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German Pages [513] Year 2019
Auch der evangelische Gottesdienst ist ein Ritual. Doch was ist ein Ritual? In der evangelischen Liturgik meist mit Begriffen wie Heimat, Sicherheit und Vertrautheit verbunden, hat sich innerhalb der sogenannten „Ritual Studies“ ein Ritualbegriff etabliert, der das kritische Potenzial dieser Handlungen bewusstmacht und dabei auch die kognitiven Prozesse der Handelnden einbezieht. Die evangelische Liturgik hat diese Verschiebung bisher kaum beachtet. Sie scheint aber nicht zuletzt geeignet, die traditionelle Entgegensetzung von Liturgie und Predigt zu überwinden. Der Autor
Richard Graupner ist Pfarrer in Großkarolinenfeld und Kunstbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für München und Oberbayern.
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Richard Graupner
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In den EKGP erscheinen Monografien und Sammelbände, die den Zusammenhang zwischen katholischen und evangelischen Forschungen zu Gottesdienst und Predigt in den Blick nehmen. Dabei geht es sowohl um interkonfessionelle als auch um interdisziplinäre Gesichtspunkte.
Der Gottesdienst als Ritual
E K G P
E K G P
ISBN: 978-3-7887-3362-9
9 783788 733629
www.vandenhoeckruprecht-verlage.com
ISBN: 978-3-429-05442-7
9 783429 054427
www.echter.de
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Evangelisch-Katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt
Richard Graupner
Der Gottesdienst als Ritual Entdeckung, Kritik und Neukonzeption des Ritualbegriffs in der evangelischen Liturgik
Evangelisch-Katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt
Herausgegeben von Alexander Deeg, Erich Garhammer, Bendikt Kranemann und Michael Meyer-Blanck Band 5
Richard Graupner
Der Gottesdienst als Ritual Entdeckung, Kritik und Neukonzeption des Ritualbegriffs in der evangelischen Liturgik
Vandenhoeck & Ruprecht / Echter Verlag
Die Arbeit wurde im Jahr 2016 von der Evangelisch-Theologischen FakultÐt der Ludwig-Maximilians-UniversitÐt Mþnchen angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.de abrufbar. 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9260 ISBN 978-3-7887-3364-3
Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I
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Der Gottesdienst als Ritual in der protestantischen Liturgik . . . . 1 Kirchlicher, theologischer und liturgischer Kontext der ›Entdeckung‹ des Rituals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Gesellschaft und Kirche im Umbruch: Die ›langen sechziger Jahre‹ und ihre Folgen für die Beurteilung ritueller Vollzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Säkularisierung als kirchlicher Gestaltungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Kirche zwischen Öffnung und Selbstvergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Fazit: Ritualität zwischen Umbruch und Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Theologie im Aufbruch: Interdisziplinarität als theologisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Von der Not zur Krise . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die empirische Wende der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gottesdienst zwischen Experiment und Struktur . . . . . 1.3.1 Gottesdienst in der Krise . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Pluralisierung der Gottesdienstkultur . . . . . . 1.3.2.1 Liturgische Produktivität seit den 1960er Jahren. 1.3.2.2 Musik und Politik: Aktualität und Engagement als liturgische Gestaltungsprinzipien . . . . . . . 1.3.2.3 Das Abendmahl als Fest: Berührungen zwischen Ritual und Experiment . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.4 Der Gottesdienst als »Lernprozess«. Praktisch-theologische Reflexion neuer Gottesdienstformen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Versammelte Gemeinde (1974) als Integrationsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3.1 Zum Anlass des Strukturpapiers . . . . . . . . . 1.3.3.2 Struktur als Flexibilitäts- und Ordnungsrahmen.
24 25 25 29 32 35 35 37 41 42 43 45 45 48 52 56 58 58 59
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Inhalt
1.3.3.3
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Impulse und Anfragen zur Deutung ritueller Gottesdienstvollzüge . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3.3.1 »Struktur« als Hilfe zum Erleben und Verstehen. 1.3.3.3.2 »Gestaltung« als Paradigma der Liturgie? . . . . 1.3.3.3.3 Der Ritualbegriff des Strukturpapiers . . . . . . 1.3.3.3.4 Integration der Formen als Ziel der Gottesdienstgestaltung? . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom ›Ritualismus‹ zum ›Ritual‹ Der Ritualbegriff in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Woher kommt das ›Ritual‹? Der Anfang des neueren Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ritualität als Frömmigkeitstypus . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Kirchliche Bindung und liturgische Bedürfnisse (F. Fürstenberg, E. Stammler) . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die »ritualistische Dimension« der Religion und ihre Operationalisierung (Ch. Glock, U. Boos-Nünning) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kasualien als Ritualparadigma der Volkskirche . . . . . . 2.3.1 Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Gottesdienst versus Kasualien? . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Ritualität des Trauerns (Y. Spiegel, D. Rössler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Symbolische Kommunikation im Rahmen der Eheschließung (K.-F. Daiber) . . . . . . . . . . . 2.3.4 Ritualpraxis als »Strategie volkskirchlichen Handelns in der ›Kasualkirche‹« (W. Jetter) . . . 2.3.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 »Ritualismus« als Fundstück empirischer Religionssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Die Anfänge soziologischer Untersuchungen zur gottesdienstlichen Praxis am Beispiel von J.M. Lohes Kirche ohne Kontakte? . . . . . . . . . . . 2.4.2 »Ritualismus« als konfessionsübergreifendes Verhalten »unwahrscheinlicher Kirchgänger« in den Gottesdienstumfragen der beiden Konfessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Zwischen Kirche und Gesellschaft (1972) . . . . . 2.4.2.1.1 »Unwahrscheinlicher Kirchgang« als überraschender Befund . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1.2 Auswertung: »Ritualismus« als Folge der Liturgiereform des II. Vaticanums? . . . . . . . .
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Inhalt
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2.4.2.2 Gottesdienst in einer rationalen Welt (1973) . . . 2.4.2.2.1 »Ritualismus« zwischen sozialer Einbettung und spiritueller Defizienz . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2.2 Auswertung: Vom »Ritualismus« zum Ritual . . 2.4.3 Sinnstiftung im Ritualvollzug. Die Entdeckung der Handlungsdimension des Rituals in K.-F. Daibers u. a. Gemeinden erleben ihre Gottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.1 Gottesdienst als »Ritual der Bundeserneuerung« 2.4.3.2 Ritualhandlungen als Form protestantischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Vom theologischen ›Ritualismus‹ zum anthropologischen ›Ritual‹: Bündelung und Weiterführung in Werner Jetters Symbol und Ritual (1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Anlass, Hintergrund und Zielsetzung . . . . . . 2.5.2 Rituale als symbolische Kommunikation und symbolisches Handeln . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.1 Das Symbol als »fundamentale Eigentümlichkeit« menschlicher Weltwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.2 Die Funktionen des Rituals und ihre Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.3 Symbol und Ritual? Zur Problematik begrifflicher Überschneidungen . . . . . . . . . 2.5.3 Das Ritual und seine Deutung . . . . . . . . . . 2.5.4 Liturgie und Ritual in »Großkirche« und »Gruppengemeinschaft« . . . . . . . . . . . . . 2.5.4.1 Liturgische Praxis als kirchensoziologische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4.2 Restringierter und elaborierter Code . . . . . . 2.5.4.3 Liturgische Pluralität als Folge pluraler religiöser Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4.4 Liturgiekompetenz als Ziel sozialwissenschaftlicher Gottesdienstanalyse . . 2.5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entfaltung des ritualtheoretischen Diskurses . . . . . . . . 3.1 Zwischen Heil und Heilung – psychoanalytische Zugänge zum Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Rituale im Rahmen »therapeutischer Seelsorge« . 3.1.1.1 Rituelle Praxis als pastoraler Versöhnungsdienst (D. Stollberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Rituale als Erfüllung der Sehnsucht nach »Ganzheit« (H.-J. Thilo) . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 »Ritualismus in 1. Ableitung« (M. Meyer-Blanck) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Ritual als Kommunikation – Kommunikation im Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Orientierung: Kommunikation durch Rituale (G. Thomas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Abwesenheit von Diskussion und Kritik. Noch einmal: Gottesdienst in der Krise (K.-F. Daiber) . 3.2.3 Das Ritual als kommunikatives Handeln (I. Werlen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Institutioneller Überhang des Rituals (E. Gülich, I. Paul) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Das Ritual als symbolische Kommunikation . . 3.2.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ritual und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Das Spiel zwischen »bloß so« und »heiligem Ernst« (J. Huizinga) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Spiel und Ritual im Wechselspiel? . . . . . . . . 3.3.2.1 Vom Ritual zum Spiel: Rituale als erspielte Möglichkeitsräume (W. Jetter, K.-H. Bieritz, H.-G. Heimbrock) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Vom Spiel zum Ritual: Rituale als mimetische, obligatorische Sonderform des Spiels (Th. Klie) . 3.3.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ritual und Alltag (E. Hauschildt) . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Multiperspektivische Zugänge zum Ritual . . . . . . . . . 3.5.1 Ritualtheorie auf phänomenologischer Grundlage (M. Josuttis) . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.1 Ritualtheorie als »Erschließung verborgener Wirklichkeitsdimensionen« . . . . . . . . . . . . 3.5.1.2 Die Feier des Gottesdienstes als Sicherstellung, Darstellung und Aushandlung religiöser Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Erleben und Verstehen im Ritual (H.-G. Heimbrock) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ritualkritik und Kritik am ›Ritual‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Vorbemerkung: Ritualkritik in Bibel und Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ritualkritik in den 1950er und 60er Jahren . . . . . . . . . 4.2.1 Der Ritus als Problem (G. Harbsmeier) . . . . . 3.1.1.2
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179 185 189 191 192 193 195 200 206 211 212 213 214 215 219 222 224 230 230 230 233 236 240 243 243 245 248
Inhalt
4.2.2
5
Ritualkritik als Agendenkritik (M. Geck, G. Hartmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Die »Macht von Symbol und Ritus« (M. Mezger) 4.2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Neuere Ritualkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Angeln in der Flut der Rituale . . . . . . . . . . 4.3.2 Rituale als »Kommunikationsvermeidungskommunikation« (Chr. Dinkel) . . . . . . . . . . 4.3.3 Dynamischer, moderner Ritus statt tribales, starres Ritual (Th. Klie) . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Aufgabe evangelischer Ritualtheorie . . . . . . . . . . . . .
II Das Ritual als Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Geschichte und Bestimmung der Begriffe ›Ritus‹ und ›Ritual‹ . 6.1 ›Ritual‹ zwischen Handlungsweise, Anweisung und Buchtypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 ›Ritus‹ und ›Ritual‹ in der protestantischen Theologie . . 6.3 Enzyklopädische Zugänge zum Ritualbegriff . . . . . . . . 6.4 Zusammenfassung und Vorschlag zur Begriffsverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Von der Funktion zur Form: Das funktionale Paradigma und seine Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Anfänge: Das Ritual zwischen Mythologie, Psychologie und sozialer Funktion (W. Robertson Smith) . 7.1.1 The Religion of the Semites (1889) . . . . . . . . 7.1.2 Rituale als fixierte und zugleich deutungsvariable Gesellschaftsformierung . . . 7.1.3 Fazit und Ausblick: Ritualtheoretische Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert . . . . . 7.2 Der funktionale Ritualbegriff in . Durkheims Die elementaren Formen des religiösen Lebens . . . . . . . . . 7.2.1 Die Religion als »eminent soziale Angelegenheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Voraussetzungen, Organisation und funktionale Leistung von Ritualen . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2.1 Kollektive Erregung und Ekstase als Ursprung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2.2 Medien, Emotionen und die Funktion verbindlicher Ritualordnung . . . . . . . . . . . 7.2.2.3 Funktion und Wirkung von Ritualen . . . . . . . 7.2.2.4 Rituelles Handeln unter ritueller Haltung . . . . 7.2.3 Ritualtheorie als Zeitkritik und Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . .
9 254 258 262 265 265 268 272 278 280 287 287 287 289 292 295 298 298 298 300 304 307 307 311 311 313 315 317 318
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Inhalt
7.2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Semantik zur Grammatik: The Meaninglessness of Ritual (F. Staal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Radikale Kritik am Funktions- und Kommunikationsparadigma . . . . . . . . . . . 7.3.2 Anfragen an Staals theoretische Grundlagen . . 7.3.3 Fazit: Staals Kritik als Impuls zur Neukonzeption ritualtheoretischer Forschung . . 7.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Ritualisierung‹ als Forschungsparadigma und ritualtheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Zur Geschichte des Begriffs ›Ritualisierung‹ . . . . . . . . 8.2 Die Erweiterung des Ritualbegriffs in den Ritual Studies (R. Grimes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 »getting beyond Victor Turner« – Die Neukonzeption der Ritualtheorie unter dem Paradigma der Ritualisierung . . . . . . . . . . . 8.2.2 Rituale als kritische Handlungen . . . . . . . . . 8.2.2.1 Diskursive Ritualkritik . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2.2 Performative Ritualkritik . . . . . . . . . . . . . 8.3 Ritualisierungsprozesse in Ritualtheorie und Ritualpraxis (C. Bell) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Die Ritualität der Ritualtheorie: Zum Verhältnis von Ritualtheorie und Ritualpraxis . . . . . . . . 8.3.2 Ritualisierung als Erzeugung »privilegierter Oppositionen« und Aushandlung von Macht . . 8.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die rituelle Haltung als Grundlage rituellen Handelns (C. Humphrey/J. Laidlaw) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Theoretischer Hintergrund und methodischer Ansatz . . 9.1.1 Die Methode der Teilnehmenden Beobachtung . 9.2 Ritualtheoretische Abgrenzungen: Eine formale Handlungstheorie »liturgie-zentrierter Rituale« . . . . . . 9.3 Rituelles Handeln unter dem Vorzeichen der Nicht-Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Intentionalität in Alltag und Ritual . . . . . . . . 9.3.2 Die Intentionalitätstheorie John Searles . . . . . 9.4 Die Spezifik ritueller Handlungen . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Kennzeichen ritueller Handlungen . . . . . . . . 9.4.2 Die Gleichzeitigkeit von Autorschaft und Nicht-Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Rituelle Handlungen als stipulierte, regelgeleitete und sequenzierte Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.1 Konstitutive und regulative Regeln im Ritual . . 7.3
8
9
324 325 325 329 331 333 336 337 341 341 350 351 353 356 356 359 364 368 368 371 382 387 387 390 396 396 398 400 401
Inhalt
9.5.2
Stipulierte Sequenzen als Grundelemente von Ritualen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Rituelle Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.1 Rituelles Lernen – Rituelles Wissen . . . . . . . 9.6.2 Mentale Repräsentationen – Namen – Prototypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.3 Archetypische Handlungen und Formalisierung. 9.7 Rituelle Deutungsrahmen: Das Verhältnis von Ritual und Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8 Rituelle Handlungsmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.9 »Meaning to mean it« als Ziel ritueller Apperzeption . . . 9.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Der evangelische Gottesdienst als Ritual . . . . . . . . . . . . . . . 10 Zur liturgiewissenschaftlichen Rezeption der Ritual Studies . . 10.1 Katholische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Evangelische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ritualanalyse des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Exemplarische Anwendung: Rituelle Transformationen in der Reformationszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Neuzeitliche Bewertung der Reformationszeit . . . . . . . 12.2 Ritualkritik bei Luther: Destruktion und Konstruktion der rituellen Gestalt des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . 12.2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Missbrauch der Messe und die Funktion der »eusserlichen ordnunge[n]« (Ritualkritik 1) . . . 12.2.3 Rituale und Ritualdeutung als Mittel zur Reform des Rituals (Ritualkritik 2) . . . . . . . . . . . . 12.3 Der Gottesdienst als Adiaphoron . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Kulturwandel des Rituals: Ritualkulturelle Transformationen in Bezug auf Sinnlichkeit, Sozialität und rituelle Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.1 Sinnlichkeit und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.2 Das Ritual als soziales Geschehen . . . . . . . . 12.4.3 Der Wandel der rituellen Haltung: Gewissheit, Skepsis, Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.4 Rituelle Widersprüche und Ritualverweigerung (Ritualkritik 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Ausblick: Gottesdienstgestaltung und Ritualkompetenz . . . . .
11 404 406 406 408 413 416 418 423 427 434 434 434 438 442 448 449 452 452 454 459 462 465 466 472 475 478 482 486
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde als Disserationsschrift im Sommersemester 2016 an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität in München eingereicht und für den Druck noch einmal überarbeitet. Ihr Abschluss fiel zusammen mit der Installation auf meiner ersten Pfarrstelle im oberbayerischen Großkarolinenfeld, wo einst pfälzer Reformierte und Lutheraner die erste evangelische Kirchengemeinde in Altbayern gründeten. Mit der Verantwortung für eine Gemeinde verband sich das Anliegen, zumindest Einiges in die kirchliche Praxis zu vermitteln, was ich in letzten Jahren gelernt habe – auf den Wegen, die mir meine Fragestellung vorgab, wie auch beim Flanieren durch das weite Feld der Liturgik. Dass das Ziel dabei nie aus den Augen verloren ging und am Ende doch erreicht wurde, verdanke ich der Barmherzigkeit des Allmächtigen und der Hilfe zahlreicher Menschen. Zuerst zu nennen ist der Betreuer dieser Arbeit, Prof. Dr. Christian Albrecht, der mich stets motiviert hat, Gedanken in Texte zu überführen und mir dabei viele Freiheiten ließ. Die zuverlässige Hilfe bei allen Anträgen und bürokratischen Anforderungen, insbesondere aber die Anstellung am Lehrstuhl waren eine große Hilfe, um die Fertigstellung dieser Arbeit mit der Verantwortung für meine Familie so gut wie möglich verbinden zu können. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Ulrich Schwab, der nicht nur das Zweitgutachten übernahm, sondern die Arbeit stets mit Interesse und Wohlwollen begleitet hat. Ganz besonders danke ich Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck, in dessen Oberseminar ich meine Überlegungen vorstellen durfte und der mir in einer schwierigen Phase durch konstruktive Kritik neuen Rückenwind verschafft hat. Auch Prof. Dr. Martin Nicol gebührt mein Dank, der mich insbesondere während meines Vikariats begleitet, das Interesse an liturgischen Fragestellungen gefördert und die Anfänge dieser Arbeit betreut hat. Ihm wie auch Prof. Dr. Alexander Deeg verdanke ich äußerst positive und unterstützende Gutachten bei der Beantragung des kirchlichen Stipendiums. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Marcel Sass, der Teile dieser Arbeit gelesen, kritisch kommentiert und mir damit geholfen hat, den Fokus meiner Überlegungen zu schärfen. Sodann habe ich zu danken vielen Freunden, die mich in dieser Zeit unterstützt, ertragen, kritisiert und manchmal unerwartet gelobt haben und die nie einen Zweifel daran zuließen, dass diese Arbeit zu einem Ende kommt. Sie alle haben sich am Schluss den Mühen des Korrekturlesens unterzogen. Ausdrücklich seien erwähnt: Prof. Dr. Steffen Lösel, Prof. Dr. Heiner Aldebert, Dr. Julius Schönherr, Dr. Stephan Trescher, Dr. Johannes Greifenstein, Ma-
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Danksagung
nuela und Hans Heidecker, Dr. Martin Brons, Dr. Paulus Esterhazy und Dr. Anke Breunig sowie Konrad Gatz. Danken möchte ich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für das gewährte Promotionsstipendium. Die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Tutzing hat es mir ermöglicht, die wissenschaftliche Arbeit mit kirchlicher Praxis zu verbinden, gelegentliche Experimente wohlwollend unterstützt und ihre Rückmeldung nie verweigert hat. Auch dafür möchte ich herzlich danken. Ich danke den Herausgebern der Evangelisch-Katholischen Studien zu Gottesdienst und Predigt für die Aufnahme in diese Reihe. In diesem Zusammenhang sei auch dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Betreuung gedankt. Schließlich danke ich meiner Mutter und meiner ganzen Familie, die mir viele schöne Anlässe bot, den Schreibtisch zu verlassen, um Kraft zu sammeln und nicht zu vergessen, dass eine Dissertation eben auch nur eine Dissertation ist. Der größte Dank aber richtet sich an meine Frau Franziska, die mich – weit über diese Arbeit hinaus – ermutigt, geduldig erträgt und mir die oft so hilfreiche Perspektive von außen bietet, die nicht nur der Theologe, sondern auch der Pfarrer so nötig braucht. Niederaltaich in der Osterwoche 2018
Einleitung Die Welt ist voll von Ritualen. So ließe sich in Abwandlung einer Formulierung von Peter Cornehl1 die kaum zu bestreitende Tatsache zusammenfassen, dass Rituale unser persönliches Leben prägen und sämtliche familiären, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontexte durchziehen. Zugleich gilt aber auch: Die Welt ist voll von ›Ritualen‹. Denn die Verwendung des Ritualbegriffs und die Rede vom ›Ritual‹ ist nicht weniger präsent, ob in persönlichen Gesprächen oder in den Medien, die spätestens zur Weihnachtszeit wieder mit Themenheften und -sendungen aufwarten und reichlich von der positiven Wirkung von Ritualen zu berichten wissen. Rituale, so wird in unzähligen Variationen wiederholt, geben uns Halt, stärken familiäre Bindungen, schaffen besondere Momente, sie seien »heilsam«, ja »überlebenswichtig«.2 In Zeiten stark empfundenen Wandels werden sie ebenso beschworen wie vermisst. So kann es kaum verwundern, dass auch die Wissenschaft voll ist vom ›Ritual‹, von theoretischen Auseinandersetzungen mit dieser spezifischen Form der Handlung. Ein eindrücklicher Beleg innerhalb der deutschen Forschungslandschaft war der bis 2013 aktive DFG-Sonderforschungsbereich »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. In den mehr als zehn Jahren seines Bestehens forschten mehr als 140 WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen ausschließlich zu dieser Thematik.3 Darüber hinaus findet diese Popularität ihren Ausdruck in einer kaum zu überschauenden Anzahl von Themenheften, monographischen Einzelstudien und umfangreichen Gesamtdarstellungen. Weil die Wissenschaft Teil der menschlichen Handlungssphäre ist, ist das Ritual nicht nur als Forschungsgegenstand präsent, sondern lässt sich auch in zahlreichen rituellen Praktiken entdecken. Dies lässt bereits die Tatsache erahnen, dass eine große Mehrheit der Publikationen genau damit einsetzt, womit auch hier begonnen wurde, nämlich mit der Rechtfertigung der Themenstellung aufgrund des medial bezeugten, gesellschaftlichen Interesses.4 Die Theologie und insbesondere die Liturgik sind von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Wissenschaftsorganisatorische Zwänge scheinen dafür ebenso verantwortlich wie die Tatsache, dass die Suche nach Ritualen mit einer 1 Peter Cornehl: „Die Welt ist voll von Liturgie“. Studien zu einer integrativen Gottesdienstpraxis, Stuttgart 2005. 2 Hape Kerkeling, zitiert nach Stepan Schatzler: Riten und Ritual der Postmoderne: Am Beispiel des Bistums Erfurt, Hamburg 2013, 117. 3 Vgl. www.ritualdynamik.de. 4 Vgl. bereits Christian Strecker: Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, Göttingen 1999, 5 f.
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gesteigerten Erwartung an religiöse Institutionen wie die Kirche korreliert, Rituale anzubieten und neu zugänglich zu machen. Dass jedoch auch die evangelische Liturgik voll ist von ›Ritualen‹, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Lange Zeit wurde der Begriff als konfessionell »katholisch« besetzt betrachtet und stand paradigmatisch für jene Formen christlicher Religion, die mit der Reformation und der Ausrichtung auf das ›Wort‹ überwunden werden sollten. All dies änderte sich zu Beginn der 1970er Jahre grundlegend in Gestalt eines Paradigmenwechsels. Der negativ besetzte Ritualbegriff wich im Zuge der sogenannten empirischen Wende einem interdisziplinär geprägten Begriff. Ihm wurde seither eine Fülle an Studien zuteil, deren Unüberschaubarkeit schon bald nur noch mit erkennbarer Resignation zur Kenntnis genommen wurde. Zugleich avancierte der Ritualbegriff zur Leitkategorie gottesdienstlicher und kasualtheoretischer Untersuchungen. Manfred Josuttis fasste diesen Konsens 1982 in die markante These: »Der Gottesdienst ist ein Ritual. Diese sozialwissenschaftliche Feststellung muß in jeder theologischen Theorie des Gottesdienstes berücksichtigt werden.«5 Dabei wurden vor allem die Aspekte der Stabilisierung und Integration, der Beheimatung und Entlastung, der ordnungs- wie der identitätsstiftenden Funktion von Ritualen ins Zentrum gestellt. Auch gegenwärtig lässt sich vielerorts lesen, dass der Gottesdienst als Ritual vornehmlich auf die »Vergewisserung der religiösen Gemeinschaft«6 abzielt. Insgesamt werden das Konservierende und die statische Gestalt des Rituals ins Zentrum gestellt, das seine Funktion vor allem im Kontrast zu einer sich unaufhörlich wandelnden Umwelt erfüllt. Als Grundlage dieser Position dient ein relativ fest umrissener Autorenkanon, der sich seit den Anfängen nur wenig verändert hat: Erik Eriksons Studien zur psychologischen Entwicklung bestätigten den Wert von Ritualen für das Erlernen sozialer Bindungsfähigkeit. Von Erving Goffman übernahm man die Einsicht, dass sämtliche soziale Begegnungen von Ritualen strukturiert sind und so soziale Strukturen und Ordnungen stabilisieren. Und die Rezeption Arnold van Genneps durch Victor Turner ließ das Ritual primär als Übergangshandlung erscheinen, die für den Einzelnen eine wichtige Entwicklungsstufe markiert und die sozialen Institutionen bestätigt. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts ebbten die Bemühungen um die ritualtheoretische Theoriebildung innerhalb der Praktischen Theologie merklich ab. Angesichts der ritualtheoretischen Harmonie regte sich stattdessen begrifflich wie inhaltlich Kritik an der Beschreibung des evangelischen Gottes5 Manfred Josuttis: Der Gottesdienst als Ritual, in: Friedrich Wintzer u. a. (Hg.): Praktische Theologie, Neukirchen-Vluyn 51997 [1982], 43–57, 53. Bereits 1974 hatte Josuttis mit demselben Nachdruck die Ritualität der Beerdigung betont: »Die Beerdigung ist ein Ritual« (Ders.: Der Vollzug der Beerdigung. Ritual oder Kerygma?, in: Ders.: Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. Grundprobleme der praktischen Theologie, München 1974, 188–206, 189). 6 Uta Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011, 25.
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dienstes als ›Ritual‹. Dabei lassen sich vier unterschiedliche Ansatzpunkte unterscheiden. Nicht selten nimmt die Kritik (1.) ihren Ausgangspunkt von der Überzeugung eines spezifisch protestantischen Liturgie- und Gottesdienstverständnisses. Sie richtet sich in ihrem Kern gegen vermeintliche antiintellektuelle und reflexionshemmende Tendenzen, die mit dem Ritualbegriff verbunden seien.7 Die übertriebene, durch das Ritual fixierte Ordnung mit umfassender Rubrizistik, so lautet ein Einwand, stehe der nötigen situationsadäquaten Gottesdienstgestalt entgegen. Kritik richtet sich sodann gegen die inhaltliche Bestimmung des Ritualbegriffs und hinterfragt dessen Nutzen für die Liturgik. Dabei wird zum einen (2.) eine inhaltliche Unterbestimmtheit und damit mangelnde Spezifik beklagt. Diese führe dazu, dass die unter dem Begriff gefassten rituellen Phänomene kaum noch unterscheidbar sind von anderen, wiederholten oder wiederholbaren Handlungen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der zugrunde gelegte Ritualbegriff eine starke Nähe zu ›Gewohnheit‹ und ›Routine‹ aufweist.8 Ein derart bestimmter Gottesdienst verliert so tatsächlich seine Besonderheit. Zum anderen richtet sich die Kritik (3.) gegen die inhaltliche Überbestimmtheit des Begriffs. Werden Rituale vor allem als transformative Performanzen beschrieben, scheint dies dem normalen sonntäglichen Kirchgang weder hinsichtlich seiner Teilnahmemotivation noch im Blick auf seine ›Wirkung‹ gerecht zu werden. Immer wieder zeigen sich nicht zu überbrückende Spannungen, soll das Ritual ›Gottesdienst‹ in ein Ritualschema eingefügt werden, dass größtenteils für Kasualien anlässlich biografischer Schwellensituationen konzipiert wurde. Schließlich (4.) richten sich Anfragen an die ritualtheoretische Forschung selbst, insbesondere an die Problematik ihrer interdisziplinären Rezeption. Dies ist durch eine übergroße Fülle unterschiedlicher theoretischer Ansätze kaum noch zu gewährleisten. Innerhalb der Ritualtheorie wurde zwar vielfach Kritik geübt an der allgegenwärtigen Theorie Victor Turners, doch ein vergleichbar prägnanter wie konsensfähiger Ansatz konnte seither noch nicht gefunden werden.9 Noch einmal verschärft wird die theologische Orientierungslosigkeit durch die zunehmende Zurückhaltung außertheologischer Ritualtheorien gegenüber dem Symbolbegriff. Dieser gehörte lange Zeit zum festen Bestandteil vieler Definitionen. Dessen Verknüpfung mit einem kommunikationstheoretischen Zugang und der dafür zentralen Unterscheidung von Inhalt und Bedeutung, von Denken und Handeln, machte ihn für die Ritual Studies jedoch zunehmend problematisch.10 7 S. u. 4.2. 8 Vgl. etwa Michael Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, Tübingen 2011, 41 f.: »Das Rituelle oder das Ritual eines Handelns ist eine individuelle oder kollektive Handlungsgewohnheit, die von Entscheidungen entlastet und damit für andere Dinge Aufmerksamkeiten freisetzt.« 9 S. u. 8.2.1. 10 Vgl. Jens Kreinath: Semiotics, in: Jens Kreinath/Jan Snoek/Michael Stausberg (Hg.):
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Neben diese programmatische und inhaltlich motivierte Kritik an der Kategorie des ›Rituals‹ treten Anfragen von Seiten liturgischer Praxis. Ist der Gottesdienst noch angemessen als stabilisierendes Ritual zu bezeichnen, wenn auch der agendarische Gottesdienst permanenter Veränderungen unterliegt? Ist auf Seiten der Handelnden nicht das nötige Wissen über die praktischen Vollzüge verloren gegangen, sodass agendarische Vollzüge statt der gewünschten Sicherheit vielmehr Unsicherheit hervorrufen? Und ist der Gottesdienst angesichts seiner verlorenen Selbstverständlichkeit nicht ohnehin zu einer Wahlhandlung geworden, die einem verpflichtenden Ritual denkbar fernsteht? Diese Anfragen sind freilich nicht neu. Sie führen jedoch mitunter dazu, dass der Ritualbegriff vermieden wird, wenn explizit von den »liturgisch geprägten Formen« des Gottesdienstes die Rede ist.11 Damit jedoch, so die hier vertretene Ansicht, entgehen der Praktischen Theologie wichtige Einsichten. Die berechtigten Anfragen an das Konzept ›Ritual‹ haben bisher von Seiten der Liturgik keine eingehende Auseinandersetzung erfahren. An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Nach einem knappen halben Jahrhundert eines Ritualdiskurses in der evangelischen Liturgik soll noch einmal danach gefragt werden, was der Ritualbegriff zum Verstehen, aber auch zum Gestalten des Gottesdienstes beitragen kann. Genauer ist dies zum einen die Frage danach, was die bisherigen ritualtheoretischen Ansätze evangelischer Liturgik leisten. Zum anderen sollen neuere außertheologische Theorien rezipiert werden und auf Möglichkeiten hin befragt werden, diese in einen Dialog mit dem Ritual ›Gottesdienst‹ zu stellen. Denn der erwähnte Rückgang des ritualtheoretischen Interesses evangelischer Liturgik verläuft parallel zu einer breiten interdisziplinären Hinwendung zu diesem Themengebiet und ist verbunden mit wichtigen Erkenntnissen insbesondere zur Ritualität moderner Gesellschaften. Dass der Ritualbegriff hier also erneut zum Gegenstand intensiver Untersuchung werden soll, hat seine Begründung in der Überzeugung, dass die Praktische Theologie, will sie interdisziplinär anschlussfähig bleiben, sich den Einsichten anderer Disziplinen nicht verschließen kann, etwa durch den Verweis auf die vermeintliche Singularität der von ihr untersuchten Phänomene. Vielmehr gehört die Vermittlung von außertheologischem Wissen und theologischen Erwägungen auch im Hinblick auf die verwendeten Begriffe zu ihren grundlegenden Aufgaben. Nur so kann sie eine umfassende Analyse der
Theorizing Rituals. Issues, Topics, Approaches, Concepts, Leiden/Boston 2006, 429–470, 436–446. 11 Vgl. Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben, 12: »Nachdem einige Jahrzehnte das Bemühen um eine lockere, offene und von menschlicher Herzlichkeit geprägte Atmosphäre im Gottesdienst im Vordergrund stand, orientiert sich zumindest der sonntagvormittägliche Gottesdienst heute wieder stärker an liturgisch geprägten Formen, denen wieder mehr eigenständige Wirkung und Kraft zugetraut wird.«
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Frömmigkeitspraxis in ihren kulturellen, gesellschaftlichen und spezifisch kirchlichen Prägungen leisten. Wird der Gottesdienst hier als Ritual untersucht, liegt dabei weder die Annahme zugrunde, der Gottesdienst sei nur Ritual; noch soll damit angezeigt werden, dass die Gestaltung des Gottesdienstes sich ausschließlich an ritualtheoretischen Einsichten zu orientieren habe. Ebenso wenig wird der Anspruch erhoben, der hier im Zentrum stehende agendarische Sonntagsgottesdienst sei als der ›eigentliche Gottesdienst‹ zu betrachten. Wie die Praktische Theologie sich in den letzten Jahrzehnten eine Perspektivenvielfalt zu eigen gemacht hat, die es zu bewahren und zu erweitern gilt – und die im Diskurs um den Ritualbegriff in vielfältiger Weise sichtbar wird –, soll auch den »anderen Gottesdiensten« weder ihre Berechtigung noch ihre Nützlichkeit bestritten werden.12 Der Entwurf einer Ritualtheorie des evangelischen Gottesdienstes ist nur mittelbar das Ziel der vorliegenden Studie. Gleiches gilt für die liturgiepraktische Anwendung der hier erarbeiteten Erkenntnisse. Vielmehr sollen zunächst Theoriebildungsprozesse innerhalb von Liturgik und Ritualtheorie untersucht werden. Weil dabei aber der evangelische Gottesdienst stets als Fragehorizont im Hintergrund präsent gehalten wird, werden im Verlauf auch die Anforderungen deutlich, denen eine liturgische Ritualtheorie genügen muss. Ferner sollen Einsichten in Bezug auf den Gottesdienst benannt werden, die eine gegenüber dem bisherigen Verständnis veränderte Beurteilung, erweiterte Möglichkeiten der Kritik von Ritualen und letztlich auch modifizierte Gestaltungsprinzipien ritueller Prozesse vorschlagen. Der konfessionelle Blickwinkel dieser Arbeit tritt darin zu Tage, entgegen antiintellektueller Ritualtheorien, die sich vorrangig mit deren psychologischer und emotionaler Wirkung befassen, hier die intellektuelle Dimension des Rituals herausgearbeitet werden soll. Diese zeigt sich sowohl in Praktiken der Ritualkritik wie auch der Ritualdeutung, die hier als genuiner als Teil ritueller Praxis einsichtig gemacht werden soll. Auf der Grundlage einer konsequent handlungstheoretischen Perspektive wird hier die Frage verfolgt: Was kennzeichnet das Ritual als Handlung? Damit ist zunächst ein Unterschied zu einem funktionalen Zugang markiert. Nicht was das Ritual leistet, steht im Mittelpunkt, sondern wie es das tut.13 Erst im Anschluss ist zu klären, ob sich auf der Ebene der konkreten Handlung her12 Vgl. Jochen Arnold (Hg.): Andere Gottesdienste. Erkundungen und Reflexionen zu alternativen Liturgien, hg. im Auftrag der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2012. Manche Kennzeichen, die das vermeintlich ›andere‹ dieser Gottesdienste ausmachen, wie etwa Kreativität und Dynamik, werden im Nachgang dieser Arbeit womöglich nicht mehr so klar verteilt werden können. 13 »How does ritual actually do what we say it does?« (Maurice Bloch, Zitiert bei Catherine M. Bell: Ritual Theory, Ritual Practice, New York 2009 [1992], 115).
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ausstellt, inwiefern die genannten Funktionszuschreibungen hinreichend sind und ob Rituale jenseits ihrer ordnenden und stabilisierenden, Bestätigung und »Heimat«14 gewährenden Wirkung Weiteres zu leisten vermögen. Daraus ergeben sich ferner Fragen, wie die liturgischen Akteure ihr Handeln erleben und erfahren und welche Aneignungs- und Reflexionsprozesse im Umfeld von Ritualen auftreten, die im Sinne der oben genannten Kritik an der Vermittlung zwischen der rituellen Perspektive und dem intellektuellen Zuschnitt des protestantischen Gottesdienstes noch auf eine Integration in eine ritualtheoretische Beschreibung des Gottesdienstes harren. Insgesamt soll das Ausmessen theoretischer Zugänge dazu beitragen, die der Liturgik attestierte »Kluft zwischen einer theorieorientierten Beschreibung religiöser Praxis und ihrem faktischen Erleben« zu verringern.15 Die Arbeit besteht aus drei Hauptteilen, in deren Zielsetzung und grundlegenden Aufbau hier einzuführen ist. Der erste Teil ist dem Ritualdiskurs innerhalb der evangelischen Liturgik gewidmet. Dabei gilt es zunächst eine zeitgeschichtliche Grundlage zu erarbeiten, die es erlaubt, die Umstände wie auch die Motivation und Zielsetzung zu beleuchten, die nicht nur allgemein zur Einführung eines positiv besetzten Ritualbegriffs beigetragen haben, sondern seine unterschiedlichen Definitionen geprägt haben (1.). Das Aufgreifen des Ritualbegriffs steht dabei, so wird zu zeigen sein, zwischen den Um- und Abbrüchen der sogenannten ›langen sechziger Jahre‹ auf der einen und der im Anschluss einsetzenden Konsolidierung und Stabilisierung von Staat, Gesellschaft und Kirche auf der anderen Seite. In diesem Kontext wandelte sich sowohl die Feiergestalt als auch die Wahrnehmung des Gottesdienstes. Das Ritual wird zum Gegenstand der Aufmerksamkeit, weil der agendarische Gottesdienst nicht mehr ›einfach‹ unhinterfragte, selbstverständliche und bindende Vorschrift ist. Im Versuch die veränderte Lebensweise der Menschen zu verstehen, war die Theologie um einen Anschluss an die Erkenntnisse und Methoden der Human- und Sozialwissenschaften bemüht. Insbesondere die Bedeutung empirischer Erkenntnisse stieg rapide an. In diesem Kontext steht schließlich das, was hier als »Entdeckung« des Rituals bezeichnet werden soll (2.). Dabei geht es um den mit der 1. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 1971 sowie den zwei großen Gottesdienstumfragen 1972/73 in beiden Konfessionen einsetzenden Wandel von einem theologisch geprägten Ritus- zu einem sozialwissenschaftlichen Ritualbegriff. Ausgehend von der geschilderten Fragestellung tritt in den Texten immer wieder hervor, inwiefern die funktionale 14 Paradigmatisch sei auf die Bestimmung der Ritualen zugedachten Funktion im sogenannten Impulspapier hingewiesen, das von Notwendigkeit »beheimatende[r] Rituale« spricht (Kirchenamt der EKD [Hg.]: Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006, 51). 15 Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben, 52.
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Perspektive, welche die wissenschaftliche Rezeption weitgehend dominiert hat, verlassen wird und nach dem Spezifikum rituellen Handelns selbst gefragt wird. Im Zuge der Darstellung unterschiedlicher Diskursstränge, die den Ritualbegriff prägen, gelingt eine Differenzierung und genaue historische Beschreibung der Anfänge dieser Entwicklung, die häufig allein mit Werner Jetters Monografie Symbol und Ritual identifiziert wird. Deren eingehende Untersuchung steht auch hier am Abschluss des Kapitels und soll einer umfassenderen Analyse unterzogen werden, die den eklektischen Zugang überwindet, den die Rezeption Jetters weithin prägt. Jetter, so die dabei vertretene These, integriert über den Ritualbegriff nicht nur unterschiedliche ekklesiologische Modelle, er beschreibt vielschichtige Prozesse der Aneignung und Auseinandersetzung, die durch das Ritual ausgelöst werden und in der Lage sind, die noch immer verbreitete Auffassung der Unterscheidung von ›Liturgie‹/Ritual und Predigt zu durchbrechen. Ferner finden sich bei Jetter wichtige Einsichten zu ritualdidaktischen Fragen. In diesem Sinn liegt der Fokus des ersten Teils auf der Sichtung und Sicherung der gewonnenen Erkenntnisse. Dies ist, so viel sei schon vorweggenommen, umso relevanter, weil die gegenwärtigen ritualtheoretischen Reflexionen trotz des geringen zeitlichen Abstands von den differenzierten, interdisziplinär auf der Höhe ihrer Zeit stattfindenden Auseinandersetzungen kaum Kenntnis nehmen.16 Es folgt eine Darstellung wesentlicher ritualtheoretischer Zugänge evangelischer Liturgik, insbesondere auf dem Gebiet der Psychologie und Psychoanalyse, der Kommunikationstheorie, sowie der Spiel- und Alltagstheorie (3.). Im Anschluss wird eine historische Klammer gesetzt (4.). Dabei werden Spielarten von Ritualkritik sowohl im Ausgang der Dialektischen Theologie untersucht, die unmittelbar vor der ›Entdeckung des Rituals‹ geäußert wurde, als auch solche der jüngsten Zeit. Die dabei erkennbaren Grundlinien der Argumentation, die sich trotz des zeitlichen Abstands finden lassen, münden in die Formulierung einer Aufgabenstellung für eine Ritualtheorie protestantischer Liturgik (5.). Die Würdigung der in der Kritik benannten Desiderate bereiten schließlich den Zugang zur Rezeption neuerer Ansätze vor. Im zweiten Teil wird der theologiewissenschaftliche Kontext verlassen und der Blick nun auf außertheologische Ritualtheorien gerichtet. Den Einstieg bildet die Klärung der häufig synonym verwendeten Begriffe ›Ritus‹ und ›Ritual‹ (6.). Deren Bestimmung soll so erfolgen, dass ein Anknüpfen an die liturgische Tradition ebenso ermöglicht wird wie an andere Wissenschaften, aber auch an die Verwendung des Ritualbegriffs in der Alltagssprache. Anschließend (7.) sollen mit William Robertson Smith und mile Durkheim zunächst zentrale Theorien dargestellt werden, die zwar die lange Zeit prägende funktionale Zugangsweise wesentlich mitbestimmt haben, die aber – und darin zeigt sich wiederum der Zuschnitt der vorliegenden Arbeit – dennoch immer wieder ein 16 S. u. 10.
