und in Fällen, in denen sich die Verwandtschaft aus der Abstammung (im Sinne von Blutsverwandtschaft) ergibt, noch unproblematisch sein, so entsteht dort ein Problem, wo die Verwandtschaft allein kraft Gesetzes besteht. Vor dem Hintergrund der uneinheitlichen Rechtslage auf dem Gebiet des Zivilrechts im Reichsgebiet Preußens bereitete vor allem die Bestimmung von Schwiegerschafts- und Stiefverhältnissen Schwierigkeiten. Gem. Tit. 1 Teil 1, § 44 PrALR galten – anders als im Code P¦nal – lediglich ehelich geborene Kinder als Verwandte des Ehegatten: »Stiefverbindungen bestehen, im Sinne des Gesetzes, nur zwischen einem Ehegatten, und den aus einer sonstigen Ehe erzeugten Kindern des andern«. Der letzte nach § 1040 ALR vor dem Obertribunal verhandelte Inzestfall vor Inkrafttreten des Pr.StGB war der Prozess gegen den Landarbeiter Krause, der mit der nichtehelichen Tochter seiner verstorbenen Frau im Laufe der Jahre 11 Kinder gezeugt hatte368. Hier wurde eine Verurteilung wegen Blutschande mangels Verwandtschaft der Beteiligten abgelehnt369. Nachdem zunächst ein Kreisgericht und später das Magdeburger Appellationsgericht diese Rechtsprechung fortgesetzt und die Straflosigkeit eines Angeklagten, der eine geschlechtliche Beziehung zur unehelichen Tochter seiner Ehefrau unterhalten hatte, festgestellt hat370, bemühte sich der damalige Justizminister Simons371 um eine Ausweitung des Tatbestandes auch auf nichteheliche Kinder des Ehegatten, indem er durch entsprechende Anweisung auf weitere Anklagen durch die Staatsanwalt drang372. Unterstützung erhielt er hierbei von dem erzkonservativen Präsidenten des Magdeburger Appellationsgerichts Ludwig von Gerlach373, der sich für den gesamten Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts nachdrücklich um eine Verschärfung der Rechtsprechung bemühte374. Durch ein Ministerial-Reskript forderte Simons die Staatsanwaltschaften auf, auch in Fällen, in denen kein zivilrechtliches Stiefverhältnis bestehe, Anklage zu erheben und gegebenenfalls Rechtsmittel 368 369 370 371 372
Beschluss vom 30. 11. 1851, GehStA Rep. 84a, Nr. 8092, Bl. 199. Ebd. Beschluss vom 30. 09. 1852, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8092, Bl. 228. Ludwig Simons war vom 10.04.1849 – 14.12.1860 preußischer Justizminister. So mit Schreiben an die Oberstaatsanwälte Büchtemann vom 14. 10. 1851 und Sethe vom 10. 01. 1852, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8092, Bl. 209 f. / 212. 373 Der als religiöser Fanatiker geltende von Gerlach war von 1844 an 30 Jahre lang Präsident des Oberappellationsgerichts Magdeburg und parteipolitisch aktives und einflussreiches Mietglied im Club der Wilhelmstraße, der das Ziel verfolgte, einen feudal verwalteten, christlich-germanischen Staat zu errichten. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 9, S. 9, 13. Zum politischen Wirken von Gerlachs vgl. auch Engelmann, Ernst Ludwig von Gerlach, in: Tullner, Persönlichkeiten der Geschichte Sachsen-Anhalts, S. 171 – 175. 374 Collin, »Wächter der Gesetze«, S. 352 f.
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einzulegen, da »…die enge Verbindung, in der das bisherige Strafrecht zu der übrigen Rechtsmaterien stand, indem es im Sinne des Landrechts nur einen einzelnen Titel bildete […], gegenwärtig gelöst […]« sei375. So führte kurz darauf der Generalstaatsanwalt in einer Rechtsbeschwerde (Requistorium) entsprechend aus, dass entgegen zivilrechtlichen Bestimmungen eine Verwandtschaft – und somit eine Strafbarkeit im Falle intimen Verkehrs zwischen den beteiligten Personen – auch dann angenommen werden müsse, wenn das am Wohnort des Angeklagten geltende Zivilrecht eine solche gerade ausschließe376. Dies sei erforderlich, da eine uneinheitliche Anwendung des Strafrechts unbedingt vermieden werden müsse und es insofern lediglich auf den Begriff der Verwandtschaft im allgemeinen Sprachgebrauch ankommen könne377. In dem der Rechtsbeschwerde zugrunde liegenden Fall wurde der Angeklagte wiederum beschuldigt, mit der nichtehelichen, vor Eingehung seiner Ehe geborenen Tochter seiner Ehefrau Unzucht getrieben zu haben378. Zunächst hatte das Gericht in diesem Fall die Appellation der Staatsanwaltschaft gegen die Ablehnung der Einleitung einer Untersuchung noch zurückgewiesen379. Es stützte seine Rechtsauffassung dabei auf die Beratungen der Gesetzgebungskommission, die explizit Bezug auf die zivilrechtlichen Wertungen genommen hatte: »Auch hält die Kommission für angemessen, daß kein Unterschied gemacht werde, ob durch eheliche oder uneheliche Geburt das Verwandtschafts- oder Affinitätsverhältnis, soweit letzteres nach Lage der bürgerlichen Gesetzgebung überhaupt eintritt (vergleiche Allg. Landrecht §. 44 I. 1.), begründet war.«380. Auch Goltdammer schließt in seinem Kommentar unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte der Norm in derartigen Fällen eine Strafbarkeit aus:
375 Schreiben des Justizministers an Oberstaatsanwalt Büchtemann vom 14. 10. 1851, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8092, Bl. 209 RS; in Auszügen ferner abgedruckt in APS Bd. 1 (1853), S. 83. Später ergingen ähnliche Schreiben mit der gleichen Aufforderung an die Oberstaatsanwälte Voitus und Schwarck, sowie an den Generalstaatsanwalt, Schreiben vom 07. 04. 1853, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8092, Bl. 231 – 233 RS. 376 Abgedruckt im Beschluss des Obertribunals vom 07. 09. 1853 wider Luebcke, in APS Bd. 1 (1853), S. 567. 377 Ebd. Im hier entschiedenen Fall wurde der Angeklagte gem. § 141 Pr.StGB in der Konstellation der Unzucht mit Stiefkindern verurteilt, weil er eine geschlechtliche Beziehung zur unehelichen Tochter seiner verstorbenen Ehefrau unterhalten hatte. 378 Verfahren gegen den Gutsbesitzer Michael Luebke, GehStA Rep. 97a, Nr. 468, Bl. 93. Auch teilw. abgedr. in APS Bd. 1 (1853), S. 567 – 568. Im benannten Fall galt am Wohnort des Angeklagten das Familienrecht des PrALR. 379 Beschluss des Obertribunals vom 07. 09. 1853 wider Luebcke, in APS Bd. 1 (1853), S. 567 f. 380 Beschluss des Obertribunals vom 07. 09. 1853 wider Luebcke, in APS Bd. 1 (1853), S. 567 (568). Die sich mit der Reichweite des Tatbestandes der Blutschande beschäftigenden Erwägungen der Kommission finden sich auch bereits im Kommentar Beselers von 1851, Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten und das Einführungsgesetz vom 14. April 1851, S. 310 – 312.
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»Weiter reicht das Verhältnis nicht; namentlich wird eine Stiefverwandtschaft zwischen dem Vater oder der Mutter und den unehelichen Kindern des anderen Theils nicht begründet«381.
Jedoch erging kurz darauf am 27. 02. 1854 eine Plenarentscheidung382, die die Frage nach der Maßgeblichkeit zivilrechtlicher Wertungen im Rahmen des § 141 abweichend – und im Sinne von Gerlachs und Simons‹ – beantwortete: »Die im zweiten Satze des §. 141. des Str.G.B. enthaltene Strafandrohung gegen Unzucht zwischen Stiefältern und Stiefkindern ist auch in denjenigen Provinzen, in welchen der §. 44. Thl. I. Tit. 1 des A.L.R. Gesetzeskraft hat, auf den Fall zu beziehen, wo die Unzucht zwischen dem einen Ehegatten und dem unehelichen Kinde des anderen begangen ist«383.
Diese richtungsweisende Entscheidung des Obertribunals wurde im Archiv für Preußisches Strafrecht nicht nur veröffentlicht, sondern auch ausführlich kommentiert. Ein anonymer Verfasser verteidigt die Plenarentscheidung durch eine detaillierte Auslegung der Strafvorschrift des § 141 Pr.StGB384. Er führt aus, dass zum Verständnis der Norm ihre Entstehungsgeschichte, vor allem aber die ihr zugrunde liegenden Prinzipien des römischen Rechts und die sich darauf gründenden Eheverbote betrachtet werden müssten385. Im Ergebnis führe das weitverbreitete Bestehen eines Eheverbots dazu, dass unabhängig vom Wortlaut des StGB geschlechtliche Beziehungen eines Mannes zur nichtehelichen Tochter seiner Ehefrau stets strafbar seien386. Dieses Ergebnis stützt er durch den Hinweis darauf, dass eine solche Ausdehnung der Strafbarkeit zeitweilig Eingang in die Entwürfe gefunden habe, und durch die Behauptung, dass sie im Zuge der Zusammenziehung der vormals in gesonderten Normen geregelten Konstellationen des Inzests zum Paragraphen 141 dort lediglich aus redaktionellen Gründen nicht aufgenommen worden sei387. Die Argumentation des anonymen Verteidigers der Entscheidung entspricht nicht den Anforderungen an eine dogmatische Begründung und verkennt insbesondere den insoweit eindeutigen 381 Goltdammer, Kommentar, Bd. II, S. 289. 382 Präjudiz zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung, vergleichbar mit einer Entscheidung der vereinigten Senate des BGH. 383 Erkenntnis des Obertribunals vom 27. 02. 1854, Entscheidungssammlung 1854 – 1855, Mikrofilm, Nr. 90, 2.F.7=27.1854 – 1855. Auch Abgedruckt in Justiz-Ministerial-Blatt 1854, S. 193. 384 N.N., Begriff der Stiefverbindung beim Thatbestande der Unzucht, in APS Bd. 2 (1854), S. 513 – 521. Auch intensive Nachforschungen durch den Verfasser im GehStA ergaben keinen endgültigen Nachweis der Urheberschaft, jedoch liegt bei der Entstehungsgeschichte der Entscheidung die Vermutung nahe, dass entweder Simons oder von Gerlach hinter dem Beitrag stehen. 385 N.N., in: APS Bd. 2 (1854), S. 513 (516 f.). 386 Ebd., S. 520 f. 387 Ebd., S. 521 f.
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Wortlaut der Norm; vielmehr kommt hier das Bemühen zum Ausdruck, der auf politischen Druck zustande gekommenen Plenarentscheidung zur Abänderung der gefestigten Rechtsprechung den Anstrich juristischer Notwendigkeit und Seriosität zu geben. Dieser Eindruck wird auch dadurch verfestigt, dass der Einbeziehung des nichtehelichen Kindes in den Kreis tauglicher Beteiligter einer Inzeststraftat eine gleichzeitige massive Beschneidung seiner Rechte im Familienrecht gegenübersteht388 und insofern ein Durchdringen der konservativen Eliten im Bereich der Justiz zu beobachten ist389. In einer anderen Entscheidung stellte das Obertribunal fest, dass zwischen einem Mann und der Tochter seiner verstorbenen Frau aus erster Ehe das Stiefverhältnis weiterbestehe, so dass sich für beide eine Strafbarkeit gem. § 141 Pr.StGB ergebe390. In einer weiteren Entscheidung wurde der Angeklagte gem. § 141 Pr.StGB verurteilt, weil er mit seiner »Schwiegertochter« nach Auflösung der Ehe seines Sohnes, die das Verwandtschaftsverhältnis begründet hatte, Unzucht getrieben hat391. Auch diese Entscheidung des Obertribunals aus dem Jahr 1854 enthält neben einem Hinweis auf die Eheverbote das Argument, dass sich – trotz des Wegfalls der entsprechenden Klarstellung im Gesetzestext – eine extensive Auslegung der Norm »von selbst« verstehe. Dies erscheint umso fragwürdiger, als in den Motiven zum Entwurf 1843 explizit darauf hingewiesen wurde, dass ein zweifelsfreies Fortbestehen der Inzeststrafbarkeit trotz Beendigung der das Verwandtschaftsverhältnis begründenden Ehe nur durch eine »nothwendig auszusprechende gemeinschaftliche Bestimmung« erreicht werden könne, weshalb »ein Zusatz […], wie ihn der §. 165. des revidirten Entwurfs darstellt«, beantragt wurde392. Einen solchen klarstellenden Zusatz enthält der § 141 von 1851 aber gerade nicht. Bemerkenswert ist darüber hinaus das Bemühen konservativer Kreise, Einfluss auf die höchstrichterliche Rechtsprechung beim Straftatbestand der Widernatürlichen Unzucht zu nehmen. Zunächst in den Entwürfen bis 1843 auf die sog. sodomia generis, also den geschlechtlichen Verkehr mit Tieren, beschränkt, so dass homosexueller Verkehr zwischen (männlichen) erwachsenen Personen 388 Vgl. hierzu Harms-Ziegler, Illegitimität und Ehe, S. 305 ff. 389 Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Collin, der im Rahmen seiner Untersuchung der preußischen Staatsanwaltschaft für den Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts einen »Sieg der konservativen Auffassung« konstatiert. Collin, »Wächter der Gesetze«, S. 354. 390 Urteil des Obertribunals vom 14. 06. 1854, teilw. abgedruckt in: APS Bd. 2 (1854), S. 830. Hier auch zustimmend Goltdammer, da die Regeln über Eheverbote, subsidiär angewandt, geböten, dass auch nach dem Tod der Ehefrau deren Tochter aus erster Ehe nicht geheiratet werden darf. Dieses Ergebnis lässt sich jedoch nicht auf nichteheliche Kinder des verstorbenen Ehegatten übertragen. Vgl. insoweit Goltdammer, Kommentar, Bd. II, S. 289 mwN. 391 Urteil des Obertribunals vom 18. 01. 1854 gegen Pazucha, GehStA Rep. 97 a, Nr. 468, Bl. 126; wiedergegeben auch in APS Bd. 2 (1854), S. 257. 392 Motive zum E 143, S. 161 f., § 375.
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straflos war, ist im StGB von 1851 die widernatürliche Unzucht in § 143 auf alle Arten der sodomia sexus – und somit auf homosexuellen Verkehr zwischen Männern – ausgedehnt worden393. In der Praxis streitig war auch nach der Ausweitung der Strafbarkeit jedoch die Tathandlung, namentlich die Frage, ob auch andere geschlechtliche Handlungen, insbesondere die gegenseitige Onanie, ohne den Beischlaf zu vollziehen, strafbares Verhalten darstelle. Auch hier entschied das Obertribunal zunächst gegen die – wiederum von von Gerlach befeuerten – Anstrengungen der Staatsanwaltschaft, eine weitergehende Strafbarkeit zu erreichen394. Das Gericht setzt sich hierbei mit dem Begriff der widernatürlichen Unzucht auseinander, den es anhand der Motive näher bestimmt. In der Entscheidung bestätigte das Obertribunal seine Rechtsprechung zum Begriff der Unzucht395. Zutreffend stellt es fest, dass aus den Motiven eindeutig hervorgehe, dass nur die sog. »Sodomia propria«, also nur solche Handlungen, »welche die Richtung auf den Beischlaf selbst haben«, unter den Begriff der widernatürlichen Unzucht zu fassen seien396, und daher, »so widerwärtig und sittenlos, wie überhaupt der ganze Verkehr der Angeklagten untereinander es auch sein mag, [dieser] doch gleichfalls nicht unter den Sinn des Gesetzes fällt«397. Diese Auslegung entspricht auch der Kommentierung Goltdammers398. Nachdem in der Folgezeit unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Obertribunals in einem weiteren Fall homosexuellen Verkehrs – ohne dass es zum Beischlaf gekommen war – mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Obertribunals zwei erstinstanzliche Urteile aufgehoben worden waren, intervenierte von Gerlach beim Justizministerium und beklagte, dass hierdurch »Unsicherheit verderblichster Art« entstünde399. Der zuständige Magdeburger Oberstaatsanwalt Meier erstattete dem Justizministerium daraufhin Bericht, wobei er das Absehen von weiteren Anklagen in solchen Fällen verteidigte, da die Auffassung des Obertribunals »ganz richtig« sei400. Simons wies daraufhin den OStA Meier an, in Zukunft bei derartig gelagerten Fällen dennoch Anklage zu erheben, um eine Änderung der Rechtsprechung zu erreichen: 393 S.o. 394 Urteil des Obertribunals vom 06. 02. 1857, abgedr. in APS Bd. 5 (1857), S. 266 f. 395 Mit einer Beschränkung des Begriffs der »Unzucht« auf »Beischlaf« oder zumindest Versuch desselben bereits Urteil des Obertribunals vom 30. 09. 1853, teilw. Abgedr. in APS Bd. 1 (1853), S. 704. 396 Mit dieser Auslegung auch bereits mit Urteil vom 30. 09. 1853, abgedr. In APS, Bd. 1 (1853), S. 704. 397 Ebd. S. 268 f. 398 Goltdammer, Materialien Bd. 2, S. 193 f.; Beseler äußert sich auch in seinem Kommentar nicht zu dieser Frage. 399 Schreiben von Gerlachs an Justizminister Simons von 10. 02. 1857, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8093, Bl. 17, 17 RS. 400 Schreiben des OStA Meier an den Justizminister Simons vom 01. 11. 1857, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8093, Bl. 22 (24).
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»Die Meinung, dass solche unzüchtigen Handlungen […] unter den Begriff der bloßen Onanie und mithin nicht unter den Thatbestand des § 143 des Strafgesetzbuchs fallen, […] widerspricht dem allgemeinen Sittlichkeitsgefühl ebensowohl, wie der wiederholentlich von Gerichten erster und zweiter Instanz kundgegebenen Ansicht. Wenn daher das Kgl. Obertribunal in dem Erkenntnisse vom 01. 07. 1853 und noch später diese Meinung getheilt hat, so kann doch die Erwartung nicht ausgeschlossen sein, dass dasselbe bei Entscheidung ähnlicher Fälle künftig eine andere Anschauung gewinnen wird, und es erscheint daher erforderlich, dergleichen Fälle der Strafverfolgung auch fernerhin zu unterwerfen und nöthigenfalls auch ferner zur Entscheidung des obersten Gerichtshofs zu bringen«401.
Gleichzeitig drang Simons darüber hinaus auf eine Grundsatzentscheidung zu der Frage durch eine Entscheidung der Vereinigten Senate402, indem er den Generalstaatsanwalt Grimm anwies, hier eine Entscheidung zu beantragen403. In diesem Fall scheiterten die Bemühungen von Gerlachs und Simons allerdings. Eine Entscheidung der Vereinigten Senate kam aus prozessualen Gründen nicht zustande404. Auch blieben die Bemühungen des Generalstaatsanwalts, den Tatbestand auszuweiten, ohne Erfolg. So wies das Obertribunal zunächst eine gegen einen Freispruch gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde Grimms mit dem Hinweis darauf ab, dass die Vollziehung des Beischlafs zumindest das Ziel des unzüchtigen Verhaltens sein müsse ab,405 und bestätigte die einschränkende Auslegung des Tatbestandes gegen eine erneute Beschwerde Grimms schließlich in einer weiteren Entscheidung406. Die umfangreiche und ausführliche Beschwerde Grimms407 veranlasste das Gericht zu einer konkreten Klarstellung über die Reichweite des Tatbestandes dahingehend, dass »lediglich die imissio seminis in eine[n] lebenden Körper« hierunter zu fassen sei408. Diese enge Auslegung des Tatbestandes – konsequenterweise unter Einschluss homosexuellen Oralverkehrs409 – behielt das Gericht bis zum Ende seines Bestehens410 bei. In einer letzten Entscheidung zur widernatürlichen Unzucht vom 31. 05. 1867 deutet das Gericht allerdings an, dass sich aus dem Wortlaut der Strafnorm im Hinblick auf 401 Schreiben Simons an OStA Meier vom 30. 11. 1857, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8093, Bl. 39. 402 Die Vereinigten Senate wurden 1856 zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung eingeführt, § 4 Nr. 3 G vom 07. 05. 1856, GS, S. 293. 403 Schreiben an GStA Grimm vom 30. 11. 1857, GehStA, Rep. 84a, Nr. 8093, Bl. 40. 404 Schreiben des OStA Meier an Simons vom 09. 03. 1858 und vom 16. 03. 1858, GehStA, rep. 84a, Nr. 8093, Bl. 41, 45. 405 Entscheidung des Obertribunals vom 10. 10. 1860, teilw. abgedr. in APS Bd. 8 (1860), S. 831 f. 406 Urteil des Obertribunals vom 13. 04. 1863, abgedr. In APS Bd. 11 (1863), S. 425 – 432. 407 Ebd. 408 Ebd. 409 Der gegebenen Definition entsprechend auch ausgeurteilt in einer Entscheidung vom 31. 05. 1867, abgedr. in APS, Bd. 15 (1867), S. 552 f. 410 Das Obertribunal wurde 1871 durch das Reichsgericht als oberstes Gericht abgelöst.
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den Begriff der Unzucht gerade keine Beschränkung auf bestimmte Handlungsweisen ergebe, da »nur in der großen Abscheulichkeit dieser Handlungen der Grund liegt, dass sie in den Strafgesetzen nicht speziell beschrieben sind«411. Auch der Auffangtatbestand des § 150 des Pr.StGB412 (Erregung öffentlichen Ärgernisses)413, der in den Entwürfen von 1833 und 1836 zeitweilig ganz aus dem Bereich der Kriminalvorschriften entfernt und in das Polizeirecht eingegliedert werden sollte414, ließ den Gerichten einigen Spielraum bei der Grenzziehung zwischen individueller Privatsphäre und strafbarem Verhalten415. Hier stellt das Obertribunal 1854 fest, dass der § 150 Pr.StGB »eine jede bewußterweise der öffentlichen Sitte hohnsprechende, am öffentlichen Orte im Beisein anderer Personen vorgenommene, die Schamhaftigkeit verletzende Handlung« bestrafe416. Hierbei komme es allerdings nicht darauf an, ob die umstehenden Personen auch tatsächlich ein Ärgernis nehmen, vielmehr sei »in abstracto« ein öffentliches Ärgernis ausreichend417. Darüber hinaus ergingen Urteile, die die Begriffe der Öffentlichkeit und der Schamhaftigkeit näher bezeichnen. Der Begriff der Öffentlichkeit wurde kontinuierlich erweitert. Zum einen stellte das Gericht fest, dass »eine öffentliche, an und für sich die Scham verletzende […] Handlung auch schon dann als unter den §. 150. fallend zu betrachten ist, wenn sie nur von irgendeiner Person außer dem Täter wahrgenommen ist«, auch wenn sich die Handlung gezielt gegen diese Person richte418. Auf eine Beschwerde des Oberstaatsanwalts befand das Obertribunal 1865, dass »auch durch Handlungen in einer Privatwohnung ein öffentliches Ärgernis gegeben werden kann, […] mag die schamlose Handlung von außen her gesehen oder gehört oder aber im Innern von Personen, die dem Publikum angehören, wahrgenommen worden sein. Denn eben damit ist sie zur Öffentlichkeit und damit zu einem öffentlichen Ärgernis geworden«419.
411 Entscheidung des Obertribunals vom 31. 05. 1867, abgedr. in APS Bd. 15 (1867), S. 552. 412 § 150 Pr.StGB: »Wer durch eine Verletzung der Schamhaftigkeit ein öffentliches Aergerniß giebt, wird mit Gefängniß von drei Monaten bis zu drei Jahren bestraft. Auch kann zugleich auf zeitige Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden«. 413 Im Entwurf von 1843 noch betitelt mit »Verletzung der Schamhaftigkeit«, s. o. 414 Vgl. zur Entwicklung des § 150 Pr.StGB in den Entwürfen Gotdammer, Materialien, S. 311 f. 415 Der Wortlaut der Norm lautete 1851: »Wer durch eine Verletzung der Schamhaftigkeit ein öffentliches Ärgernis giebt, wird mit Gefängniß von drei Wochen bis zu drei Jahren bestraft. Auch kann zugleich auf zeitige Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. 416 Entscheidung des Obertribunals vom 06. 10. 1854, teilw. abgedr. in APS Bd. 2 (1854) S. 831. 417 Ebd. 418 Entscheidung des Obertribunals vom 07. 09. 1859, teilw. abgedr. in APS, Bd. 8 (1860), S. 831. 419 Entscheidung des Obertribunals vom 04. 10. 1865, teilw. abgedr. in APS, Bd. 13 (1865), S. 881.
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Der Versuch der Staatsanwaltschaft, die Strafbarkeit rein objektiv zu bestimmen, ohne dass es auf einen Vorsatz ankomme, scheiterte indes. So hob das Obertribunal ein Urteil des Appellationsgerichts auf, in dem die Angeklagte verurteilt wurde, obwohl sie glaubhaft machen konnte, ihr sei nicht bewusst gewesen, dass ihr Verhalten ein öffentliches Ärgernis errege420. Gleichzeitig wurde unter Hinweis auf die »allgemeinen strafrechtlichen Prinzipien« eine Beschwerde des Oberstaatsanwalts verworfen, der eine Verurteilung forderte, obwohl dem Angeklagten nach Überzeugung des Gerichts die Unsittlichkeit seines Verhaltens nicht bewusst gewesen war421. b)
Bewertung
Der Umgang mit und die Auslegung der Vorschriften über Blutschande und widernatürliche Unzucht, die das Sexualverhalten der Bürger im Blick haben, gibt Einblick in das Verständnis der preußischen Justiz vom Verhältnis von Privatheit und staatlicher Kontrolle. Schon der Gang der Gesetzesrevision bis zum StGB von 1851 deutet einen Wandel des Zeitgeistes im Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts an. Die klaren dogmatischen Strukturen, die die ersten Entwürfe (bis ca. E 1836) kennzeichnen, werden immer stärker zugunsten politischer Überzeugungen und konservativ-ständisch Denkens aufgeweicht. Diese Tendenz setzt sich nach Inkrafttreten des StGB im Justizwesen fort. Die Rechtsprechung des Obertribunals ist häufig davon gekennzeichnet, dass die weitest mögliche Deutung von Rechtsbegriffen und Tatbestandsmerkmalen, auch über das Maß des mit dem Wortlaut Vereinbaren hinaus, gewählt wird. Tatbestände werden vielfach diametral entgegen den zu Anfang des Jahrhunderts herrschenden Überzeugungen der mit der Gesetzgebung befassten Personen ausgelegt. Wie am Beispiel der Inzest- und Unzuchtsdelikte gezeigt, geschah dies häufig auf das Betreiben einflussreicher Minister, Staatsanwälte und auf der politischen Bühne aktiver Juristen. Im Zusammenhang mit der Auswertung des Revisionsprozesses und der Urteile des Obertribunals ist festzustellen, dass eine erhebliche Anzahl derjenigen Juristen, die gegen eine Verschärfung des Sittlichkeitsstrafrechts opponierten – auf legislativer wie judikativer Ebene – nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 ihrer Posten enthoben, versetzt oder ganz aus dem Staatsdienst entfernt wurden. Es ist deutlich zu erkennen, dass die christlich-konservativen Eliten mit Übernahme entscheidender Machtpositionen im Bereich der Justizverwaltung nach 1848 ihren Wertvorstellungen zunehmend Geltung verschafften. Die Korrespondenz innerhalb der Staatsanwaltschaft und zwischen StA und dem Ministerium Simons, 420 Entscheidung des Obertribunals vom 03. 10. 1860, teilw. abgedr. in APS, Bd. 8 (1860), S. 833. 421 Ebd.
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vor allem die nachdrücklichen Interventionsversuche von Gerlachs, geben beredtes Zeugnis von der nach 1848 einsetzenden Re-Emotionalisierung im Sittlichkeitsstrafrecht. Was durch Korrekturbemühungen während des Gesetzgebungsprozesses nicht (mehr) gelang, sollte durch extensive Rechtsanwendung nachgeholt werden. Wie die obigen Darstellungen zeigen, ist dies bis zur Entstehung des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund in Teilen auch gelungen, so dass das preußische Sittlichkeitsstrafrecht infolge einer kontinuierlichen Erosion der in der ersten Jahrhunderthälfte angelegten liberalen Strafrechtsdogmatik sich bald wieder dem Stand von 1794 angenähert hatte422. Dieser Prozess ist allerdings keineswegs stringent verlaufen, sondern spiegelt vielmehr die Ambivalenz der strafrechtlichen Reformzeit während des gesamten 19. Jahrhunderts wider. Die Geschichte des Sittlichkeitsstrafrechts in Preußen ist nicht losgelöst von der politischen Situation zu betrachten. Vor allem sind die Entwicklungen hier eng verwoben mit der Rolle der Rheinprovinzen: Nach der Eroberung der Rheinlande durch die französischen Truppen war das linke Rheinufer faktisch seit 1795 und völker- und staatsrechtlich seit 1801 (Friedensvertrag von Lun¦ville) mit Frankreich vereinigt. Von 1802 ab war das Territorium westlich des Rheins der allgemeinen französischen Gesetzgebung unterstellt423. Nach der endgültigen Niederlage Napoleons fielen die Gebiete am 15. 04. 1815 an Preußen. Wurde auf der rechten Rheinseite das ALR wieder eingeführt, galt in den linksrheinischen Gebieten das französische Recht zunächst weiter fort. Von da an begann der »Kampf um das rheinische Recht«, der vor allem für den Bereich des Strafprozessrechts hinreichend erforscht ist424, der aber auch auf materieller Ebene im Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts leidenschaftlich geführt wurde und erheblichen Einfluss auf das entstehende Pr.StGB und die gerichtliche Praxis nach seinem Inkrafttreten hatte. Auffällig ist bereits die Orientierung Bodes bei der Ausarbeitung der ersten Entwürfe 1828 und 1830 an der liberalen, am Rechtsgüterschutz orientierten Konzeption des Code P¦nal425. Bode steht jedoch gegen den von 1832 – 1842 amtierenden Justizminister Kamptz, der als ein »Hasser aller rheinisch-liberalen Dinge«426, jedenfalls 422 Zu einem ähnlichen Ergebnis in Bezug auf die Strafbarkeit der Homosexualität kommt auch Lautmann, der nach Auswertung der zum Unzuchtsbereich von Wilhelm IV. geäußerten Änderungsvorschläge konstatiert: »Die Marschrichtung lautet: zurück zum ALR«. Lautmann in Kritische Justiz 1992, S. 404. 423 Becker, Das Rheinische Recht und seine Bedeutung für die Rechtsentwicklung in Deutschland, in: JuS 1985, S. 338. 424 Vgl. zum ganzen Schubert, Französisches Recht in Deutschland. 425 Dass hier nicht lediglich eine inhaltliche Nähe besteht, die auf eine Vorbildfunktion des Code P¦nal hinweist, sondern tatsächlich eine konkrete Orientierung Bodes am französischen Recht stattfand, weist Lautmann anhand der handschriftlichen Notizen des Revisors nach. Vgl. hierzu Lautmann, in: KJ 1992, S. 295 (297). 426 Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung, in: Joseph Hansen
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als ein »entschiedener Gegner des Rheinischen Rechts«427 galt. Als die engagiertesten Verfechter des rheinischen Strafrechts sind insbesondere, von Mylius, Peter und August Reichensperger, von Ammon und Ruppenthal zu nennen428. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten traten diese für eine Übernahme der liberalen Rheinischen Rechtsinstitute ein, wobei letzterer bis zum Schluss versucht hatte, ein eigenes Strafgesetzbuch für die Rheinprovinzen zu erstreiten429. Die zwischenzeitlichen Erfolge werden jedoch stets wieder durch den Einsatz Kamptz‹ und durch die Übermacht der altpreußischen Stände zunichte gemacht430. Die Situation ändert sich zwar ab 1842 mit der Übernahme des Justizministeriums durch Savigny und des damit einhergehenden Paradigmenwechsels, das rheinische Strafrecht nicht komplett abzuschaffen, sondern, um die Zustimmung der Rheinprovinzen zu dem lang herbeigesehnten einheitlichen Strafgesetzbuch zu erreichen, Elemente daraus in das neue StGB zu implementieren431. Die Vorschriften zu den Sittlichkeitsdelikten standen hierbei zwar keinesfalls im Zentrum des Streits, hier ging es in erster Linie um die liberalen Prozessvorschriften, jedoch wurde auch auf diesem Feld die liberale französische Konzeption gegen den preußischen Entwurf verteidigt432. Landsberg führt mit Blick auf den E 1843 aus, dass »…die Strafbarkeit solcher Sexualexzesse, die man längst nur noch als moralische Verfehlungen anzusehen gewohnt war, den Rheinländern fremdartig« erschienen sei433. Ein ums andere Mal werden die Vorschläge der Rheinischen Stände im Ständischen Ausschuss abgelehnt oder zumindest aufgeweicht. Mehr als eine Reduzierung der Strafrahmen ließ sich nicht erreichen434. Nach 1848 wurden die lautesten und einflussreichsten Stimmen der rhei-
427 428 429 430 431 432 433 434
(Hrsg.), Die Rheinprovinz, S. 149 – 195. Ein Schlaglicht auf die Rolle Kamptz‹ wirft auch die Tatsache, dass er sich als besonders eifriger Verfechter der Demagogenverfolgung hervortat, was ihm die Verachtung einiger namhafter Zeitgenossen sowie verschiedene Schmähnamen wie »Liberalen-Fresser« oder »Polizeischleicher« (Landsberg) einbrachte. Der damalige Kammergerichtsrat E.T.A. Hoffmann parodierte von Kamptz in der Erzählung »Meister Floh« als Geheimen Rat »Knarrpanti« und legte ihm den Ausspruch in den Mund, dass, wenn ein Täter ermittelt sei, sich »das begangene Verbrechen von selbst« finde. Becker, in: JuS 1985, S. 338 (341). Allesamt entweder Vertreter im ständischen Ausschuss oder ab 1846 Mitglieder der während der Gesetzesrevision eingesetzten Gremien und Kommissionen, vgl. hierzu Landsberg, S. 174 – 184 sowie Banke, Der erste Entwurf eines Deutschen Einheitsstrafrechts, S. 30. Zuletzt in einer Denkschrift vom 18. 03. 1847, abgedr. In Schubert/Regge, Bd. 6, Teil 2, S. 509 – 540. Landsberg, S. 177. Becker, in: JuS 1985, S. 338 (341). Zum Katalog der zentralen Forderungen vgl. Faber, Recht und Verfassung. Die politische Funktion des rheinischen Rechts im 19. Jhdt., S. 31. Landsberg, S. 177. Ein Beispiel für das Kräfteverhältnis im Vereinigten Ständischen Ausschuss gibt Lautmann, in: Kritische Justiz 1992, S. 295 (305).
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nisch-liberaleren Strömung durch Versetzungen in andere Bereiche deutlich in ihrer Wirkungskraft beschränkt. Die politische Zurückdrängung des Liberalen nach 1848 führte zwar auch auf der Ebene des strafrechtlichen Reformprozesses zu einem Zurückgehen des Einflusses liberaler Stimmen. Auf der anderen Seite war die intellektuelle Elite Preußens auf diesem Gebiet einer Diskussion durchaus zugänglich, wie die Motive zum StGB für den Norddeutschen Bund zeigen werden. Das Sittlichkeitsstrafrecht des Preußischen Strafgesetzbuches ist im Schatten der politischen Konflikte zwischen Altpreußen und den Rheinprovinzen entstanden. Die in den Beratungen vorgebrachten Argumente dienten daher nicht ausschließlich der sachlichen Auseinandersetzung, sondern sind gewiss auch als Ausläufer des politischen Kampfes zu betrachten. Das jedoch in der Summe der Beiträge auch erkennbar gewandelte Verständnis hinsichtlich der Legitimation von Strafvorschriften im Bereich der Sittlichkeitsdelikte verdeutlicht ein Beitrag aus der »Denkschrift über die zur ständischen Berathung gestellten Fragen des Strafrechts«. Die die Mehrheit in der ständischen Beratung stellenden katholisch-konservativen Vertreter der östlichen Provinzen zeigen eine zunehmende Abwendung von komplexer Dogmatik hin zu einer Maßgeblichkeit der Weltanschauung, die als ausreichende Grundlage zur Begründung einer Strafnorm herangezogen wird. Mit einer Argumentation, die derjenigen des BVerfG in der im Vorwort zu dieser Arbeit zitierten Entscheidung verblüffend ähnelt, wird hier das beim Ehebruch für die Frau erhöhte Strafmaß gerechtfertigt: »Der von der Ehefrau begangene Ehebruch setzt eine weit größere Unsittlichkeit als der Ehebruch des Ehemannes voraus; er wird in der allgemeinen Meinung für strafwürdiger gehalten und ist für das Glück und den Frieden in der Familie ungleich störender«435. Lautmann resümiert das letztendliche Scheitern der liberalen Bewegung in Preußen Mitte des 19. Jahrhunderts daher kurz und prägnant: »Der Zeitgeist steht gegen sie«436.
3.
Sächsisches StGB, 1855
Das sächsische StGB von 1855 regelt die Sittlichkeitsverbrechen im 17. Kapitel in den Artikeln 349 – 360. Hier wird in den Art. 349 – 351 umfassend der Beischlaf zwischen Verwandten unter Strafe gestellt: Art. 349 verbietet den Beischlaf von Eltern mit ihren Abkömmlinge bei Strafandrohung von Arbeitshaus oder Zuchthaus bis zu vier Jahren für die Eltern und bis zu acht Monaten Gefäng435 Denkschrift über die zur ständischen Berathung gestellten Fragen des Strafrechts, Antwort auf Frage 32, S. 31. 436 Lautmann, in: KJ 1992, S. 295 (305).
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nisstrafe für die Abkömmlinge437. In Art. 350 wird die Strafbarkeit auch auf sämtliche Schwiegerverhältnisse ausgedehnt. Darüber hinaus regelt die Norm auch die Strafbarkeit des Beischlafs in der Seitenlinie. Hier sind sowohl Voll- als auch Halbgeschwister erfasst. Es gilt ein Strafmaß von einem Monat bis zu einem Jahr für alle Konstellationen438. In Art. 351 schließlich findet sich auch eine Strafandrohung für den Beischlaf in Stiefverhältnissen, welche allerdings auf Stiefeltern- und kinder begrenzt ist439. Siebdrat erläutert in seinem Kommentar den Hintergrund dieser umfassenden Strafvorschriften: »Die Bedrohung der Blutschande mit harten Strafen darf nicht von dem Gesichtspuncte einer Rechtsverletzung aufgefasst werden, sondern hat ihren Grund in einer rückhaltlosen nahen Umgang erleichternden Verletzung natürlicher Gefühle und sittlicher Ansichten, deren Aufrechterhaltung und Schutz der Staat zur Verhinderung von Ausschweifungen bedarf«440.
Hinsichtlich der Strafbarkeit des Inzests in Schwiegerverhältnissen stellt er klar, dass »[…] das schwägerschaftliche Verhältnis [fortbesteht], sollte auch die Ehe, welche jenes begründet haben sollte, durch Tod oder Scheidung wieder aufgelöst sein«441. Gleichzeitig seien nur wirksame Eheschließungen geeignet, ein solches Schwägerschaftsverhältnis herbeizuführen442. Beim Beischlaf zwischen Blutsverwandten sei die Kenntnis von ihrer Blutsverwandtschaft erforderlich443. Bemerkenswert ist die Strafvorschrift des Art. 358. Hier steht unter der Überschrift »Sodomie« nicht nur der homosexuelle Verkehr unter derselben Strafandrohung wie die Unzucht mit Tieren, sondern es wird auch eine Strafbarkeit desjenigen bestimmt, der einen anderen zur Selbstbefriedigung oder anderen unzüchtigen
437 Art. 349 Sächs. StGB: Wenn Eltern mit ihren leiblichen Abkömmlingen den Beischlaf ausüben, so haben die Eltern Arbeitshaus- oder Zuchthausstrafe von einem bis zu vier Jahren, die Abkömmlinge Gefängnisstrafe bis zu acht Monaten verwirkt. 438 Art. 350 Sächs. StGB: »Eltern, welche mit Ehegatten ihrer leiblichen Abkömmlinge den Beischlaf ausüben, sowie diese Ehegatten selbst, ingleichen voll- und halbbürtige Geschwister, welche miteinander den Beischlaf ausüben, werden mit Gefängniß von einem Monate bis zu einem Jahre bestraft.« 439 »Wenn Stiefeltern mit ihren Stiefkindern oder deren Abkömmlingen den Beischlaf ausüben, so sind die Stiefeltern, dafern nicht die Bestimmungen des nachfolgenden Artikels auf sie anzuwenden sind, mit Gefängniß von einem Monate bis zu einem Jahre, die Stiefkinder und die Abkömmlinge derselben mit Gefängniß bis zu sechs Monaten zu bestrafen.« 440 Siebdrat, Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen vom 11. August 1855 mit den damit in Verbindung stehenden Gesetzen bis zum Schlusse des Jahres 1861 und einem durchlaufenden Kommentare zum Handgebrauche beim gerichtlichen Verfahren, sowie für Universitätsstudien, S. 308. 441 Siebdrat, S. 308. 442 Ebd. 443 Ebd.