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Interesse an der Frage zeigen, was rituelles Handeln als solches auszeichnet, und worin sich rituelles von nicht-rituellem Handeln unterscheidet. Gleichwohl fand der funktionale Zugang in Frits Staal einen fundamentalen Kritiker, der mit seiner scharfen These von der Bedeutungslosigkeit des Rituals wesentlich dazu beigetragen hat, eine neue Art ritualtheoretischer Theoriebildung zu etablieren. Dieser neue Ansatz wird unter dem mittlerweile etablierten Begriff der »modernen Ritual Studies« gefasst (8.).17 Für diesen Diskurs zentrale und Disziplinen übergreifend vielfach rezipierte Arbeiten, insbesondere von Ronald L. Grimes und Catherine Bell, sollen hier in den Diskurs evangelischer Liturgik eingeführt werden. Die unter dem Paradigma der Ritualisierung verfassten Arbeiten fokussieren explizit auf die Handlungslogik sowie das Erleben und Deuten der Ritualakteure. »Ritualisierung« bezeichnet sowohl einen Forschungsansatz als auch ein ritualtheoretisches Konzept, das nicht nur wichtige, bisher unbeachtete Merkmale rituellen Handelns wie Kreativität und Kritik herausstellt und Rituale als dynamische Prozesse beschreibt. Das Konzept erweist sich zudem als hilfreich, um den Bezug der evangelischen Liturgik zur Ritualtheorie wieder aufzunehmen. Insbesondere der anhand der Ritualpraxis der Religion des Jainismus erarbeitete theoretische Ansatz von Carolin Humphrey und James Laidlaw eröffnet für protestantische Ritualvollzüge Einsichten in die Konzeptualisierung und Aneignung von Handlungen, die von einer sogenannten »rituellen Einstellung« bestimmt sind (9.). Hier wird zum einen das Verständnis der Gebundenheit von Ritualen an spezifische Handlungsregeln vertieft, zum anderen wird die festgelegte Form zu den diskursiven Bedeutungen, die den Handlungen zugeschrieben werden, aber auch zur individuellen Motivation der Akteure, die ein Ritual ausführen, ins Verhältnis gesetzt. Daraus ergibt sich ein verändertes Bild der auf dem Gebiet der Liturgik zumeist als Gegensatz beschriebenen Aktivitäten von ritueller Handlung und Reflexion. Der dritte Teil ist der Zusammenführung und exemplarischen Anwendung der im zweiten Teil neu in den Diskurs eingeführten Theorien gewidmet. Zugleich fließen hier die im ersten Teil erhobenen und gesicherten Erkenntnisse des frühen Ritualdiskurses evangelischer Liturgik ein. Auf diese Weise sollen Ansätze eines ritualtheoretischen Konzepts präsentiert werden, die in der Lage sind, Antworten auf einige ritualkritische Anfragen zu geben, ohne die grundsätzliche Ambivalenz ritueller Formen aufzugeben. Dafür soll zunächst der Stand der Rezeption des im zweiten Teil präsentierten Forschungsfeldes markiert werden (10.). Anschließend sollen in Form von sieben Thesen Prinzipien benannt werden, die zu einer veränderten und erweiterten Sichtweise auf rituelles Handeln im Gottesdienst führen können (11.). Da diese 17 Vgl. Benedikt Kranemann/Paul Post (Hg.): Die modernen Ritual Studies als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft. Modern Ritual Studies as a Challenge for Liturgical Studies, Leuven 2009.
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Arbeit ein stärker konzeptionelles Interesse verfolgt und auf empirische Forschungen verzichtet, soll eine exemplarische Anwendung der Thesen und Einsichten am Beispiel der Transformation des Gottesdienstes im Zuge der Reformation erfolgen (12.). Jenseits der hierbei herangezogenen theologischen Programmschriften Luthers sollen Quellen und Einsichten historischer Forschung herangezogen werden, um den Blick auf die Auseinandersetzung mit den liturgischen Reformen auf der Ebene der Gemeinde zu lenken. Schließlich formuliert ein Ausblick im engeren Sinn Anregungen für eine veränderte Liturgiepraxis, welche die im Verlauf der Arbeit gewonnen Einsichten für ritualdidaktische und -analytische Überlegungen und damit für die Aufgabe der Gestaltung und Feier des sonntäglichen Gottesdienstes fruchtbar zu machen versucht (13.). Die theoretischen Ausführungen sollen damit auch zur Selbstklärung der für die Liturgie Verantwortlichen beitragen – wohlwissend, dass die Rituale selbst stets spannender sind als die dahinterliegenden Theorien, die aber die wesentliche Aufgabe einer Praktischen Theologie als Theorie der Praxis darstellen. Ist das Ritual eine Grundkonstante in der Welt menschlichen Handelns, darf die »Anstrengung des Begriffs« zum Zweck einer verantwortlichen Praxis nicht gescheut werden.
I Der Gottesdienst als Ritual in der protestantischen Liturgik 1 Kirchlicher, theologischer und liturgischer Kontext der ›Entdeckung‹ des Rituals Der Gottesdienst ist ein Ritual. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Aussage heute getroffen wird, lässt leicht vergessen, dass die positive Aufnahme des Ritualbegriffs in die protestantische Liturgik in den 1970er Jahren das Resultat massiver Transformationen in Kirche, Theologie und deutscher Gesellschaft insgesamt war. Im Folgenden sollen zunächst die Rahmenbedingungen für den Wandel in der Bewertung ritueller Vollzüge innerhalb des Protestantismus skizziert werden – im Hinblick auf die Situation der gottesdienstlichen Praxis als auch auf die innerhalb der Liturgik verhandelten Fragestellungen. Konkret soll zunächst ein Bild der gesellschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Wandlungsprozesse skizziert werden, welche die Kirchen zur aktiven Auseinandersetzung nötigten (1.1). In einem zweiten Schritt werden die Tendenzen und Entwicklungen innerhalb der Theologie beleuchtet (1.2). Dabei hängen systematisch-theologische Überlegungen zur Unterscheidung von Kirche und Religion unmittelbar mit soziologischen Befunden wie auch mit der sogenannten empirischen Wende innerhalb der praktischen Theologie untrennbar zusammen. Auf dieser Grundlage folgt eine Vermessung der Gottesdienstlandschaft um 1970, die sowohl die liturgischen Neuaufbrüche und die insgesamt sprunghafte Pluralisierung umfasst, wie auch die mit dem sogenannten Strukturpapier einsetzende Konsolidierung (1.3). Die dabei neu aufgeworfene Frage nach dem Status des traditionellen Gottesdienstes führt die Grundspannung vor Augen, in der die liturgiewissenschaftliche Charakterisierung des protestantischen Gottesdienstes als Ritual seither steht: Der Gottesdienst ist zum einen Gegenstand individueller Gestaltung, um die unterschiedlichen Teilnehmerbedürfnisse zu integrieren. Zum anderen soll gerade das Ritual als feststehende und vorgegebene Handlungsform Verlässlichkeit, Beheimatung und Identität erzeugen.
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1.1 Gesellschaft und Kirche im Umbruch: Die ›langen sechziger Jahre‹ und ihre Folgen für die Beurteilung ritueller Vollzüge 1.1.1 Säkularisierung als kirchlicher Gestaltungsrahmen Die kirchliche Zeitgeschichtsforschung spricht üblicherweise von den ›langen sechziger Jahren‹, um damit den Zeitraum der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre zusammenzufassen, innerhalb dessen sich in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern massive gesamtgesellschaftliche Transformationen ereigneten. Unter dem Titel Der verlorene Himmel beschreibt Thomas Großbölting, wie in dieser Zeit die Religiosität in ihrer privaten wie öffentlichen Gestalt in bisher unbekanntem Maße an Integrationskraft verlor und »für einen immer größeren Teil der Bevölkerung nicht mehr relevant«1 war. Hugh McLeod spricht angesichts dieser Säkularisierungsdynamik im gesamteuropäischen Kontext gar vom Ende der gefühlten Einheit des christlichen Abendlands (»Christendom«): »Few people any longer assumed that they were living in a Christian society.«2 Was aber bedeutet ›Säkularisierung‹ in dieser Zeit konkret? Welche gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen spielen dabei eine Rolle? Und wie agieren die Kirchen in dieser veränderten Situation? Diese Fragen sind nicht zuletzt deshalb relevant, da um das Symboljahr 1968 herum zahlreiche Fragen und Problemkonstellationen inkubiert wurden, welche Kirche, Theologie und im Besonderen auch die Liturgik seither beschäftigen. Mitte der 1960er Jahre vollzog sich eine umfassende Diversifizierung aller soziokulturellen Milieus, die einherging mit einer »Lebensstilrevolution« (Großbölting). Traditionelle Lebensentwürfe und damit auch die selbstverständliche Bindung an die christlich-kirchliche Religion gingen mehr und mehr verloren. Es entstanden ›alternative Milieus‹, die sich auf bestimmte politische und moralische Einstellungen gründeten und in Theaterstücken, Filmen und Musik ihren Ausdruck fanden. Die Pluralisierung und Optionalität der Lebensentwürfe schlug sich nicht nur in der Gestaltung von Bildungsund Karrierewegen, in privatem Konsum und Familienplanung nieder, sondern auch auf der Ebene der Weltanschauungen und Werte. Diese wurden zunehmend unter den Prämissen von Selbstentfaltung, Selbständigkeit und
1 Thomas Grossbçlting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013, 176. 2 Hugh McLeod: The Religious Crisis of the 1960s, Oxford 2007, 256. Zur Diskussion um die dabei vorausgesetzte Säkularisierungsthese vgl. u. a. Detlef Pollack/Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. Main 2015, 9–21 sowie Peter L. Berger: The Many Altars of Modernity. Toward a Paradigm for Religion in a Pluralist Age, Boston/ Berlin 2014.
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Der Gottesdienst als Ritual in der protestantischen Liturgik
Mitbestimmung verhandelt.3 Weniger die soziale Herkunft und der vererbte Glauben bestimmten das Selbstverständnis. Stattdessen trat die subjektive Aneignung dieser Traditionsbestände in den Vordergrund.4 Einflussreicher Faktor der veränderten Lebensumstände war die rasante Ausprägung der deutschen Wohlstandsgesellschaft. Sie gründete sich ebenso auf der Ansammlung privaten Besitzes wie auf einem bisher ungeahnten Maß an sozialstaatlicher Absicherung. Die nun zur Verfügung stehende ›Freizeit‹5 ließ eine »Erlebnisgesellschaft« (Schulze) entstehen, die »relativ stark durch innenorientierte Lebensauffassungen geprägt ist.«6 Parallel zu dieser nach innen gerichteten, privatisierenden Tendenz vollzog sich insbesondere unter jüngeren Menschen eine starke Politisierung, die vor allem mit dem Symboljahr 1968 verbunden ist. Die lange in Deutschland herrschende Demokratieskepsis schlug um in Forderungen nach Partizipation auf allen Ebenen der Gesellschaft. Die Akzeptanz der Kirche als Institution konnte davon nicht unberührt bleiben. Sie erlebte auf individueller wie auf politischer und kultureller Ebene eine massive Säkularisierungswelle. Besonders drastisch lässt sich dies anhand der Zahlen der Kirchenaustritte ablesen: Lag der Durchschnitt der Austritte bis 1967 bei ca. 44.000, verließen auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung 1970 203.000 Menschen die evangelischen Kirchen. Damit schlugen sich die Kritik an der Kirche wie auch die Unzufriedenheit mit ihren Angeboten, wie sie seit Mitte der sechziger Jahre laut wurden, nun auch in den Zahlen nieder.7 Drastische Einbrüche zeigten sich bei den Taufen, deren absolute Zahl sich zwischen 1968 und 1975 halbierte,8 wie auch beim sonntäglichen Gottesdienstbesuch. Die nach Kriegsende besonders hohe Kirchenverbundenheit kippte in ihr Gegenteil: 1973 besuchten nur noch drei Prozent 3 Ein Beispiel, anhand dessen sich die gesteigerte Wandel- und Revidierbarkeit individueller Entscheidungen ablesen lässt, ist die Verdopplung der Scheidungsrate zwischen 1962 und 1976 (Vgl. www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Ehescheidungen/Tabel len_/lrbev06.html, 04. 06. 2015). 4 Dieser »Subjektivitätswelle« (Grossbçlting) unterlagen die Kirchen ebenso wie viele andere gesellschaftliche Institutionen (vgl. Grossbçlting: Der verlorene Himmel, 110). 5 Als ›Freizeit‹ galten einerseits Zeiten, die für den Einzelnen frei von Erwerbsarbeit waren – u. a. durch neue Arbeitszeiten- und Urlaubsregelungen –, andererseits aber darüber hinaus Zeiten der Freiheit von spezifischen Rollen- und Verhaltenserwartungen bezeichnete (vgl. Erwin K. Scheuch/Rolf Meyersohn (Hg.): Soziologie der Freizeit, Köln 1972). 6 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. Main 8 2000, 54. 7 Besonders für die Zeit zwischen 1970 und 1975 ist ein stark erhöhtes Austrittsvolumen zu beobachten. Vgl. Joachim Eicken/Ansgar Schmitz-Veltlin: Die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Deutschland. Statistische Anmerkungen zu Umfang und Ursachen des Mitgliederrückgangs in den beiden christlichen Volkskirchen, in: Wirtschaft und Statistik (2010), 576–589, 579. Als Grund wird hier neben dem veränderten »Zeitgeist« u. a. die Einführung bzw. Erhöhung der Mehrwertsteuer 1968 genannt. 8 Vgl. aaO., 581. Eine markante Ausnahme von diesem Trend war von Beginn an die Zahl der kirchlichen Bestattungen, die durchweg stabil blieb bzw. anstieg.
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der Evangelischen bis 45 Jahre regelmäßig den Gottesdienst.9 Die individuellen Gründe, die zuvor übliche Praxis einzustellen, waren höchst unterschiedlich. Doch machte sich hier die bereits beschriebene Pluralisierung und der veränderte Mentalitätswandel deutlich bemerkbar.10 Die überlieferten Gottesdienstformen wurden von nun an fest mit starren Strukturen, mangelnder Alltagsrelevanz, fehlenden Erlebnismomenten und geringen Partizipationsmöglichkeiten assoziiert. Angesichts einer stetig wachsenden Zahl von Alternativen im Hinblick auf Engagement und Freizeitgestaltung litt der Gottesdienst in der Außen- und nicht weniger in der kirchlichen Innenwahrnehmung unter einem Attraktivitätsproblem. Weil also alte Begründungsmuster und Legitimationsstrategien immer weniger griffen, sahen sich Kirche und Theologie massiv in Frage gestellt. Das Bewusstsein einer Krise war allgegenwärtig. Der Anspruch ›Volkskirche‹ zu sein, wurde indes aufrechterhalten, sodass eine aktive Suche nach Antworten und Angeboten für die veränderte gesellschaftliche Lage unumgänglich wurde. Säkularisierung meint also nicht nur den deutlichen Relevanzverlust von Religiosität und Kirchlichkeit. Im Rahmen fundamentaler gesellschaftlicher Ausdifferenzierungs- und Aushandlungsprozesse ging zugleich um langfristige Veränderungen der Rollen- und Aufgabenzuschreibungen aller gesellschaftlichen Akteure. McLeod zufolge waren daher die ›langen sechziger Jahre‹ zwar »indeed a period when nothing was any longer sacred, and taboos existed only to be broken. But it is a misunderstanding to suppose that it was a period when Christianity, or religion more generally, no longer mattered.«11 Wie empirische soziologische Erhebungen mehr und mehr deutlich machten, war Religiosität zunehmend entkoppelt von formaler Kirchenmitgliedschaft. Und umgekehrt bedeutete Kirchenmitgliedschaft weder Übereinstimmung mit den kirchlichen Lehren noch überhaupt das Bedürfnis nach einem Lebensstil, der sich in seiner Praxis und Werteorientierung an spezifischen christlichen Lehraussagen orientiert.12 Die von Grace Davie geprägte Formel von »believing without belonging« galt zumindest als Behauptung somit auch umgekehrt: »belonging without believing« war für die Kirchen nicht weniger eine Herausforderung. Die Entdeckung der sogenannten »Ritualisten« im
9 Für die katholische Kirche nennt Grossbçlting einen Einbruch bis 1973 von 15 % auf lediglich 7 % Prozent und damit eine Halbierung (vgl. Der verlorene Himmel, 97f.). Der Prozentsatz der evangelischen Gottesdienstbesucher sank von 7,3 % 1963 auf 5,6 % 1971 (vgl. Helmut Hild [Hg.]: Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsbefragung, Gelnhausen/Berlin 1974, 13). 10 Vgl. McLeod: Religious Crisis, 214. Intensive Ursachenforschung betrieb bereits Gerhard Schmidtchen: Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur, Bern 1973, 296–300. 11 McLeod: Religious Crisis, 258. 12 Vgl. Schmidtchen: Protestanten und Katholiken, 264 f.
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Rahmen der Gottesdienstumfragen spiegelte diese Problematik wieder (s. u. 2.4.2). Es wäre also eine verkürzte Darstellung, die Kirchen nur als passive Objekte übergreifender Prozesse zu verstehen und nicht auch als Akteure, die diese zugleich mitgestalteten. Jene Krisenzeit ist daher treffender als »Übergangsphase und Inkubationszeit« (Wolf-Dieter Hauschild) innerhalb einer »langfristigen Transformation der evangelischen Kirche«13 zu verstehen. Die Kirche war gezwungen, auf die gesellschaftlichen Veränderungen selbst wiederum durch Veränderungen ihrer Organisations- und Kommunikationsstrukturen zu reagieren. Der mit dem Säkularisierungsbegriff bezeichnete Wandel bedeutete für die Kirchen einen reduzierten Einfluss der Kirchen auf Individuen und Gesellschaft. Zudem mussten sie mit dem Verlust der exklusiven Zuständigkeit für religiöse Fragen umzugehen lernen. Andere Akteure wie Wissenschaft und Medien sahen sich nicht nur berechtigt, sondern auch zuständig, religiöse Haltungen und Phänomene zu untersuchen und ihre Ergebnisse unabhängig von den Interessen der Kirchen zu kommunizieren. Die 1967 und 1968 für die Zeitschriften Spiegel und Stern durchgeführten Umfragen ließen vor allem die Diskrepanzen deutlich werden, die zwischen grundlegenden kirchlichen Lehrinhalten und den individuellen religiösen Überzeugungen großer Teile der Bevölkerung bestanden.14 Den Verlust der Meinungsführerschaft mussten die Kirchen auch in den Bereichen Politik und Moral verzeichnen. Die EKD strebte daher etwa mit ihrer Denkschrift zu Fragen der Sexualethik von 1971 schon frühzeitig an, eine »Mittel- und Mittlerposition« (Simone Mantei) zu besetzen, die unterschiedliche moralische Urteile zuließ. Generell bemühte 13 Wolf-Dieter Hauschild: Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979, in: Siegfried Hermle/Claudia Lepp/Harry Oelke (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007, 51–90, 59. 14 Unter dem Titel Was glauben die Deutschen? publizierte der »Spiegel« (52/1967) Ergebnisse einer Umfrage des Emnid-Instituts. Die Diskrepanzen zwischen den gesellschaftlich geteilten Überzeugungen und der kirchlichen Lehre betrafen nicht nur religiöse Überzeugungen (Auferstehung), sondern auch moralische Werte (Abtreibung infolge von Vergewaltigung). Auch Ulrich Schippke bemühte sich im »Stern« (52/1968) unter der Überschrift Wie sieht Gott aus? auf Grundlage einer vom Demographischen Institut Allensbach durchgeführten Studie diesen Wandel der Mehrheitsverhältnisse hinsichtlich der Zustimmung zur kirchlichen Lehre zu verdeutlichen. Der Theologe Hans-Dieter Bastian begrüßte in der Auswertung der EmnidUmfrage diesen Abbruch überkommener und oft biederer religiöser Vorstellungen, wie sie bei manchen »Konservativen« noch immer zu finden seien: »Sie glauben alle Wunder und sind überdurchschnittlich abergläubisch, verehren Martin Luther […], besitzen alle eine Bibel, aber mißhandeln Adam und Eva, lesen den ›Spiegel‹ fast gar nicht, sondern finden Selbstbestätigung im Gemeindeblatt, sie wählen konservativ und heiraten nur eine virgo intacta« (Theologie als Marktforschung. Eine Auseinandersetzung mit dem homo religiosus statisticus, in: Werner Harenberg (Hg.): Was glauben die Deutschen? Die Emnid-Umfrage. Ergebnisse – Kommentare, München 1968, 152–171, 167).
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man sich um eine Öffnung hin zur Gesellschaft (kirchlicherseits spricht man stets von »Öffentlichkeit«) und verstand die Kirche nicht mehr als korrigierendes, weitgehend autonomes Gegenüber zur »Welt«, sondern als integralen und aktiv agierenden Teil derselben.15 Zunehmend nutze die Kirche dafür selbst die neuen Medien von Rundfunk und Fernsehen. Parallel zu den mitunter heftigen und langen internen Diskussionen über deren theologische Bewertung bildete sich schon bald eine eigene kirchliche Publizistik heraus, die bei der Behandlung virulenter ethischer Fragen immer öfter ihre Unabhängigkeit gegenüber den Kirchenleitungen betonte.16
1.1.2 Kirche zwischen Öffnung und Selbstvergewisserung Die Reaktion der Kirche auf den gesellschaftlichen Wertewandel und die daraus erwachsene Krise sollen anhand zweier Beispiele verdeutlicht werden. Mit Blick auf die evangelischen Kirchentage lässt sich beobachten, wie versucht wurde, die gemeindlichen Sozialformen und die kirchlichen Angebote pluraler zu gestalten und Räume zu schaffen, die weniger von kirchlichen Vorgaben, als von der Beteiligung der Kirchenmitglieder bestimmt waren. Die Kirchentage sahen sich nach einer Hochzeit in den 50er Jahren einem stetigen Schrumpfen der Teilnehmerzahlen ausgesetzt. Tiefpunkt war der Düsseldorfer Kirchentag 1973 mit nur 7.500 Dauerteilnehmern. Zugleich wurde dieser Kirchentag aber zu einem für die zukünftige Prägung entscheidenden Wendepunkt.17 Erstmals wurde auf dem später so genannten »Markt der Möglichkeiten« die innerkirchliche Pluralität präsentiert. Zudem gelang es, jene lange vermissten Erlebnisqualitäten zu schaffen. Die Veranstaltungen fanden verstärkt jenseits der Kirchenräume im öffentlichen Raum statt und präsentierten eine politisch engagierte Kirche. Die generelle Offenheit für Experimente führte auch liturgisch zu neuen Impulsen. Das zweite Beispiel kirchlicher Reaktion ist der Beginn der Erhebung empirischer Daten zum Verhalten der Kirchenmitglieder auf sozialwissenschaftlicher Grundlage. Über soziologische Zugänge zur gottesdienstlichen Religiosität wird im Rahmen der Gottesdienststudien noch genauer einzugehen sein (s. u. 2.4). Hier geht es zunächst um die grundsätzliche Motivation zu derartigen Untersuchungen. Die erste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) 1972 stand zunächst ganz im Rahmen der Suche nach Ursachen für die rasant steigenden Austrittszahlen wie auch für den Rückgang im 15 Theologisch grundlegend für diese langfristige Positionierung war die Monografie von Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973. Auch die Gründung evangelischer Akademien zielte genau auf die Verwirklichung dieses Anliegens. 16 Vgl. Johannes Greifenstein: Öffentliche Theologien im medialen Christentum? Impulse der Diskussion ›kirchlicher Publizistik‹ von 1949 bis 1969, in: ZThK 112 (2015), 254–278. 17 Vgl. Harald Schroeter-Wittke: Der Deutsche-Evangelische Kirchentag in den 1960er und 70er Jahren – eine soziale Bewegung?, in: Hermle/Lepp/Oelke (Hg.): Umbrüche, 213–225, 219.
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Kirchgangsverhalten.18 Dass traditionelle kirchliche Angebote nicht mehr angenommen wurden, ließ die Kirche sich selbst fraglich werden. Was hatte sie dem modernen Menschen an Lebens- und Glaubenshilfe überhaupt anzubieten, wenn die Mehrheit der Gesellschaft immer weiter von kirchlich vertretenen Inhalten abzurücken schien? Die Entwicklungen sollten aber nicht mehr pauschal verurteilt, durch traditionsorientierte Appelle gekontert oder durch spontanen Aktivismus überspielt werden. Man bemühte sich stattdessen um ein ernsthaftes Verstehen der Ursachen und Mechanismen. Empirische Daten darüber, was die Mitglieder tatsächlich dachten und unter welchen Prämissen sie ihr Leben gestalteten, sollte dafür den Ausgangspunkt bilden. Joachim Matthes als Leiter der Studie setzte sich dafür ein, den Fokus nicht allein auf die Kirchenaustritte zu legen, sondern einen breiteren Ansatz zu wählen und nach der Verbundenheit der Kirchenmitglieder mit ihrer Kirche zu fragen. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen waren von Beginn an ein Instrument kirchlicher Selbsterkundung und auch Selbstvergewisserung. Sie dienten dem Ausloten zukünftiger Handlungsoptionen und signalisierten den Kirchenmitgliedern, dass die Kirche bereit war ihnen zuzuhören, genau hinzusehen19 und einen inneren Wandel aktiv in Angriff zu nehmen. Die gemeinhin mit der KMU von 1972 verbundene Wende sollte jedoch nicht die Tatsache vergessen machen, dass Anregungen und Forderungen nach einer soziologischen Erfassung der Kirchenmitgliedschaft im Allgemeinen20 wie auch erste Studien zum kirchlichen Bindungsverhalten bereits wesentlich früher, erstmals in den 1950er Jahren, unternommen wurden (s. u. 2.4.1).21 18 Auf das dezidiert kirchliche – und eben nicht allgemein religionssoziologische – Interesse wies besonders Joachim Matthes hin (vgl. Ders.: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964, 78). 19 So in der VELKD-Gottesdienststudie (s. u. 2.4.2.2): »Entsprechend dem in den neutestamentlichen Seelsorge-Perikopen überlieferten ›Sehen Jesu‹ und ›Genau-ins-Auge-Fassen‹ der Apostel, ist es ein Akt der kirchlichen Kondeszendenz, wenn die Lage der Menschen hinsichtlich ihres ›Gottes-Dienstes‹ mit den heute zur Verfügung stehen wissenschaftlichen Mitteln ›Gesehen‹ und ›genau ins Auge gefaßt‹ wird, um den Dienst der Kirche menschennah, wie es ihr Herr wollte, zu gestalten« (Gerhard Schmidtchen (Hg.): Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der VELKD, Stuttgart 1973, XIII). 20 Vgl. etwa den Sammelband von Dietrich Goldschmidt/Franz Greiner/Helmut Schelsky (Hg.): Soziologie der Kirchengemeinde, Stuttgart 1960. Hier wird zudem deutlich, dass das Problembewusstsein zur Lage der Kirche keineswegs erst Mitte der 1960er Jahre einsetzte. Man war sich bewusst, dass »der Gottesdienst in der Gegenwart nur noch einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung zusammenfaßt« und dass »die wachsende Differenzierung der Sozialstruktur […] das Band zwischen Kirchengemeinde und örtlicher Gesellschaft« auflöst (aaO., 1). 21 Vgl. besonders Erich Reigrotzki: Soziale Verflechtungen in der Bundesrepublik. Elemente der sozialen Teilnahme in Kirche, Politik, Organisation und Freizeit, Tübingen 1956, der den Begriff der ›Freizeit‹ bereits aufgreift (s. o. S. 26). Er untersucht den kirchlichen Bereich unter der Überschrift »Formen kirchlicher Bindung« (vgl. aaO., 15–34) und verwendet damit auch einen zentralen Begriff der KMU. Gerade die frühen Untersuchungen zeigen nicht selten eine erstaunliche Offenheit der Fragestellungen. Reigrotzki etwa fragt auch nach dem Kirchenbesuch von Konfessionslosen (vgl. aaO., 20).
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Insgesamt kam die erste KMU im Hinblick auf die Kirchenbindung zu einem »unerwartet positiven Ergebnis. Die Notwendigkeit von Kirche wird von der überwiegenden Mehrzahl ihrer Mitglieder eindeutig bejaht. […] Zu einer pessimistischen Prognose für die Volkskirche besteht kein Anlaß.«22 Dennoch gab es berechtigten Anlass zur Sorge: Sowohl die Gruppe der höher Gebildeten wie auch die Jugendlichen, die beide für die Zukunft der Kirche als besonders wichtig erachtet wurden (»kritische Gruppen«), wichen in ihren Einstellungen mitunter erheblich von der allgemeinen Stabilitätsprognose ab und zeigten eine besonders kritisch-distanzierte Einstellung gegenüber der Kirche. Verstärkte Bemühungen im Bereich Bildung sollten die Zahl derer erhöhen, die Kirchenmitgliedschaft als bewusste Entscheidung verstehen. Nur dann könne eine Verbundenheit mit der Kirche entstehen, die für den Fortbestand als Volkskirche entscheidend sei. Der positive Befund bestätigte für Matthes dennoch die Annahme, dass die Verantwortung für den starken Verlust an Kirchlichkeit weitgehend bei der Kirche liegt: nicht die Gesellschaft droht sich aus der Kirche zu verabschieden, sondern umgekehrt die Kirche aus der Gesellschaft.23 Die Ursache sah Matthes in einer Vermischung von theologischer und soziologischer Perspektive. Theologisch ist eine Unterscheidung von Kirche und ›Welt‹ statthaft. Unter soziologischer Perspektive aber ist die Kirche wie jede andere soziale Größe ganz und gar Teil der Gesellschaft und in ihr als Einflussfaktor wirksam. Dieser Kategorienfehler führte Matthes zufolge dazu, Säkularisierungsprozesse und Wandlungen im Teilnahmeverhalten als Entkirchlichung zu beschreiben und abzuwerten. Vor dem Hintergrund einer überhöhten Kirchlichkeit in den 50er Jahren und in Verbindung mit der Vorstellung vom Gesundschrumpfen der Kirche sah Matthes eine realistische, vorurteilsfreie Wahrnehmung stark gefährdet. Stattdessen betonte er: »Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen freilich haben gezeigt, daß die Vielen unter den Kirchenmitgliedern, denen die Heimat Kirche in der Tat fremd geworden ist, keineswegs so einfach aus ihr verabschiedet werden wollen.«24 Die entscheidende und für Matthes notwendige Öffnung der kirchlichen Sichtweise war unmittelbar verbunden dem Entschluss zu einer positiven Bewertung des volkskirchlichen Charakters der Kirche. Erst wenn Kirchenzugehörigkeit auch dann erst genommen wird, wenn sie sich nicht in allsonntäglicher Gottesdienstteilnahme äußert und kirchliche Verbundenheit auch dann akzeptiert wird, wenn sie nicht in (kern-) gemeindliches Engagement mündet, wird die nach wie vor starke Verbindung von Kirche und Gesellschaft sichtbar.
22 Hild (Hg.): Wie stabil ist die Kirche?, 2 f. 23 Vgl. Matthes’ bereits vom Titel her provokante Studie Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft. 24 Joachim Matthes (Hg.): Fremde Heimat Kirche – Erkundungsgänge. Beiträge und Kommentare zur dritten EKD-Untersuchung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2000, 35.
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1.1.3 Fazit: Ritualität zwischen Umbruch und Konsolidierung Das aufgezeigte Panorama allgemeiner zeitgeschichtlicher Faktoren und innerkirchlicher Wandlungsprozesse bildet den Hintergrund, der die Debatten um die Ritualität des Gottesdienstes motivierte und bestimmt hat. Die Kirchen büßten in den ›langen sechziger Jahren‹ erheblich an gesamtgesellschaftlicher Integrationskraft ein. Diese Tatsache ergab sich aber weniger aus einem plötzlichen Bruch, als aus einer zunehmenden Distanzierung und einem Abbröckeln kirchlicher Sozialisation, in deren Folge auch langfristig das Elternhaus als Träger christlicher Tradition ausfiel.25 In dieser Zeit reagierten Kirchen und Gemeinden verstärkt mit kritischer Selbstbefragung. Sie waren zugleich bereit, neue Formen von Gemeinde und Gemeinschaft zu erproben und sich auf liturgische Experimente einzulassen. Die in allen Bereichen der Kultur zu beobachtende Pluralisierung wirkte sich auch auf den Gottesdienst aus: die traditionelle Sonntagsliturgie wurde zu einer Gestaltungsoption unter anderen. Die Forderung nach neuen Formen von Partizipation führte zu einer Veränderung und Erweiterung der liturgischen Akteure. Dies wird im Blick auf die veränderte Gottesdienstlandschaft noch deutlicher werden. Für den Sonntagsgottesdienst musste ein kontinuierliches Absinken der Vertrautheit mit traditionellen Formen konstatiert werden, das kaum aufzuhalten war. Die liturgische Debatte um die Ritualität des Gottesdienstes entfaltete sich also in einer Zeit, in der die Rituale – wie generell bisher unhinterfragte gesellschaftliche Institutionen – ihre unmittelbare Selbstverständlichkeit verloren hatten. Eine positiv-konstruktive Auseinandersetzung mit den kirchlichen Riten konnte jedoch zunächst kaum stattfinden. Ihnen wurde nunmehr ausschließlich ein bewahrender, rückwärtsgewandter und hierarchischer Grundzug attestiert, den es zu überwinden galt. Die dennoch erfolgte Hinwendung zur anthropologischen Kategorie des Rituals innerhalb der Liturgik erklärt sich aber nicht nur aus der historischen Umbruchssituation und der daraus folgenden Infragestellung bisher gültiger liturgischer Praxis. Zwar nahm die Debatte hier ihren unmittelbaren Ausgang, ihre Breite entfaltete sich jedoch erst in den 1980er Jahren und damit in einer Zeit relativer Stabilisierung der bundesdeutschen Geschichte.26 Mit Ausnahme 25 Vgl. Grossbçlting: Der verlorene Himmel, 100. Zusammenfassend: »Die ›langen‹ 1960er Jahre haben das religiöse Feld in Deutschland dramatischer verändert, beseitigt haben sie es nicht. Stattdessen entwickelten sich offene, plurale und nur noch lose an den Großkonfessionen orientierte Formen religiösen Lebens« (aaO., 179). 26 Zur generellen Frage der kirchengeschichtlichen Periodisierung der westdeutschen Nachkriegsgeschichte vgl. Andreas Stegmann: Einführung in die Geschichte des westdeutschen Protestantismus der 1970er Jahre, in: Ders. (Hg.): Die Evangelische Kirche in Deutschland in den 1970er Jahren. Beiträge zum 100. Geburtstag von Helmut Claß, Leipzig 2015, 213–252, 213–218.
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der kurzfristigen wirtschaftliche Rezession infolge der Ölkrise von 1974 mitsamt ihren Begleiterscheinungen von steigender Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit trat die Bundesrepublik in eine insgesamt stabile Phase gesellschaftlichen Wohlstands ein: »Um 1980 herrschte darum viel weniger Krisenstimmung als um 1970.«27 Die damit verbundene Konsolidierung schlug sich auch auf den Bereich der Liturgie nieder. Zunächst konnte eine seit 1974 einsetzende Stabilisierung des Gottesdienstbesuchs – wenn auch auf weithin niedrigem Niveau – verzeichnet werden.28 Die liturgischen und musikalischen Experimente, die Mitte der sechziger Jahre begannen, waren nicht selten als bedrohlicher Angriff auf das Etablierte empfunden worden und riefen in manchen Kreisen Skepsis bis Ablehnung hervor. Zehn Jahre später hatten sich diese Formen nicht nur etabliert, sondern waren auch zunehmend institutionalisiert. Damit waren Möglichkeiten geschaffen, die Konkurrenz in ein ergänzendes Nebeneinander zu überführen. Wiederum lässt sich dies anhand der Entwicklung der Kirchentage zeigen. War 1973 noch der Tiefpunkt der Teilnehmerzahlen, setzte in den folgenden Jahren ein kontinuierliches Wachstum ein. Es etablierten sich Veranstaltungsformen, die das Nebeneinander von Politik und Frömmigkeit zu einem wesentlichen Kennzeichen der evangelischen Kirche werden ließen. Hier hatte vor allem das »Beteiligungschristentum« ein wichtiges Forum, sodass dessen liturgische Bedürfnisse nicht mehr ausschließlich innerhalb der Ortsgemeinden gestillt werden mussten. Konsolidierung im Hinblick auf den Gottesdienst hieß aber auch, dass seit Mitte der siebziger Jahre absehbar war, dass der agendarische Gottesdienst eine zwar reduzierte und veränderte, aber doch bleibende Bedeutung behalten würde und der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit weiterhin bedurfte. Es ist somit jenes Nebeneinander von Umbruch und Stabilität, das die liturgischen Debatten jener Zeit bestimmte, die den rituellen Charakter des Gottesdienstes besonders stark betonten. In dem Ende der siebziger Jahre 27 AaO., 236. 28 Der damalige EKD-Ratsvorsitzenden Helmut Claß äußerte sich im Mai 1979 so: »Ich habe den starken Eindruck, daß das, war man unter Stabilisierung, unter geistlicher Festigung versteht, sich durchaus in der letzten Zeit immer deutlicher in der evangelischen Kirche abgezeichnet hat. Ich nenne hier etwa die steigernden Abendmahlsziffern, die seit einigen Jahren konstant nach oben gehen. In nicht wenigen Gemeinden wächst ferner die Zahl der Gottesdienstbesucher. Das scheint ein wichtiges Indiz dafür zu sein, daß sich von innen heraus eine Konsolidierung des Protestantismus abzeichnet.« (zitiert ebd.) Unabhängig davon, ob diese Einschätzung hinsichtlich einer neuen Belebung des kirchlichen Lebens zutreffend war, spiegelt sie doch vor allem die selbstbewusste Haltung des deutschen Protestantismus im Nachgang der Umbruchsphase und zeugt von dem Gefühl, sich wieder in ruhigeren Fahrwassern zu bewegen.1977 formuliert Manfred Seitz folgende Einschätzung: »Stabilisierungstendenzen sind zweifellos zu konstatieren. Die Austritte haben nachgelassen; die Gottesdienstbesucherzahlen scheinen sich zu halten« (Manfred Seitz/Lutz Mohaupt [Hg.]: Gottesdienst und öffentliche Meinung. Kommentare und Untersuchungen zur Gottesdienstumfrage der VELKD, Stuttgart u. a. 1977, 7f.).
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aufkommenden Ritualdiskurs konnte es daher kaum um eine Argumentation zugunsten einer ungebrochenen Fortschreibung liturgischer Traditionen gehen. Die Begründungsmuster für liturgische Formen mussten stattdessen kenntlich machen, dass der vorausgehende Säkularisierungsschub einbezogen und neuere Impulse integriert werden konnten. Ein echter Dialog zwischen der Kirche als Institution und ihren Mitgliedern wurde nun zur Voraussetzung kirchlichen Handelns. Gefragt war nicht mehr ein dogmatischdeduktives, sondern ein empirisch induktives Verfahren. Die religionssoziologischen Erhebungen übernahmen hierfür eine wichtige Vorreiterrolle. So nachvollziehbar es war, die Einstellungen und Verhaltensweisen der Kirchenmitglieder in soziologischen Umfragen zu erheben, so sehr wirft dieses Vorgehen aber auch Fragen auf. Wie konnte es überhaupt geschehen, dass der tagtägliche Austausch zwischen Gemeindegliedern und Pfarrern nicht ausreichte, um der Institution Kirche eine realistische Sicht auf die Erwartungen und Haltungen ihrer Mitglieder zu ermöglichen? Joachim Matthes verweis auf das besonders für den Protestantismus typische Zurückdrängen religiöser Produktivität des Einzelnen. Damit einher geht für ihn eine Abwertung der alltäglich gelebten Religion gegenüber der kirchlich gelehrten, und in Gestalt des Pfarrers repräsentierten Religion.29 Für den protestantischen Zugang zum Ritual sind damit bereits virulente Fragen angeschnitten: Wie kann es gelingen, die weitgehend kognitiv geprägten religiösen Produktionsformen (»Lesefrömmigkeit«) zugunsten solcher Formen zu erweitern, die auch den Körper, Haltungen und Bewegungen einbeziehen und so religiöse Produktivität fördern? Und inwiefern war und ist das protestantische Ritualverständnis bestimmt durch eine (zu) starke Bindung ritueller Handlungen an den zumeist allein agierenden, ordinierten Liturgen? Erste Antworten auf diese Fragen finden sich in liturgischen Experimenten (1.3), denen es jedoch nur sehr begrenzt gelang, ihre Einsichten für den agendarischen Gottesdienst fruchtbar zu machen. Der zweite Teil dieser Studie wird deutlich machen, inwiefern aber gerade rituelle Formen zur Beantwortung dieser Fragen ein wichtiges und lange verkanntes Potenzial bergen.
29 Vgl. Joachim Matthes: Die Mitgliedschaftsstudien der EKD im Spiegel asiatischer Gesprächspartner, in: PTh 85 (1996), 142–156. Jan Hermelink diagnostiziert hinter den innerkirchlichen PastorInnen-Befragungen der letzten Jahre eine »große Sehnsucht nach unbezweifelbarer Faktizität, nach – möglichst externer, möglichst kirchenferner – Objektivität, nach wissenschaftlicher Repräsentativität« (Von der Kirche des Wortes zur Kirche der Selbstbefragung. Kirchentheoretische und pastoraltheologische Rückfragen zu Anlage und Auswertung der Pastorinnen- und Pastorenbefragung der Evang.-Luth. Landeskirche Hannovers, in: Ders.: Kirche leiten in Person. Beiträge zu einer evangelischen Pastoraltheologie, Leipzig 2014, 85–100, 87).
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1.2 Theologie im Aufbruch: Interdisziplinarität als theologisches Prinzip 1.2.1 Von der Not zur Krise Die protestantische Theologie stellte sich der durch die Säkularisierung hervorgerufenen Krise in Form einer fragenden Theologie. Sie bemühte sich nicht nur um ein Verständnis der Gegenwart, sondern vor allem um eine kritische Auseinandersetzung mit ihren eigenen hermeneutischen Grundlagen. Auch hierin lassen sich die Folgen eines allgemeinen auf dem Gebiet der Religion in Europa vorherrschenden Krisenbewusstseins ablesen. Die Rezeption solchen Bewusstseins innerhalb der Theologie war jedoch keineswegs selbstverständlich. Die lange vorherrschende theologische Rhetorik hatte angesichts von Veränderungen und Traditionsabbrüchen stets von der »Not der Kirche«30 gesprochen. Von einer Not zu reden impliziert das Wissen darum, was fehlt und zugleich wodurch Abhilfe zu schaffen sei. In einer Krise hingegen endet der bisher eingeschlagene Weg. Ob und wo sich ein neuer Weg auftut, bleibt für die Beteiligten vorerst ungewiss und verlangt, neue Sicht- und Handlungsweisen zu erproben. Für Theologie und kirchliche Praxis dieser Zeit darf dies in Anspruch genommen werden.31 Was wird aus der Kirche? – mit dieser Frage brachte 1968 Werner Jetter seinerseits die von vielen geteilte Bereitschaft zum Ausdruck, mit einem starken Hang ins Grundsätzliche über die Zukunft von Kirche und Christentum im Modus der Frage nachzudenken. Immer wieder findet sich in theologischen Publikationen dieser Zeit ein Fragezeichen am Ende eines Titels.32 In diesen Zusammenhang gehören auch die vielfältigen Umfrage-Aktivitäten der Kirche und überhaupt das Erheben empirischer Daten.33 Geradezu programmatisch wurde die fragende Haltung in Hans-Dieter Bastians Theologie der Frage. Bastian zufolge bedarf es einer solchen, weil der Glaube 30 S. u. 4.2. 31 Gegen die hier intendierte Pointe mag sowohl die Selbstcharakterisierung der Dialektischen Theologie als »Theologie der Krise« als auch die besondere begriffsgeschichtliche Stellung des Krisenbegriffs für die Theologie eingewandt werden (vgl. Dietrich Korsch: Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 23–40). Vom theologischen Begriff kann der hier fokussierte zeitdiagnostische dennoch unterschieden werden. Daher könnte zugleich von einer tiefgehenden Transformation des Krisenbegriffs gesprochen werden. 32 Vgl. Werner Jetter: Was wird aus der Kirche? Beobachtungen – Fragen – Vorschläge, Stuttgart 1968. Der von Oskar Schatz 1971 herausgegebene Sammelband fragt Hat die Religion Zukunft? Hans J rgen Schultz fragt im Titel der Aufsatzsammlung von 1969 Wer ist das eigentlich – Gott?, ähnlich wie 1972 Trutz Rendtorff: Gott, ein Wort unserer Sprache? Vgl. auch die beiden unter 2.4.1 behandelten Gottesdienststudien von Jens Marten Lohse (Kirche ohne Kontakte?) und Robert Leuenberger (Gottesdienst – Angebot ohne Nachfrage?). 33 Wiederum programmatisch der Titel der Dissertation von Wolfgang Marhold: Fragende Kirche. Ein Beitrag zu Problematik und Theologie kirchlicher Praxis, dargestellt an Befragungsaktionen im Raume der Evangelischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Univ.Diss., München/Erlangen 1970.
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selbst seinem Wesen nach eine Haltung des Fragens sei. Um aber zu erkennen, was eine Frage überhaupt ist, welche Prozesse sie in Gang setzt und worauf sie abzielt, muss eine solche Theologie die Wissensbestände anderer Wissenschaften heranziehen. Kommunikationstheorie, Didaktik und Pädagogik, aber auch philosophische und literarische Zugänge erweisen sich hierfür als besonders hilfreich. Folglich ist die Kirche für Bastian als »Lerngesellschaft«34 zu charakterisieren, die eben nicht nur nach dem Transzendenten fragt und ihren eigenen Thesaurus an Antworten betrachtet, sondern angewiesen bleibt auf die Fragen und (Teil-) Antworten der ›Welt‹. Die Korrelation der grundlegenden anthropologischen wie auch der konkreten historischen Bedingungen, in denen der Mensch lebt (›Situation‹) mit jener Antwort (›Wahrheit‹), die der christlichen Botschaft zwar inhärent ist, aber immer wieder neu für die Gegenwart formuliert werden muss, diese Korrelation war bereits das zentrale Konstruktionsprinzip der Systematischen Theologie Paul Tillichs gewesen.35 Die vermeintlichen Gegensätze wie Vernunft und Offenbarung oder Geschichte und Reich Gottes werden für Tillich unter den Bedingungen der Welt niemals aufgelöst. Ihre Spannung führt vielmehr zu einem vertieften Verständnis der menschlichen Existenz. Nicht nur die Frage, auch der Zweifel wird bei Tillich zum konstitutiven Element des Glaubens. In seinem religionspädagogisch orientierten Werk reflektiert Bastian seine bei Tillich gewonnenen Einsichten auch in einem kurzen liturgischen Exkurs. Dieser mündet in einer Kritik an der theologischen Überbewertung der Predigt, welche die Christen »zu Amen- (und Ja-) Sagern denaturiert und der Frage letztlich entwöhnt.«36 Wer das Fragen als zentralen Selbstvollzug des Menschen fördern will, der muss sein liturgisches Augenmerk auf andere Elemente des Gottesdienstes als die Predigt richten. Bastians Werk darf nicht nur als paradigmatisch gelten für eine theologische Grundhaltung jener Zeit. Typisch ist auch das programmatische Heranziehen der Einsichten außertheologischer, primär empirisch arbeitender Wissenschaften. Mit dem zunehmenden Verzicht auf die Annahme, die Theologie verfüge über ein Sonderwissen, waren Theologie und Kirche genötigt ihren genuinen Beitrag für die Wissensbestände der Gesellschaft neu zu reflektieren und realistisch auszuloten. Eine Absage an theologische Binnendiskurse sowie eine Umorientierung von einem normativen hin zu einem deskriptiven Vorgehen waren die Folgen. Damit wandte sich die wissenschaftliche Theologie zugleich gegen eine innerhalb der Kirche noch immer zentrale Weltsicht: Diese verstand unter dem Stichwort ›Säkularisierung‹ vor allem eine aktive Abwendung von Glauben und Kirche. Die historischen 34 Hans-Dieter Bastian: Theologie der Frage. Ideen zur Grundlegung einer theologischen Didaktik und zur Kommunikation der Kirche in der Gegenwart, München 1969, 349. 35 Der erste, für diese Methode grundlegende Band war bereits 1955 auf Deutsch erschienen. 36 AaO., 351. Tillichs »apologetische Theologie« als »antwortende Theologie« und Bastians »fragende Theologie« verfolgen also im Grunde ein gemeinsames Anliegen.
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Wurzeln für den Rückgang an kirchlicher Beteiligung und ›Glauben‹ und den insgesamt zu beobachtenden Werteverfall meinte man ferner bis in die antichristliche Aufklärung zurückverfolgen zu können. Die lange auch in den verschiedenen Schulen der vorherrschenden Dialektischen Theologie vertretene Ansicht wurde somit allmählich überwunden. Die Theologie erlebte zugleich eine interne Pluralisierung, wobei die maßgeblichen Theologen sich gerade durch ihr Anknüpfen an Fragestellungen der Naturphilosophie (Wolfhart Pannenberg) oder der Hermeneutik (Gerhard Ebeling) profilierten. Insgesamt wurde nun wieder stärker an liberale, kulturprotestantische Traditionen angeknüpft. Durch den Wechsel der primären theologischen Gewährsmänner fanden auch bisher an den Rand gedrängte theologische Stimmen wieder Gehör. Neben Dietrich Bonhoeffer ist hier besonders Paul Tillich zu erwähnen. Tillich hatte bereits in den 1930er Jahren auf eine Überwindung des Gegensatzes von Religion und Gesellschaft gedrängt. Ein solcher Ansatz konnte unter veränderten historischen Bedingungen für ein Verständnis der Unterscheidung von Kirchlichkeit und Religiosität fruchtbar gemacht werden. Die Auswirkungen fanden sich nicht nur in der Systematischen, sondern vor allem auch in der Praktische Theologie. Eine solche, empirisch untersuchbare Unterscheidung zum Gegenstand der Theologie zu machen, wurde bereits in den 1960er Jahren von Theologen wie Klaus von Bismarck oder Eberhard Stammler gefordert.37 Nun jedoch fiel sie auf fruchtbaren Boden.
1.2.2 Die empirische Wende der Praktischen Theologie Die zunehmende Entfremdung vieler Menschen vom großkirchlich institutionalisierten Christentum und die Wiederentdeckung des Religionsbegriffs als theologisch bedeutsamer Kategorie verliefen parallel. Die lange übliche Gleichsetzung von Religion und christlichem Glauben wurde zugunsten einer Auffassung von Religion »als ein anthropologisches Grundphänomen mit sozialisierend-sozialintegrativen Sinnstiftungsfunktionen«38 überwunden. Für die Theologie bedeutet dies zum einen, bisher als selbstverständlich christlich gedeutete – bzw. vereinnahmte – religiöse Phänomene in einen breiteren, vortheologischen Horizont wahrzunehmen. Sodann wurden auch die nicht explizit religiösen Bereiche des Lebens auf ihre theologischen Implikationen hin befragt. Erst dadurch wurde es möglich, die von einem theologischen Interesse bewusst emanzipierten Untersuchungen religiöser Phänomene durch andere Wissenschaften innerhalb der Theologie konstruktiv zu rezipieren. Weniger also die Tatsache, dass Religion unter hu37 Vgl. etwa Eberhard Stammler: Protestanten ohne Kirche, Stuttgart 21960. 38 Martin Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006, 79.
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manwissenschaftlicher Perspektive zum psychologischen, soziologischen oder ökonomischen Forschungsgegenstand wurde, sondern die positive theologische Bewertung dieser Entwicklung ist das entscheidende Kennzeichen dessen, was mit dem Stichwort »empirische Wende« gemeint ist.39 Die Notwendigkeit zu einem solchen Wandel bestand nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Anfragen an die Theologie, sich als moderne universitäre Wissenschaft zu legitimieren. Solche durch die Säkularisierung motivierten Aushandlungsprozesse gesellschaftlicher Akteure, wie sie oben bereits erwähnt wurden, waren für die Theologie durchaus ambivalent. Immer stärker neigte sie dazu, ihre Wissenschaftlichkeit nicht zuerst von der Durchdringung ihres eigenen Gegenstands abhängig zu machen, sei dies Theologie, Kirche oder Religion, sondern sich dabei an der Anerkennung von außen messen zu lassen. Nicht mehr die kirchliche Rezeption, sondern die gesamtgesellschaftliche Relevanz ihrer Forschungsergebnisse sollte zum Leitkriterium werden. Die Praktische Theologie nahm eine Vorreiterrolle darin ein, die Anschlussfähigkeit der Theologie an gesamtgesellschaftliche Diskurse und außertheologische Methoden voranzutreiben. Insofern sie insgesamt als »Krisenwissenschaft« (Christian Grethlein) zu bezeichnen ist, mag die selbst empfundene Zuständigkeit dafür vor dem zeithistorischen Kontext kaum verwundern.40 Ihre einzelnen Teildisziplinen entwickelten Beziehungen etwa zur Psychologie (Poimenik), Pädagogik, Didaktik und Entwicklungspsychologie (Religionspädagogik), in besonderer Weise aber zur Soziologie. Zahlreiche praktische Theologen konnten die Ernsthaftigkeit der Bemühungen mit ihrer Bildungsbiografie verbürgen.41 Einer der ersten, der die Entwicklung solcher Beziehungen seit den sechziger Jahren – wieder – explizit zur Aufgabe praktisch-theologischer Forschung machte, war Ernst Lange. Im Bereich der Liturgie hatte er die Bedeutung der »homiletischen Situation« in den Vordergrund gerückt und damit die Notwendigkeit auch der wissenschaftlichen Rezeption humanwissenschaftlicher Erkenntnisse betont. Lange war zudem an den Vorbereitungen und Auswertungen der ersten KMU beteiligt. Zunächst musste er seine 39 Genauer muss von einer erneuten oder zweiten empirischen Wende gesprochen werden, nachdem bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dafür plädiert worden war, gründliche humanwissenschaftliche, empirische Untersuchungen zumindest parallel zu einer theologischen Anthropologie durchzuführen. Dass dafür auch das Suspendieren verfestigter theologischer Vorurteile von Nöten war, kommt etwa in Friedrich Niebergalls berühmtem Zitat zum Ausdruck: »Die Menschen erlauben sich immer wieder anders zu sein als wir uns in unseren Theorien über sie träumen lassen. Darum heißt es, sie immer wieder studieren« (Die Kasualrede, Leipzig 1905, 37). 40 Vgl. Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin 2012, 20–98. 41 Dietrich Rössler war Mediziner, Gerd Otto auch Pädagoge und Karl-Fritz Daiber konnte eine soziologische Promotion vorweisen.
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Theologie noch gegen Anfragen verteidigen, ob angesichts dieser Öffnung nicht das theologische Proprium und die Einheitlichkeit der Disziplin verloren zu gehen drohe. Eine 1972 von Fulbert Steffensky getroffene Äußerung belegt zwar diese noch immer aktuellen Anfragen, lässt aber bereits auf einen weithin geteilten Forschungskonsens schließen: »Sofern Soziologie, Psychologie und die Kommunikationswissenschaften, von Theologen geübt, keine Fluchttechniken vor dem Anspruch der Theologie sind, […] können wir ihre Ergebnisse nicht mehr umgehen. Denn die feiernde Gemeinde ist nicht weltlos, sie hat einen festen soziologischen Ort.«42 Die neue Beziehung zwischen Theologie und Humanwissenschaften stand einerseits im Rahmen der genannten Bereitschaft zur Selbstkritik, andererseits ging es um eine Steigerung der Qualität kirchlicher und pastoraler Angebote. Die außertheologische Absicherung der Wissensbestände erfüllte den Wunsch nach erhöhter Professionalisierung, die in Zeiten der Unsicherheit dem eigenen Handeln gegenüber das Versprechen erhöhter Objektivität barg. Auf Seiten der Gemeinde sollte dem beschriebenen Bedürfnis nach eigener Gestaltung und Partizipation durch einen handlungstheoretischen Fokus der Disziplin entsprochen werden, der es erlaubt Glauben anhand individueller und kollektiver Handlungsweisen zu untersuchen und zu gestalten.43 Die dominierende Rolle der Soziologie als Bezugswissenschaft von Praktischer Theologie und kirchenleitendem Handeln hatte sich bereits Ende 50er Jahre angedeutet. Sie ging einher mit der Wiederentdeckung der Theologie Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. In seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums von 1811/1830 führt er die Disziplin der »kirchlichen Statistik« ein, der es um die »geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums«44 geht. Sie ist darum bemüht, »die am meisten verschiedene Masse« miteinander zu vergleichen. Zwar hatten die Gemeinden bereits im 19. Jahrhundert begonnen, etwa Kasual- oder Gottesdienststatistiken zu erheben, aber etwa über die soziale Zusammensetzung der Gemeinde gaben sie keine Auskunft.45 Bereits Schleiermacher hatte die Beschränkung 42 Fulbert Steffensky: Glossolalie – Zeichen – Symbol. Bemerkungen zum Symbolgebrauch in christlichen Gottesdiensten, in: JLH 17 (1972), 80–91, 80. Vgl. auch Henning Schrçer: Inventur der Praktischen Theologie. Zur heutigen Forschungs- und Studienlage, in: Gerhard Krause (Hg.): Praktische Theologie. Texte zum Werden und Selbstverständnis der praktischen Disziplin der evangelischen Theologie, Darmstadt 1972, 445–459. 43 Programmatisch vertritt den Vorschlag, die Praktische Theologie in Analogie zu den modernen Handlungswissenschaften mit sozialwissenschaftlichem Methodenspektrum zu konstruieren Rolf Zerfass: Praktische Theologie als Handlungswissenschaft, in: Ferdinand Klostermann/Rolf Zerfass (Hg.): Praktische Theologie heute, München 1974, 164–177. 44 So die Überschrift der »Dritten Abtheilung« der Historischen Theologie: Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hg. von Dirk Schmid, Berlin 2002 (H. RG). 45 Vgl. Paul Zieger: Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: Goldschmidt/ Greiner/Schelsky (Hg.): Soziologie der Kirchengemeinde, 208–238, 208f. Der Band, dem dieser Beitrag entstammt, zeigt noch die 1960 übliche unhinterfragte Ausrichtung der Religi-
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der Praktischen Theologie auf die kirchlich Hochverbundenen als nachteilig kritisiert und den Blick vermehrt auf das Wechselverhältnis von Kirche und Gesellschaft richten wollen.46 Dieses Anliegen wurde in den 1960er Jahren zahlreich aufgegriffen. Zuspruch für den Ausbau der Religionssoziologie kam dafür auch von Seiten der Soziologie.47 Die theologische Begründung dieser soziologischen Öffnung war in besonderer Weise das Anliegen von Trutz Rendtorff. Programmatisch hierfür war seine Schrift Christentum außerhalb der Kirche von 1969, in der er die statistisch erfassbare Entkirchlichung nicht vorschnell mit einer Entchristlichung der Gesellschaft gleichgesetzt wissen wollte.48 Rendtorff bemühte sich um eine neue Wahrnehmung und um die theologische Legitimation der »verborgenen Christlichkeit unserer Gesellschaft«. Dabei nimmt er die im Protestantismus stets betonte Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, zwischen kirchlicher Institution und Christentum erneut auf, die bereits liberale Theologen des 19. Jahrhunderts hervorgehoben hatten. Hierin lag für ihn die theologische Begründung, die Religionssoziologie von einer Soziologie der Kirche auf eine Soziologie des Christentums zu erweitern. Schritt für Schritt sind ihm die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen darin gefolgt, insofern neben Kirchenmitgliedern später auch Nichtmitglieder hinsichtlich ihrer religiösen – und auch kirchlichen – Erwartungen befragt wurden. ›Religion‹ wurde damit als theologische Kategorie rehabilitiert. Freilich war diese Sichtweise nur eine Möglichkeit, den empirischen Befund, allen voran die hohen Kirchenaustrittszahlen, zu deuten. Sie war verbunden mit der Annahme und Hoffnung, dass jene Ausgetreten dennoch weiterhin als religiös und gar als Christen gelten könnten.49
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onssoziologie auf die Kirche: »Die Erforschung der sozialen Struktur und des sozialen Lebens der Kirchengemeinden oder Pfarreien ist heute zum Kristallisationspunkt einer modernen, mit empirischen Mitteln arbeitenden Religionssoziologie geworden« (V). Einen guten Überblick über die Entwicklung der kirchlich orientierten Religionssoziologie samt Hinweisen auf wichtige Arbeiten zu Beginn des 20. Jahrhundert von Paul Drews, Paul Göhre u. a. bietet Friedrich F rstenberg (Hg.): Religionssoziologie, Neuwied am Rhein/Berlin 21970, 20–24. »Daß man sich bei uns nur zu häufig auf die Kenntnis des Zustandes der evangelischen Kirche, ja nur des Teiles beschränkt, in welchem die eigene Wirksamkeit liegt, wirkt höchst nachteilig auf die kirchliche Praxis. Nichts begünstigt so sehr das Verharren bei dem Gewohnten und Hergebrachten, als die Unkenntnis fremder, aber doch verwandter Zustände« (Schleiermacher: Kurze Darstellung, § 243; vgl. auch § 239). Besonders einflussreich war dafür der spätere Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Joachim Matthes, u. a. durch seine beiden Bände Einführung in die Religionssoziologie: Religion und Gesellschaft (1967) und Kirche und Gesellschaft (1969). Der Soziologe Matthes war über die Arbeit an den evangelischen Akademien Loccum und Hofgeismar schon früh mit der Institution Kirche in Kontakt gekommen und maßgeblich beteiligt an den ersten drei Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen. Trutz Rendtorff: Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklärung, Hamburg 1969, 26. Neuere Untersuchungen weisen eher auf eine deutliche Verbindung von kirchlicher Bindung
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Für die Praktische Theologie waren die Erwägungen des Theologen und promovierten Soziologen Karl-Fritz Daiber zur Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche richtungsweisend. Nach Daiber gebietet es grundsätzlich der christliche Auftrag am Menschen, sich ihm nicht nur als Individuum, sondern auch in seinen sozialen Strukturen zuzuwenden, d. h. seine sozialen Rollen zu analysieren. Umgekehrt lehrt die Wahrnehmung der Gesellschaft die Kirche, in welcher Weise sie in gesellschaftliche Strukturen vernetzt ist und diese mitbestimmt. Daher ist für Daiber neben der Frage nach den Gründen für die Kirchenaustritte nicht weniger interessant, wie die nach wie vor hohe Kirchenmitgliedschaft zu erklären ist. Welche Rolle und Stellung hat die Kirche – noch immer – in der Gesellschaft? Welche Bedürfnisse befriedigt sie und mit welchen konkreten Angeboten tut sie dies? Weil theologisches Denken vom sozialen Standort des Theologen bestimmt ist, muss sich die Theologie zur Beantwortung dieser Fragen – will sie nicht zur Ideologie verkommen – dem Dialog mit der Soziologie stellen. Denn: »Auch das theologisch Richtige ergibt sich nur im Dialog«50. Daiber stellt zwar die Frage nach einem möglichen reziproken Verhältnis, doch deutet sich bereits hier ein Ungleichgewicht an, wie »Soziologie und Theologie […] als Partner aufeinander«51 treffen. Eine Konkretion dieses Dialogs liefert Daiber in seiner Behandlung der Trauung als Ritual (s. u. 2.3.3). 1.2.3 Fazit Als fragende Wissenschaft wandte sich die Theologie infolge der Umbrüche der sechziger Jahre verstärkt nach außen. Die Öffnung für andere Wissenschaften und der damit verbundene verstärkte Rückgriff auf Methoden der empirischen Forschung dienten der Selbstlegitimation, der Vergewisserung der eigenen Wissenschaftlichkeit sowie der Suche nach stärkeren Objektivitätskriterien. All dies zielte aber auch auf eine Steigerung der Qualität kirchlicher und pastoraler Arbeit hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gesellschaft und den Einzelnen. Dieses Vorgehen wurde theologisch begründet im Rückgriff auf eine liberale protestantische Tradition, die zwischen Kirche, Christentum und Religion zu unterscheiden wusste. Die bereits in jener Zeit als ›Säkularisierung‹ bezeichnete Entwicklung bekam vor diesem Hintergrund eine geradezu positive Deutung.52 und Religiosität hin. Grundlegend hierfür Pollack/Rosta: Religion in der Moderne, bes. 458–485. 50 Karl-Fritz Daiber: Die Bedeutung der Soziologie für Theologie und Kirche, in: ThPr 4 (1969), 346–362, 355 f. 51 AaO., 361. 52 Um eine positive, oder besser eine differenzierte Deutung der Säkularisierung war auch die Weltkirchenkonferenz von Uppsala 1968 bemüht, wenn sie feststellt: »Die Säkularisierung, recht verstanden, als ein geschichtlicher Prozeß, kann eine Bejahung der wahren Möglichkeiten des Menschen und der Welt sein« (Bericht aus Uppsala 1968. Offizieller Bericht über die vierte
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Für die Frage nach der rituellen Gestalt des Gottesdienstes lassen sich zumindest zwei Folgerungen aus dem Bisherigen ziehen: Zum einen wird deutlich, inwiefern sich die vielfältigen Formen des Anknüpfens an Bezugswissenschaft innerhalb der Theologie auch in der Liturgik auf den Fragehorizont auswirkten.53 So mündete der Bezug auf die Soziologie etwa bei Rendtorff und Daiber in einer funktionalen Perspektive, die auch im Gottesdienst zuerst nach den Rollen fragte, die der Einzelne innerhalb der Gruppe einnimmt. Nicht das Handeln selbst und das individuelle Erleben stehen im Zentrum, sondern die jeweiligen Handlungserwartungen. Zum anderen wird vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Umwälzungen und der für die Theologie damit verbundene Unübersichtlichkeit verständlich, warum eben gerade die Soziologie als vorrangige Bezugswissenschaft fungierte. Der Pluralisierung der Lebensstile, religiösen Überzeugungen und kirchlichen Partizipationsformen versuchte man durch Komplexitätsreduktion zu begegnen, die zumindest Gruppen von Handlungssubjekten zu erfassen vermochte. Was in Bezug auf das kirchliche Handeln gegenüber den Tendenzen der Säkularisierung dargestellt wurde – dass die Kirche nicht nur passiv den gesellschaftlichen Veränderungen ausgeliefert war, sondern ebenfalls als Akteur dieses Wandels verstanden werden muss –, wird auch auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Theologie anschaulich. Hier wie dort zeigen sich die »Transformations- und Selbstmodernisierungskapazitäten der Religion«54.
1.3 Gottesdienst zwischen Experiment und Struktur Immer wieder wird der Begriff der ›Krise‹ bemüht, um die sozialen, kirchlichen und theologischen Um- und Aufbrüche der sechziger und siebziger Jahre zu kennzeichnen. Im nächsten Schritt soll deutlich werden, wie sich die oben beschriebene Dynamik im Feld liturgischer Praxis niederschlug. Dabei wird ebenfalls deutlich werden, inwiefern sich (praktisch-) theologische Theoriebildung nicht nur gesamtgesellschaftlicher und interdisziplinärer Fragen verdankt, sondern in erheblichem Maße der Bedürfnisse und Herausforderungen kirchlicher Praxis. Auslöser sind der Rückgang der Besucherzahlen wie auch der deutlich erhöhte Anspruch der kirchlich Engagierten, sich in ihrer religiösen Praxis mit der modernen Welt auseinanderzusetzen. Den agendarischen Gottesdienst stellte dies nicht unwesentlich in Frage. Im Folgenden soll daher von der ›Gottesdienstkrise‹ (1.3.1) ebenso die Rede sein wie von der weitreichenden Pluralisierung der Gottesdienstformen, die letztlich zu einer Aufspaltung in zwei unterschiedliche Grundformen führte, den Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen Uppsala 4.–20. Juli 1968, hg. von Norman Goodall, dt. Ausgabe besorgt von Walter Müller-Römheld, Genf 1968, 27). 53 Zu einer spezifisch liturgischen Konkretion am Beispiel der Lerntheorie s. u. 1.3.2.4. 54 Pollack/Rosta: Religion in der Moderne, 12.
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agendarischen Gottesdienst und die »freien« Formen (1.3.2). Daraus resultierte ein verschobener Fokus liturgischer und liturgiewissenschaftlicher Bemühungen. Abschließend (1.3.3) wird das Strukturpapier von 1974 untersucht und gefragt, welche Möglichkeiten und Grenzen mit den darin zentralen Begriffen ›Struktur‹ und ›Gestaltung‹ gegeben sind, den unterschiedlichen liturgischen wie spirituellen Anforderungen gerecht zu werden. 1.3.1 Gottesdienst in der Krise »Ist vielleicht der liturgische Akt, und mit ihm überhaupt das, was ›Liturgie‹ heißt, so sehr historisch gebunden – antik, oder mittelalterlich, oder barock – daß man sie der Ehrlichkeit wegen ganz aufgeben müßte? Sollte man sich nicht zu der Einsicht durchringen, der Mensch des industriellen Zeitalters, der Technik und der durch sie bedingten soziologischen Strukturen sei zum liturgischen Akt einfach nicht mehr fähig?«55
Das berühmte Zitat aus einem Brief Romano Guardinis, abgefasst nur wenige Monate nach Verabschiedung der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, lässt inmitten der Aufbruchsstimmung die grundsätzliche Fraglichkeit des liturgischen Handelns laut werden, die konfessionsübergreifend die zweite Hälfte der sechziger Jahre bestimmte. Gerade am Gottesdienst als zentralem Repräsentationsort von Kirche und Kirchlichkeit wurde die beschriebene gesamtkirchliche Situationsdiagnose (1.2.1) konkret und anschaulich. Institutionell war ein Abrücken vom klassischen Sonntagsgottesdienst auch innerhalb der evangelischen Kirche zwar nicht festzustellen, dennoch stand für viele Autoren der Gottesdienst vor einer ungewissen Zukunft. Die Anfragen ergaben sich grundsätzlich aus der Konfrontation mit der modernen Welt und ihrer Werteverschiebung, wie in Guardinis Brief deutlich wird. Besonders ließ das verstärkte Empfinden für die soziale Verantwortung und den diakonischen Auftrag der Kirche den Gottesdienst als binnenkirchliche und selbstreferenzielle Veranstaltung fraglich erscheinen. Werden hier nicht Ressourcen verbraucht, die an anderer Stelle dringend benötigt würden, so fragte man, und »[w]ird die Christenheit morgen sich [also überhaupt] noch den ›Luxus der Liturgie‹ leisten können?«56 Angesichts von Vietnamkrieg, nuklearer Hochrüstung und weltweiter humanitärer Katastrophen verschärften sich die Spannungen im Verhältnis von Sonntagsgottesdienst und »Gottesdienst im Alltag der Welt« (Ernst Käsemann). Umgekehrt sollte aber die verstärkte Betonung des gesellschaftlichen Engagements der Kirche auch liturgische Konsequenzen haben. Die dabei vorgeschlagenen Lösungen 55 Romano Guardini: Der Kultakt und die gegenwärtige Aufgabe der liturgischen Bildung, in: LJ 14 (1964), 101–106, 106. 56 Heinrich Rennings: Zum Gottesdienst morgen, in: Heinz G. Schmidt (Hg.): Zum Gottesdienst morgen, Wuppertal 1969, 6–14, 6; Ergänzung RG.
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berührten mitunter die Grenze zur Selbstsäkularisierung, wenn der gänzliche Verzicht auf liturgische Gottesdienste nahegelegt wurde. Mitunter wurde eine solche Entwicklung auch bewusst forciert und die Säkularisierung von der Inkarnationslehre her als notwendige und längst überfällige Entwicklung gedeutet. Vom Ende der 1960er bis Mitte der siebziger Jahre war die Rede von der »Gottesdienstkrise« allgegenwärtig.57 Diese Wahrnehmung war keineswegs auf Deutschland beschränkt. 1968 tagte die liturgische Sektion der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (»Weltkirchenkonferenz«) in Uppsala unter der Überschrift »Gottesdienst in einem säkularen Zeitalter« und konstatierte: »Wir Christen befinden uns in einer Krise des Gottesdienstes, hinter der eine weitverbreitete Glaubenskrise steht.«58 Die mit dieser Krise verbundene Unsicherheit dem eigenen Handeln gegenüber äußerte sich in der grundsätzlichen Fragen: »Warum denn überhaupt Gottesdienst?«59 Mit dem Hinweis auf Geschichte und Bedeutung des traditionellen Gottesdienstes ließ sich diese Frage nicht mehr hinreichend beantworten. Wie es um dessen Ruf bestellt war, zeigt die populäre Zuspitzung der Kritik von Manfred Seitz 1969: »Der Gottesdienst. Seine autoritär-klerikalistische Struktur verleiht dem Pfarrer eine herrschende Stellung. Sie steht dem Gemeindeaufbau im Wege, erzeugt unkritische und untätige Konsumenten. […] Taufe und Abendmahl sind für rational denkende Menschen unzumutbar … das Abendmahl [ver-
57 1974 überschrieben William Nagel und Eberhard Schmidt ihren Beitrag zum Gottesdienst der Gegenwart im Handbuch der Praktischen Theologie. Bd. 2: Der Gottesdienst. Die kirchlichen Handlungen. Die Predigt, Berlin 1974, 7–138 »Die Krise des Gottesdienstes heute«. Auch G nther Schiwy u. a.: Zeichen im Gottesdienst. Ein Arbeitsbuch, München 1976, 9 sprachen noch immer davon, dass sich »[d]ie Gestaltung von Gottesdiensten gegenwärtig in einer praktischen und theoretischen Krise« befinde. 58 Bericht aus Uppsala, 82. Weiter heißt es: »Die Krise des Gottesdienstes und des Gebets der Christen in vielen Teilen der Welt hängt mit dem Säkularisierungsprozeß zusammen. […] Die Säkularisierung kann uns zum wahren Gottesdienst zurückrufen, der die Wirklichkeit Gottes, des Menschen und der Welt bejaht« (aaO., 84 f.). Der ursprüngliche Sektionstitel wurde abschließend zum schlichten »Gottesdienst« hin abgeändert, nicht zuletzt, weil besonders die Orthodoxen sich gegen die Überbewertung der spirituellen Tradition der Säkularisierung wehrten und betonten: »Die Liturgie ist immer vorwiegend als ein Rückzug aus der Welt verstanden worden, und die Erfüllung der Kirche als in, aber nicht von der Welt« (zitiert aaO., 89). Dass Gottesdienst und Welt neu aufeinander bezogen werden mussten, damit aber das Wie keineswegs geklärt war, kam auch in der Stellungnahme von David L. Edwards klar zum Ausdruck: »Wir müssen vor und nach dem Protestmarsch beten. Aber wie? Gottesdienst ist der Kern des christlichen Handelns. Seine Reform ist dringlich, sie ist aber unmöglich, wenn die Christen nicht mit neuem Mut grundsätzliche Fragen angehen« (aaO., 91). Unter den zahlreichen Publikationen, die sich mit diesem Befund und möglichen Lösungsmöglichkeiten auseinandersetzten sei auf den Konsultationsbericht der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ökumenischen Rates der Kirchen verwiesen (Karl F. M ller [Hg.]: Gottesdienst in einem säkularisierten Zeitalter, Kassel 1969). 59 Bericht aus Uppsala, 82.
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sammelt] um etwas magisch Mißverständliches, das nicht mehr kontrollierbar ist.«60 Nichts schien also gut zu sein an jener Feier, die in Deutschland nach den 1955/1959 eingeführten Agenden geordnet war. Ihre Form wurde als festgezurrt empfunden, von falscher Sakralität und Starre beherrscht. So bestand kaum Hoffnung, eine Veränderung dieses Gottesdienstes leisten zu können.61 Allenfalls als »Steinbruch« könne er noch Verwendung finden, urteilte 1973 Ernst Lange.62 Nicht zuletzt die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit stellten grundlegende Anfragen: Angesichts von »Auschwitz, Stalingrad und Hiroshima« wollte man nicht mehr ungebrochen von der »Sonne der Gerechtigkeit« singen.63 Beim Nachdenken über die liturgische Zukunft schienen Alternativen zum Monopol des einheitlichen Sonntagsgottesdienstes notwendig und unausweichlich, um den religiösen Bedürfnissen gerecht zu werden und Antworten auf aktuelle Fragen zu finden. Je stärker das Krisenbewusstsein, desto größer das Empfinden von liturgischem Reformstau und Reformdruck. Die »neuen Formen« verdankten sich aber auch einer bewussten programmatischen und nicht selten einseitigen Abgrenzung. Mit der dominierenden Agende I verband man eine Form von autoritärer, bevormundender und rückwärtsgewandter Kirche, die auch auf Seiten der Pfarrer keine geschlossene Anhängerschaft mehr fand. 1.3.2 Pluralisierung der Gottesdienstkultur 1.3.2.1 Liturgische Produktivität seit den 1960er Jahren Das grundsätzliche Nachdenken über Sinn und Zweck des Gottesdienstes angesichts der Fraglichkeit seiner traditionellen Form erwies sich als überaus produktiv für die liturgische Praxis. Ohne Konflikte verlief diese Entwicklung freilich nicht. In seiner rückblickenden Einschätzung schreibt Frieder Schulz: »Die vermeintlich heile Welt des durch die amtlich rezipierte Agendenreform geordneten evangelischen Gottesdienstes wurde seit etwa 1965 durch eine neue liturgische oder, wenn man will, antiliturgische Bewegung aufgestört und 60 Zitiert bei Stegmann: Einführung, 219. 61 Eine interessante Formulierung der ›Strategie‹ findet sich bei Georg Kugler: »Als wir vor knapp zwanzig Jahren mit den neuen Gottesdiensten anfingen, da sagten wir uns etwas salopp eine Faustregel von Mao Tse Tung: Nie die Städte angreifen, zuerst das Land besetzen! Übersetzt heißt das: Nie zuerst die klassischen Traditionen antasten und sie zu verändern suchen, sondern sie vielmehr liebevoll und mit Geduld mit soviel neuen Erfahrungen umgeben, bis das neue Leben in das alte sickert« (Feierabendmahl. Zwischenbilanz – Gestaltungsvorschläge – Modelle, Gütersloh 1981, 17). 62 Ernst Lange: Was nützt uns der Gottesdienst?, in: Ders.: Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, hg. von R diger Schloz, München 1982, 83–95, 92. 63 Vgl. Gerhard Schnath (Hg.): Fantasie für Gott. Gottesdienste in neuer Gestalt, Stuttgart 21965, 6f.
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beunruhigt.«64 Das liturgische Tableau, das im Folgenden geboten wird, verdankt sich nicht nur einer neuen Freiheit zu Kreativität und Partizipation, sondern kann auch als Auseinandersetzung mit dem als Norm geltenden, ritualisierten, agendarischen Gottesdienst verstanden werden. Der dabei erkennbar werdende Anspruch an moderne liturgische Formen bildet den Hintergrund der expliziten Thematisierung der rituellen Gestalt des Gottesdienstes im folgenden Kapitel. Mit Schulz von einer »antiliturgischen Bewegung« zu sprechen trifft zumindest dann zu, wenn »liturgisch« die klassische Gottesdienstform meint. Ein ausgeglichenes Bild ergibt der Blick auf die intensiven Bemühungen, ein »zweites« Gottesdienstprogramm zu etablieren – parallel zur medialen Angebotserweiterung: Seit 1962 wurde das »Zweite Deutsche Fernsehen« bundesweit ausgestrahlt. Die darunter gefassten Gottesdienste verstanden sich in Abgrenzung vom »Normalen« und Gewohnten als Gottesdienste »anderer Art« oder »in neuer Gestalt«. Auch vom Gottesdienst »in offenen Formen« war die Rede, um dem agendarisch festgelegten, verbindlichen und mit hohen Zugangshürden verbundenen Ritus die Flexibilität und das Integrationspotenzial der neuen Ansätze entgegenzustellen. Gemeinsam ist diesen Entwürfen, dass sie im Bewusstsein konzipiert wurden, nicht selbst wiederum verbindliche Ansprüche erheben und dauerhafte Formen vorgeben zu wollen. Man wollte – und durfte – endlich bewusst experimentieren. Die seit Anfang der sechziger Jahre zuerst in der Jugendarbeit sichtbaren Neuaufbrüche fanden rasche Verbreitung. Es entstand eine Fülle experimenteller und zielgruppenspezifischer Gottesdienste, ob Familiengottesdienste, Gottesdienste für die Jugend, Kindergottesdienste, Kommentar- und Diskussionsgottesdienste sowie neue Abendmahlsordnungen.65 Diese Gottesdienste zeichneten sich durch das Bestreben aus, in Sprache und kultureller Prägung eine Angleichung an die Kommunikationsformen der modernen Gesellschaft herzustellen und auf diese Weise die wechselseitige Bezugnahme von Gottesdienst und Alltag, vom »veranstalteten und dem gelebten Gottesdienst« (W. Jetter), von »Ekklesia und Diaspora« (E. Lange66) zum Ausdruck zu bringen. Charakteristisch war zudem eine veränderte Vorbereitungs- und Beteiligungsstruktur. Die Gottesdienste wurden innerhalb eines Teams von Pfarrern und »Laien« erarbeitet. Sämtliche Teilnehmer sollten die Möglichkeit erhalten, aktive liturgische Rolle über Gesang und Wechselgrüße hinaus zu 64 Frieder Schulz: Das liturgische Schrifttum der evangelischen Kirche. Übersicht und exemplarische Bibliographie, in: ALW 29 (1987), 50–81, 59. 65 Vgl. die Zusammenstellung bei Georg Kugler: Zwischen Resignation und Utopie. Die Chancen der Ortsgemeinde, Gütersloh 1971, 94, Anm. 61, sowie den Literaturbericht im JLH 18 (1973/ 74), S. 215–217. 66 Ernst Lange: Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, hg. von Peter Cornehl, München 1984 [1965], 141. Ähnlich klar HansHelmut Knipping: »Die Liturgie kommt von der Straße« (in: Schnath [Hg.]: Fantasie für Gott, 49).
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übernehmen. Theologisch knüpfte man dabei an Luthers Rede von der »dritten Weise« Gottesdienst zu feiern an sowie dessen Forderung nach liturgischer Formenvielfalt, die nicht nur lokale Unterschiede zuließ. Das von Heinz G. Schmidt 1969 herausgegebene Werkbuch Zum Gottesdienst morgen67 führt bereits im Inhaltsverzeichnis vor Augen, wie groß die Bandbreite möglicher in den Gottesdienst integrierter Elemente geworden war. Hier wird plädiert für Gespräche, Spiele, Provokationen und Protestaktionen, Theateraufführungen, »Anspiele« oder für interaktive Gesangsformen. Auch die traditionellen liturgischen Stücke unterzog man einer Revision: In Gebeten tauchen veränderte Gottesanreden auf, neue Glaubensbekenntnisse werden formuliert, Psalmen kommen in modernen Übertragungen zur Sprache und ein Tischgespräch kann an die Stelle der Predigt treten. Im Laufe der 1970er Jahre verschob sich der Fokus immer stärker auf die sinnliche und emotionale Dimension der Liturgie. Infolge einer Übersättigung an intellektuell anspruchsvollen, politisch und sozial motivierenden Formen (s. u. 1.3.2.2), die den Gottesdienst als Keimzelle individueller und gesellschaftlicher Transformation deuteten, wurde nun vermehrt das unmittelbare, zweckfreie und spielhafte Erleben in den Vordergrund gestellt (1.3.2.3). Statt in ethischen Kategorien sollten Gemeinschaft, Glauben und Kirche in ästhetisch ansprechenden Handlungen inszeniert werden, die den Körper als Medium einbeziehen (u. a. Tanz, Salbungen, Segnungen). Auch hierfür waren die Kirchentage wichtige Orte der Erprobung sowie Impulsgeber für liturgische und hymnologische Innovationen. An ihnen lässt sich die allgemeine liturgische Entwicklung gut nachvollziehen. Erstmals auf dem Düsseldorfer Kirchentag 1973 fand die »Liturgische Nacht« statt, die »nach den liturgischen Experimenten auf den Kirchentagen der 1960er Jahre eine Form der Lebendigen Liturgie [bot], die alle Sinne und den ganzen Körper ansprach.«68 Der handlungstheoretischen Ausrichtung der Liturgik entsprach auf Seiten der Praxis die Fokussierung auf die Handlungs- und Gestaltungsdimension der Liturgie. Dabei richtete sich der Fokus vornehmlich auf die kollektive Erfahrungsebene. Die Ausrichtung auf das gemeinsame Erleben und die Verschiebung von primär auffordernden und herausfordernden zu stärker bestätigenden, Gemeinschaft stiftenden Gottesdienstformen muss im Kontext der generellen Stabilisierung und Konsolidierung verstanden werden (s. o. 1.1.3), der sich auch die stärkere Bezugnahme das Ritual verdankte. Schon bald zeigten sich Auswirkungen auf das örtliche Gemeindeleben. Sinnbild dieser Entwicklung sind die in großer Zahl errichteten Gemeindehäuser und Gemeindezentren. Angesichts wachsender innerkirchlicher Pluralität, die nicht mehr im wöchentlichen Gottesdienstbesuch zu einer Einheit zusammenfand, stellten sie zumindest einen gemeinsamen Ort zur Verfü67 S. o. Anm. 56. 68 Schroeter-Wittke: Der Deutsche-Evangelische Kirchentag, 220.
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gung.69 Bibelgruppen, Gesprächsgruppen, Männer- und Frauengruppen, Jugendgruppen etc. wurde hier eine Heimat, in denen sich die Beteiligungs- und Partizipationskultur kirchlich etablieren konnte. 1.3.2.2 Musik und Politik: Aktualität und Engagement als liturgische Gestaltungsprinzipien Eines der Felder, auf denen der gottesdienstliche Kulturwandel besonders sichtbar wurde, war die Musik. Parallel zu Wahrnehmung der Agende I wurde auch das Evangelische Kirchengesangbuch (EKG) von 1950 zunehmend kritisiert. In diesem ersten deutschen Einheitsgesangbuch, das ebenfalls unter der Leitung von Christoph Mahrenholz erstellt worden war, vermisste man angesichts einer dogmatischen und rückwärtsgewandten Grundausrichtung einen persönlichen Zuschnitt, der auch für Fröhlichkeit und Emotionalität Raum bot. Anfang der sechziger Jahre begann sich, befördert durch Liederwettbewerbe und Singwerkstätten das Genre der »religiösen Schlager« und des »Sacropop« (u. a. Peter Janssen) zu entwickeln. Auch hier schlugen sich die Beteiligungs- und Gestaltungsformen der Popkultur musikalisch nieder.70 Gemeinde begannen sogenannte »Jazzgottesdienste« zu feiern – freilich nicht ohne Skepsis und Kritik innerhalb der Kirche wie auch von Seiten der Musiker, die hierin eine Vereinnahmung und ein Zurechtstutzen vermuteten. Einen anderen Ansatz verfolgte die »Neue geistliche Musik«, die den Anschluss an die Avantgardemusik suchte und nach einer Befreiung der Musik aus der Bindung an Kirche und Liturgie hin zu einer Öffnung für die geistlich-spirituelle Seite der Musik strebte. Das rein positiv-affirmative Konzept kirchlicher Musik wurde als einengend und trivialisierend empfunden. Was Musiker wie Dieter Schnebel dem entgegensetzten, überforderte die Gemeinden zumeist und entfaltete kaum Breitenwirkung.71 Das Bemühen, die rechte Balance in der Spannung »zwischen Kunst- und Gemeindeorientierung« (Peter Bubmann) zu finden, blieb seither eine begleitende Herausforderung. Ab 1970 gaben die Landeskirchen »Anhänge« zum EKG als Liederheft heraus, die sich meist einem gemeindlichen Entstehungskontext verdankten und auf eine große 69 Neben das Gemeindehaus trat nicht zuletzt angesichts der starken Kasualfrömmigkeit zunehmend der Pfarrer als Einheitssymbol von Kirche und Gemeinde (so schon Kugler: Feierabendmahl, 72). 70 Schroeter-Wittke: Der Deutsche-Evangelische Kirchentag, 221 spricht von der »popkulturelle[n] Form von Kirche«. 71 Programmatisch für diesen Ansatz: Klaus Rçhring: neue musik in der welt des christentums, München 1975. Röhring sieht gerade in der Avantgardemusik von Karl-Hein Stockhausen und anderen die sinnlich-ergreifenden Elemente der Musik in den Vordergrund treten. Peter Bubman formuliert den Anspruch, der mit den »›Informellen Gottesdiensten‹« verbunden war. Sie seien »als anti-autoritäre Kommunikationsräume mit ständig wechselnden Elementen als komplexes Kunstwerk zu entwickeln« (Wandlungen in der kirchlichen Musik in den 1960er und 70er Jahren, in: Hermle/Lepp/Oelke [Hg.]: Umbrüche, 303–324, 308).