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Handlungen anstiftet oder diesen Handlungen Vorschub leistet444. Siebdrat führt hierzu aus: »Das Gesetz schließt in seiner jetzigen Fassung diejenigen unzüchtigen Handlungen aus, welche jemand an dem eigenen Körper vornimmt. Doch sind, sobald einer einem Anderen hierzu A n l e i t u n g giebt, die Ausführungen im Schlußsatze zu beachten«445.
4.
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kulminationspunkt der Entwicklung
Die Unterschiede im Bereich der Pönalisierung von Sexualverhalten zwischen dem Code P¦nal und dem Preußischen StGB treten deutlich zu Tage und stellen bis heute eines der Unterscheidungsmerkmale zwischen dem deutschen und französischen Strafrecht dar. Worin aber liegen die Ursachen dieser Divergenz? Ein gewichtiger Faktor für die unterschiedliche Ausgestaltung der Gesetzbücher in Bezug auf das Sittenstrafrecht ist gewiss in den unterschiedlichen politischen Ausgangslagen zu sehen. Während der Code P¦nal im Zuge der Französische Revolution entstanden ist, war das ALR ein Produkt – wenn auch aufgeklärter – absolutistischer Herrschaft. Für Frankreich ist die Geschichte eine entsprechend kurze: Seit dem Code P¦nal von 1791 existieren dort keine Delikte mehr, die ein bestimmtes, gewaltfreies und willentlich unter Erwachsenen praktiziertes Sexualverhalten bestrafen. Eine Änderung dieser Gesetzeslage hat es während des 19. Jahrhunderts nicht gegeben. Dies wird mit einem im Gegensatz zu Deutschland unterschiedlichen »Moralmodell« in Frankreich begründet. Aufgrund einer in Frankreich fest verwurzelten Idee der »Libert¦ de conscience« habe es »allen ethisch begründeten Vorbehalten oder Sanktionen gegen die freie Entfaltung etwa von Sexualität hier an Durchsetzungskraft [gefehlt]«446. Zeitgenössische Kommentare zur Einflechtung des rheinischen Strafrechts während des Revisionsprozesses geben einen lebhaften Eindruck vom Zeitgeist, unter dem das Preußische StGB entstanden ist. So seien die Grundlagen des deutschen 444 Art. 358 Sächs. StGB: Wer sich der widernatürlichen Unzucht mit einem Menschen oder Tiere schuldig macht, oder sich zu derselben von anderen gebrauchen lässt, wird mit Gefängniß oder Arbeitshaus bis zu einem Jahre bestraft. Ist jedoch die widernatürliche Unzucht in den Art. 349 bis 354 erwähnten Verhältnissen verübt worden, so treten, und zwar auch wenn das Verbrechen von oder an Mannspersonen verübt worden, die in diesen Artikeln angedrohten Strafen, soweit sie höher sind, ein. Nicht minder leiden die Strafvorschriften der Art. 355 bis 356 auf diejenigen Anwendung, welchen anderen, seien es Manns- oder Frauenspersonen, zur widernatürlichen Befriedigung oder Aufreizung des Geschlechtstriebes Anleitung geben oder ihnen dabei Vorschub leisten. 445 Siebdrat, S. 308, 309. 446 Taeger/Schetsche, Moralmodelle des 19. Jahrhunderts und ihr Einfluss auf das französische und deutsche Strafrecht, S. 289.
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und französischen Kriminalrechts sich »diametral entgegengesetzt«447 und es den Deutschen schlechterdings unzumutbar, »ein Muster für unsere Rechtszustände von dem erklärten Feinde zu besorgen«, einer »Religion und Sitte geringschätzenden« Nation448. Während der langwierigen Gesetzesrevision in Preußen bis zum Inkrafttreten des Pr.StGB 1851 konnte sich aus den oben dargestellten Gründen die liberale, vom Geist des französischen Rechts genährte Strömung im Anhang der politischen Machtkämpfe nicht durchsetzen. Hier, in den unterschiedlichen Verläufen der politischen Kämpfe, ist auch der unterschiedliche Verlauf der französischen und der deutschen Entwicklung im Sittlichkeitsstrafrecht angelegt. Die von konservativer Seite ausgehenden Bestrebungen nach einer Reichsvereinigung und Rechtsvereinheitlichung wurden insofern auch instrumentalisiert zu einem politischen Angriff auf den Liberalismus449. Die Tatsache, dass im Bereich der Sittlichkeitsdelikte die Rechtsordnungen sich so verschieden entwickelt haben und wesentliche Unterschiede bis heute bestehen, hat daher letztendlich keine im Kern rechtlichen Ursachen, sondern vielmehr politische Gründe. Mag auch die Feindschaft zu Frankreich nicht die entscheidende Ursache für die so unterschiedliche Entwicklung auf dem Gebiet des Sittlichkeitsstrafrechts sein, so muss man dennoch davon ausgehen, dass die strengen deutschen Regeln nicht zustande kamen, obwohl das französische Recht sich gegenläufig entwickelte, sondern gerade weil dies so war. Dieser antagonistische Effekt hat die Entwicklung insofern gewiss forciert. In der Sozialwissenschaft findet sich eine Reihe von Untersuchungen über staatlichen Umgang mit deviantem Sexualverhalten auch für das 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Verhältnisse in Frankreich und Preußen450. Die dabei aus anderer Perspektive sich ergebenden Deutungsansätze sollen hier insoweit Berücksichtigung finden, als eine Beschränkung auf die Wucht der französischen Aufklärung zu kurz griffe. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind die gesellschaftlichen Auswirkungen des Sittlichkeitsstrafrechts in Preußen (im Hinblick auf einige ausgewählte Delikte, aber auch »insgesamt«) seit den späten 80er Jahren bis heute Gegenstand von Untersuchungen gewesen. Die Untersuchungen widmen sich der Materie im Wesentlichen aus zwei Richtungen: Zum einen hat eine intensive Forschung zum Verhältnis von Frauen und Sittlichkeits (straf)recht stattgefunden. Die Arbeiten aus einem Kreis um Brigitte Kerchner, 447 448 449 450
Jagemann, Offene Gedanken, S. 8. Ebd., S. 68. Kesper-Biermann, Einheit und Recht, S. 253. Maßgeblich hier die Untersuchung von Isabel V. Hull, Sexuality, state and civil society in Germany, 1700 – 1815 (Ithaca 1996), sowie aus neuester Zeit die die französische Entwicklung ins Auge fassende Analyse von Angela Taeger, Intime Machtverhältnisse – Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien R¦gime.
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Hauptteil
Angela Taeger und Michael Schetsche zu diesem Thema werden durch eine Anzahl weiterer Veröffentlichungen zu der Materie unterlegt451. Die Veröffentlichungen befassen sich allerdings weniger mit rechtsgeschichtlich fundierten Analysen, sondern sind – sofern sie nicht lediglich den Diskurs selbst zum Gegenstand haben – vielmehr deutlich gekennzeichnet von einem feministischpolitischen Ausgangspunkt. Der vorherrschende Tenor der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen liegt darin, dass das Sittenstrafrecht als ein Instrument des Machterhalts und zur Manifestation einer Klassengesellschaft mittels einer gewaltsamen »Kanalisierung von Triebhaftigkeit« gesehen wird, wobei die »Initiatoren dieser Repression« die jeweiligen einflussreichen Autoritäten seien452. Taeger sieht die Straflosigkeit unsittlichen Verhaltens, insbesondere der Homosexualität, im Code P¦nal dann auch als Folge des Wegfalls eben jener Autoritäten: »Nicht die öffentliche Kritik – sondern verunsicherte absolute Monarchen, nicht das revolutionäre Freiheitsversprechen – sondern die politische Klugheit sich etablierender Polizeichefs wirken in Frankreich auf eine Erweiterung individueller Gestaltungsmöglichkeiten von Intimität hin«453. Ein vertiefender Blick in die Sozialstrukturen des Ancien R¦gime, wie ihn Taeger durchführt454, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden; sofern im Vergleich mit dem Preußen des 19. Jahrhunderts jedoch die These aufgestellt wird, dass die Unterschiede »aus der unterschiedlichen politischen Verfasstheit Deutschlands und Frankreichs« resultierten455, entspricht dies auch dem Ergebnis der hier durchgeführten Untersuchung. Zustimmung verdient ferner die Annahme, dass in der schleichenden Erweiterung der Tatbestände der Sittlichkeitsdelikte in Preußen ein »Konterkarieren« der Absicht des Gesetzgebers liege, nichtehelichen geschlechtlichen 451 Hier zu nennen: Brigitte Kerchner, Wohnungsnot und Blutschande, IWK 4/2002, S. 421 – 454; Rückzug als Verweigerung. Historische Perspektiven auf Sexualität und Staat, in: Staat und Privatheit. Aktuelle Studien zu einem schwierigen Verhältnis, S. 157 – 188; Angela Taeger / Michael Schetsche, Moralmodelle des 19. Jahrhunderts und ihr Einfluß auf das französische und deutsche Strafrecht in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1993, S. 281ff; Taeger, Intime Machtverhältnisse – Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien R¦gime; Jarzebowski, Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert; Tanja Hommen, Sittlichkeitsverbrechen. Sexuelle Gewalt im Kaiserreich. 452 Taeger, Intime Machtverhältnisse, S. 3, 4 mwN. So auf S. 3: »Die Triebregulierung fügt sich nicht zuletzt in den Kanon die frühkapitalistische Produktionsweise flankierender Maßnahmen, wie die Konsolidierung angemessener Familienstrukturen, aber auch die Beförderung des Arbeitskräfteangebots in qualitativer wie quantitativer Hinsicht«. 453 Taeger, Intime Machtverhältnisse, S. 151. 454 Hervorzuheben ist an dieser Stelle der Untertitel der im Zusammenhang genannten Arbeit Taegers: »Intime Machtverhältnisse – Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden AncienR¦gime«. 455 Taeger/Schetsche, Moralmodelle des 19. Jahrhunderts und ihr Einfluss auf das französische und deutsche Strafrecht, S. 292.
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Verkehr nicht grundsätzlich mit Strafe zu bedrohen.456. Dass hierin die »Installation einer Einheits-Sittlichkeit« durch die Obergerichte zur Ermöglichung der Bestrafung kleinster Verfehlungen zu erblicken sei457, erscheint allerdings vor dem Hintergrund, dass seitens der Politik erheblicher Einfluss auf Staatsanwaltschaft und Gericht genommen wurde und das Obertribunal wie oben gezeigt auch nicht »blind« jeder Anklage folgte, fraglich. Der in weiteren soziologischen Arbeiten erkennbar werdende Eindruck einer systematischen Unterdrückung weiter Teile der unteren Volksklassen durch gezielte Zuschreibung von Sittenlosigkeit und »klassenspezifische Bestrafung« durch den Straftatbestand der Blutschande458 wirkt vor den geschilderten Hintergründen konstruiert. Die Annahme, dass in der preußischen Gesetzesrevision ab 1843 der Versuch unternommen worden sei, »die Strafnorm systematisch an die Herkunft des Täters zu binden«459, wodurch die Verhängung körperbezogener Strafen möglichst auf Angehörige der Unterschicht habe beschränkt werden sollen, und von einer Bestrafung nach Schichten erst 1848 wieder abgesehen wurde460, ist nicht überzeugend. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass sich die preußischen Standesvertreter bei ihren Beratungen von den unteren Volksklassen abgrenzen und sich die politischen Gegebenheiten der Reaktionszeit nach 1848 sich auch im Strafrecht ausdrücken, jedoch vermag die Ansicht, dass das Sittlichkeitsstrafrecht als Repressionsinstrument der herrschenden Klassen461 gegen die Beherrschten eingesetzt wurde und die Blutschande bei den Beratungen zum Sittlichkeitsstrafrecht als »einigendes Prinzip« über politische Gräben hinweg wirkte462, nicht zu überzeugen. Gegensätzlich zu den zahlreichen Protokollen der Beratungen stellt Kerchner hierzu fest: »Waren die Rheinländer und Preußen zunächst von scheinbar unversöhnlichen Rechtspositionen ausgegangen, so hatten sie nun über die Exklusion der »Blutschänder« als rohen, schlecht erzogenen und in elenden Verhältnissen lebenden Außenseitern zueinander gefunden. In der Abgrenzung zu den »unteren Schichten« wurden 456 457 458 459 460
Taeger/Schetsche, Moralmodelle, S. 287. Ebd. Kerchner, Wohnungsnot und Blutschande, S. 427. Ebd., S. 426. Ebd., S. 427 mit Verweis auf Spekulationen Blasius‹; Blasius befasst sich hier mit einem faktischen Unterschied auf Strafvollzugsebene, den er anhand einer empirisch festgestellten Ungleichbehandlung von Verurteilten bei Verhängung der sog. Festungsstrafe in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Standeszugehörigkeit am Beispiel des Holzdiebstahls nachweist. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass insofern auf ein in der damaligen Strafpraxis auf Vollzugsebene verbreitetes Phänomen Rekurs genommen wird, erscheint eine Herauslösung und Übertragung auf die materielle Ebene der Sittlichkeitsgesetzgebung problematisch. 461 So der Tenor bei Taeger/Schetsche, Moralmodelle, S. 287; Kerchner, Wohnungsnot und Blutschande, S. 427, 430. 462 Kerchner, Wohnungsnot und Blutschande, S. 430.
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selbst die Differenzen zwischen dem alten aristokratischen Führungsanspruch und dem neuen bürgerlichen Selbstverständnis nivelliert, der die Debatten an anderen Punkten immer wieder auseinander zu sprengen drohte»463.
Die einhellige Qualifizierung der Blutschande als »abscheuliches Verbrechen« und die von beiden Seiten gleichsam betonte Distanzierung von solchen Taten und Tätern können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass bis zuletzt die politischen Lager über die Strafbarkeit an sich und über die Schärfe der Sanktion stritten. Auch der im Vereinigten Ausschuss intensiv geführte Streit über den richterlichen Ermessensspielraum bei der Strafzumessung und die in diesem Zusammenhang geäußerte Besorgnis über unangemessene Bestrafung durch emotional befangene Richter und mangelnde Begriffsschärfe464 zeigt, dass das Entstehen eines »Willkürdelikts« gerade hat vermieden werden sollen. Die in einigen sozialwissenschaftlichen Arbeiten insofern vertretene Darstellung von Sittlichkeitsstrafrecht als einem Instrument der »herrschenden Klasse« zum Machterhalt durch Stigmatisierung und Gängelung der Unterschicht465 vermag insoweit nur rechtshistorisch begrenzt belastbare Erkenntnisse zu liefern. Teilweise entsteht der Eindruck, dass die Forschungsergebnisse nicht ohne Einfluss auf die Interpretation des Quellenmaterials selbst geblieben sind. Zum anderen wurde auch nach Abschaffung des § 175 eine Reihe von Studien zur Entwicklung der strafrechtlichen Beurteilung von Homosexualität durchgeführt. Diese vor allem von Lautmann in den 80er Jahren in Gang gesetzte Bewegung liefert einige exzellente Darstellungen der rechtshistorischen Entwicklung dieses Delikts während des 19. Jahrhunderts466. Mit Bezug auf die Homosexuellenstrafe, die zwischenzeitlich in den Entwürfen – ebenso wie im »Revolutionsentwurf 1848« – nicht mehr vorkam, zeigen Lautmann und Hutter anhand des Ganges der Revision sowie der staatsanwaltschaftlichen Korrespondenz nach 1851, wie sich in den Jahren nach 1848 gegenüber Homosexuellen in Preußen ein zunehmender Repressionsdruck entwickelt hat467. Anders als die feministische Forschung zu dem Thema hält Lautmann eher den »Kul463 Ebd. 464 S.o. 465 Kerchner geht gar von einer gezielten sozialpolitischen Kampagne aus: »Unmittelbar vor Ausbruch der Revolution von 1848 in Deutschland hatten damit hochrangige Politiker die Blutschande in eine schillernde Konstruktion verwandelt, auf die in den sozialpolitischen Kämpfen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großem Effekt zurückgegriffen werden konnte«. Kerchner, Wohnungsnot und Blutschande, S. 432. 466 So vor allem Lautmann, Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht – seine Grundlegung in der preußischen Gesetzrevision des 19. Jahrhunderts, in: KJ 1993, S. 295 – 314; Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle homosexuellen Begehrens – Medizinische Definition und juristische Sanktion im 19. Jahrhundert. 467 Hutter, Die gesellschaftliche Kontrolle homosexuellen Begehrens – Medizinische Definition und juristische Sanktion im 19. Jahrhundert.
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turkonflikt«468, also die Durchdringung der entscheidenden Machtpositionen in Justiz und Politik mit entsprechenden weltanschaulichen Vorstellungen, für diese Entwicklung für ursächlich469 als ein planvolles Unterdrückungsregime. Die Bedeutung der Blutschande ist vor dem Hintergrund der gesamtpolitischen Lage gering, sie ist ebenso, wie es Lautmann für die Homosexuellenstrafe konstatiert, »die Abhängige in den Veränderungen der großen Politik, auf die sie seismographisch reagiert«470. Für das 19. Jahrhundert lassen sich für Preußen die von Lautmann für das Delikt der widernatürlichen Unzucht herausgestellten politischen und gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen, vor denen sich die gewaltlosen Sittlichkeitsdelikte entwickelten, auf die Inzeststrafbarkeit übertragen: »Als nur von der Logik getragene Konsequenz eines Dogmas […] war die Entkriminalisierung ein Kunstprodukt. Ohne ein Minimum an sozialer Grundlage war sie nicht lebensfähig. Diese Grundlage konnte in einer liberalen Politiktendenz bestehen (wie in den nach Frankreich blickenden ehemaligen Rheinbundstaaten) […]«471.
In der Reaktionszeit zeigt sich in Preußen dieser Zusammenhang zwischen politischem Klima und Sittlichkeitsstrafrecht am deutlichsten, wenn man den Entwurf des Einheitsstrafrechts als Inbegriff einer liberalen Politiktendenz von 1848 und das reaktionäre StGB von 1851 einander gegenüber stellt. Neben einem Maß an sozialer Akzeptanz der geringen Straflosigkeit eines Sittlichkeitsdelikts zeigt die Entwicklung im 19. Jahrhundert aber auch, dass der affirmative Glaube des Gesetzgebers an das Bestehen einer solchen sozialen Akzeptanz beeinflusst wird von der politischen Gesamtsituation. Je angespannter die politische Lage, und je größer das hieraus resultierende Bedürfnis nach Stabilität und Ordnung ist, desto niedriger sinkt die staatliche Toleranzschwelle bezüglich sexuell devianten Verhaltens.
5.
Verschiedene Territorialstrafgesetze
Neben den großen Kodifikationen Bayerns, Preußens und Sachsens, die Mitte des 19. Jahrhunderts in »Deutschland« das Bild der Strafgesetzgebung prägten und an denen sich viele der kleineren Territorien orientierten, bestand eine Anzahl selbstständiger Strafgesetzbücher in verschiedenen Territorien. Der Vollständigkeit halber sollen die bedeutendsten von ihnen im Folgenden Er468 469 470 471
Lautmann, Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht, in: KJ, S. 295. Ebd., S. 305. Lautmann, S. 313. Ebd., S. 310.
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wähnung finden und vor dem Hintergrund ihrer Entstehung auf ihr Verhältnis zu den Untertanen und Bürgern am Beispiel der Sittlichkeitsdelikte untersucht werden. a)
Großherzogtum Hessen
Am 1. April 1842 trat nach mehr als 20-jährigen Beratungen472 das Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Hessen in Kraft. Die im Bayrischen StGB von 1813, im Code P¦nal und auch im PrALR noch klar zu erkennenden naturrechtlichen Einflüsse finden kaum Niederschlag im Hessischen StGB von 1842. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Sittlichkeitsdelikte umfassend bestraft werden473. Als Strafgrund für die Blutschande werden in den zeitgenössischen Materialien die »Sauberkeit und der Frieden der Familie« sowie die »Sorge für die körperliche und geistige Kraft der heranwachsenden Generation« genannt474. b)
Königreich Hannover
Im Criminalgesetzbuch für das Königreich Hannover vom 08. August 1840 wurde unter dem Abschnitt über Unzuchtsverbrechen in Art. 274 der Inzest in allen leiblichen Verwandtschaftsbeziehungen sowie in Schwieger- und Stiefverhältnissen bestraft475. Auffällig ist, dass als Tathandlung hier neben dem Beischlaf auch das »sonst zur Unzucht missbrauchen« genannt ist476. Im Vorentwurf, der sich noch eng am gemeinen Recht orientierte, wurde zunächst nur Unzucht zwischen leiblichen Verwandten sowie zwischen Stiefeltern und -kindern erfasst, die Strafbarkeit im revidierten Entwurf jedoch auch auf Schwiegerverhältnisse erweitert477. Die »Widernatürliche Wollust war nur bei Erregung eines öffentlichen Ärgernisses strafbar478.
472 Zur Entstehung des Strafgesetzbuchs für das Großherzogtum Hessen vgl. Christ, Entstehung und Grundgedanken des Strafgesetzbuches für das Großherzogtum Hessen vom 01. April 1842, S. 49 ff. 473 Christ, S. 215. 474 Ebd., S. 216. 475 Criminalgesetzbuch für das Königreich Hannover von 1840, Art. 274. In gerader Linie findet hier eine Beschränkung auf Eltern und Großeltern statt. 476 Criminalgesetzbuch, Art. 274 I. 477 Leonhardt, Commentar über das Criminal-Gesetzbuch für das Königreich Hannover, Bd. II, S. 295 f. 478 Criminalgesetzbuch, Art. 275.
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c)
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Königreich Württemberg
Das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg vom 01. März 1839 bestraft die Blutschande unter dem Abschnitt über »Angriffe auf die Sittlichkeit« in den gleichen Konstellationen wie das Hannoversche Criminalgesetz, wobei sich jedoch die Strafrahmen deutlich unterscheiden479. d)
Weitere
In den verschiedenen Territorien auf deutschem Boden war die Blutschande mit Ausnahme der Rheingegend überall strafbar. Die hier auf Strafzumessungsebene zutage tretenden Unterschiede ergeben sich lediglich aus der lokalen Rechtsübung. Sie sind für das Ziel dieser Untersuchung nicht von maßgeblicher Bedeutung, so dass hier auf eine nähere Darstellung verzichtet wird. Eine gute Übersicht über die Strafbarkeit der Blutschande in den verschiedenen Territorien auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches bietet Wittmann in seiner Dissertation, worauf an dieser Stelle diesbezüglich verwiesen wird480.
6.
Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund / Reichsstrafgesetzbuch
Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. 05. 1870 stellt den Anfang eines einheitlichen Strafgesetzbuchs für ganz Deutschland dar. Es steht damit am Ende der intensiven Diskussion seit 1794 und am Anfang einer neuen Epoche im Strafrecht. Im dreizehnten Abschnitt werden die »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit« geregelt. Die §§ 171 und 172 strafen Doppelehe und Ehebruch, §§ 173, 174 die Blutschande und ihre Qualifikation durch den Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses, §§ 175, 176 die Widernatürliche Unzucht und ihre Qualifikationen, § 181 die Kuppelei, § 182 die Verführung Minderjähriger (Mädchen), § 183 das Erregen eines öffentlichen Ärgernisses und § 184 die Pornographie. Die übrigen Normen decken die »klassischen« Sexualdelikte unter Gewaltanwendung ab. Der Strafrahmen der Blutschande wurde im Vergleich zum Pr.StGB abgemildert: »Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie wird an den ersten mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren, an den letzteren mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft. Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie, sowie zwischen Geschwistern wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Ver479 Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, Art. 313 – 303. 480 Wittmann, Blutschande, S. 89 – 93.
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wandte und verschwägerte absteigender Linie bleiben straflos, wenn sie das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet haben.«481
In den Motiven zum StGB für den Norddeutschen Bund finden sich Ausführungen, die den Stand der Gesetzgebung und die Ausgangslage, vor der das neue Gesetzbuch geschaffen wurde, unter kurzer Analyse der auftretenden Schwierigkeiten zusammenfasst: »Dem von den Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit handelnden zwölften Titel des Preußischen Strafgesetzbuches ist von jeher mit einer seltenen Uebereinstimmung aller, auch sonst weit voneinander abweichenden Meinungen, der Vorwurf gemacht worden, daß er in seinen Begriffsbestimmungen zu vage, in seinen Strafen zu hart sei, und daß er mit einem Rigorismus Anforderungen zur Geltung zu bringen, und Ziele zu erreichen suche, die die Vorschrift wohl an die Sitte, nicht aber der Gesetzgeber an das Leben stellen dürfe. – Seit Jahren ist darum in den Äußerungen Preußischer Gerichtshöfe, namentlich der Schwurgerichts-Präsidenten, es befürwortet worden, die Bestimmungen dieses Titels zu mildern, zumal ihre übergroße Strenge vielfach die Folge habe, daß die Geschworenen aus Abneigung gegen die mit der wirklichen Strafbarkeit der Handlung nicht im richtigen Verhältnisse stehende übergroße Härte der Strafe auch da ein Nichtschuldig aussprächen, wo nach der tathsächlichen Lage des Falles wohl an und für sich ein »Schuldig«, aber freilich mit diesem Schuldig eine geringere Strafe am Platze gewesen wäre. Demgemäß ist bei der Uebertragung dieses Titels in den Norddeutschen Strafgesetzentwurf von der allgemeinen Auffassung ausgegangen worden, daß die Begriffsbestimmungen der darin mit Strafe bedrohten Handlungen anders präzisirt, desgleichen die Strafen selbst erheblich gemildert, und damit der ganze Abschnitt mehr denjenigen Anschauungen genähert werden müßte, welche in anderen Gesetzgebungen darüber obwalten, und die in den Nr. XVI. bis XIX. der beigefügten Zusammenstellung in ihrem Wortlaute dargelegt sind. Dieser allgemeinen Absicht sind die in diesem Abschnitte vorgenommen Aenderungen im Einzelnen untergeordnet worden, und es wird deshalb zur Rechtfertigung der einzelnen Paragraphen nur weniges auszuführen sein»482.
Die oben bereits dargestellten Schwierigkeiten der Rechtsprechung mit den Tatbeständen der Sittlichkeitsdelikte sind also bei der Erstellung des neuen StGB berücksichtigt worden. Der Tatbestand der Blutschande selbst wurde indes materiell nicht verändert. Es findet lediglich die sich schon lange abzeichnende Konkretisierung der Tathandlung auf den Beischlaf statt483. Das StGB für den Norddeutschen Bund wurde nach der Reichsgründung schließlich am 16. April 1871 als Reichsstrafgesetzbuch übernommen. Der § 173 erhielt damit eine Form, die bis zur Straflosstellung des Beischlafs in Schwiegerverhältnissen im Jahr 481 § 173 des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund. 482 Motive zu dem Entwurfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, Vorbemerkungen zum Dreizehnten Abschnitt, §§ 148 bis 161, S. 150. 483 Dies stellt nach den Motiven die notwendige Reaktion auf die Rechtsprechung des Obertribunals dar. Vgl. Motive, S. 150, § 150.
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1953 bestehen bleiben sollte. Damit bewahrheitete sich die Hoffnung Bindings, der 1869 in der Vorrede zu seiner Beurteilung des Entwurfs schreibt: »Was wir von dem kommenden Strafgesetzbuche des Norddeutschen Bundes erwarten, ist also nicht nur, daß es Uns Deutschen endlich einmal wieder zum ersten Male seit Carls V. Gesetz von 1532 gemeines Strafrecht in ausdrücklicher Fassung schaffe, sondern auch, daß die seit Feuerbachs gewaltigem Anstoße von 1813 ruhelos von Entwurf zu Gesetz wieder zu Entwurf forttreibende deutsche Strafgesetzgebung in ihm endlich zu längerer Ruhe komme.«484
V.
Entwicklung seit 1871
Nachdem die Strafbarkeit von Sittlichkeitsverbrechen in der Repressionszeit nach 1848 einen Höhepunkt erreicht hatte, riss die Diskussion um die Sittlichkeitsdelikte in Deutschland auch nach Einführung des RStGB nicht ab. Um die Jahrhundertwende erfasste die Debatte auch wieder die Strafe des Verwandtenbeischlafs und intensivierte sich im Vorfeld der Strafrechtsreform von 1919. Diese Diskussion wurde allerdings – wenn auch kontrovers und lebhaft – lediglich auf wissenschaftlicher Ebene geführt. Zwar wurden auch Alternativentwürfe zum bestehenden Strafrecht entwickelt, eine echte parlamentarische Initiative zur Reform des Sittlichkeitsstrafrechts blieb allerdings aus. Innerhalb der Rechtswissenschaft wurden jedoch sehr intensiv eben jene Grundsatzdiskussionen in Bezug auf das Sittlichkeitsstrafrecht und den § 173 geführt, deren Kernelemente auch heute wieder aus dem Nebel der verfassungsgerichtlichen Urteils heraustreten. Im Folgenden sollen nun die einflussreichsten Stimmen dieser Kontroverse dargestellt werden, um den Fortgang der wissenschaftlichen Diskussion bis zum Ende des Kaiserreichs in seinen Grundzügen darzustellen.
1.
Der Rechtsgutsbegriff und seine Auswirkung auf das Sittlichkeitsstrafrecht
Die Zeit nach Inkrafttreten des RStGB bis 1918 ist geprägt von grundsätzlichen Diskussionen um die Aufgabe und Methodik des Strafrechts. Palmen unterscheidet hier eine »rechtsstaatlich-soziale« Strömung, die gegen einen erstarkten Positivismus stehe485. Die in dieser Zeit reichhaltig in der Wissenschaft in Bezug auf den § 173 StGB diskutierten Fragen haben an Aktualität nichts verloren. Sie 484 Binding, Der Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, S. 1. 485 Palmen, Der Inzest, S. 76 f., wobei er darauf hinweist, dass sich der Positivismus des beginnenden 20. Jahrhunderts insofern von der Geisteshaltung des 18. Jahrhunderts unterscheide, als hier Recht und Gesetz gleichgesetzt würden.
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sind im Gegenteil, vor dem Hintergrund der von BVerfG in seiner Entscheidung bezogenen Position zum Rechtsgutsbegriff von größtem Interesse. Während der gesamten Zeit ab den 1880er Jahren bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde von führenden Rechtswissenschaftlern der Zeit486 eine intensive Debatte geführt, die, ohne den Begriff des Rechtsgutes hinreichend klar zu bestimmen, teils groteske Züge annahm487, und die hier insofern nur fragmentarisch unter Herausstellung derjenigen Beiträge, die bis heute Gegenstand der Diskussion sind oder einen besonderen Bezug zum Sittlichkeitsstrafrecht aufweisen, dargestellt werden soll. Bedeutung erlangten insoweit besonders die Arbeiten Bindings488, dessen Versuch einer konstruktiven Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs zu einem allgemeingültigen Bezugselement der Normengestaltung in der Strafrechtswissenschaft intensiv diskutiert und fortentwickelt wurde489. Binding führt aus: »In der Schaffung von Rechtsgütern und in der Aufstellung von Schutznormen derselben ist die Rechtsquelle nur durch ihre eigene Erwägung und durch die Logik beschränkt. Was nicht verletzt werden kann, kann auch das positive Recht als verletzbar nicht anerkennen, ebensowenig wie das positive Recht einen Kausalzusammenhang da hervorzuheben vermag, wo keiner ist«490.
Im Unterschied zu Feuerbach definiert Binding das Rechtsgut nicht als Ausdruck eines subjektiven Rechts. Die Gleichsetzung von subjektiven Rechten und Rechtsgütern habe Feuerbach bei der Erstellung seines Kataloges strafbewehrter Rechtsverletzungen »zu den unhaltbarsten Konsequenzen« geführt491. Den Unterschied erkennt Binding darin, dass das, was Gegenstand eines subjektiven Rechts sei, oft kein Rechtsgut, sondern lediglich ein Mittel zur Erhaltung von Rechtsgütern sei. Er führt als Beispiel an, dass kein Mensch ein Recht am »Menschenleben« oder an der »Körperintegrität« habe492. Eine Konsequenz aus dieser Behauptung zieht er aber nicht, so dass offen bleibt, welchen Charakter er diesen Begriffen zuschreibt. Folgte man seiner eingangs gegebenen These, be486 Hier statt vieler in erster Linie zu nennen: Carl Binding, Franz von Liszt, R. Kessler, Hertz, M. E. Mayer und Adolf Merkel. 487 Als Andeutung der in den Beiträgen vor allem Bindings und von Liszts anzutreffenden Häme und Polemik sei hier nur ein Beispiel Bindings gegeben, der sich in einer mehrere Seiten umfassenden Abhandlung in den Fußnoten zu den neuesten Beiträgen äußert und unter anderem mit Bezug auf einen Zeitschriftenbeitrag v. Liszts ausführt: »Es ist unmöglich, eine reichere Fülle logischer Fehler in vier Zeilen zusammenzudrängen«. Binding, Normen, Bd. I, S. 353 – 355 (Fn. 1). 488 Hier vor allem zu nennen »Die Normen und ihr Verhältniss zu den Strafgesetzen«, Bd. 1. 489 Vgl. insoweit v. Liszt, Rechtsgut und Handlungsbegriff im Bindingschen Handbuche, in: Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. I, S. 212 – 252. 490 Binding, Normen, Bd. I, S. 340. 491 Ebd., S. 342. 492 Ebd., S. 343.
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deutete dies, dass »Menschenleben« und »Körperintegrität« die »Mittel zur Erhaltung eines Rechtsgutes« darstellen. Als zu erhaltende Rechtsgüter blieben dann für das genannte Beispiel nur der lebende Mensch und der gesunde Körper übrig. Hier beginnt das entscheidende Problem in Bindings Rechtsgutstheorie, denn es gelingt ihm nicht, einen konsistenten Gedanken zum Prinzip seines Begriffs zu machen. Wohl mit Blick auf die von Feuerbach aus dem Strafrechtskatalog verbannten Verstöße gegen die Sittlichkeit führt Binding weiter aus, dass auch das, was durch die Bigamie, den Inzest und die Sodomie verletzt werde, kein subjektives Recht, sondern nur ein Rechtsgut sein könne493. Die »Sittlichkeit«, die bei Feuerbach kein subjektives Recht darstellt, könnte nach Binding also in Form des Rechtsguts durchaus ein zur Strafbarkeitsbegründung tauglicher Schutzgegenstand einer strafrechtlichen Norm sein. Auch dem Gesetzgeber des RStGB galt, wie oben gezeigt, die Sittlichkeit noch als eigenständiges Gut, das strafrechtlichen Schutzes bedürfe, wobei über den genauen Inhalt des Sittlichkeitsbegriffs Streit herrschte494. Binding hält es durchaus für legitim, einzelne geschützte Güter zu Oberbegriffen zusammenzufassen, solange sie tatsächlich dieselbe Schutzrichtung aufweisen. So hält er es zwar unter Bestimmtheitsgesichtspunkten für unstatthaft, generalisierte Gattungsbezeichnungen wie z. B. »Vermögen« zum Schutzgegenstand einer Strafnorm zu machen, jedoch sei der Begriff des Vermögens selbst durchaus geeignet, die in ihm enthaltenen Güter der dinglichen und der Forderungsrechte zu einem Rechtsgut des Vermögens zusammenzufassen495. Entscheidend sei, dass für den Bürger als Normadressaten eine »Zerschlagung« des Gesamtgutes in seine einzelnen Elemente stattfinde, denn »erst dann findet er die Güter genugsam bezeichnet, deren Achtung ihm obliegt«496. Seien aber die einzelnen Güter verschiedener Art, könnten sie niemals in der Summe ein einheitliches Rechtsgut bilden497. Eben dies sei bei der Sittlichkeit der Fall, woraus Binding folgert, dass »die Sittlichkeit« letztlich nur als ein »Scheingut« begriffen werden könne498. Binding fasst seinen Rechtsgutsbegriff schließlich in einer Definition zusammen, in der der Keim der im »Inzestbeschluss« des BVerfG jüngst zu Tage getretenen Un493 Binding, Normen, Bd. I, S. 343. 494 Vgl. hierzu vor allem die Diskussionen im Vereinigten Ständischen Ausschuss sowie die zeitgenössische Kritik am Pr.StGB, s. o. 495 Binding, Normen, Bd. I, S. 351. 496 Ebd. 497 Ebd., S. 351 f. 498 Binding, Normen, Bd. I, S. 353, wo er auch die seiner Meinung nach im Begriff der Sittlichkeit enthaltenen Rechtsgüter aufzählt: »Die monogamische Eheordnung, die Ehe als das ausschließliche Gebiet des Geschlechtslebens der Ehegatten, die geschlechtliche Zucht der Täter, die Freiheit der Frauen in Hinblick auf ihre geschlechtliche Beiwohnung, die Geschlechtsehre der Frauen und die sehr verschiedenen Güter, die durch die Norm der Kuppelei geschützt werden sollen.«
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sicherheit bei der Begründung von Strafnormen in Form von aus Inhaltslosigkeit hervorgehender Beliebigkeit bereits angelegt zu sein scheint: »Sonach ist Rechtsgut alles, was selbst kein Recht, doch in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat und das er deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist«499.
Rechtsgut ist bei Binding mit anderen Worten also alles, was der Gesetzgeber für die Rechtsgemeinschaft für wertvoll und schützenswert hält. Dass dies so sein soll, daran lässt Binding keinen Zweifel: »Dieses Werturteil ist zweifellos das einzige Motiv gesetzgeberischen Rechtsschutzes«500. Grenzen sind der Deutungshoheit des Staates dabei nicht gesetzt, wodurch sowohl der positivistische Charakter des Begriffs erkennbar als auch die Schwierigkeit seiner Anwendung offenbar wird. Binding betont, dass ein Rechtsgut stets ein solches der Gemeinschaft sei, »mag es auch scheinbar noch so individuell sein«501. Klar wird jedoch, dass das Rechtsgut bei Binding keinen »echten« Träger hat, weil es nur als »Bedingung gesunden Gemeinlebens«502 besteht, so dass das Individuum aufgrund seiner Existenzinteressen zwar Anknüpfungspunkt für diese Bedingungen sein kann, jedoch bei der Verletzung eines Rechtsguts nur der Staat als Gewährleister des gesunden Zusammenlebens betroffen sein kann. Bedeutende Kritik hat dieser Rechtsgutsbegriff durch Franz von Liszt erfahren, der ihn als »Scheinbegriff«, als »ein leeres Wort, dessen Bedeutung fortwährend wechselt«, bezeichnet503. Von Liszt selbst erkennt im Rechtsgut demgegenüber ein »rechtlich geschütztes Interesse«504. Sein eigener Begriff des Rechtsguts vermag die Unklarheiten jedoch nicht zu beseitigen: »Alle Rechtsgüter sind Lebensinteressen, Interessen des Einzelnen oder der Gemeinschaft. Nicht die Rechtsordnung erzeugt das Interesse, sondern das Leben; aber der Rechtsschutz erhebt das Lebensinteresse zum Rechtsgut«505.
Obwohl auch Liszts vom Zweckgedanken ausgehende Definition zur Bestimmung des Wesens des Rechtsgutes wenig zielführend ist, sei doch der an dieser Stelle entscheidende Unterschied zur Anschauung Bindings herausgestellt. Anders als bei Binding sind bei Liszt nämlich die Träger eines Rechtsguts sowohl 499 500 501 502 503 504 505
Binding, Normen, Bd. I, S. 353 – 355. Ebd., S. 357. Ebd., S. 358. Ebd. V. Liszt, Rechtsgut und Handlungsbegriff, S. 224, 230. V. Liszt, Lehrbuch, S. 200. Ebd., S. 65.
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die Individuen selbst als auch die Allgemeinheit506. Die Folge dieser größten Verwirrung beim Versuch, ein abstraktes Modell der Normbegründung zu schaffen, bestand darin, dass ein Begriff des Rechtsguts zwar etabliert wurde, er durch seine Unbestimmtheit bis auf weiteres aber kein Instrument darstellen konnte, vermittels dessen eine transparente und angemessene Grenzziehung zwischen öffentlichem Strafanspruch und Privatheit hätte erreicht werden können.
2.