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Anzahl von »Provisorien« zurückgreifen konnten, die in unterschiedlichen Gruppen und Kreisen kursierten. An dieser Stelle sei auf das Phänomen der Ritualisierung von Büchern hingewiesen, das sich bei »Silberpfeil« und anderen Liederheften nachweisen lässt. Allein, dass aus einem bestimmten, mit spezifischen Wertvorstellungen und der Identität einer Gruppe verbundenen Buch gesungen wurde, war nicht selten wichtiger, als was gesungen wurde. Auf dem Gebiet der Musik zeigen sich aber auch typische Merkmale der liturgischen Entwicklung dieser Zeit, von denen hier drei genannt seien. Zum einen entstammten die neuen Formen und Elemente zunächst einem lokalen Kontext. Sie wurden nachträglich dokumentiert, publiziert und zur Nachahmung empfohlen.72 Zum anderen wurde auch in Bezug auf die Musik deutlich, dass es keinen alle Milieus übergreifend ansprechenden kirchenmusikalischen Stil mehr geben würde. Die musikalische Öffnung des Gottesdienstes bedeutete zugleich eine kulturelle Öffnung. Diese Pluralisierung beförderte damit auch die Pluralisierung der Gottesdienstformen, in denen diese Musik zum Einsatz kam.73 Schließlich stellten die neuen Lieder weniger zentrale dogmatische Einsichten vor Augen, sondern betonten neben dem Gemeinschaftsgefühl die Aufforderung an den Einzelnen, seinem Glauben durch konkrete Handlungen der Nächstenliebe und gesellschaftlichen Engagements Ausdruck – und damit Glaubwürdigkeit – zu verleihen, denn »Liebe ist nicht nur ein Wort«, wie Eckart Bücken 1973 dichtete. Auf dieser Linie liegen auch jene Gottesdienstformen, die sich themenorientiert mit Fragen von »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«74 auseinandersetzten und in ihrer politischen, gesellschaftskritischen Ausrichtung soziales Engagement unmittelbar anregen und initiieren wollten. Dem sozialdiakonischen Gemeinde- und Gottesdienstverständnis dieser Zeit entsprechend lag die Betonung auf dem Begriff der missio. In der Aufzählung der Verantwortungsbereiche der kirchlichen Sendung – martyria, diakonia, koinonia – fehlte nicht selten die leiturgia. Manfred Seitz fügte seiner oben zitierten Kritik am traditionellen Gottesdienst zugleich einen Gegenentwurf an, der ganz auf dieser Linie lag: »Ihre [sc. der Gemeinde] Zusammenkünfte sollten aktuelle Themen statt biblischer Texte und demokratischen Charakter haben. Ihre Glaubwürdigkeit muß durch sozialen und politischen Einsatz erst noch bewiesen werden.«75 Die von den Kirchen in dieser Zeit gegründeten Entwicklungsdienste sollten den »Eine-Welt«-Gedanken durch konkrete Hilfsmaßnahmen umsetzen. Veranlasst waren derartige Überlegungen aus 72 Vgl. etwa Schnath (Hg.): Fantasie für Gott oder Zum Gottesdienst morgen, Wuppertal 1969. 73 Vgl. Bubmann: Wandlungen, 319f. 74 So die Schlagworte des Konziliaren Prozesses, die auf der VI. Weltkirchenkonferenz in Vancouver 1983 formuliert wurden. 75 Zitiert bei Stegmann: Einführung, 219.
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dem immer klarer sich abzeichnenden wirtschaftlichen Ungleichgewicht zwischen den Regionen der Welt sowie aus der politischen Hemisphärenbildung. In ihrer Arbeit unterstützt wurden diese von lokalen Gruppen, die unter anderem für die Verbreitung der »Welt-Läden« verantwortlich waren.76 Einen prägenden liturgischen Ausdruck fand dieser Ansatz im sogenannten »Politischen Nachtgebet«. Das später vor allem mit der Kölner Antoniterkirche verbundene Format wurde von Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky und anderen erstmals auf dem Essener Katholikentag von 1968 gefeiert, der ganz unter dem Vorzeichen massiver Kritik an der Enzyklika Humanae Vitum stand. Der darin geforderte Verzicht auf künstliche Verhütungsmittel wurde angesichts der Hungerkatastrophen der Entwicklungsländer heftig kritisiert. Einer der Orte innerhalb der Liturgie, an dem sich dieser politische Impuls langfristig auswirkte, waren die Fürbittengebete. Hier ging es nun vor allem darum, an die Verantwortung für die Welt zu erinnern und der Gemeinde auch ihr Versagen vor Augen zu halten. Für die Beteiligten wie auch in der liturgischen Diskussion waren diese Gottesdienstformen von großer Relevanz, in der öffentlichen Wahrnehmung von Kirche spielten sie aber lediglich eine untergeordnete Rolle.77 Dass dem innerhalb der Liturgik weithin präsenten »Politischen Nachtgebet« keine lange Dauer beschieden war (Oktober 1968 – Juli 1972), lag nicht zuletzt an einem Problem, unter dem sämtliche politischen und themenorientierten, Diskussions- wie Kommentargottesdienste litten: Sie waren ausschließlich von ihrem Inhalt her konzipiert und verdankten sich einer überwiegend kognitiven Motivation. Umso stärker hing die Partizipation an den intellektuellen Voraussetzungen der Teilnehmer wie auch an einer weitgehenden Übereinstimmung hinsichtlich der behandelten Themen. Die bewusste Abwendung von rituellen Formen schloss vielfach auch sinnliche und körperliche Elemente aus. Dies wurde umso deutlicher, als das Neuartige der Formate zunehmend der Gewöhnung wich.78 76 In Bayern etwa wurde der Kirchliche Entwicklungsdienst 1970 gegründet (heute: Mission EineWelt). Die Impulse fanden ihren Niederschlag in der EKD-Denkschrift von 1973: Der Entwicklungsdienst der Kirche. Ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. 77 In der zweiten KMU 1982 gaben 62 % der Befragten an, noch nie davon gehört zu haben, dass es »Politische Gottesdienste« gäbe (vgl. Johannes Hanselmann/Helmut Hild/Eduard Lohse [Hg.]: Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1984, 115). Allein die Familiengottesdienste haben es als neuere Gottesdienstform langfristig geschafft, über den Kreis der »gewohnheitsmäßigen« Kirchgänger hinaus angenommen zu werden (vgl. aaO., 217). 78 Peter Cornehl (Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen, in: Hermle/ Lepp/Oelke [Hg.]: Umbrüche, 265–284, 275) attestiert dem »Politischen Nachtgebet« – aufgrund bisher mangelnder wissenschaftlicher Aufarbeitung vorläufig – »insgesamt zu intellektualistisch, zu textlastig, zu verschult« gewesen zu sein. Problematisch seien zudem die »Beschränkung der Aktionen auf Diskussionen und Appelle« gewesen wie auch »Defizite im Bereich Meditation und Gebet, die Sparsamkeit der liturgischen Expression«. Eine liturgiewissenschaftliche Aufarbeitung wäre auch deshalb von Interesse, weil in Sölles späteren Texten, in denen sie sich mit der Mystik auseinandersetzt, das Körperliche eine zentrale Rolle in der Spannung zwischen »Mystik und Widerstand« spielte.
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Von Beginn an stellte sich die Frage, in welchem Verhältnis das »zweite Programm« zum traditionellen Gottesdienst stehen sollte. Während die einen hierin eine Ergänzung des kirchlichen Angebots sahen, empfanden viele diese Gottesdienste allein schon aufgrund ihres Anspruchs, aktuell, modern, dynamisch, inklusiv und kreativ zu sein, als Konkurrenz. Zumal ihre Vertreter sich nicht mit Randplätzen zufriedengeben wollten – nicht zuletzt aufgrund der Hoffnung, den Abbruch der Kirchenverbundenheit damit aufhalten oder zumindest abschwächen zu können. Sie forderten die »Freigabe des vierten Sonntags«, also eines Sonntags im Monat, an dem die Feier in freier Form den klassischen Gemeindegottesdienst ersetzen sollte. Die Pflege jener Form erschien mehr und mehr als Angelegenheit einer ohnehin überalterten Stammgemeinde. Die nachkommende Generation hingegen verstand Gottesdienstgestaltung weniger aus der Verbindung mit der liturgischen Tradition der Kirche, sondern unter pragmatischen Gesichtspunkten. In Bezug auf die liturgischen Elemente war damit häufig nicht nur eine Modifikation, sondern vor allem eine Reduktion zugunsten der Verständlichkeit verbunden.79 Wurde mit der Betonung der missio die Weltoffenheit und -zugewandtheit im Allgemeinen begründet, so lässt sich das Bedürfnis nach neuen, aktuellen, explizit modernen Gottesdienstformen als liturgische Umsetzung verstehen. Die bereits erwähnte positive Deutung der Säkularisierung (1.2.1) wirkte im Hintergrund, zumal die neuen Gottesdienstformen um eine bewusst »entsakralisierte« Erscheinung bemüht waren, welche die Alltagswelt in Medien und Kommunikation zu integrieren versuchte. Entsakralisierung und Säkularisierung erwiesen sich als komplementäre Prozesse. Interessant im Zusammenhang der Reform der Gottesdienste ist der häufig anzutreffende Anspruch, nicht etwas Neues schaffen zu wollen, sondern die ursprüngliche Bedeutung und den Zweck des Gottesdienstes wiederherzustellen. In einer Publikation heißt es: »Der Gottesdienst in neuer Gestalt unterscheidet sich seinem Wesen und Inhalt nach nicht von früheren christlichen Gottesdiensten. Die Urgemeinde kam zu einem sehr lebendigen Gottesdienst zusammen. Im Laufe der Jahrhunderte festigte sich dann der Kult. Die Phantasie wurde weitgehend zu Grabe getragen oder in liturgische Formen gepreßt, der Eigeninitiative begegnete man mit dem Obrigkeitsdenken, und die Mündigkeit erstickten vor allen Dingen die Fachleute in den Anfängen. Wir besinnen uns heute zurück auf die Elemente, die die Urgemeinde in ihren 79 Georg Kugler beschreibt den pragmatischen Ansatz für die Suche nach einer Agende für Familiengottesdienste folgendermaßen: »Ausgangspunkt war zunächst die methodische Ausgestaltung des Verkündigungszieles. Verschiedene Medien wurden dabei verwendet. Zugleich aber ergab sich durch die Anwesenheit der Kinder von Beginn an eine zeitliche Grenze; dies führte konsequent zu einer Reduzierung des klassischen liturgischen Bestandes. Konsequenter waren später die Gemeinden, die eine eigene ›Liturgie‹ von der Sache her entwickelten« (Fantasie für den Gottesdienst. Aus der Arbeit der Ev.-Luth. Gemeindeakademie in Rummelsberg an gottesdienstlichen Fragen, in: JLH 24 [1980], 91–96, 93).
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Gottesdiensten verarbeiteten.«80 Damit begegnet man einem Argumentationsmuster, das sämtliche Liturgiereformen seit dem Mittelalter durchzieht und das eine wesentliche Komponente darstellt für die Akzeptanz liturgischer Veränderungen.81 Reformen auf dem Gebiet der Liturgie gewinnen ihre Legitimation oft gerade dadurch, dass sie weniger deren innovatives Moment, sondern stattdessen die Kontinuität betonen und ihre Motivation darin bestimmen, den wesentlichen Kern einer Sache lediglich von Ablagerungen befreit und damit klarer zur Darstellung gebracht zu haben.
1.3.2.3 Das Abendmahl als Fest: Berührungen zwischen Ritual und Experiment In verdichteter Weise zeigt das Beispiel des Abendmahls und der Bemühungen um seine verstärkte Verankerung innerhalb des Gemeindelebens, inwiefern die im Rahmen des Mentalitätswandels beschriebenen Elemente (Partizipation, Interaktion, Bedürfnis nach Erleben, Aufmerksamkeit auf leiblichsinnliche Vollzüge, sozialdiakonische Ausrichtung, starke Fokussierung auf Gemeinschaftserfahrungen) sich liturgisch manifestierten. 1980 fasste Georg Kugler die Entwicklung der vorangegangenen Dekade zusammen: »Die Protestanten entdeckten das Mahl, und die Gemeinden praktizieren es immer häufiger«82. Am Ausgang stand jedoch eine ernüchternde Bilanz im Blick auf die Praxis des Herrenmahls. In den Gottesdienstumfragen Anfang der 1970er Jahre war deutlich geworden, dass zum einen nur ein kleiner Teil mehr als einmal im Jahr überhaupt kommuniziert.83 Dies lag nicht zuletzt daran, dass viele Gemeinden ohnehin nur selten das Abendmahl feierten, zumeist nur an vier Festtagen im Jahr (Weihnachten, Karfreitag, Ostersonntag und am Erntedankfest). Zum andern fanden die Sakramentsfeiern häufig außerhalb des Gottesdienstes statt, entweder im Anschluss oder im Rahmen von Hausabendmahlfeiern. Die Stimmung des Abendmahls war geprägt von der engen Bindung an die stets unmittelbar vorausgehende Beichte und die Betonung der gewährten Sündenvergebung, die den Festcharakter des Abendmahls kaum zur Geltung brachten. 80 Oskar G. Blarr u. a.: Gottesdienst in neuer Gestalt. Eine Anweisung zur Praxis, hg. vom Volksmissionarischen Amt der Evang. Kirche im Rheinland, Köln 1971, 4. 81 In Abschnitt 9.6.3 wird deutlich, dass die Bezugnahme auf eine ursprüngliche und in dieser Weise vorhandene, d. h. ausführbare Form ebenfalls in der Identifikation ritueller Handlungssequenzen eine wichtige Rolle spielen kann. Caroline Humphrey und James Laidlaw sprechen in diesem Fall von Ritualen als »archetypal actions«. 82 Kugler: Fantasie für den Gottesdienst, 94. 83 Unter den befragten Protestanten gaben 68 % an, in den letzten 12 Monaten höchstens einmal oder überhaupt nie am Abendmahl teilgenommen zu haben. Nur 4 % besuchten mehr als 4 Mal innerhalb eines Jahres eine Abendmahlsfeier (vgl. Schmidtchen [Hg.]: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 123).
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Ein wichtiger Impuls, dieses Moment des Glaubens in das kirchliche Leben zu reintegrieren, ging von Harvey Cox’ Das Fest der Narren aus, das 1970 erstmals auf Deutsch erschien. Darin warb Cox für eine Wiederentdeckung der Festkultur, die er in der modernen westlichen Welt im Niedergang sah. Am mittelalterlichen »Fest der Narren« wollte er zeigen, wie gerade im Fest Fantasie und Sozialkritik zusammentreffen und damit zentrale Themen der Gegenwart immer schon verhandelt werden. Gleiches galt für den partizipatorischen, antiautoritären Grundcharakter des Festes, der die mittelalterliche Festkultur mit der modernen Gesellschaft verband. Cox beschrieb das Fest als eine vom Nützlichkeitsdenken befreite Institution und wies damit indirekt auf eine Schlagseite vieler sozialengagierter Gottesdienste hin. Auch das Arbeitsethos, das in der westdeutschen Aufstiegs- und Wohlstandsgesellschaft mit ihren fest im Lebensplan verankerten Konsumzielen breiten Anklang gefunden hatte, sah Cox im Fest heilsam relativiert. Bei der Wiederbelebung der Fantasie im christlichen Glauben wies er Ritualen eine wichtige Funktion zu und wollte zugleich ein komplett neuartiges Verständnis etablieren: »Das Ritual soll Menschen zu festlicher Phantasie verzaubern, soll sie in Berührung bringen mit den tiefsten Sehnsüchten der Menschheit, […] soll ihre Möglichkeiten zu schöpferischem Tun entfachen.«84 Das Aufgreifen der Überlegungen zu Fest und Feier, welche die Leitidee der »Verkündigung« zurücktreten ließ,85 veränderte tatsächlich rasch die gottesdienstliche Atmosphäre. Ausgehend vom Abendmahl wurde das ›Fest‹ zur neuen Leitidee für den Gottesdienst insgesamt. Bereits 1977 hieß es in einer kirchlichen Publikation freudig: »Allerlei Scheu und Müdigkeit ist gewichen … Zeitgenossen finden Zugang zu solch einem anscheinend archaischen Mysterium […], wo einst das Klima einer rückwärts gewandten oder in sich gekehrten karfreitäglichen Trauer vorherrschte […], breitet sich die Freude der Beteiligung an einem Gemeinschaftsmahl aus.«86 Der Wunsch, das Abendmahl fester im Gemeindeleben zu verankern, stand auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung des Kinderabendmahls.87 Die verstärkte Familien- und Kindergottesdienstpraxis hatte das Verlangen genährt, das als konkrete, sinnlich erfassbare Zuwendung Gottes zum Menschen gedeutete Abendmahl in den liturgischen Ablauf einzubeziehen. Je stärker zudem die Bedeutung der Gruppenerfahrung und der 84 Harvey G. Cox: Das Fest der Narren. Das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe, Stuttgart 1970, 108f. 85 Vgl. Rainer Volp: Perspektiven der Liturgiewissenschaft. Forschungsergebnisse im Interesse eines erneuerten Gottesdienstes, in: JLH 18 (1974), 1–35, 30. 86 Horst Nitschke/Christian Zippert (Hg.): Abendmahl. Liturgische Texte, Gesamtentwürfe, Predigten, Feiern mit Kindern, besondere Gestaltungen, Besinnungen, Gütersloh 1977, 7. 87 Unter den zahlreichen praktischen Entwürfen vgl. neben dem genannten Band von Nitschke/ Zippert auch Martin Lienhard (Hg.): Mit Kindern Abendmahl feiern. Modelle – Reflexionen – Materialien, München 1978; Heinz Gerlach: Kinder beim Abendmahl. Argumente, Modelle, Gebete und neue Lieder, Kassel 1978.
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Gemeinschaftsaspekt des Abendmahls anstelle der Sündenvergebung in den Vordergrund traten, umso schwieriger war es zu begründen, warum Kinder davon ausgeschlossen bleiben sollten. Nicht zuletzt, weil auch neuere pädagogische Erkenntnisse das Verhältnis von rationalem Verstehen und Vollzug, von Begründung und Erfahrung umkehrten. 1977 beschloss die Generalsynode der VELKD den Gemeinden die Zulassung noch nicht konfirmierter Kinder zum Abendmahl zu ermöglichen.88 In der Folgezeit starteten die Landeskirchen Erprobungsphasen. Auf ganz andere Weise rückte das Abendmahl ins Zentrum der kirchlichen Aufmerksamkeit auf dem Nürnberger Kirchentag von 1979, wo erstmals das sogenannte Feierabendmahl abgehalten worden war. Es bildete zugleich den Abschluss einer Zeit des Experimentierens und des Nachdenkens darüber, wie der Zugang zu diesem zentralen Handlungsvollzug der Kirche erleichtert werden kann. Georg Kugler, einer der Hauptinitiatoren, interpretierte diese Feier nicht nur als Mahl der Gemeinschaft, sondern im politischen Ton der Zeit als »Protest Gottes gegen die Trennungen […], das Mahl wider die Apartheid der Ideologie, Rassen, aber auch der Konfessionen.«89 Mit dem Feierabendmahl wollte man eine der immer wieder geforderten Brücken zwischen Alltag und gottesdienstlicher Feier schlagen sowie Diakonie und Liturgie verbinden, ohne das eine im anderen aufgehen zu lassen. Es ging um die Einheit von »Kommunion und Kommunikation, Lobpreis und Weltverantwortung«90. Im Vergleich der Abläufe mit dem agendarischen Gottesdienst wurde immer wieder auf die hohe strukturelle Ähnlichkeiten zum Feierabendmahl hingewiesen.91 Insgesamt wirkte das Feierabendmahl stärker als Begriff, als symbolische Handlung und als Inspirationsquelle für einen 88 »Es bestehen somit keine grundsätzlichen Bedenken, getaufte Kinder, die das Grundschulalter erreicht haben, am Heiligen Abendmahl teilnehmen zu lassen, wenn dies begehrt wird und nach Unterweisung seelsorgerlich verantwortet werden kann« (Texte aus der VELKD Nr. 1/1978, 5). Auch hier finden sich europäische Parallelen: Bereits 1971 schlug der nach dem leitenden Bischof benannte »Ely Report« (Christian Initiation: Birth and Growth in the Christian Society. The Report of the Commission on Christian Initiation, London 1971) den Synoden der Kirche von England vor, Kinder schon vor der Konfirmation auf der Grundlage der Taufe zum Abendmahl zuzulassen. Dass man in der Abendmahlspraxis nicht nur im Hinblick auf Kinder verstärkt sozial sensibel agierte, zeigte sich auch in der Einführung und Legitimation von Traubensaft (»Gewächs des Weinstocks« nach Mk 14,25 par.) als rechtmäßigem Element. Der Bezug zu Gegenwartsfragen schlug sich auch in den Akzenten der Abendmahlstheologie nieder: In eschatologischer Perspektive rückte das Abendmahl in den Fokus als Bild des noch ausstehenden Reiches Gottes, das vor allem durch Frieden (angesichts weltweiter Kriege) und Gerechtigkeit (in einer Welt) gekennzeichnet ist. Vor dem Hintergrund der aufkommenden Umweltbewegung mit dem kirchlichen Schlagwort von der »Bewahrung der Schöpfung« kam nun auch den Elementen (im theologische wie naturwissenschaftlichen Sinn) im eucharistischen Kontext neue Relevanz zu und verstärkte ihren schöpfungstheologischen wie auch politischen Symbolgehalt. 89 Kugler: Feierabendmahl, 10. 90 Ders.: Fantasie für den Gottesdienst, 95. 91 Ders.: Feierabendmahl, 27–29.
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kreativen Umgang mit der Tradition des lange als exklusive, sakrale Handlung empfundenen Sakraments. Die liturgische Praxis blieb auf einzelne Anlässe beschränkt. Seit dem Hannoveraner Kirchentag 1983 jedoch wurde das – an der Agende ausgerichtete! – Abendmahl zum festen Bestandteil der Schlussgottesdienste. Die Auseinandersetzung mit dem Abendmahl war faktisch eine Auseinandersetzung mit den vorgegebenen kirchlichen Ritualen. Wie besonders bei Georg Kugler deutlich wurde, ging es dabei weniger um den rituellen Charakter in seiner festen, von der Wiederholung und Gewöhnung geprägten Gestalt mit einem hohen Grad an Formalität. Primär war man auf der Suche nach Möglichkeiten, den Glauben sinnlich zu feiern. Dazu sollten möglichst zahlreiche Variationsformen entwickelt werden, was wiederum »auf die Frage hinaus[lief]: was ist bei allem Formenreichtum das Unverzichtbare in der Gestaltung des Herrenmahls?«92 Gegenüber den festen und als starr empfundenen agendarischen Feierformen bestand also ein starkes Abgrenzungsbedürfnis, obgleich die Experimente auch ihre Grenzen immer wieder erkennen ließen. Man suchte daher die Variation bald in stärker agendarisch abgesteckten Grenzen. Das Strukturpapier von 1974 hatte dazu bereits den Weg vorgezeichnet (s. u. 1.3.3). Die Stärke des Rituals ›Abendmahl‹ zeigte sich jedoch gerade darin, dass man einerseits auf die tradierten – mit den Einsetzungsworten auch fixierten – Formen zurückgreifen konnte, die trotz aller Veränderungen auch den Kern des Feierabendmahls bildeten. Andererseits aber stellte man das Abendmahl zugleich in den Dienst der Reformbestrebungen. Das Abendmahlsritual wurde dann zur rituellen Form der Kritik und zum Zeichen des Protestes gegen die Vereinnahmung des Rituals ›Abendmahl‹ durch den traditionellen Gottesdienst. Dies gelang eben durch eine spezifische Verbindung von Kontinuität der Kernvollzüge und Transformation des liturgischen und sozialen Rahmens. Jenseits liturgischer Binnendiskussionen und Aushandlungsprozesse macht die Ende der siebziger Jahre zu verzeichnende neue Wertschätzung des Abendmahls das beschriebene gesamtgesellschaftliche Bedürfnis nach Ordnung und Stabilität anschaulich. In Verbindung mit der gestiegenen Komplexität privater und beruflicher Lebensführung wurde die Wiederholung auf neue Weise attraktiv. Gerhard Ebelings Dogmatik liest sich dies so: »[D]ie gleichbleibende Gestalt von Taufe und Abendmahl [stellt] nicht eine ermüdende Wiederholung und eine Verarmung dar. Im Gegenteil, ihr kommt eine gar nicht hoch genug zu schätzende Situationsüberlegenheit zu in Hinsicht auf den steten Wandel des jeweiligen Aktuellen und in bezug auf das Bedürfnis, mit ihm Schritt zu halten.«93
92 Ders.: Fantasie für den Gottesdienst, 95. 93 Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. III: Dritter Teil: Der Glaube an Gott, den Vollender der Welt. Register, Tübingen 42012 [1979], 319.
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1.3.2.4 Der Gottesdienst als »Lernprozess«. Praktisch-theologische Reflexion neuer Gottesdienstformen Die meisten der Autoren, die zu liturgischen Themen publizierten, besaßen in jener Zeit selbst intensive liturgische Praxis. Ihre vor Ort erstellten und erprobten Modelle wurden häufig erst nachträglich dokumentiert, reflektiert und damit auch legitimiert. Eine tiefschürfende theoretische Auseinandersetzung mit den Gottesdiensten des »zweiten Programms« und ihren charakteristischen Elementen wie gemeinsamer Vorbereitung oder themenorientiertem Fokus findet sich bei Dieter Trautwein.94 In seiner von Werner Jetter begleiteten Dissertation über den Lernprozess Gottesdienst von 1972 zielte er grundsätzlich auf eine neue Verbindung von Kirche und Bildung, sowie von Glauben und Lernen.95 Dazu analysierte er den Gottesdienst unter Rückgriff auf Lern- und Spieltheorie eben als Lernprozess. Damit sollte eine unter kommunikationstheoretischen und gruppendynamischen Gesichtspunkten sinnvolle Gestaltung des Gottesdienstes ermöglicht werden.96 Entscheidend für die Anregung eines Lernprozesses waren Trautwein zufolge eine gemeinsame Vorbereitung sowie ein hohes Maß an aktiver Beteiligung. Dies entsprach auch dem Anspruch der Liturgiekommission des 2. Vaticanums, die »tätige Teilnahme« zu befördern. Obgleich Trautwein zunächst den traditionellen Gottesdienst vor allem mit »reproduktivem Denken« verbindet und ihm das kreative, reflexive und spielerische Potenzial der neuen Gottesdienstformen gegenüberstellt, bemüht er sich auch den »(Meß-) Gottesdienst« unter lerntheoretischer Perspektive zu würdigen.97 Trautwein gelingt es dabei, den traditionellen Gottesdienst nicht einseitig auf Gewohnheit, Konfliktfreiheit und »Langweiligkeit« festzulegen. Gerade in der gegebenen Struktur bzw. den ursprünglichen Impulsen versucht er eine immanente, auch emotionale Dynamik auszumachen. Neben »Bestätigung« und »Entlastung« 94 Trautwein war seit 1963 erster Stadtjugendpfarrer und später Probst in Frankfurt. Seine »Gottesdienste in anderer Gestalt« mit Gesprächspredigten, Tischabendmahl und »neuem geistlichen Liedgut« erprobte Trautwein nicht zufällig in der 1956 durch Karl Wimmenauer errichteten Epiphaniaskirche im Frankfurter Nordend. Zwar legte der Bau die historischen Bezüge zum neugotischen Vorgängerbau offen, doch wählte Wimmernauer mit den gefalteten Wänden des Kirchenschiffs und der künstlerischen Ausgestaltung eine deutlich moderne Sprache. In der Liturgie war dies unmittelbar nach Einführung der Agende I erst noch einzuholen. 95 Der Ansatz deckt sich mit der KMU I, die konstatiert, »daß die Distanz zur Kirche mit der Bildungsstufe wächst. Da die Entwicklung zur ›Lerngesellschaft‹ ein maßgeblicher Aspekt unserer Zeit ist, wird viel davon abhängen, ob das Verhältnis von Kirche und Bildung angemessen gestaltet wird« (Hild [Hg.]: Wie stabil ist die Kirche?, 3). 96 Ein lernpsychologischer Ansatz findet sich auch bei Karl F. Barth: Zur Situation des Gottesdienstes, in: DtPfrBl 71 (1971), 637–639. 97 Vgl. Dieter Trautwein: Lernprozess Gottesdienst. Ein Arbeitsbuch unter besonderer Berücksichtigung der ›Gottesdienste in neuer Gestalt‹, mit Geleitworten von Werner Jetter und Ludger Zinke, München 1972, 3 sowie besonders Abschnitt 3.30.
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stehen »Korrektur« und »Konflikt«: »Auch Lob und Dank, Anbetung und Bekenntnis werden nicht konfliktlos mitvollzogen und konsumiert. Ratlosigkeit und Protest, die nicht artikuliert werden können, führen allerdings zu Frustrationen und beenden dann zuweilen den Lernprozeß vorzeitig. Identifikation [sc. als die für traditionelle Gottesdienste typische Partizipationsform, RG] dagegen setzt bereits einen Lernprozess voraus, bzw. stimuliert ihn. […] Korrektur, auch Bestätigung und Entlastung werden erfahren, Schlüsse werden gezogen.«98 Trautwein versucht diese »lerndimensionale Funktion« beim Durchgang durch die einzelnen Sequenzen wie Kyrie, Gloria und Kollekte einsichtig zu machen. Trotz der Wertschätzung innerer, durch die Liturgie ausgelöster Prozesse mündet Trautweins Bewertung des Gottesdienstes stets in einer Klage über den »bedauerlichen Individualismus«.99 Dabei übersieht er jedoch, dass dieser dem oft selbst gewählten anonymen Teilnahmeverhalten volkskirchlicher Gottesdienstkultur entspricht, wie die Gottesdienststudien aufwiesen (s. u. 2.4.1). Die notwendige Bindung von Lernprozessen an dialogischen Strukturen muss daher nicht auf gruppenspezifische Handlungsformen, wie sie Trautwein angesichts seiner Jugendgottesdienstpraxis vor Augen standen, enggeführt werden. In der Art und Weise, wie hier humanwissenschaftliche Erkenntnisse (Gruppendynamik, Informations- und Kommunikationstheorie, Soziallinguistik, Anthropologie, Erwachsenenbildung) für die Liturgik fruchtbar gemacht werden, kann das Werk dennoch als prägend verstanden werden – nicht zuletzt für Jetters ritualtheoretische Überlegungen zum Gottesdienst. Die unter dem lerntheoretischen Fokus eröffnete Wertschätzung der liturgisch-rituellen Vollzüge als Formen von Reflexion, Auseinandersetzung und Aneignung wurde jedoch nicht rezipiert. Erst innerhalb moderner Ritualtheorien werden diese Aspekte wieder vermehrt zur Kenntnis genommen (s. u. 8).
98 AaO., 73. Trautwein beurteilt die gegenwärtige, sich einem »zufälligen« Wachstumsprozess verdankende Gestalt der Liturgie keineswegs als grundsätzlich für Lehr- und Lernfunktionen hinderlich. Zumal er auch um die ästhetische Kraft der Liturgie weiß, die sich gerade nicht dem stringenten und konsequenten Aufbau verdankt. Insgesamt geht es ihm nicht darum, an die Gottesdienstpädagogik der Aufklärung anzuknüpfen oder den Anfragen an eine Pädagogisierung des Gottesdienstes durch Schleiermacher oder Julius Smend zu widersprechen, sondern unter dem »Lernprozess Gottesdienst« das zu fassen, was als Verhaltensänderung durch den Gottesdienst initiiert werden kann. 99 AaO., 87.
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1.3.3 Versammelte Gemeinde (1974) als Integrationsmodell 1.3.3.1 Zum Anlass des Strukturpapiers Seit Beginn der 1960er Jahre bestand das verstärkte Bedürfnis, Gottesdienstformen zu finden, die an aktuellen Themen ebenso wie am Empfinden und Erleben der Gottesdienstbesucher ausgerichtet waren. Auch bei diesen »Gottesdiensten in neuer Gestalt« ergaben sich immer wieder Anknüpfungspunkte zum traditionellen, agendarischen (Mess-) Gottesdienst. Am Beispiel der Integration des Abendmahls war dies schon deutlich geworden (s. o. 1.3.2.3). Aber auch theoretische Überlegungen wie die Trautweins zum Gottesdienst als Lernprozess ergaben durchaus Anschlussmöglichkeiten und ließen den klassischen Gottesdienst neu zum Gegenstand des Interesses werden. Förderlich hierfür war auch die angesichts der Überfülle liturgischer Experimente und manchen »Wildwuchses« einsetzende Ernüchterung,100 die sich mit einem erneuten Verlangen nach Verbindlichkeit und Verlässlichkeit verband. Zunehmend wurde die liturgische Stillosigkeit und Unachtsamkeit beklagt, welche vermeintlich aus der Vernachlässigung des agendarischen Gottesdienstes resultierte. Schließlich bestand auch von Seiten der Kirchenleitungen ein Interesse an Ordnung und Orientierung und dem Wunsch nach Möglichkeiten der Konvergenz zwischen beiden Formen zu suchen.101 Das unter dem Titel Versammelte Gemeinde 1974 von der Lutherischen Liturgischen Konferenz unter maßgeblichem Einfluss von Frieder Schulz herausgegebene Dokument, war das erste Ergebnis dieser Suche und zugleich für die Zukunft richtungsweisend. Mit dem alsbald unter dem Namen Strukturpapier firmierenden Text wurde ein Agendenreformprozess angestoßen, der schließlich im 1999 erschienenen Evangelischen Gottesdienstbuch (EGb) seinen Abschluss fand. Die in den siebziger Jahren entwickelten Strukturen sind somit auch für gegenwärtige Fragen der liturgischen Gestaltung weiter wirksam. 100 Auch die noch zu behandelnden empirischen Gottesdienststudien (s. u. 2.4.2) waren in Bezug auf die neueren Formen mitunter ernüchternd. Manfred Seitz resümiert: »Insgesamt bietet das Bewußstein der Menschen auf Grund der Umfrage eine ungeheure Armut an Formenkenntnis und Formenbewußstein des Gottesdienstes. Ist das der Ertrag eines Reformjahrzentes?« (Schmidtchen [Hg.]: Gottesdienst in einer rationalen Welt, 155). Eine Bilanz zieht auch Christoph Meier: Der Gottesdienst zwischen bestätigender und verändernder Wirkung. Konsequenzen aus der Erfahrung eines Reformjahrzehnts, in: ThPr 15 (1980), 191–207. 101 Kugler: Fantasie für den Gottesdienst, 94: »Es war wohl die Faszination des GottesdienstThemas selbst, das Wiederentdecken der klassischen liturgischen Tradition als ›Bilderbuch‹ (E. Lange), vielleicht auch das defensive und wenig produktive Verhalten mancher Vertreter der traditionellen Liturgie, das die Gemeindeakademie veranlaßte, sich immer stärker mit dem agendarischen Modell zu befassen.«
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1.3.3.2 Struktur als Flexibilitäts- und Ordnungsrahmen Die mit dem Dokument verbunden Ziele waren einerseits die Aufhebung der »ungute[n] Polarisation zwischen ›Progressiven‹ und ›Konservativen‹«102 durch ein Modell, welches »erstes« und »zweites« Gottesdienstprogramm zu integrieren in der Lage war. Andererseits ging es darum, die künftigen Agenden an den modernen Feierformen zu orientieren und dabei mögliche Flexibilität und notwendige Orientierung in eine sinnvolle Balance zu bringen. »Vielfalt und Einheit des christlichen Gottesdienstes«103 sollten also gleichermaßen zur Geltung kommen. Die Stärke des Papiers lag besonders darin, dass sowohl die veränderte liturgische Landschaft wie auch der Wandel des Kirchgangsverhaltens einbezogen wurden. Mit Hilfe des nichtliturgischen Begriffs der »Struktur« wurde eine Metaebene aufgezeigt, welche es sowohl erlaubt, bestehende Gottesdienstformen zu analysieren wie auch zukünftige zu gestalten. In der »Übersicht über Struktur und Elemente des Gottesdienstes«, welche den Kern des Strukturpapiers bildete, wurden die fünf Elemente »Eröffnung«, »Anrufung«, »Verkündigung und Bekenntnis«, »Abendmahl« sowie »Sendung« unterschieden, welche die Grundstruktur eines jeden Gottesdienstes bildeten bzw. bilden sollten.104 Dieses Raster konnte ebenso »über« den traditionellen Gottesdienst gelegt werden, wie es auch eine Gliederung des von Trautwein entwickelten Modells freier Gottesdienste ermöglichte. Bei aller äußerlichen Unterschiedlichkeit in den Formen wurden so unmittelbar deren Verbindungspunkte sichtbar. Die von Schulz dem Text beigefügten Übersichten erwiesen das Schema sowohl liturgiehistorisch als auch im Blick auf die Ökumene als aufschlussreich. Die mit dem Strukturbegriff erstrebte Flexibilität des Gottesdienstes wurde im Dokument zunächst für die agendarische Form aufgezeigt. Schulz hatte darauf hingewiesen, dass bereits die Agende I mehrere Ausformungsvarianten vorsah, diese jedoch nicht genutzt worden seien. Stattdessen geriet der Gottesdienst in eine gewisse Erstarrung, die zum einen die kirchenrechtliche Verbindlichkeit der Agende wiederspiegelte, die ihren Gebrauch über Jahrhunderte hinweg geprägt hatte. Sodann war diese Verfestigung von einem sekundären Interesse getragen, mittels sichtbarer Einheitlichkeit der Gottesdienste die Einheit der Kirche zur Darstellung zu bringen. Insofern war das 102 Versammelte Gemeinde. Struktur und Elemente des Gottesdienstes. Zur Reform des Gottesdienstes und der Agende, vorgelegt von der Lutherischen Liturgischen Konferenz, Hamburg 1974, 7. Diese Trennung klingt noch immer dort an, wo etwa der Charakter der Andersartigkeit und Fremdheit einseitig auf die Gottesdienste des »Zweiten Programms« verteilt werden, wie dies u. a. bei Arnold (Hg.): Andere Gottesdienste der Fall ist. 103 Versammelte Gemeinde, 4. 104 Die Aufnahme des »Abendmahls« als festem Strukturelement zeugt von der – bereits in der Agende I sichtbaren – Hoffnung, dieses im protestantischen Gottesdienst stärker zu etablieren, u. a. durch die Möglichkeit einer entsprechenden »Straffung« der Liturgie.
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Papier eine Hilfe, die bereits bestehende Flexibilität zu nutzen und zugleich eine Brücke zu einem grundlegend veränderten Agendengebrauch zu schlagen. Die Agende sollte weniger eine verbindliche Ordnung darstellen als ein rahmengebendes und -setzendes »Werkbuch« (Michael Meyer-Blanck105). Die damit erhoffte »Schmiegsamkeit der Liturgie«, die sich über die Ausgestaltungsmöglichkeiten der Strukturelemente verwirklichen sollte, wurde an der seither für Agenden typischen »kann-Diktion« deutlich sichtbar. Sie war zugleich eine Reaktion auf die sinkende Vertrautheit mit der Liturgie, die zur Elementarisierung und besonderen Akzentuierung einzelner Stücke herausforderte. Angesichts der unübersichtlichen Formenvielfalt galt es, den Rahmen für eine »verbindliche und wiederholbare Gestalt« des Gottesdienstes zu entwickeln, die »der Gemeinde die Möglichkeit bietet, sich im Gottesdienst heimisch zu fühlen«106. Das Strukturpapier greift damit das neu gewachsene Bedürfnis auf nach einer stärker traditionellen Gottesdienstgestaltung angesichts der inmitten aller Pluralität existierenden Entfremdung jenes Teils der Gemeinde, der den neuen Formen skeptisch gegenüberstand. In diesem Sinne sollte der Text als »Verständnis- und Erschließungshilfe« dienen, welche auch den klassischen Gottesdienst als plausibel und rational erschließbare Abfolge auswies. Darin spiegelten sich nicht zuletzt lerntheoretische und liturgiedidaktische Forderungen wider, die das gottesdienstliche Erleben stärken sollten. Liturgiepolitisch war das Strukturpapier ein Erfolgskonzept, da sich beide Seiten ernst genommen sahen und ihnen zugleich neue Möglichkeiten eröffnet waren, ihre liturgischen Vorstellungen in diesem Rahmen zu durchdenken wie auch mit ausdrücklicher kirchlicher Legitimation weiter zu pflegen. 1.3.3.3 Impulse und Anfragen zur Deutung ritueller Gottesdienstvollzüge 1.3.3.3.1 »Struktur« als Hilfe zum Erleben und Verstehen Im Hinblick auf die leitende Fragestellung nach dem Verhältnis von Liturgie und Liturgik zur Ritualität und zum Ritualbegriff in den 1970er Jahren sind an das Strukturpapier im Folgenden einige kritische Anfragen zu richten. Dabei ist der Status des Strukturbegriffs zu klären sowie das Verständnis des Gottesdienstes als Gestaltungsaufgabe, der dabei leitende Ritualbegriff und schließlich das impliziten Integrationsparadigma zu analysieren. Mit dem umfänglich diskutierten – und vielfach kritisierten – Strukturbegriff107 als Leitkategorie der Gottesdienstanalyse wie -gestaltung trat das 105 Gottesdienstlehre, 397. 106 Versammelte Gemeinde, 5. 107 Vgl. Helmut Schwier: Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des
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gottesdienstliche Ritual aus dem jahrhundertelangen Schatten kirchenobrigkeitlicher Bestimmungen und Verpflichtungen. Ein solcher Befreiungsschlag verlangte zugleich erhöhte liturgische Kompetenzen, nicht zuletzt eine Sensibilität für rituelle Vollzüge.108 Die als »Verständnis-« wie »Erschließungshilfe« eingeführte Struktur koppelte Helmut Schwier unter liturgiedidaktischer Perspektive für die Gottesdienstgemeinde mit »strukturgeleitetem Erleben«, für die Liturgieverantwortlichen mit »strukturbewusstem Handeln«.109 Mit dem omnipräsenten Begriff der ›Struktur‹ bestand jedoch die Gefahr, diesen von einer hermeneutischen Kategorie selbst zu einer liturgischen Norm zu erhöhen. Die einstige agendarische Verbindlichkeit wäre dann lediglich auf das anfänglich fünf- bzw. später viergliedrige Schema übertragen worden. Zugleich blieb fraglich, ob der Strukturrahmen einerseits tatsächlich die Kriterien von »Ursprungsbindung, Kontinuität und Identität« zu gewährleisten vermag, zumal es sich eben nicht um eine genuin liturgische Terminologie handelte. Andererseits konnte bezweifelt werden, ob ein solcher Rahmen ausreichend war, die kritisierte Beliebigkeit zu vermeiden: innerhalb einer »korrekten« Struktur unterstand die konkrete Ausgestaltung weiterhin allein der Entscheidung eines (vorbereitenden Teams von) Liturgen.110 Anhand der von Schwier getroffenen Unterscheidung wurde zugleich das zentrale Kriterium der Gottesdienstgestaltung bestimmt: das »Erleben«. Bereits die ältere liturgische Bewegung im 19. Jahrhundert hatte die »Verlebendigung« als Ziel der Arbeit am Gottesdienst formuliert.111 Im Strukturpapier erschien der Wunsch, eine »lebendige« Gottesdiensterfahrung zu ermöglichen, nun als logische Konsequenz aus der Forderung, die anthropologischen Grundbedürfnisse des Menschen ernst zu nehmen und liturgisch zu integrieren. Die Umsetzung dieses Programms sollte zum einen erreicht werden
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„Evangelischen Gottesdienstbuches“, Hannover 2000, 107–159. Zur Kritik vgl. etwa Manfred Josuttis: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Gütersloh 21993, 158–161. Vor der identischen Herausforderung standen und stehen trotz aller Verschiedenheit (etwa in Bezug auf das ius liturgicum) auch die römisch-katholischen Liturgen, nachdem es ein reines Einheitsmissale nachkonziliar nicht mehr gab. Bei seiner Rückkehr von der ersten Konzilsperiode des 2. Vaticanums sagte der Mainzer Bischof Kardinal Hermann Volk: »Wir werden bald schon sehr viel mehr dürfen, als wir können« (zitiert in: Keine stummen Zuschauer. Liturgiewissenschaftler Martin Stuflesser über den alten und den neuen Messritus, http://www. katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/keine-stummen-zuschauer [29. 03. 2019]). Vgl. Schwier: Erneuerung der Agende, 149–154. Karl-Heinrich Bieritz hat dabei angemerkt, dass es nicht um eine »strukturgerechte Ausformung« gehe, sondern um die »regelrechte Strukturierung« des Gottesdienstes (Struktur. Überlegungen zu den Implikationen eines Begriffs im Blick auf künftige Funktionen liturgischer Bücher, in: JLH 23 [1979], 32–52, 47). Vgl. Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, 403. Parallel zur Rede vom ›Erleben‹ spricht die katholische Liturgiewissenschaft von der Participatio actuosa. Der Begriff tauchte ebenfalls bereits unmittelbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, wurde aber erst durch seine mehrfache Aufnahme in Sacrosanctum Concilium zur Leitkategorie.