Diskussion während der Strafrechtsreformzeit 1909 – 1919
Die bedeutendste Kritik in der Zeit zwischen 1871 und 1919 ist wohl die Wolfgang Mittermaiers, der im Auftrag des Reichsjustizamtes im Rahmen der Vorbereitung einer Strafrechtsreform eine Analyse des in Deutschland und im Ausland geltenden Sittlichkeitsstrafrechts erstellte und Empfehlungen für den Umgang mit den Sittlichkeitsdelikten gab507. a)
Die Sittlichkeit als Rechtsgut
Die Beziehung, in die der Staat gegenüber seinen Bürgern tritt, ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie oben gezeigt, keinesfalls geklärt; die Selbstverständlichkeit, mit der in Bezug auf die Sittlichkeitsdelikte »die Sittlichkeit« selbst zum geschützten Gut erhoben wurde, wird jedoch zunehmend in Zweifel gezogen. Zu Beginn seiner vor allem rechtsvergleichenden Analyse erörtert Mittermaier den Rechtsgutscharakter der »Sittlichkeit« im Jahre 1906 so: »Das Rechtsgut der Sittlichkeit ist verschieden zu begreifen: es ist ein sozialer Begriff, der einer überaus schwer zu erkennenden natürlichen Ordnung entstammt. Wie das Geschlechtsleben des Menschen natürlich am besten geordnet ist, wissen wir heute erst sehr unvollkommen: doch haben wir ziemlich bestimmte soziale Regeln dafür. Diese soziale Ordnung des Geschlechtslebens ist die Sittlichkeit im weitesten Sinn, wer ihr entsprechend lebt und empfindet, besitzt die Eigenschaft eines sittlichen Menschen und hat Sittlichkeitsgefühl, hält seine Geschlechtsehre aufrecht«508.
506 Ebd. 507 Mittermaier, in: Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts: Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform, Bd. 4: Vergleichende Darstellung der Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit. 508 Mittermaier, in: Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts: Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform, Bd. 4: Vergleichende Darstellung der Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit, S. 4.
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Das Strafrecht dürfe dieses Rechtsgut der Sittlichkeit nur vor äußeren Gefahren schützen, man dürfe keinesfalls den Anspruch erheben, mit dem Mittel des Strafrechts »eine Verbesserung der ganzen Sittlichkeit« herbeizuführen509. aa) Zielrichtung des Sittlichkeitsstrafrechts und konzeptionelle Widersprüche Die Notwendigkeit der Existenz von Sittlichkeitsstrafrecht ergibt sich für Mittermaier aus der Tatsache, dass der Mensch seinen Geschlechtstrieb nicht beherrsche510. Der hieraus folgende Schluss des Gesetzgebers, in erster Linie »die Strafandrohung gegen die subjektiv-geschlechtlichen Taten zu richten«, sei jedoch vorschnell, da bei einer derartigen Herangehensweise der Fokus zu sehr auf die subjektiven Elemente der Handlung gelegt würde, die nach außen hin keinesfalls immer eine schädigende Wirkung entfalte. Die schädigende Wirkung der Tat selbst, die das Strafrecht zu begrenzen suche, träte dabei zu sehr in den Hintergrund511. Die Wirkung einer Handlung auf andere Menschen könne im Sittlichkeitsstrafrecht nur dann adäquat berücksichtigt werden, wenn auch hier der strafbegründende Aspekt einer unmittelbaren objektiven Beeinträchtigung Dritter vorrangig, also vor subjektiven Gesichtspunkten beachtet werde512. Im geltenden Sittlichkeitsstrafrecht des RStGB und anderer Staaten erkennt Mittermaier insofern das Bestreben, die Unzucht des einzelnen »ohne Rücksicht auf ihre Wirkungen zu bekämpfen«513. Es seien gerade die Taten besonders schwierig zu handhaben, bei denen der Täter zwar aufgrund eines abnormalen Geschlechtstriebs als gefährlich eingestuft werden könne, sein Verhalten jedoch keine unmittelbare schädigende Wirkung entfalte. Diese Taten seien »Blutschande, widernatürliche Unzucht, Konkubinat, Prostitution«514. bb) Abstrakte Lösungsansätze und systematische Folgerung In diesem Zusammenhang stellt Mittermaier eine Frage, deren Beantwortung bis heute nicht endgültig gelungen ist und die auch an dieser Stelle nur kurz angedeutet werden soll. Es ist die Frage danach, inwieweit bei Sittlichkeitstaten die häufig für die Tatbegehung ausschlaggebende »pathologische« sexuelle Neigung des Täters, die von den allgemeinen Bestimmungen über die Zurechnungs- bzw. Schuldfähigkeit nicht oder nur unvollständig erfasst wird, adäquat berücksichtigt werden kann515. Konkret steht ihm hierbei das Delikt der widernatürlichen Unzucht vor Augen. Eine Straflosigkeit homosexuellen Verhaltens könnte 509 510 511 512 513 514 515
Ebd. Ebd., S. 6. Mittermaier, Verbrechen und Vergehen, S. 6. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Mittermaier, Verbrechen und Vergehen., S. 7 f.
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in seinen Augen dadurch erreicht werden, dass die homosexuelle Neigung als ein strafrechtlich anerkannter krankhafter Zustand, der nicht die Schuldfähigkeit ausschließt, im § 175 selbst als Strafausschließungsgrund normiert werden könne516. Nachdem der § 175 sehr viel später schließlich aus anderen Gründen gestrichen worden war, wurde der Aspekt einer stärkeren Berücksichtigung der »natürlichen« Triebhaftigkeit des Menschen auch im Rahmen des Sexualstrafrechts in der Vergangenheit von Teilen der Sexualforschung für bestimmte Konstellationen der Pädophilie ins Gespräch gebracht517, was in dieser Arbeit jedoch keine nähere Berücksichtigung finden wird. Mittermaier geht ferner auch auf die Systematik des Sittlichkeitsstrafrechts, auf die in verschiedenen Gesetzbüchern unterschiedliche Stellung zu anderen Deliktskategorien ein und formuliert einen Vorwurf, der an Aktualität nichts verloren hat: »Entweder ist der Einzelne als Träger der Geschlechtsehre überall allein angegriffen, oder es hat die Allgemeinheit an allen Delikten ihr besonderes, eigenes Interesse. Man kann es zwar verstehen, daß man die mit Gewalt, List, Täuschung unternommenen Verletzungen des einzelnen nicht ohne weiteres mit den Delikten zusammenstellen will, die eine Gemeingefährdung enthalten (Prostitution, Kuppelei, Schriftenverbreitung), aber dennoch gehören sie zusammen. Die Blutschande als Delikt gegen die Familienordnung anzusehen ist ganz verkehrt«518.
Die von Mittermaier aufgezeigte verschiedene Schutzrichtung der Sittlichkeitsdelikte zeigt mangelnde konzeptionelle Klarheit im Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts. Die Vermischung von Taten, die gegen andere Personen gerichtet sind, mit solchen, die gegen die Allgemeinheit gerichtet sind, begünstigt im Falle des § 173 die Beliebigkeit bei der Benennung des Schutzzwecks bis heute. So findet sich der § 173 heute zwar im Abschnitt der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung. In der Begründung des BVerfG werden jedoch andere Aspekte, solche der Gefährdung – und zwar der Gefährdung abstrakter, mehr der Allgemeinheit denn dem Individuum zurechenbarer Rechtsgüter – betont. Diese Verquickung individueller und universeller Schutzzwecke stellt bei Mittermaier gerade das Wesen des Rechtsguts der Sittlichkeit dar : »Die Sittlichkeit ist ein Rechtsgut, dessen Träger der Einzelne ist, aber dessen Verletzung und Gefährdung zugleich eine unmittelbare Gefahr für unbestimmt viele andere bedeutet, so daß der Staat in weitem Maße für die Erhaltung seiner Integrität auch ohne Zutun seines Trägers sorgen muß«519. 516 Ebd., S. 8. 517 Vgl. hierzu vor allem Lautmann, Die Lust am Kind. Die Veröffentlichung löste massive Kritik aus, und Lautmann distanzierte sich später von den aus seiner Sicht missverständlichen Inhalten des Buches. 518 Mittermaier, Verbrechen und Vergehen, S. 9. 519 Ebd., S. 10.
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Liszt konkretisiert diesen Ansatz in seinem Lehrbuch und führt aus, dass »die geschlechtliche Sittlichkeit, d. h. die Einhaltung der durch Rechtsordnung und Sitte dem geschlechtlichen Verkehr gezogenen Schranken […] kein um seiner selbst willen geschütztes Rechtsgut der Gesamtheit [ist]«520. Trotz dieser Einordnung bleibt die grundsätzliche Bezeichnung der Sittlichkeit als Rechtsgut nicht unwidersprochen. Gegen Mittermaier wendet sich Glaser521, der deutliche Kritik an der Einstufung der Sittlichkeit als Rechtsgut übt. Sittlichkeit sei »in erster Linie nicht ein verletzbares Rechtsgut«, sondern vielmehr eine bloße Eigenschaft, woraus folge, dass sie weder unmittelbar angegriffen oder verletzt, sondern lediglich mittelbar gefährdet werden könne522. Ferner sei die Existenz eines Abschnittes »Verbrechen gegen die Sittlichkeit« »schon um dessentwillen ungeeignet, weil die ›Sittlichkeit‹ als der ›Inbegriff des Sittlichen‹ nahezu durch jedes Delikt verletzt werde und es nicht angehe, die Sittlichkeit schlechterdings mit Geschlechtsmoral zu identifizieren«523. Es lässt sich feststellen, dass sich bis 1919 in der Strafrechtswissenschaft eine Abkehr von der Vorstellung durchgesetzt hat, dass die Sittlichkeit um ihrer selbst willen strafrechtlichen Schutz verdiene, wobei die Unterschiede in der Herleitung dieser Feststellung zwar zu erheblichen Debatten unter den Beteiligten selbst geführt haben mögen, diese Differenzen jedoch nicht geeignet sind, den im Vergleich zu 1871 zu konstatierenden Paradigmenwechsel in Frage zu stellen.
b)
Folgerungen in Bezug auf § 173
Nach einem Vergleich des preußischen § 173 mit anderen europäischen Regelungen kommt Mittermaier zu dem Ergebnis, dass »die verschiedensten Auffassungen über Inzucht« herrschten und aufgrund der vielfältig sich unterscheidenden Begründungen in den verschiedenen Staaten kein »einheitlicher Gesichtspunkt als Maßgebend genannt« werden könne, woraus er folgert, »daß die Gesetzgebung über den Strafgrund hier nicht recht im Klaren ist«524. Als die beiden entscheidenden Strafgründe des Inzestverbots in den europäischen Strafrechtskatalogen erkennt er zum einen die »Gefahr für die Nachkommen520 V. Liszt, Lehrbuch, S. 359. 521 Der renommierte jüdische Dresdner Rechtsanwalt Fritz Glaser kommentierte den Reformprozess ausgiebig in der ZStW. Glaser wurde 1933 – 1945 die Anwaltslizenz entzogen, er überlebte aber. Otto Dix hat die Familie 1932 porträtiert. Vgl. hierzu: http:// www.brak.de/anwalt-ohne-recht/ausstell.htm. 522 Glaser, Die Sittlichkeitsdelikte nach einem Vorentwurfe zu einem deutschen Strafrecht, in: ZStW 1911 S. 379 (382). 523 Glaser, Sittlichkeitsdelikte, in: ZStW 1911, S. 379 (381). 524 Mittermaier, Verbrechen und Vergehen, S. 146.
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schaft« und zum anderen die »Gefahr für die Sittenreinheit«525. Beide Strafgründe erscheinen ihm nicht hinreichend; »vielfach«, betont er daher, hätten »gewiss religiöse Gedanken sich eingemischt«526. Diesen religiösen Einfluss erkennt er überall und vor allem dort, wo auch der Beischlaf in Stief- oder Schwiegerverhältnissen bestraft wird, weil jedenfalls hier die Gefahr von Erbkrankheiten nicht bestehe: »man straft hier ganz prinzipienlos reine Unmoral«527. Mittermaier bezweifelt zudem eine positive Auswirkung der Vorschrift auf die Familienreinheit, da er das Delikt als ein »Produkt roher Auffassung, jugendlicher Charakterlosigkeit und schlechter sozialer Verhältnisse« sieht, so dass vor allem äußere Umstände, an deren Bestehen die Existenz der Strafnorm nichts ändere, Hauptursache für Inzesttaten seien528. Seine durch das Fehlen eines eindeutigen Schutzgutes und den fehlenden Präventionseffekt der Norm begründete Kritik mündet schließlich in einer eindeutigen Empfehlung an den Gesetzgeber : »Komme ich nun zu einem Vorschlage, so würde ich in erster Linie den Tatbestand ganz streichen, da er nur eine Unmoral und keine besondere Gefahr darstellt […]. Jedenfalls aber würde das Schwiegerschaftsverhältnis wegzulassen […] sein«529. Sofern die Strafnorm erhalten bleibe, plädiert Mittermaier bemerkenswerterweise dafür, dann die Beschränkung auf den Beischlaf aufzuheben und auch die »widernatürliche Unzucht« aufzunehmen530. Die Kritik Mittermaiers benennt das Problem der umfassenden Inzeststrafbarkeit, nämlich die Schwierigkeit, ein greifbares Rechtsgut zu benennen, das hier geschützt werden soll, sowie eine Inkonsequenz hinsichtlich der Tathandlung durch die Beschränkung auf den Beischlaf. Hierdurch entsteht, kombiniert mit dem fortwirkenden Einfluss christlicher Morallehre, ein für strenge Dogmatiker unüberwindbarer Widerspruch. Wie Mittermaier treffend feststellt, ist auch im europäischen Ausland kein hilfreicher Rat zu finden, da die im 19. Jahrhundert angelegten Grundsatzentscheidungen der romanischen und germanischen Rechtsordnungen hier die größte Vielfalt bedingen. Gegen die kritische Haltung Mittermaiers werden jedoch auch andere Auffassungen vertreten, die die Konzeption des RStGB verteidigen. Auf die Kritik Mittermaiers antwortete der Wiener Oberstaatsanwalt Hoegel mit einem Beitrag in der Deutschen JuristenZeitung531. Hierbei rechtfertigt er die Strafbarkeit der Blutschande zwischen leiblichen Verwandten mit dem Hinweis auf das »Interesse des Staates an der
525 526 527 528 529 530 531
Ebd., S. 144. Ebd. Mittermaier, Verbrechen und Vergehen, S. 144. Ebd. Ebd., S. 147. Mittermaier, Verbrechen und Vergehen, S. 147 Hoegel, Die Reform des Strafrechts., in: Deutsche Juristen-Zeitung (DJZ) 1908, S. 109 – 115.
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Aufrechterhaltung der Familienreinheit«532. Die Strafbarkeit in Stief- und Schwiegerkostellationen will auch Hoegel streichen533. Hinsichtlich der von Mittermaier favorisierten Straflosigkeit der Homosexualität534 hält er jedoch eine Aufrechterhaltung der Strafnorm für zwingend geboten, da Homosexualität »durch ihre Verbreitungsfähigkeit eine gesellschaftliche Gefahr« darstelle und »die gesunde Abscheu des Volkes aufrecht zu erhalten« sei535. Mittermaiers grundsätzliche Kritik findet in der Wissenschaft jedoch auch Rückhalt. Vor allem die systematische Einordnung der Blutschande in das Konzept der Sittlichkeitsdelikte wird dabei kritisiert. Diese Kritik teilte auch Erich von Wulffen, der wie Mittermaier ein Gutachten zum Sittlichkeitsstrafrecht einreichte, das in der offiziellen Zusammenstellung der Gutachten zum Vorentwurf berücksichtigt wurde536. In dieser Zusammenstellung wird für den § 173 auch deutlich die von beiden Autoren geforderte Beschränkung der Strafbarkeit herausgestellt. Im Vergleich zu anderen Staaten erscheine die deutsche Regelung überhart, und es müsse, da eine Streichung der Norm utopisch sei, zumindest das Strafmaß gemindert und auch für minderjährige Geschwister Straffreiheit festgeschrieben werden537. Im Vorentwurf von 1909 werden die Sittlichkeitsdelikte im 20. Abschnitt des 3. Buchs geregelt538. Diese Einreihung in die Delikte gegen die Person kann nach Glaser für die Blutschande nicht überzeugen, da Blutschande und widernatürliche Unzucht nach dem Entwurf als »schlechthin strafbare Geschlechtsakte« und gerade nicht als gegen Einzelpersonen gerichtete Delikte behandelt werden539. »Nur hier und da« könne sich die Blutschande als ein Angriff auf die geschlechtliche Ehre eines anderen darstellen540. Aus diesem Grunde tritt Glaser auch für die Streichung sowohl der Blutschande als auch der Sodomie aus dem
532 Ebd., S. 109 (114). 533 Ebd. 534 Mittermaier stellt diese Forderung unter Hinweis auf die »überaus schwierige Frage«, deren Erörterung sehr komplex sei, explizit nicht auf (Verbrechen und Vergehen, S. 157, Fn. 4), jedoch betont er, dass die Tendenz klar Richtung Straflosigkeit gerichtet sei und konstruiert zu Beginn seiner Erörterungen für § 175 das Modell des Strafausschließungsgrundes der krankhaften Neigung (s. o., auch Verbrechen und Vergehen, S. 157). 535 Hoegel, Reform, in: DJZ 1908, S. 109 (114). 536 Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen über den Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuch, 3. Buch, Verbrechen gegen die Person, 20. Abschnitt. Hier auch wiedergegeben Wulffens Kritik an der systematischen Stellung der Blutschande im Entwurf, S. 346. 537 Zusammenstellung, S. 346. 538 Zu den Entwürfen vgl. die Darstellung bei Vormbaum, Reform des Strafgesetzbuchs: Sammlung der Reformentwürfe, Bd. 1. Sittlichkeitsdelikte im Entwurf von 1909, S. 46 ff. 539 Glaser, Sittlichkeitsdelikte, in: ZStW 1911, S. 379 (380 f.). 540 Ebd., S. 379 (381).
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StGB ein541. Interessant sind hier auch seine Ausführungen zu den bis heute immer wieder herangezogenen Begründungsansätzen des Entwurfs. Hier werden in der Begründung ausdrücklich genannt: die negativen Auswirkungen des Inzests auf »das sittliche Wesen der Familie«, die »sittliche Gesundheit des Familienlebens« und die »Gefahr für die Nachkommenschaft«542. Glaser bezweifelt die Tragfähigkeit dieser Punkte mit dem Beispiel des übermäßigen Alkoholkonsums, der, solange keine Trunkenheitsdelikte begangen würden, straflos und im Übrigen verbreitet sei: »Wie verdirbt dieser den Charakter, wie zerrüttet er das Familienleben, wie untergräbt er die geistige und körperliche Gesundheit der Nachkommenschaft, wie wütet er mit alledem gegen den Staat und die Gesellschaft«543.
Eine weitere bedeutende Untersuchung über die Blutschande lieferte 1915 Max Marcuse, der sich von biologisch-psychologischer Seite der Frage nach der Notwendigkeit einer Strafandrohung nähert544. Hier steht nicht das Rechtsgut im Vordergrund, wohl aber der damit – zumindest nach von Liszt – zusammenhängende Zweckgedanke. Interessant ist diese Untersuchung deshalb, weil sie die soziokulturellen Hintergründe des Inzests unter Heranziehung empirischer Elemente aus der Gerichtspraxis beleuchtet, die im Tatbestand des § 173 genannten Konstellationen differenziert betrachtet und Wege zur juristischen Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse aufzeigt. Marcuse konstatiert zunächst, dass aufgrund der zahlreichen Hinweise auf Inzestbeziehungen unter Natur- und frühen Kulturvölkern545 nicht davon ausgegangen werden könne, dass eine angeborene Inzestscheu herrsche, sondern dieselbe vielmehr »in der Menschheitsgeschichte relativ jungen Datums« und als solche ein Kulturprodukt sei546. Dort, wo diese im Allgemeinen als selbstverständlich empfundene Sozialisation eines Menschen schwer beeinträchtigt sei oder überhaupt nicht stattfinde, entstehe Blutschande als Ausdruck der infolge dieser Kulturlosigkeit ungefilterten Triebhaftigkeit des Menschen. Marcuse schildert Ursachen und Wirkungen innerfamiliären Geschlechtsverkehrs in den verschiedenen Kon541 542 543 544
Ebd. Begründung zum Entwurf 1909, S. 688. Glaser, Sittlichkeitsdelikte, in: ZStW 1911, S. 379 (395). Marcuse, Vom Inzest. Erschienen in der Reihe »Juristisch Psychologische Grenzfragen. Zwanglose Abhandlungen«. Max Marcuse war ein jüdischer Dermatologe in Berlin und gilt als einer der Mitbegründer der Sexualwissenschaft. Er gründete verschiedene Zeitschriften und prägte diesen Wissenschaftszweig bis zu seiner Auswanderung nach Palästina 1933. Sein Sohn Yohanan Meroz war von 1974 – 1981 israelischer Botschafter in der Bundesrepublik. Zur Biografie Marcuses vgl. auch http://www2.rz.hu-berlin.de/sexology/GESUND/ ARCHIV/P_MARCUSE.HTM. 545 Marcuse, S. 4, 12, 13. 546 Ebd., S.13.
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stellationen und macht dabei schlechte Wohnverhältnisse, wirtschaftliche Not, infolge Alkoholmissbrauchs zerrüttete Familienverhältnisse und – seltener – intellektuelle Defizite als Ursachen aus547: »Wo die Erziehung fehlt, Not die Sitte bricht, die Vernunft sich nicht einstellt, die Sexualkonstitution abnorm ist, da wird dann leicht das Moralgesetz übertreten, das die geschlechtliche Verbindung von Blutsverwandten verbietet, und es resultieren Handlungen, ›die unsere Kultur als Perversionen und Verbrechen qualifiziert‹ (Rank)«548.
Er bezeichnet derartig auftretenden Inzest als Gelegenheits- oder Zufallsprodukt, bei dem Ursache und Wirkung nicht klar voneinander getrennt werden könnten, und charakterisiert sie als inzestuöse Sexualverhältnisse, von denen die inzestuösen Liebesverhältnisse zu unterscheiden seien549. Wie die Auswahl der Personen, die in § 173 StGB getroffen wurde, zeige, könnten biologische Gesichtspunkte für den Gesetzgeber »überhaupt nicht maßgeblich« gewesen sein550. Ein ernsthaftes staatliches Interesse im Hinblick auf die Volksgesundheit oder den Schutz der Nachkommenschaft könne es auch nur dann geben, »…wo aus einer Handlung unmittelbar ernstliche Gefahren drohen, nicht aber, wenn diese, wie hier, doch recht fern liegen, nur mittelbar bedingt und so selten sind«551. Als Gesetzeszweck sei aus medizinischer Sicht allenfalls der Schutz vor einer Gefährdung der Volksgesundheit denkbar, worauf die Beschränkung auf den Beischlaf und die Nichterwähnung sonstiger Unzucht spreche, so dass der § 173 konsequenterweise als Gefährdungsdelikt ausgestaltet werden müsse552. Der seit 1825 bis heute am häufigsten benannte Zweck des Schutzes des Familienlebens wird von Marcuse mit dem ebenso alten Gegenargument abgelehnt, dass der strafprozessuale Inquisitionsvorgang insofern contra produktiv wirke, weil durch die häufig langwierige und detailreiche Erforschung des Sachverhalts gerade Kinder und Jugendliche massiv beeinträchtigt und »das, was an Fami547 Marcuse, S. 25 – 38. Die hier als Belege angeführten Fälle können aufgrund ihrer Verschiedenheit jedoch kein wissenschaftlich valides Fundament bieten und es entsteht insofern der Eindruck, dass nicht überprüfbare Berichte über Fälle von Blutschande willkürlich zur Festigung der vertretenen Thesen herangezogen werden. Dennoch kann der Beitrag Marcuses aufgrund seiner Herangehensweise und detaillierten Auseinandersetzung mit der Materie und nicht zuletzt auch wegen der bedeutenden Wirkung auf die damalige Diskussion als wertvoll angesehen werden. 548 Marcuse, S. 25. 549 Marcuse, S. 37. Er widmet sich auch der speziellen Konstellation des inzestuösen Liebesverhältnisses, bei dessen Eingehung die Verwandtschaft den Beteiligten nicht bekannt gewesen, das Verhältnis nach Bekanntwerden desselben aber fortgeführt worden ist, beschränkt sich insofern aber auf eine bloße Beschreibung solcher Verhältnisse und ihrer psychologischen Ursachen, ohne Folgerungen aus der Unterscheidung zu ziehen. 550 Marcuse, S. 67. 551 Ebd., S. 71. 552 Ebd.
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lienreinheit, trotz des Inzests, noch übriggeblieben, wenn überhaupt je vorhanden, rücksichts- und restlos vernichtet« werde553. Mit dem Versuch, den Inzest als einen Verstoß gegen die Sittlichkeit zu erfassen, brauche man sich »gar nicht […] abquälen«, da sich eine solche Verfehlung »auch mit der größten Mühe nicht konstruieren« lasse, weil es undenkbar sei, dass die allgemeine Sittlichkeit durch den Geschlechtsverkehr zweier miteinander verwandter Personen geschädigt werden könne554. Auch wenn man es dem Gesetzgeber zugestehe, moralische Wertungen bei der Konzeption einer Strafnorm zu berücksichtigen und die Abscheu des Volkes im Hinblick auf den inzestuösen Geschlechtsverkehr real und nachvollziehbar sei, fehle es hier doch an der Verletzung eines Rechtsgutes555. Der § 173 sei daher weder ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit noch aus sonstigen Gründen strafwürdig556. Abgesehen von dem hergeleiteten Ergebnis der Straflosigkeit verfolgt Marcuse einen modernen Präventionsansatz zur sozialpolitischen Verhütung von Inzestverhältnissen. Angesichts der als Ursachen identifizierten Umstände der sozialen Verwahrlosung, gesellschaftlichen Isolation und milieubedingt schwierigen Nachweisbarkeit der einzelnen Fälle plädiert er »nicht für Strafen, sondern für soziale Fürsorge und für sichernde Maßnahmen«557.
c)
Exkurs: Kurt Hiller
Die nach der Auffassung des Verfassers interessanteste Schrift der Zeit, die sich mit dem Verhältnis von Staat und Privatheit, von Recht und Sitte befasst, ist die Dissertation Kurt Hillers558. Unter dem Titel »Das Recht über sich selbst« befasst sich Hiller mit der Frage, wie sehr das historisch orientierte kaiserliche Strafrecht von gesellschaftlichen Konventionen durchdrungen sei, und stellt fest, dass es resistent gegen die Reformversuche eines freiheitsorientierten Vernunftrechts sei. Er thematisiert diese Kritik der dem RStGB zugrunde liegenden Rechtsphilosophie in erster Linie anhand des Suizids und der Tötung auf Verlangen, nimmt aber auch andere Delikte, namentlich die §§ 175 und 218 sowie weitere 553 554 555 556 557 558
Marcuse, S. 71. Marcuse, S. 76. Ebd. Marcuse, S. 80. Ebd. Kurt Hiller wurde 1885 geboren. Er promovierte bei Gustav Radbruch und wurde als der politischen Linken nahestehender homosexueller Jude am 23. März 1933 ins Konzentrationslager Oranienburg verschleppt, überlebte und konnte 1934 nach Prag, von dort 1938 nach London fliehen. Kurt Hiller starb 1972 in Hamburg. Zu Person und Werk Hillers vgl. von Bockel (Hrsg.), Das Recht über sich selbst – Nachdruck der strafrechtsphilosophischen Studie aus dem Jahre 1908, Einleitende Hinweise und Materialien, S. 7 – 23 mwN.
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Sittlichkeitsverbrechen, darunter den § 173, in den Blick559. Hiller beschränkt sich auf diesen zentralen Gedanken des »Rechts über sich selbst«, um daraus ein rein freiheitlich orientiertes Strafrecht zu entwickeln; seine Thesen sind entsprechend radikal und fanden zur Zeit ihrer Veröffentlichung viele Anhänger560. Hiller fasst die Tatbestände, in denen es das Strafrecht einem Menschen verbiete, »über sich selbst zu verfügen«, in drei Fallgruppen zusammen. Zum einen seien hier Eingriffe in die eigene körperliche Integrität zu nennen, dann diejenigen Sittlichkeitsdelikte, bei denen nicht in Rechte Dritter eingegriffen werde und schließlich, als eigene Fallgruppe, der Schwangerschaftsabbruch561. In die erste Gruppe falle der § 216, in die zweite der § 173 und in die dritte der § 218 StGB. Zur damaligen Zeit lag hier ein weiterer Schwerpunkt auf dem mittlerweile abgeschafften § 175 StGB. Hiller fordert die Straflosstellung aller unter diese Fallgruppen zu fassenden Handlungen. Das dem Menschen a priori zustehende »Recht über sich selbst« gebiete mithin auch die Streichung der genannten Delikte, da hier »die deutsche Strafgesetzgebung das Recht über sich selbst negiert«562. Der § 216 solle allerdings nicht gestrichen, sondern so umgestaltet werden, dass die Erfüllung der bisherigen Tatbestandsmerkmale die Strafbarkeit gerade ausschließe563. Die Pflicht des Staates, das »Recht über sich selbst« zu achten, führe auch bei § 173 StGB zwingend zu dessen Abschaffung564. Die »gegenseitige Disposition über den eigenen Körper«, ohne dass dabei in den Rechtskreis Dritter eingegriffen wurde, könne eine Strafbarkeit nicht begründen; die der bestehenden Rechtslage zugrunde liegenden Auffassungen seien »haltlos«565. Der Hang, Aspekte der Sittlichkeit einer Handlung, ihren moralischen Wertgehalt, bei der Aufstellung von Strafnormen zu berücksichtigen, ist für Hiller dennoch grundsätzlich nachvollziehbar. Recht und Moral seien zwar »nicht graduell, sondern essentiell« verschieden, dennoch folge daraus keinesfalls die Pflicht des Staates, nur Rechtsverletzungen zu bestrafen566. Der entscheidende Nachteil liege aber darin, dass jede Ethik ausschließlich auf Überzeugungen beruhe und objektive Orientierungspunkte völlig fehlten:
559 Hiller, Das Recht über sich selbst (1908). 560 Hier anzuführen wohlwollende Rezensionen von Helene Stöcker in: Die Neue Generation, 1908, S. 270 – 273 und Gustav Radbruchs, in: ZStW 1908, S. 687. Weiterführend zur Bedeutung der hillscheren Dissertation vgl. Bockel (Hrsg.), Das Recht über sich selbst – Nachdruck der strafrechtsphilosophischen Studie aus dem Jahre 1908, Einleitende Hinweise und Materialien, S. 7 – 23. 561 Hiller, Das Recht, S. 7, 8. 562 Ebd., S. 7. 563 Ebd., S. 59, Fn. 36. 564 Ebd., S. 66. 565 Ebd. 566 Hiller, Das Recht, S. 105.
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»Mit der Erkenntnis jedoch, daß eine Gemeinsamkeit der sittlichen Inhalte, also eine objektive Sittlichkeit, nicht vorhanden ist, entfällt die Möglichkeit, auf »unsittliche« Handlungen strafrechtlich zu reagieren»567.
Da das Strafrecht aber gerade solcher objektiver Eckpfeiler bedürfe, um seinen abstrakten Geltungsanspruch zu legitimieren, sei es sinnvoll, »das Moralische aus allen praktischen Normationen, also auch aus dem Recht, auszuschalten«568. Hillers Forderungen wurden später Teil des »Gegenentwurfs des Kartells für Strafrechtsreform«, das während der 20er und frühen 30er Jahren während der Strafrechtsreform für ein liberales Strafrecht eintrat569.
3.
Einfluss der Kriminalanthropologie und Ideologisierung in der Weimarer Republik
Nach 1919 gingen die Reformbemühungen weiter. Die Rechtswissenschaft spaltete sich bei der Diskussion über die Erforderlichkeit von Sittlichkeitsstrafrecht zunehmend in zwei Lager. Kronecker benennt diesen Zustand570, bezeichnet selbst jedoch den sittlichen Zustand der Allgemeinheit als »eines der wichtigsten Rechtsgüter«571, ohne sich mit den Argumenten Marcuses auseinanderzusetzen, und plädiert für eine Aufrechterhaltung des § 173, wobei mangels eines eugenischen Bedürfnisses auf die Strafbarkeit in Schwiegerverhältnissen jedoch verzichtet werden solle572. Die Materie entwickelt sich wieder zunehmend zu einer Glaubensfrage. Die polarisierende Debatte über das Sittlichkeitsstrafrecht blieb nicht auf die Rechtswissenschaft beschränkt. Dass auch breite Bevölkerungskreise die Diskussion über die Einflussnahme des Strafrechts auf den sittlichen Zustand der Gesellschaft verfolgten, zeigt vor allem die erfolgreiche und in trivialliterarischem Duktus verfasste Monographie Quanters, die in insgesamt acht Auflagen von 1904 – 1925 erschienen ist573. Quanter äußert hierin zum Teil polemische Kritik an den Sittlichkeitsgesetzen und erhebt im Vorwort zur ersten Ausgabe den gleichermaßen selbstbewussten wie verdächtigen Anspruch, »nicht bloß 567 568 569 570 571 572 573
Hiller, Das Recht, S. 106. Ebd., S. 107. Hierzu s. u. unter B. V. 4. a). Kronecker, Die Sittlichkeitsdelikte im amtlichen Strafgesetzentwurf, in: ZStW 1925, S. 568. Ebd., S. 571. Kronacker, S. 578. Quanter, Die Sittlichkeitsverbrechen im Laufe der Jahrhunderte und ihre strafrechtliche Beurteilung. Der wissenschaftliche Anspruch dieser Arbeit erschien jedoch auch den Zeitgenossen Quanters nicht ganz geheuer, so deutet G. Aschaffenburg in einer Rezension an »Daß es so ein dicker Wälzer in 21 Jahren zur 8. Auflage gebracht hat, ist sicher kein unbedenkliches Zeichen…«, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie 1926, S. 330.
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einen historischen Überblick zu bieten, sondern […] zum Teil in schonungsloser Kritik die Fehler unserer heutigen Anschauungen und Gesetze« aufzudecken574. Quanter hält staatliche Eingriffe in das Sexualleben für selbstverständlich erforderlich und will den Tatbestand des § 173 beibehalten. Er preist die strikten Präventionsregeln des ALR, die, wie er mit einem Anklang von Wehmut feststellt, sich in das StGB »so trefflich sie auch sind, dennoch nicht aufnehmen« ließen575. Die Zeit der Weimarer Republik war aber noch weit mehr geprägt vom Vordringen der medizinisch-psychologisch geprägten Kriminologie. Die wildesten Spekulationen über den Zusammenhang medizinischer, zunehmend auch genetischer Faktoren und Delinquenz auf dem Feld der Sittlichkeitsdelikte werden in der Fachliteratur euphorisch diskutiert und prägen in diesem Bereich die Rechtswissenschaft576. Man hat sich zwar vom Dogma des Schutzes der Sittlichkeit als solcher verabschiedet, jedoch zugleich im Determinismus einen neuen Götzen gefunden577.
a)
Forderungen der Sozialreform, Aufkommen der »Sozialhygiene«
Der britische Sexualwissenschaftler Havelock Ellis578 unternahm den Versuch, diese Faktoren, also biologische und moralische, zur Bestimmung der Strafbarkeit auf dem Gebiet des Sittlichkeitsstrafrechts zusammenzuführen. Zum einen müsse eine Handlung »antisozial« sein, zum anderen müsse eine »im wesentlichen allgemeine und dauernde Empörung in der Gesellschaft« durch sie hervorgerufen werden579. Als antisozial werden dabei im klassischen Sinne Handlungen aufgefasst, die sich gegen gesellschaftlich konsentierte Werte richten, indem sie »anerkannte Rechtsgüter« verletzen580. Das Erfordernis einer allgemeinen und manifesten Abneigung sei zwar schwer zu fassen, solle aber in erster Linie zur Abgrenzung bloß ekelerregender oder nur von Teilen der Ge574 Quanter, Die Sittlichkeitsverbrechen, Vorwort zur ersten Auflage, S. IV. 575 Ebd, S. 203. 576 Zahlreiche Beiträge in der »Zeitschrift für Kriminalpsychologie«, später auch vor allem in der »Zeitschrift für Volksaufartung und Erbkunde«. 577 Die Diskussionen wurden vornehmlich in den zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu gegründeten Zeitschriften geführt, von denen hier mit dem »Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik« (gegr. 1898), »Archiv für Kriminologie« (gegr. 1898) und der »Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform« (gegr. 1904) die wichtigsten genannt werden. 578 Ellis wird nicht nur von Marcuse zitiert, sondern wurde in ganz Europa und den USA rezipiert und unterhielt u. a. Verbindungen zu Sigmund Freud, vgl. zur Biographie Ellis‹: http://www.spartacus.schoolnet.co.uk/TUhavelock.htm. 579 Ellis, Rassenhygiene und Volksgesundheit, S. 259. 580 Ellis, S. 258.
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sellschaft abgelehnter Handlungen dienen581. In der dem Begriff der Sittlichkeit innewohnenden Subjektivität, die dem jeweiligen Zeitgeist und somit stetigen Schwankungen unterworfen sei, liege gerade die Schwierigkeit für den Gesetzgeber582. Es sei daher »…wichtig, nationale Unterschiede in der Haltung der Unsittlichkeit gegenüber zu beachten und zu ermitteln, ob der Versuch, gegen sie eine strafrechtliche Repression auszuüben, wirksamer oder unwirksamer ist, als das Verfahren, sie der rein sozialen Reaktion zu überlassen«583. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich deutet Ellis »völkerpsychologisch«. Die Völker seien verschiedenen Charakters, die Entfernung der Sittlichkeitsdelikte aus dem Code P¦nal im Zuge der vom Volk ausgehenden Revolution sei daher »in Übereinstimmung mit den tiefverwurzelten Gefühlen des französischen Volkes« geschehen584. Demgegenüber habe der Deutsche »die empfindliche Eifersucht nicht, mit der der Franzose das Privatleben und die individuelle Freiheit zu schützen sucht«585. Dieser Unterschied in der Freiheitsliebe, die in Frankreich wesentlich ausgeprägter sei als in Deutschland, führe dazu, dass in Deutschland sich die Grenzlinie des staatlichen Reglementierungsanspruchs zu Ungunsten der Privatheit verschoben habe, weil die Deutschen sich gewissermaßen an diesen Zustand gewöhnt hätten; der Deutsche »… lässt sich ruhig von der Polizei in sein Privatleben hineinblicken und Bestimmungen für sein Verhalten seitens des Gesetzgebers und der Polizei berühren sein Streben nach Freiheit nur in sehr geringem Maße. Daher empfindet er den Eingriff des Gesetzgebers in sein Privatleben nur als einen der häufigen und nicht allzu störenden Angriffe gegen seine Individualität«586.
In Frankreich werde auch der Inzest »ebenso mit Abscheu« betrachtet, jedoch sei man dort der Meinung, dass es eines überflüssigen und wirkungslosen Eingriffs in die Privatsphäre nicht bedürfe, da »die eintretende rein soziale Reaktion ganz ausreicht«587. Weil aber gerade keine erhöhte Wirksamkeit strafrechtlicher Verbote gegenüber dieser rein sozialen Reaktion festzustellen sei, seien all jene Sittlichkeitsdelikte aus dem Strafkatalog zu entfernen, zu deren Begründung auf den Abscheu der Bevölkerung zurückgegriffen wird: »Ekel ist eine Geschmackssache, wir können nicht damit unsere Gesetze imprägnieren; ein ekelhafter Mensch ist darum nicht auch ein Verbrecher, sonst müssten wir
581 582 583 584 585 586 587
Ellis, S. 259. Ebd., S. 259 f. Ellis., S. 260. Ebd., S. 261. Ebd. Ebd. Ebd.
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verlangen, dass viele Insassen unserer Krankenhäuser und Irrenanstalten gehängt werden«588. b)
Vordringen der Eugenik und Forderungen der Kriminalanthropologie
Als charakteristisch für die zunehmende Durchdringung des Strafrechts mit biologistischen Aspekten, die bald auch dem Gedanken der »Ausmerzung« Eingang in die Diskussion verschaffte, kann im Hinblick auf den § 173 die Arbeit von Hentig und Viernstein »Untersuchungen über den Inzest«589 bezeichnet werden. Die anhand von 24 Inzestfällen hier dargelegten biologischen Zusammenhänge dienen der Typisierung des Inzesttäters und betonen die doppelte »rassenbiologische Notwendigkeit«, sowohl die Entstehung kranker Nachkommen als auch die Fortpflanzung entarteter Täter zu verhüten590. Welchen Einfluss derartige Strömungen auf das Strafrecht hatten, lässt sich gut anhand der von von Henting im Schlusskapitel gezogenen Schlüsse erkennen. Hier heißt es: »Die Aufnahme biologischer, subjektiver Komponenten in die Strafrechtspflege kann daher nicht als eine Verwässerung und Entsicherung des Strafrechts und seiner Grundlagen gedacht werden, sondern als ein notwendiger ethischer Ausbau des Rechts zum Zwecke einer erhöhten Befähigung zu einer wahrhaft objektiven Schuldabmessung«591.