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durch flexiblen Agendengebrauch,112 Gestaltungsreichtum und die Bevorzugung innovativer Formen gegenüber Wiederholungen. Zum anderen band man gesteigertes Erleben an die Kriterien der Nachvollziehbarkeit und des Verstehens. Angesichts der Begründungsbedürftigkeit der traditionellen Gestalt des Gottesdienstes war damit zwar ein Motivationsimpuls für neue Wege in der theologischen Erschließung gewachsener liturgischer Strukturen gesetzt. Insgesamt jedoch schienen die neueren Gottesdienstformen die Anforderungen nach Flexibilität und Verständlichkeit besser zu erfüllen und erhielten gesteigerte liturgische Aufmerksamkeit. Der erhöhte Arbeitsaufwand bei der Vorbereitung wurde geradezu zum Ausweis einer Qualitätssteigerung gegenüber der agendarischen Feierform. Jene empfand man hingegen als entlastende Nebenform, die Ressourcen freigab für die Gestaltung eines situationsadäquaten, von einem Team vorbereiteten Gottesdienstes.113 Auch die Möglichkeiten der gegenseitigen Befruchtung schienen mitunter äußerst einseitig von den neuen Formen her bestimmt.114
1.3.3.3.2 »Gestaltung« als Paradigma der Liturgie? Die geschilderten liturgischen Präferenzen, die implizit auch das Strukturpapier prägen, rufen kritische Rückfragen hervor. Erstens ist zu fragen, ob Lebendigkeit ausschließlich unter der Bedingung von Varianz erlebt werden kann. Ob nicht auch Einübung, Gewöhnung und Vertiefung diesbezüglich Chancen bieten, wurde als Option kaum erwogen.115 Zweitens ist auch der starke Akzent auf das Kriterium der Verständlichkeit der Liturgie mindestens ambivalent zu bewerten. Zwar wird damit der Frage, wie und ob die liturgischen Formen von der Gemeinde mit relevanten Themen oder Fragen verbunden werden kann, verstärktes Gewicht beigemessen. Nicht unmittelbar plausible und logisch zuordenbare Formen stehen aber folglich unter erhöhtem Legitimationsdruck, der zu einer vorschnellen Reduktion des histo112 »Wenn die Agende flexibel gehandhabt werden soll, wird die in den einzelnen liturgischen Stücken steckende menschliche Grunderfahrung wichtig« (Kugler: Fantasie für den Gottesdienst, 94). 113 Vgl. etwa Barth: Zur Situation. 114 »Auf dem Gebiet der neuen Gottesdienste war dafür [sc. dem Erlebbarmachen menschlicher Grunderfahrungen] der Boden bereitet. Der ursächliche Zusammenhang von Ritual und Spontaneität war dort bereits erkannt und hatte zu liturgischen und methodischen Konsequenzen geführt. Der klassische Gottesdienst kann davon nun profitieren« (Kugler: Fantasie für den Gottesdienst, 94). Was Kugler hier unter einem Ritual im Rahmen neuer Gottesdienstformen versteht, wird leider nicht ausgeführt. 115 Wenn Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, 403 behauptet, »die historisch entstandene Struktur wird gerade dadurch lebendig, dass sie nicht als etwas Verordnetes, sondern als Möglichkeit zur Gestaltung verstanden wird«, dann wäre zu ergänzen, ob hier unter dem Stichwort »Gestaltung« vor allem – wie zumeist der Fall – Formenvielfalt und Innovationen im Blick sind oder die Arbeit am liturgischen Detail.
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risch gewachsenen liturgischen Repertoires führen kann. Drittens sind schließlich die expliziten wie impliziten Leitvorstellungen zu hinterfragen, die zur Einführung des Strukturbegriffs allererst geführt haben. In Anlehnung an das Diktum vom »Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe« (Schulz), hat Bernd Wannenwetsch im Hinblick auf das EGb (bzw. auf das vorangestellte theologische Programm) vom »Gestaltungsparadigma« gesprochen. Dieses beinhaltet, dass die Anpassung an die Bedürfnisse der Gottesdienstteilnehmer allein als liturgische Produktionsaufgabe formuliert wird. Die Rezeption des gottesdienstlichen Handelns und seiner liturgischen Formen kommt dabei kaum in den Blick. Wannenwetschs Kritik trifft auch das Strukturpapier und soll darum etwas näher erläutert werden. Der Begriff der ›Gestaltung‹ steht nach Wannenwetsch exemplarisch für ein Gottesdienstverständnis, das diesen allein als expressive Handlung versteht und somit vor allem darum bemüht ist, mit Hilfe von Agenden die »richtigen« Formen bereitzustellen, die den Ausdruck spezifischer Werte, Überzeugungen oder Glaubenshaltungen ermöglichen. Die meist der Tradition entnommenen Formen kämen dann aber lediglich als Gestaltungsmaterial in den Blick, das situationsadäquat zu »verbauen« sei. Nur so verleihe man »den vermeintlichen ›leeren Formen‹ […] Substanz und Relevanz«116. Mittels des Strukturbegriffs werde folglich die Möglichkeit der Gestaltung zur Norm erhoben, die nicht zuerst das Feiern des traditionellen Gottesdienstes erleichtere, sondern das Verändern und Gestalten anderer, »neuer« Formen begünstige und gerade zu herausfordere. Die für das Strukturpapier bereits festgestellte Priorisierung der »neuen« Formen ist nach Wannenwetsch durch eine ganze Reihe von Missverständnissen bedingt. Zum einen stehe dabei ein verengter Traditionsbegriff im Hintergrund, demzufolge es lediglich gelte, die als feststehend gedachten Bestände zu verwalten, abzuschaffen, zu modernisieren oder um Aktuelles anzureichern. Der Begriff der traditio im ursprünglichen Sinn meint jedoch nicht sklavische Repetition, sondern das Weitergeben und Sich-Vertrautmachen mit bewährten Lebensformen mit dem Ziel, sich diese anzueignen, sie einzuüben und angesichts der jeweiligen Situation fortzuschreiben. Zum anderen werde unter dem Gestaltungsparadigma auch die Neuartigkeit des Neuen einseitig am Erfindungsreichtum und an der Nähe zu den Kommunikationsformen der modernen Gesellschaft ausgerichtet. Irrtümlicherweise würden »Normativität« und »Kreativität« als gänzlich eigenständige, in Opposition zueinanderstehende Prinzipien verstanden. Drittens könne es theologisch nicht zuerst um eine Veränderung des Gottesdienstes gehen, sondern um Möglichkeiten einer verändernden Gotteserfahrung. Dass gerade die traditionellen Formen den Menschen der Gegenwart Gotteserfahrungen er116 Bernd Wannenwetsch: Die Ökonomie des Gottesdienstes. Eine Alternative zum Gestaltungsparadigma, in: Jçrg Neijenhuis (Hg.): Evangelisches Gottesdienstbuch und Kirchenrecht, Leipzig 2002, 37–55, 45.
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öffnen könnten, komme, so Wannenwetsch, bei einem solchen »Ausdrucksdenken« nicht in den Blick. Schließlich sieht Wannenwetsch unter dem »Gestaltungsparadigma« die Rezipienten – die gesamte (!) Gemeinde – verstärkt dem Liturgen und seinen (womöglich fehlenden) Kompetenzen unterworfen: »Das Gestaltungsparadigma stützt die Macht der Professionals, die ein solches komplexes Systemangebot wie das EGb es präsentiert, hantieren können.«117 Die Gemeinde, die nach protestantischem Prinzip sowohl verantwortlich für den Gottesdienst als auch an seinem Vollzug wesentlich beteiligt ist, wird umso mehr in eine passive Rolle gedrängt und auf das »Erleben« festgelegt. Wannenwetschs Kritik nötigt zur Frage, ob das Strukturdenken dem Eigenwert der Formen, Sequenzen und rituellen Handlungen gerecht werden kann. Ihre Bedeutung wird vor allem durch ihre Funktion innerhalb einer Struktureinheit bestimmt. Subtile Nichteindeutigkeiten wie etwa das Changieren des Kyrie zwischen Bitte und Lobruf geraten dabei leicht aus dem Blick. Auch die pluralen Deutungsmöglichkeiten einzelner Elemente, an denen sich gerade die Stärke historisch gewachsener Formen beweist, gehen leicht verloren, wenn die Anrufung Gottes auf den gleichnamigen Abschnitt »Anrufung« reduziert wird und nur das als Verkündigung gilt, was innerhalb von »Verkündigung« seinen Ort hat. Insgesamt wird in der Unterordnung eines Elements unter eine übergreifende Struktur ein glättendes und um Homogenität bemühtes Interesse deutlich, welches zwar im Dienst der Verständlichkeit steht, aber seine Verluste hinsichtlich Pluralität und erwünschter Komplexität kaum verbergen kann. Die Liturgie wird somit leicht zugunsten einer inhaltlichen Ausrichtung und des Verstehens funktionalisiert. Die liturgische Aufgabe ist nicht mehr das »Halten des Gottesdienstes«, sondern das Erarbeiten – und damit auch das Feiern – eines »Ablaufes«. Nicht die Eigendynamik der Liturgie ist von Interesse, sondern das Kenntlichmachen eines »roten Fadens«, an dem entlang die liturgischen Elemente arrangiert werden. Sie sind als »Bausteine« Träger jenes Inhalts, um den es im Gottesdienst geht. Ihre ästhetische Dimension ist nur insofern von Bedeutung, als die Inhalte dadurch auf andere Weise als allein durch Wort und Sprache »vermittelt« werden können. Im Rückblick auf das bisher Dargestellte zeigt sich unter dem Mantel des »Gestaltungsparadigmas« in verdichteter Form, was als wesentliche Kennzeichen der zeithistorischen Epoche bereits erarbeitet wurde: Freizeit-Gestaltung und Gottesdienst-Gestaltung, politische und liturgische Partizipation, themenorientierte Gottesdienste und thematisch ausgerichtete Liturgie finden hier zu einer unausgesprochenen und zugleich plausiblen Verbindung.
117 AaO., 53.
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1.3.3.3.3 Der Ritualbegriff des Strukturpapiers Einer der maßgeblichen Faktoren für den rituellen Charakter des Gottesdienstes ist die Bezugnahme auf bestehende Riten. In dieser Hinsicht ist der umfangreiche Dokumentarteil von Interesse, der dem Strukturpapier angehängt ist und in dem Schulz für jede der gebotenen Varianten eine Reihe liturgischer Zeugen aufführt. Schulz ging es dabei nicht nur um die historische Legitimation der einzelnen Varianten, sondern auch um die Plausibilität des Festhaltens an diesen Stücken. Die liturgischen Sequenzen sollten als »gute« und sinnvolle Ordnungen einsichtig werden, indem ihre Herkunft und ursprüngliche Bedeutung dargelegt wurden.118 Ist damit bereits ein positives Verhältnis zur Bedeutung der rituellen Tradition impliziert, so wird dieser Eindruck noch einmal verstärkt, wenn mit der Rede von »Wiederholbarkeit«, »sich heimisch fühlen«, »Vertrautheit« und »Identität« wichtige Begriffe der Ritualdiskussion auftauchen. Wie auch im expliziten Ritualdiskurs der siebziger Jahre (s. u. 2.) erscheint die agendarisch-rituelle Form allerdings von jeglicher Spannung oder die Teilnehmer herausfordernden Momenten befreit. Der Grund für diesen Eindruck darf wiederum im Strukturbegriff selbst gesehen werden, der nicht das einzelne Element, die konkrete Geste in den Blick nimmt, sondern inhaltliche stringente Abschnitte.119 Dass das Ziel einer nachvollziehbaren und auch erlebbaren Struktur bei Schulz aber dennoch mit einem eher negativen Ritualbegriff gekoppelt war, wird im Strukturpapier bereits auf der ersten Seite der Einleitung deutlich. Das Papier wolle zeigen, »daß die Gottesdienstordnung kein starres Ritual [sei], sondern eine sinnvoll begrenzte Zahl von reicheren und schlichteren Gestaltungsmöglichkeiten […,] eine immer neu zu bewältigende Gestaltungsaufgabe, nicht ein mechanisch ablaufendes Programm.«120 Allein die chiastische Struktur der Argumentation stellt die Gleichung eindrücklich vor Augen: die Möglichkeiten eines zeitgenössisch gestalteten Gottesdienstes seien genau darum kein »bloßes« Ritual, da sich dieses zum einen durch eine starre Form, zum anderen durch einen mechanischen Vollzug auszeichne. Diese Sichtweise wiederholte Schulz noch 1979, wenn er die Möglichkeit der freien Gestaltung als Schutz wertet, »damit nicht ein triviales Ritual entsteht«121. Dem Begriff des
118 In diese Richtung zielt auch die wiederholte Feststellung, dass die »Schmiegsamkeit« der Liturgie, d. h. ihre bedingte Flexibilität, keine Neuerung darstellt, sondern bereits in der Agende I angelegt bzw. enthalten war. 119 Schulz wird man diesen Vorwurf gewiss nicht machen dürfen, bildeten doch seine überaus detaillierten Erläuterungen zu den einzelnen liturgischen Stücken auf 16 Seiten bei dem nur sechs Seiten umfassenden Strukturpapier das theologische Rückgrat des Textes. 120 Versammelte Gemeinde, 5. 121 Herwarth v. Schade/Frieder Schulz (Hg.): Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe. Praktische Anregungen zur Gestaltung des Gottesdienstes aufgrund der Denkschrift „Versammelte
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Rituals wird stets ein negativ wertendes Epitheton zur Seite gestellt – ob als »triviales«, »starres«, »leeres« oder schlicht »bloßes« Ritual. Dies kann für die liturgische Diskussion bis Mitte der siebziger Jahre als typisch erachtet werden. Im Horizont der aufkommenden Diskussion um den Gottesdienst als Ritual herrscht bei Schulz also noch eine negative Sichtweise vor, geprägt von der Sorge um eine rückwärtsgewandte, stagnierende Gottesdienstpraxis, die eben nicht an den »vielfältigen Bedürfnissen der Gegenwart ansetzt«. An anderer Stelle warnt er sogar vor einer Aufwertung des Ritualbegriffs: »Wenn gar von der Notwendigkeit und der entlastenden Funktion des Rituals oder vom Gottesdienst als einer Art Gruppentraining für neue Naivität, Spontaneität und Kreativität gesprochen wird, so wird die Theologie achtgeben müssen, daß das Evangelium nicht in der Religion ertrinkt und im Ritual erstickt.«122 In der Parallelsetzung von »Religion« und »Ritual« wird eine gedankliche Verbindung deutlich, die in der Dialektischen Theologie ihren Ursprung hat und mit einer negativen, weil ausschließlich auf die Seite menschlichen Handelns gestellten Sicht auf Religion und ihrer konkreten Ausgestaltung, dem Ritual, einhergeht (vgl. u. 4.2). Vor diesem Hintergrund bestätigen sich sowohl die Beobachtungen hinsichtlich der Priorisierung der Gestaltungsmechanismen, die den »neuen« Gottesdiensten zu Grunde liegen, wie auch die begrenzte Bedeutung, die man einer sorgfältigen Orientierung an agendarischen Vorgaben und dem Vertrauen in liturgische Traditionen zumaß – mag dies auch wiederum nicht der unmittelbaren Intention der jeweiligen Autoren entsprechen, stellt aber doch eine implizite Aussage des Papiers dar, die dem liturgischen Klima der Zeit weithin entsprach.
1.3.3.3.4 Integration der Formen als Ziel der Gottesdienstgestaltung? Es wäre verfehlt, den Autoren des Strukturpapiers das Anliegen zu unterstellen, den agendarischen Gottesdienst insgesamt relativieren zu wollen. Dennoch bestand die Hoffnung, über den Strukturbegriff nicht nur theologisch den Graben zwischen traditionellem Gottesdienst und neueren Formen zu schließen, sondern im Laufe der Zeit zu integrierten Gottesdienstformen vorstoßen zu können. Die Strukturierung als Grundmuster aller Gottesdienste konnte ja in der Tat zu dem Schluss führen, unter Wahrung der Struktur, diese mit Elementen aus gänzlich unterschiedlichen, älteren wie neueren Traditionen zu auszufüllen. Was in den Übersichtsdarstellungen im Strukturpapier noch ein Nebeneinander unterschiedlicher Gottesdienstformen war, die eine Gemeinde“ (Strukturpapier), hg. im Auftrag der Lutherischen Liturgischen Konferenz, Hamburg 1979, 45. 122 Frieder Schulz: Einheit und Vielfalt der Gottesdienste. Gestaltungsimpulse für den Gottesdienst des Strukturpapiers „Versammelte Gemeinde“, in: WPKG 64 (1975), 457–473, 473.
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gemeinsame Struktur verband, konnte sich langfristig zu einer Mischung verbinden. Damit wäre man vermeintlich in der Lage, den unterschiedlichen liturgischen Bedürfnissen innerhalb eines Gottesdienstes zu entsprechen.123 Zwar eröffnet die Struktur tatsächlich eine gewisse Weite hinsichtlich der sie ausfüllenden Elemente, da diese bei gegebener Grundordnung nicht unmittelbar stringent auf das Vorangegangene aufbauen müssen. Die Zuordnung etwa zur Einheit »Anrufung« lässt Raum für weiterhin interpretationsoffene Sequenzen und kann den Teilnehmern zugleich einen Interpretationsrahmen anbieten. Praktisch-theologisch besitzt eine Feierpraxis, die unterschiedliche Formen integriert, den Charme, gemeindepädagogische oder seelsorgerliche Überlegungen mit der notwendigen Traditionsorientierung vermitteln zu können und somit die Einheit der Kirche sowohl synchron als auch diachron liturgisch darzustellen. Die Annahme, dass im Hintergrund des Strukturpapiers die Hoffnung auf eine integrative Sonntagsgottesdienstpraxis stand, gewinnt ihre Plausibilität nicht zuletzt dadurch, dass Schulz selbst mit Abschluss des Agendenreformprozesses in Bezug auf das EGb von einer »integrierten Agende« gesprochen hat.124 Damit griff er die Terminologie von Peter Cornehl auf.125 Auch Cornehl sprach sich in seiner Auswertung der 2. KMU explizit für eine »integrative Gottesdienstpraxis« aus, die »die verschiedenen Gruppen, Traditionen, Generationen, Glaubensüberzeugungen und Lebenserfahrungen zusammenzuführen und [… ihnen im] Gottesdienst eine Heimat zu geben«126 vermag. Wiederum stehen oikodomische Überlegungen im Hintergrund: »Der Gottesdienst ist als Gottesdienst der familia Dei vor Ort zu verstehen und zu feiern.«127 Der integrative Ansatz verlangte also geradezu, den Wünschen aller 123 Die hier vorgetragene Kritik setzt gleichwohl die Einsicht voraus dass auch der agendarische, historisch gewachsene Gottesdienst eine »Mischform« darstellt, die Elemente unterschiedlicher Epochen und Stile verbindet. Er birgt grundsätzlich ein starkes Integrationspotenzial und erweist sich offen gegenüber Spannungen und Kontrapunkten. Die möglichen Verbindungsformen sind jedoch theologisch, liturgisch, ästhetisch, kommunikativ und soziologisch auszuloten. 124 Vgl. Frieder Schulz: Agende – Erneuerte Agende – Gottesdienstbuch. Evangelische Agendenreform in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Texte aus der VELKD Nr. 89/99, Hannover 1999, 33. 125 Schulz bezieht sich konkret auf die Überlegungen zur Untergliederung der Liturgik seit 1945 in unterschiedliche Phasen, die Peter Cornehl in seinem TRE-Artikel ausgeführt hatte. Für die Zeit nach 1975 sprach er dort von einer »integrativen Phase« (Art. Gottesdienst VIII, in: TRE 14 [1985], 54–85, 80). Auch Herbert Lindner schließt sich dieser Terminologie an (Aufbrüche. Erfahrungen aus verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Schwerpunkten – Von den Jugendgottesdiensten zum Familiengottesdienst und zum Feierabendmahl, in: Hanns Kerner [Hg.]: Aufbrüche. Gottesdienst im Wandel, Leipzig 2010, 169–183, 170). 126 Peter Cornehl: Teilnahme am Gottesdienst. Zur Logik des Kirchgangs – Befund und Konsequenzen, in: Joachim Matthes (Hg.): Kirchenmitgliedschaft im Wandel. Untersuchungen zur Realität der Volkskirche. Beiträge zur 2. EKD-Umfrage »Was wird aus der Kirche?«, Gütersloh 1990, 40. 127 AaO., 41.
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»Familienmitglieder« gerecht zu werden. Das Strukturprinzip bot dafür den hermeneutischen Schlüssel. Insofern die Integration aber auf struktureller Ebene gesucht wurde, griff sie einerseits in die konstitutiven Prinzipien des Messgottesdienstes ein, andererseits gelang es nicht, die Momente von Aktualität, Kritik und Reflexion, die vorläufig nur in den neueren Formen integriert schienen, in den traditionellen Formen aufzuzeigen bzw. zu stärken. Vielmehr bestand diesbezüglich die Opposition weiter fort. In der Tat war die Hoffnung, über eine integrierte Praxis den Kreis der sonntäglichen Kirchgänger zu erweitern, in vielen liturgischen Entwürfen dieser Zeit präsent und hat bis heute noch beachtliche Anziehungskraft.128 Dass damit jedoch die extrem unterschiedlichen Erwartungen der Besucher nicht hinreichend erfasst und liturgisch wertgeschätzt werden können, hat eine Studie des Gottesdienstinstituts Nürnberg von 2007 gezeigt. Gottesdienstteilnehmer suchen hauptsächlich nach Angeboten, die durchweg ihrem eigenen liturgischen Geschmack entsprechen. Die »cross-over«-Ambitionen der Liturgen treffen hingegen nur bedingt auf Resonanz.129 Die Auseinandersetzung mit aktuellen Ritualtheorien (II.) wird die Grenzen eines solchen Ansatzes auf eigene Weise deutlich machen.
1.3.4 Fazit Das Strukturpapier von 1974 war der für die folgenden Jahrzehnte bestimmende Entwurf, die plurale Gottesdienstpraxis auf bekannte, einheitliche und überschaubare Strukturen zurückzuführen und damit seiner Gestaltung die notwendige Balance aus historischer Rückbindung und aktualisierender Vielfalt, aus orientierender Struktur und kontextueller Flexibilität zu ermöglichen. Obgleich damit eine Zuordnung von »erstem« und »zweitem« liturgischen Programm intendiert war, wurde der mit der Agendenreform der fünfziger Jahre verbundene Gedanke der Einheitsagende in modifizierter Form weiterverfolgt. Die seit Mitte der sechziger Jahre rapide wachsende liturgische Formenvielfalt war häufig in bewusster Abgrenzung von der agendarischen Normalgestalt konzipiert. Ihr experimenteller Charakter drückte sich neben un128 Eine ähnliche Hoffnung formulierte Lutz Mohaupt: Feiern – Hören – Handeln. Zur Gottesdienstumfrage der VELKD, Hamburg 1974, 47f. Die für unterschiedliche Gottesdiensttypen charakteristischen Stichworte »Wortgeschehen«, »Aktion« und »Fest« sollten letztlich in einer Form integriert werden, der eine »integrierte Theologie des Gottesdienstes« zur Seite stand. 129 Vgl. Hanns Kerner: Wie viel Ordnung braucht der Sonntagsgottesdienst? Ergebnisse zweier empirischer Untersuchungen, in: Ders. (Hg.): Zwischen heiligem Drama und Event. Auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Agende, Leipzig 2008, 7–21. Die Einsicht, dass Kirchgänger je nach Frömmigkeitstypus vorwiegend »ihre« Gottesdienste aufsuchen, findet sich bereits in der Studie von Karl-Fritz Daiber u. a., Gemeinden erleben Gottesdienst, von 1978 (s. u. 2.4.3).
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mittelbarer liturgischer Gestaltung auch in musikalischen Aufbrüchen und architektonischen Konzepten aus, für die Kirche nicht mehr »Heiliger Raum«, sondern Versammlungsplatz, »Agora«, sein sollte. Die hier kultivierten partizipativen und kreativen Strukturen weckten in Pfarrern wie Laien den Wunsch nach entsprechender liturgischer Partizipation. Dem schien der rituelle Gottesdienst entgegenzustehen, der mit einer als rückwärtsgewandt empfundenen Agende identifiziert wurde. In den siebziger Jahren entwickelte sich zugleich ein neues Interesse an sinnlichen und festlichen Gottesdiensten, wodurch das Abendmahl neue Aufmerksamkeit erhielt. Nicht selten umrahmt von neuen liturgischen Formen griff man im Kern doch wieder auf die biblisch begründeten, in der Tradition der Kirche geformten rituellen Vollzüge zurück. Dadurch geriet die Integration des Abendmahls zur rituellen Form der Ritualkritik, nämlich an der agendarischen, kirchlich-institutionalisierten Abendmahlspraxis. Im Zuge einer lerntheoretischen Untersuchung der neueren Gottesdienstformen zeigte Dieter Trautwein, dass auch der agendarische Gottesdienst in seiner historisch gewachsenen Gestalt einer sozialwissenschaftlichen Analyse zugänglich war und sich dabei als überaus funktional erwies. Als zentralem Kriterium nicht nur liturgische Lernvollzüge, sondern gelingenden gottesdienstlichen Erlebens kristallisierte sich das Kriterium der Partizipation heraus. Die breit angelegte Beteiligung an der Vorbereitung und Durchführung durch Laien sowie stark sozial interaktive Formen erwiesen sich auf nur schwer umsetzbar und darüber hinaus für den volkskirchlich geprägten Gottesdienst als nicht überzeugend. Auch vor diesem Hintergrund war nach der Beteiligungsqualität rituellen Handelns zu fragen. Rituelles Handeln, so wird in dieser Arbeit argumentiert, setzt eine Haltung der Akzeptanz gegenüber den konkreten Formen voraus. Diese zu fördern und Möglichkeiten zu schaffen, mit den Formen vertraut zu werden, ist Aufgabe sowohl liturgiedidaktischer wie unmittelbar liturgischer Praxis. Der Gottesdienst wird nie im Ganzen allein nach rituellen Kriterien organisiert und gestaltet werden. Dort, wo dies jedoch bewusst geschieht, sollten die Regeln rituellen Handelns bedacht werden. Diese anhand neuerer Ritualtheorien zu erarbeiten, wird eine zentrale Perspektive im zweiten Teil dieser Arbeit sein. 1.4 Zusammenfassung Im Eingangskapitel dieser Arbeit wurde als Grundlage für die Frage nach der Ritualität des Gottesdienstes und des Gottesdienstes als Ritual eine historische Einbettung vorgenommen, die vor allem zwei teilweise gegenläufige Prozesse zum Vorschein brachte. Zum einen wurde das umfassende Krisenbewusstsein anschaulich, welches spätestens seit Mitte der 1960er Jahre über ein Jahrzehnt hinweg Gesellschaft, Kirche und Theologie bewegte und sämtliche Institutionen, institutionalisierte Praktiken und Rituale in Frage
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stellte. Die beschriebe Verbindung von Reformstau und Reformdruck stellte die Liturgik vor die Aufgabe, an einer Reform des Gottesdienstes mitzuwirken, seine öffentliche Wahrnehmung zu verbessern und seiner Gestaltungskriterien und Strukturen genauer zu analysieren. Zum anderen wurde mit Blick auf die ›Entdeckung‹ der Ritualität gottesdienstlicher Vollzüge im letzten Drittel der 1970er Jahre ein Kontext zunehmender Stabilisierung und Normalisierung skizziert (einschließlich des Krisenbewusstseins), der wieder neu nach stabilisierenden kulturellen Handlungsformen fragen ließ. Beides bildet die Ursache sowohl für das kritische Hinterfragen der rituellen Gestalt wie auch der im Folgenden einsetzenden Hinwendung zum agendarischen Gottesdienst und der Auseinandersetzung mit seinen spezifischen »Leistungen« im Kontext moderner, sich säkularisierender Gesellschaft. Die für die Fragestellung der Arbeit dabei gewonnen Erkenntnisse sollen hier noch einmal zusammengefasst werden, um sich anschließend jenen Texten zuzuwenden, die sich explizit mit Ritualität als liturgischer Partizipationsform wie auch mit der praktisch-theologischen Auseinandersetzung mit dem Ritual beschäftigen. Seit Mitte der 1960er Jahre vollzog sich ein tiefgreifender Wandel im Verhältnis von Religion und Gesellschaft, der im Rahmen einer umfassenderen sozialen Neuordnung und Ausdifferenzierung stand. Religiöse Bindung und Partizipation an kirchlichen Angeboten, die sich vor allem im Gottesdienstbesuch äußerten, wandelten sich von einer sozialen Verpflichtung zu einer Option (1.1.1). Daraus resultierend sank die Zahl der (regelmäßigen) Gottesdienstbesucher. Während zum einen neue Formen der Freizeitgestaltung sich entwickelten und eine Aufwertung des Privaten und Familiären bedeuteten, äußerte sich auf der anderen Seite ein verstärktes gesellschaftliches Bedürfnis nach Partizipation und Mitgestaltung. Auch die Kirchen reagierten auf diesen Mentalitätswandel. Theologisch öffnete man sich für eine positive Sicht auf die Moderne, suchte interdisziplinäre Anschlüsse herzustellen und war bemüht um ein anderes, dialogisch geprägtes Kommunikationsverhalten. Theologische Untersuchungen und kirchenleitendes Handeln wurden vermehrt im Modus des Fragens vollzogen. In diesem Zusammenhang steht auch die vermehrte Erhebung empirischer Daten rund um die KMU von 1972. Sie diente einem erstmaligen Gesamtüberblick über die religiösen Bedürfnisse und Überzeugungen der Kirchenmitglieder. Zwar spielte eine bessere Kenntnis des Kirchgangsverhaltens und der Erwartungen der Gemeindeglieder eine wichtige Rolle bei dem Ziel, die Gottesdienste »attraktiver« zu gestalten. Zugleich aber wurde sich die Kirche neu ihres volkskirchlichen Charakters bewusst, der sich überraschend stark in traditionelleren Formen bei Gottesdiensten und Kasualien ausdrückte. Der damit verbundenen Verantwortung konnte man nur dann gerecht werden, wenn die unterschiedlichen Formen von Bindung und Engagement in positiver Weise gewürdigt und die hinter mancher Distanz zur Kirche verborgenen religiösen Bedürfnisse ernst genommen werden.
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Es ist deutlich geworden, dass das kirchliche Verhalten nur unzureichend verstanden wäre als bloßes Reagieren auf einen äußeren Wandel. Diesen in seiner Komplexität zu erfassen gelingt wiederum nur dann, wenn der Säkularisierungsbegriff nicht einseitig als Entkirchlichung verstanden wird, sondern als Ausdifferenzierung des Verhältnisses der sozialen Akteure zueinander. Folglich gilt dann auch die Kirche als wichtiger Akteur und gestaltende Kraft dieses Wandels – nicht zuletzt, weil in ihr dieselben Tendenzen und Bedürfnisse aktiv waren, die sich auch gesellschaftlich engagierten (1.1.2). Praktisch sichtbar wurde die gestaltende Rolle der Kirche beim Wandel der gottesdienstlichen Kommunikation, die zur Einführung von »Gottesdiensten in neuer Gestalt« führten, die auch medial Anschluss an die Moderne suchten (1.3.2.2). Die zunächst als Experimente gedachten Gottesdienstformen kamen bereits um 1960 herum auf und fanden bereits vor dem Symboljahr 1968 weite Verbreitung.130 Für die Selbstwahrnehmung der Kirchen und auch des Gottesdienstes bedeutete dies gleichwohl eine Zeit der Krise, die keineswegs auf Deutschland beschränkt blieb (1.3.1). Es war folglich überaus plausibel, dass sich die kirchliche wie liturgische Aufmerksamkeit vor allem auf die sich ständig vergrößernde Zahl von Alternativen zum agendarischen Gottesdienst richtete (1.3.2). Verständlich war auch, dass intensive liturgische Weiterarbeit vor allem an jenen Formen stattfand, die der gesellschaftlichen Dynamik zugänglich erschienen. Zumal in jenen »anderen« Gottesdiensten moderne Werte wie Partizipation, Spontaneität, Pluralität und Erleben von Beginn an konstitutive Bestandteile waren; statt fester Ordnungen und Verweisen auf sanktionierende Traditionen waren die Beteiligten eingeladen, selbst aktiv zu werden, ihre Überzeugungen einzubringen und in unmittelbarer Weise aktuelle Themen zu behandeln – der mitunter im Rückblick festzustellende Aktionismus war eine Begleiterscheinung zahlreicher positiver Entwicklungen. Die Formen liturgischer Zeitgenossenschaft verbanden sich vor dem Hintergrund der Kritik und Skepsis gegenüber Institutionen und institutionalisierten Verhaltensformen häufig mit Kritik am traditionellen Gottesdienst. Dieser litt zwar – unter anderem – an strukturellen Mängeln wie auch an fehlender liturgischer Sorgfalt, nicht weniger dramatisch war jedoch ein Wahrnehmungsproblem. Zugespitzt kam er nur als »unzeitgemäße« Veranstaltung mit extrem eingeschränkter sozialer Reichweite in den Blick, als Inbegriff eines auf sich selbstbezogenen, in historischen Formen erstarrten Christentums. Der für den Gottesdienst vehement geforderte Aktualitätsbezug, so schien es, müsse in den rituell geprägten Gottesdienst erst explizit auf inhaltlicher Ebene hineingebracht werden. 130 Die von Robert Leuenberger in Basel durchgeführte Erhebung zeigt zum Beispiel, dass dort bereits 1964 Familien-, Dialekt-, Diskussions- oder ökumenische Gottesdienste fest etabliert waren (Gottesdienst – Angebot ohne Nachfrage? Zwei Umfragen unter der reformierten Bevölkerung Basels, Basel 1969, 61). S. u. Anm. 228.
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Und dennoch stand die »Entdeckung des Rituals« zugleich in Verbindung mit einer gegenläufigen Entwicklung, die mit dem Vorzeichen der Konsolidierung belegt war. Vor dem Hintergrund der politischen Stabilisierung seit Mitte der 1970er Jahre und der immer stärker sich ausprägenden, gesättigten Wohlstandsgesellschaft, setzte auch im Bereich des Gottesdienstes eine gewisse Ernüchterung und Müdigkeit gegenüber dem Experimentieren als liturgischem Standardmodus ein.131 Zumal die einst experimentellen Formen aus dem Umfeld der Kirchentage oder der Jugendarbeit selbst einer Institutionalisierung und Verstetigung unterworfen waren. Auch die Theologie konstituierte sich jenseits kirchlicher Existenzängste dauerhaft als Dialogwissenschaft. Vor allem auf dem Gebiet der praktischen Theologie suchte sie die Verbindung zu Soziologie, Pädagogik, Linguistik oder Psychologie. Auf diesem Weg erlangte sie auch neue Einsichten über die stabilisierende und identitätsstiftende Funktion ihrer traditionellen Handlungsformen wie dem stark ritualisierten agendarischen Gottesdienst. Die besonders enge Bindung an soziologische Fragestellungen resultierte in einer deutlich funktional orientierten Perspektive empirischer Untersuchungen. Die Verbindung von theologischen und humanwissenschaftlichen Zugängen zur Analyse der neuen Gottesdienstformen, wie sie besonders bei Dieter Trautwein erfolgte, legte es früher oder später geradezu nahe, nicht nur nach dem theologischen, sondern auch nach dem seelsorgerlichen, diakonischen, spirituellen, sozialen und oikodomischen Proprium des klassischen Gottesdienstes zu fragen (1.3.2.4). Zu ergründen, was dieser Gottesdienst – als Ritual – also anderes und eigenes zu leisten vermag, was in den neuen Formen nicht vorkam, lag somit ebenfalls auf der Linie der liturgischen Konsolidierung der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Dass nun auch theologisch eine Grundhaltung vorherrschte, die den Gottesdienst weniger deduktiv und dogmatisch, sondern von seiner empirischen und anthropologischen Grundlage her bestimmen wollte, barg dabei erhebliches Potenzial für dessen Wahrnehmung und Wertschätzung. In Anerkennung der berechtigten Kritik am tatsächlich gefeierten agendarischen Gottesdienst konnte die Bezugnahme auf die Tradition nicht mehr als hinreichendes Kriterium agendarischer Formen dienen. Die veränderte gesellschaftliche wie innerkirchliche Diskurspraxis forderte die Liturgik heraus, bei der Begründung einerseits auf anthropologische, psychologische und soziologische Einsichten zurückzugreifen. Nicht zuletzt der Rückgriff auf den Ritualbegriff muss als Resultat dieser Bemühungen verstanden werden. Andererseits musste sie deutlich machen, wie die Liturgie auch in dieser Gestalt 131 Christoph Meiers nachträgliche Bewertung des Krisenbewusstseins seit Mitte der sechziger Jahre dürfte nicht nur aus historischer Perspektive zuzustimmen sein: »Eine der grundlegenden Fehleinschätzungen der Lage dürfte die zunächst scheinbar selbstverständliche Annahme gewesen sein, daß die Krise des Gottesdienstes in diesem selbst ihre Ursache habe« (Der Gottesdienst, 192). Das »Problem« des agendarischen Gottesdienstes dürfte damals wie heute weniger ein Tatsachen-, als ein Wahrnehmungsproblem sein, was nicht zuletzt in einem unzureichenden Begriff und Verständnis ritueller Handlungen seine Ursache hat.
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zwar nicht prima facie politisch oder diakonisch ist, auf politische und diakonische Ansprüche des Glaubens aber gleichwohl Bezug nimmt. Auf dieser Linie kann die Argumentation des Strukturpapiers verortet werden. Das Strukturpapier von 1974 kann bereits zu den Anfängen der liturgischen Konsolidierung gezählt werden. Hier wurde der Versuch unternommen, die beiden sich gegenüberstehenden liturgischen Grundformen von agendarischem Gottesdienst auf der einen und »freien« Gottesdiensten auf der anderen Seite mithilfe einer übergreifenden Struktur zu verbinden und auch zu integrieren (1.3.1). Dass das Leitprinzip der Gestaltung sich dabei unausgesprochen wesentlich stärker an den neuen Formen und deren gottesdienstlicher Kultur orientierte, zeigte sich auch im Hinblick auf den Ritualbegriff des Dokuments (1.3.3.3.3). Über den Strukturbegriff fanden spezifische Deutungen des Beteiligungs- und Gestaltungprinzips ihren Weg in den agendarischen Gottesdienst, jedoch die kaum geeignet waren, das Eigentümliche der rituellen Handlungsform zu erfassen. Die Ausführungen zum Strukturpapier standen am Abschluss des hinführenden Überblicks über die gesellschaftlichen, kirchlichen, theologischen und liturgischen Entwicklungen, weil hier die unterschiedlichen Faktoren der umfassenden Transformation geradezu in nuce aufgezeigt werden können. Zugleich wird hier ein spezifisches Verständnis des Gottesdienstes grundgelegt, das auch gegenwärtig dominiert. Im weiteren Verlauf der Studie soll ausgehend von den kritischen Überlegungen Bernd Wannenwetschs zum Gestaltungsparadigma die Frage verfolgt werden, ob nicht gerade im agendarischen, rituellen Gottesdienst Normativität und Kreativität, Reflexivität und Kritik in spezifischer Weise verbunden sind, die eine Modifikation des Ritualbegriffs evangelischer Liturgik erlaubt. Es ist zu prüfen, ob nicht gerade im Hinblick auf die rituelle Praxis und die darin auftauchenden Handlungs- und Denkmuster die theologischen Anfragen an Gestaltungs- wie Verstehensparadigma verifiziert und womöglich sogar vertieft werden. Mit einem derart veränderten Ritualbegriff könnten schließlich Ansätze einer neuen Bewertung ritueller Handlungsvollzüge und der Chancen des agendarischen Gottesdienstes gewonnen werden.
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2 Vom ›Ritualismus‹ zum ›Ritual‹ Der Ritualbegriff in den 1970er Jahren Im ersten Kapitel wurden das Nebeneinander von gesellschaftlichen Aufbrüchen und Konsolidierung, von liturgischen Experimenten und der neuen Suche nach sinnlichen und erfahrungsbezogenen Dimensionen als Faktoren beschrieben, die verstärkt rituelle Bedürfnisse hervorriefen und zugleich die Auseinandersetzung mit ritualtheoretischen Fragen beförderten. Auf die Beschreibung des Kontextes der »Entdeckung« des Rituals innerhalb der evangelischen Liturgik folgt nun eine genaue Auseinandersetzung mit Autoren und Forschungsstudien, die sich seit Beginn der 1970er Jahre explizit der Frage nach dem Gottesdienst als Ritual widmeten. Ein Blick auf die fächerübergreifenden Veröffentlichungsstatistiken macht deutlich, dass die Beschäftigung mit Ritual und Ritualtheorie keineswegs eine Besonderheit der Theologie waren. Seit dem Jahr 1970 lässt sich in zahlreichen Disziplinen ein starker und seither stetiger Anstieg an Publikationen auf diesem Gebiet erkennen.132 Werner Jetters 1978 erschienene Monografie Symbol und Ritual bildet für die folgende Darstellung einen Fluchtpunkt, da sie innerhalb der evangelischen Liturgik seither das einzige, ausschließlich dieser Thematik gewidmete Werk geblieben ist. Zugleich zeigt sich mit Blick auf andere Arbeiten im historischen Umfeld mit ähnlichem thematischem Fokus, inwiefern das Werk breit diskutierte Fragen aufgriff und bündelte. Immer wieder lässt in diesem historisch orientierten Durchgang beobachten, wie die geläufigen protestantischen Vorbehalte gegenüber dem Ritual aufgesprengt und einem evangelischen Gottesdienstverständnis unter der Bedingung volkskirchlicher Gottesdienstpraxis zugeführt wurden. Der Aufriss und die Aufgabenstellung dieses Kapitels stellt sich wie folgt dar: In einem ersten Abschnitt wird nach dem zeitlichen Beginn für ein gewandeltes Ritualverständnis gefragt (2.1). Die weitere Entwicklung wird in der Unterscheidung dreier Stränge nachgezeichnet, die gleichermaßen das Phänomen der Ritualität in den Blick nahmen. Ein erster Strang richtete sein Interesse auf die Unterscheidung unterschiedlicher Frömmigkeitstypen samt ihren Implikationen für die religiöse Praxis (2.2). Ein zweiter Strang steht unmittelbar in Verbindung mit der Wahrnehmung der Kirche als »Volkskirche« infolge der Auswertung der ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), in der die dominierende kirchliche Partizipationsform mit dem Be132 Einen guten Überblick erlaubt Googles Ngram Viewer. Dieser zeigt für die deutschsprachigen Publikationen mit dem Titelstichwort »Ritual« im Verhältnis zum gesamten Publikationsvolumen einen Anstieg um 500 % beginnend im letzten Drittel der 1960er Jahre, der ungebrochen bis 2004 anhielt und seither auf diesem Niveau konstant bleibt (vgl. http://bit.ly/20Bj5qw).
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griff der »Kasualkirche« zusammengefasst wurde. Kasualtheoretische Überlegungen führten dabei auch zu unterschiedlichen Ritualdefinitionen (2.3). Einen dritten Strang schließlich bilden die empirischen kirchen- und religionssoziologischen Studien, die ihren Fokus direkt auf den Gottesdienstbesuch richteten. Neben den beiden großen Umfragen der katholischen Bistümer und der VELKD Anfang der 1970er Jahre sollen auch frühere Studien in Bezug auf rituelle Teilnahme am Gottesdienst befragt werden (2.4). Den Abschluss dieses Kapitels bilden die Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit Werner Jetters Werk Symbol und Ritual (2.5).
2.1 Woher kommt das ›Ritual‹? Der Anfang des neueren Diskurses Die von Frieder Schulz 1975 an die Theologie gerichtete Warnung, sie müsse achtgeben, »daß das Evangelium nicht in der Religion ertrinkt und im Ritual erstickt«, war bereits zitiert worden.133 Seit Beginn der 1970er Jahren trat ein Wandel ein, der den hier noch zum Ausdruck kommenden negativ geprägten Ritualbegriff zunehmend verdrängte und der keineswegs auf die Theologie beschränkt war. 1971 erschien in der u. a. von Werner Jetter herausgegebenen Zeitschrift Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft ein Themenheft, das mitten auf der Schwelle dieses Umbruchs zugunsten einer veränderten Rezeption des Begriffs innerhalb der Liturgik lag. Das in diesem Heft zitierte Flugblatt der Studentengemeinde in Münster von 1971 zeugt in seiner Kritik der gegenwärtigen Abendmahlspraxis noch ganz vom alten Tonfall: »Der Ritualismus findet seinen Höhepunkt in einer Art, das Abendmahl zu feiern, die von uns als abstoßend und inhaltsleer empfunden wurde. Hier wird kein Versuch des Erklärens oder Nahebringens gemacht, hier wird eine ›magical mystery tour‹ praktiziert.«134 Exemplarisch wird deutlich, wofür Rituale in dieser Zeit gemeinhin stehen: inhaltliche Leere, geistloser Vollzug ohne ein Verstehen und ohne Vermittlungsbemühungen zwischen überkommener Form und Gegenwart. Auch diese kritische Sicht war keineswegs eine Eigenart der Theologie.135 Während also in der unmittelbaren Gemeindearbeit gottesdienstliche Formen, die stärker auf kognitive und intellektuelle Auseinandersetzung zielten, die liturgische Zukunft zu verheißen schienen, zeigte sich im Themenheft die prognostische Stärke Praktischer Theologie. Im Vorwort heißt es in deutlich unterschie133 Vgl. o. Anm. 122. 134 Zitiert im genannten Themenheft bei Johannes L hnemann: Gottesdienst als Fest? Aspekte eines Abendmahls für die junge Generation, in: WPKG 60 (1971), 553–559, 553. 135 Vgl. etwa den Beitrag des Pädagogen Diethart Kerbs: Das Ritual und das Spiel – über eine politische Dimension der ästhetischen Erziehung, in: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung 1 (1970), 40–47, der das Ritual mit der Ausübung seelischen Drucks und der Neutralisierung oder Verschiebung von Konflikten assoziert und es ohnehin »eher zu einer repressiven und magisch orientierten […] Kultur« (aaO., 46) gehörig betrachtet.