Auch die Ausgestaltung des § 173 RStGB sollte sich an diesen Maßgaben orientieren und aus genetischen Gründen Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern schwerer, solcher zwischen Stiefverwandten milder bestraft werden: »Schon Darwin hat betont, daß im Sinne der Biologie Geschwister näher verwandt sind, als Mutter und Sohn, Vater und Tochter. Diese Anschauung teilt auch die Mehrzahl der Tierzüchter. Das deutsche Strafrecht bedroht den Inzest zwischen Geschwistern mit geringerer Strafe, offenbar, weil es hier Einflüsse des Zwangs oder der Verführung mit Unrecht ausschließt. […] Der Inzest mit Stiefkindern kann vom biologischen Standpunkt aus nicht mit der Schärfe beurteilt werden, die das Strafrecht vertritt. Züchterisch liegt kein Inzest vor ; nur gegen Gewalt und Mißbrauch der Autorität wäre das geschlechtsunreife Kind zu schützen«592. 588 Ellis, S. 267. 589 Henting/Viernstein, Untersuchungen über den Inzest, Heidelberg, 1925. Bis heute findet sich ein Verweis auf dieses Werk im Lehrbuch von Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil 2, 2. Teilband, S. 182, Rn. 82. 590 Rezension über Henting/Viernstein, Untersuchungen über den Inzest, in: Archiv für Kriminologie 1925, S. 136 f. 591 Zitiert nach Rezension über Henting/Viernstein, Untersuchungen über den Inzest, in: Archiv für Kriminologie 1925, S. 137. 592 Zitiert nach Rezension über Henting/Viernstein, Untersuchungen über den Inzest, in: Archiv für Kriminologie 1925, S. 137.
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c)
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Stellungnahme
Das Strafrecht orientierte sich im Bereich der Sittlichkeitsdelikte zunehmend weniger an abstrakten Vorstellungen über Sittlichkeit, weniger an den klassischen philosophischen Maßstäben dieses Begriffs, denen die »Kulturvölker« Bedeutung für ein gedeihliches Zusammenleben beimaßen, sondern zunehmend an biologischen Aspekten. Der Zweck des Sittlichkeitsstrafrechts verschob sich in der Folge von der Hebung der allgemeinen – moralischen – Sittlichkeit der Bevölkerung, die noch in Preußen als »Grundfeste des Bestandes des Staates« galt, hin zum Zweck der Arterhaltung und der »genetischen Aufwertung« des Volkes. Hatte man zunächst die »Sozialhygiene« lediglich als eine Fortentwicklung der Sozialreform verstanden593, also als ein Mittel zur Bekämpfung der Verelendung der unteren Bevölkerungsschichten, griff zunehmend eine radikalere Auffassung Raum. Die Pioniere der Sexualwissenschaft und Kriminologie – unter ihnen eine Reihe jüdischer Gelehrter, Pazifisten und Kommunisten594 – verfolgten die Idee, mit den neu aufkommenden Methoden der medizinischen Prophylaxe der sozialistischen Wohlfahrtsbewegung neue Kraft zu verleihen. Die Anfänge der »Rassenhygiene« finden ihren Ausgangspunkt also in den sich neu bietenden Erkenntnissen und Möglichkeiten, die unter Aufrechterhaltung humanistischer Ideale wie ein Wundermittel zur Behebung der gröbsten sozialen Missstände eingesetzt werden sollten. Die in den Aufsätzen und Monographien zu Tage tretende Naivität im Glauben an die Heilkraft »sozialhygienischer Maßnahmen« und der Glaube an die Möglichkeit einer Umsetzung solcher Vorhaben unter Wahrung aller humanistischen Ideale ist aus heutiger Perspektive nicht mehr nachzuvollziehen. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass die um die Jahrhundertwende bis in die 20er Jahre gebräuchlichen Begriffe von Rasse und Sozialismus nicht identisch sind mit denen von Rassismus, Euthanasie und Nationalsozialismus. Aber obwohl Wortschöpfungen wie »Sozialhygiene« oder »Rassenregeneration« ein anderes Welt- und Geschichtsbild als das unsrige zugrunde lag, und obwohl die Lebensläufe der frühen Verfechter dieser aufkommenden Sozialutopien jede ideologische Verbindung zu jener aggressiven und menschenverachtenden politischen Doktrin, die später unter der Bezeichnung »Nationalsozialismus« firmieren sollte, verbieten, muss doch klargestellt werden, dass die genannten Begriffe bereits damals die Unschuld nicht hatten, die ihnen heute zu Recht abgesprochen wird. Die 593 So ganz deutlich unter Zurückweisung jedes »züchterischen« Gedankens Ellis (Rassenhygiene, Vorwort S. III: »Es geht nicht darum, Menschen zu züchten wie das Vieh«.); auch noch bei v. Henting/Viernstein (Untersuchungen über den Inzest) trotz schärferer Wortwahl. 594 Hier seien nur beispielhaft genannt die in dieser Arbeit erwähnten Max Marcuse, Havelock Ellis, Kurt Hiller und Hans von Hentig.
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Berücksichtigung der genannten Autoren und ihrer Arbeiten ist dennoch wichtig zum Verständnis der Fortentwicklung des Sittlichkeitsstrafrechts bis 1945 und darüber hinaus. Die Anfang des 20. Jahrhunderts gelegten Fundamente nicht nur der Kriminologie, sondern auch der während des Dritten Reichs auf deren anthropologischen Ansätzen gegründeten Verheerungen müssen richtigerweise aufgefasst werden als Ausdruck einer politisch engagierten Wissenschaftsströmung, die sich als Avantgarde verstand und mit neuen, progressiven Ansätzen das Strafrecht entscheidend beeinflusste595. Hier findet ein entscheidender Übergang statt, innerhalb dessen sich auch ein Wandel des gesetzgeberischen Verständnisses vom Verhältnis der öffentlichen Strafe zur Privatheit des Einzelnen vollzieht. Es ist die Zeit zwischen 1880 bis 1925 die Zeit der Abkehr vom preußischen, ständisch geprägten Verständnis von der Beziehung des Staates zu seinen Bürgern, hin zu einem neuen, einer absoluten Sozialutopie folgenden Prinzip der vollständigen Durchdringung der individuellen Lebenswelt durch (vermeintliche) Gemeinschaftsinteressen. Die Errichtung dieses neuen strafrechtlichen Dogmas auf der Basis wissenschaftlicher »Erkenntnisse« macht die Protagonisten des Prozesses des Erkenntnisgewinns zu entscheidenden Wegbereitern des »neuen Strafrechts«. So unredlich es auch erscheinen mag, die oben genannten Begründer von Sexualwissenschaft und Kriminologie auf ihre im Bereich des medizinisch-anthropologischen Strafrechts erbrachten Forschungen und Folgerungen zu reduzieren, und so schwer Bewertung und Rezeption dieser Arbeiten fallen mögen, so notwendig ist aber diese Beschränkung mit Blick auf die Maßgabe des dieser Arbeit zugrunde liegenden Themas.
4.
Verlauf der Reform des Sittlichkeitsstrafrechts bis 1933
So kontrovers die Diskussion um die Reform des Sittlichkeitsstrafrechts geführt wurde, so ernüchternd war im Hinblick auf den § 173 RStGB das Ergebnis. Der Tatbestand wurde im Entwurf von 1919 unverändert beibehalten, während das Strafmaß ohne nähere Begründung, weder im Entwurf, noch in den Protokollen, von fünf auf zehn Jahre erhöht wurde596. Somit stand am Ende einer langen und intensiven Debatte ein Ergebnis, dass keiner der wissenschaftlichen Protagonisten je gefordert hatte und das dazu führte, dass nach dem Entwurf des Jahres 1919 in Deutschland der Beischlaf zwischen Verwandten so streng bestraft 595 Zum Verhältnis von Rassenhygiene und Nationalsozialismus vgl. Rickmann, »Rassenpflege im völkischen Staat«: Vom Verhältnis der Rassenhygiene zur Nationalsozialistischen Politik. 596 StGB-Entwurf 1919 nebst Denkschrift zu dem Entwurf 1919, in: Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, § 319.
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werden sollte wie zuletzt in einigen Partikularrechten des 18. Jahrhunderts. In den Folgeentwürfen bis 1930 sind dann aber nach und nach Milderungstendenzen erkennbar. Im E 1925 setzte sich die Forderung nach Straffreiheit für jugendliche Geschwister durch, wobei Minderjährige immer nur dann straffrei sein sollten, wenn sie zur Tat verführt worden waren597. Gleichzeitig wurde neben der Vollziehung des Beischlafs auch das Unzuchttreiben in den Tatbestand aufgenommen. Im E 1927 wurde die Strafbarkeit in Schwiegerverhältnissen abgeschafft und für das Unzuchttreiben auf fünf Jahre reduziert598. Im E 1930 wurde schließlich das Strafmaß für den Beischlaf mit Verwandten in absteigender Linie wieder auf fünf Jahre Zuchthaus herabgesetzt599. Keiner der Entwürfe wurde vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten umgesetzt, weil die Abgeordneten der NSDAP seit dem Einzug in den Reichstag und massiv nach den Wahlerfolgen von 1930 durch ihre Destruktionspolitik einen Abschluss der Reform blockierten600. Jedoch wurden manche von ihnen von den Nazis im Rahmen der »Strafrechtsangleichung« aufgegriffen601.
a)
Höhepunkt der Liberalisierungskämpfe im Sexualstrafrecht
Ende der zwanziger Jahre, nach Erscheinen des E 1925, gewann die Debatte um die Strafrechtsreform entscheidend an Schärfe. Die bereits angedeuteten Interessengruppen rückten unter dem zunehmenden politischen Druck durch die radikale Rechte näher zusammen und bemühten sich auch im Hinblick auf die von ihnen angestrebte freiheitliche Reform des Strafrechts um eine Bündelung der Kräfte. Die liberale Schule von Liszts und Mittermaiers, die den juristischdogmatischen Unterbau für diese Reform lieferte, wurde durch Protagonisten 597 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (Reichsratsvorlage), §§ 263, 264. 598 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (1927) (Reichstagsvorlage), §§ 290, 291, Drucksache des Reichstags, III. Wahlperiode 1924/27, Nr. 3390. 599 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzes 1930, §§ 290, 291, Drucksache des Reichstags, V. Wahlperiode 1930, Nr. 395. 600 Vgl. hierzu die Debatte zur Strafrechtsreform vom 10. 12. 1930, während derer der SPDAbgeordnete Rosenfeld, der ankündigt, auch gegen die Destruktionsversuche der NSDAP die Strafrechtsreform zu einem Abschluss bringen zu wollen, zunächst u. a. von Goebbels massiv beschimpft wird, und in deren Verlauf der NSDAP-Abgeordnete Karpenstein offen die Haltung der Nationalsozialisten wiedergibt: »…weil wir sehen, dass in diesem Hause kein Respekt und keine Achtung mehr vor der Heiligkeit des Körpers besteht […], deswegen sprechen wir der untergehenden Weltanschauung dieses untergehenden Hauses das Recht ab, Strafrechtsnormen über germanisch-deutsche Menschen aufzubauen. […] Draußen auf den Straßen zeigt sich, was in drei Jahren aus der deutschen Nation wird […]. Dann wird der Tag kommen, wo wir die Strafrechtsreform machen«. Online verfügbar unter : http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w5_bsb00000128_00522.html. 601 Wittmann, Blutschande, S. 150.
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wie Kurt Hiller mit weiteren Reformbewegungen verknüpft. Vor allem die Frauenrechtsbewegung602 und das »Wissenschaftlich-humanitäre Komitee« Magnus Hirschfelds traten für eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts ein. Sicherlich war hier insofern die Abschaffung des § 175 StGB das oberste und einigende Ziel der Reformbewegung, dennoch stellt dies nur eine der Konkretisierungen des umfassenden Forderungskatalogs dar. Das übergeordnete gemeinsame Interesse der aus unterschiedlichen Grundmotiven handelnden Protagonisten bestand darin, dem Individuum seine natürlichen Entfaltungschancen, soweit wie es sozialkonform möglich erschien, zu eröffnen und sie zu schützen. Das Bestreben, sich von den Konventionen des 19. Jahrhunderts und ihren gesellschaftlichen, politischen und juristischen Manifestationen zu befreien, führte dazu, dass man in der Strafrechtsreform ein gemeinsames, zur Durchsetzung dieses Interesses geeignetes Betätigungsfeld fand. Eine Zusammenschau bedeutender Reformstimmen wurde unter dem Titel »Zur Reform des Sexualstrafrechts« 1926 von Magnus Hirschfeld603 herausgegeben. Wenig später erschien der »Gegen-Entwurf« des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts. aa) Reformstimmen Mit einem dem Titel seiner Dissertation »Das Recht über sich selbst« gleichlautenden Beitrag beteiligte sich Kurt Hiller 1926 an der Diskussion. Das hillersche Dogma, dass Strafrecht Interessenschutz sei und sich aller weitergehenden Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen enthalten solle, kommt hier noch deutlicher zum Ausdruck als in der Dissertation. Der E 1925 bedeute im Hinblick auf das Sittlichkeitsstrafrecht »in dieser Beziehung gegenüber dem Strafgesetzbuch von 1871 nicht den geringsten Fortschritt«604. Bei der Bestrafung der Blutschande gehe der Entwurf gar »einen Schritt zum Mittelalter zurück«605. Hillers Ausführungen zur Strafbarkeit der Blutschande sollen hier aufgrund der bildlichen Sprache des Originals und der verblüffenden Modernität seiner Ausführungen, die ohne weiteres als Teil einer kritischen Besprechung des Beschlusses des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 II in einer aktuellen Ausgabe der ZStW hätten erscheinen können, direkt wiedergegeben werden: »Das Problem des Inzests bereitet gewiß Schwierigkeiten. Der exogame Liebesgeschmack hat sich im Laufe der Geschichte mit ungeheurer Vehemenz im gewaltigsten Umfange durchgesetzt. Bei der erdrückenden Mehrzahl der Menschen erzeugt die Vorstellung eines Geschlechtsverkehrs mit nächsten Verwandten Widerwillen und Ekel. Soll man deshalb der kleinen Minderheit, die sich, kraft geheimnisvoller Verer602 Hier insbesondere der „Bund für Mutterschutz und Sexualreform“. 603 1868 – 1935. Hirschfeld war Mitbegründer des „wissenschaftlich-humanitären Komitees“ und Gründer der „Zeitschrift für Sexualreform“. 604 Hiller, Das Recht über sich selbst, in: Zur Reform des Sexualstrafrechts, S. 146. 605 Hiller, in: Reform, S. 149.
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bungsgesetze, aus dunklen primitiven Zeiten her den endogamen Geschmack bewahrt hat oder deren Widerwille gegen das Endogame nicht stark genug ist, um es als Ersatz für versagte exogame Möglichkeiten zu verschmähen, […] soll man der kleinen Minderzahl der Menschen ohne Inzestscheu den Kerker auferlegen, zur Strafe für ein Handeln, durch das niemandes Interesse verletzt wird? Der Schutz der Geschlechtsunreifen vor Attacken vertierter Verwandter versteht sich von selbst. Aber wovor sollen Erwachsene hier geschützt werden? Vor ihrem eigenen Triebe? Es lässt sich freilich nicht behaupten, dass durch Inzucht das Interesse der Gemeinschaft verletzt werde, da Inzucht zur Entartung führe. Der Beweis für diese These wurde bisher nicht erbracht; das experimentelle Material ist noch viel zu dürftig. Aber setzen wir einmal als feststehend voraus, was erst noch bewiesen werden müsste, so wäre der Strafe doch nur die inzestuöse Begattung wert! Beischlaf mit geflissentlich verhindertem Begattungserfolg oder gar Geschlechtshandlungen außer dem Beischlaf können doch zur Inzucht nicht führen! Sie zumindest sollten frei sein. Denn als strafrechtlich zu schützendes Interesse bliebe hier allein noch die »Reinheit des Familienlebens« anzugeben. Aber das wäre keine Jurisprudenz mehr, das wäre Mystik; kein staatliches, sondern kirchliches Denken. Vom Staate aus ist zu sagen: Nicht die Exzesse beflecken und zerrütten so sehr das Familienleben – wie die Prozesse«606.
Hirschfeld unterstützt in seinem Beitrag die Forderungen Hillers und geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass man das gesamte Sexualstrafrecht in nur einer einzigen Norm zusammenfassen könne, die etwa so lauten würde: »Mit Gefängnis oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer im geschlechtlichen Umgang Gewalt anwendet, sich an Geschlechtsunreifen vergreift oder öffentlich Ärgernis erregt«607. Statt eine Reihe abnormer triebhafter Verhaltensweisen zu bestrafen, solle der Gesetzgeber sein Augenmerk vielmehr darauf richten, »den freien Geschlechtswillen zweier Menschen zu schützen…«608. Mittermaier widmet sich in seinem Beitrag dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft609. Der Beantwortung der Frage, wie dieses Verhältnis ausgestaltet ist, deren eindeutige Beantwortbarkeit er zu Beginn seiner Ausführungen negiert, misst er entscheidende Bedeutung für die Bestimmung der Reichweite staatlicher Regelungsbefugnis im Hinblick auf das Sexualleben seiner Bürger bei. Wie weit und warum der Inzest verboten sein soll, hält Mittermeier für eine »unendlich interessante Frage«610. Anders als noch einige Jahre zuvor611 plädiert er nicht mehr für die radikale Lösung einer vollständigen Streichung der Norm, 606 Hiller, in: Reform, S. 151. 607 Hirschfeld, Die Bestrafung sexueller Triebabweichungen, in: Zur Reform des Sexualstrafrechts, S. 158. 608 Hirschfeld, in: Reform, S. 158. 609 Mittermaier, Strafrechtsreform auf dem Gebiete der Sexualdelikte, in: Zur Reform des Sexualstrafrechts, S. 101 – 18. 610 Mittermaier, in: Reform, S. 10. 611 Vgl. Mittermaiers Ausführungen in: Verbrechen und Vergehen, S. 146, wo er noch »den Tatbestand in erster Linie völlig streichen« wollte (s. o.).
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sondern empfiehlt eine Reduzierung des Kreises der tauglichen Beteiligten auf die engsten Grade der Blutsverwandtschaft, eine weitergehende Strafbarkeit sei dagegen »töricht«: »Wir müssen beachten, daß wir die sogenannte Blutschande mit der Strafe am wenigsten bekämpfen können. Hier müssen soziale, ethische Belehrungen und Bekämpfungen einsetzen, und wenn wir wissen, daß die, die Blutschande treiben, geistig wie materiell armselige Personen sind, daß es Wohnungsmißstände hauptsächlich sind, die ihr Tun begünstigen dann muß man sagen, mit dem Strafrecht ist auf diesem Gebiete nicht viel anzufangen«612.
Die zweifelhaften Begründungsansätze des Regierungsentwurfs, die sich nach Mittermaiers Auffassung durch das gesamte Sittlichkeitsstrafrecht ziehen, prangert er am Beispiel der Homosexuellenbestrafung an. Die von Mittermaier geübte Kritik an der Begründung des Entwurfs wird hier deswegen wiedergegeben, weil sie in ähnlicher Form auch zu den Ausführungen des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 II StGB passen würde: »Da finden wir Sätze, die eine Gesetzesbegründung nicht enthalten sollte. Es heißt da: ›Verfehlungen dieser Art erschienen dem gesunden Empfinden des Volkes verwerflich und strafwürdig‹ und müssen darum bestraft werden. […] Ob das Volksempfinden ein richtiges ist, hat der Gesetzgeber nicht festgestellt«613.
bb) Der Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts Nach Veröffentlichung des E 1925 erstellte eine Gruppe von Medizinern und Juristen um Hiller614 und Hirschfeld als »Kartell für Reform des Strafrechts« einen Gegenentwurf, der im Herbst 1927 dem Reichstag vorgelegt wurde615. Dieser Gegenentwurf verdient deswegen besondere Beachtung, weil er nach der Ansicht des Verfassers dieser Arbeit ein bemerkenswertes Zeugnis aufgeklärten, auf klaren dogmatischen Ausgangsüberlegungen fußenden Strafrechts darstellt und als Gegenbewegung zur anthropologischen Durchdringung des Sittlichkeitsstrafrechts der Zeit angesehen werden muss. Das Verständnis von Sittlichkeits- und Sexualstrafrecht, das diesem Entwurf zugrunde liegt, wird in dessen Einleitung vorangestellt: 612 613 614 615
Mittermaier, in: Reform, S. 10. Mittermaier, in: Reform, S. 11. Zur Person und den Thesen Hillers siehe oben B. V. 2. c). Gegen-Entwurf zu den Strafbestimmungen des amtlichen Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs über geschlechtliche und mit dem Geschlechtsleben im Zusammenhang stehende Handlungen nebst Begründung. Das Kartell vereinigten eine Reihen von Vereinen und Interessengemeinschaften zur Förderung einer juristischen und gesellschaftlichen Sexualreform, von denen als bedeutendste hier zu nennen sind das »wissenschaftlich-humanitäre Komitee« unter Leitung Hirschfelds und der »Bund für Mutterschutz und Sexualreform«, vertreten durch Helene Stöcker.
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»Schon der Umstand, daß Geschlechtsbeziehungen zwischen Mensch und Mensch, als solche, Gegenstand besonderer strafrechtlicher Behandlung geblieben sind, lässt sich mit der modernen Auffassung vom Sexualleben schwer vereinen«616. Weiter heißt es: »Jede Erwägung über Strafwürdigkeit, das heißt darüber, ob ein Tat-Typus mit Strafe belegt werden soll, muss daher von dem Satze ausgehen, daß ein Verhalten nur dann mit Strafe belegt werden darf, wenn es rechtsschutzwürdige Interessen (Rechtsgüter) verletzt oder gefährdet. Auf dem Gebiete des Geschlechtslebens können als Interessen, deren Schutz durch Strafandrohung angestrebt werden soll, nur die freie Selbstbestimmung des Menschen, die Gesundheit des Menschen und der Schutz der Geschlechtsunreifen in Frage kommen; wo neben oder außer diesen drei Gruppen rechtsschutzwürdiger Interessen das »Gemeinwohl«, das »Rechtsbewusstsein«, die »sittlichen Grundanschauungen«, das »sittliche Empfinden«, das »sittliche Gefühl« »des Volkes«, die »Reinheit unseres Volkslebens« als Rechtsgüter angeführt werden, ersetzen diese unklaren Begriffe lediglich das fehlende stichhaltige Argument; Sittlichkeit als Negation des Geschlechtlichen – dieses Wortgebrauchs sollte sich der Gesetzgeber nachgerade enthalten«617.
Obwohl »gewichtige Gründe« dafür sprächen, die Verübung von Inzest insgesamt straflos zu stellen, spricht sich das Kartell bezüglich § 173 RStGB für eine grundsätzliche Beibehaltung der Norm – unter Abschaffung der Zuchthausstrafe – aus, will aber neben den Schwiegerverhältnissen auch den Geschwisterinzest aus der Norm streichen. Die Begründung hierfür entspricht dem ursprünglichen Schutzgedanken der Norm und trifft den Kern der Sache exakt: Es dürfe »kein strafrechtliches Mittel unbenutzt bleiben […], jugendliche Menschen und in gewissen Fällen auch Erwachsene vor dem Missbrauch zu schützen, den autoritative Persönlichkeiten, also vor allem die Eltern, mit ihrer Autorität zu treiben imstande sind«618. Dieser Ansatz, der die Eigenart familiärer Verhältnisse in den Blick nimmt, ohne den Schutzgedanken des § 173 in Form des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung aus den Augen zu verlieren, stellt einen höchst modernen, dogmatisch klaren Vorschlag dar. Auf diesen Vorschlag, der seiner Zeit weit voraus war, wird im Rahmen dieser Arbeit noch eingegangen werden. Der Gegenentwurf wird in den Protokollen des strafrechtlichen Ausschusses, wenn auch nicht während der Debatte über § 173 StGB, ausdrücklich erwähnt619. Er hat also inhaltlich Eingang in die Debatte gefunden, wobei vor allem die Kommunisten, aber auch die Sozialdemokraten die hier gemachten
616 617 618 619
Gegen-Entwurf, S. 7. Gegen-Entwurf., S. 8. Gegen-Entwurf, S. 36 f. Protokoll der 80. Sitzung des 21. Ausschusses vom 08. Oktober 1929, abgedr. in: Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, Abt. 1, Bd. 3, Teil 3, S. 11.
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Vorschläge in ihren Anträgen aufgriffen620. In einem Vortrag anlässlich der Jubiläumstagung des »Deutschen Bundes für Mutterschutz und Sexualreform« äußerte Hiller noch 1930 große Hoffnung, dass man entscheidenden Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess würde nehmen können621. Die Fortschritte bei der Liberalisierung seien zwar begrüßenswert622, doch stelle die Tatsache, dass noch immer die »Moralpädagogik« das Strafrecht des Entwurfs dominiere, einen »barbarischen Unsinn« dar623. Man müsse im Hinblick auf die zweite Lesung des Entwurfs im Reichstag »mit einer Intensität arbeiten, die alles bisher geleistete übertrifft«624.
b)
Parlamentarische Debatte
Im Oktober 1929 wurde das Sittlichkeitsstrafrecht des E 1930 im 21. Ausschuss des Reichstages beraten625. Vertreter aus verschiedenen Parteien beteiligten sich an der Debatte, als es um die normative Neufassung der Blutschande ging. Die hier genannten Argumente sollen die Auswirkungen der langwierigen Diskussion auf rechts- und naturwissenschaftlicher Ebene in der Politik widerspiegeln und einen Eindruck vom politischen Geist der Zeit im Hinblick auf Sittenstrafrecht und Inzestverbot geben. Die sechs gestellten Anträge weisen allesamt eine Milderungstendenz auf. Sie reichen von der Forderung nach einer völligen Streichung des strafrechtlichen Inzestverbots bis hin zu nur geringen Modifikationen hinsichtlich der Straffreiheit von Jugendlichen626. Eine vollständige Abschaffung des § 173 (im Entwurf § 290) forderten Abgeordnete der Fraktion der Kommunistischen Partei627. Abgeordnete der SPD- Fraktion forderten eine Beschränkung des Inzestverbots auf den Missbrauch eines Verwandten absteigender Linie zu »geschlechtlichen Handlungen«, also Straflosstellung des Geschwisterinzests, und eine Verringerung des Strafmaßes auf fünf Jahre Zuchthaus628. Weitere Anträge zielten auf eine Absenkung der Strafrahmen oder die Ausweitung der Straffreiheit für Jugendliche ab. Von Vertretern der Deutsch620 Zum Verlauf der Debatte s. u. unter B. V. 4. b). 621 Hiller, Forderungen zum Sexualstrafrecht, in: Die Neue Generation 1930, S. 109. 622 So wird u. a. die Streichung der Sodomie aus dem Entwurf und die Zustimmung hierzu von Seiten der Deutschnationalen hervorgehoben. 623 Hiller, Forderungen, S. 116. 624 Hiller, Forderungen, S. 116. 625 Protokoll der 83. Sitzung des 21. Ausschusses vom 11. Oktober 1929, abgedr. in: Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, Abt. 1, Bd. 3, Teil 3. 626 Protokoll der 83. Sitzung, S. 41. 627 Für die KP die Abgeordneten Alexander, Ewert und Maslowski. Protokolle der 83. Sitzung, S. 41. 628 Für die SPD die Abgeordneten Rosenfeld, Landsberg, Dittmann, Nemitz, Moses, Pfülf und Girbig. Protokoll der 83. Sitzung, S. 41.
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nationalen kam der Antrag, Straffreiheit für Jugendliche unter Streichung der Bedingung, dass sie verführt worden sind, fakultativ zuzulassen629. Die bereits im E 1919 vorgeschlagene Erhöhung des Strafrahmens auf zehnjähriges Zuchthaus wird von allen Vertretern zumindest als zweifelhaft und unter Hinweis auf die fehlende Begründung und die scharfe Kritik in der Literatur als überflüssig angesehen630. Überraschend erscheinen die Ausführungen eines Vertreters des Zentrums, der nicht etwa christlich-konservativ mit Gefahren für die Sittlichkeit argumentiert, sondern vielmehr darauf hinweist, dass die Blutschande in erster Linie als Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses aufgefasst werden müsse und nur sekundär als ein »Verbrechen gegen Familie und die Rassenhygiene« zu begreifen sei631. Weil aber der letztgenannte Aspekt auch berücksichtigt werden müsse, sei auch der Geschwisterinzest zu bestrafen632. Trotz der vom Zentrum vertretenen Weltanschauung solle auch die Straflosigkeit des Beischlafs in Schwiegerverhältnissen, wie der Entwurf sie vorsehe, beibehalten werden633. Im späteren Verlauf der Debatte relativiert der Zentrumsvertreter jedoch wieder seine zur Strafbegründung getätigten Feststellungen und betont, dass aus Sicht des Zentrums der eigentliche Strafgrund im Schutz der Sittenreinheit der Familie und der Verhütung von »allgemeinnachteiligen Folgen für den Volksnachwuchs« liege634. Der Vertreter der Kommunistischen Partei zeigt sich erstaunt darüber, dass die Kritik Mittermaiers635, namentlich sein Vorschlag zur Streichung der Norm, zu wenig Beachtung finde, und trägt dessen Argumentation im Einzelnen dem Ausschuss vor636. »Mit vollem Recht« habe Mittermaier ausgeführt, dass eine reine Unmoral bestraft würde, im Ausland vielfach Straflosigkeit bestehe und, solange nur Erwachsene beteiligt seien, kein Rechtsgut verletzt würde, so dass sich die Kommunisten dem Votum Mittermaiers anschlössen637. Eugenische Gesichtspunkte zum Strafzweck zu erheben, sei unverständlich, weil dieselben bürgerlichen Vertreter, die sie hier anführten, sie im Rahmen der Diskussion um den § 218 (Abtreibungsverbot) nicht in Ansatz brächten und auch sonst die Zeugung unter »Schwachsinnigen« und unter Erbkrankheiten Leidender nicht verboten sei638. Protokoll der 83. Sitzung, S. 41. Für die DNV die Abgeordneten Strathmann und Haneman. Abgeordneter Strathmann (DVP), Protokoll der 83. Sitzung, S. 41. Abgeordneter Schetter (Z), Protokoll der 83. Sitzung, S. 41. Abgeordneter Schetter (Z), Protokoll der 83. Sitzung, S. 41. Abgeordneter Schetter (Z), ebd. Abgeordneter Schetter (Z), ebd., S. 45. Die Schreibweise des Namens »Mittermaier« variiert häufig, in den Protokollen heißt es »Mittermayer«, an anderer Stelle »Mittermeyer«. Diese Abweichungen werden hier nur in direkten Zitaten wiedergegeben. 636 Abgeordneter Maslowski (KP), Protokoll der 83. Sitzung, S. 42. 637 Abgeordneter Maslowski (KP), ebd. 638 Abgeordneter Maslowski (KP), ebd. 629 630 631 632 633 634 635
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Mit Verweis auf die Straflosigkeit in Frankreich und anderen romanischen Ländern wird die Tauglichkeit des Aspekts der Familienreinheit zur Strafbarkeitsbegründung bestritten639. Anstatt über Strafmaße und Detailfragen zu reden, sei es erforderlich, die Sexualerziehung grundlegend unter Verzicht auf den Begriff der Sünde zu reformieren, die Wohnungsnot zu lindern, den Alkoholismus zu bekämpfen und durch soziale Fürsorge die Ursachen des Inzests zu bekämpfen; eine Gesellschaft, der es nicht gelänge, diese Ursachen wirksam zu bekämpfen, und die stattdessen bis zu zehn Jahre Zuchthaus verhänge, habe »das moralische Recht verloren, sich zu entrüsten«640. Auch der Vertreter der Sozialdemokraten beruft sich auf das Gutachten Mittermaiers, der »durchaus kein Sozialdemokrat und gewiß kein Kommunist« sei641. Man schließe sich dem Standpunkt der KP weitgehend an, möchte aber bei § 173 StGB nur den Geschwisterinzest straflos stellen, weil hierfür bloße eugenische Befürchtungen keinen hinreichenden Strafgrund darstellten, während die Strafbarkeit des Verwandtenbeischlafs absteigender Linie aus dem Gesichtspunkt des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses aufrecht erhalten werden solle642. In der Abstimmung wird der Streichungsantrag »mit großer Mehrheit« abgelehnt643. Der Antrag der SPD-Fraktion, den Abs. 2 und somit die Strafbarkeit des Geschwisterinzests zu streichen wird mit 14 gegen zehn Stimmen abgelehnt644. Zustimmung findet der Antrag, die Höchststrafe wieder von zehn auf fünf Jahre zu verringern und die obligatorische Straffreiheit von Jugendlichen ohne die Bedingung, der verführte Teil zu sein, auch auf Geschwister auszuweiten645.
c)
Zusammenfassung und Bewertung
Zunächst ist festzustellen, dass die Abschaffung der Strafbarkeit des Beischlafs in Schwiegerverhältnissen im E 1927 von Vertretern aller Parteien gebilligt und weder vom Zentrum noch von den Deutschnationalen in Frage gestellt wurde. Dieser Konsens wäre ohne die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten auch Gesetz geworden. Der Debattenverlauf zeigt deutlich, dass eugenische Gesichtspunkte sehr stark Eingang in die parlamentarische Diskussion gefunden und selbst beim katholisch-konservativen Zentrum die Familienreinheit als zentrales Motiv der Strafbegründung abgelöst haben. Auch der Begriff von der 639 640 641 642 643 644 645
Abgeordneter Maslowski (KP), ebd. Abgeordneter Maslowski (KP), ebd. Abgeordneter Rosenfeld (SPD), Protokoll der 83. Sitzung, S. 42. Abgeordneter Rosenfeld (SPD), ebd. Protokoll der 83. Sitzung, S. 45. Ebd. Ebd.
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(weiblichen) Geschlechtsehre ist taucht nicht mehr auf. Obwohl mit Ausnahme des Zentrums alle Vertreter den Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses in den Vordergrund stellen und deshalb auch die Einordnung der Blutschande als ein Vergehen gegen die Person befürworten, hält man aus Gründen der Volksgesundheit an einer Strafbarkeit des Beischlafs zwischen erwachsenen Geschwistern fest. Es ist allerdings hervorzuheben, dass hinsichtlich dieser Konstellation der Streichantrag der SPD-Fraktion nur mit einer knappen Mehrheit abgelehnt worden ist. Der blinde Glaube an die Rassenhygiene kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass selbst die SPD, obwohl sie grundsätzliche Zweifel an der Tauglichkeit dieses Strafzwecks äußert, ein medizinisches Gutachten zu den Folgen des Inzests zitiert, um darzulegen, dass nachteilige Auswirkungen nicht bewiesen seien und es sogar möglich sei, dass »die Inzucht eines der besten Mittel zur Hochzüchtung auch des menschlichen Geschlechts« sein könne646. Erstaunlich ist, dass die Empfehlung Mittermaiers, obwohl mehrfach vorgetragen, nicht näher diskutiert wurde. Auch die Fraglichkeit der Verletzung eines Rechtsguts wird nur von den Kommunisten thematisiert; so sehr in der Rechtswissenschaft um diesen Begriff gestritten wurde, so wenig hat die Politik ihn zur Maßgabe der Gesetzgebung gemacht. Auffällig ist ferner, dass, wie schon bei den Beratungen der Entwürfe zum Pr.StGB, Liberalisierungs- und Milderungsforderungen hinsichtlich des Sittlichkeitsstrafrechts vor allem von der politischen Linken ausgingen. Wie schon 1848 forderten auch 1930 Vertreter des linken politischen Spektrums eine Abschaffung der Strafbestimmungen über die Blutschande bei gleichzeitiger Intensivierung der sozialen Fürsorge und des sozialen Wohnungsbaus. Der Diskurs über das Erfordernis der Inzeststrafbarkeit ist also weiterhin mehr ein politischer denn ein rechtswissenschaftlicher, wobei allerdings stärker als noch in Preußen medizinisch-naturwissenschaftliche statt moralischer Erwägungen in den Vordergrund gerückt sind. Die Reformbewegung zur Liberalisierung des Strafrechts, jenes Bündnis aus Wissenschaft und politischen Splittergruppen, dessen Engagement oben geschildert wurde, konnte sich – im Hinblick auf 1848 muss man sagen: erneut – nicht durchsetzen. Dies lag indes nicht an der Radikalität ihrer hinsichtlich des Sittlichkeitsstrafrechts erhobenen Forderungen oder ihrer Minorität im Parlament. Sicherlich waren nicht alle Positionen mehrheitsfähig, aber man hatte in den parlamentarischen Ausschüssen bereits bedeutende Fortschritte erreicht. Unter »normalen« parlamentarischen Umständen kann sicher davon ausgegangen werden, dass Anfang der 1930er Jahre ein im Hinblick auf die Sittlichkeitsdelikte wesentlich liberaleres Strafrecht, das jedenfalls den Verschwägertenbeischlaf nicht länger pönalisiert hätte, Realität geworden wäre. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hat die Reformbewegung vernichtet, 646 Abgeordneter Rosenfeld (SPD), Protokoll der 83. Sitzung, S. 43.
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ihre zwölfjährige Herrschaft den gesellschaftlichen Diskurs hierüber abgewürgt und des Verbleiben zahlreicher iher Vertreter in wichtigen Entscheidungspositionen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik ein Wiederaufleben oder gar eine rasche Rezeption dieser Ideen erschwert. Erst zu Beginn der 60er Jahre wurden die modernen Reformkonzepte wieder aufgegriffen. Die Anknüpfung an das Sittlichkeitsstrafrecht von 1871 nach 1945 kann entsprechend nicht als Kontinuität begriffen, sondern muss vielmehr als Bruch in der Entwicklung angesehen werden647. Es zeigt sich ferner, dass bereits in der Weimarer Republik der Einsatz von Strafrecht zur Erreichung bevölkerungspolitischer Ziele anerkannt wurde und sich auch ohne Beteiligung der Nationalsozialisten als ein mehrheitlich akzeptierter Gedanke durchgesetzt hat. Die Haltung, mit Mitteln des Strafrechts unter erheblicher Einflussnahme auf die individuelle Lebensgestaltung (gesellschaftspolitische) Ziele zu erreichen, wird dabei auch von der Unbestimmtheit des Rechtsgutsbegriffs begünstigt, da zum Rechtsgut stets das erhoben werden kann, was aus Sicht des Staates ein legitimes Ziel darstellt. Hießen diese Ziele zunächst noch »die Sittlichkeit der Familie« und später »die Gesundheit der Nachkommenschaft« so war der Schritt nicht mehr weit, auch die Lebenskraft und Überlegenheit der arischen Rasse mit Mitteln des Strafrechts zu sichern. In Strafrechtswissenschaft und Politik waren also jene Fundamente bereits angelegt, auf denen die verheerenden Auswirkungen dieser Geisteshaltung gedeihen konnten.
VI.
Sittlichkeit und Strafrecht im Nationalsozialismus
Die Zeit von 1933 – 1945 soll im Rahmen dieser Arbeit keine ausgeprägte Beachtung finden, da sich zum einen die hier zu betrachtenden Normen nicht entscheidend verändert haben und zum anderen eine vollständige Darstellung des Einflusses des Nationalsozialismus auf das Strafrecht und die Sittlichkeitsdelikte Gegenstand einer eigenen Arbeit sein müsste. So, wie unter Strafrechtshistorikern die These vertreten wird, dass die Zeit von 1933 – 1945 einen derartigen methodischen Bruch innerhalb der Rechtswissenschaft bedeute, dass eine sinnvolle Einordnung in die Rechtsentwicklung unmöglich sei648, muss
647 Anders das Gutachten des MPIR, vgl. Gutachten, S. 4. Das BVerfG orientiert sich ausschließlich an den Regierungsentwürfen und würdigt insofern zumindest den Diskussionsstand zu § 173 StGB während dieser Zeit nur eingeschränkt, vgl. BVerfGE 120, S. 224 (225 f.). 648 Hierzu Vogel, Einflüsse des Nazionalsozialismus auf das Strafrecht, in: ZStW 2003, S. 638 (645) mwN. Zum Kontinuitätsproblem und der Rolle der Rechtsphilosophie während der
Sittlichkeit und Strafrecht im Nationalsozialismus
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auch hier dieser Diskontinuität Rechnung getragen werden. Dennoch soll auch für diese Zeit dargestellt werden, wie sich die bereits während der 20er Jahre beginnende Durchdringung des Strafrechts mit sozialdarwinistischem Gedankengut fortsetzte und radikalisierte. Die Nationalsozialisten strebten eine völlig neue Strafrechtsordnung an, die ausschließlich auf dem Gedanken der Stärkung von Volk und Rasse beruhen und nicht länger an Dogmatik und System der Rechtswissenschaft, wie wir sie kennen, geknüpft sein sollte. Dieser Anspruch wurde auch von führenden Rechtswissenschaftlern der Zeit vertreten649, so lobt Friedrich Schaffstein 1934 diesen revolutionären Ansatz und spricht dem nationalsozialistischen Strafrecht einen Geist zu, der »…sich nicht scheut, auch auf dem Gebiet der Strafgesetzgebung die Bahnen zu verlassen, die hier wie sonst die Aufklärung und ihre liberalen Nachfahren für alle Ewigkeit vorgezeichnet zu haben schienen«650.
Logische Folge des Einschlagens dieser Bahn war auch die Abkehr vom Begriff des Rechtsgutes, der durch den der »Volksschädlichkeit« eines Handelns ersetzt wurde. Im ersten Band des in »Deutsches Strafrecht« umfirmierten ehemaligen Archiv Goltdammers feiert der neue Herausgeber der Zeitschrift und wohl berüchtigtste Jurist des »Dritten Reichs«, Roland Freisler, die Kaperung der Gesetzgebung durch die Nationalsozialisten und stellt dabei explizit die Abkehr von der Rechtsgutslehre als ein wesentliches Ziel des »neuen Strafrechts« heraus: »Der Einzelne kann überhaupt nicht unter dem Gesichtspunkte eines Rechts oder eines Bündels von Rechten, die ihm unter der Gesamtheit zustehen, betrachtet werden, sondern einzig und allein unter dem Gesichtspunkt der Organstellung, die ihm in der Gesamtheit zukommt. Wo bisher Rechte Einzelner die Grundlage der normativen Regelung der Lebensverhältnisse bildete, muss jetzt der Begriff der Aufgabe, der Organschaft, grundlegender Rechtsbegriff werden, und diesem Rechtsbegriff gibt tiefste Grundlage der Gedanke der Pflicht, in ihm sind Rechte nur als Befugnisse denkbar, die als Mittel zur Pflichterfüllung rechtlich bedeutungsvoll sind. […] Ein solches Strafrecht muß ferner sich dessen bewußt sein, daß es im Grunde nur ein Gut gibt, das zu schützen es bestimmt ist: Das Leben des Volkes. Es muss daher wissen, daß alle geschützten Güter nur Erscheinungsformen des einzigen schutzwürdigen Gutes, des Volkslebens, sind«651. NS-Zeit vgl. auch Schröder, Zur Legitimationsfunktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus. 649 Statt vieler sei hier lediglich als einer der bis in die Gegenwart bedeutendsten Dogmatiker Karl Larenz mit seiner Schrift Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (1934) genannt, wo es auf S. 38 heißt: »Der Nationalsozialismus hat in Deutschland eine neue, die spezifisch deutsche Rechtsidee zur Geltung gebracht […] völkisch und blutsmäßig bedingt«. 650 Schaffstein, in: ZStW 1934 (Bd. 53) S. 603. 651 Freisler, S. 5 f.
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Dem Strafrecht komme eine »große volkserzieherische Aufgabe« zu, es müsse daher »jedem Volksgenossen vor Augen halten, wie er als Glied des Volksganzen zu handeln hat und wie er nicht zu handeln hat«652. Freisler betont ferner ausdrücklich die Einheit von Recht und Sittlichkeit im nationalsozialistischen Strafrecht: »Uns Nationalsozialisten muss dieses Strafrecht mehr sein, viel mehr : Der Ausdruck der sittlichen Haltung des Volkes selbst!«653.
Die Errungenschaften der Aufklärung und der auf ihr beruhenden Rationalisierung des Strafrechts – und insbesondere des Sittenstrafrechts – wurden nach 1933 immer stärker zurückgedrängt. Das Strafrecht stellte nunmehr ein bloßes Mittel zur Durchsetzung des politischen Willens dar, so dass auch die individuelle Lebensgestaltung des Einzelnen während dieser Zeit vom Gesetzgeber nicht als ein das Strafrecht tangierender Faktor angesehen wurde. Durch das Hinzutreten dieses Aspekts der vollständigen Unterordnung des Individuums unter den Willen der »Volksgemeinschaft« besteht für eine produktive Analyse des Verhältnisses von Staat und Privatheit während dieser Zeit wenig Raum. Der Begriff von der »sittlichen Haltung des Volkes« bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als die Abkehr von der Wissenschaftlichkeit des Rechts, weil der Inhalt des Begriffs von der sittlichen Empfindung des Volkes stets derjenige ist, der hineingelegt wird. Im konkreten Fall also die nationalsozialistische Ideologie. Die völlige Usurpation des Privaten durch den Staat bedingt letztlich das Verschwinden der Reibungsfläche und erübrigt insofern eine weitergehende Darstellung. Wie rasch und massiv die Negation alles Individuellen und Privaten als Maßgabe der Gesetzgebung sich auf die Lebenswirklichkeit auswirkte, zeigen das am 01. 01. 1934 in Kraft getretene (und erst 1978 außer Kraft gesetzte!) »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«654, das Zwangssterilisierungen legalisierte, das »Gesetz zum Schutze deutschen Blutes und deutscher Ehre«655, das Heirat und außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden unter Strafe stellte, und das »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes«656, mit dem Ehetauglichkeitszeugnisse eingeführt wurden, um die Vererbung von Krankheiten zu verhindern. In dem »Entwurf zum kommenden Strafrecht« von 1936 heißt es zum 8. Abschnitt »Angriffe auf die Sittlichkeit«, dass die Vorschriften eine »Gesundung des geschlechtlichen Verkehrs« bewirken und eine Gefährdung der »richtigen 652 653 654 655 656
Freisler, S. 5. Ebd. Gesetz vom 14. 07. 1933, verkündet im RGBl. I, S. 529. Gesetz vom 15. 09. 1935, verkündet im RGBl. I, S. 1146 (Blutschutzgesetz). Gesetz vom 18. 10. 1935, verkündet im RGBl. I, S. 295 (Ehegesundheitsgesetz).
Sittlichkeit und Strafrecht im Nationalsozialismus
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sittlichen Haltung des Volkes« verhindert werden sollten657. Während der Herrschaft der Nationalsozialisten wurde die Vorschrift des § 173 RStGB nicht wesentlich verändert. Lediglich die Strafbarkeit des Beischlafs unter Verschwägerten wurde leicht abgemildert658. Nach dem Entwurf von 1936 sollte die Strafbarkeit des Verschwägertenbeischlafs sogar völlig gestrichen und die Straflosigkeit unter 18-jähriger auch auf Geschwister ausgedehnt werden659. Der Entwurf ist jedoch nie in Kraft getreten. In der »Denkschrift des Preußischen Justizministers« zum nationalsozialistischen Strafrecht wird darauf hingewiesen, dass es »in erster Reihe die Abwehr von Erbgefahren aus Inzucht« sei, die die Strafbarkeit bedinge660. Daneben liege der Strafzweck aber auch darin, solche als anstößig empfundene Verbindungen zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie und Geschwistern zu unterbinden661. Obwohl die Vermutung naheliegt, dass die Nationalsozialisten den Tatbestand der Blutschande wie so viele andere Tatbestände – vor allem bei den sog. Rassendelikten – erweitern oder zumindest seinen Anwendungsbereich erweitern würden, lässt sich solches nicht feststellen. Im Gegenteil fordert selbst Kerrl in seiner Denkschrift, dass neben den genannten Schutzgründen sich weitere Aspekte für die Strafbarkeit nicht finden ließen und dass deshalb auch der Verschwägertenbeischlaf wie schon in den letzten Entwürfen der Weimarer Zeit in einem neuen Strafgesetzbuch nicht vorkommen solle. Bemerkenswert erscheint insofern ferner, dass trotz der Aufhebung des Analogieverbotes Versuche der Staatsanwaltschaft, auch andere unzüchtige Handlungen als den Beischlaf unter § 173 zu fassen, fehlschlugen. In einem Fall aus dem Jahr 1937 hatte sich ein Vater von seiner Tochter mehrfach geschlechtlich befriedigen lassen, ohne dass jemals der Beischlaf vollzogen wurde. Weil auch die Familienreinheit durch § 173 geschützt sei und diese durch Unzucht genauso verletzt wurde wie durch Beischlaf, könne es keinen Unterschied machen, ob der Beischlaf oder eine ähnliche Handlung vollzogen worden sei, argumentierte die Staatsanwaltschaft662. Das Reichsgericht lehnte diese Argumentation aber ab, weil auch der Entwurf des neuen StGB an 657 Gleispach, Angriffe auf die Sittlichkeit, in: Das kommende deutsche Strafrecht Besonderer Teil, S. 195. 658 Die Vorschrift des § 214 des Entwurfs eines Allgemeinen StGB 1936, wonach der Beischlaf zwischen Verschwägerten nicht mehr bestraft werden sollte, wenn die Ehe, auf der die Schwägerschaft beruhte zum Tatzeitpunkt erloschen war, wurde gem. § 4 DurchfVO zum Gesetz über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften und die Rechtsstellung von Staatenlosen (RGBl I, S. 417) geltendes Recht. 659 Gleispach, Angriffe auf die Sittlichkeit, in: Kommendes deutsches Strafrecht Besonderer Teil, S. 203. 660 Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht (Denkschrift des Preußischen Justizministers), S. 68. 661 Ebd. 662 RGSt 71, S. 196.
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der Beschränkung auf den Beischlaf festhalte663. In einem ähnlich gelagerten Fall wurde 1939 ein Urteil des LG Bielefeld, dass jedenfalls beischlafähnliche Unzuchtshandlungen tatbestandlich i. S. d. § 173 seien, vom RG mit gleicher Begründung aufgehoben664. Der Umstand, dass die Nazis weder eine Verschärfung der Vorschriften anstrebten noch in der Praxis den Anwendungsbereich des § 173 erweiterten, ist jedoch keinesfalls zu überschätzen. Er findet seine Ursache nicht in gesetzgeberischer oder richterlicher Zurückhaltung oder sonstigen wissenschaftlichen Motiven, sondern allein im Desinteresse des Regimes665. Die Debatten der 20er und frühen 30er Jahre wurden erst in den 60er Jahren wieder aufgegriffen.
VII.
Entwicklungen nach 1945
Nach 1945 gewannen in der Strafrechtswissenschaft insgesamt, und somit auch hinsichtlich der Sittlichkeitsdelikte, die Leitideen der Aufklärung und die Rechtsgutslehre wieder an Gewicht666. Dennoch blieb das eugenische Argument als Begründung der Inzeststrafe des § 173 bestehen667. 1953 wurde zwar der Beischlaf zwischen Verschwägerten für den Fall, dass die die Schwägerschaft begründende Ehe nicht mehr bestehe, straflos gestellt668. Der Geschwisterinzest wurde tatbestandlich beibehalten. Es ist festzustellen, dass die Rassen- und Rechtslehren des Nationalsozialismus zu dieser Zeit doch noch fester in der Rechtswissenschaft verankert gewesen sind, als es zuweilen den Anschein hat669. In der 1953 erschienenen Dissertation Wittmanns, die das Delikt der Blutschande aus kriminologischem Blickwinkel behandelt, klingt an einigen Stellen unvermittelt die Weltanschauung eines streng sozialdarwinistisch sozialisierten Rechtswissenschaftlers durch, indem er die Häufung der Blutschandedelikte in der Pfalz biologisch-völkisch zu erklären sucht: 663 RGSt 71, S. 196. 664 RGSt 73, S. 113 f. 665 Das Delikt der Blutschande wird bspw. im Entwurf von 1936 auf weniger als 1/3 Seite abgehandelt. 666 Hier ist insofern hervorzuheben die grundlegende Arbeit Herbert Jägers »Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten« (1957), auf die bis in die 1970er Jahre in der wissenschaftlichen Diskussion vielfach Rekurs genommen wurde. 667 Zum Verlauf des Streits zwischen Medizinern, Psychologen und Humangenetikern von 1900 – 1969 vgl. Maisch, Inzest. Für die Zeit nach 1945 ebd. S. 54 – 59. 668 BGBl. 1953, S. 735. Ferner konnte gem. des neu eingefügten Abs. 4 von Strafe abgesehen werden, wenn die häusliche Gemeinschaft der Eheleute, deren Ehe die Schwägerschaft begründete, aufgelöst oder Dispens vom schwägerschaftlichen Eheverbot erteilt worden war. 669 Zum Phänomen personeller Kontinuität vgl. Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, S. 132, Rn. 309 mwN.
Entwicklungen nach 1945
131
»Daneben wurde durch die Rassenmischungen, durch den Zuzug in den verschiedensten Zeiten – insbesondere Katastrophenzeiten – viel minderwertiges Menschenmaterial abgelagert, ein Grund der Kriminalität in der Pfalz überhaupt. […] Dieses Nebeneinander – das allgemein freie Denken über Verwandtenehen und der relativ hohe Prozentsatz schlechten Menschenmaterials – hat zur Folge, dass bei Hinzutreten weiterer durch die Umwelt bedingter Einflüsse besonders die minderwertigen Personen (diese stellen fast ausschließlich die Blutschänder), die im geschlechtlichen Verkehr zwischen Verwandten dritten Grades der Seitenlinie nichts Aussergewöhnliches finden, sich auch hemmungsloser mit Verwandten zweiten oder gar ersten Grades verbinden«670.
Das Delikt des § 173 StGB wurde in der Bundesrepublik bis zur Strafrechtsreform 1969 in der Rechtswissenschaft kaum näher betrachtet. Milderungstendenzen finden sich nicht, selbst bei der Modifikation der Strafbarkeit des Verschwägertenbeischlafs blieb man zunächst weit hinter den Entwürfen der 20er und 30er Jahre zurück.
1.
Die Beratungen der großen Strafrechtskommission
Während der 1950er Jahre wurde das Strafrecht von den schlimmsten Auswüchsen der nationalsozialistischen Ideologie befreit. Eine Überarbeitung des gesamten bundesdeutschen Strafkataloges, die sogenannte »Große Strafrechtsreform«, begann Mitte der 50er Jahre. Vom Justizministerium wurde 1954 eine 24-köpige Kommission eingesetzt, die bis 1959 Bestand hatte671. Aus der Arbeit dieser Kommission gingen die Entwürfe von 1960 und 1962 hervor, die hinsichtlich des Sexualstrafrechts eine Reihe von Änderungsvorschlägen enthalten und von denen letztgenannter die Basis für das 1969 vom Bundestag verabschiedete Reformgesetz darstellte. Die Vorschriften des Entwurfs wurden in der sog. Großen Strafrechtskommission beraten. Am 18. Juni 1958 wurde in der 87. Sitzung u. a. der Titel »Straftaten gegen Ehe und Familie« beraten. Diese Beratungen werden im Folgenden ausführlich dargestellt, weil sich hier in zahlreichen Beiträgen die für den Umgang mit dem Sittlichkeitsstrafrecht insgesamt charakteristische »Undogmatik« zeigt.
670 Wittmann, Blutschande, S. 196. 671 Zur Zusammensetzung der Kommission, ihrer Arbeitsweise und zu den Verstrickungen einer Reihe von Vertretern der Lehre in die Willkürjustiz des »Dritten Reichs« vgl. Scheffler, Das Reformzeitalter 1953 – 1975, in: Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen, Supplementband 1, 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, S. 174 (185).
132 a)
Hauptteil
Verwandtenbeischlaf
Zunächst wurden die vom Justizministerium erarbeiteten Reformvorschläge zum Delikt der Blutschande referiert. Dieser sah vor, das Delikt der Blutschande aus dem Abschnitt »Unzucht« herauszunehmen und in den Abschnitt »Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand zu überführen«672. Die Blutschande sei zwar ein Sittlichkeitsdelikt, aber »gleichzeitig, und wohl überwiegend« »gegen die sittliche Grundlage der Familie« gerichtet, weshalb es nach dem Vorbild des Art. 213 des schweizerischen StGB entsprechend einzuordnen673 sei hier Fußnote 673. Der Referent, Landgerichtsrat Dr. Sturm, erläutert zu Beginn der Sitzung die Gründe der Strafbarkeit der Blutschande, die von der Unterkommission festgestellt wurden. Seine Ausführungen erinnern stark an manche Beiträge aus der Diskussion von 1847/48 und zeigen, dass, sobald die Sprache auf den Inzest und die Gründe seiner Strafwürdigkeit kommt, sich Behauptungen mit Fakten mischen und eine Argumentation zu Tage tritt, die die Gefährlichkeit des Verwandtenbeischlafs affirmativ voraussetzt. So heißt es in der Erläuterung des Referenten: »Bei der Blutschande handelt es sich dem Unrechtsgehalt nach meist um ein sehr schweres Delikt. Sie hat, wie die Erfahrung lehrt, eine sehr hohe familienzerstörerische Wirkung und schafft Gefahren für die in blutschänderischem Umgang erzeugten Kinder. Diese sind außerdem für ihr ganzes späteres Leben mit einem Makel behaftet. […] Als Regelstrafe sollte daher […] Zuchthaus bis zu zehn Jahren angedroht werden«674.
Die Angemessenheit der Strafandrohung wird dann anhand von – zum Teil skurrilen –Beispielen belegt: »Wenn zum Beispiel ein Vater mit seiner Tochter jahrelang ein blutschänderisches Verhältnis unterhält und dadurch das Mädchen sittlich und moralisch völlig zugrunde richtet, kann durchaus eine Zuchthausstrafe zwischen fünf und zehn Jahren am Platz sein. Für minder schwere Fälle schlagen wir als Strafandrohung Gefängnis von einem bis zu fünf Jahren vor, da bei der Blutschande auch leichtere Fälle denkbar sind, in denen eine Zuchthausstrafe nicht angemessen wäre. Ich darf hier folgende Beispiele erwähnen: 1. Eine sonst ordentliche Familie lebt in sehr beengten Verhältnissen. Unter dem Einfluß dieser Verhältnisse kommt es eines Tages zum Beischlaf des Vaters mit seiner im gleichen Zimmer schlafenden Tochter. 2. Ein Vater hat eine erheblich miß-
672 Vorlage des Justizministeriums zur 87. Sitzung der großen Strafrechtskommission (Umdruck J 81), in: Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 621 f. 673 Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 621. 674 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission vom 18. 06. 1958, in: Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 358.
Entwicklungen nach 1945
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ratene Tochter. Eines Tages nützt diese den angetrunkenen Zustand des Vaters aus und veranlaßt ihn, mit ihr zu verkehren«675.
Die Erforderlichkeit einer Verdoppelung der Zuchthausstrafe von fünf auf zehn Jahre wird von verschiedenen Rednern mit dem Hinweis auf den enormen Unrechtsgehalt verteidigt, jedoch auch unter Hinweis auf die vermeintliche Tatsache, dass die Gerichte »nicht selten« die oberen Strafrahmen ausschöpften676. Die Straffreiheit für unter 18-jährige für Beischlaf in gerader Linie sollte nach dem Vorschlag der Unterkommission beibehalten und nach dem Vorbild des E 1927 auf minderjährige Geschwister ausgedehnt werden677. Diese geplante Ausdehnung der Straffreiheit für minderjährige Geschwister stieß jedoch auf erheblichen Widerstand aus dem Justizministerium678. In der folgenden Diskussion, an der unter anderem Karl Lackner, Eduard Dreher und Hans-Heinrich Jescheck beteiligt waren679, wurde die grundsätzliche Strafwürdigkeit der Blutschande nicht in Zweifel gezogen, Unstimmigkeiten herrschten über die Strafhöhe (Zuchthaus oder Gefängnis), die Frage von Straffreiheit für minderjährige Geschwister, darüber, welche Vorgaben die Norm hinsichtlich minder schwerer Fälle machen sollte und ob die Möglichkeit der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrecht erhalten bleiben sollte680. Jescheck wendet sich sowohl gegen die Androhung von Zuchthaus als auch gegen die Ausweitung der Straffreiheit auf jugendliche Geschwister, da er insofern das Bestehen und Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses auch durch minderjährige Geschwister nicht ausschließt681. Ferner müsse bedacht werden, dass durch die Vorschrift »nicht nur der Zerstörung der Familien« vorgebeugt, sondern auch ein »sexuelles Verbot« aufgestellt werden solle682. Die Erforderlichkeit der Strafandrohung wird hier also unter anderem damit begründet, dass ein Verbot errichtet werden solle. 675 Das Beispiel des von der frühreifen Tochter verführten betrunkenen Vaters führt auch Gallas als einen minder schweren Fall an, aaO, S. 360. 676 So der Senatspräsident Dr. Baldus während der 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 358, der jedoch diese Behauptung nicht belegt und im Verlauf der Diskussion sogar eine übergroße Milde der Gerichte im Umgang mit dem Straftatbestand beklagt, aaO, S. 360. Gegen die Zuchthausstrafe Jescheck, der die Blutschande nicht zur »Hochkriminalität« zählen möchte, 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 359. 677 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 359. 678 Dagegen aber u. a. auch Jescheck und Gallas, 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 359 f. 679 Anwesend, aber nicht an der Diskussion beteiligt waren u. a. die Professoren Hans Welzel, Eberhard Schmidt und Wilhelm Gallas sowie Herbert Tröndle. Dreher, Tröndle und Lackner waren Vertreter des Justizministeriums, während Welzel und Jescheck neben weiteren namhaften Professoren als Vertreter der Lehre der Kommission angehörtern. 680 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 358 – 362. 681 Jescheck während der 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 359 f. 682 Ebd.
134
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Herauszuheben ist ferner eine Äußerung des damaligen Ministerialrats Dr. Dreher, der das dem StGB zugrunde liegende Wertesystem und seine »sozialpädagogische Funktion« heranzieht, als er auf den Hinweis, dass Fälle von Beischlaf unter minderjährigen Geschwistern eher »Pubertätsverirrungen«683 seien und daher nicht vor das Strafgericht gehörten, erwidert: »Wir sind doch wohl alle der Meinung, daß im Strafgesetzbuch gewisse Werttafeln aufgerichtet werden sollen, und daß die sozialpädagogische Funktion des Strafgesetzbuches von besonderer Bedeutung ist, vor allem für die heranwachsende Jugend. Wie sehr muß die Vorstellung eines 17jährigen Jungen über die soziale Wertordnung verwirrt werden, wenn er wegen eines Diebstahls von 20,– DM angeklagt wird, ihm der Jugendrichter erklärt, daß er an sich wegen dieser Tat schon eine Jugendgefängnisstrafe gegen ihn verhängen könnte, er es jedoch noch einmal mit einer Erziehungsmaßregel genügen lassen wolle, während dem Jugendlichen in dem Fall, daß er mit seiner 15jährigen Schwester den Beischlaf vollzieht, gesagt wird, daß ein solches Verhalten nicht so bedenklich sei und daher nur der Vormundschaftsrichter mit ihm befasst werde. Eine solche Regelung führt doch dazu, dass die materiellen Güter überschätzt, die ideellen Werte aber unterschätzt werden«684.
Wie sehr das persönliche Empfinden der Debattenteilnehmer in die Diskussion einfloss, zeigt sich auch darin, dass ohne nähere Begründung konstatiert wird, dass »die von den Gerichten gegen Blutschänder verhängten Strafen zu niedrig« seien685. In der abschließenden Abstimmung entschied man sich schließlich mit 15 gegen fünf Stimmen für die Androhung von Zuchthaus bis zu zehn Jahren als Grundstrafe; der Antrag, die Worte »in absteigender Linie« aus dem Abs. 3 zu streichen, mithin die Einführung von Straffreiheit für minderjährige Geschwister fand eine Mehrheit von zwölf gegen acht Stimmen686.
b)
Verschwägertenbeischlaf
Die Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Verschwägerten in absteigender Linie wurde als § 380 der Vorlage im Anschluss an die Beratungen über den Verwandtenbeischlaf diskutiert. Hier wird gleich zu Beginn die Frage gestellt, ob diese Handlung den Entwürfen von 1927 und 1930 entsprechend gestrichen oder, dem Entwurf von 1936 folgend beibehalten werden sollte687. Obwohl die Mehrheit der Unterkommission für eine Streichung der Vorschrift gestimmt 683 Senatspräsident Dr. Baldus während der 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 361. 684 Ministerialrat Dr. Dreher, ebd. 685 So Dreher mit Verweis auf Baldus, ebd. 686 Ebd., S. 362. 687 Landgerichtsrat Sturm während der 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 362.
Entwicklungen nach 1945
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habe, sollte nach Ansicht der Sachbearbeiter die Vorschrift erhalten bleiben688. Zwar seien im Unterschied zum Verwandtenbeischlaf keine biologischen Motive für die Strafbarkeit gegeben, dennoch richte sich das angesprochene Verhalten ebenso gegen den Bestand der Familie. Wenn man sich nun darauf besinne, dass die Funktion des Tatbestandes gerade darin bestünde, »…den engeren Kreis der Familie von geschlechtlichen, die Familie zerstörenden Motiven freizuhalten«, könne man zu keinem anderen Ergebnis kommen689. Nach sehr kurzer Aussprache, bei der sich zwei Kommissionsteilnehmer für die Streichung der Vorschrift aussprachen, wurde gegen die Empfehlung des Justizministeriums die Streichung der Vorschrift bei 4 Gegenstimmen beschlossen690. c)
Sodomie
Neben der Blutschande wurden auch die anderen Sittlichkeitsdelikte in der Kommission beraten, auf die hier nur insofern eingegangen werden wird, als die Diskussion Einblick in das Selbst- und Deliktsverständnis der Kommission mit Blick auf Abgrenzung von Strafanspruch und Privatsphäre erlaubt. Hervorgehoben werden soll in diesem Zusammenhang die sehr kurze Beratung über den § 365 der Vorlage, über das Verbot der Unzucht mit Tieren. Die Vorschrift war im E 1930 gestrichen worden691. Die Kommission beriet die Frage, ob das neue StGB eine derartige Strafandrohung enthalten solle oder nicht und ob im Falle ihres Erhalts die Bedingung der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses in den Tatbestand aufzunehmen sei. Mit deutlicher Mehrheit stimmte die Kommission für die Beibehaltung der Vorschrift und gegen das Erfordernis der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses692. Hier wurde das Erfordernis einer derartigen Strafnorm im abschließenden Debattenbeitrag des Ministerialrates Simon unwidersprochen artikuliert: »Man muß in erster Linie die Schwere des Deliktes beurteilen bei der Frage, ob es strafwürdig ist, oder nicht, und da, muß ich sagen, halte ich diese Tat doch für so abscheulich, daß sie mir strafwürdig erschient. Das Delikt verstößt in solchem Maße gegen die Menschenwürde, daß man auch nicht auf Öffentlichkeit oder Ärgerniserregen abstellen sollte«693.
688 Landgerichtsrat Sturm, ebd. 689 Landgerichtsrat Sturm während der 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 363. 690 U.a. für eine Beibehaltung stimmten Welzel und Jescheck, 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 363. 691 S.o. unter B. V. 4. 692 82. Sitzung vom 28. 04. 1958, in: Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 239. 693 Ebd.
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Hauptteil
Nach diesen Ausführungen bemisst sich der Grad der Strafwürdigkeit einer Handlung also nach dem Maß der vom Gesetzgeber dagegen empfundenen Abscheu. Die Beschlüsse der Kommission wurden 1960 in einem Gesamtentwurf zusammengefasst und mit einer Begründung des Justizministeriums versehen der Bundesregierung übergeben, die ihn beschloss und dem Bundesrat vorlegte694.
2.
Der E 1960
Der Entwurf von 1960 enthält hinsichtlich der Blutschande ein überraschendes Ergebnis, denn er spiegelt nicht die Beschlüsse der großen Strafrechtskommission wider. Die von einer Mehrheit der Kommission befürwortete Ausdehnung der Straffreiheit auf minderjährige Geschwister695 wurde nämlich nicht aufgenommen696. Zur Begründung wird angeführt, dass zwischen Geschwistern grundsätzlich kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, wie es bei Verwandten in absteigender Linie gegeben sei, und dass »diese Taten auch so schwer wiegen [können], dass auf ihre Bestrafung nicht verzichtet werden« könne697. Die Begründung für die abgelehnte Beschränkung des Tatbestandes ist somit diejenige des schon bei den Kommissionsberatungen dagegen votierenden Justizministeriums, kombiniert mit der von Dreher angeführten Notwendigkeit des Schutzes ideeller Werte im StGB698. Warum nicht dem Mehrheitsbeschluss der großen Strafrechtskommission gefolgt wurde, kann an dieser Stelle nicht erhellt werden, da keine Dokumente vorliegen, die den Verfahrensgang nach dem Abschluss der Kommissionsberatungen und dem begründeten E 1960 dokumentieren. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass sich die Bundesregierung dem Votum des Justizministeriums angeschlossen und hiergegen keine Intervention der Mehrheitsvertreter aus der Kommission stattgefunden hat. Die Verdoppelung der Zuchthausstrafe von fünf auf zehn Jahre sowie die übrigen Beschlüsse der Kommission wurden übernommen699. Die Verdoppelung der angedrohten Höchststrafe wird in der Begründung zum Entwurf mit dem »grundsätzlich hohe[n] Unrechtsgehalt« der in absteigender Linie begangenen
694 Weber, Strafrechtsreform, in: Handwörterbuch der Kriminologie, Bd. 5, S. 40 (43). 695 S.o. unter B. VII. 2. 696 Vgl. Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) E 1960 mit Begründung, § 192, Bundesratsdrucksache 270/60, S. 321 f. 697 E 1960, BR-Drs. 270/60, S. 322. 698 Ebd., S. 320 f. 699 E 1960, BR-Drs. 270/60, S. 320.
Entwicklungen nach 1945
137
Blutschande sowie »mit Rücksicht auf leicht denkbare schwerste Taten« gerechtfertigt700.
3.
Der E 1962
Im Entwurf von 1962 wurde das Schutzalter von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt, im Übrigen wurde der Wortlaut des E 1960 beibehalten, im zweiten Titel, »Straftaten gegen Ehre, Familie und Personenstand« heißt es unter § 192: (1) Wer mit einem Verwandten absteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Gefängnis von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Ein minder schwerer Fall ist ausgeschlossen, wenn der Verwandte absteigender Linie noch nicht sechzehn Jahre alt ist. (2) Wer mit einem Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. Ebenso werden Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen. (3) Verwandte absteigender Linie, die zur Zeit der Tat noch nicht sechzehn Jahre alt waren, sind straffrei. Im dritten Titel, »Straftaten gegen die Sittlichkeit« wurde die »Unzucht mit Tieren« in § 218 geregelt: »Wer mit einem Tier eine beischlafähnliche Handlung vornimmt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft«. Der E 1962 bildete die Grundlage einer breiten Debatte zur Reform des Sexualstrafrechts, während der auch viele Elemente der Weimarer Reformzeit wieder aufgegriffen wurden. Es wurde dabei auch die dieser Arbeit zugrunde liegende rechtsphilosophische Grundsatzfrage, was das Strafrecht schützen soll und wie weit es dabei gehen darf, neu aufgeworfen und der Begriff des Rechtsgutes als Abgrenzungskriterium zur Bestimmung dieser Bereiche neu belebt.
4.
Kritik und wissenschaftliche Diskussion bis 1969
a)
Belebung des Rechtsgutsbegriffs durch Jäger
Die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Staat und Privatheit im Bereich der Sittlichkeits- und Sexualdelikte wurde seit Mitte der 50er Jahre neu und nach Veröffentlichung der Entwürfe 1960 und 1962 mit neu erwachter Intensität ge700 Ebd., S. 322 f.
138
Hauptteil
führt. Bereits 1957, also zu einer Zeit, in der die Große Strafrechtskommission ihre Arbeit gerade aufgenommen hatte, befasste sich Herbert Jäger mit dem Begriff des Rechtsgutes, seinen Inhalten und seiner Funktion bei der Begründung und Begrenzung von Strafnormen im Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts701. Dass die geschlechtliche Sittlichkeit kein vom Strafrecht zu schützendes Gut ist, wurde bereits in früheren Zeiten hinreichend betont. Jägers Verdienst besteht jedoch darin, dass er untersucht, ob dem Begriff der Sittlichkeit nicht auch Rechtsgutscharakter zukommen könne. Dies sei jedoch aus drei Gründen nicht der Fall: zum einen, weil die Sittlichkeit »nicht, wie wir es für den Begriff des Rechtsguts voraussetzen, eine empirische Wirklichkeit ist, sondern eine Wert- und Normenordnung«. Zum anderen fehle ihr die Verletzbarkeit, also »die Eignung, Gegenstand krimineller Schädigungen zu sein«702. Schließlich sei etwas, das der »Wandelbarkeit und Relativität« ausgesetzt und damit »in Fluss« sei, »nicht allgemein verbindlich zu bestimmen« und könne daher unmöglich ein Rechtsgut sein703. Mit Blick auf die während der Beratungen der großen Strafrechtskommission u. a. von Welzel vertretenen Auffassung, bei § 173 StGB ginge es auch um die Wahrung einer »sexualfreien Sphäre«704, weist Jäger treffend darauf hin, dass derartige Begründungsansätze nur negative Tatbestandsumschreibungen seien, die lediglich das durch die Norm aufgestellte Verbot wiederholten; so wenig, der Zweck, eine »mordfreie Zone« zu schaffen geeignet sei, das Schutzgut »Leben« zu umschreiben, sei der Begriff der sexualfreien Zone geeignet, das Schutzgut von Sittlichkeits- oder Sexualdelikten zu charakterisieren705. Jäger stellt fest: »Wir müssen im Strafrecht also noch andere Motivationen vermuten als den Rechtsgüterschutz. Es scheint so, als führe das Gesetz auf gänzlich verschiedenartige Quellen zurück, als mische sich in seinen Normen moderne Sozialbetrachtung mit archaischen Wertbegriffen, Zweckmäßiges mit kaum noch Erklärbarem«706.
Hinsichtlich des § 173 StGB konstatiert Jäger eine »motivische Undurchsichtigkeit«, die durch das Hinzutreten einer gewissen Affektivität, mit der das Problem dieses Tatbestandes behandelt werde, zu »seltsamen Motivvermischungen« führe707. Weil eine eindeutige ratio legis nicht mehr erkennbar sei und rationale Begründungsansätze – vor allem der Schutz vor erbbiologischen Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten. Jäger, S. 39. Ebd. Ein ähnlicher Hinweis auf die Motivierung des § 173 StGB durch die Errichtung eines »sexuellen Verbots« kommt auch von Jescheck während der Beratungen der Großen Strafrechtskommission, s. o. 705 Jäger, S. 39. 706 Ebd. 707 Ebd., S. 56. 701 702 703 704
Entwicklungen nach 1945
139
Schäden – lediglich im Laufe der Zeit nachgeschoben worden seien, zählt Jäger die Inzestbestrafung zu den »Atavismen« und »kultisch-sakralen Restbeständen«, deren Sinngehalt längst verloren gegangen sei708.
b)
Kritik an den Entwürfen
Mit den Beratungen der Großen Strafrechtskommission und den Entwürfen von 1960 und 1962 befasst sich eingehend Ernst-Walter Hanack709. Er konstatiert eine »Tendenz zur sittlichen Entrüstung«, die die Beratungen kennzeichne, und stellt fest, dass mit dem Abschluss der Großen Strafrechtsreform keineswegs »eine 70jährige Reformarbeit ihren Abschluss« gefunden habe, sondern lediglich »eine Plattform für weitere, intensivere Reformbemühungen« geschaffen worden sei710. Die im Bereich des Sexualstrafrechts erforderliche Begrenzung der Strafbarkeit sei nicht hinreichend angestrebt und die »Funktion des Strafrechts in der modernen Gesellschaft« – insbesondere im Bereich der Sittlichkeitsdelikte – zu häufig verkannt worden711. Diese Fehler in der Herangehensweise kämen – so z. B. bei der Sodomie – in fragwürdigen Normbegründungen zum Ausdruck: »Abzulehnen ist allerdings der bei den Beratungen und in der Amtl. Begründung häufig verwendete Gesichtspunkt, ein bestimmtes Verhalten werde in der Bevölkerung nun einmal als strafwürdig empfunden und müsse auch deswegen unter Strafschutz bleiben, weil ein Zurückweichen als (moralische) Wertentscheidung des Gesetzgebers selbst aufgefasst würde«712.
Nichts sei jedoch verhängnisvoller, als wenn das Volk im Strafrecht einen Sittenkodex »und in der widerwärtigen Figur des moralisierenden Richters seine moralische Instanz« erblicke713. Dennoch könne daraus nicht der Schluss gezogen werden, der Gesetzgeber sei dazu verpflichtet, nur die Verletzung »handfester« Rechtsgüter zu pönalisieren. Er sei nicht auf einen im Bereich der Sittlichkeitsdelikte wertlosen »fixierten Rechtsgutsbegriff« festgelegt, und es stehe ihm vielmehr frei, auch Schädigungen, Gefährdungen und »Handlungsunwerte von sozialer Unerträglichkeit« zu bestrafen714. Jedoch müsse jede Strafbestimmung, die nicht ein klar benennbares Schutzgut bezeichne, sehr 708 Ebd., S. 67 mwN. 709 Hanack, Die Straftaten gegen die Sittlichkeit im Entwurf 1962 (§§ 204 – 231 E 1962), in: ZStW 1965, S. 398 – 496. 710 Hanack, in: ZStW 1965, S. 398 (403). 711 Ebd., S. 398 (404). 712 Hanack, in: ZStW 1965, S. 398 (404). 713 Ebd., S. 398 (405). 714 Ebd.
140
Hauptteil
vorsichtig und präzise daraufhin geprüft werden, ob das unter Strafe gestellt Verhalten tatsächlich gemeinschädlichen Charakter habe715. Hierzu heißt es: »Im Übrigen liegt in der Schwierigkeit, das Gemeinschaftsschädliche eines Verhaltens zu erkennen und zu entscheiden, ob es deswegen strafbedürftig ist, das eigentliche Problem. Seine Lösung hängt in erster Linie davon ab und läßt der gesetzgeberischen Freiheit einen gewissen Spielraum«716.
Diese Formulierung Hanacks spiegelt im Wesentlichen ein seit 150 Jahren bestehendes Problem in der Strafrechtswissenschaft wider, nämlich die Tatsache, dass der Begriff des Rechtsgutes zwar – sofern es dem Gesetzgeber nützlich ist – sowohl zur Begründung als auch zur Begrenzung von Strafnormen herangezogen wird, obwohl sein genauer Inhalt niemandem bekannt, weil heillos umstritten ist, während gleichzeitig aber auch andere Gesichtspunkte zur Begründung oder Begrenzung von Strafbarkeit herangezogen werden können sollen, wenn »Gerechtigkeit« bei einer strikten Fixierung auf ein zu schützendes Rechtsgut nicht erreichbar scheint. Wie diese außerhalb des Rechtsgutsbegriffs liegenden Aspekte, die nach Hanack den Charakter der Sozialschädlichkeit eines Verhaltens im Sinne von Gemeinschaftsschädlichkeit ausmachen, legitimer Weise beschaffen sein sollen, liegt aber völlig im Dunkeln. Diese Art der Herangehensweise stellt einen Zirkelschluss dar, weil hiernach das Rechtsgut nur eine relative Schranke der Pönalisierung darstellt und zur Beschränkung der Ausnahmen hiervon – im Sinne einer »Schranken-Schranke« – letztlich wieder die gleichen Kriterien herangezogen werden müssen wie bei der Errichtung der eigentlichen Schranke selbst. Dass dies so ist, wird auch durch die Formulierung indiziert, dass es, sofern der Gesetzgeber kein »handfestes« Rechtsgut benennen könne, einer »intensiven«, »besonders sorgfältige[n]« und mit »besonderer Vorsicht« durchzuführenden Prüfung717 dieser Gesichtspunkte bedürfe. Sei also nach einer genauen Prüfung kein Rechtsgut benennbar, also weder ein Individuum noch die Allgemeinheit noch der Staat durch das in Rede stehende Verhalten verletzt oder gefährdet, könne eine noch genauere Prüfung dennoch ergeben, dass es irgendein schutzwürdiges Gut gebe, das vor Beeinträchtigungen durch eine Strafnorm geschützt werden müsse. So umschreibt man die Suche nach etwas Unbekanntem, das schon deswegen mit dem Bekannten identisch sein muss, weil es nur dann als das Gesuchte identifiziert werden kann, wenn es die gleichen Eigenschaften aufweist wie jenes. Die Suche vermag also kein anderes Ergebnis zu erbringen, als ihre Überflüssigkeit zu belegen. Das Inzestverbot wurde während der 60er Jahre zwar anlässlich der Straf715 Ebd. 716 Ebd. 717 Hanack, in: ZStW 1965, S. 405.