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denem Duktus: »Es scheint jedoch, daß die erste Phase des freudigen Drauflosexperimentierens zuende geht, – man fragt nach etwas dauerhafteren, auch wiederholbaren und rituell praktizierbaren Formen.«136 Ein tragfähiger Weg, die Ansprüche der unterschiedlichen Gottesdienstformen zu integrieren, war kaum absehbar, zumal angesichts der Überzeugung, das Ritual habe doch »immer eine emotional stabilisierende Funktion«137. Der geforderte sozialkritische und politische Anspruch neuerer Liturgien schien damit gänzlich unvereinbar. In jenem Themenheft erschien auch der Aufsatz des »cand. theol.« Otto Seydel, Spiel und Ritual. Ihm kommt das Verdienst zu, zum ersten Mal einen humanwissenschaftlich geprägten und positiv besetzten Ritualbegriff in die evangelische Liturgik eingeführt zu haben.138 Seydels Aufsatz steht im Kontext der bereits beschriebenen Integrationsbemühungen zwischen traditionellem Gottesdienst und »zweitem Programm« (1.3.3.3.4). »Traditionalisten« und »Reformern« könne jeweils ein »sozialpsychologisch definierbarer Verhaltenstypus« zugeordnet werden, der sich in einer jeweiligen Präferenz der Sozialformen »Ritual« und »Spiel« niederschlägt.139 Diese bilden für Seydel aber keine Gegensätze, sondern stehen in komplementärem Verhältnis zueinander. Es gelte daher, die Vorzüge beider Formen für die Reform des Gottesdienstes fruchtbar zu machen. Eine Einbindung spielerischer, stärker subjektiver Elemente in den von rituellen, objektiven Strukturen geprägten Gottesdienst vermeide etwa eine ›gesetzliche‹ und sakralisierende Verabsolutierung des Rituals. Umgekehrt schütze der rituelle Rahmen die spielerische Freiheit vor »anarchistischer Auflösung«. Der gesellschaftliche und politische Kontext der Zeit fließt erkennbar in die Darstellung ein. Für seine Bestimmung dessen, was Rituale sind, greift Seydel auf die Theorien von mile Durkheim (Soziologie), Sigmund Freud (Psychologie), Erik Erikson (Entwicklungspsychologie) und Konrad Lorenz (Ethologie) zurück. Die interdisziplinären Ansätze harmonisierend ließen sich Seydel zufolge vier Kennzeichen von Ritualen heraustellen: das Herstellen geschichtlicher Kontinuität, ein symbolischer oder hinweisender Charakter, der im Ritual durchweg vorausgesetzte wie zugleich generierte soziale Zusammenhang sowie ihre ordnungsstiftende Funktion. Anders als beim Phänomen des Spiels handele es sich um ein »relativ eindeutiges, eng umgrenztes Phänomen«.140 136 137 138 139
Peter Cornehl/Wolf-Dieter Marsch: Vorwort, in: WPKG 60 (1971), 505 f., 505. Ebd. Dies gilt für die Liturgik im engeren Sinn, zur Kasualtheorie s. u. 2.3, bes. Anm. 177. Otto Seydel: Spiel und Ritual. Überlegungen zur Reform des Gottesdienstes, in: WPKG 60 (1971), 507–515, 507. 140 AaO., 510. Auch Werner Jetter empfand die Festlegung auf vier Kennzeichen als willkürlich (vgl. Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 21986 [1978], 108, Anm. 22).
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Seydel etabliert nicht nur den in allen folgenden Publikationen nicht mehr weichenden Hinweis auf die Ambivalenz des Rituals, der die ritualkritische Grundhaltung des Protestantismus wie einen dauerhaften Schatten aufgenommen hat.141 Auch im Blick auf die Entgegenstellung von Ritual und Kritik, die Betonung der »symbolischen Qualität« von Ritualen, ihrer Deutung als Kommunikationsmedien sozial geteilter Werte und Weltdeutungen sowie in Bezug auf ihre funktionale Beschreibung, als Faktoren für »soziale Geborgenheit, kognitive Geschlossenheit und emotionale Sicherheit«142, werden bei Seydel Fragestellungen eingeführt, die in späteren Publikationen zwar vertieft, zunehmend aber zu stetig angeführten und kaum hinterfragten Gemeinplätzen werden. In der Feststellung, das theologische Selbstverständnis des evangelischen Gottesdienstes sei zwar kultkritisch, der Gottesdienst selbst aber durch »ausgeprägte Züge ritualisierten Verhaltens« bestimmt, klingt bereits Jetters Diktum vom »kultisch-akultischen Credo des Protestantismus« an. Eine Erwähnung von Seydels Aufsatz fehlte lange Zeit in keiner Publikation, die sich mit der Ritualität des Gottesdienstes auseinandersetzte. Bis zu einer breiteren Rezeption der Thematik innerhalb der Liturgik vergingen indes noch einige Jahre. 2.2 Ritualität als Frömmigkeitstypus Frömmigkeit und Religiosität äußern sich auf unterschiedlichste Weise im Leben von Menschen. Ihre primären Erscheinungsformen können auf dem Gebiet der Diakonie, der intellektuellen Auseinandersetzung oder eben ritueller Handlungen liegen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemühte man sich verstärkt um eine Typologie von Frömmigkeitsstilen, an der Religionswissenschaft und Kirche gleichermaßen interessiert waren. Ziel war es zum einen, religionsübergreifend gültige Kriterien und Merkmale von Religiosität zu entwickeln. Dadurch konnte man die für empirische Untersuchungen notwendigen Analyseraster erstellen, die etwa die religiöse Pluralität der volkskirchlichen Situation in Deutschland genauer beschreibbar machten. Zum anderen bestand die konkrete Hoffnung, auf diesem Weg die nachlassende Partizipation an kirchlichen Angeboten nachvollziehen und darauf reagieren zu können. Im Rückblick lässt sich aus solchen Studien nicht nur der jeweils leitende Ritualbegriff rekonstruieren. Die Interpretation der dabei erhobenen empirischen Befunde bietet darüber hinaus Einblicke in rituelle liturgische Verhaltensweisen und erhellt insbesondere das Selbstverständnis der Handelnden. 141 Wiederum am ausführlichsten reflektiert bei Jetter (s. u. 2.5.2.2). 142 Seydel: Spiel und Ritual, 510.
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2.2.1 Kirchliche Bindung und liturgische Bedürfnisse (F. Fürstenberg, E. Stammler) Bereits 1959 setze sich der Soziologe Friedrich Fürstenberg angesichts »eines durch nichts aufzuhaltenden sozialen Funktionsverlustes der Kirche« mit dem Strukturwandel protestantischer Frömmigkeit auseinander. Infolge des pietistischen Erbes sah er den Bereich der Frömmigkeit im Protestantismus ganz der Innerlichkeit des Menschen zugeordnet und daher äußerlich nur schwer überprüfbar. Diese Wertung habe zu einem »Verfall objektiver in der Sitte begründeter Frömmigkeitsformen zugunsten eines subjektiven ›Privatverhältnisses‹ zu Gott«143 geführt. Daraus resultierten nicht zuletzt Vorbehalte gegenüber jeglicher »Messung« der Frömmigkeit, wie sie einer Frömmigkeits»Typologie« zugrunde lägen. Daher schlug Fürstenberg vor, nicht primär auf den statistisch erfassbaren Kirchenbesuch und die Kasualpraxis als kirchlich gebotener Handlungen zurückzugreifen. Stattdessen müsse man zur Bestimmung des »Ausmasses« von Frömmigkeit »immer auf subjektive Einstellungen Bezug nehmen«.144 Fürstenberg unterscheidet dabei – noch ohne empirische Datenerhebung – drei Frömmigkeitstypen, die quer durch alle gesellschaftlichen Schichten existierten. Der gesamtkirchlich wie gesellschaftlich zunehmend marginalisierte Typus A bezeichnet eine traditionsorientierte, »gemeinschaftsverbundene Frömmigkeit«. Ihr sei eine »mangelnde Anpassung an die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft« zu attestieren. Die Mehrheit der Kirchenmitglieder lasse sich im Typ B, dem »autonomen Weltchristen protestantischer Prägung« zurechnen und nur er erlaubt es »dem Protestantismus gestattet, sich noch immer als Volkskirche zu verstehen«.145 Beim »säkularen Typ« (C) schließlich sei Frömmigkeit zu einem »gelegentlichen Randerlebnis« geworden. Religiöse Fragen würden hier ausschließlich intellektuell erfasst, um aus ihnen »Massstäbe einer säkularisierten Ethik« zu gewinnen. Interessanter als die Typologie ist von das Fürstenberg dabei diagnostizierte Dilemma: Um die Frömmigkeitskrise der Mehrheit der Kirchenmitglieder zu überwinden, bedürfe es der erwähnten »objektiven Formen«. Sie ermöglichen »emotionelle [sic] Sicherheit« und sind nicht zuletzt für die »Gemeinschaftsstabilisierung« unerlässlich. Doch seien diese nicht in der nötigen Weise verfügbar: »Hunderte von Jahren alt … lassen [sie] den modernen Menschen fast unberührt.«146 Lediglich innerhalb von Typ A würden sie noch gepflegt.Damit entwirft Fürstenberg geradezu eine Vision eines ri143 Friedrich F rstenberg: Der Strukturwandel protestantischer Frömmigkeit als soziologisches Problem, in: ASRel 4 (1959), 71–80, 73. 144 AaO., 74. 145 AaO., 75. 146 AaO., 79.
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tuellen Frömmigkeitstypus, der die soziologische Enge von Typ A zu überwinden und den Alltag zu integrieren vermag. Angesichts der Glaubenskrise müsse man sich auf wiederholbare Formen besinnen, ohne dass diese autoritär sanktioniert sein dürften: »Vielleicht ist in der protestantischen Theologie zuviel Gewicht auf die religiösen Ausnahmesituationen (Bekehrung, Wandlung) gelegt worden, und zuwenig Augenmerk hat sich auf die kontinuierliche Glaubenspraxis selbst gerichtet. Mit anderen Worten: Ein überindividueller Frömmigkeitsstil, und das ist die Voraussetzung für ein religiöses Gemeindeleben, kann sich nur bilden, wenn auch der alltägliche Mensch in der Kirche seinen Platz hat und wenn objektive Frömmigkeitsformen über die dürren Strecken des Lebens hinweghelfen, auf denen keine Erleuchtung zuteil wird.«147
Auch Eberhard Stammler unternahm bereits 1960 den Versuch, eine »Typographie der Kirchlichkeit« zu entwerfen. Sein Ziel war es, die im Selbstverständnis der Gemeinden vorherrschende Dichotomie von »Kerngemeinde« und »Rest«, von »Innen« und »Außen« zu überwinden.148 Dazu fragte er nach möglichen Gruppierungen, die sich anhand ihrer kirchlichen Partizipationsformen differenzieren lassen. Stammler unterscheidet unter den Kirchenmitgliedern mit jeweils zunehmender kirchlicher Bindung »religiös Indifferente«, »religiös Interessierte«, »kirchlich Interessierte«, »kirchlich Gebundene«, »kirchlich Aktive« sowie die »Amtsträger«.149 Der »religiös Indifferente«, »der äußerste Grenzbewohner der Kirche«, ließe sich in der Gruppe jener finden, welche in früheren Zeiten »ohne individuelles religiöses Engagement« am Sonntagsgottesdienst teilgenommen hätten und heute aus Traditionsbewusstsein und um des sozialen Prestiges willen ihre Kirchenmitgliedschaft aufrecht erhielten. Die auf Inanspruchnahme von Kasualien orientierte Kirchlichkeit wird von Stammler jedoch positiv bewertet: Sie bringe »religiöse Ehrfurcht« zum Ausdruck und sei zudem in der Lage, Diskrepanzen aus zwischen der eigenen und der kirchlich 147 Ebd. 148 Stammlers Ansatz steht exemplarisch für eine Vielzahl von Arbeiten, die sich bereits Ende der 1950er Jahre kirchensoziologischen Fragen widmeten und deren Beachtung zugleich die Genese der sogenannten zweiten empirischen Wende beleuchtet. Stammler zufolge müsse es darum gehen, die »Leiblichkeit [des Leibes Christi] bewußt ein[zu]bezieh[en]« und daher auch dem »›Humanum‹ mit all seinen psychologischen, soziologischen und anthropologischen Dimensionen einen theologisch-ehrlichen Ort in der Verkündigung« einzuräumen (Protestanten ohne Kirche, 41). Vergleichbare multiperspektivische Ansätze finden sich etwa bei Trutz Rendtorff: Die soziale Struktur der Gemeinde. Die kirchlichen Lebensformen im gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart. Eine kirchensoziologische Untersuchung, Hamburg 1958; Reinhard Kçster: Die Kirchentreuen, Stuttgart 1959; Dietrich Goldschmidt/ Franz Greiner/Helmut Schelsky (Hg.): Soziologie der Kirchengemeinde, Stuttgart 1960; Justus Freytag: Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht, Hamburg 1959 oder Klaus v. Bismarck: Kirche und Gemeinde in soziologischer Sicht, in: ZEE 1 (1957), 17–30. 149 Vgl. dazu und im Folgenden Stammler: Protestanten ohne Kirche, 13–28.
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sanktionierten Überzeugung auszuhalten, etwa zur Begründung der Taufe, »wenn er [sc. der Indifferente] vom Pfarrer zu hören bekommt, daß er auf ›falschen‹ und ›irrigen‹ Voraussetzungen diesen Akt vollziehen lasse.« Der »kirchlich Interessierte« wird geradezu ironisch als »Hinterbänkler« beschrieben, womit sein Platz im Kirchenraum bei Gottesdiensten benannt ist, den er zudem nur an »besonderen Knotenpunkten« aufsucht. Die »kirchlich Gebundenen« bilden Stammler zufolge »das ›Fußvolk‹ der regelmäßigen Gottesdienstbesucher«. Die sonntägliche Praxis stellt für sie eine nicht weiter zu reflektierende, selbstverständliche Ordnung dar, die wie die Autorität der Kirche insgesamt nicht zur Disposition steht. Ihr »Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit« kann dabei »durchaus magische Elemente einschließen«. Mit dieser Fokussierung auf die Ordnungsfunktion von Religion sieht Stammler hier »die Freiheit des protestantischen Wagnisses« preisgegeben. Die empfundene Stabilität sei zudem trügerisch, da sie tiefgreifende biographische Krisen womöglich nicht zu überstehen vermag. Stammler geht es weniger um kirchliche Reformen, als um eine erweiterte Wahrnehmung und Legitimität unterschiedlicher Formen von Kirchlichkeit. Die bisweilen holzschnittartige Charakterisierung macht seine Antipathie gegen allzu enge kirchliche Bindung ebenso deutlich wie sein Plädoyer gegen ein auf das Kleinbürgertum verengtes Kirchenbild.150 Für den Gottesdienst als Ritual ergibt sich ein durchaus ambivalentes Bild. Die vor allem von kirchlich Distanzierten gepflegte Kasualreligiosität wird einerseits positiv gedeutet im Hinblick auf die darin ausgedrückten Werte. Sie steht für Traditionsbewusstsein, religiöse Ehrfurcht sowie eine eigenständige Auslegung der kirchlichen Handlungen, die sich eine gewisse Unabhängigkeit von kirchlichen Vorgaben und Deutungen bewahrt. Die für die Taufe nötige innere Zustimmung beziehe sich hier weniger auf die Institution Kirche als auf die formalisierte Handlung selbst. Andererseits werden diese Formen von Religiosität von Stammler als vorreflexive bzw. unreflektierte Praktiken gedeutet. Dieses Moment taucht auch in der Beschreibung der regelmäßigen Gottesdienstbesucher erneut auf und wird hier negativ verstärkt. Bereits durch die Rede vom »Fußvolk« wird dieses Handeln mit der Vorstellung von blindem Gehorsam verbunden. Das Bedürfnis nach Stabilität und Ordnung assoziiert Stammler daher mit einer Oberflächlichkeit, die ohne innerliche Auseinandersetzung – Glaube – auskomme. Kasualien als Rituale werden somit von Stammler wesentlich positiver gewertet als der sonntägliche Gottesdienstbesuch. Dieser wird weniger als unmittelbar religiöse Praxis gedeutet, sondern primär als Ausdruck von Loyalität gegenüber kirchlichen Vorgaben verstanden. Oder anders formu150 Eine Milieuverengung sieht Stammler vor allem im kerngemeindlich dominierenden »konservativen Kleinbürgertum«. In moderaterem Ton hatte bereits v. Bismarck diese Problematik thematisiert (s. o. Anm. 148). Die mangelnde Attraktivität der Kirche für gehobene Bildungsschichten problematisierte später auch die erste KMU (s. u. 2.3.1).
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liert: Während für Kasualien kirchliche Bindung kaum Relevanz besitze, sei diese für den (regelmäßigen) Besuch des Sonntaggottesdienst unabdingbare Voraussetzung.151 Damit dürfte Stammler einer verbreiteten, kirchen- und institutionenkritischen Meinung seiner Zeit Ausdruck verliehen haben.
2.2.2 Die »ritualistische Dimension« der Religion und ihre Operationalisierung (Ch. Glock, U. Boos-Nünning) »We are still far from an adequate understanding of the individual and his religion.«152 So begründet Charles Y. Glock 1962 die Notwendigkeit einer Typisierung religiöser Verhaltensweisen. Glock unterscheidet in einem breit rezipierten Aufsatz zunächst fünf »Dimensionen« von Religion: Erfahrungsdimension (experimental); Überzeugungsdimension (ideological: »the religious person will hold to certain believes«); »ritualistische Dimension« (ritualistic); Wissensdimension (intellectual) und ethische Dimension (consequential). Eine solche Differenzierung von Religiosität macht zugleich deutlich, dass diese Kategorien sich nicht notwendig gegenseitig bedingen: being religious on one dimension does not necessarily imply religiosity on other dimensions«.153 Die möglichen Verknüpfungen aber seien bisher noch nicht erfasst worden. Bei der Erfassung der »ritualistischen« Dimension etwa man sich bisher lediglich auf Kirchgangsstatistiken beschränkt und dabei die private religiöse Praxis vernachlässigt. Zudem seien nicht nur Zustimmung oder Ablehnung, Teilnahme oder Nichtteilnahme zu erfassen, sondern zugleich zu erfragen, was die jeweilige Handlung für den Einzelnen kognitiv wie emotional bedeutet. Religiöses Vertrauen oder Ängste hingegen (Überzeugungsdimension) könnten nur unzureichend unmittelbar erfragt werden. Sie müssten stattdessen anhand ihrer Manifestationen erfasst werden, etwa in Form von Ritualteilnahme, intellektueller Auseinandersetzung oder ethischem Handeln. Glock will also zum einen das Instrumentarium zur Erfassung von Religiosität verfeinern. Zum anderen zielt er darauf ab, die mehr oder weniger ausgeprägten Interdependenzen zwischen den unterschiedlichen Dimensionen aufzuzeigen. Der Begriff der »ritualistischen Dimension« legt nahe, dass eine von Überzeugung und Erfahrung gänzlich unabhängige Handlungspraxis existiere – eine Annahm, die in Verbindung mit generell ritualkritischen Positionen häufig anzutreffen ist (vgl. 4.2). Die Pointe der Argumentation liegt 151 Diese Wahrnehmung dürfte nicht zuletzt mit der stärker familiär ausgerichteten Kasualpraxis in Verbindung stehen. 152 Charles Y. Glock: On the Study of Religious Commitment, in: RelEd 57 (Supplement 4/1962), 98–110, 108. 153 AaO., 100.
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jedoch geradezu in der gegenteiligen Auffassung: Religiosität und ihre jeweiligen Ausprägungen müssen stets multidimensional erfasst werden.154 Inwiefern die Teilnahme an rituellen Handlungen zwingend einen Wunsch nach religiöser Erfahrung sowie spezifische inhaltliche Überzeugungen voraussetzt, wird noch zu fragen sein. Glocks Forderungen, die im Bereich der Religionserfahrungen (experimental dimension) auftretenden emotionalen Reaktionen nicht nur anhand ihrer Extreme (Bekehrung, Ekstase etc.), sondern auch in ihren subtileren Formen der alltäglichen Praxis wahrzunehmen, legt aber zunächst einen anderen Schluss zu: Rituelle Handlungen können die Grundlage bilden, solche Überzeugung auszubilden und Erfahrungen zu machen. Wie Stammler versucht hatte, die Wahrnehmung der sozialen Formen von Kirchlichkeit zu erweitern, so tat Glock dies in Bezug auf Religiosität generell und verknüpfte die »ritualistische« Dimension von Religion von mit einer individuellen Bedeutungsebene. Ob Glocks Kategorisierungen hinreichend, unvollständig oder redundant seien und inwiefern sie im Licht späterer empirischer Studien tatsächlich voneinander abhängen, wurde seither vielfach diskutiert.155 Diese Frage stand auch im Hintergrund der Untersuchungen von Ursula Boos-Nünning, mit der hier die Brücke zur empirischen religionssoziologischen Forschung geschlagen werden soll. Sie erlaubt zudem einen Seitenblick auf die Entwicklung innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Boos-Nünning führte 1970 unter knapp 300 zufällig ausgewählten Katholiken aus einer Großstadt im Ruhrgebiet eine religionspsychologische Studie durch. Bereits dem Titel nach anschließend an Glocks Dimensionen der Religiosität ging es um eine weitere »Operationalisierung und Messung religiöser Einstellung«. Als neuer Faktor trat dabei die Bindung an die Kirchengemeinde hinzu. Einerseits konnte so die von Glock vermutete Interdependenz von Überzeugungen und Handlungen empirisch bestätigt werden, ohne dadurch auf eine generell stärker ausgeprägte ritualistische Dimension von 154 Glocks Ansatz soll etwa bei Detlef Pollack weiterentwickelt werden, der Glaubens- und Erfahrungsdimension zusammenfasst und der ritualistischen Dimension gegenübergestellt sieht. Dadurch soll »zumindest analytisch zwischen Kirchlichkeit als ritualistischer Dimension und Religiosität als Glaubens- und Erfahrungsdimension« unterschieden werden können (Der Zusammenhang zwischen kirchlicher und außerkirchlicher Religiosität in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland, in: Detlef Pollack/Gert Pickel [Hg.]: Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989–1999, Opladen 2000, 294–309, 297). Es bleibt fraglich, ob damit ein tatsächlicher Fortschritt erzielt ist. »Ritualistische« Kirchlichkeit meint einerseits eine nicht ohne Weiteres verständliche Zusammensetzung sehr unterschiedlicher Aktivitäten, Einstellungen und Identitätszuschreibungen (Kirchgang; Vertrauen in die Kirche; Konfessionszugehörigkeit). Andererseits entsteht der Eindruck, die Erfahrungsdimension (»Gefühl der Nähe zu Gotte« sowie allgemein der »Glaube an Gott«), sei unabhängig von institutionalisierter, ritualisierter religiöser Praxis als rein innerliche Religion existent – eine Annahme, die bei bereits bei Glock zurückgewiesen wird. 155 Vgl. ebd.
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Religiosität schließen zu können. Ein hohes Maß an Vertrauen auf Gott etwa korreliert stark mit häufigem Gebet, nicht aber unbedingt mit vermehrtem Gottesdienstbesuch. Auch Glocks Hinweis auf die Bedeutung privater Religionsausübung wurde so fruchtbar aufgenommen. Andererseits schienen »die Dimensionen der religiösen Praxis, des Glaubens, der Erfahrung und des Handelns [aufzu]gehen in dem Faktor ›Allgemeine Religiosität‹«156, die nur schwer weiter differenziert erfassbar ist. Boos-Nünning ging zudem Glocks Anliegen nach, neben statistischen Daten die persönlichen Bedeutungen zu erfassen, welche der Einzelne seinen Handlungen und Überzeugungen zuschrieb. Daraus folgend führte sie die Kategorie der »Bindung« oder »Verbundenheit« ein, dem kurz darauf in der ersten KMU eine herausgehobene Bedeutung zukommen sollte. Es wurde also nicht nur gefragt, wie oft man teilnimmt, sondern auch, wie wichtig dem Einzelnen diese Teilnahme ist. Dabei zeigte sich zum einen, dass der Kirchgang aus Gewohnheit nicht abzuwerten sei, da er doch mit entsprechenden Emotionen verbunden sei. Zum anderen wurde deutlich, dass das »Bindungsgefühl […] von dem tatsächlichen Kirchgangsverhalten unabhängig sein kann«.157 Dies wurde von Boos-Nünning allerdings nur in eine Richtung interpretiert: auch bei geringem Kirchgang könne eine hohe Bindung bestehen. Insofern decken sich der Grad der ritualistischen Bindung mit dem Grad der Bindung an die Institution Kirche. Dieses Ergebnis wird im Rahmen evangelischer Gottesdienstuntersuchungen (2.4) erweitert werden, die auch regelmäßige Kirchgänger mit geringer Kirchenbindung feststellten. Boos-Nünnings Untersuchung der religiösen Dimensionen stand – anders als bei Glock, der im nordamerikanischen Kontext stärker an interreligiösen Fragen interessiert war – bereits ganz im Zeichen der Suche nach den Ursachen des stark nachlassenden Gottesdienstbesuchs. Sie wollte zeigen, dass »[a]us dem Bedeutungsverlust einer vorgegebenen kirchlich definierten Sozialform der Religion […] nicht ohne weiteres auf ein Nachlassen der Religiosität allgemein geschlossen werden« könne.158 Dabei schlägt sich die theologische Unterscheidung von Kirche und Religion nieder (s. o. 1.2.2), die empirisch zur Unterscheidung zwischen »kirchlich formulierter Religiosität« und »kirchengebundener Religiosität« führt. Insofern Religion vermehrt der Subjektivierung und Privatisierung unterliegt, finden eigene Aneignungsprozesse statt, welche kirchliche Normen und Erwartungen gewichten und individuell bewerten. »In der privatisierten und individualisierten Religiosität finden sich starke Überreste traditioneller, kirchlich formulierter und beeinflusster Religiosität, die der Religion dann den Schein der sozialen Ge-
156 Ursula Boos-N nning: Dimensionen der Religiosität. Zur Operationalisierung und Messung religiöser Einstellungen, München 1972, 149. 157 AaO., 80. 158 AaO., 11.
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formtheit verleihen können.«159 Boos-Nünning sah zugleich eine Verschiebung innerhalb der Religiosität von der Praxis zur emotionalen Bindung. Nur dann könne Religion im Leben moderner Menschen als peripher eingeschätzt werden, wenn man sie lediglich mit formeller Kirchlichkeit identifiziere. Dem widerspreche aber die hohe Bedeutung, die der Einzelne ihr zuschreibt.160 Der Verlust der sozialen Dimension von Religion lässt dann aber doch die Frage aufkommen, »welche Überlebenschance eine solche Religiosität besitzt, die weder sozial gestützt noch durch soziale Gruppen getragen wird«.161 Boos-Nünnings Studien machen deutlich, dass die Frage nach einer religiösen Haltung oder Einstellung generell von Bedeutung ist, um Religion empirisch angemessen zu erfassen. Kirchlichkeit in dieser Weise als differenziertes und empirisch jeweils zu verifizierendes Phänomen zu erfassen, wurde seit den siebziger Jahren zur bleibenden Aufgabe praktisch-theologischer Forschung.162 Inwiefern rituelles Handeln selbst von einer bestimmten Einstellung getragen ist und inwiefern diese Einstellung religiös qualifiziert ist, wird noch weiter zu bedenken sein.
2.2.3 Fazit Schon Ende der 1950er Jahre tauchen mit Friedrich Fürstenberg und Eberhard Stammler erste Stimmen auf, die trotz wachsender Entfremdung weiter Kreise der Kirchenmitglieder von den gottesdienstlichen Ritualen an der Bedeutung dieser »überindividuellen« Formen für Glauben und Kirche festhalten. Der Blick fällt insbesondere auf die nach wie vor in der Breite der Gesellschaft verankerte Inanspruchnahme der Kasualien. In einem gesellschaftlichen Umfeld, dass geprägt war von starker Institutionenkritik, galten diese im Gegensatz zum Gottesdienstbesuch nicht als implizite Loyalitätsbekundung gegenüber kirchlich-institutionellen Vorgaben. Mehr und mehr gelangten Kirche und Theologie zu einer breiteren Wahrnehmung religiöser Lebensformen über die Teilnahme an Gottesdiensten hinaus. Mithilfe der von Charles Y. Glock entwickelten »Dimensionen« von Religiosität zeigte sich eine Wechselwirkung zwischen ritueller Praxis und individuellen Glaubensüberzeugungen. Ritualität war damit nicht allein funktional zu bestimmen. Vielmehr verbinden sich hier formalisierte Handlungsregeln mit subjektiver, auch intellektueller Aneignung. Selbst der gewohnheitsmäßige Gottesdienstbesuch kann vor dieser Einsicht nicht einfach 159 AaO., 152. 160 Damit stehen die Erkenntnisse der Studie miteinander teilweise in Spannung: Wie die Entkoppelung von religiöser Praxis und Religiosität und zugleich ihre Verbindung im Begriff der »allgemeinen Religiosität« (s. o.) zu denken ist, wird nicht deutlich. 161 AaO., 157. 162 Vgl. auch Karl-Fritz Daiber u. a. (Hg.): Gemeinden erleben ihre Gottesdienste. Erfahrungsberichte, Gütersloh 1978, 103–112, vgl. dazu 2.4.4.
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als »bloß ritualistisch« bewertet werden. Damit wird deutlich: Ein adäquater Ritualbegriff muss Handeln und Verstehen verknüpfen (s. u. 9.). Mit der beschriebenen Öffnung der Kirche für die gesellschaftliche Wirklichkeit wuchs die Bereitschaft, die faktische Pluralität von Religion wahrzunehmen und an den Ausgangspunkt liturgischer Forschungen zu stellen. Auch im Rahmen praktisch-theologischer Forschungen wurden in der Folge immer wieder Typologien liturgischer Bedürfnisse und Handlungsmuster erarbeitet. William Nagel und Eberhard Schmidt betonten 1974 angesichts der stark divergierenden Ansichten gegenüber modern gestalteten Gottesdiensten, dass die Vielgestaltigkeit des gottesdienstlichen Lebens als irreduzibel betrachtet werden müsse. Neben dem »kultgebundenen« Menschen, der streng auf die Einhaltung des Kultus achtet, und dem »kultoffenen« Menschen, der eine Variabilität der Gestaltung begrüßt, gäbe es schließlich auch »kultfremde« Menschen, die sich von keiner Form des Kultus angesprochen fühlen.163 In diesem Zusammenhang steht auch die Unterscheidung zwischen »rituellfundamentalistischem« und »kritisch-nichtrituellem« Zugang zum Gottesdienst, den Karl-Fritz Daibers u. a. herausarbeiteten (s. u. 2.4.4). Einen ebenfalls vom Erleben ausgehenden Ansatz legte 1996 Eberhard Hauschildt vor. Er unterscheidet »vier Typen liturgischer Erfahrung« und verbindet dabei die Bevorzugung stark ritualisierter Formen mit dem Bedürfnis nach Erfahrungen von »Stabilität«.164 Der Begriff ›Ritual‹ wurde damit zur Deutungskategorie, um religiöse Verhaltensweisen und Präferenzen innerhalb der Gruppe (besonders) religiöser Menschen zu beschreiben. 2.3 Kasualien als Ritualparadigma der Volkskirche 2.3.1 Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Gottesdienst versus Kasualien? Der zweite Strang, über den die Auseinandersetzung mit Ritualen in die liturgische Diskussion um den Sonntagsgottesdienst Einzug hielt, ist mit der verstärkten Fokussierung auf den volkskirchlichen Charakter der Kirchen in Deutschland verbunden.165 Die innerhalb der Volkskirche dominierende Form 163 Vgl. William Nagel/Eberhard Schmidt: Der Gottesdienst, in: Handbuch der Praktischen Theologie, 7–138, 106. 164 Vgl. Eberhard Hauschildt: Die vier Typen liturgischer Erfahrung, in: PTh 85 (1996), 334–343, 338. Ähnlich wie Seydel (s. o. 2.1) sieht auch Hauschildt stabilisierendes Ritual und expressives Spiel als gegenüberliegende und doch aufeinander bezogene »basale Logiken liturgischer Erfahrung« (aaO., 337). 165 Der Ausgangspunkt »Volkskirche« wird bereits im Vorwort markiert: »Bei uns ist die Kirche dank ihrer historischen Entwicklung in besonderer Weise mit den gesellschaftlichen Prozessen verflochten und zur ›Volkskirche‹ geworden. Will sie für die Gestalt ihrer Arbeit und deren Planung von diesem Tatbestand ausgehen und an der volkskirchlichen Struktur festhalten,
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von Kirchlichkeit findet ihr Zentrum in der Inanspruchnahme von Amtshandlungen an biographischen Schwellen. Die verstärkte kasualtheoretische Diskussion seit Mitte der 1960er Jahre mit Rudolf Bohrens Anfrage an Unsere Kasualpraxis – eine missionarische Gelegenheit? von 1968 als Kristallisationspunkt, gewann durch empirische Studien Anfang der siebziger Jahre, allem voran die KMU, noch einmal an Dynamik. Wie bereits dargestellt (1.1.2), diente die KMU von 1972 der kirchlichen Selbsterkundung wie auch der Selbstvergewisserung. Gerade für Letztere war die Frage zentral, welche Angebote die Kirche den Menschen in der modernen Gesellschaft zu bieten hatte, die ihren Bedürfnissen entsprachen und die zugleich nur sie befriedigen konnte. Angesichts der massiv gestiegenen Austrittszahlen und der Tiefstände bei Gottesdienstbesuch und Abendmahlsempfang ergab sich zunächst eine negative Bilanz. Zwar verstanden sich noch immer 24 % der Befragten als mehr oder weniger regelmäßige Kirchengänger. Gleichzeitig gaben aber 37 % an, nie in die Kirche zu gehen, auch nicht an besonderen Tagen oder zu besonderen Anlässen.166 Für die theologische Bewertung des Gottesdienstes als zentraler kirchlicher Veranstaltung war dies eine Herausforderung, die zwar schon länger bekannt war, aber durch die genauen Zahlen noch einmal an Dringlichkeit gewann. Die Autoren der Studie äußerten einerseits deutliche Kritik an der theologischen Überhöhung des Gottesdienstes, in deren Folge Gottesdienstpartizipation zum einzig legitimen Paradigma gelebter Kirchenmitgliedschaft werde und somit im Umkehrschluss die Partizipationsform der Mehrheit der Gemeinde ignoriert. Andere kirchliche Veranstaltungs- und Kommunikationsformate sähen sich dem »Legitimationsdruck« unterworfen, ihre Berechtigung vom Gottesdienst her zu bestimmen.167 Dabei müsse das gottesdienstliche Ritual auch kritisch betrachtet werden, insbesondere die darin etablierten Machtverhältnisse (»das Gegenüber von Pfarrer und Gemeinde«) geraten. Andererseits zog man eine durchweg positive Bilanz: »Die am weitesten reichende Gemeinsamkeit der Evangelischen in ihrem Verhältnis zur Kirche sind die Amtshandlungen«, sodass »die mögliche Bedeutung der Amtshandlungen und ihres homiletischen, katechetischen und seelsorgerlichen Kontextes kaum überschätzt werden« könne.168 Die Kasualien gewährten dann wird sie an sozialempirischen Untersuchungen ihres Erscheinungsbildes interessiert sein und Nutzen daraus ziehen können« (Hild [Hg.]: Wie stabil ist die Kirche?, 1). 166 Nicht zum ersten Mal wurde dabei eine deutliche Diskrepanz ermittelt zwischen dem tatsächlichen Kirchenbesuch und der »gefühlten«, wesentlich höheren Frequenz. Damit korreliert die Tatsache, dass sich unter denen, die nie Gottesdienste besuchen, dennoch Personen finden, die zu sich zumindest »etwas verbunden« mit der Kirche fühlen (vgl. aaO., 52). 167 AaO., 260. 168 AaO., 236. 82 % sprachen sich dafür aus, Kinder taufen zu lassen. Allerdings zeigte sich auch hier die stärkere Distanzierung von kirchlichen Vorgaben mit zunehmendem Bildungsstand sowie unter jüngeren Menschen.
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Zuversicht auf eine relative Stabilität der Volkskirche, besonders da sie gruppenübergreifende Bedürfnisse der Kirchenmitglieder integrierten.169 Noch dazu erwies die Beschreibung der Kasualien als Schwellenrituale die sozialpsychologische Unabdingbarkeit dieser kirchlichen Angebote. Damit könne die auf Kasualien zentrierte Religiosität nicht mehr – wie etwa bei Bohren – als »Entfremdung« oder »Entkirchlichung« beschrieben werden. Vielmehr seien sie als zentrale Orte der biographischen und sozialen Konstruktion von Identität zu verstehen, die auch für die kirchliche Bindung wesentliche Motive enthielten. Die bereits bei Stammler herausgestellte unterschiedliche Bewertung bzw. Opposition von Sonntagsgottesdienst und Kasualien findet sich in der KMU in verstärkter Form und mündete in einen geradezu appellativen Tonfall zugunsten einer Neubewertung und Neugestaltung des Sonntagsgottesdienstes. In seiner gegenwärtigen Gestalt erschien er vor allem als Begrenzung der Möglichkeiten kirchlicher Kommunikation. Als »das Leitmodell kirchlicher Kommunikation« sei er »traditionell verbunden mit einer begrenzten Anzahl von Themen und Symbolen, Denk- und Sprachmöglichkeiten.«170 Problematisch waren für die Autoren aber nicht nur jene Bereiche, in denen die Kommunikation des Evangeliums fehlschlug und gelebter Glaube nicht (mehr) bestand. Sondern auch dort, wo sich die Gemeinden weigerten, aus den theologischen Einsichten die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und stattdessen an ihren »Pfarrerzentrierung«171 oder überkommenen liturgischen Formen festhielten.172 Die lange gepflegte, theologisch motivierte und mit einem Verständnis des Sonntagsgottesdienstes als Zentrum kirchlichen Lebens verbundene Ablehnung rein kasualbezogener Gottesdienstpraxis führte auf Seiten der wissenschaftlichen Theologie immer wieder zu entschiedenen Plädoyers für die Legitimität dieser Praxis, nicht zuletzt durch den Ausweis ihrer soziologischen und anthropologischen Begründung.173 Die Ausrichtung der Theologie auf die »Kasualkirche« war vor diesem Hintergrund also nicht nur der Faktizität geschuldet, sie hatte programmatischen Charakter. Daraus resultierte eine unterschiedliche Bewertung des 169 Vgl. aaO., 233–241. 170 AaO., 261. 171 »Die problematische Prägekraft dieser aus der Liturgie gewonnenen, in ihr zumindest sanktionierten und hervorgehobenen Beziehungen und Handlungsformen erscheint, jedenfalls indirekt, auch in der Erhebung an vielen Stellen: in der starken Pfarrerorientierung der Mitglieder …« (ebd.). 172 Das geradezu reformresistente Verhalten der Gemeinden spiegelte sich in einem frustrierten Unterton: »Greift die Kirche Themen auf oder gebraucht sie Symbole, die außerhalb dieses herkömmlichen Plausibilitätszusammenhangs liegen, dann wird ihr Handeln, sei es auf der Ebene der Sprache, der Aktion oder der Kirchengestalt, von den meisten Mitgliedern, ob sie nun inhaltlich zustimmen oder ablehnen, nicht mehr als spezifisch kirchlich wahrgenommen« (aaO., 262). 173 Vgl. etwa Gebhard Rau: Rehabilitation des Festtagskirchgängers, in: Seitz/Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, 65–81.
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rituellen Charakters von Kasualien und Gottesdienst. Im Folgenden sollen nun exemplarische Positionen der Deutung von Kasualien als Ritual dargestellt werden, die wiederum einfließen in das Gesamtbild dessen, welche Funktion und Bedeutung man dem Gottesdienst als Ritual in den Anfängen des Diskurses zuschrieb.174 2.3.2 Die Ritualität des Trauerns (Y. Spiegel, D. Rössler) Der Zusammenhang von Kasual- und Ritualtheorie lässt sich auch bei Yorick Spiegel beobachten. Als Spiegel sich 1971 mit dem Gottesdienst unter dem Aspekt der symbolischen Interaktion auseinandersetzte, behandelte er Symbole unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit der Partizipation am Gottesdienst angesichts der mit symbolischem Handeln verbundenen hohen Verständnis- und Zugangsschwellen. Liturgische Haltungen, Bewegungen und Gestik bezeichnet er dabei als »nicht-verbale Interaktionen, die aber in ihrer Repräsentation einen spezifischen Sinn vermitteln«.175 Der Ritualbegriff taucht dabei aber noch nicht auf, stattdessen rückt der Symbolbegriff ins Zentrum. Auch in seinem im Folgejahr erschienenen Aufsatz Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten findet sich noch kein qualifizierter Ritualbegriff.176 In Spiegels 1973 publizierter Untersuchung zum Prozeß des Trauerns kommt dem Ritualbegriff mit Bezug auf Arnold van Genneps Theorie der »Rites de passage« eine große Bedeutung zu.177 Spiegel, der in großem Umfang 174 Zur Frage der Ritualität der Kasualien s. u. Anm. 177. 175 Yorick Spiegel: Der Gottesdienst unter dem Aspekt der symbolischen Interaktion, in: JLH 16 (1971), 105–119, 107, Anm. 17. 176 Der Aufsatz, dessen Titel auf Freuds gleichnamigen Beitrag von 1914 Bezug nimmt, steht im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit sogenannten problemlösungsorientierten Gottesdiensten. Spiegel versucht dabei das psychoanalytische Therapiemodell auf den Gottesdienst zu übertragen. Dabei steht ›Ritual‹ noch für eine problematische Form wiederholter Handlungen, die ähnlich der Zwangsneurose noch nicht zur ›Erinnerung‹ transformiert worden ist, die für die ›Durcharbeitung‹ aber nötig wäre (vgl. Ders.: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Therapeutisches Modell und neuer Gottesdienst, in: Ders. [Hg.]: Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten. Zur Sozialpsychologie des Gottesdienstes, Stuttgart 1972, 9–33, 15). Spiegel führt dies auf die besonders im agendarischen Gottesdienst fehlenden Möglichkeiten von innerer wie äußerer Beteiligung zurück. 177 Vgl. Ders.: Der Prozeß des Trauerns. Analyse und Beratung, München 41981 [1973], 93–123. Van Genneps Rites des passage von 1909 war seit 1960 zwar in einer englischen Übersetzung verfügbar, eine vollständige deutsche Übersetzung erschien jedoch erst 1986. Eine erste Rezeption ging aus von bei Carl A. Schmitz (Hg.): Religions-Ethnologie, Frankfurt a. Main 1964 publizierten und übersetzen Textauszügen. Die Verbindung von Kasualie und Ritual stellte Spiegel bereits in einem Aufsatz von 1971 her. Ausgehend auch von statistischen Zahlen formuliert er das Ziel seelsorgerlichen Handelns im Umfeld von Kasualien: »Es scheint mehr darum zu gehen, die Rituale in ihrer kirchlichen und theologischen Bedeutung zu interpretieren als sie als ein Mittel im Krisen-Management verständlich zu machen« (Yorick Spiegel: Gesellschaftliche Bedürfnisse und theologische Normen. Versuch einer Theorie der Amts-
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auch englischsprachige Literatur für sein Ritualkonzept heranzog, verstand unter der »Bedeutung von Ritualen« ihre Funktionen als Hilfen zur Bewältigung sozialer Übergänge. Für den Prozess des Trauerns vermitteln Rituale sowohl den Statusübergang des Toten wie auch den der Trauernden. Spiegels Auseinandersetzung mit dem Trauerprozess lenkt die Aufmerksamkeit über den sozial und soziologisch relevanten Statuswechsel hinaus auf dessen psychoanalytische Komponente. Er spricht hier von der »sozialpsychologischen Bedeutung« des Rituals. Damit weist er zum einen auf den rituellen Charakter der Beerdigungsansprache hin, zum anderen plädiert er dafür, das kirchliche Ritual nicht isoliert zu betrachten, sondern den größeren sozialen Kontext einzubeziehen: »Wir gehen deshalb davon aus, daß in das Ritual der Beerdigung neben allen agendarischen Handlungen vom vorläufigen Aufbahrungsort an bis zur Beerdigung auch die Predigt und das Verhalten der an der Beerdigungsfeier und dem anschließenden Totenmahl Beteiligen eingeschlossen sind.«178 Die Leistungen des Rituals in Verbindung mit der Beerdigung als Kasualie erwog 1976 auch Dietrich Rössler.179 Rössler stellt die Frage nach dem ›Ritus‹ – so der bei ihm durchgängig verwendete Terminus – in den allgemeinen Kontext der Religion. Damit will er auf die Aktualität des vermeintlich archaischen Rituals hinweisen als »herausragende Äußerungsform auch der gegenwärtigen Religion, des neuzeitlichen Christentums«.180 Ausgangspunkt seiner an der »gelebten Religion« orientierten Überlegungen ist die empirisch nachgewiesene, geradezu erstaunliche Stabilität und Selbstverständlichkeit, mit der Kasualien in Anspruch genommen werden. Eine Erklärung dieses Umstands muss Rössler zufolge auf der funktionalen Ebene angesiedelt werden und genau dort erweise sich exemplarisch die Vernunft der Religion, um die es Rössler geht. Weil er dabei stets den Blick auf gesellschaftliche Insti-
handlungen, in: ThPr 6 [1971], 212–231, 228). Spiegel bezog sich für die Deutung der Kasualien als »Rites de passage« auch auf Vorarbeiten von Alois Hahn: Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1968, bes. 98–103. Zur Rezeption der Theorie der »Rites des passage«, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann, vgl. den Überblick bei Christian Albrecht: Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006, 155–161. Eine Rezeption dieser an Übergängen ausgerichteten Ritualtheorie für den Sonntagsgottesdienst hat gelegentlich stattgefunden. Vgl. zum Verhältnis etwa Michael N. Ebertz: Einseitige und zweiseitige liturgische Handlungen. Gottes-Dienst in der entfalteten Moderne, in: Benedikt Kranemann/ Eduard Nagel/Elmar N bold (Hg.): Heute Gott feiern. Liturgiefähigkeit des Menschen und Menschenfähigkeit der Liturgie, Freiburg 1999, 14–38, 20. 178 Spiegel: Prozeß des Trauerns, 102. 179 Ebenfalls angeführt werden könnten hier die Erwägungen zur »sozialpsychologischen Funktion des Beerdigungsrituals« bei Manfred Josuttis (Der Vollzug der Beerdigung), der in zahlreichen Punkten ähnlich argumentiert wie Rössler (zu Josuttis s. u. 3.5.1). 180 Dietrich Rçssler: Die Vernunft der Religion, München 1976, bes. 29–44, hier 29.