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rechtsreform diskutiert, jedoch nicht ausschließlich von Rechtswissenschaftlern. Auch Sozialwissenschaft und Philosophie haben die Reform des Sexualstrafrechts kritisch begleitet. Die Ergebnisse dieser lebhaften Diskussion können hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden718, jedoch hat das Zusammenspiel der Disziplinen nicht dazu geführt, dass der Rechtgutsbegriff entscheidend neu befruchtet oder die Grenzziehung zwischen Privatsphäre und Strafanspruch wesentlich erleichtert worden ist. Für das Beispiel der Blutschande findet sich zwar häufig der Hinweis auf die Untauglichkeit der Sittenordnung als Bezugspunkt für die Strafandrohung, paradoxerweise wird jedoch bei aller Kritik an der schwachen Begründung des Entwurfs mit Bezug auf die Blutschande festgestellt, dass hier ebenso wie bei der Vergewaltigung »niemand ernstlich an der Rechtfertigung einer scharfen Strafdrohung« zweifeln könne719. Viele Beiträge betonen jedoch, seien sie von Juristen, Philosophen oder Soziologen verfasst, die – wohl aus den Erfahrungen der »Nazizeit« sich speisende – Ablehnung jeder Berufung auf das »Volksempfinden« zur Normbegründung720. Jäger kritisiert die Haltung der Kommission, dass eine Strafnorm, deren Aufhebung in der Bevölkerung als explizite Billigung der ehemals pönalisierten Handlung durch den Staat aufgefasst werden könne, aus Furcht vor einer hierdurch entstehenden Diskreditierung der Rechtsordnung aufrechterhalten werden müsse721. In einer Gesamtschau bezeichnet Adorno das Auseinanderstreben der sich mehr und mehr von Tabus befreienden Sexualität und den diese Tabus konservierenden rückwärtsgewandten Ergebnissen des Entwurfs von 1962 im Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts als »Sabotage an der Aufklärung«, gegen die die progressiven Reformvorschläge »etwas ehrwürdig Suffragettenhaftes« hätten722. Insgesamt ist festzustellen, dass sich zwar eine namhafte Opposition in der Wissenschaft gebildet hatte, die eine deutlich weiter gehende Liberalisierung des Sexualstrafrechts forderte, aber die Ergebnisse des Entwurfs nicht entscheidend beeinflussen konnte.
718 Eine Beitragssammlung zur Reform des Sexualstrafrechts aus gemischt sozialwissenschaftlicher, rechtsphilosophischer und kriminalistischer Perspektive findet sich u. a. in Bauer, Bürger-Prinz, Giese, Jäger (Hrsg.) »Sexualität und Verbrechen«. 719 Klug, Rechtsphilosophische und rechtspolitische Probleme des Sexualstrafrechts, in: Sexualität und Strafrecht, S. 27 (30). 720 Statt Vieler hier Hochheimer, Sexualstrafrecht in psychologisch-anthropologischer Sicht, in: Sexualität und Verbrechen, S. 84 (93): »Der Rekurs auf ›das Volk‹ und ›die Wissenschaft‹ ist in seiner Verabsolutierung nicht nur fragwürdig, sondern falsch. Was ist im Volke nicht alles lebendig! Der Gesetzgeber – und wir müssen hierauf noch wiederholt zurückkommen – sollte sich als Begründung für seine Autorität nicht jeweils auf das berufen, was ihm vom Volksempfinden paßt.« 721 Jäger, Strafrechtsdogmatik und Wissenschaft, in: Sexualität und Verbrechen, S. 273 (282). 722 Adorno, Sexualtabus und Recht heute, in: Sexualität und Verbrechen, S. 299.
142 c)
Hauptteil
§ 173 StGB innerhalb der Liberalisierungsdebatte der späten 60er Jahre
Ende der 60er Jahre, kurz vor in-Kraft-Treten des 1. StRG erreichte die Diskussion um das Sittenstrafrecht ihren Höhepunkt. Hinsichtlich des § 173 StGB hat eine enorme Emotionalisierung der Debatte stattgefunden, in der sich Aspekte der Homosexuellenbewegung, der Frauenrechtsbewegung und der politischen Machtkämpfe dieser Zeit vermischten. Einmal mehr wurde eine sachlich-dogmatische Diskussion von diesen Aspekten überlagert, so dass die Neufassung des § 173 StGB im Schatten jener generalisierenden Liberalisierungsdebatten stattfand, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung um die Strafbarkeit der Homosexualität und des Ehebruchs stand. Der forensische Psychologe Herbert Maisch untersuchte 1968 das Inzestverbot aus psychologisch-kriminalistischer Perspektive723. Unter Bezugnahme auf eine Reihe medizinischer Studien, die während der 50er und 60er Jahre durchgeführt worden waren, um die erbbiologischen Auswirkungen inzestuösen Verkehrs zu untersuchen, kommt er hier zu dem Ergebnis, dass es unter Humangenetikern eine Übereinstimmung darin gebe, dass »der Inzest oder die Inzucht selbst keine erbbiologische Schädigung bei der Nachkommenschaft« verursache724. Eine erbbiologische Begründung der Norm sei daher zumindest »zweifelhaft«725. Dennoch wurde von zahlreichen namhaften Vertretern der Lehre an eben dieser Argumentation festgehalten726. Unter Berufung auf jene Argumente, die die Gegner der Inzeststrafbarkeit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Feld geführt hatten727, hält Maisch auch den Schutz der Familie nicht für ein taugliches Motiv der Strafnorm728, sondern erkennt einzig im Schutz der Jugend ein – wenn auch aufgrund der Missbrauchs- und Verführungstatbestände des StGB weitgehend überflüssiges – legitimes Schutzinteresse729. Er schlägt deshalb vor, aufgrund der »besonderen Gefährdungssituation«, lediglich den Geschlechtsverkehr von Erwachsenen mit jugendlichen Familienmitgliedern zu bestrafen730.
723 724 725 726 727 728 729 730
Maisch, Der Inzest. Maisch, Inzest, S. 57. Ebd., S. 58. So bspw. in den Lehrbüchern von Sturm (1959), Metzger/Blei (1964, Maurach (1964) und bei Schönke/Schöder (1965). S.o., insb. Mittermaier, Marcuse und Hiller. Maisch, Inzest, S. 60. Ebd., S. 63. Ebd., S. 63; mit der gleichen Kritik auch Hanack, Empfiehlt es sich, die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen?, A 29 Rn. 26.
Entwicklungen nach 1945
d)
143
Der Alternativentwurf 1968
Die wohl kräftigste und nachhaltigste Liberalisierungsforderung für das Sexualstrafrecht nach der Reformzeit der Weimarer Jahre stellt unbestritten der Alternativ-Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches von 1968 dar731. Darin hat eine Reihe namhafter Hochschullehrer Vorschläge zur Reform der im E 1962 als »Straftaten gegen die Sittenordnung« bezeichneten Tatbestände veröffentlicht. Der Alternativentwurf enthält ein eindeutiges Bekenntnis zum Rechtsgutsbegriff. So verzichtet der Entwurf mit der Begründung auf einen eigenen Abschnitt von Straftaten gegen die Sittenordnung, dass einer derartigen Bezeichnung die Gefahr anhafte, dass die hierunter zusammengefassten Straftaten »zu sehr unter moralisierenden Aspekten gesehen« würden und der »spezifischen Angriffsrichtung auf strafrechtlich schutzbedürftige Rechtsgüter« zu wenig Rechnung getragen würde732. Die Verfasser stellen in den Vorbemerkungen fest, dass im Bereich der Sittlichkeitsdelikte lediglich zwei Fallgruppen tatsächlich strafwürdig seien und weiterhin im Besonderen Teil erhalten bleiben sollten: Unter der Prämisse, dass nur gravierend sozialschädliches Verhalten strafrechtlich verfolgt werden dürfe, seien dies zum einen Angriffe auf Jugendliche, soweit dadurch deren Entwicklung gefährdet werde, und zum anderen solche Angriffe gegen Erwachsene, die mit Gewalt oder gravierenden Nötigungsmitteln durchgeführt würden oder sich als Missbrauch Wehrloser darstellten733. Zur Begründung heißt es: »Der im Vollbesitz seiner geistigen und seelischen Kräfte stehende erwachsene Mensch ist grundsätzlich für sich selbst verantwortlich. Er kann und braucht daher gegenüber Drucksituationen, die die Schwelle der Nötigung nicht erreichen, mit Mitteln des Strafrechts nicht geschützt zu werden. Alle Normierungen, die diese Schwelle überschreiten, greifen in unangemessener Form in den Intimbereich Erwachsener ein; sie stiften mit ihren vielfältigen Gefahren für eine moralisierende Bevormundung des Bürgers, ob er nun Täter oder Opfer ist, mehr Schaden als Nutzen. Das Strafgesetz kann gerade im Sexualbereich auch allgemein-moralische Zustände nicht um ihrer selbst willen schützen, ohne seine Funktion als äußerstes Mittel der Sozialpolitik zu verkennen und ohne den Bürger in bedenklicher Weise zu bevormunden«734.
Eine der zentralen Forderungen des Entwurfs besteht daher auch in der Streichung der »Unzucht zwischen Männern« aus dem StGB, weil durch die Pönalisierung homosexueller Verhaltensweisen kein Rechtsgut verletzt werde735. 731 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil, Sexualdelikte, Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand, Straftaten gegen den religiösen Frieden und die Totenruhe (1969). 732 AE 1968, S. 9. 733 Ebd. 734 Ebd. 735 AE 1968, S. 33.
144
Hauptteil
Unter Ablehnung der im E 1962 vorgebrachten Argumente tritt der Alternativentwurf auch für eine Streichung der »Unzucht mit Tieren« ein; die Annahme, dass der Täter durch sein Verhalten die menschliche Würde insgesamt verletze736, bedeutete, dem Strafrecht »moralisch-erzieherische Zwecke« zugrunde zu legen, und könne eine Strafandrohung mangels einer sozialen Gefährdung daher nicht rechtfertigen737. In den Vorbemerkungen zu den »Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand« äußern die Verfasser noch einmal deutliche Zweifel an der Annahme, dass das Strafrecht ein geeignetes Mittel zur Aufrechterhaltung moralischer Forderungen innerhalb rechtlicher Institutionen sei738. Gerade dort, wo intimste Lebensbereiche betroffen würden, müsse das ultima-ratio-Prinzip unbedingt gewahrt bleiben, weil das Strafrecht hier die »natürlichen Grenzen seiner Wirksamkeit« schnell erreiche und die Gefahr gefährlich ambivalenter Wirkungen besonders groß sei739. Auch hinsichtlich des Inzestverbots tritt der Alternativentwurf für eine vollständige Streichung der Norm ein740. Zunächst wird das Risiko erbbiologischer Schädigungen als nicht hinreichend belegt, als eine »vage Gefahr« bezeichnet741. Ferner wird das Bestehen einer Kausalität zwischen innerfamiliärem Beischlaf und der Destruktion der Familienstruktur bezweifelt. Vielmehr sei, wie die kriminologische Erfahrung belege, eine Inzestbeziehung nicht Ursache, sondern Folge gestörter Familienverhältnisse742. Die angedeutete Gefahr negativ-ambivalenter Wirkungen der Strafandrohung realisiere sich gerade bei der Inzeststrafbarkeit insofern leicht, als »die abschreckende Wirkung der Strafvorschrift im allgemeinen gering« sei, »umgekehrt aber gerade durch das Strafverfahren ein vorhandener Schaden nicht selten vertieft« werde743. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass einer Bedrohung für Ehe, Familie und Angehörige nicht effektiv entgegengewirkt werden könne, wenn die Tathandlung auf den Beischlaf beschränkt sei744. Der Inzest zwischen erwachsenen Geschwistern schließlich stelle vielmehr »tragische Einzelfälle« und kaum eine Bedrohung für die Familie dar, so dass vor allem hier eine Strafdrohung ungerechtfertigt erscheine745.
736 737 738 739 740 741 742 743 744 745
Hierzu vgl. oben die Ausführungen zum E 1960 unter B. VII. 2. Ebd., S. 37. AE 1968, S. 59. AE 1968, S. 59. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
Entwicklungen nach 1945
e)
145
Zusammenfassung
Die Reformzeit der 60er Jahre belebte die Debatte über die richtige Grenzziehung zwischen privater Lebensgestaltung und öffentlichem Strafanspruch deutlich. Die Reformideen der Gründerzeit und der 20er Jahre wurden neu diskutiert und einige namhafte Vertreter der Wissenschaften traten an vielen Stellen und so auch bei der Blutschande für eine Liberalisierung des Strafrechts ein. Die Große Strafrechtsreform, bzw. die hierfür zuständige Kommission, war jedoch eindeutig konservativ geprägt. Die Beratungen zu § 173 StGB unterscheiden sich nur in Nuancen von denen im Preußischen Ständischen Ausschuss, sie sind geprägt von Beispielsfällen, die die Strafwürdigkeit illustrieren solle,n und einem zwischen den Zeilen zu ahnenden Unwillen, ein selbstverständliches Verbot von Abscheulichkeiten detailliert zu begründen. Wie schon in früheren Zeiten setzte sich im Zweifel das traditionell-bewahrende Element gegenüber der progressiv-liberalen Strömung durch. Die Beratungen über Sodomie und Blutschande zeigen klar, dass bei dogmatisch zweifelhaften Normen die Frage nach der Strafbarkeit nicht stringent wissenschaftlich, sondern vielmehr nach dem bloßen Willen der restaurativen Mehrheit der Kommission beantwortet wurde. Dieses Vorgehen wurde allerdings auch dadurch begünstigt, dass es innerhalb der Rechtswissenschaft nicht gelungen war, den Rechtsgutsbegriff hinreichend klar zu bestimmen. Die Bemühungen vor allem Jägers um eine Weiterentwicklung und bessere Konturierung des Rechtsgutsbegriffs waren insofern nicht von Erfolg gekrönt. Im Entwurf von 1962 bezieht die Bundesregierung hierzu eine Position, die das BVerfG in dem jüngsten Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 StGB ebenfalls vertritt: »Der Standpunkt, daß eine Strafandrohung nur da berechtigt sei, wo der Schutz eines bestimmten Rechtsgutes in Frage stehe, ist weder in der strafrechtlichen Dogmatik allgemein anerkannt, noch ist er bisher für die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Strafrechts ausschließliche Richtschnur gewesen«746.
Der Alternativentwurf von 1968 greift dann eben die Punkte wieder auf, die seit In-Kraft-Treten des Pr.StGB 1851 wiederholt vorgebracht worden waren. Schon Mittermaier hatte das Fehlen eines erkennbaren Schutzgutes und den Hang zu moralisierender Gesetzgebung beklagt, auf das gesetzgeberische Verkennen von Ursache und Wirkung hingewiesen und die zu erwartenden negativen Auswirkungen strafrechtlicher Verfolgung herausgestellt747. Zweifel an der Erforderlichkeit erbbiologischer Schutzmaßnahmen und der Sozialschädlichkeit inzestuösen Verhaltens formulierten bereits Hiller und andere748, und im Gegenent746 E 1962 BT-Drs. IV/650, S. 376. 747 S.o., Mittermaier, Verbrechen und Vergehen, S. 144 748 S.o., Hiller, Das Recht, S. 151.
146
Hauptteil
wurf aus dem Jahr 1927749 wurde eine Beschränkung auf den Minderjährigenschutz und, Eingriffe in die körperliche Integrität gefordert, die dem Ansatz des Alternativentwurfs sehr nahe kommt. Dieser Umstand zeigt zum einen, dass die Reformbewegung der 60er Jahre an die »Vorarbeiten« der Jahrhundertwende und während der Weimarer Republik anknüpfen. Zum anderen offenbart sich im Alternativentwurf von 1968 trotz der skeptischen Haltung der Großen Strafrechtskommission das ganze Potential der Rechtsgutslehre. War dieses Konzept Anfang des 20. Jahrhunderts noch im Entstehen begriffen und seine systemkritische Potenz noch nicht zu einem allgemeinen Prinzip der Strafrechtslehre geworden, so wurde es doch als Maßgabe der Legitimation von Strafrecht herangezogen. Ohne dass – weder während der Weimarer Zeit noch 1968 – Einigkeit über Inhalt und Reichweite des Rechtsgutsbegriffs bestanden hätte, wurde er doch vergleichbar gehandhabt und führte zumindest für den Bereich des Sittlichkeitsstrafrechts auch zu vergleichbaren Ergebnissen auf klarer dogmatischer Grundlage. Die Tatsache, dass nach dem Gegenentwurf von 1927 aus Gründen des Jugendschutzes der § 173 nicht völlig abgeschafft werden sollte, vermag diesen Schluss nicht in Zweifel zu ziehen, da insofern nicht die dogmatische Herangehensweise den Ausschlag gab, sondern lediglich eine abweichende Gewichtung des jugendschützenden Potentials der Norm.
5.
Entwicklungen in der DDR
Im Strafgesetzbuch der DDR vom 12. 01. 1968 war der entsprechende Tatbestand in § 152 geregelt: § 152. Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten. (1) Verwandte in gerader Linie, die miteinander Geschlechtsverkehr durchführen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Jugendliche sind strafrechtlich nicht verantwortlich. (2) Geschwister, die miteinander Geschlechtsverkehr durchführen, werden mit Verurteilung auf Bewährung oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Bei Jugendlichen kann von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abgesehen werden. Zur Regelung in der Bundesrepublik bestehen zwei wesentliche Unterschiede. Auffällig ist zunächst, dass der Tatbestand hinsichtlich der tauglichen Täter nicht auf leibliche Verwandte beschränkt ist. Darüber hinaus wurde hier statt des Wortes »Beischlaf« die Bezeichnung »Geschlechtsverkehr« gewählt, so dass im 749 S.o., unter B. V. 4. a) bb).
Entwicklungen nach 1945
147
Gegensatz zur bundesrepublikanischen Regelung keine Beschränkung auf den vaginalen Verkehr besteht. Eine weitere Besonderheit – und ein Unterschied zur Regelung in der Bundesrepublik – besteht darin, dass die Norm in der DDR im vierten Kapitel »Straftaten gegen Jugend und Familie« und dort unter dem Abschnitt »Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen« geregelt war. Daneben finden sich in diesem Abschnitt noch das Verbot der »Verführung« Minderjähriger sowie das Verbot des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses. Der Schutzgedanke ging hier also offensichtlich dahin, durch das Inzestverbot einen lückenlosen Missbrauchsschutz zu gewährleisten. Zwar findet sich auch in der Bundesrepublik die Vorschrift im Abschnitt der Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie, jedoch regelt im Unterschied zum DDR-StGB dieser Abschnitt gerade keine Missbrauchskonstellationen.
6.
Situation heute
Ende der 60er Jahre wurden die jahrelangen Vorarbeiten zur Reform des Sexualstrafrechts durch mehrere Reformgesetze umgesetzt. Am 25. 06. 1969 ist das erste, am 04. 07. 1969 das zweite, am 22. 05. 1970 das dritte und 23. 11. 1973 das vierte Strafrechtsreformgesetz (StRG) in Kraft getreten. Mit den Reformgesetzen wurde das Sexualstrafrecht in wesentlichen Punkten liberalisiert. Mit Wirkung zum 01. September 1969 wurden der Ehebruch, die Unzucht mit Tieren, die Erschleichung des außerehelichen Beischlafs sowie homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern straffrei gestellt. Damit wurde eine Reihe der alten Liberalisierungsforderungen, die in Strafrechtswissenschaft und Gesellschaft seit 1945 immer stärker vertreten worden waren, erfüllt. Zu einer Abschaffung der Inzeststrafbarkeit konnte man sich allerdings nicht durchringen. Der § 173 wurde inhaltlich zuletzt 1973 mit dem 4. StRG dahingehend verändert, dass der Verschwägerteninzest endgültig gestrichen wurde. Zum 01. 01. 1977 wurde die Norm letztmalig im Wortlaut verändert, wobei es sich jedoch lediglich um deklaratorische Änderungen handelte, die den Gehalt der Norm nicht verändern. So wurde klargestellt, dass nur eine »leibliche« Verwandtschaft die Strafbarkeit begründen kann, und der Begriff »Verwandter in absteigender Linie« durch »leiblicher Abkömmling« ersetzt750. Der Bundestag befasste sich aber auch mit der grundsätzlichen Frage nach der Strafbarkeit des Verwandtenbeischlafs, zuletzt anlässlich der Beratungen zum 4. StRG. Der Begründung zum Entwurf werden einige grundsätzliche Überlegungen vorangestellt. Darin 750 Zu den Veränderungen im Wortlaut der Norm vgl. Fuchs, Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871. Bd. I – historisch-synoptische Edition. 1871 – 2009, S. 834. Online verfügbar unter : http://delegibus.com/2010,1.pdf.
148
Hauptteil
legt sich der Gesetzgeber selbst ein hohes Maß an Zurückhaltung auf, wenn es darum geht, mit dem »scharfen Schwert des Strafrechts« das Intimleben der Bürger zu reglementieren: »Es ist darauf zu achten, dass das Strafrecht nur eine äußere Ordnung sozialen Verhaltens zu wahren hat. In der heutigen Gesellschaft sind die Wertvorstellungen über Ehe, Familie und Sexualität sehr vielfältig. Auch sind Beweggründe und Erscheinungsformen menschlichen Verhaltens auf diesem Gebiet so individuell geartet, daß sie sich oft gerechter Beurteilung entziehen. Dem Strafgesetzgeber ist deshalb Zurückhaltung geboten751«.
Zur in der Strafrechtswissenschaft seit jeher umstrittenen Frage nach der Methode der Begrenzung staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger enthält die Begründung zum Entwurf eine eindeutige restriktive Vorgabe: »Eine Strafandrohung ist nur dort vorzusehen, wo Rechtsgüter des einzelnen oder der Allgemeinheit angegriffen oder gefährdet werden und ohne eine Strafandrohung nicht hinreichend geschützt werden können«752.
Der Bundestag selbst stellt somit in den Vorbemerkungen zur Begründung des Entwurfs zum 4. StRG das Mindesterfordernis einer Gefährdung von Rechtsgütern auf. Er geht aber unter Berufung auf Hanack noch weiter, indem er fordert, dass selbst da, wo Rechtsgüter geschützt würden, nicht ohne Weiteres das Strafrecht eingreifen dürfe, sondern vielmehr beachtet werden müsse, ob nicht die »Nebenwirkungen« von Strafandrohung und Strafverfahren »mehr Schaden als Nutzen anrichten« könnten753. Die Folgerung, die mit Blick auf die Liberalisierung des Sexualstrafrechts gezogen wird, gibt die Stoßrichtung des Entwurfs auch für die familienschädigenden Delikte vor: »Dieser Gesichtspunkt führt trotz des hohen Ranges des in Artikel 6 Abs. 1 GG genannten Schutzgutes dazu, die Straftaten zum Schutz von Ehe und Familie einzuschränken. Da das Strafrecht nur als äußerstes Mittel in Betracht kommt, ist jeweils zu prüfen, ob der angestrebte Schutzzweck schon durch nichtstrafrechtliche Vorschriften erreicht werden kann […]«754.
Den Erläuterungen zu § 173 StGB ist die Aussage vorangestellt, dass man sich der Tatsache bewusst sei, dass diese Norm »kriminalpolitisch sehr umstritten«755 sei. Unzweifelhaft sei jedoch, dass »der Schutz von Kindern und Schutzbefoh751 752 753 754
Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552, S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Mit Verweis auf Hanack, Gutachten A zum 47. Deutschen Juristentag, 1968, S. 252 (hier zitiert als Hanack, Empfiehlt es sich, die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen?, s. o.), Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552, S. 10. 755 Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552, S. 10, S. 14.
Entwicklungen nach 1945
149
lenen strafrechtlich gewährleistet« werden müsse756. Die Kritik, dass bereits die §§ 174 und 176 StGB diesen Schutz gewährleisteten, wird im Entwurf eben so wenig geteilt wie der Einwand, dass bei § 173 StGB kein geschütztes Rechtsgutes erkennbar sei757. Es werden dann auch die Strafgründe genannt, die nach dem Entwurf die Strafbarkeit des Verwandtenbeischlafs bedingen. Der Strafgrund bestehe im »Schutz von Ehe und Familie«, wobei dieser Schutz vor allem die Vermeidung von »schwerer Belastung für die Familie«, aber auch die Verhütung schwerer seelischer Schäden vor allem bei Minderjährigen, die durch ein inzestuöses Verhältnis zu befürchten sei, beinhalte758. Ferner seien »eugenische Gesichtspunkte« sowie die Gefahr einer wegen des bestehenden gesellschaftlichen Tabus drohenden Diskriminierung der »Inzestkinder« zu beachten759. Nach dieser Auflistung der Strafgründe besteht allerdings noch keine vollständige Klarheit über das geschützte Rechtsgut. Irritierend wirkt zum einen, dass bei den Ausführungen zu § 173 StGB eingangs der »Schutz von Kindern und Schutzbefohlenen« betont wird, bei der Aufzählung der Strafzwecke aber zuerst der »Schutz von Ehe und Familie« genannt wird. Der Schutz von Kindern und Schutzbefohlenen kommt in dieser Aufzählung nur am Rande vor, nämlich beim Hinweis darauf, dass schwere seelische Schäden Minderjähriger zu verhüten seien. Dieser Umstand erlangt deswegen Bedeutung, weil die Norm im 12. Abschnitt des StGB, also bei den Straftaten gegen Personenstand, Ehe und Familie, geregelt ist. Die Systematik ließe demnach keine Bezugnahme auf den Schutz von Kindern und Schutzbefohlenen zu, während der Familienschutz eindeutig als Schutzobjekt identifiziert werden könnte. Ob der Gesetzgeber eine solch eindeutige Schutzrichtung vorgesehen hatte, muss aber wegen der vorangestellten Bezugnahme auf den Schutz von Kindern und Schutzbefohlenen und den Verweis darauf, dass dieser durch die §§ 174 und 176 gerade nicht hinreichend gegeben sei, bezweifelt werden. Diese Zweifel werden auch dadurch genährt, dass in der einleitenden Begründung darauf hingewiesen wurde, dass gerade bei den Straftaten gegen Ehe und Familie die Strafbarkeit eingeschränkt werden müsse, wenn die zu erwartenden negativen »Nebenwirkungen« der Strafverfolgung dies bedingten. Eben solche familienzerstörenden Nebenwirkungen der strafrechtlichen Erforschung von Inzestdelikten würden bereits bei den Beratungen zum Preußischen StGB befürchtet760. Vor allem Ellis, Marcuse und später Hanack, der im Entwurf auch zitiert wird761, haben unter diesem 756 757 758 759 760 761
Ebd. Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552, S. 10, S. 14. Ebd. Ebd. S.o. unter B. IV. b) bb) (3). Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552, S. 10 mit Verweis auf Hanack, Gutachten A zum 47. Deutschen Juristentag, 1968, S. 252.
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Hauptteil
Aspekt Bedenken hinsichtlich der Inzeststrafbarkeit geäußert762. Die Tatsache, dass im Entwurf die zwingende Notwendigkeit des Schutzes von Kindern und Schutzbefohlenen bei § 173 StGB vorangestellt wird, lässt es daher nicht fernliegen, dass der Gesetzgeber in erster Linie aufgrund dieser Schutzaspekte den Tatbestand des § 173 erhalten hat, während er eine Reihe anderer Delikte gegen Ehe und Familie zuvor gestrichen hatte.
VIII. Neuere Tendenzen in der Rechtstheorie Die Abgrenzung zwischen staatlichem Strafanspruch und privater Lebensgestaltung wurde während der Reformzeit der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verstärkt durch das Modell des Rechtsgüterschutzes vorgenommen763. Dennoch bestand zu keiner Zeit Einigkeit, weder über die Berechtigung des Konzepts vom Rechtsgüterschutz als Begrenzungslinie der staatlichen Strafbefugnis noch über den Begriff des Rechtsgutes selbst. Die bereits dargestellten Differenzen zwischen Binding und von Liszt über den Gehalt des Begriffs blieben im Kern erhalten. Hatte Binding noch versucht, den Begriff auf solche Güter zu reduzieren, die »als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft«764 schutzbedürftig sind, verlor der Rechtsgutsbegriff seine begrenzende Funktion bei von Liszts Ausrichtung auf den Interessenschutz765 beinahe völlig, weil die mit einer Strafnorm verfolgte Zwecksetzung selbst die zur Erreichung dieses Zwecks geschaffene Norm legitimieren konnte. Die Idee von einer apriorisch gegebenen Summe von Rechtsgütern, die aufgrund ihrer vom Strafrecht unabhängigen Existenz zu dessen Begrenzung, bzw. zur Legitimierung einzelner Normen herangezogen werden könnten, konnte sich nicht gänzlich durchsetzen. Diese die Begrenzungsfunktion des Rechtsguts herausstellende Betrachtungsweise wird heute als »systemkritischer« Rechtsgutsbegriff766 bezeichnet, dem ein »methodischer« Rechtsgutsbegriff767 gegenüber steht. Hiermit wird ein Konzept bezeichnet, dass im Rechtsgut keinen normlegitimierenden und begrenzenden Faktor erkennt, sondern damit lediglich den »Sinn und Zweck der einzelnen Strafgesetze«768 bzw. die »Abbreviatur des Zweckgedankens«769 be762 763 764 765 766
S.o. Marcuse, S. 71. Dort maßgeblich beeinflusst durch die Arbeiten Jägers, s. o. S.o. Binding, Normen Bd. I, S. 353. S.o. V. Liszt, Lehrbuch, S. 200. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens: Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre, S. 19. 767 Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 14, Rn. 4. 768 Honig, Einwilligung des Verletzten, S. 94.
Neuere Tendenzen in der Rechtstheorie
151
zeichnet. Das geschützte Rechtsgut einer Strafnorm ist hiernach mit dessen ratio legis identisch. In jüngerer Zeit hat das Konzept eines normbegrenzenden Rechtsguts vor allem durch Hassemer und Roxin neue Belebung erfahren. Beide lehnen sowohl die hermeneutische Reduzierung des Rechtsgutsbegriffs als auch seine Ausdehnung auf konstruierte, letztlich »fiktive« Kollektivrechtsgüter ohne jeden Individualbezug ab und fordern eine Rückbesinnung auf den Grundgedanken des Individualschutzes770. Universalrechtsgüter können nach dieser Konzeption zwar bestehen, jedoch nicht aus sich selbst heraus, sondern stets nur um des mittelbaren Schutzes von Individualinteressen willen771. Roxin definiert Rechtsgüter entsprechend als »…Gegebenheiten oder Zwecksetzungen […], die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind«772.
Dagegen wird sowohl die Forderung nach einer völligen Aufgabe des Rechtsgutsbegriffs773 sowie eine vermittelnde Position, vertreten die durch Einbeziehung weiterer Wertungsgesichtspunkte den praktischen Anwendungsbereich der Rechtsgutslehre erweitern möchte774775. In jüngster Zeit kamen zur Begrenzung des Strafrechts auch aus dem angloamerikanischen Raum stammende Alternativen auf. Das sog. »harm principle«776 sieht Strafnormen da legitimiert, wo sie »belästigendes« Verhalten verhindern. Ob diesem Belästigungsprinzip als Anknüpfungspunkt jedoch eine Begrenzungsfunktion innewohnen kann777, ist vor dem Hintergrund, dass hierbei die Möglichkeit einer »Belästigung« von Tabu- und Moralvorstellungen nicht geklärt ist, umstritten778. Hefendehl legt dem Rechtsgutsbegriff nicht bestimmte Güter oder Interessen zugrunde, sondern das in der Gesellschaft manifestierte Vertrauen in bestimmte Funktions-
769 Grünhut, Festgabe für Frank, Bd. 1, S. 8. 770 Hierzu vgl. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 14, Rn. 7 – 12; Hassemer/Neumann, in: NK, Vor § 1 Rn. 113. 771 Roxin, aaO, Rn. 11 mwN. 772 Ebd., Rn. 7. 773 Vgl. hierzu u. a. Appel, Verfassung und Strafe, S. 381; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 155. 774 Vgl. hierzu u. a. das Modell vom »Vertrauensrechtsgut«, bei Hefendehl, Mit langem Atem: Der Begriff des Rechtsguts – Oder : Was seit dem Erscheinen des Sammelbandes über die Rechtsgutstheorie geschah, in GA 2007, S. 9 – 14, s. u. 775 Zum Stand der Diskussion vgl. Swoboda, Die Lehre vom Rechtsgut und ihren Alternativen, in: ZStW 2010, S. 32 – 34. 776 Hierzu vgl. Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, Vol. I, Harm to Others. 777 Hierzu vgl. von Hirsch, Belästigendes Verhalten: gibt es ein strafrechtliches Belästigungsprinzip, in: Eser-FS, S. 189 – 206. 778 Zur Tauglichkeit der sog. »Mediating Principles« vgl. Hefendehl, in GA 2007, S. 1 (6) mwN.
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Hauptteil
zusammenhänge779. Trotz ihrer Differenzen zur »klassischen« Rechtsgutslehre stellen auch diese Alternativen, unabhängig von der jeweiligen Ausprägung im Detail, ein Bekenntnis zu einem systemkritischen Rechtsgutsbegriff dar, dem jedenfalls als »Angelpunkt« dieser Begrenzungsmodelle Bedeutung zukommt780. Die Frage, welchen Inhalt, welche Funktion und welche Zukunft der Rechtsgutsbegriff hat, welche Alternativen bestehen und ob es ein nicht ausschließlich in der Verfassung zu suchendes, gewissermaßen strafrechtsimmanentes Begrenzungsmodell überhaupt geben kann, wird noch einige Zeit den Gegenstand rechtswissenschaftlicher Diskussion bilden. Die Debatte wird allerdings nicht in erster Linie mit Blick auf das Verhältnis von Intimsphäre und öffentlicher Strafe geführt, sondern erlangt aktuell vor allem im Zusammenhang mit dem Konzept des Feindstrafrechts781 und der Frage nach einer Begrenzung der Vorverlagerung strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen Bedeutung782. Dennoch erhielt die Diskussion auch durch den unten separat zu besprechenden Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 II StGB neue Impulse. Die Anforderungen an die Legitimation von Strafrecht sind heute so unklar wie eh und je.
IX.
Entwicklung in der Rechtsprechung seit 1945
In einem Urteil vom 29. 09. 1993 befasste sich der BGH mit der Frage nach den durch § 173 StGB geschützten Rechtsgütern783. Hierzu stellte er fest: »Schutzgüter des § 173 StGB sind zum anderen in erster Linie Ehe und Familie. Das war zwar bei den Beratungen des 4. Strafrechtsreformgesetzes nicht völlig eindeutig; seinerzeit wurden auch genetische Gründe und der Zweck der Vermeidung von Inzestkindern als Strafgrund genannt […]. Aber der Standort der Vorschrift im 12. Abschnitt – Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie – ergibt, daß Ehe und Familie in § 173 StGB jedenfalls die überragenden Rechtsgüter sind und geschützt werden sollen. Ihren Schutz verwirklicht das Strafgesetzbuch unabhängig von der persönlichen Einstellung des Täters zu ihnen. Der Täter macht sich auch dann ohne 779 Hefendehl, Europäisches Strafrecht: bis wohin und nicht weiter?, in: ZIS 2006, S. 229 (234 f.). 780 Hefendehl, in GA 2007, S. 1 (14); mit dem Bekenntnis zu einer »negative[n] Kontrollfunktion« des Rechtsgutsbegriffs in ZIS 2006, S. 229 (238). 781 Hierzu vgl. Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, in: ZStW 1985, S. 751 – 785; ders., Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in: HRRS 2004, S. 88 – 94. Jakobs führt insoweit zur Rechtfertigung einer weiten Vorverlagerung das Rechtsgut des Rechtsfriedens an. 782 Hierzu vgl. Radtke/Steinsiek, Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen? – Zum Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren Gewalttaten (Referentenentwurf des BMJ vom 21. 4. 2008), in: ZIS 2008, S. 383 – 396. 783 BGH 2 StR 336/93 – Urteil vom 29. September 1993.
Der Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots
153
Einschränkung strafbar, wenn aus seiner Sicht die persönlichen Bindungen völlig zerstört sind und eine Familie lediglich noch als wirtschaftliche Gemeinschaft oder gar nicht mehr existiert oder wenn das Verwandtschaftsverhältnis dem rechtlichen Bande nach aufgehoben ist […]. Strafgrund ist daher nicht die Verletzung einer besonderen, den Täter treffenden Pflicht zur Bewahrung eines ihm anvertrauten Rechtsgutes, sondern der objektive Eingriff in einen Bereich, der mit Rücksicht auf die berührten hohen, durch Art. 6 GG hervorgehobenen Werte von geschlechtlichen Beziehungen absolut und ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalls freigehalten werden soll«784.
Der BGH stellt hier also zunächst fest, dass es erstens Rechtsgüter gebe, die durch die Norm geschützt würden und werden sollten, dass diese zweitens entgegen der Begründung des historischen Gesetzgebers jedenfalls keine eugenischen Gesichtspunkte sein könnten, dass drittens die systematische Einordnung im StGB zur Bestimmung dieser Rechtsgüter heranzuziehen sei und sich viertens hieraus ergebe, dass das »überragende« Schutzgut des § 173 StGB der Schutz von Ehe und Familie sei, deren Bestand dadurch geschützt werde, dass sie von geschlechtlichen Beziehungen ohne Rücksicht auf den Einzelfall freigehalten werden sollten. Dieser Einschätzung des BGH kann insofern richtungsweisender Charakter zugesprochen werden, als sie später vom BVerfG in verschiedenen Punkten übernommen bzw. zurückgewiesen werden wird.
X.
Der Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots
Am 23. 02. 2008 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von § 173 II StGB mit 7:1 Stimmen gegen das Sondervotum des damaligen Vizepräsidenten Hassemer785. Dem Beschluss lag die Verfassungsbeschwerde eines jungen Mannes zugrunde, der mit seiner leiblichen Schwester eine Liebesbeziehung eingegangen war, aus der vier Kinder hervorgegangen waren. Der 1976 geborene Beschwerdeführer war in einer Pflegefamilie aufgewachsen und erlangte erst mit 24 Jahren Kenntnis von der Tatsache, dass 1984 eine leibliche Schwester geboren worden war, die er im Jahr 2000 kennenlernte und mit der er bald darauf eine gemeinsame Wohnung bezog und Kinder zeugte. Er war vom Amtsgericht gem. § 173 II S. 2 StGB verurteilt worden, wogegen er sich mit der Verfassungsbeschwerde wandte und mittelbar die Feststellung der Nichtigkeit der der Verurteilung zugrunde liegenden Strafnorm begehrte. Der Beschluss des BVerfG wurde in der Rechtswissenschaft sehr kritisch 784 BGH 2 StR 336/93 – Urteil vom 29. September 1993, Rn. 16. 785 BVerfGE 120, S. 224 – 273.
154
Hauptteil
aufgenommen und stellt bis heute den Gegenstand rechtswissenschaftlicher und soziologischer Diskussion dar. Der Beschwerdeführer hat nach der Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit des § 173 II StGB durch das BVerfG Klage vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erhoben, ein Urteil lag zur Zeit der Erstellung dieser Arbeit noch nicht vor.
1.
Abkehr vom Rechtsgüterschutz
Das BVerfG hatte zu entscheiden, ob die Strafandrohung des § 173 II StGB gegen das sich aus Art. 2 Abs.1, 1 Abs.1 GG ergebende Persönlichkeitsrecht in Gestalt des Rechtes auf freie sexuelle Selbstbestimmung verstoße. Es führt zu diesem Zweck eine Prüfung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) der in Rede stehenden Norm im Hinblick auf den durch ihre Existenz festgestellten Eingriff in Grundrechte des Beschwerdeführers durch. Wesentlicher Bestandteil dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die Frage, welche Gründe für eine Aufrechterhaltung des Verbots bestehen, und welchen Einschränkungen die Normadressaten durch den Bestand desselben unterworfen sind. Das BVerfG deutet zunächst mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung an, dass sich der Umfang des Beurteilungsspielraums des Verfassungsgerichts maßgeblich »nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs«, anhand der »auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter« und nach den »Möglichkeiten, sich ein sicheres Urteil zu bilden«, bestimme786. Es macht die Identifikation der zu schützenden Rechtsgüter also zu einer notwendigen (Vor-)Bedingung seiner eigenen Urteilsfindung. Weiter stellt das BVerfG fest: »Das Strafrecht wird als »ultima ratio« des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist787.
Somit wird der Rechtsgüterschutz weiterhin als »Einsatzzweck« des Strafrechts aufrecht erhalten. Der »ultima ratio«- Gedanke wird zwar umgehend eingeschränkt, indem das Gericht betont, dass der Gesetzgeber »bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei«788 sei. Dennoch bleibt damit zumindest die Exsistenz der mit der Sanktionsandrohung zu schützenden Rechtsgüter ein Erfordernis 786 BVerfGE 120, S. 224 (240). 787 Ebd., S. 239 f. 788 Ebd., S. 240.
Der Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots
155
legitimer Strafgesetzgebung. Strengere Anforderungen an die Zwecke, die der Gesetzgeber vermittels der Errichtung einer Strafnorm zu erreichen suchen dürfe, seien indes nicht anzulegen. Insbesondere ließen sich derartige weitergehende Forderungen »nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten«789. Dies ist auch gar nicht erforderlich, denn der Zweck, den der Gesetzgeber zu verfolgen hat, besteht ja, wie das Verfassungsgericht eingangs selbst feststellt hat, gerade im Rechtsgüterschutz. Dennoch gelingt es dem BVerfG, Aspekte des Rechtsgüterschutzes für die Verfassungsmäßigkeit von Strafnormen für unerheblich zu erklären: »Welchen Beitrag das Konzept des Rechtsgüterschutzes für die Rechtspolitik und für die Dogmatik des Strafrechts leisten können mag, ist hier nicht zu beurteilen […]; jedenfalls stellt es keine inhaltlichen Maßstäbe bereit, die zwangsläufig in das Verfassungsrecht zu übernehmen wären, dessen Aufgabe es ist, dem Gesetzgeber äußerste Grenzen seiner Regelungsgewalt zu setzen […]790.