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tutionen richtet, ist ihm eine Annäherung mittels empirischer Umfragen, die nach innerer Haltung und persönlicher Bedeutung fragen, fremd.181 »Der Ritus ist die Kommunikationsform der Ausnahmesituation.«182 Diese Definition beinhaltet in mehrfacher Hinsicht Rösslers Verständnis von der entlastenden Funktion des Ritus.183 Er entlastet, weil er für die Ausnahme eine institutionalisierte (»Der Ritus ist institutionalisiertes Verhalten.«184), d. h. sozial stipulierte und akzeptierte Form bereithält. In einer Situation der Sprachlosigkeit gewährt er die Möglichkeit überhaupt kommunizieren zu können. Dabei fasst er das Individuelle in allgemeinen Begriffen (»Objektivation«). Über das gemeinsame, von vertrauten Formen und Formeln durchzogene Handeln stiftet der Ritus Gemeinschaft unter den Betroffenen. Indem er angesichts der Sinnlosigkeit von Tod und Verlust »Lebenssinn« stiftet, übersteigt er die reine Funktion der Entlastung. Unter den zahlreichen, von Rössler behandelten Aspekten sei herausgegriffen, wie der Ritus hier unter dem Paradigma der Kommunikation behandelt wird. Einerseits zeigt sich dabei ein theologisch-systematischer Zuschnitt der funktionalen Betrachtung von Ritualen. Andererseits wird deutlich, inwiefern diese stets in der Gefahr steht, das Spezifische des Rituals zugunsten einer übergeordneten Deutung aus den Augen zu verlieren. Dabei bleibt zu bedenken, dass 1974 die Einordnung von Kasualien unter den Begriff des ›Ritus‹ keineswegs dem allgemeinen Vorgehen entsprach. Rössler spricht nicht nur im übertragenen Sinn vom Ritus als »Sprache«,185 auch seine Charakteristiken und Funktionen werden in Analogie zur Sprache konzipiert. Dem Ritus komme eine das Leben »interpretierende Leistung« zu, er vermittle grundlegende theologische Einsichten wie etwa, »daß Leben überall und seinem Wesen nach als Leben unter den Bedingungen des Verlustes zu verstehen ist.«186 Auf diese Weise gebe der Ritus seine eigene Antwort auf die Sinnfrage, die angesichts von Verlust aufkommt und zum rituellen Handeln motiviert. Dabei wird deutlich, inwiefern Rössler den Ritus in seine allgemeine Deutung der Funktion von Religion einbettet. Zur Konkretisierung 181 AaO., 13: »Das allerdings ist auch nicht der Versuch, Innerlichkeit durch Autopsie zugänglich zu machen, wie einige Arten von öffentlichen Umfragen sich das offenbar zum Ziele gesetzt haben.« 182 AaO., 36. 183 Von der »psycho-hygienischen Funktion des Zeremoniells« der Beerdigung und seiner »Entlastungsfunktion« spricht bereits Walter Neidhart: Die Rolle des Pfarrers beim Begräbnis, in: Wort und Gemeinde. Probleme und Aufgaben der praktischen Theologie. Eduard Thurneysen zum 80. Geburtstag, Zürich 1968, 226–235, 230. Neidhart will einen ausschließlich abwertenden Ritualbegriff überwinden, da sich das »Wort Gottes« auch in der »von der Gesellschaft getroffene[n] Anordnung zur Bewältigung des Ausserordentlichen« (aaO., 234) ereignen könne. 184 Rçssler: Die Vernunft der Religion, 32. 185 Rössler spricht vom Ritus als der »Sprache der Erfahrung«, sowie der »Sprache, in der die extreme individuelle Erfahrung sich zu äußern vermag« (vgl. aaO., 34). 186 AaO., 42.
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zieht er vor allem biblische Texte heran, die im Beerdigungsritus enthalten sind und jeweils auf »Symbole« wie Auferstehung oder Ewigkeit rekurrieren. So erscheint es folgerichtig, dass die rituellen Handlungen und Sequenzen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ein verkürzter Ritus verliert nach Rössler nichts von seiner Effektivität, denn geradezu konkomitant ist »seine interpretierende Leistung überall gegenwärtig«.187 Der Deutungsleistung des Ritus entspricht auf der Seite der Handelnden eine unhinterfragte, entlastende Selbstverständlichkeit, die keiner Reflexion bedarf: »Wer sich dem Ritus überläßt, ist von der Zumutung, eine eigene und etwa gar individuell unterscheidbare Einstellung und Äußerungsform zu finden, befreit.«188 Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit geht Rössler davon aus, dass die alten Formen und Texte – noch immer – vertraut sind und verstanden werden. Wenn er jedoch davon spricht, der Ritus eröffne »die Möglichkeit, den Todesfall adäquat zu bestehen«, klingt darin das riskante Potenzial des Rituals an. Doch wird das Scheitern dieser Möglichkeit und die Frage nach den (rituellen) Gelingensbedingungen nicht weiter behandelt. Zusammenfassend zeigt sich, dass der ›Ritus‹ ganz in Rösslers Bestimmung von Religion aufgeht, die vornehmlich von ihrer gesellschaftlichen Relevanz her beleuchtet wird. Der Ritus behandelt und leistet exemplarisch, was die christliche Religion im Gesamten thematisiert und sozial bewirkt. Einzig die Religionskritik, die für Rössler integraler Bestandteil von gelebter Religion ist, scheint keine mögliche Funktion des Ritus zu sein. Auch für diskursive und reflexive Elemente scheint im Ritus kein Platz zu sein. Gewiss, Rössler konzentriert sich auf ausgewählte, besonders elaborierte Riten, deren soziale Wirkung leichter zu ermitteln ist. Zudem bedeutet die funktionale Perspektive notwendigerweise das Absehen von rituellen Details. Doch gerade darin liegt die Problematik dieses Ansatzes: Obgleich mit dem Ritusbegriff eine liturgische Auseinandersetzung angedeutet wird, bewegt sich der Text vornehmlich auf einer systematischen Deutungsebene. Das Spezifische des Ritus als Ritual, d. h. als Handlung wird so gerade nicht deutlich. Unter dem Ritusbegriff soll lediglich die generelle Deutungsleistung der christlichen Religion anschaulich werden.
187 »Die Frage nach dem Sinn, die in der Konfrontation mit dem Tod entsteht, wird also durch den Ritus in der Weise beantwortet, daß er die bleibende Gültigkeit und Verläßlichkeit dessen, was dem Leben Sinn gibt, zur Sprache bringt. Um diese Funktion zu erfüllen, bedarf es nicht in jedem Falle einer vollen Durchführung und Ausbreitung aller Elemente und einzelnen Schritte, die zum Inventar des Ritus gehören. Da die wirksamen Elemente und die effektiven Schritte des Ritus überall dieselben sind, ist seine interpretierende Leistung überall gegenwärtig« (aaO., 43 f.). 188 AaO., 32.
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2.3.3 Symbolische Kommunikation im Rahmen der Eheschließung (K.-F. Daiber) Bereits im Zusammenhang mit der Auswertung der KMU war das Bedürfnis benannt worden, die funktionale Relevanz religiöser Vollzüge aufzuzeigen und die dafür die kirchlichen Amtshandlungen an Lebensschwellen ins Zentrum zu stellen. Dieser Frage widmet sich auch Karl-Fritz Daibers Habilitationsvortrag zur Trauung als Ritual von 1972. Zum einen will Daiber dazu beitragen, das Ritual als theologischen Begriff zu entwickeln und damit auch das Spezifikum der kirchlichen Trauung aufzuzeigen. Zum anderen will er, ähnlich wie bereits Spiegel, zu einer Differenzierung des Ritualbegriffs anregen, der einer Verengung von Schwellenritualen auf kirchliche Vollzüge widerspricht. Hier führt Daiber sein zuvor entworfenes Konzept der selbstkritischen Auseinandersetzung der Theologie mit soziologischen Fragestellungen exemplarisch aus (s. o. 1.2.2). Als einer der Ersten versucht sich Daiber an einer konzisen Definition des Ritualbegriffs: »Rituale sind institutionell oder nichtinstitutionell geregelte soziale Handlungsabläufe, die symbolische Kommunikation leisten und damit die emotionale Stabilisierung von einzelnen und die Integration von sozialen Gruppen bewirken.«189
Neben dem formalen Kennzeichen, einen geregelten Handlungsablauf darzustellen, stehen die Funktionen des Rituals im Zentrum. Im Blick auf das »gesamte Eheschließungsritual« unterscheidet Daiber nun im Wesentlichen drei Funktionen, die innerhalb der einzelnen Teile des Rituals – Verlobung, Polterabend, Standesamt, Gottesdienst etc. – jeweils unterschiedlich stark zum Tragen kommen.190 Er unterscheidet Integration, Artikulation und Stabilisierung. Alle drei sind Ausdruck persönlicher und sozialer Bedürfnisse, sodass eine alleinige Betrachtung der Kasualien unter dem Blickwinkel des Gemeindeaufbaus an der Sache vorbeiginge. Weil Daiber also von einem »gestreckten Ritual« ausgeht, ergibt sich die Notwendigkeit, jeweils das Spezifikum der einzelnen Handlungen und besonders des Traugottesdienstes herauszustellen. Andernfalls drohe die religiöse Funktion des Rituals – wie bei Rössler – in einer allgemeinen Funktionalität der Schwellenübergänge aufzugehen.191 So schreibt Daiber die Integrationsfunktion vor allem der Fami189 Karl-Fritz Daiber: Die Trauung als Ritual, in: EvTh 33 (1973), 578–597, 582. 190 Auch das Konzept van Genneps berücksichtigte, dass die unterschiedlichen Phasen des Rituals jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sein können: »Trennungsriten kommen vor allem bei Bestattungs-, Angliederungsriten bei Hochzeitszeremonien vor« (Übergangsriten, Frankfurt a. Main 1986 [1909], 21). 191 Die Integrationsthese spielt im Zusammenhang mit der Begründung von Religion überhaupt eine zentrale Rolle. Dabei werden immer wieder auch Tendenzen der Rechtfertigung und
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lienfeier zu. Insofern Rituale »Dauerstrukturen bloßlegen« und diese durch ihre Unveränderbarkeit und ihren formalisierten Charakter anschaulich machen, tragen sie ferner zur emotionalen Stabilisierung bei. Im Fall der Hochzeit stabilisieren sie den Einzelnen, den wechselseitigen Partnerbezug sowie die soziale Gruppe von Familie und Freunden. Diese sind jeweils unterschiedlich mit der Angst vor dem möglichen Zerbrechen der bisherigen Beziehungen konfrontiert. Interessant ist dabei – und daran zeigt sich ein moderner Ritualbegriff, für den auch Rössler wirbt –, dass für Daiber Rituale dort am notwendigsten sind, wo die soziale Verunsicherung am größten ist. Über lange Zeit wurde ausgiebige rituelle Praxis mit archaischen Kulturen assoziiert, die ein besonders hohes Maß an gesellschaftlichem Zusammenhalt aufwiesen, während der Verlust sozialer Bindungskräfte in der Moderne mit dem Verlust an Ritualkultur verknüpft schien. Es zeigt sich somit, dass die Beachtung der faktischen Kasualkultur ein neues Verständnis der Ritualisierung der modernen Gesellschaft beförderte.192 Als zentrale Funktion des Traugottesdienstes, die zugleich im Zentrum seiner Ritualdefinition steht, benennt Daiber die »symbolische Kommunikation«. War bei Rössler Kommunikation noch klassisch auf die Überwindung der Sprachlosigkeit bezogen und wurden die Gebets- und Segensworte als Lebensdeutung verstanden, steht hier nun das Symbol im Zentrum: »Das religiöse Ritual benutzt das Symbol, ja es ist als Handlungsablauf selbst eine bestimmte Form symbolischer Kommunikation.«193 Erst der Symbolbegriff kann Daiber zufolge das für den Gottesdienst typische Nebeneinander von »sprachlicher Struktur« und »Handlungsstruktur« angemessen erfassen.194 Das Ritual steht dabei für die »sprachlose symbolische Kommunikation«. Erstmals werden damit die Begriffe ›Symbol‹/›symbolisches Handeln‹ und ›Ritual‹ programmatisch zusammengeführt. Damit werden sowohl die für Legitimation deutlich (vgl. F rstenberg [Hg.]: Religionssoziologie, 13 f.). Die Integrationsfunktion von Religion kann aber nicht allein auf Rituale bezogen werden, wenngleich seit William Robertson Smith immer wieder versucht wurde, diesem Zusammenhang besonderes Gewicht zu verleihen (s. u. 7.1; vgl. auch Volkhard Krech: Art. Integrationstheorie, in: RGG4 Bd. 4 [2001], 182). Die generelle Kritik an der Integrationsthese kann daher auch für Rituale gelten: die Integration korreliert notwendig mit der Errichtung von Grenzen, die eben nicht nur ein-, sondern auch ausschließen. Rituale können also als eine Form religiöser Handlungen gelten, an denen sich Integration konkretisiert, zugleich müsste die Konkretion noch weiter fokussiert werden: Wo in der Handlung und was an der Handlung bewirkt, was die Handlung als Ganze bewirken soll. Hier liegt eine generelle Herausforderung funktionaler Beschreibungen konkreter Praxisvollzüge. 192 Bereits 1971 erschien die Studie von Erving Goffman: Interaction Ritual. Essays on Face-toFace Behavior, Garden City, N.Y. 1967 in deutscher Übersetzung. Darin legt Goffman die Grundlagen der Mikrosoziologie und leistete einen wichtigen Beitrag zur Ritualtheorie, insofern er die Verwobenheit von Alltag und Ritual aufzeigte. Zur Kritik des Ritualverlusts in der Moderne vgl. 2.5.4.2 sowie 12.1. 193 Daiber: Die Trauung, 581. 194 Vgl, aaO., 594.
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Symbole wesentlichen Qualitäten von Offenheit und Bedeutungsüberschuss gegenüber über dem rein materiellen Zeichen in den Ritualbegriff integriert, wie auch deren konventionelle Gestalt, d. h. seine Wandelbarkeit. Darin lässt sich ein möglicher Ansatzpunkt erkennen, bisher gültige Assoziationen des Ritualbegriffs (etwa Starre, Unveränderbarkeit) zu überwinden. Daiber stützt sich auf den symboltheoretischen Ansatz des Soziologen Horst Jürgen Helle. In seinem knappen Aufsatz Symbol und Gottesdienst von 1969 hatte Helle angesichts von Kirchen- wie Gottesdienstkrise eine neue Fokussierung auf symbolische Kommunikationsformen vorgeschlagen: der Gottesdienst kann »als christliche Liturgie nur in dem Maße von den Christen als für ihre Existenz zentral erlebt werden […], in dem er symbolische Kommunikation leistet.«.195 Das alleinige Setzen auf »rationale« Kommunikation (in der Symbole als »Symptome der Denkschwäche« gelten und als »irrationale Elemente aus den liturgischen Formen entweder bewußt herausreformiert oder unbewußt durch Nichtbeachtung unwirksam gemacht«196), beraubt nach Helle den Gottesdienst seines Alleinstellungsmerkmals sowie seiner spezifischen sozialen Funktion. In diesem Fall trete er zum einen in direkte Konkurrenz zu anderen Kommunikationsmedien, denen er hinsichtlich der Klarheit der Vermittlung jedoch unterlegen ist. Zum anderen formiert erst die symbolische Kommunikation Menschen zu einer »Bekenntnisgruppe«, als welche Helle die Kirche in Abgrenzung von Primärgruppen (Familie, Freundeskreis) versteht. Sowohl die Bestimmung des Spezifikums religiöser Rituale mit dem Symbolbegriff wie auch die Deutung, dass Symbole die Fähigkeit besitzen, Handlungen der Vergangenheit mit dem Entwurf einer Vision der Zukunft, einer Utopie, zu verbinden, wurden von Daiber übernommen.197 Wesentliches Kennzeichen von Symbolen ist nach Helle nicht nur das sinnlich erfahrbare Medium, sondern der ihnen immanente Handlungsbezug: »Das religiöse Symbol sehen wir gleichsam als in der Zeit geronnenes symbolisches Handeln an.«198 Den hier naheliegenden Ritualbegriff verwendet Helle allerdings noch nicht. Während Spiegel199 die Exklusivität symbolischer Kommunikation kritisierte, da die Handlungsformen stark von denen anderer öffentlicher Veran195 Horst J. Helle: Symbol und Gottesdienst, in: Schmidt (Hg.): Zum Gottesdienst morgen, 24–32, 25. 196 Ebd. 197 »Die Liturgie muß die Zukunft symbolisch antizipieren, sie muß das kollektive Handlungsziel zum Inhalt nicht nur diskursiv verbaler Beschreibung, sondern zum Inhalt gerade auch bildhaft symbolischer Demonstration machen« (aaO., 32). Auch für Daiber (Die Trauung, 582) können Rituale »Zukunft antizipieren«. 198 Helle: Symbol und Gottesdienst, 25. Die Formulierung erinnert an die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Ritus und Mythos (s. u. 7.1). 199 Vgl. Spiegel: Gottesdienst, 118f.
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staltungen unterschieden sind, sieht Helle darin gerade die Stärke und das Alleinstellungsmerkmal des Gottesdienstes, das es zu bewahren gelte. In diesen beiden Positionen spiegelt sich ein Grundkonflikt bei der Beurteilung der Ritualität des Gottesdienstes, nämlich die Frage, ob dadurch Zugangshürden errichtet werden, die es abzubauen gilt, oder ob hier eine Handlungsform vorliegt, welche die Distanz zum Alltag bewusst in Kauf nimmt und gerade in der Fremdheitserfahrung einen wichtigen Aspekt religiöser Formen sieht. Daiber greift also auf ein am Gottesdienst entwickeltes Modell zurück und überträgt es auf die Kasualtheorie. Wiederum werden dem Ritual eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen zugeschrieben, wobei die Auswirkungen des dezidiert symbolischen Charakters der Kommunikation nicht immer deutlich werden. Wenn Ritualen die Fähigkeit zugesprochen wird, »Verständigung über Sachverhalte, die nur schwer der rationalen Erörterung zugänglich« zu ermöglichen, bleibt unbeantwortet, was ›Verständigung‹ hier bedeutet, ob es um emotionale Verbundenheit, religiöse Überzeugen oder allgemein um Sinnstiftung geht.200 Die Frage nach der Eigenart ritueller Kommunikation war mit dem Hinweis auf ihren symbolischen Charakter offensichtlich noch nicht hinreichend geklärt. Auf die dabei entwickelten unterschiedlichen Konzepte wird noch einzugehen sein (s. u. 3.2). Neben der bereits erwähnten Zusammenführung von Symbol und Ritual enthält Daibers Ansatz weitere Einsichten, die für eine Ritualtheorie des Gottesdienstes von Bedeutung sind. Zum einen führt er aus, welche Anforderungen an eine »theologische Theorie des Rituals« zu stellen wären. Die Einsichten anderer Disziplinen wie hier der Soziologie dürfen nicht als Norm verstanden werden, sondern als eigens von er Theologie zu reflektierende Erkenntnishilfen. Zugleich muss sich die Theologie der Begrenzung ihrer Fragestellungen bewusst sein, wenn sie sich auf soziologische Begrifflichkeiten einlässt. Zweitens wäre auf die von Daiber benannte Ambivalenz von Ritualen hinzuweisen. Rituale sind dort zu kritisieren, wo das symbolische Handeln zum »Ersatz für verantwortliches Handeln« wird. Was unter einem solchen »ritualistischen Missverständnis« zu verstehen ist, wird deutlicher in Daibers Bestimmung eines unter theologischen Gesichtspunkten akzeptablen Ritualgebrauchs: Dabei darf die »Identifikation mit dem Ritual« nicht auf den
200 Daiber: Die Trauung, 594. Ähnliches wird deutlich, wenn Daiber angesichts einer veränderten Stellung der Frau oder einer neuen Sicht auf die Unauflöslichkeit der Ehe die Meinung vertritt, es sei daher »schwierig, biblische Äußerungen über die Ehe ohne weiteres im Trauritual zu verwenden« (aaO., 595). Obwohl er selbst auf die symbolische Gestalt religiöser Sprache verweist, scheint es doch eben vor allem um inhaltsbestimmte Kommunikation zu gehen und die inhaltliche Komponente auch der symbolisierten – oder ritualisierten – Worte das zentrale Kriterium zu sein.
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Amtsträger delegiert werden. Trotz des formalen Charakters müsse der Handelnde die ihm vorgegebene Form zu seiner eigenen machen können.201 Schließlich entwickelt Daiber aus seinem Verständnis des »gestreckten« Rituals Ansätze für ein Konzept der »gestreckten« Kasualie, die im Fall der Trauung etwas Traugespräch oder Ehevorbereitungsseminare umfasst. Jenseits missionarischer Zielsetzungen zeigt sich hier die Überwindung einer Sichtweise auf Rituale, die diese isoliert von anderen Lebensvollzügen betrachtet. Damit werden die Verknüpfungen zwischen rituellem Verhalten mit alltäglichen Kommunikations-, Organisations- und Interpretationsprozessen zum Gegenstand der Kasualtheorie.202 2.3.4 Ritualpraxis als »Strategie volkskirchlichen Handelns in der ›Kasualkirche‹« (W. Jetter) Als letzter Beitrag zur Untersuchung des Verhältnisses von Kasualien und Ritualen soll Werner Jetters grundlegender Aufsatz Der Kasus und das Ritual von 1976 analysiert werden. Dabei stehen vier Themen im Zentrum: Zum einen Jetters Verständnis der Volkskirche als »Kasualkirche«, seine umfangreiche Ritualdefinition, das Verhältnis von Ritual und Sakrament sowie dasjenige von Ritual und Wort. Bereits der Untertitel Amtshandlungen in der Volkskirche stellt mit dem Stichwort der »Volkskirche« die Auseinandersetzung mit Kasualien in den Kontext der Ergebnisse der KMU.203 Deutlicher noch als dort versteht Jetter unter »Volkskirche« nicht einfach die Gesamtheit der Kirche, sondern jene Mehrheit der Kirchenmitglieder, die aufgrund ihrer primären kirchlichen Praxis eine »Kasualkirche« konstituieren. Diese existiert bei Jetter neben der sogenannten »Kerngemeinde«, deren intensive kirchliche Bindung zumeist mit dem Selbstanspruch einhergeht, die »eigentliche« Kirche zu sein.204 Für 201 In Daibers Ansatz ist gleichwohl ein Verständnis vorherrschend, demzufolge der Pfarrer als Amtsträger, die Kirche als strukturierender Ort sowie die Agende als Handlungsstruktur das Ritual erzeugen. Die Hochzeitsgesellschaft, so scheint es, nimmt daran lediglich – dankbar – teil. Der Pfarrer sagt, was sie nicht zu sagen vermag, und der Gottesdienst versammelt eine Gemeinschaft, die anders nur schwer zu versammeln wäre. Die Tendenz, das Ritual als etwas Fertiges, vor der Handlung Vorhandenes zu verstehen, war lange Zeit generell üblich innerhalb der Ritualtheorie (zum Neuansatz mit dem Ritualisierungsbegriff s. u. 8). 202 Einen besonderen Schwerpunkt darauf legt Burckhard D cker: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft, Stuttgart 2007. 203 Zur volkskirchlichen Ausrichtung der KMU vgl. 2.3.1, bes. Anm. 165. Jetter bezieht sich explizit auf Joachim Matthes: Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte. Überlegungen zur Struktur volkskirchlichen Teilnahmeverhaltens, in: Ders. (Hg.): Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance? Konsequenzen aus einer Umfrage, Gelnhausen 1975, 83–112. Einen Vergleich der beiden Texte bietet Albrecht: Kasualtheorie, 34–37, bes. Anm. 151. 204 Jetter unterscheidet im Folgenden zwischen »gemeindekirchlichem« und »volks-« bzw. »großkirchlichem« Christentum.
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Jetter ist unbestreitbar, dass ein Festhalten der Kirche an Kasualien als Amtshandlungen – d. h. die Zurückweisung von Bohrens Forderung, diese in die Verantwortung der Familie zu übertragen –, auch ein »uneingeschränktes Ja zur Volkskirche als der derzeitigen Schicksalsgemeinschaft unserer Kirche hierzulande voraus[setzt]«.205 Die notwendigen Konsequenzen für eine »Strategie volkskirchlichen Handelns in der ›Kasualkirche‹«206 betreffen zum einen die theologische Bewertung der Kasualien. Diese stellen dann eben nicht mehr zuerst eine »missionarische Gelegenheit« dar. Auch die Priorität des familiären Kontextes gegenüber dem gemeindlichen sei anzuerkennen. Zum anderen wirkt sich diese Sichtweise auf die liturgische Gestaltung aus: So sind etwa freie, spielerische Formen, wie sie in (kerngemeindlichen) Kleingruppen üblich sind, für die Kasualgemeinde (die »kasuell Hauptbetroffenen«) kaum geeignet. Hier werden spezifische Fähigkeiten erfordert, die für Menschen mit distanziertem Verhältnis zur Kirche nicht zuletzt erhebliche emotionale Hürden aufrichten. Schließlich weist Jetter mit seinem Untertitel auch darauf hin, dass ein Einlassen auf die Volkskirche eine veränderte Haltung zum institutionellen Charakter der Amtshandlungen zur Folge hat. In der Kasualkirche treten die Ortskirche und ihre Gemeinschaft zugunsten einer Institution lebenszyklischer seelsorgerlicher Begleitung zurück, die vor allem über ihre Amtsträger repräsentiert und wahrgenommen wird. Auch Jetter bietet ausgehend davon eine ausführliche Definition von Ritualen. »Unter Ritualen versteht man sozial geregelte Wortfolgen und/oder Handlungsabläufe, die bei bestimmten Anlässen zur festen Gewohnheit und meist auch zur festen Einrichtung werden und so ihre absichtsvolle, den Regeln entsprechende Wiederholung erst ermöglichen und dann mehr oder weniger verbindlich machen. Sie stellen Handlungen dar, die vor allem der Bewältigung und Überbrückung von herausragenden Lebenslagen und -einschnitten dienen (›rites de passage‹). Sie stellen Verständigungsmittel dar, mit deren Hilfe man persönlich Erlebtes und Widerfahrendes zusammen mit Mitbetroffenen und auf dieselbe Weise wie andere, vergleichbar ähnlich Betroffene in der sozialen Gemeinschaft verarbeiten kann. Und sie stellen symbolische Vorgänge dar, die über sich selber hinaus- und auf Werte oder Werthaltungen verweisen, an denen sich die gesamte Gruppe orientiert und die man deshalb in dieser versteht. So betten Rituale die Betroffenen in das Leben ihrer Gruppe und in deren Wertsystem ein und stützen sie dadurch zugleich von innen. Sie wollen zu entlastenden, können aber auch zu einzwängenden Gewohnheiten werden, besonders für Menschen von ausgeprägter Individualität. Gerade als Instrumente expressiver, symbolischer Kommunikation und Interaktion neigen sie strukturell besonders dazu, religiöse Sachverhalte zum Ausdruck zu bringen.«207 205 Werner Jetter: Der Kasus und das Ritual. Amtshandlungen in der Volkskirche, in: WPKG 65 (1976), 208–223, 220f. 206 AaO., 222. 207 AaO., 209f. Jetter greift für seine Theorie auf Einsichten von Erik Erikson, Konrad Lorenz,
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Die Definition benennt sowohl Kennzeichen als auch Funktionen von Ritualen. Rituale sind auf sozialer Vereinbarung beruhendes, von Regeln bestimmtes und von symbolischen Formen durchzogenes Handeln anlässlich besonderer Ereignisse. Sie dienen der Bewältigung »herausragender Lebenslagen«, der Entlastung, der Kommunikation individueller Erlebnisse in allgemeiner Form, der Stabilisierung einer Gruppe und deren Wertesystem und den Einzelnen vor sozialer Überforderung. Als Risiken dieser Handlungsform benennt Jetter sowohl den einzwängenden Charakter der Regeln als auch die Ambivalenz von Wiederholung und Routine, die »leicht zur Unbetroffenheit führen« können. Dahinter dürfte wie bei Daiber das Ideal authentischen Handelns stehen, d. h. einer (emotionalen) Identifikation mit der Handlung. Bereits lenkt Jetter den Blick nicht nur auf die Ambivalenz des Rituals, sondern auch auf typisch protestantische Abwertung. Diese habe, so Jetter, nicht selten zu »Prädikantenwillkür und ritueller Niveaulosigkeit« geführt. Die von Jetter genannten Eigenschaften und Funktionen lassen sich an einer einzelnen Kasualien nicht vollumfänglich nachweisen. Auch hier steht das funktionale Ritualverständnis noch weitgehend unvermittelt neben einem Ritualbegriff, wie er aus der älteren Ritualtheorie sowie der Religionsphänomenologie bekannt ist. Dabei tauchen immer wieder Bilder einer magischen Urreligiosität auf, in der Rituale als Beschwörungen und »Zuwendung zur numinosen Macht« gelten. Etwa wenn es heißt: »Heiliges hat sich gezeigt«, das man »in der Begehung umschreitet, umtanzt und heiligen, unbegangenen Raum dafür ausspart«. Folglich gelingt es nur mit Mühe, den familiären Kontext einer Konfirmation oder Trauung mit Jetters Aussage über das Ritual in Einklang zu bringen.208 Ähnlich wie bei Daiber verschwimmen nicht nur Symbol und rituelles Handeln. Die umfassende funktionale Bestimmung von Ritualen (Integration, Krisenbewältigung, Wertekonsensbildung) erschwert zudem eine Abgrenzung von Ritual und Religion. Ein weiterer Aspekt von Jetters Ritualtheorie tritt zutage in der Auseinandersetzung mit Taufe und Abendmahl als »Grundbestand urchristlicher Rituale«. Diese versteht er Ausgangspunkte der Entwicklung aller weiteren kirchlichen Rituale. Sowohl für das religiöse Leben wie auch für die institutionelle Selbsterhaltung der Kirche seien diese von zentraler Bedeutung. Ihre Stellung als Initiations- und Integrations- bzw. Partizipationsrituale fand wiederum im Sakramentsbegriff ihren Niederschlag. Jetter kann daher auch vom »rituell-sakramentalen Flügel« der Kirche sprechen und von »ritueller Sakramentalität«. Harvey Cox, Alexander Mitscherlich und Gerardus van der Leeuw zurück. Gleichwohl war Jetter hinsichtlich exakter bibliographischer Angaben in all seinen Texten äußerst sparsam. Auch hier kommt er gänzlich ohne Fußnoten aus. 208 AaO., 213.
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Die Herausbildung der Sakramente führt dazu, ursprünglich freie Handlungen mit institutioneller Funktion zu versehen. Dabei spricht Jetter ›Ritualisierung‹ – ein Begriff der bei ihm eine zentrale Rolle einnimmt. Zwar ist die Ritualisierung religiöser Handlungen unvermeidbar, sie muss aber zugleich als bewusste Strategie begriffen werden, die der Erhaltung religiöser Praxis und der Ausbildung einer Erinnerungskultur dient. Dass sich ursprünglich plurale Formen vereinheitlichen, ihre Vollzugsregeln einer Verrechtlichung unterliegen und sich an das Ritual zunehmend weitere Handlungen anlagern, folg dem notwendigen »Interesse an Wiederholbarkeit, Korrektheit und Wirksamkeit«209 religiöser Handlungen: »Ohne Ritualisierung kann Leben im Glauben nicht zur Sitte werden und als solche dauern«.210 Jetter stellt Ritualisierung – ganz im Sinne seiner Orientierung an Amtshandlungen – in einen institutionellen Kontext. Mit der Koppelung von Ritual und Sakrament gerät neben den Kasualien das Abendmahl in das Blickfeld des Ritualdiskurses und damit Handlungen, die weniger anlassbezogenen, sondern regelmäßig stattfinden. Dadurch erscheint eine funktionale Präzisierung der Ritualdefinition unumgänglich, die über die »Bewältigung und Überbrückung von herausragenden Lebenslagen und -einschnitten« hinausgehen muss. Oder umgekehrt: Die dem Kasualritus zugeschriebene Funktion hängt weniger an seinem rituellen Charakter, als vielmehr an der Schwellensituation selbst, innerhalb derer er stattfindet und die es gilt – rituell oder nichtrituell – zu bewältigen.211 »Bei den meisten Amtshandlungen gehört ein freier Wortteil, eine kasuelle Rede zum ordentlichen Vollzug des Rituals mit hinzu.«212 Diese Beobachtung verdient noch einmal Beachtung, da Ritus und Predigt erstmals theologisch auf einer Ebene zu stehen kommen: »Mit dem Ritus wie mit seinem freien Wort ist der Pfarrer hier ein Diener ein- und desselben Glaubens, dessen Substanz die Zuwendung Gottes ist.«213 Es geht also weder um ein Gegenüber von Liturgie und Predigt noch um die rituelle Umrahmung letzterer. Jetter betont vielmehr die wechselseitige Abhängigkeit, um die Zuwendung Gottes angemessen zum Ausdruck zu bringen. Er weist zudem auf das wechselseitige Interpretationsverhältnis hin, in das Ritual und freie Rede treten (können). Jetter bezeichnet darüber hinaus den Ritus als den »generelle[n] Text der kasuellen Ansprache«.214 Damit wird zugleich die Kasualpredigt vor missio209 210 211 212 213 214
AaO., 210. AaO., 213. S. u. S. 405 sowie Anm. 276, Teil II. AaO., 217. AaO., 216, H. RG. Zu dieser Einsicht in die Gewichtung von Ritual und Rede im Rahme von Kasualien kommt Jetter auch aufgrund der historischen Tatsache, dass die unmittelbar das Ritual begleitende Kasualpredigt erst einer späteren Entwicklung zu verdanken ist. Jetters Deutung, dieser Einschub sei darauf zurückzuführen, dass man das Ritual nicht mehr verstand oder als tot
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narischer Überforderung geschützt und die immanente Verkündigungsfunktion des Rituals herausgestellt. Jetter erblickt im Ritual geradezu den Katechismus der Kasualkirche, ein »wiederholungsfähige[s] Formular« als »Hilfe zum Bewusstwerden des Glaubens«.215 Damit gelingt der Anschluss an eine protestantische Intuition, der Gottesdienst immer auch pädagogisch dienlich ist. Und doch geht er weit darüber hinaus, wenn er diesen katechetischen Charakter nicht ausschließlich, ja nicht einmal zuerst über die Predigt oder Liedtext gesichert sieht. 2.3.5 Fazit Das Ritual im Kontext von Kasualien zu untersuchen und es damit an biographischen Schwellen- und Ausnahmesituationen zu verorten, steht in einer Tradition, die sich bis auf die Anfänge der Ritualforschung zurückverfolgen lässt. Dabei bezeichnen ›Rituale‹ besonders umfassende und elaborierte Handlungsformen, die in einem außeralltäglichen Kontext stehen und für das Leben der Akteure weitreichende Bedeutung haben, sowohl für ihren sozialen Status wie auch für ihre biographische Identität. Die aus der KMU resultierende Hinwendung zu den kirchlichen Amtshandlungen nötigte zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von »Kasualkirche«/Volkskirche und Gemeindekirche/Kerngemeinde. Man war überzeugt, dass die zuvor übliche Fokussierung auf letztere eine Einengung der Kasualien als missionarische Gegebenheit bedeutete, die darüber hinaus in der Gefahr stand, den mit der »habitualisierten Volksfrömmigkeit« gegeben und gelebten Glauben zu verkennen bzw. zu diskreditieren. Werner Jetter erkannte in einer gezielten Ausrichtung auf die »Kasualkirche« die Chance, eine Öffnung der Kirche als Ganzer zu erwirken. In der Auseinandersetzung mit Ritualen ausgehend von Kasualien zeigte sich eine deutliche Konzentration auf ihre sozialen Funktionen. Erstmals wurden nun klassische Ansätze der Ritualtheorie rezipiert. Die Bewältigung lebensgeschichtlicher Schwellen wirkte als Kristallisationspunkt, um den sich Begriffe wie »Stabilisierung«, »Integration« und »Entlastung« gruppierten.216 Damit sind zugleich zentrale empfand, kann jedoch kaum überzeugen. Zum einen ist es selten die Erklärung, die eine Praxis reanimiert, sondern die Praxis selbst. Zum andern lässt sich hier leicht das institutionelle Verlangen herauslesen, mit einer eindeutigen Erklärung möglichst nah an den Vollzug heranzukommen, damit dieser nicht seine eigenen, womöglich häretischen Deutungen erfährt (vgl. u. 12.5). 215 AaO., 223. Von der Einbettung der Predigt in das Ritual zu unterscheiden ist die Frage nach der Ritualisierung der Predigt, die sich etwa angesichts der immer gleichen an die Predigt gerichteten Erwartungen stellte, wie sie in den empirischen Gottesdienststudien deutlich wurde: »Die Predigt rückt mit der integrativen und darstellenden Funktion, die ihr zugedacht wird, in die Nähe des Rituals« (Ludolf Ulrich: Erwartungen an die Predigt. Überlegungen zu Ergebnissen der Gottesdienstumfrage, in: Seitz/Mohaupt [Hg.]: Gottesdienst und öffentliche Meinung, 121–140, 131). 216 Angesichts des aufkommenden Bewusstseins für die Ambivalenz von Ritualen wurden kon-
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Funktionszuschreibungen von Religion bzw. religiöser Institutionen generell benannt. Ritualtheoretische Überlegungen können daher als Versuch verstanden werden, die Wirkmechanismen religiöser Praxis besser zu verstehen: Religion wirkt durch ihre Rituale. Auf ritualtheoretischer Ebene scheint das Problem damit jedoch nur verschoben, sofern nicht näher erläutert wird, wie wiederum das Ritual leistet, was von ihm behauptet wird. Problematisch ist ein funktionaler Ansatz auch dadurch, dass die Ritualteilnehmer selbst zumeist nur als Kollektiv in den Blick kommen. Es fällt auf, dass der immer wieder hervorgehobene religiöse Traditionsabbruch im Hinblick auf die veränderte Bedeutung und den veränderten Umgang mit Ritualen nicht in die Bewertung einfloss. Kasualien werden weitgehend als selbstverständlich in Anspruch genommene Formen verstanden, weniger als bewusst getroffene Entscheidung. Die systematische Einführung des Symbolbegriffs in den Ritualdiskurs, die sich zuerst bei Karl-Fritz Daiber findet, fügte dem Ritualbegriff wesentliche Merkmale hinzu, die sowohl auf seine Deutungsoffenheit wie auch auf die Möglichkeiten seines Wandels zielen. Zudem stellt der Begriff ein Gegengewicht für eine rein funktionale Betrachtung dar und öffnet das Phänomen der Ritualität für dessen kritisches und kognitives Potenzial. Grundsätzlich bleibt Jetters Verortung des Ritualbegriffs im Kontext des volkskirchlichen Anspruchs aktuell. Er bildet ein notwendiges Gegengewicht zu primär intellektuell orientierten liturgischen Konzepten.
2.4 »Ritualismus« als Fundstück empirischer Religionssoziologie Die Auseinandersetzung mit dem gefühlten Verlust der Selbstverständlichkeit des Sonntagskirchgangs war bereits in den 60er Jahren sowohl Gegenstand theoretischer Auseinandersetzungen, als auch erster grundlegender empirischer kirchensoziologischer Studien. Diese sollen exemplarisch in den Blick genommen werden, um daraus nicht nur den jeweils leitenden Ritualbegriff herauszuarbeiten, sondern zugleich Aufschlüsse über die spezifische Form zu erhalten, die rituelles Handeln im (evangelischen) Gottesdienst charakterisiert. Im Rahmen der beiden großen Gottesdienststudien zu Beginn der 1970er Jahre taucht dabei der Begriff des »Ritualismus« auf. Jenseits der dominierenden funktionalen Fragestellungen gewähren die empirischen Studien krete Anfragen – zumindest für die Kasualriten – zunächst rasch übergangen. Vgl. exemplarisch Alois Hahn: Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. Main 1974, 71 f., der die Bedenken, ob Rituale zwar Angst lindern, aber zugleich auch erzeugen könnten, weil ihre strengen Vorschriften mitunter verletzt werden, mit dem Verweis kontert, dass die Unsicherheiten von Leben und Tod ohne Rituale noch wesentlich schlechter zu ertragen wären.
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immer wieder auch Einblicke in die Motivation und Selbstwahrnehmung der Handelnden.