Eine Benennung der in Betracht kommenden Rechtsgüter findet dann konsequenterweise auch nicht statt. Wie aber sollen die »äußersten Grenzen« der strafrechtlichen Regelungsgewalt des Gesetzgebers bestimmt werden, wenn die als erforderlich herausgestellte Zwecksetzung des Rechtsgüterschutzes nicht herangezogen wird, um zu prüfen, ob der Gesetzgeber mit einer Strafnorm legitime Zwecke verfolgt? Wenn nicht das Konzept des Rechtsgüterschutzes die inhaltlichen Maßstäbe der verfassungsgerichtlichen Entscheidung »bereitstellen« kann, welches Konzept ist dann leistungsfähiger? Dem BVerfG ist zuzugeben, dass die Rechtsgutslehre nicht geeignet ist, für sich genommen eine verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ersetzen, und es ist auch zutreffend, dass der Rechtsgutsbegriff weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart hinreichend klar bestimmt worden ist und dass in der Rechtswissenschaft keine Einigkeit über seine konkrete Gestalt besteht. Diese mangelnde Konturierung des Rechtsgutsbegriffs führt auch zu Schwierigkeiten im Umgang mit diesem Konzept , weil es natürlich nicht möglich ist, ein Rechtsgut zu benennen, wenn unbekannt ist, was ein Rechtsgut überhaupt ist. Es ist hier nicht der Ort, Grundsatzfragen der Rechtsgutslehre zu erörtern, seit den Kontroversen zwischen Binding und von Liszt hat sich insofern auch nicht viel verändert791. Dennoch wäre es dem Senat nicht verwehrt gewesen, durch eine eigene Stellungnahme zu der Fortentwicklung des Rechtsgutsbegriffs beizutragen, sofern diese Entwicklung von Einfluss auf die verfassungsrechtliche Frage selbst ist. Zweifelhaft ist jedenfalls der Schluss, dass in Folge der nach wie vor bestehenden Unsicherheit über den Inhalt des Rechtsgutsbegriffs das Erfordernis des 789 Ebd. S. 241. 790 BVerfGE 120, S. 224 (241). 791 Zum Stand der Debatte s. o. unter B. VIII.
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Hauptteil
Rechtsgüterschutzes als eine notwendige Bedingung von Strafgesetzgebung obsolet sei. Die Fragwürdigkeit dieser Annahme wird deutlich, wenn man betrachtet, mit welchen Methoden das Verfassungsgericht nun versucht, die postulierte Bestimmung der äußersten Grenzen des Strafgesetzgebers zu erreichen.
2.
Vorgehensweise des BVerfG
Eine Benennung derjenigen Rechtsgüter, die durch § 173 StGB zu schützen sind, findet trotz der eingangs postulierten Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung nicht statt. Folge der Abkehr von der Rechtsgutslehre ist zunächst, dass an die Stelle des Erfordernisses eines Rechtsgüterschutzes nun die freie Würdigung durch das Gericht tritt. Es werden alle in Betracht kommenden Strafzwecke nacheinander auf ihre Tauglichkeit zur Rechtfertigung der Sanktionsandrohung im Sinne einer legitimen Zweckrichtung geprüft. a)
Schutz von Ehe und Familie nach Maßgabe des Art. 6 GG
Bei der Aufzählung der »Strafgründe« wird der Schutz von Ehe und Familie als bei der Gesetzgebung »an erster Stelle« stehend bezeichnet792. Inzestverbindungen führten zu einer »Rollenüberschneidung«, die »nicht dem Bild der Familie« des Art. 6 GG entspräche793. Dass sexuelle Kontakte innerhalb der Familie nur zwischen den Eltern stattfinden dürften, habe »seinen guten Sinn«, weil so das natürliche Ordnungsgefüge innerhalb der Familie davor bewahrt werde, »ins Wanken« zu geraten794. Auch wenn die empirische Basis für repräsentative Ergebnisse hinsichtlich der Familien- und Sozialschädlichkeit des Inzests nicht ausreiche und es ferner unklar sei, ob inzestuöse Verbindungen die Ursache, eine Begleiterscheinung oder die Folge zerrütteter Familienverhältnisse seien, bewege sich der Gesetzgeber jedenfalls nicht außerhalb seines Einschätzungsspielraums, sofern er eine familien- und sozialschädigende Wirkung des Geschwisterinzests annehme795. b)
Schutz der sexuellen Selbstbestimmung
Einen weiteren Strafgrund erblickt der Senat im Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Diese sei durch den Geschwisterinzest vor allem dann bedroht, 792 793 794 795
BVerfGE 120, S. 224 (243). Ebd. S. 245. Ebd., S. 245. Ebd. S. 244.
Der Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots
157
wenn ein deutlicher Altersunterschied zwischen den Beteiligten bestehe. Dieser häufig »mit Gewalteinwirkung einhergehende« »Despoteninzest« weise »eine gewisse Plausibilität« hinsichtlich einer schädigenden Wirkung auf796. Den Einwand, dass die sexuelle Selbstbestimmung bereits durch die den sexuellen Missbrauch pönalisierenden Normen des StGB, mit Blick auf den Geschwisterinzest namentlich § 174 StGB, geschützt sei, lässt das BVerfG nicht gelten. Es komme dem § 173 II StGB nämlich jedenfalls in solchen Situationen eine eigene Schutzfunktion zu, wenn ein sich im Kindes- oder Jugendalter manifestierendes Missbrauchs- und Abhängigkeitsverhältnis nach dem Eintritt der Volljährigkeit »einverständlich« fortgesetzt werde. In derartigen Konstellationen sei zu erwarten, dass lediglich aufgrund des verfestigten Abhängigkeitsverhältnisses eine deutliche Ablehnung des unerwünschten Beischlafs unterbleibe797. c)
Eugenische Gesichtspunkte
Die Gefahr, dass die aus Inzestverbindungen hervorgehenden Nachkommen unter Erbkrankheiten oder sonstigen körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen leiden, erkennt das BVerfG als gegeben an. Auch wenn über die Wahrscheinlichkeit der Realisierung dieser Gefahr Uneinigkeit bestehe, sei der Rekurs auf erbbiologische Aspekte jedenfalls nicht irrational. Ferner schließe der Missbrauch derartiger Gesichtspunkte zur Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderung in der Vergangenheit ihre Berücksichtigung durch den Gesetzgeber nicht aus798. d)
Wirkkräftige gesellschaftliche Überzeugung von der Strafwürdigkeit
Schließlich betont das BVerfG, dass keine grundsätzlichen Bedenken dagegen sprächen, wenn zumindest auch gesellschaftlich konsentierte Moralvorstellungen mit Mitteln des Strafrechts geschützt würden799. Eine solche erblickt das Gericht auch im Inzestverbot, das einer »kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzests« entspringe800. Dem Bestand dieses sozialen Tabus und der gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzests habe der Gesetzgeber in nicht zu beanstandender Weise dadurch Rechnung getragen, dass er im Gesetzge-
796 797 798 799 800
Ebd. S. 245 f. BVerfGE 120, S. 224 (246). Ebd., S. 248. Ebd. Ebd. S. 248 f.
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Hauptteil
bungsverfahren betonte, er wolle einen Bruch mit der Tradition des Inzestverbots vermeiden801.
3.
Stellungnahme
a)
Zur Systematik des Gerichts bei der Grenzziehung
Die Senatsmehrheit hat mit ihrem Beschluss eine Reihe beachtenswerter Ausführungen gemacht. Zum einen hat sie erklärt, dass der Gesetzgeber bei der Errichtung von Strafvorschriften nicht an die Bedingung des Rechtsgüterschutzes gebunden sei. Darüber hinaus hat das Verfassungsgericht sogar einen strafrechtlichen Schutz von Moralvorstellungen ausdrücklich nicht ausgeschlossen. aa) Zur Einschätzung der Notwendigkeit von Rechtsgüterschutz Das Bundesverfassungsgericht betont, dass der Gesetzgeber nicht gezwungen sei, mit Strafnormen immer Rechtsgüter zu schützen802. Diese Ansicht vertrat auch Hanack, der während der Reformzeit der 60er Jahre für eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts eintrat803. Er forderte damals, dass jede Strafbestimmung, die nicht ein klar benennbares Schutzgut bezeichne, sehr vorsichtig und präzise daraufhin geprüft werden müsse, ob das unter Strafe gestellt Verhalten tatsächlich gemeinschädlichen Charakter habe: »Darauf geachtet werden muß nur, daß die ratio legis jeder seiner Bestimmungen intensiv auf die Frage geprüft ist, ob das unter Strafe gestellte Verhalten wirklich gemeinschaftsschädigenden Charakter besitzt. Das wird bei Delikten mit unklarem oder schwer fixierbarem Rechtsgut im Zweifel seltener der Fall sein, so daß es hier stets besonders sorgfältiger Prüfung und besonderer Vorsicht bedarf.«804
Die oben geäußerte Kritik an dieser rechtstheoretischen Herangehensweise Hanacks805 findet ihre Bestätigung durch den Beschluss der Senatsmehrheit nun auch in der Praxis. Das Gericht versucht sich nämlich mangels Vorhandenseins eines geschützten Rechtsgutes an einer besonders sorgfältigen Prüfung der Gemeinschädlichkeit des Inzests. Dabei wird aber das Verfahren umgekehrt, denn das Gericht untersucht nicht, ob nach der ratio legis des § 173 StGB ein Verhalten von gemeinschädigendem Charakter bestraft werden soll, sondern nur, ob überhaupt irgendeine ratio erkennbar ist. Die Frage danach, ob die ratio 801 802 803 804 805
Ebd. BVerfGE 120, S. 224 (241). S.o. Hanack, in: ZStW 1965, S. 398 (405). Ebd. S.o. unter B. VII. 4. b).
Der Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots
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eine taugliche ist, wird also so lange mit »ja« beantwortet, bis das Verfassungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass eine Norm völlig irrational ist. Ist das die sorgfältige und vorsichtige Prüfung, die Hanack fordert? Falls sie es ist, wird ihre Schwäche deutlich, falls sie es nicht ist, bleibt die Frage, wie sie denn aussehen soll und anhand welcher Maßgaben sich die Verfassungsmäßigkeit bemessen lassen soll. Die Forderung nach einer sorgfältigen und besonders vorsichtigen Prüfung ist deshalb nicht zielführend, weil auch die Begriffe der Sorgfalt und der Vorsicht mit Inhalten gefüllt werden müssen; mit Inhalten, die die Senatsmehrheit dem Rechtsgutsbegriff abspricht, ohne echte Alternativen anzubieten. Das Problem wird daher nicht gelöst, sondern lediglich verlagert. Wie bereits oben angedeutet, setzt sich das Gericht mit seiner Methode aber auch in Widerspruch zu den eingangs des Beschlusses selbst aufgestellten Prämissen, namentlich zum ultima ratio-Prinzip. Dieser Widerspruch ist offensichtlich, denn mit der Prägung des Rechtsgutsbegriffs sollte ursprünglich gerade eine Identifikation solcher Strafvorschriften ermöglicht werden, mit denen der Staat die ihm verliehene Kompetenz, ein Verhalten seiner Bürger mit Strafe zu belegen, überschreitet. Der Inhalt des Rechtsgutsbegriffs ist zwar von jeher umstritten, auch besteht in Form des Widerstreits zwischen methodischem und systemkritischem Rechtsgutsbegriff keine Einigkeit über dessen Zweck. Wenn das Gericht aber nun den Versuch unternimmt, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eben jene Grenzüberschreitung seitens des Staates zu identifizieren, ohne dabei den Rechtsgüterschutz im Auge zu haben, tut es inhaltlich nichts anderes, als dem Rechtsgutsbegriff einen neuen Inhalt zu geben, denn es verfolgt den Zweck, die Grenzen der Legitimation auszuloten – ohne jedoch seine Methode klar offenzulegen. Die Beschränkung, lediglich die »äußeren Grenzen« des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums aus »der Verfassung selbst«806 heraus aufzuzeigen, ohne dabei Rekurs auf das Konzept des Rechtsgüterschutzes zu nehmen, führt aber nicht zu einer Verbesserung der Methode, sondern bedeutet lediglich, dass das Gericht »frei Hand« arbeitet, weil es sich weigert, einen eindeutigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab anzulegen. Die Grenzziehung gelingt damit aber nicht genauer, der Versuch, eine (richtungsweisende) Antwort auf die Frage nach den Grenzen des staatlichen Strafanspruchs gegenüber der privaten Lebensgestaltung zu finden, scheitert, und der Systematik der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung mit diesem Problem wird ein Bärendienst erwiesen. Die Suche des BVerfG nach legitimierenden Aspekten ist jedoch de facto nichts anderes als die Suche nach einem geschützten Rechtsgut. Unabhängig davon, ob man die vom Gericht herangezogenen normlegitimierenden Faktoren als Rechtsgüter oder ihre Existenz als Indizien für die Nichtüberschreitung des 806 BVerfGE 120, S. 224 (242).
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gesetzgeberischen Ermessens bezeichnet, bleibt es dabei, dass das Vorliegen jener Elemente den Ausschlag für die verfassungsgerichtliche Entscheidung gibt. Falsa demonstratio non nocet. Das ist auch der Grund, warum der Senat gar nicht anders kann, als sich in einen Widerspruch zu begeben, denn seine Prämisse ist richtig: es muss ein der Norm zugrunde liegendes Rechtsgut – zu welchem Zweck auch immer – benannt werden, und deswegen spürt das Gericht demselben auch nach, selbst wenn es behauptet, das sei nicht der Fall. Die an den Tag gelegte Vorgehensweise ist jedenfalls nicht geeignet, die Dogmatik der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit von Strafnormen zu verfeinern. bb) Moralschutz durch Strafrecht Das BVerfG hat nicht behauptet, der Gesetzgeber dürfe Moralvorstellungen mit Mitteln des Strafrechts schützen. Das Gericht hat das aber auch nicht ausgeschlossen, obwohl es hierzu Gelegenheit gehabt hätte: »Dabei kann offen bleiben, ob die Unterscheidung zwischen Strafnormen, die allein in Moralvorstellungen gründen, und solchen, die dem Rechtsgüterschutz dienen […] tragfähig ist und ob bejahendenfalls Strafnormen der ersteren Art verfassungsrechtlich zu beanstanden wären«807.
Das Gericht hält den Übergang zwischen Rechtsschutz und Moralschutz also für fließend und es zumindest für denkbar, dass der Gesetzgeber auch Moralvorstellungen durch Strafandrohung schützen darf. Dass der Senat es hiermit ernst meint, zeigt er am Ende seiner Analyse der denkbaren Schutzaspekte, indem er ausführt, dass für die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit des Geschwisterinzests auch spräche, dass der Gesetzgeber den Bruch eines gesellschaftlichen Tabus zulässigerweise habe vermeiden wollen, wobei die Stützung eines gesellschaftlich verankerten Unrechtsbewusstseins keinen Bedenken begegne und sich ein weiterer normlegitimierender Faktor aus »dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes« ergebe808. Hierin ist indes ein Tabubruch durch den Senat zu erblicken, denn wenn auch die gesellschaftliche Überzeugung von der Strafwürdigkeit eines Verhaltens sicherlich nicht gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dieses Verhalten pönalisierenden Norm spricht, so vermag dieselbe eben so wenig in die andere Richtung zu wirken – auch nicht unterstützend809. Die Wendung vom kulturhistorischen Tabu ent807 Ebd. S. 248. 808 BVerfGE 120, S. 224 (248). 809 Mit ähnlicher Kritik auch Hörnle, Das Verbot des Geschwisterinzests – Verfassungsgerichtliche Bestätigung und verfassungsrechtliche Kritik, in: NJW 2009, S. 2085 (2088): »Entweder gibt es einen rationalen, den Vorgabend des Grundgesetzes entsprechenden Grund für die Strafbarkeit, oder eben nicht«.
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spricht trotz anderer Wortwahl dem altbekannten Rekurs auf das allgemeine Sittlichkeitsempfinden in der Bevölkerung. Dass eine »objektive« Sittlichkeit jedoch kaum bestimmt werden kann810 und dass es genau diese Bezugnahme ist, die in der deutschen Strafrechtswissenschaft spätestens nach den Lehren aus dem »gesunden Volksempfinden« für unerträglich gehalten wird811, ignoriert das Gericht. Was diesen Punkt betrifft, vertritt das BVerfG eine Position, die zuletzt in der großen Strafrechtskommission 1958 mehrheitsfähig war. Auch hier wurde eine Lanze für das Recht des Gesetzgebers gebrochen, im StGB »Werttafeln« zu errichten, und propagiert, das dasselbe eine »sozialpädagogische Funktion« habe812. Die Argumentation erinnert an den Vereinigten Ständischen Ausschuss im Preußen von 1848, welcher für die Frau beim Ehebruch eine erhöhte Strafe vorsah, weil dieser »in der allgemeinen Meinung für strafwürdiger gehalten« wurde und »für das Glück und den Frieden in der Familie ungleich störender« sei813.
b)
Zu den vom BVerfG angeführten Strafgründen
Nachdem nach dem Willen der Senatsmehrheit lediglich zu prüfen war, ob die vom Gesetzgeber angeführten oder sonst in Betracht kommenden Strafzwecke fundamental gegen die Verfassung verstoßen, irrational oder sonst schlechterdings nicht nachvollziehbar sind, soll auch hier in gebotener Kürze auf die hierzu gemachten Ausführungen eingegangen werden, wobei das Augenmerk jedoch weiterhin in erster Linie auf der dogmatischen Vorgehensweise des Verfassungsgerichts liegen soll. aa) Der Schutz von Ehe und Familie Um die Strafzwecke des § 173 II StGB zu identifizieren, nimmt das Gericht in erster Linie Rekurs auf die Ausführungen des Gesetzgebers. Richtig ist zunächst, dass systematische Erwägungen für die Annahme sprechen, dass mit § 173 StGB der Schutz von Ehe, Familie und Personenstand beabsichtigt war, denn die Norm wurde von der Großen Strafrechtskommission aus den Unzuchtsdelikten ausund in die Familiendelikte eingegliedert814. Richtig ist auch, dass der Gesetz810 S.o. Hiller, Das Recht, S. 106. 811 Ähnlich auch Roxin, Geschwisterinzest, in StV 2009, S. 544 (549). 812 S.o. Ministerialrat Dr. Dreher während der 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 361. 813 S.o. Denkschrift über die zur ständischen Berathung gestellten Fragen des Strafrechts, Antwort auf Frage 32, S. 31. 814 S.o., Vorlage des Justizministeriums zur 87. Sitzung der großen Strafrechtskommission (Umdruck J 81), in: Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 621 f.
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geber als Strafgrund für die Inzeststrafbarkeit den in Art. 6 GG geforderten Schutz von Ehe und Familie angeführt hat815. Allerdings ist zunächst zweifelhaft, ob dieser Gesichtspunkt, wie das Gericht feststellt, tatsächlich »an erster Stelle« steht816. Denn in der Begründung zum Entwurf wird in den Vorbemerkungen zu § 173 StGB zunächst herausgestellt, dass die Norm zwar kriminalpolitisch äußerst umstritten sei, dass jedoch »der Schutz von Kindern und Schutzbefohlenen strafrechtlich gewährleistet« werden müsse817. Es scheint auch, als habe der Gesetzgeber zwischen dem Strafgrund und dem Schutzobjekt unterschieden, denn der Feststellung, dass der Schutz von Ehe und Familie Strafgrund der Norm sei, folgt unmittelbar der Hinweis darauf, dass inzestuöse Handlungen innerhalb der Familie »zu schweren seelischen Schäden«, vor allem bei Minderjährigen, führen könnten818. Der Minderjährigenschutz wird damit als ein Schutzzweck benannt, der sich aus dem Schutzgebot des Art. 6 GG ergibt. Der Gesetzgeber stellt im Gegensatz zur Senatsmehrheit ferner fest, dass durch die Norm auch tatsächlich ein Rechtsgut geschützt werde – ohne dieses freilich explizit zu benennen819. Es entsteht der Eindruck, als sei der Familienschutz für den Gesetzgeber vor allem ein Mittel zum Zweck des Minderjährigenschutzes. So stellt er eingangs der Begründung das Ineinandergreifen von Familienschutz und Jugendschutz heraus: »Im Bereich des Jugendschutzes greifen die Rechtsgüter des einzelnen und der Allgemeinheit ineinander : Taten, die sich gegen Menschenwürde, Toleranz und andere grundlegende Regeln des menschlichen Zusammenlebens richten, können zugleich die soziale Orientierung des einzelnen jungen Menschen beeinträchtigen«820.
Zwar werden in der Begründung »Ehe und Familie« als ein Rechtsgut der Allgemeinheit bezeichnet, jedoch wird unmittelbar darauf auch die Notwendigkeit betont, »Straftaten zum Schutz von Ehe und Familie einzuschränken«821. In der Zusammenschau erscheint es daher fraglich, ob das BVerfG recht in der Annahme geht, dass der Gesetzgeber im § 173 StGB in erster Linie den Familienschutz bezweckt. Es liegt näher, davon auszugehen, dass der Gesetzgeber den Schutz der Jugend, der ungestörten – vor allem geistigen – Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Blick hatte, als er sich entschloss, den Beischlaf zwischen leiblichen Verwandten gegen die Liberalisierungstendenz des 4. StRÄG beizubehalten. Ob er darin ein »eigenes« Rechtsgut erblickt, kann an 815 816 817 818 819 820 821
Zur Begründung des Entwurfs s. o., Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552. BVerfGE 120, S. 224 (243). Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552, S. 14. Ebd. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd.
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dieser Stelle dahinstehen, da hier unabhängig vom Gehalt dieses Begriffs lediglich das Telos der Norm herauszustellen ist. Selbst wenn man jedoch annähme, dass der Gesetzgeber durch das Verbot des Beischlafs unter leiblichen Verwandten vornehmlich den Schutz von Ehe und Familie bezweckte, bestehen erhebliche Zweifel schon an der Geeignetheit des Mittels. Denn wenn man zutreffend davon ausgeht, dass sexuelle Kontakte zwischen Geschwistern oder Eltern und Kindern eine familienzerstörende Wirkung zumindest entfalten können, dann müsste sich eine Strafnorm auch hiergegen richten. Das tut § 173 StGB aber nicht, denn hier ist die Tathandlung auf den Beischlaf beschränkt. Das Verfassungsgericht stellt selbst fest, dass hierdurch »nur ein eng umgrenztes Verhalten […] und die Möglichkeit intimer Kommunikation nur punktuell verkürzt…« werde822. Es liegt auf der Hand, dass durch eine nur punktuelle Verkürzung der Sexualkontakte das Ziel, eine hiervon ausgehende familienzerstörende Wirkung zu verhüten, nicht erreicht werden kann. Niemand würde ernstlich die Geeignetheit einer Norm zum Schutz der körperlichen Integrität annehmen, wenn darin nur das Schlagen mit der linken Hand tatbestandlich erfasst würde. Das Argument, dass die Beschränkung auf den Beischlaf Ausdruck der Zurückhaltung des Gesetzgebers bei Eingriffen in die Intimsphäre der Bürger und der Achtung ihrer Menschenwürde geschuldet sei823, erscheint in diesem Zusammenhang widersprüchlich. Denn hiermit wird suggeriert, dass andere Formen von Sexualkontakten zugelassen werden, weil auch der zwischen leiblichen Verwandten innerhalb der Familie ausgeübte intime Verkehr Ausdruck der Menschenwürde sei und daher nicht vollständig pönalisiert werden dürfe. Gleichzeitig stellt die Senatsmehrheit aber auch fest, dass die Norm ihre Berechtigung »auch durch ihre Ausstrahlungswirkungen über den tatbestandlich eng umgrenzten strafbewehrten Bereich hinaus« und aus der damit verbundenen präventiven Wirkung beziehe824. Das vermeintliche Zugeständnis an die menschenwürdebedingte sexuelle Entfaltungsfreiheit wird also dadurch konterkariert, dass die Ausübung derselben durch die Norm erschwert werden soll. Es besteht zwar Konsens darüber, dass für die Geeignetheit einer Maßnahme bereits ein Fördern des zu erreichenden Ziels ausreichend und dass dem Gesetzgeber diesbezüglich eine gewisse Einschätzungsprärogative zuzubilligen sei. Für die Differenzierung zwischen dem im Tatbestand einer Norm erfassten Verhalten und anderen, ähnlichen, nicht erfassten Verhaltensweisen müssen aber, so auch das Gericht, sachliche Gründe zumindest erkennbar sein825. Die Tatsache, dass das Verfassungsgericht selbst die über den engen Kreis der tat822 823 824 825
BVerfGE 120, S. 224 (243). So wohl BVerfGE 120, S. 224 (242). Ebd. S. 249. BVerfGE 120, S. 224 (242).
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bestandlichen Handlungen hinausgehende Ausstrahlungswirkung der Norn als einen sie selbst legitimierenden Faktor ansieht, zeigt, dass auch eine Verhinderung solcher ähnlicher Verhaltensweisen bezweckt werden soll und dass sachliche Gründe für eine Differenzierung daher gerade nicht bestehen. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Zielrichtung des Familienschutzes insgesamt zweifelhaft erscheint, muss der Einschätzung der Senatsmehrheit, dass § 173 StGB geeignet sei, den Bestand von Ehe und Familie zu schützen, widersprochen werden. Der Umstand, dass Kinder aus Inzestverbindungen erhebliche Schwierigkeiten hätten, ihren Platz im Familiengefüge zu finden826, kann unter dem Gesichtspunkt des Familienschutzes nicht Gegenstand einer die Legitimation der Norm herausstellenden Argumentation sein. Zukünftige Familien können insofern kein taugliches Schutzobjekt darstellen, als sich eine Tat nicht gegen etwas richten kann, was durch ihre Begehung erst entstehen kann. Die möglicherweise mittelbar eintretenden Folgen eines Verhaltens können jedenfalls dann nicht Grund des Verhaltensverbots sein, wenn ihr Eintritt stets vom Zufall abhängt. bb) Eugenische Gesichtspunkte Eugenische Gesichtspunkte kommen in zweierlei Ausprägungen als Strafzweck in Betracht. Einer derer ist als ein Allgemeingut der Menschen in Deutschland die sog. »Volksgesundheit«, also die psychische und physische Konstitution des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit. Hierauf haben sich vor allem die Nationalsozialisten als Zielrichtung des Inzestverbots berufen827. Auch das Bundesverfassungsgericht zieht diesem Aspekt heran, indem es den § 173 als »Instrument zum Schutz […] der Gesundheit der Bevölkerung…«828 bezeichnet. Die Einstufung der »Volksgesundheit« als eines Rechtsgutes erscheint schon aus dogmatischen Gesichtspunkten höchst problematisch. Die »Volksgesundheit« kann keinesfalls die Summe der individuellen körperlichen Unversehrtheit aller Mitglieder eines Volkes darstellen. Denn Einigkeit besteht darüber, dass die körperliche Unversehrtheit ein disponibles Gut darstellt. Wenn aber ein übergeordnetes Rechtsgut der Volksgesundheit als Summe der Individualrechtsgüter bestünde, bestünde auch ein unauflöslicher Widerspruch zur Disponibilität der körperlichen Unversehrtheit des Einzelnen. Wenn die »Volksgesundheit« aber ein abstraktes Gut, wie etwa die Bestands- und Lebenskraft des deutschen Volkes, gleichsam das Interesse eines Volkes an seiner eigenen Fortexistenz, sein soll, erschein es fraglich, ob dieses Interesse tatsächlich ein Rechtsgut darstellt. 826 Ebd., S. 244. 827 S.o., Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht (Denkschrift des Preußischen Justizministers), S. 68. 828 BVerfGE 120, S. 224, (249).
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Die Kritik an der Einstufung von »Volksgesundheit« als Rechtsgut entzündet sich in erster Linie an der Frage, ob der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung die Existenz des BtMG in seiner jetzigen Form legitimiert829. Ohne diese Frage an dieser Stelle abschließend zu beantworten, muss doch festgestellt werden, dass in jenem Spannungsfeld durch die Gefahren, die für das soziale Zusammenleben durch massiv verbreiteten Drogenkonsum entstünden, eine Beeinträchtigung des »Funktionierens« des Staates als solchen zumindest denkbar erscheint. Weder eine Beeinträchtigung der Existenz der Bundesrepublik noch das soziale Zusammenleben der Menschen in Deutschland kann beeinträchtigt werden, wenn zwei miteinander verwandte erwachsene Menschen miteinander irgendeine Form von Geschlechtsverkehr haben. Inzest ist nämlich kein abstraktes Gefährdungsdelikt. Selbst wenn man aber dem Begriff der Volksgesundheit in all seiner Vagheit Rechtsgutscharakter zuspräche, bliebe die Frage, ob die sog. »Volksgesundheit« überhaupt in irgendeiner Form beeinträchtigt würde, wenn der Beischlaf unter Verwandten nicht mit Strafe bedroht wäre. Auch dies erscheint äußerst fraglich. Der Blick nach Frankreich, wo seit über 200 Jahren der freiwillige Beischlaf unter Verwandten nicht mehr mit Mitteln des Strafrechts verfolgt wird, zeigt, dass das französische Volk nicht kranker ist als das deutsche. Aber selbst wenn man einen positiven Effekt auf die Gesundheit der Bevölkerung unterstellte, stünde eine strafrechtliche Sicherung derselben durch die Vermeidung der Entstehung von Leben im Widerspruch zu unserer gesamten Rechtsordnung, die es zu Recht penibel vermeidet, einen Menschen zu verpflichten, bei der Zeugung von Nachkommen die Gesundheit der Bevölkerung Deutschlands als solche nicht zu gefährden. Das Zeugen von Kindern steht auch solchen Personen frei, bei denen auf Grund ihrer genetischen Konstitution mit Sicherheit feststeht, dass das erzeugte Kind an einer Erbkrankheit leiden wird830. Evident wird der Widerspruch vor allem im umgekehrten Fall, dass das von einer Erbkrankheit bedrohte ungeborene Leben durch einen medizinischen Eingriff an seiner Entstehung gehindert wird. Selbst die Untersuchung von Zellen auf darin angelegte genetische Defekte831 ist nur in engen Grenzen und nach intensiver Debatte vom Bundestag legalisiert worden832. Entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit ist der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung weder ein rationaler Zweck des § 173 StGB, noch ist die Erreichung eines solchen durch die Verhinderung der Entstehung von Leben verfassungsrechtlich hinnehmbar. 829 Zu dieser Fragestellung vgl. Huang-Yu-Wang, Drogenstraftaten und abstrakte Gefährdungsdelikte. 830 Hierzu auch Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, in: StV 2009, S. 544 (547) mwN. 831 sog. Präimplantationsdiagnostik, kurz: PID. 832 Vgl. hierzu http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/35036974_kw27_de_pid/index.html
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Die andere Lesart der eugenischen Gesichtspunkte ist individualschützenden Charakters. Sie besteht in der Verhinderung der Realisierung des Risikos, dass ein gezeugtes Kind unter Erbkrankheiten leiden und dadurch möglicherweise extrem in seinem potentiellen Lebensglück eingeschränkt sein könnte833. Auch, und hier hängen genetische und soziale Aspekte zusammen, müssten sowohl die potentiellen Nachkommen selbst als auch die Familie des potentiell Geschädigten vor den negativen psychischen Auswirkungen geschützt werden, die dessen Schwierigkeiten, sich in die gesellschaftlichen und familiären Sozialstukturen einzubinden834, mit sich bringen. Das Bundesverfassungsgericht wendet sich vor allem diesem zweiten Aspekt zu. Es geht dabei auch explizit auf die Stellungnahme der Opfervereinigung M.E.L.I.N.A ev.835 ein836. Der Senat führt hierzu aus, dass durch die Beschränkung auf den Beischlaf als Tathandlung der § 173 StGB seine »sachliche Rechtfertigung in der grundsätzlichen Eignung dieser Handlung findet, über das Zeugen von Nachkommen weitere schädliche Folgen hervorzurufen«837. Weil also das Verbot des Beischlafs geeignet sei, dass Entstehen von Nachkommen zu verhindern, sei es geeignet, diese schädigende Folge zu verhüten. Die Untauglichkeit des Arguments liegt auf der Hand, denn es führt zu der Frage, ob ein Mensch Interesse an seiner eigenen Nicht-Existenz haben kann838. Der Senat geht auf diese Frage verständlicherweise nicht ein, kommt aber zu dem Ergebnis, dass »das strafbewehrte Inzestverbot auch unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Erbschäden nicht als irrational angesehen« werden und dieser Gesichtspunkt somit zur Rechtfertigung von § 173 StGB839 ergänzend herangezogen werden könne. Der Schutz eines aus einer Inzestverbindung hervorgehenden Kindes vor den psychischen und physischen Folgen des Umstandes, dass es einer inzestuösen Verbindung entstamme, wie die Interessenvertretung M.E.L.I.N.A ev. ihn fordert und wie ihn auch das Gericht als Zweckrichtung des § 173 anerkennt, vermag die Norm bereits aufgrund der implizierten unmöglichen Abwägung unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Zwar ist zu erkennen, dass der Senat dem Legitimationsaspekt der Verhütung von Erbkrankheiten mit einer gewissen Skepsis gegenübersteht, der er durch den Hinweis Ausdruck verleiht, dass eugenische Gesichtspunkte auch während der Herrschaft der Nationalsozialisten zur Legitimation von durch den 833 BVerfGE 120, S. 224 (247). 834 Ebd. S. 245. 835 Online zur Einsicht und zum Download bereitgestellt unter : http://www.hrr-strafrecht.de/ hrr/doku/2008/001/stellungnahme_melina_e.v.pdf. 836 BVerfGE 120, S. 224 (245). 837 Ebd. S. 249 f. 838 So auch Hassemer in seinem Sondervotum in BVerfGE 120, S. 224 (252); auch Hörnle, Das Verbot des Geschwisterinzests, in: NJW 2008, S. 2085 (2087). 839 BVerfGE 120, S. 224 (248).
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Staat begangener Verbrechen herangezogen worden seien840. Dennoch führt er das biologische Argument sowohl in seiner individualschützenden als auch in der allgemeinschützenden Ausprägung zur Legitimation des § 173 StGB – »ergänzend«841 – ins Feld und erkennt diese Schutzfunktionen an. Sofern das Gericht dabei auf die Intention des Gesetzgebers abstellt, argumentiert es unter Ausblendung der Entwicklung dieser Intention nicht schlüssig: Schon Mittermaier hat auf die Bedeutung eugenischer Gesichtspunkte hingewiesen842, und auch der Gesetzgeber hat, seit Bekanntwerden der Zusammenhänge zwischen Vererbung und Krankheit, diesen Aspekt im Auge gehabt. Während der parlamentarischen Debatten in der Weimarer Republik wurde die Aufrechterhaltung der Strafandrohung mit jenem Argument verteidigt843 undvon den Nazis gern übernommen844. Und sowohl bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission845, im E 1960846, als auch in der Begründung zum 4. StRG wurden eugenische Gesichtspunkte berücksichtigt847. Biologie und Genetik sind im Laufe der Zeit ins Zentrum der Begründung der Inzeststrafbarkeit gerückt, nachdem der Schutz der Sittlichkeit von dort verdrängt worden war. Im 4. StRG wird dann auch die Beschränkung auf die Tathandlung des Beischlafs mit der Berücksichtigung »eugenischer Gesichtspunkte«848 und nicht, wie das BVerfG scheinbar annimmt, mit der Achtung vor der Menschenwürde der Normadressaten849 begründet. Sofern man aber die Verhütung erbkranker Nachkommen doch als tauglichen Strafzweck einstuft, entstehen erhebliche Zweifel, ob dann nicht das Übermaßverbot verletzt wird, da jeder Beischlaf mit Strafe bedroht ist und Zeugungsfähigkeit nicht vorausgesetzt wird. Auch wenn nach 1945 häufig der »ergänzende« Charakter genetischer Aspekte hervorgehoben wurde, vermag diese Einschränkung diesem Argument kein höheres Maß an Legitimation zu verschaffen. Im Beschluss des Verfassungsgerichts hat diese Formulierung auch überhaupt keine Bedeutung, denn entweder besteht das Erfordernis, die Gesundheit des Volkes oder jene des potentiellen Kindes zu schützen, oder eben nicht. Die ergänzende Heranziehung eugenischer Gesichtspunkte durch die Senatsmehrheit wirkt insofern sybilli840 841 842 843 844 845 846 847 848 849
BVerfGE 120, S. 224 (248). Ebd. S.o., Mittermaier, Verbrechen und Vergehen S. 144. S.o., z. B. Abgeordneter Schetter (Z), Protokoll der 83. Sitzung, S. 45. S.o. unter B. V. 4. b) und VI. S.o., 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission vom 18. 06. 1958, in: Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 358. S.o., Landgerichtsrat Sturm während der 87. Sitzung der Großen Strafrechtskommission, S. 363. Deutscher Bundestag, Drucksachen VI/1552, S. 14. Ebd. BVerfGE 120, S. 224 (243).
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nisch. Darüber hinaus wird von der Senatsmehrheit auch ausdrücklich betont, dass die Rechtfertigung der Norm sich gerade aus einer »Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke« ergebe850, dass also einer der benannten Strafzwecke nur ergänzend wirkt. Weil sich unter dem Begriff der »eugenischen Gesichtspunkte« insgesamt kein sinnvollerweise zu schützendes Gut ausmachen lässt, sind solche Gründe zur Rechtfertigung des § 173 StGB nicht tauglich. cc) Schutz der sexuellen Selbstbestimmung Den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung als Zielrichtung des § 173 StGB zu benennen, ist in erster Linie aus systematischen Gründen problematisch. Hat doch der Gesetzgeber die Norm bewusst ans Ende der Vorschriften über den Schutz von Ehe, Familie und Personenstand gestellt851. Darüber hinaus ist der Missbrauch einer anderen Person tatbestandlich gerade nicht erforderlich. Ob dem Tatbestand nur freiwillige Handlungen unterfallen sollen, war lange umstritten, nach heute vorherrschender Ansicht soll der Tatbestand jedoch Missbrauch oder Vergewaltigung gerade nicht umfassen und auf den einvernehmlichen Verkehr beschränkt sein852. Da ein freiwilliger Geschlechtsverkehr gerade Ausdruck der sexuellen Selbstbestimmung ist und abgenötigter gerade nicht erfasst wird, ist fraglich, ob die sexuelle Selbstbestimmung überhaupt als Schutzzweck in Betracht kommt. Dennoch wurde dieser Zweck vom Gesetzgeber immer wieder und vor allem, wie gezeigt, bei der jüngsten Begründung zu § 173 StGB deutlich herausgestellt. Dieser Zweck erscheint auch dem Verfasser als der einzige, der die Norm – zumindest was ihren Strafzweck angeht – legitimieren könnte Und zwar vor allem deswegen, weil die sexuelle Selbstbestimmung einer Person unstreitig als ein Rechtsgut angesehen werden kann und sich nach der hier vertretenen Auffassung auch die Verfassungsmäßigkeit der Norm am Bestehen eines solchen zu orientieren hat. Dennoch bleibt nur ein sehr beschränkter Raum, in dem der sexuellen Selbstbestimmung im Rahmen des § 173 StGB tatsächlich Gewicht zukommen kann. Dieser Bereich ist die sexuelle Selbstbestimmung des Abhängigen, nicht zwingend Minderjährigen. Das BVerfG hat Recht, wenn es davon ausgeht, dass die Familie ein prägendes Sozialund somit auch Normgefüge darstellt. Die Beziehungen in engstem Familienverhältnis zueinander stehender Personen sind in besonderer Weise von den natürlichen und sozialen Gegebenheiten geprägt. So stellt die natürliche Autorität der Eltern gegenüber ihren Kindern oder auch jene von älteren gegenüber 850 Ebd., S. 248. 851 S.o., Vorlage des Justizministeriums zur 87. Sitzung der großen Strafrechtskommission (Umdruck J 81), in: Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 621 f. 852 Kindhäuser/Neumann/Paeffgen-Frommel, § 173, Rn. 15; LK-Ruß, § 173, SK-Horn, § 173, Rn. 4; dagegen Müko-Ritscher, § 173, Rn. 9, S/S-Lenkner, § 173, Rn. 3.
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jüngeren Geschwistern ein typisches Merkmal der Familie dar. Wo ein Mensch aufwächst, werden soziale Verhaltensweisen erlernt, entsteht zu den Bezugspersonen, in der Regel Mutter oder Vater, ein starkes Vertrauensverhältnis und wird die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen nachhaltig beeinflusst. Das ist der Grund, warum die Familie in Art. 6 GG unter besonderen Schutz gestellt ist und warum Kinder und Heranwachsende in besonderem Maße auch strafrechtlichen Schutz gegen Schädigungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung genießen. Die Schädigungen, deren Verursachung am schwersten mit Strafe bedroht sind, sind solche, die dem Kind durch massive Gewalteinwirkung oder sexuellen Missbrauch drohen. Auch der einvernehmliche Geschlechtsverkehr mit Kindern ist aus diesem guten Grund mit Strafe bedroht, weil wir davon ausgehen, dass ein Kind nicht in der Lage ist, vor Erreichen eines gewissen geistigen Reifegrades die Auswirkungen seiner Handlungen in einer Form zu überblicken, die es gegenüber einem Erwachsenen zu einem Mitmenschen auf Augenhöhe machen, dem allein die Verantwortung über sein Handeln obliegt. Das Bundesverfassungsgericht hat insofern zutreffend darauf hingewiesen, dass »in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten« dazu führen könnten, dass »Schwierigkeiten der Einordnung und Abwehr von Übergriffen« entstehen und insofern ein Schutzbedarf besteht, der durch § 174 StGB nicht abgedeckt ist853. Das Gericht hat hierbei vornehmlich den »Missbrauch eines Kindes über dessen achtzehntes Lebensjahr hinaus« im Blick854. Dagegen wird zunächst eingewandt, dass das Erreichen einer Altersgrenze im Sexualstrafrecht eine anerkannte Methode der Grenzziehung darstelle und es eine Reihe weiterer Delikte gebe, bei denen die Strafbarkeit eines Verhaltens ende, sobald das ehemals minderjährige Opfer volljährig werde855. Ferner enthalte die Norm keine derartige Voraussetzung, dass das Verhältnis begonnen haben müsse, während ein Beteiligter noch minderjährig gewesen sei856, und es trete Strafbarkeit auch dann ein, wenn ein Verhältnis erst nach Eintritt der Volljährigkeit beginne857. Schließlich spreche gegen einen derartigen Schutzgedanken auch die Tatsache, dass gem. § 173 II S. 2 beide den Beischlaf miteinander ausübenden Geschwister bestraft würden858. Diese Einwände sind berechtigt. Jedoch ist dem Bundesverfassungsgericht in der Annahme zuzustimmen, dass derjenige besonderen Schutzes bedarf, dessen Familie ihm gerade nicht einen geschützten Rückzugsort und persönlichen Halt bietet, sondern in 853 854 855 856
BVerfGE 120, S. 224 (246). BVerfGE 120, S. 224 (246). Hörnle, Geschwisterinzest, in: NJW 2009, S. 2085 (2087). Hörnle, Geschwisterinzest, in: NJW 2009, S. 2085 (2087); Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, in: StV 2009, S. 544 (S. 547). 857 Hörnle, Geschwisterinzest, in: NJW 2009, S. 2085 (2087). 858 Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, in: StV 2009, S. 544 (547).
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der Abhängigkeitsstrukturen, denen er ausgeliefert ist, geschaffen und manifestiert werden. In derartigen Konstellationen muss das Strafrecht diesen Schutz auch bieten, weil soziale Schutzmechanismen gerade nicht vorhanden sind. Zutreffend ist auch die Annahme, dass in derartigen Konstellationen die Grenze zwischen freiwilligem und abgenötigtem Beischlaf nicht klar gezogen werden kann, da eine sich in solchem Abhängigkeitsverhältnis befindende Person die »Ablehnung des nach wie vor unerwünschten Beischlafs nicht so deutlich zu erkennen gibt, dass eine Bestrafung wegen sexueller Nötigung in Betracht käme«859, und dass insofern nach Erreichen der Altersgrenze auch der § 174 StGB keinen umfassenden Schutz gewährleistet. Hier besteht ein kriminalpolitisches Bedürfnis, auch mit Mitteln des Strafrechts eingreifen zu können. In diesem Sinne ist im Schutz der sexuellen Selbstbestimmung tatsächlich ein tauglicher Schutzzweck mit Bezug zu einem schützenswerten Rechtsgut zu erblicken. Dennoch erfüllt der § 173 StGB in seiner jetzigen Form nicht die Anforderungen, die an eine Schutznorm mit diesem Schutzzweck zu stellen sind. Denn neben den bereits angeführten Kritikpunkten nimmt § 173 StGB mit keinem Wort Bezug auf das Bestehen einer Familie860. Nicht Familienmitglieder, sondern Blutsverwandte bilden den tauglichen Täterkreis. Ein Schutzzweck der sexuellen Selbstbestimmung kann aber nur darauf abzielen, eine nach Erreichen der Volljährigkeit in ihrer Familie verbleibende Person vor dem Ausnutzen zuvor geschaffener Abhängigkeiten zu schützen. Es fehlt insofern durch das Abstellen auf Blutsverwandte erneut bereits an der Geeignetheit, den angestrebten Zweck zu fördern. Aus diesen Gründen ist es nicht nachvollziehbar, dass die Senatsmehrheit dennoch den § 173 II StGB in dieser Form mit dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung legitimiert. dd) Manifestation der kulturhistorischen Tabuisierung Es ist nicht hinnehmbar, dass das Bundesverfassungsgericht in dem Bestehen einer »nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit« einen legitimierenden Umstand richtet. Hieran änderte sich auch dann nichts, wenn man davon ausginge, dass das Gericht diesem Aspekt lediglich eine die Rechtfertigungsschwelle senkende Wirkung zuschriebe. Auf die Möglichkeit, Moralvorstellungen mit Mitteln des Strafrechts zu schützen, wurde bereits eingegangen. Fraglich erscheint überdies aber auch, ob die unterstellte gesellschaftliche Überzeugung von der Strafwürdigkeit überhaupt besteht861. Fest steht jedenfalls, dass das Bestehen einer solchen nicht eindeutig 859 Ebd. S. 246. 860 Auf diesen Widerspruch weist auch Roxin hin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, in: StV 2009, S. 544 (547). 861 Die Existenz einer solchen bezweifelnd Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, in: StV 2009, S. 544 (549).
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feststellbar ist. Ein weiteres Problem, das die Heranziehung derartiger Aspekte mit sich bringt, hat Mittermaier bereits 1926 benannt: »Es heißt da: ›Verfehlungen dieser Art erschienen dem gesunden Empfinden des Volkes verwerflich und strafwürdig‹ und müssen darum bestraft werden. […] Ob das Volksempfinden ein richtiges ist, hat der Gesetzgeber nicht festgestellt«862.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Das BVerfG beruft sich neben der vermeintlich in der Bevölkerung verbreiteten Überzeugung von der Strafwürdigkeit auch auf eine kulturhistorische Verankerung des Inzestverbots863. Es wird nicht ganz klar, was das Verfassungsgericht damit meint, weil der Begriff der Kulturhistorie kulturelle und historische Aspekte vermengt. Es wird mit dieser Formulierung der Eindruck erweckt, dass der einvernehmliche Beischlaf unter Verwandten in Deutschland und seinen territorialen Vorgängern seit jeher mit Strafe bedroht war und dass dieses Verbot auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhte und beruht. Dem ist jedoch, wie auch die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, nicht so. Im Gegenteil war das Inzestverbot seit Beginn des Prozesses der Verwissenschaftlichung von Recht sowohl in der Philosophie als auch in der Rechtswissenschaft höchst umstritten. So fand die Inzeststrafbarkeit ins Bairische StGB von 1813 trotz anderslautender Entwürfe erst in letzter Sekunde auf politischen Druck hin und bemerkenswerter Weise aus Rücksichtnahme auf das »gesunde Volksempfinden«864 Eingang865. Im PrALR war die Bestimmung während des Reformprozesses zahlreichen »Angriffen« ausgesetzt, und auch die Bestrafung des Verschwägertenbeischlafs wurde zeitweilig gestrichen. In der Spätphase der Beratungen wurde die Abschaffung des Inzestverbots nicht nur vereinzelt gefordert, sondern erst in Kampfabstimmungen verworfen866. Im Entwurf für ein Strafgesetzbuch für das ganze Deutschland von 1848 fehlte der Tatbestand komplett und fand seinen Weg ins Pr.StGB erst nach dem Scheitern der Revolution867. Im Code P¦nal von 1810 fehlt eine Inzeststrafe ebenfalls, obwohl die kulturhistorischen Fundamente dieselben waren wie in Preußen. Das gesamte preußische Sittlichkeitsstrafrecht und damit auch das Inzestverbot wurde stets durchgesetzt und aufrechterhalten von den christlich-konservativen Eliten, die dessen Legitimation in erster Linie dem religiösen Gebot der Beförderung einer sittlichen Lebensführung entnahmen. In der Reichstagsdebatte vom 11. 10. 1929 wurde eine völlige Streichung des Inzestverbots zwar mehrfach gefordert, ein 862 863 864 865 866 867
Mittermaier, in: Reform, S. 11. BVerfGE 120, S. 224 (246). S.o., zu dieser Begründung vgl. Rosenberger, S. 180. S.o. unter B. III. 2. c) cc). S.o. unter B. IV. 1. b) bb) (3). S.o. unter B. IV. 1. b) bb) (4).
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Hauptteil
SPD-Antrag zur Streichung des Geschwisterinzests aber nur mit sehr knapper Mehrheit abgelehnt868. Zuletzt bestand während der 60er und 70er Jahre eine gesellschaftliche wie politische Opposition, deren Forderungen im Alternativentwurf von 1968869 zusammengefasst sind und die, ihrerseits in der kulturhistorischen Tradition des gesellschaftspolitischen und dogmatischen Zweifelns an der Berechtigung des strafrechtlichen Inzestverbots steht. Die Berechtigung eines strafrechtlichen Inzestverbots war also sowohl als solche, insbesondere aber hinsichtlich seiner genauen Ausgestaltung in der nahen und fernen Vergangenheit teilweise extrem umstritten. Unabhängig davon, ob eine »kulturhistorische« Begründung überhaupt Legitimationswirkung entfalten kann, besteht eine solche für das umfassende Inzestverbot des den Gegenstand des verfassungsrechtlichen Beschlusses bildenden § 173 StGB jedenfalls nicht in dem Maße, wie die Senatsmehrheit es glauben macht. ee) Fazit Der Beschluss des Verfassungsgerichts kann nicht überzeugen. Die massive Kritik, die hiergegen bereits vorgebracht worden ist870, soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Keiner der von der Senatsmehrheit vorgebrachten Strafzwecke vermag für sich genommen die Norm in ihrer konkreten Gestalt zu rechtfertigen. Eine Zusammenschau kann kein anderes Ergebnis ergeben. Die Kritik der Senatsmehrheit an der systemkritischen Potenz des Rechtsgutsbegriffs ist nicht zielführend. Der Streit ist inhaltlich nämlich nur ein scheinbarer. Die Bestimmung eines Schutzgutes muss immer in irgendeiner Form erfolgen, auch wenn man die Grenzen des öffentlichen Strafanspruchs in der Verfassung selbst sucht. Denn dort, wo ein Schutzgut fehlt, ist es nicht denkbar, dass mit einer Strafnorm ein rationales Ziel verfolgt wird. Genauso wenig ist es überzeugend, dass das Verfassungsgericht alle denkbaren Strafzwecke daraufhin überprüft, ob sie irgendwie durch den § 173 StGB gefördert werden und in der Gesamtschau nicht völlig außer Verhältnis stehen. Hierdurch verschwimmt der Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung, denn was sich zur Erreichung des einen Zwecks als unverhältnismäßig herausstellt, kann nicht dadurch geheilt werden, dass es sich hinsichtlich eines anderen Zwecks als verhältnismäßig erweist. Hassemer hat insofern Recht mit seiner Kritik, dass der Zweck einer 868 S.o. unter V. 4. b) , Protokoll der 83. Sitzung, S. 45. 869 S.o. unter B. VII. 4. d). 870 Roxin, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, in: StV 2009, S. 544 – 550; Noltenius, Grenzenloser Spielraum des Gesetzgebers im Strafrecht, in: ZJS 2009, S. 15 – 21; Hörnle, Geschwisterinzest, in: NJW 2009, S. 2085 – 2088; Thurn, Eugenik und Moralschutz, in: KJ 2009, S. 74 – 83; Zabel, Die Grenzen des Tabuschutzes im Strafrecht, in: JR 2008, S. 453 – 457; Ziehten, Anmerkungen zum Beschluss des BVerfG vom 26. 02. 2008, in; NStZ 2008, S. 614 – 618.
Der Beschluss des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots
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Norm »notwendiger Bezugspunkt« ihres Maßes sei und sich das Maß mit dem Zweck ändere871. Die Senatsmehrheit muss sich durch ihr methodisches Vorgehen dem Vorwurf der Beliebigkeit konfrontiert sehen. Es wurde hier eine Chance vertan, Stellung zu nehmen zu der Frage, wie in einer pluralen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, in der die universelle soziale Ordnungsfunktion von Religion und tradierten Wertvorstellungen zunehmend erodiert und in der die Freiheit des Individuums zunehmend an Bedeutung gewinnt, ein angemessenes Verhältnis von öffentlichem Strafanspruch und individueller Freiheit erreicht werden kann. Es ist weder gelungen, die Rechtsgutsdebatte zu bereichern, noch wurde von der Senatsmehrheit die Verfassungswidrigkeit des § 173 II StGB erkannt.
871 Hassemer in seinem Sondervotum, BVerfGE 120, S. 224 (257).
C. Schluss
I.
Zusammenfassung
Die Frage, welche Anforderungen an Strafnormen zu ihrer Legitimation zu stellen sind, wurde in Hobbes’ Staatsphilosophie intensiv diskutiert. Ihre Beantwortung gibt bereits die wesentlichen Leitlinien zur Abgrenzung zwischen öffentlichem Strafanspruch und Privatheit wieder. Schon Hobbes formulierte eine Art ultima ratio-Prinzip, indem er eine Beschränkung auf das Notwendige forderte und eine klare Benennung der Schutzrichtung verlangte: »Deshalb widerstreitet es besonders der Pflicht der Herrscher und verantwortlichen Gesetzgeber, wenn der Gesetze mehr sind, als das Wohl der Bürger und des Staates unbedingt erfordert872. Es gehört daher zu den Aufgaben des Gesetzgebers, […] die Gründe klarzulegen, weshalb das Gesetz erlassen wurde, und das Gesetz selbst so kurz, aber in so treffenden und bezeichnenden Worten abzufassen, wie möglich«873.
Die in den folgenden Jahrhunderten entwickelten philosophischen Grundlagen befassten sich dann intensiver mit der Ausgestaltung strafrechtlicher Begrenzungsmodelle. Die Trennung von Tugend und Pflicht, die ihr Pendant in der Trennung von Recht und Moral findet, bezeichnet bereits relativ klar einen bis heute verfolgten Ansatz. Während der Aufklärung wurde dann das Modell der Beschränkung von Strafrecht auf solche Verhaltensweisen, die in die Freiheitssphäre eines anderen eingreifen, zur Grundlage einiger Strafkataloge gemacht. Und hier, in der Philosophie Kants, liegen bereits jene Widersprüche begründet, die das gesamte Sittlichkeitsstrafrecht in Deutschland durchziehen und bis heute dem § 173 StGB anhaften. Kant erkannte nämlich in den »Pflichten gegen uns selbst« und in solchen gegenüber der Menschheit konkrete Rechtspflichten, die der Staat auch strafrechtlich durchsetzen könne, obwohl durch derartige Handlungen gerade kein anderer Mensch beeinträchtigt wird. Dieser systema872 S.o., Hobbes, De Cive, Kap. 13, S. 214 f.. 873 S.o., Hobbes, Leviathan, Kap. 30, S. 265.
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Schluss
tische Bruch in seinem strafrechtlichen Begrenzungskonzept führt auch zu einer Sonderrolle des Inzestverbots und anderer Verbote einvernehmlichen intimen Verkehrs, deren Strafbarkeit sich auf eben jene Ausnahme gründet. Selbst dem strengen Dogmatiker Feuerbach gelang es nicht, im bairischen StGB ein stringentes Begrenzungskonzept zum Maßstab zu machen. Hier wurde, gegen den konzeptionell klaren Entwurf Feuerbachs, das Inzestverbot aus Rücksicht auf das »Volksempfinden« im letzten Moment doch noch aufgenommen. Feuerbachs dogmatischer Ansatz, bei strafrechtlichen Eingriffen in die Intimsphäre nur solches Verhalten zu bestrafen, das entweder gegen den Willen eines anderen geschieht oder auf dem Missbrauch der Privatgewalt bzw. eines Autoritätsverhältnisses beruht, wurde später immer wieder aufgegriffen und hat nach Ansicht des Verfassers nichts von seiner Richtigkeit verloren. In Frankreich hat man nach der Revolution das Sittlichkeitsstrafrecht konsequent auf Missbrauchskonstellationen beschränkt und nur die Erregung öffentlichen Ärgernisses als Generalklausel beibehalten. Die Ideen der Aufklärung prägten insofern das französische Strafrecht wesentlich direkter als das deutsche. Dennoch blieb auch das preußische Strafrecht davon keineswegs unbeeinflusst, jedoch hat sich die klare Trennung von Recht und Moral nicht als die Begrenzungslinie für das Strafrecht durchgesetzt wie es in Frankreich der Fall war. Das Sittlichkeitsstrafrecht des PrALR ist in seinen Anfängen noch wesentlich stärker vom Geist der Aufklärung geprägt als zum Ende der Revision. Hier zeigt sich auch der Einfluss, den Interessengruppen und einzelne Persönlichkeiten auf das gesamte Sittlichkeitsstrafrecht genommen haben. Die Revision des PrALR und das entstehende Pr.StGB sind stark geprägt von den konservativ-christlichen Eliten. War es zunächst Kamptz, der sich für eine Aufrechterhaltung christlicher Wertvorstellungen im Strafrecht einsetzte, so waren es später von Gerlach und seine Mitstreiter von der Kreuzzeitung, die auch in der Praxis einen hohen Verfolgungsdruck erzeugten. Die Beratungen im Vorfeld der Revolution zeigen, dass Liberalisierungsforderungen im Sittlichkeitsstrafrecht oft mit politischen Forderungen Hand in Hand gehen. Die nahezu unbekannten Revolutionsentwürfe von 1848 haben weder Homosexualität noch Inzest bestraft. Es erscheint daher fraglich, ob unser heutiges StGB den Beischlaf zwischen Verwandten bestrafen würde, wenn die Revolution erfolgreich gewesen wäre. Erst die strengen Vorschriften der restaurativen Gegenbewegung haben sich im deutschen Strafgesetzbuch manifestiert. Die Auseinandersetzung Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts hat dieses Sittlichkeitsstrafrecht massiv in Frage gestellt. Aber auch hier überlagerte die politische Situation alle Reformbestrebungen. Es wurden während der parlamentarischen Debatten der 20er Jahre bereits im Kern dieselben Argumente ausgetauscht wie während der Reformzeit der 60er Jahre. Vor allem Kurt Hillers Dissertation »Das Recht über sich selbst« zeigt, dass während dieser
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177
Zeit bereits ein modernes, an den Idealen der Aufklärung orientiertes Konzept zur Begrenzung strafrechtlicher Eingriffe in das intime Privatleben der Bürger entwickelt worden war. Viele dieser Ansätze wurden im Alternativentwurf von 1968 wieder aufgegriffen. Die Begründungsansätze für die Aufrechterhaltung des Inzestverbotes haben sich im Laufe der Zeit verschoben. Ging es zunächst noch um eine göttlich gewollte Weltordnung, so fand dieser Gedanke später über den Begriff der Sittlichkeit Eingang in die Gesetzesbegründungen. Die Aufrechterhaltung der Sittlichkeit mit Mitteln des Strafrechts stand aber spätestens seit der Revision des PrALR immer stärker in der Kritik. Nach Aufkommen der Sexualforschung und dem Eingang medizinisch-biologischer Ansätze ins Strafrecht wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Inzestverbot vornehmlich mit dem Schutz der Volksgesundheit und der Verhinderung von Erbkrankheiten begründet. Dieser Begründungsansatz hat sich bis in die Bundesrepublik als entscheidender Legitimationsaspekt gehalten. Erst die Große Strafrechtskommission hat den Schutz der Familie als Strafzweck entdeckt, aber gleichzeitig festgestellt, dass es sich beim Inzest eigentlich um ein Sittlichkeitsdelikt handele. Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass hier ein Delikt, dessen Gattung, die »Sittlichkeitsdelikte«, ausgestorben war, am Leben erhalten werden sollte, so dass man die Bedrohung der Sittlichkeit durch die Bedrohung der Familie ersetzte. Von da an wurden immer, wenn der Verwandtenbeischlaf zur Debatte stand, alle denkbaren Schutzrichtungen herangezogen, wie es dann auch das BVerfG tat. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass die rechtsgutsbezogene Liberalisierungsbewegung mindestens eine ebenso lange Tradition aufweist wie die Strafbarkeit des Inzests in Deutschland.
II.
Folgerungen in Bezug auf § 173 StGB
Seit Bestehen des Inzestverbots im deutschen Strafrecht ist seine Berechtigung höchst umstritten. Die Berechtigung des Staates, den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zweier erwachsener Menschen unter Strafe zu stellen, wurde zuerst zur Zeit der Aufklärung negiert. Das hier von Vertretern der Zeit vorgebrachte Argument gegen die Pönalisierung bestand in der Maßgabe, dass staatliches Strafrecht streng von allen bloßen Tugendpflichten getrennt werden müsse. Sofern keine Rechte anderer durch ein Verhalten betroffen seien, müsse dieses Verhalten vom Gesetzgeber, so sehr es aus anderen Gründen auch missbilligenswert sei, hingenommen werden. Da aber der einvernehmliche Beischlaf zwischen erwachsenen Verwandten nicht in Rechte Dritter (Individuen) eingreife, könne derartiges Tun auch nicht mit Strafe bedroht werden. Diese Trennung von Recht und Moral, von staatsbürgerlicher Pflicht und menschlicher Tugend wurde später aufgegriffen, als man daran ging, einen abstrakten Ori-
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Schluss
entierungsfaktor zu bestimmen, anhand dessen die Berechtigung resp. das Erfordernis einer Strafnorm festgestellt werden könne. Diesen Faktor erkannte man im Rechtsgut. Der Inhalt dieses Begriffs blieb allerdings seit seiner Begründung durch Birnbaum während der 1830er Jahre bis heute äußerst umstritten. Einigkeit besteht jedoch zumindest insoweit, als der Kern des Rechtsgutbegriffs stets ein eindeutig zu bestimmendes Schutzgut sein muss, das in seinem Bestand schützenswert ist. Dieses Schutzgut kann einzelnen Personen zugeordnet werden (Individualrechtsgut), sein Erhalt im Interesse der Allgemeinheit oder des Staates liegen (abstrakte Rechtsgüter). Ob jedoch, wie von Liszt es als erster formuliert hatte, Rechtsgüterschutz stets Interessenschutz bedeute oder den Ausführungen Bindings folgend, stets das zum Rechtsgut erhoben werden kann, was der Gesetzgeber für schützenswert hält, ist bis heute ungeklärt. Was sind nun die Ergebnisse dieser Untersuchung in Bezug auf das Inzestverbot des § 173 StGB? Zum einen ist festzustellen, dass die Abgrenzung zwischen intimer Privatheit und öffentlicher Strafe keine lineare Entwicklung genommen hat. Es ist klar zu erkennen, dass politische Entwicklungen die wissenschaftliche Analyse und strafrechtliche Diskussion in diesem Bereich häufig überlagert haben. Das war in Frankreich Napoleons der Fall, in Preußen, in der Weimarer Republik, im »Dritten Reich« und in der Bundesrepublik. Insofern läge es nicht fern zu behaupten, dass sich auf diesem Feld seit 1794 wenig verändert hat. Damit ist nicht gemeint, dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 II StGB ein politischer gewesen sei. Jedoch steht dieser Beschluss in der schlechten Tradition, eine Norm, deren Existenz den Grundsätzen strafrechtlicher Dogmatik nicht entspricht, mit einem wortreichen Konglomerat aus Traditionsbewusstsein, Überzeugung und der Kapitulation vor einer vermeintlichen Erwartungshaltung in der Bevölkerung zu rechtfertigen. Fest steht: Der § 173 StGB ist in seiner jetzigen Fassung nicht akzeptabel. Ob hieraus allerdings der Schluss gezogen werden muss, dass er vollständig zu streichen ist, ist fraglich. Nach Ansicht des Verfassers, in der er auch mit dem BVerfG übereinzustimmen glaubt, kann keine Strafnorm existieren, die nicht klar ein Schutzgut benennt. Denn ein Schutzgut muss nach allen Begrenzungsmethoden immer klar benennbar sein, sei es als systemkritische Grenze des gesetzgeberischen Spielraums direkt aus dem Rechtsgutsbegriff, sei es als unabdingbare Voraussetzung der Maßstabsbildung für diese Grenzziehung. Der Streit darum, ob aus dem Rechtsgutsbegriff dem Gesetzgeber eine Grenze seiner Einschätzungsprärogative erwachse oder sich diese nur »direkt« aus der Verfassung selbst ergeben, ist auch eher ein scheinbarer denn ein entscheidender. Eine verfassungsrechtliche Grenzziehung kommt niemals ohne ein eindeutiges Schutzgut aus. Als ein solches Schutzgut kommt bei § 173 StGB nur die sexuelle Selbstbestimmung in Betracht. Alle anderen im Laufe der Jahr-
Folgerungen in Bezug auf § 173 StGB
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hunderte und auch in dem genannten Beschluss angeführten Schutzobjekte existieren entweder nicht, oder die Norm ist nicht geeignet, sie zu schützen. Da jedoch ein einvernehmliches Handeln zweier erwachsener Menschen niemandes sexuelle Selbstbestimmung beeinträchtigt, müsste der Gesetzgeber, wenn er dieses Schutzgut dem § 173 StGB zugrunde legt, Klarheit darüber schaffen, wessen sexuelle Selbstbestimmung durch das Verbot geschützt werden soll. Der oben dargestellte Ansatz, die Ausnutzung eines innerfamiliär geschaffenen und fortbestehenden Abhängigkeitsverhältnisses zu verhindern, scheint insofern, die einzig sinnvolle Zielrichtung zu sein. Zunächst wäre jedoch die Frage zu beantworten, ob eine solche Ausnahme von dem Grundsatz gemacht werden soll, ein Verhalten Volljähriger, das nicht mit Willensmängeln behaftet ist, straflos zu stellen, solange keine Dritten beeinträchtigt oder gefährdet werden. Diese Frage hat der Gesetzgeber zu beantworten. Sofern er zu dem Ergebnis gelangt, dass § 174 StGB bereits den Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses hinreichend abdeckt, wäre die Norm vollständig zu streichen. Kommt er zu anderem Ergebnis und erkennt ein kriminalpolitisches Bedürfnis, wäre entweder der § 174 StGB entsprechend zu erweitern – denkbar erscheint die Einführung einer Nr. 3 in Abs. 1 – oder, um den besonderen Charakter der Norm zu erhalten, ein entsprechend umgestalteter § 173 StGB in den Abschnitt der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu überführen. Das Tatbestandsmerkmal der Blutsverwandtschaft ist in jedem Fall zu streichen. Ebenso verhält es sich mit der Beschränkung der Tathandlung auf den Beischlaf, da diese beiden Tatbestandsmerkmale offensichtlich auf die Verhütung erbkranken Nachwuchses abzielen. Abzustellen wäre stattdessen auf den familiären Zusammenhang und als Tathandlung jede Art sexuellen Verkehrs einzuschließen. Unabhängig davon, ob der § 174 StGB erweitert oder die Norm lediglich modifiziert überführt würde, könnte der Tatbestand dann beispielsweise die folgende Fassung erhalten: »Wer als Elternteil an seinem über achtzehn Jahre alten Kind sexuelle Handlungen vornimmt oder von diesem an sich vornehmen lässt, wird mit Gefängnis von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wenn eine familiäre Gemeinschaft zwischen ihm und dem Kind bereits bestanden hatte, bevor das Kind das achtzehnte Lebensjahr vollendete. Ebenso werden Geschwister bestraft, wenn sie ein gegenüber einem anderen Geschwister bestehendes Abhängigkeitsverhältnis, das in einer bestehenden familiären Gemeinschaft begründet ist, zu derartigen Handlungen ausnutzen«.
Ob auch Geschwister von der Norm erfasst sein sollten, stünde ebenfalls im Ermessen des Gesetzgebers. Dafür spricht jedoch, dass es keinen Unterschied machen kann, ob die elterliche Autorität oder ein wesentlicher Altersunterschied ausgenutzt wird. Dagegen sprechen allerdings die erheblichen Beweisschwie-
180
Schluss
rigkeiten. Sollte man die Norm nach dem Vorbild des § 174 StGB gestalten, bestünde auch kein Anlass, das Strafmaß gegenüber § 174 I Nr. 3 StGB abzuändern. Da es nach dem gemachten Vorschlag nicht mehr der inzestuöse Beischlaf ist, der die Strafbarkeit bedingt, müsste die Norm dann auch eine andere Überschrift – etwa: Sexuelle Handlungen mit Abhängigen – erhalten. Zuzustimmen ist jedenfalls Feuerbach, der bereits in seinem Entwurf für ein bayrisches StGB das Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses als Grenze des freiwilligen Sexualverhaltens ausgemacht hatte. Wenn man aber zu dem Ergebnis kommt, dass die sexuelle Selbstbestimmung nicht das maßgebliche Schutzgut darstellt, ist die Vorschrift vollständig zu streichen.
III.
Jüngste Entwicklungen
1.
Das deutsche Inzestverbot vor dem EGMR
Am 12. April 2012 hat die Kammer der fünften Sektion des EGMR in der Sache Stübing vs. Bundesrepublik Deutschland festgestellt, dass die Entscheidung des BVerfG zu § 173 II StGB vom 26. 02. 2008 nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt874. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) geltend. Die Kammer lehnte eine Verletzung von Art. 8 EMRK ab. Die Entscheidungsfreiheit nationaler Gerichte sei gerade in Bereichen, die von den Mitgliedsstaaten unterschiedlich beurteilt würden, besonders weit; dies gelte umso mehr, wenn Moralvorstellungen mit Mitteln des Strafrechts aufrechterhalten werden sollten: »Wo es jedoch zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats weder in Bezug auf die relative Bedeutung der betroffenen Interessen noch in Bezug auf ihren bestmöglichen Schutz einen Konsens gibt, wird der Ermessensspielraum weiter gefasst sein. Aufgrund ihres direkten und ständigen Kontakts zu den in ihren Ländern wirkenden Kräften sind die staatlichen Behörden grundsätzlich besser in der Lage als das internationale Gericht, sich zum »genauen Inhalt der Anforderungen der Moral« in ihrem Land sowie zur Notwendigkeit einer Einschränkung zu äußern…«.
Der EGMR erkennt also die Möglichkeit, Moralvorstellungen mit Mitteln des Strafrechts zu schützen, vorbehaltlos an. Dies ist aus seiner Perspektive auch richtig, denn Art. 8 Abs. 2 EMRK lässt staatliche Eingriffe in das Privat- oder Familienleben zum Schutz der Moral ausdrücklich zu. Bemerkenswert erscheint 874 ECHR 158 (2012): CASE OF STÜBING v. GERMANY, (Application no. 43547/08). Online auch in deutscher Sprache verfügbar unter : http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001 – 111961.
Jüngste Entwicklungen
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in diesem Zusammenhang allerdings die Argumentation der Bundesregierung, der § 173 StGB diene dem Schutz der Moral in der Gesellschaft insgesamt. Denn jedenfalls das Grundgesetz enthält keinen ausdrücklichen Hinweis darauf, dass mit Mitteln des Strafrechts die Moral in der Gesellschaft geschützt werden müsse. Die Kammer führt aus, dass der deutsche Gesetzgeber in den 70er Jahren die Norm nicht abgeschafft und sie somit »bekräftigt« habe. Es ist nicht zu beanstanden, wenn der EGMR gegenüber Entscheidungen eines demokratischen Gesetzgebers besondere Zurückhaltung übt. Aus Sicht der Kammer ist es dann auch konsequent, wenn der Beschluss des BVerfG lediglich dahingehend überprüft wird, ob die Entscheidungsfindung willkürlich erfolgte oder nicht. Die Argumentation des EGMR ist an dieser Stelle zwar nicht abschließend logisch, denn er ist der Auffassung, die »sorgfältige Herangehensweise« werde bereits dadurch belegt, dass die »von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente gründlich geprüft« worden seien und dem Beschluss das abweichende Sondervotum Hassemers beigefügt worden sei. Warum hierin eine besonders sorgfältige Herangehensweise zu erblicken sein soll, erschließt sich dem Verfasser nicht. Dem Verhältnis von EGMR und BVerfG entspricht es jedoch, dass dem Bundesverfassungsgericht ein weiter Beurteilungsspielraum zugestanden wird, obwohl einige klarstellende Worte zum Verhältnis von Recht und Moral wünschenswert gewesen wären. Es ist aber nicht die Aufgabe des EGMR, dogmatische Fehlentwicklungen in den Mitgliedsstaaten des Europarates zu korrigieren. Das Urteil des EGMR ist nach Zurückweisung des Antrags des Beschwerdeführers, die Sache der großen Kammer zur Entscheidung vorzulegen875, rechtskräftig. Festzuhalten bleibt demnach, dass von Straßburg keine Impulse ausgehen, die den Gesetzgeber dazu bewegen könnten, aktiv zu werden. Dies bleibt jedoch seine Aufgabe für die Zukunft. Es bleibt zu hoffen, dass die nur geringe Anzahl von »Inzestfällen«, die den Staatsanwaltschaften bekannt werden, in Kombination mit der zu erwartenden emotional aufgeladenen öffentlichen Diskussion den Gesetzgeber nicht davon abhalten, die jahrhundertealten Unklarheiten in diesem Bereich der Relikte des Sittlichkeitsstrafrechts zu beseitigen und die Strafnorm des § 173 StGB zumindest neu zu fassen.
2.
Aktuelle Diskurse und Ausblick
Die Frage nach dem Maßstab der Abgrenzung staatlicher Strafbefugnis und privater Lebensgestaltung lässt sich nicht eindeutig beantworten. Der Grenz875 ECHR 382 (2012) 17. 10. 2012. Die Pressemitteilung ist online verfügbar unter : http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=003 – 4122283 – 4852344.
182
Schluss
ziehung war in den vergangenen Jahrhunderten seit dem Entstehen der Strafrechtswissenschaft umstritten, und sie ist es bis heute. Als das tauglichste Instrument zur Bestimmung jener Grenze hat sich der Rechtsgutsbegriff erwiesen. Jedoch ist bis heute sowohl sein Inhalt also auch der Umfang seines begrenzenden Potentials heftig umstritten. Die historischen Debatten, die in der Vergangenheit die Ausgestaltung des Inzestverbots begleitet haben, zeigen jedoch, dass häufig die dogmatischen Pfade verlassen wurden und ein Verweis auf vermeintliche kulturelle und juristische Traditionen oder ein vermeintliches Volksempfinden herangezogen wurde, um das Verbot aufrecht zu erhalten. Dieser Widerspruch zeigt sich auch bei einem Blick auf aktuelle Diskussionen um das strafrechtliche Inzestverbot in der Schweiz und in Frankreich. Wie in dieser Arbeit gezeigt, ist der Verwandtenbeischlaf in Frankreich und in weiteren vom Code P¦nal beeinflussten romanischen Rechtssystemen nicht enthalten. Dennoch veröffentlichte die britische Tageszeitung »The Telegraph« am 28. Januar 2010 die Meldung: »France makes incest a crime«876. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass lediglich die Vorschriften über sexuellen Missbrauch im Code P¦nal um den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Familie erweitert worden waren. Die neu geschaffene Norm »De l’inceste commis sur les mineurs«877 bestraft also keineswegs den freiwilligen Beischlaf erwachsener Menschen, sondern hat rein deklaratorischen Charakter. Es bestehen keine Bestrebungen, darüber hinaus ein »echtes« Inzestverbot zu erlassen. Höchst interessant ist auch die Entwicklung in der Schweiz, wo in Art. 213 des Strafgesetzbuchs ein Inzestverbot enthalten ist878. Auch in der Schweiz, wo dieses Verbot seit 1942 für das gesamte Staatsgebiet gilt, wurde die Notwendigkeit der Norm mit den Wertvorstellungen in der Bevölkerung, eugenischen Gesichtspunkten und dem Schutz der Familie begründet879. Als bekannt wurde, dass eine Initiative zur Abschaffung des Art. 213 StGB durch den Bundesrat in den Nationalrat eingebracht worden war880, hat diese Initiative Empörung bei 876 Artikel online verfügbar unter : http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/ france/7085759/France-makes-incest-a-crime.html. 877 Code P¦nal, Liv. II, Tit. II, Chap. II, Art. 222 – 31 – 1: »Les viols et les agressions sexuelles sont qualifi¦s d’incestueux lorsqu’ils sont commis au sein de la famille sur la personne d’un mineur par un ascendant, un frÀre, une sœur ou par toute autre personne, y compris s’il s’agit d’un concubin d’un membre de la famille, ayant sur la victime une autorit¦ de droit ou de fait«. 878 Art. 213 I Schweizerisches StGB: »Wer mit einem Blutsverwandten in gerader Linie oder einem voll- oder halbbürtigen Geschwister den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft«. Das Inzestverbot ist also noch umfassender als in Deutschland, da es auch den Beischlaf zwischen Halbgeschwistern umfasst. 879 Schubarth, Strafloser Inzest?, in: Weltwoche vom 14. 10. 2010, S. 20. Schubarth erstellte auch das vom BVerfG beim Max-Planck-Institut für internationales und ausländisches Strafrecht in Auftrag gegebene Gutachten über die Inzeststrafbarkeit in der Schweiz. 880 Vgl. hierzu das amtliche Bulletin des Nationalrats – Wintersession 2010, fünfte Sitzung vom
Jüngste Entwicklungen
183
den bürgerlichen Parteien ausgelöst881. Eine sachliche Diskussion hat hierüber nicht stattgefunden, der Vorschlag wurde jedoch als »nicht tolerierbar«, »inakzeptabel« und mit Verweis auf die jahrhundertealten Traditionen abgelehnt882. Bemerkenswert ist hier allerdings das Argument Schubarths, der bezweifelt, dass eine Abschaffung des Inzestverbots unter Berücksichtigung des Umstandes, dass wir uns in einem »Zeitalter der Pornografiegesellschaft« befänden, wirklich »das Gebot der Stunde« sei883. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, die Liberalisierung des Sittlichkeitsstrafrechts in Teilbereichen wieder zurückzunehmen. So plant die Bundesregierung – wenn auch nur aus Ordnungswidrigkeitenebene – durch eine Verschärfung des Tierschutzgesetzes das Verbot der Sodomie wieder aufleben zu lassen884. Dieses Vorhaben ist aus den in dieser Arbeit hergeleiteten Gründen klar abzulehnen und wird unter anderem auch von Hassemer kritisiert885. Es zeigt sich hier aber die Tendenz der Politik, mit sanktionsbewehrten Verhaltensvorschriften Symbolpolitik zu betreiben, statt sich auf das Hobbes’sche Postulat zu besinnen, wonach es der Pflicht eines verantwortungsvollen Gesetzgebers widerstreite, »wenn der Gesetze mehr sind, als das Wohl der Bürger und des Staates unbedingt erfordert886«. Der Grenzbereich zwischen öffentlichem Strafanspruch und privater Lebensgestaltung wird auch in Zukunft keinen festen Ankerplatz finden und weiterhin einen Streitpunkt der Dogmatiker und Traditionalisten darstellen. Zu hoffen ist aber, dass – zumindest im Hinblick auf den § 173 StGB – wieder eine Versachlichung eintritt. Der gesellschaftliche Diskurs ist jedenfalls in vollem Gange, wie auch die jüngste öffentliche Anhörung des Ethikrates zum Inzestverbot zeigt887. Mit dieser Arbeit soll ein Beitrag zu dieser Diskussion und zu einem besseren Verständnis der Problematik geleistet werden.
881 882 883 884 885 886 887
06.12.10. Online verfügbar unter : http://www.parlament.ch/ab/frameset/d/n/4816/340317/ d_n_4816_340317_340437.htm Vgl. hierzu: Tiroler Tageszeitung vom 10. 12. 2010, Artikel online verfügbar unter : http:// www.tt.com/csp/cms/sites/tt/%C3 %9Cberblick/Politik/1847647 – 6/schweizer-regierungwill-inzest-straffrei-stellen.csp. Zitiert nach Tiroler Tageszeitung, aaO. Schubarth, Strafloser Inzest?, in: Weltwoche vom 14. 10. 2010, S. 20. Ein Bericht der »TAZ« über dieses Gesetzesvorhaben ist online verfügbar unter : http:// www.taz.de/!106177/. Die Kritik Hassemers findet sich in der Printausgabe des Wochenmagazins »Der Spiegel« 49/2012, S. 18 unter der Rubrik »Gesetze« mit der Schlagzeile »Gegen generelle Ahndung von Sex mit Tieren«. S.o., Hobbes, De Cive, Kap. 13, S. 214 f. Über die Diskussion berichtete die Wochenzeitung »Die Zeit« in ihrer Onlineausgabe vom 23. 11. 2012; online verfügbar unter : http://www.zeit.de/wissen/2012 – 11/inzest-geschwis ter-ethikrat.
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