2.4.1 Die Anfänge soziologischer Untersuchungen zur gottesdienstlichen Praxis am Beispiel von J.M. Lohes Kirche ohne Kontakte? Im Rahmen seiner Untersuchung zur Christentumstheorie Trutz Rendtorffs hat sich Martin Laube auch mit den Anfängen der Kirchensoziologie in der Bundesrepublik beschäftigt. Dabei fällt das eingeschränkte Blickfeld insbesondere der früheren Untersuchungen auf. Ausgehend von einer bestimmten Lesart der Säkularisierungsthese als wechselseitige Emigration von Kirche und Gesellschaft bestand, findet sich eine eigentümliche Scheu, die Gesellschaft oder auch nur die Kirche als Ganze religionssoziologisch zu untersuchen. Man beschränkte sich auf eine »Kirchengemeindesoziologie«217. Den rückläufigen statistischen »Großzahlen« standen vor Ort – wie nicht zuletzt der Blick auf die Dynamik der liturgischen Entwicklungen seit den 60er Jahren gezeigt hat218 – durchaus dynamische Gemeinden gegenüber, denen man sich zuwenden konnte. Damit wurde nicht nur die gesamtgesellschaftliche Relevanz von Religion und Kirche kaum sichtbar, die Religionssoziologie beschränkte sich zudem auf manifestierte Formen von Frömmigkeit als Kirchlichkeit.219 Joachim Matthes zufolge führt dies schließlich zur lange währenden Vernachlässigung des ganzen Feldes der »Umsetzung kirchlichreligiöser Einstellungen und Überzeugungen in Entscheidungen in alltäglichen und besonderen Lebenssituationen«220. Dadurch verstärkte sich die ohnehin auf evangelischer Seite herrschende Ambivalenz gegenüber liturgischen Vollzügen, die vom »Gottesdienst im Alltag« gänzlich abgeschnitten erschienen.221 Der eingeschränkte Blick war nicht zuletzt die Folge pastoraltheologischer und kirchpolitischer Zielvorgaben im Hintergrund. Die empirischen Ergebnisse sollten die Vorarbeit leisten für konkret ableitbare Konsequenzen für die gottesdienstliche, seelsorgerliche oder missionarische Konzeption der Gemeinde, mit denen man der Erosion kirchlicher Tradition zu begegnen suchte. Laube unterscheidet zwei Arten von Untersuchungen. Auf der einen Seite 217 Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum, 72. Eine Sammlung von Umfragen der 1950er Jahre findet sich in Dietrich Goldschmidt/Franz Greiner/Helmut Schelsky (Hg.): Soziologie der Kirchengemeinde, Stuttgart 1960, 109–195 (II. Teil »Soziologische Untersuchungen deutscher Kirchengemeinden«). 218 S. o. Kap. 1.3.2. 219 Vgl. Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum, 32–80. 220 Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, Reinbek bei Hamburg 1969, 14, zitiert bei Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum, 44. 221 S. u. Kap. 4.
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finden sich Studien zur »Soziologie der Kirchengemeinde«222, die sich deren organisatorischer Gestalt und Strukturen widmeten. Vor allem Untersuchungen römisch-katholischer Gemeinden gehen dabei von der Annahme aus, die Kirchengemeinde sei ein soziales System, das mittels empirischer Studien auf seine Leistungsfähigkeit zu überprüfen sei. Es verwundert kaum, dass das Fazit solcher Untersuchungen durchweg ernüchternd bis resignativ klang, da die Gemeinden kaum noch die ihnen zugedachte Rolle als Sozialsystem erfüllten. Osmund Schreuder schloss seine anhand der »Dominikantie« (d. h. des Sonntagskirchengangs) durchgeführte Untersuchung zur Frage, ob die Kirche (noch) ein »boundary-maintaining system«223 darstelle, mit dem Fazit, »daß die heutige Struktur der Pfarrgemeinde keine besonders günstigen Perspektiven für die missionarische Aufgabe bietet«.224 Andererseits wurden zahlreiche Studien unternommen, die sich der »Soziologie des Kirchgängers« widmeten. Diese waren entweder als statistisch orientierte Teilnahmeforschung konzipiert,225 oder an den Prinzipien der Verteilungsforschung ausgerichtet. Letztere war darum bemüht, Kirchlichkeit in Bezug zu setzen zu anderen relevanten Kategorien sozialer Zugehörigkeit (Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Stadt-Land), um schließlich danach zu fragen, ob die Kirchengemeinde in das allgemeine Sozialgefüge integriert ist oder nur in bestimmte gesellschaftliche Schichten und Kreise hineinwirkt. Eine dritte Form schließlich stellte die Einstellungsforschung dar, die, so Joachim Matthes, nach den »manifesten, kirchlich repräsentierten Glaubenssätzen und Handlungsgeboten«226 fragt. Auf diese Weise wollte man Einsichten gewinnen, wie sich diese Meinungen in der religiösen wie nicht222 Zur groben Unterscheidung dieser beiden unterschiedlichen Zielsetzungen religions- bzw. kirchensoziologischer Studien vgl. aaO., 60. 223 Osmund Schreuder: Kirche im Vorort. Soziologische Erkundungen einer Pfarrei, Freiburg i. Br. 1962, 28. 224 AaO., 40. Laube (Theologie und neuzeitliches Christentum, 74 f.) sieht bei evangelischen Studien die Zielbestimmung der Gemeinde als Systems stärker selbstkritisch hinterfragt. Er verweist etwa auf die Studie von Reinhard Kçster: Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen evangelischen Kirchengemeinde. Mit einer Einleitung von Prof. Dr. Helmut Schelsky, Stuttgart 1959, der zu dem Resultat kommt, dass die kirchlichen Normen nur noch von einer kleineren Gruppe beachtet werden und jegliche Versuche, diese zu forcieren, um diese so in einem größeren Kreis verpflichtend zu machen, letztlich nur zur weiteren Verfestigung einer Kerngemeinde führt, zu »einem sich verengenden Kreis von Kirchentreuen« (aaO., 107). Anhand von Kösters Studie lassen sich entscheidende Fortschritte in der Sensibilität für unterschiedliche christlichen Lebensformen zwischen den Umfragen der 1950er und denen der 60er Jahren erkennen. Köster sieht die Gemeinde in zwei Gruppen zerfallen, jene, die sich mit einer »Minimalerfüllung« begnügen, und die »Kirchentreuen«: »Wir haben die Grenze so gezogen, daß wir nur diejenigen Gemeinmitglieder als Kirchentreue bezeichneten, die mindestens einmal monatlich den Gottesdienst besuchten« (aaO., 12). 225 Vgl. etwa die Studie von Hans-Otto Wçlber: Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 31965, bes. 77–83.187–195, die noch ganz unter dem Vorzeichen der »Glaubenskrise« steht. 226 Matthes: Kirche und Gesellschaft, 13.
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religiösen Lebensführung niederschlagen. Ein solcher Ansatz, dem Matthes die stärkste analytische Bedeutung beimaß, bildete auch die Grundlage für die KMU von 1972. Das oben skizzierte Bild von der Übernahme soziologischer Methoden und Einsichten innerhalb von Kirchen und Theologie mit Beginn der siebziger Jahre soll hier nun erweitert werden. Damit wurden bisher nicht rezipierte Forderungen der 1950er und 60er Jahren erneut aufgriffen. Mit der von Jens Marten Lohse 1967 herausgegebenen Studie Kirche ohne Kontakte? lag erstmals eine eingehende Untersuchung zu den sozialen Beziehungen in der Gottesdienstgemeinde, den Motiven für den Gottesdienstbesuch sowie allgemein zur Kirchenmitgliedschaft vor.227 Zwar gingen auch andere Untersuchungen zum Gottesdienst über die Erhebung der Frequenz oder der sozialen Schichtzugehörigkeit hinaus,228 doch Lohses Studie erlaubt interessante Folgerungen in Bezug auf das Phänomen der ritualisierten Gottesdienstteilnahme. Diese soll nun näher betrachtet werden. Das Interesse galt den sozialen Gruppierungen, aus denen sich die Gemeinde zusammensetzte. Hier traten sich deutliche Hinweise auf eine problematische Milieuverengung zutage: Erwerbslose, alleinstehende Frauen und ältere Menschen waren deutlich überrepräsentiert, die »Zwangsrekrutierung« von Jugendlichen (Konfirmanden) war eine unbefriedigende Kompensation. Zum anderen wurde die Zusammensetzung der Gemeinde hinsichtlich ihrer Frequenz erhoben. Dabei zeigte sich, dass der regelmäßige Gottesdienstbesucher »absolut dominiert, während der sporadische Gottesdienstbesucher so gut wie ganz fehlt«.229 Dahinter vermutete man einerseits hohe Zugangshürden, welche durch die Strukturen der traditionellen Liturgie errichtet würden.230 Andererseits bedeute ein in die Lebensgestaltung integrierter Kirch227 Bei der auf Anregung der evangelischen Akademie Bad Boll 1964/65 durchgeführte Befragung bewertete Hein Eduard Tödt die Aufgeschlossenheit der Theologie gegenüber religionssoziologischen Fragen zurückhaltend: »Es ist hierzulande nicht oder noch nicht üblich, daß Gemeinden sich über ihre eigenen Situation und Struktur und über ihre besonderen Aufgaben systematisch Gedanken machen und dabei auch den Rat der wissenschaftlichen Soziologie einholen« (Jens M. Lohse: Kirche ohne Kontakte? Beziehungsformen in einem Industrieraum, Stuttgart 1967, 10). 228 Zu den begrenztere Umfragen im Vorfeld der großen Gottesdienststudien zählte auch die in Basel durchgeführt Untersuchung von Leuenberger (Hg.): Gottesdienst – Angebot ohne Nachfrage?. Die Initiative für die im März 1967 durchgeführte Studie ging bereits 1964 vom Basler »Industriepfarrer« Felix Tschudi aus. Bemerkenswert war u. a. der Wunsch von einem Sechstel der befragten reformierten Christen nach einem »liturgisch reicher und mannigfaltiger gestalteten Gottesdienst« (vgl. aaO., 50). Andererseits fällt gerade in den frühen Befragungen immer wieder auf, dass die für die Nach-1968er-Jahre markierten Veränderungen des Freizeitverhaltens bereits hier mit großer Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden: »[D]er Sonntag [ist] in der heutigen hektischen Beanspruchung des Menschen stark in die Erholungszone gerückt […], in der man ganz nur sein privates Leben […] leben möchte« (aaO., 54). 229 Lohse: Kirche ohne Kontakte?, 33. 230 »[Z]u allen diesen [sc. traditionellen liturgischen, RG] Elementen des Gottesdienstes bedarf es
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gang eine erhebliche »Entscheidungsentlastung«, da der sporadische Besucher stets eine neue Entscheidung treffen müsse, was wiederum eines besonderen Planungsaufwands und nicht zuletzt einer besonderen Rechtfertigung nach außen wie auch vor sich selbst bedürfe. Angesichts der Dominanz des regelmäßigen Besuchers überrascht der geringe Bekanntschaftsgrad unter den Teilnehmern. Mehr als die Hälfte geben an, ein Viertel der Besucher oder weniger persönlich zu kennen: »Das Zahlenmaterial spiegelt das Bild von einer anonymisierten Gottesdienstgemeinde.«231 Entsprechend lässt die jeweilige Gottesdienstgemeinde auch keine Gruppenstruktur erkennen. Man sprach von einer »gleichgestimmten Menge«, die sich jeweils aufgrund »individuelle[r] Teilnahme bei individueller Distanz-Bestimmung und einer fluktuierenden Teilnehmerschaft« konstituiert. Damit sei die Annahme widerlegt, die Gottesdienstbesucher bilden eine homogene Gruppe, denen sich der Gelegenheitsbesucher gegenüber fremd bzw. ausgeschlossen fühlt. Welche Gründe existieren laut der Studie nun für diese Anonymität und wie ist die Gemeinschaft derer näher zu beschreiben, die gemeinsam Gottesdienst feiern? Jene 77 % der in der Stadt Befragten, die davon ausgehen, dass manche Gottesdienstteilnehmer bewusst anonym bleiben wollen, nennen als (negativen) Faktor zum einen soziale Rollenkonflikte: Man wolle nicht zum »Kreis der Frommen« gerechnet werden. Stärker aber scheinen sogenannte Verpflichtungskonflikte ausschlaggebend, die Bedenken also, zu sozialem Engagement und damit zu kontinuierlicher Bindung genötigt zu werden. Unter liturgischer Fragestellung ist umso interessanter, dass 90 % der sogenannten »Schlüsselpersonen« (= besonders kirchlich Engagierte, d. h. »Kerngemeinde«) angaben, es mache keinen Unterschied, ob man einen Gottesdienst mit fremden oder vertrauten Personen erlebt. Nur 10 % sprachen von einem »Heimat- und Geborgenheitsgefühl«. Daraus resultiert eine hohe Zustimmung zur Aussage »›Ich gehe für mich in den Gottesdienst; nicht, um auf den anderen zu achten, Kirchgang ist nicht von anderen Menschen abhängig zu machen‹«.232 Dies fassen die Autoren zusammen in der Überschrift »Das egozentrische Erbauungsbedürfnis«. Trotz dieser bevorzugten Unabhängigkeit erweist sich eine gewisse Form von Gemeinschaft unter den Gottesdienstteilnehmern nicht nur als erwünscht, sondern geradezu für die Feier als notwendig. Nämlich zu wissen, dass »›auch, wenn der andere einem persönlich nicht bekannt ist, er ein Christ ist‹«.233 Die Studie unterscheidet daher zwischen einer »Lebenssolidarität« eines intensiven Verhältnisses, um sie verinnerlichen und nachvollziehen zu können. Der ausgesprochen meditativ geprägte Handlungsraum setzt eine durch den kontinuierlichen Kontakt vermittelte Einübung voraus, die dem Besucher den Geschehensablauf erst vertraut und verständlich macht« (ebd.). 231 AaO., 36. 232 AaO., 47. 233 AaO., 48.
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und einer »Gesinnungssolidarität«. Nur letztere ist für die im Gottesdienst gesuchte persönliche Erbauung von Bedeutung. Dass es nicht um »Lebenssolidarität« geht, macht zudem die hohe Fluktuation gerade unter städtischen Gottesdienstbesuchern verständlich, die ihre Parochialkirche verlassen und andere Kirchen aufsuchen.234 Dabei empfinden manche der Befragten starke Spannungen zwischen ihren religiösen Bedürfnissen und den vermeintlichen kirchlichen Erwartungen. Sie hadern mit der Frage, ob es vertretbar ist, die Gemeinschaft der eigenen Gemeinde dadurch zu schwächen, dass man – aus egoistischen Motiven – einen anderen Gottesdienst aufsucht. Anders formuliert: das innere Bedürfnis nach Gesinnungssolidarität steht häufig dem als normativ akzeptierten Anspruch von Gemeindeleben gegenüber, in Kirche und Gemeinde müsse es doch ›eigentlich‹ um »Lebenssolidarität« gehen. Die zunächst als im Rahmen einer »Soziologie der Kirchengemeinde« konzipierte Studie ermöglich zwei wichtige Einsichten in die »Soziologie des Kirchgängers«. Einerseits erweitern sie das Verständnis der Veranlassung zur Ritualteilnahme, andererseits zeichne sie ein alternatives Bild der im rituellen Vollzug des Gottesdienstes versammelten Gemeinschaft als das einer familiären Gemeinschaft. In eindrücklicher Weise wird erkennbar, wie es in dieser frühen Untersuchung mithilfe des von Laube für protestantische Studien als typisch herausgearbeiteten Ansatzes gelang, die kirchlichen Zielvorgaben einer »Kirche der Kontakte« nicht nur mit der Realität abzugleichen, sondern anhand der Befunde zu problematisieren. Bereits Mitte der 1960er Jahre gelangt die Studie zu dem Schluss, dass eine »schichtengeprägte Norm des Gottesdienstbesuches« nicht mehr existiere. Der Kirchgang stellt somit weder eine Verpflichtung dar, noch kann er als Ausdruck unreflektierten Verhaltens gesehen werden. Er stellt keine bloße, sondern eine bewusste Gewohnheit dar: »Die kleine Gruppe, die zum Gottesdienst kommt, ›kommt, weil sie will!‹.«235 Damit ist auch die Sorge, rituelles Handeln sei eine Form unterreflektierten, extrinsisch motivierten Verhaltens (Routine, sozialer Druck, religiöse Norm etc.), soziologisch zumindest in dieser Untersuchung nicht nachweisbar. Stattdessen setze »die gottesdienstliche Beziehung […] einen sachlichen Bezug voraus, der individuell verinnerlicht ist und sich als eine Verhaltensgewohnheit des kontinuierlichen Besuches institutionalisiert.«236 Dass der Gottesdienst also nicht um sozialer Beziehungen willen besucht wird, spricht den Autoren zufolge für die These vom Funktionsverlust der Kirchenge-
234 Die Motive dafür haben sich seither kaum geändert: Genannt werden das Bedürfnis nach Abwechslung bei der Predigt, der gottesdienstliche Raum, die Kirchenmusik, die verkehrsgünstige Lage, ein hoher Amtsträger oder eben auch gewünschte Anonymität. 235 AaO., 92. 236 Ebd. Wird der »kontinuierliche Besuch« also als gültige Norm verstanden, ist darin das Resultat einer »individuelle[n] Verinnerlichung der bindenden Verpflichtung zum Gottesdienstbesuch« (aaO., 178) zu sehen.
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meinde im Rahmen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die alle Institutionen gleichermaßen betreffe.237 »Unter dem normativen Aspekt erscheint eine Kirchengemeinde als ›Kirche ohne Kontakte?‹ undenkbar. Die faktischen Verhältnisse jedoch erweisen die Kirche – auch im ›innergemeindlichen‹ Beziehungsrahmen – in mehreren Hinsichten als ›Kirche ohne Kontakte!‹«238 Dies Einsicht stellt für Lohse aber nicht den Bestand der Kirche als solcher in Frage. Vielmehr nötigten die »Veränderungen der kirchengemeindlichen Kontakt- und Beziehungsmuster« – die dem allgemeinen sozialen Wandel entsprechen – zu »eine[r] realitätsbezogene[n] Selbstdeutung und Interpretation der Kirche«239. Diese Einschätzung kann anhand des Begriffs der »Gesinnungssolidarität« auf das Gottesdienst- und Ritualverhalten übertragen werden. Sie bringt einen Aspekt der sozialen Dimension des Rituals zum Vorschein, bei der es nicht um Identifikation mit einer bestimmten Gruppe geht, sondern um Identifikation mit einer Überzeugung oder eben mit der jeweiligen Handlung im Gottesdienst. Wie die hier benannte rituelle Haltung, die vorläufig mit der Forderung umschrieben wird, dass »der andere Christ sein muss«, näherhin zu bestimmen ist, wird noch ausführlich zu thematisieren sein. Dabei wird sich zeigen, dass sich die Solidarität gemeinschaftlichen rituellen Handelns weniger auf die allgemeine religiöse Einstellung bezieht (»Christsein«), sondern auf eine bestimmte Einstellung und positive Akzeptanz der konkreten Handlungsvollzüge. Es geht also weniger darum, welche Religionszugehörigkeit diejenigen verbindet, die gemeinsam Gottesdienst feiern als darum, den Gottesdienst und seine konkreten Vollzüge in der jeweils stipulierten und als solcher akzeptierten Form zu feiern. Die Nichtakzeptanz der rituellen Regeln hat wesentlich stärkeren Einfluss auf die Möglichkeiten zum Ritualvollzug, als übergeordnete weltanschauliche Einstellungen.240 Im Zusammenhang mit dem Prozess des Trauerns hat auch Dietrich Rössler eine besondere, auf die Situation – und eben nicht auf persönliche Beziehungen – bezogene Gemeinschaft beschrieben, die durch das kollektive Handeln und die gemeinsame Zustimmung zur Handlungsform gestiftet wird.241 Die in der Studie von Lohse allerdings noch gegenüber gestellten Formen von Solidarität galt es im weiteren Verlauf zu vermitteln. Die Unterscheidung in »gruppengemeinschaftliche« und »großkirchliche« Partizipationsmuster, wie sie Werner Jetter später vorgeschlagen hat, ist hier bereits 237 238 239 240 241
Vgl. aaO., 176. AaO., 184. Ebd. S. u. 9.5. Rçssler: Die Vernunft der Religion, 36: »In dieser Situation wird durch den Ritus der religiösen Feier eine Gemeinschaft hergestellt, in der unmittelbar und mittelbar Betroffene miteinander verbunden sind. Der entscheidende Aspekt ist dabei der, daß diese Gemeinschaft nicht in Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten begründet ist, die vom Anlaß für die Isolierung der Trauernden absehen.«
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angelegt. Dabei handelt sich um unterschiedliche kirchliche Anbindungsformen, die mit unterschiedlichen religiösen und oft auch liturgischen Bedürfnissen korrelieren.242 Für die gottesdienstliche Praxis zog man aus der Studie einige Folgerungen. Wird der Modus der liturgischen Partizipation als »individuelle Teilnahme bei individueller Distanzbestimmung« beschrieben, stelle die wachsende Anonymität kein unumgängliches Hindernis für die kirchliche Praxis dar, sondern entspreche vielmehr dem »Versachlichungs- und Privatisierungsbedürfnis«243 vieler Kirchenmitglieder in dieser Zeit. Die Beziehungsdistanz könne sogar die Schwelle zur Partizipation senken, wenngleich es der Einübung und einer kontinuierlichen Besuchspraxis bedürfe, um den Gottesdienst in seinem meditativen Charakter erfassen zu können. Die Erkenntnis der »anonymisierten Gottesdienstgemeinde« hätte darauf schließen lassen können, dass für einen relevanten Teil der Besucher die (gesinnungssolidarische) Gottesdienstgemeinschaft eine suffiziente Form von Kirche darstellt, die nicht über das gemeinsam gefeierte Ritual hinausreichen muss. Eine solche »Lebenssolidarität« zum Ziel liturgischer Bemühungen zu erklären, hieße konträr zu den Motiven zahlreicher regelmäßiger Teilnehmer zu agieren. Gottesdienstgemeinschaft, so lässt sich auch für die Gegenwart schlussfolgern, entsteht auch unter den seltenen Festtagsgottesdienstbesuchern und ist als solche eine legitime Sozialgestalt von Kirche.244
2.4.2 »Ritualismus« als konfessionsübergreifendes Verhalten »unwahrscheinlicher Kirchgänger« in den Gottesdienstumfragen der beiden Konfessionen Zu Beginn der 1970er Jahre ließen die römisch-katholische und die evangelischen Kirchenleitungen zwei religionssoziologische Erhebungen durch das 242 Das Abwandern in Sekten, das in dieser Zeit ebenfalls allmählich zur Option und damit zur kirchlichen Herausforderung wurde, erklärte die Studie mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Lebenssolidarität, welches die gesinnungssolidarischen Großkirchen nicht befriedigen könnten: »Als Motivation für die Konversion sind Überlegungen dogmatischer Art nur latent, der Mangel an Lebenssolidarität in den volkskirchlich strukturierten Großkirchen aber ist dominant wirksam« (Lohse: Kirche ohne Kontakte?, 56). 243 AaO., 183. 244 Diesbezüglich besorgt war etwa Gebhard Rau: Rehabilitation des Festtagskirchgängers, 99: »Durch den Festtagskirchgänger wird die Kirche als eine Sozialgröße in Frage gestellt, insbesondere deren Erwartungen an gegenseitige Kontakte ihrer Mitglieder.« Drastischer noch und ganz in Kategorien »dialektischer« Provenienz verhaftet, äußerte sich der EDK-Theologe und Alpirsbacher R diger Schloz: Gottesdienst und Verständigung, in: Seitz/Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, 169–197, 178: »Es kann nicht vorausgesetzt werden, daß die Besucher des Gottesdienstes eine Gemeinde im qualifizierten Sinne sind, deren Merkmal zumindest ein gewisses Maß an Lebens- und Dienstgemeinschaft wäre.«
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Institut für Demoskopie Allensbach unter der Leitung von Gerhard Schmidtchen durchführen. Bei der 1970 im Auftrag der deutschen Bistümer durgeführten »Totalbefragung« der 22 Millionen westdeutschen Katholiken handelte es sich bei einem Rücklauf von 4,4 Mio. Fragebögen immerhin um die bis dahin weltweit größte religionssoziologische Erhebung.245 Die Studie sollte ihrem Titel Zwischen Kirche und Gesellschaft entsprechend umfassende Einblicke in die von vielen empfundene Diskrepanz zwischen kirchlichen und gesellschaftlichen Werten ermöglichen. Die darauffolgende, von der VELKD in Auftrag gegebene Untersuchung fokussierte explizit auf den Gottesdienst in einer rationalen Welt, und ließ damit bereits die Spannungen zwischen zwei scheinbar konträren Welten anklingen. Der verstärkte Fokus auf den Gottesdienst sollte so die Ergebnisse der Synodenumfrage der deutschen Bistümer konkretisieren und vertiefen. Dabei traten in hohem Maße vergleichbare Ergebnisse und Entwicklungen innerhalb der beiden Konfessionen zu Tage. Unter anderem sprach man erstmals von einem ausgeprägten »Ritualismus«, der im Folgenden näher zu untersuchen ist.
2.4.2.1 Zwischen Kirche und Gesellschaft (1972) 2.4.2.1.1 »Unwahrscheinlicher Kirchgang« als überraschender Befund Dass die deutschen Bischöfe auf soziologische Methoden zurückgriffen, war nicht nur Folge der Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels, die auch die evangelische Kirche in Deutschland umtrieben. Nicht weniger bedeutsam war die selbstverordnete Öffnung der Kirche infolge des 2. Vaticanums mit dem Programm des »Aggiornamento«. Damit verbunden war eine Öffnung der empirischen Sozialforschung von einem »pastoralen Verständnis von ›Kirchlichkeit‹« zur »tatsächlichen Vielfalt religiöser Orientierungen«246 sowie die Überwindung der Bestimmung eines »guten Katholiken« ausschließlich aufgrund seines Ritualverhaltens. Religiosität sollte generell nicht mehr nur anhand des tatsächlichen Verhaltens erfasst werden, sondern als 245 Vgl. Gerhard Schmidtchen: Zwischen Kirche und Gesellschaft. Forschungsbericht über die Umfragen zur Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 1972. Die Umfragebögen wurden ergänzt durch schriftliche Flächenstichproben mit 4500 Teilnehmern sowie einer mündlichen Repräsentativumfrage mit 4000 Teilnehmern. Dabei zeigte sich u. a., dass die typische Diskrepanz zwischen statistisch berechneter und in der Selbstauskunft angegebener Kirchgangsfrequenz bei persönlicher Befragung wesentlich geringer ausfällt, als beim postalischen Rücklauf (vgl. aaO., 95). 246 Franz-Xaver Kaufmann: Empirische Sozialforschung zwischen Soziologie und Theologie, in: Karl Forster (Hg.): Befragte Katholiken – zur Zukunft von Glaube und Kirche. Auswertungen und Kommentare zu den Umfragen für die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 1973, 185–197, 187.
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geistig-geistliche Größe in das Blickfeld rückten und somit die Frage nach den individuellen »Einstellungen«. Ein Hauptaugenmerk lag auf den mitunter erheblichen Diskrepanzen zwischen den Überzeugungen und Einstellungen der Kirchenmitglieder auf der einen und dem kirchlichen Wertesystem auf der anderen Seite. Die Häufigkeit des Gottesdienstbesuches korrelierte mit dem Maß, in dem man kirchliche und gesellschaftliche Werte als kongruent empfand. Er hing aber auch davon ab, inwiefern man sich mit der Kirche generell verbunden fühlt. Die Umfrage ergab jedoch zugleich, dass unter Kirchgängern die Kongruenz der Wertesysteme für das Maß an kirchlicher Bindung von geringerer Bedeutung ist, als unter Nichtkirchgängern. Ein hohes Maß an kirchlicher Bindung ist damit nicht an einen Wertekonsens gebunden. Entgegen des allgemeinen Trends fanden sich unter den »Dominikanten«, den regelmäßigen sonntäglichen Kirchgängern, allerdings auch Personen, die eine besonders stark ausgeprägte Diskrepanz zwischen kirchlichem und persönlichem Wertesystem empfanden.247 Dieses Verhalten dieser »unwahrscheinlichen Kirchenbesucher« konnte mit Verweis auf die religiöse Erziehung und Gewohnheit zumindest grundsätzlich plausibel gemacht werden. Erklärungsbedürftig aber blieb jene Gruppe, die zwar den Gottesdienst besuchte, sich aber nicht als »glaubensfest« im Sinne der Umfrage verstand, also nicht der Aussage zustimmten »›Ich bin gläubiges Mitglied meiner Kirche und stehe zu ihrer Lehre‹«. Traf dies bei den sporadischen Kirchengängern auf nahezu die gesamte Gruppe zu, so verwunderten vor allem jene 13 %, die »regelmäßig, aber ohne Glaubensfestigkeit die Kirche besuchen« und die in der Studie mit einem Hilfsbegriff als »eigentliche Ritualisten« bezeichnet wurden.248 Besonders unter Jugendlichen im Alter von 16–20 Jahren traf dies immerhin auf 58 % der Dominikanten zu, die für die Selbsteinschätzung ihres Glaubens eher die Aussagen wählten »Ich fühle mich als Christ, aber die Kirche bedeutet mir nicht viel« bzw. »Ich habe meine eigenen Glaubensansichten, meine eigene Weltanschauung: ganz unabhängig von der Kirche.« Auffällig ist, dass unter diesen Personen religiöse Praxen im Alltag, wie das Tischgebet, recht verbreitet waren. Überraschend ist dieses Ergebnis auch deshalb, weil zu vermuten gewesen wäre, dass Ritualismus vor allem mit traditioneller Kirchenbindung einhergeht, während bei Jugendlichen eine engagierte und von persönlicher Überzeugung getragene religiöse Praxis dominiert. In der Beurteilung dieser »Ritualisten« schwankt die Studie. Einerseits wird der durch »Glauben motivierten Bindung an die Kirche« eine »nur ritualistische« gegenübergestellt. Folglich vermutete man in der Gruppe der »Ri247 Schmidtchen: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 73 ff. Dies mag zugleich als Beispiel dienen für unerwartete Ergebnissen im Rahmen quantitativer Sozialforschung, die doch mehr vermag, als die in den Fragebögen getroffenen Vorannahmen zu bestätigen. Für das analytische Potenzial quantitativer Forschung in Verbindung mit entsprechenden Auswertungsmethoden sprechen sich auch gegenwärtig Pollack/Rosta: Religion in der Moderne, 16–18 aus. 248 Schmidtchen: Zwischen Kirche und Gesellschaft, 110. Zum Folgenden vgl. aaO., 107–115.
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tualisten« solche, »die gedankenlos noch zur Kirche gehen«. Dennoch bemühte man sich, diese Gruppe umfassender zu analysieren, da es sich um Personen handele, die »offenbar nicht glaubenslos« sind bzw. es »bewußt verantworten, trotz ihrer Glaubensprobleme am kirchlichen Leben teilzunehmen«.249 »Ritualisten« stünden kirchlichen Lehrmeinungen »kritisch« gegenüber. Nur ein Teil versteht den Kirchenbesuch unter dem Aspekt der Vergesellschaftung. Und immerhin ein Drittel gab an, nur eine »ganz lose Bindung« zu seiner Gemeinde zu pflegen. Bei geringem persönlichem Glauben motivierten also weder ein geteiltes allgemeines Wertesystem, noch soziale Bindungen zur Teilnahme am kirchlichen Ritual. Weil diese beiden naheliegenden Erklärungen das Phänomen des »Ritualismus« nicht hinreichend erfassen konnten, setzt Schmidtchen den Begriff in Anführungszeichen. Die Ergebnisse regen zu weiteren Überlegungen zum Phänomen der Ritualität an. Geht man von einem subjektiv als nicht hinreichend empfundenen Glauben aus, scheint liturgisches Handeln der Studie zufolge für die Ritualakteure die Möglichkeit zu eröffnen, ihr Handeln als Auseinandersetzung mit Glaubensfragen zu verstehen. Dabei muss es keineswegs zu einer Übernahme des kirchlichen Lehr- und Moralkanons kommen. Diese Annahme würde auch durch die Tatsache gestützt, dass »Ritualisten« generell ein starkes Bedürfnis nach Glaubensreflexion aufweisen. 67 % geben an, sich mindestens gelegentlich über Fragen von Kirche und Religion auszutauschen.250 Die Studie lässt zudem den Schluss zu, dass anders als bei Seydel u. a. behauptet (s. o. 2.1), rituelles Handeln keine Übereinstimmung über ein bestimmtes Werte- und Weltanschauungssystem voraussetzt. Dies wird umso deutlicher vor der Hintergrund, dass sich unter den regelmäßigen Kirchgängern zu einem großen Teil Personen finden, die – anders als die »Ritualisten« – stark von kirchlichen Werten überzeugt sind.251 Kritik gegenüber der Kirche, divergierende Deutungen von Welt und Religion sowie auch inkongruente Wertsysteme halten Menschen nicht von der Ritualteilnahme ab. Dies bedeutet eine Relativierung der These von der Integrationsfunktion der Religion, sofern Integration als konträr zu differenzierenden Prozessen im Sinne einer Vereinheitlichung verstanden wird. Integration im Gottesdienst findet unter Beibehaltung von Pluralität statt. Religiöse Rituale, so könnte eine Folgerung lauten, können nicht vollkommen von den sie verwaltenden Institutionen und deren Deutungen vereinnahmt werden. Oder positiv formuliert: Rituale scheinen ausreichend Raum für unterschiedliche Überzeugungen und Deutungen zu bieten und stärker auf die Handlung, als auf die Deutung bezogen zu sein. Letztere wäre 249 AaO., 110. 250 Überhaupt spielen existenzielle religiöse Fragen für diese Gruppe eine große Rolle. Darum sind für Schmidtchen die »Ritualisten« eben nicht »glaubenslos, sondern haben Glaubensprobleme« (ebd.). 251 Vgl. aaO., 107f., Tabelle 50 u. 51.
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dann vielmehr erst als Folge der Aneignung der Handlung zu verstehen, wie dies auch von neueren Theorien nahegelegt wird (s. u. 8).
2.4.2.1.2 Auswertung: »Ritualismus« als Folge der Liturgiereform des II. Vaticanums? Im Folgejahr erschien ein theologisch-soziologischer Kommentarband zur Gottesdienstumfrage der Synode der Bistümer. Die Auseinandersetzung mit dem (jugendlichen) »Ritualismus« bildete einen Schwerpunkt. Die Untersuchungsergebnisse wurden übereinstimmend als dringliche Herausforderung zum Handeln verstanden – unabhängig davon, ob man das Phänomen als Vorbote eines fortschreitenden Verlusts an kirchlicher Bindung verstand, als Anfrage an die zukünftigen Möglichkeiten religiöser Sozialisierung oder als Aufforderung zu einer zeitgemäßen Ausgestaltung der rituellen Formen, die es erlauben sollten, das Auseinanderfallen von äußerer Praxis und innerer Überzeugung zu überwinden. Einig war man sich auch darüber, dass eine möglichst hohe Kongruenz von kirchlichem (sanktioniertem) Handeln und kirchlicher (normierter) Glaubensüberzeugung die Zielvorstellung christlicher Glaubenspraxis und folglich auch kirchlicher Bemühungen sein müsse. Karl Forster nahm die Resultate darüber hinaus zum Anlass, grundsätzliche Überlegungen zum Selbstverständnis der katholischen Kirche anzustellen. Die Kirche müsse sich davor hüten, das »Entscheidungschristentum« als Norm kirchlicher Bindung zu ideologisieren und alle Abweichungen – wie den »Ritualismus« – als Atheismus abzuwerten. Damit würden Personen, die aufgrund ihrer statistisch geringen Austrittsneigung als bewusste Kirchenmitglieder zu werten sind, und die noch dazu einen erheblichen Anteil an der Gesamtzahl der katholischen Christen ausmachen, in ihrem Christsein in Frage gestellt. Forster bezeichnete daher die »Alternative Volkskirche – Entscheidungskirche für die pastorale Praxis«252 als höchst gefährlich. Ludwig Bertsch – ein bei J.A. Jungmann promovierter Pastoraltheologe und Liturgiewissenschaftler – sah im Phänomen des »Ritualismus« das Resultat der Unzulänglichkeiten der jüngsten Liturgiereform, die er im Dilemma »der Notwendigkeit ritueller Formen in der Kirche einerseits und der Unzugänglichkeit vieler alter Riten und dem Mangel an neuen Riten andererseits«253 zusammengefasst sah. Die tiefgreifenden Reformen von Messordnung, Heiligenkalender, Fastenregeln stellten umso grundsätzlicher die Frage nach der Reformierbarkeit des Ritus, je mehr deutlich wurde, dass »neue Formen nicht 252 Karl Forster: Zur theologischen Motivation und zu den pastoralen Konsequenzen der Umfragen zur Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. (Hg.): Befragte Katholiken, 9–22, 19. 253 Ludwig Bertsch: Die „Ritualisten“ als Frage an die Riten und Symbole der Kirche, in: Forster (Hg.): Befragte Katholiken, 83–97, 83.
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einfach erfunden und produziert werden«254 könnten. Mit Alexander Mitscherlich unterscheidet Bertsch zwischen »rationalem Planen« und »ritualisiertem Einleben« als zwei unterschiedlichen und voneinander getrennten Grundkräften gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sacrosanctum Concilium habe die alten Rituale einseitig rationalen Planungsprozessen unterworfen. Ähnlich kritisierte auch Schmidtchen selbst die Liturgiereform hinsichtlich des zu raschen Tempos ihrer Umsetzung, welchen den explizit gewünschten Effekt einer »ritualistischen Bindung an die Kirche«255 behindere. Auffällig ist, dass die Forderung des Konzils, auf eine »bewußte und tätige Teilnahme« (SC 11) der Gemeinde hinzuwirken, an keiner Stelle erwähnt wird.256 Wie aber ist die Entwicklung neuer Riten dennoch möglich, wenn sich die alten Formen als repristinierbar erweisen? Zur Klärung dieser Frage nimmt Bertsch drei Felder in den Blick. Zum einen gelte es – anknüpfend an das Entstehen liturgischer Formen der frühen Christenheit – »insuläre Anstrengungen« gegenüber gesamtkirchlichen Vorgaben zu präferieren. Die Förderung der Entwicklung lokaler Traditionen lasse zugleich Raum für Phasen der Erprobung und Bewährung. Als zweiten Bereich nennt Bertsch die Vermittlung und Kommunikation liturgischer Fragen. Zunächst müsse sich die Kirche hier vor zu selbstsicherer Präsentation vermeintlich unumstößlicher Normen hüten. Gerade um die Jugend zu erreichen bedürfe es »des Bearbeitens, einigermaßen angstfreien Durchdenkens und Zusammensehens der Merkmale der Unsicherheit«.257 Und schließlich sei die Vereinigung von Glaubensüberzeugung und -praxis nicht ohne eine geistliche Erneuerung zu erlangen, die neben kreativer Innovation auch den Anschluss an die Tradition herzustellen vermag. Andere Autoren stellten ins Zentrum ihrer Kritik an den Reformen des 2. Vaticanums eine vermeintliche Tendenz zur Intellektualisierung. Diese Position wurde später ebenso polemisch wie öffentlichkeitswirksam von Alfred Lorenzer vertreten, der von einer Zerstörung der Sinnlichkeit durch ein Konzil der Buchhalter sprach.258 In der Auswertung der Gottesdienststudie ging es jedoch zunächst darum, anhand des Befundes zum »Ritualismus« das Missverhältnis herauszustellen, das zwischen dem Selbstverständnis der Institution im Blick auf die Bedeutung ihrer Lehre und deren tatsächlicher Stellung im Glaubensvollzug bestehe. Der »jugendliche Ritualismus« wurde als Beleg gewertet, dass die Überzeugung der Sinnhaftigkeit des eigenen religiösen 254 AaO., 93. 255 Gerhard Schmidtchen: Katholiken im Konflikt. Überblick über die Ergebnisse der Synodenuntersuchung und einige Schlußfolgerungen, in: Forster (Hg.): Befragte Katholiken, 164–184, 181. 256 Nahe gelegen hätte auch ein Bezug zu SC 17, worin zumindest für die Kleriker angestrebt wird, dass sie »die heiligen Riten verstehen und aus ganzem Herzen an ihnen teilnehmen können«. 257 Bertsch: Die „Ritualisten“, 95. 258 Vgl. Alfred Lorenzer: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a. Main 1981.
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Verhaltens vor allem durch rituelle Verhaltensformen vermittelt wird und eben nicht durch verbalisierte Erziehungsgrundsätze, wie sie die Fragestellungen der Umfrage widerspiegelten. Ohnehin blieben trotz aller kritischen Auseinandersetzung die Dogmen häufig unzugänglich, während die Kernvollzüge der Riten wie Reinigungsbad oder Mahlhalten auch in der Moderne intuitiv zugänglich und nachvollziehbar blieben. Schließlich trage für Schmidtchen die verstärkte Betonung der kognitiven Dimension der Religion dazu bei, die Spannung zwischen Glaubensüberzeugung und religiöser Praxis zu verschärfen.259 Doch nicht alle Kommentatoren waren bereit, die Ergebnisse der Untersuchung im Sinne eines »jugendlichen Ritualismus« auszulegen oder. zielten darauf ab, die Kategorie in ihrer vermeintlich alarmierenden Wirkung zu entschärfen. Heinz Fleckenstein etwa vermutete, dass Ältere allein aufgrund ihrer Erziehung der Aussage zustimmten, gläubiges Mitglied der Kirche zu sein. Eine von dieser Bindung befreite Selbsteinschätzung würde die Zahl der »Ritualisten« womöglich noch erhöhen.260 Bertsch hingegen fragte an, ob »Ritualismus« nicht auf der kaum zu rechtfertigenden Annahme beruhe, dass Aussagen zu Glaubenszweifeln (»›Ich weiß nicht so recht, woran ich eigentlich glauben soll‹«) mit Unglaube (»›Ich brauche keinen Glauben‹« und »›Der Glaube sagt mir gar nichts.‹«) in einer Kategorie zusammengefasst und der Aussage gegenübergestellt würden, »Ich bin gläubiges Mitglied meiner Kirche und stehe zu ihrer Lehre.« Stark zu hinterfragen sei es zudem, Glaubenszweifel und Glauben als kontradiktorisch zu verstehen, wie Roman Bleistein fragt: »Was heißt ›Glaubensprobleme‹? Gibt es heute überhaupt einen Christen, der nicht eine gewisse Angefochtenheit im Glauben zu erleiden hat?«261 Schließlich gehöre bei Jugendlichen das Bedürfnis, sich nicht auf bestimmte Glaubensaussagen festlegen zu wollen, zur entwicklungspsychologischen Normalität und der für dieses Alter typischen antiautoritären Einstellung.262 Auch Schmidtchen selbst vermutet unter jungen Menschen ein geringeres Konsistenzbedürfnis, jede äußere Handlung durch innerliche Motive zu rechtferti259 »Eine zu starke Verbalisierung und Intellektualisierung der Liturgie, also gleichsam die Rationalisierung des Gottesdienstes, […] würde […] den Konsistenzdruck verstärken und demzufolge Konfliktspannungen eher erhöhen als reduzieren« (Katholiken im Konflikt, 182). Schmidtchen wollte diese Forderung aber keineswegs als »Plädoyer gegen intellektuelle Auseinandersetzung, gegen Klärung und Selbstklärung oder gar gegen eine Modernisierung der Theologie und ihrer Kommunikationsformen« verstanden wissen, ihm ging es um den Erhalt eines »psychologisch religiösen Schutzbereich[es]« (ebd.). 260 Vgl. Ders.: Rückblick auf das Symposion über Kirche und Gesellschaft. Eindrücke, theoretische und methodologische Überlegungen, Antworten auf Fragen, Hoffnung auf Kontinuität der Forschung, in: Forster (Hg.): Befragte Katholiken, 258–276, 271. 261 Roman Bleistein: Jugend – auf kritischer Distanz zur Kirche, in: Forster (Hg.): Befragte Katholiken, 151–163, 158. 262 »Wäre nicht im Gegenteil der unangefochtene junge Mensch eigentlich der für Eltern und Religionspädagogen problematische?« (ebd.).
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gen.263 Kritisiert wurde aber darüber hinaus auch, dass die Untersuchung unter »Ritualismus« eine Verbundenheit mit dem Ritus benennt, ohne dann auch zu untersuchen, wie die Gottesdienstbesucher den Ritus erleben.264 Neben diesen Anfragen an den vermeintlich eindeutigen Befund zum »Ritualismus« richtete sich die Kritik zudem auf die Begrifflichkeit selbst. Franz-Xaver Kaufmann attestierte der Rede vom »Glaubensbewusstsein«, von der »Bindung an die Gemeinde« wie vom »Ritualismus« Künstlichkeit. Weder handele es sich um theologische Begriffe, noch um solche aus dem »Alltagsbewußtsein der Gläubigen«, sondern um die meist unzureichend reflektierte Übernahme soziologischer Kategorien, die aufgrund unterschiedlicher Begriffsfüllungen der einzelnen Wissenschaften problematisch sei.265 Theologisch höchst fragwürdig sei zudem die Identifikation von »Gläubigkeit« mit einer Auswahl aus bereits formulierten Aussagen. Müsse nicht gerade die Theologie hier zu einer differenzierten Interpretation dieses Begriffs gelangen, der Glauben auch als Lebens- und Handlungsform verstehe? Ähnlich hinterfragte auch Emil Joseph Lengelin den »unglücklichen Pauschalbegriff« des »Ritualismus«, der eine rein extrinsisch motivierte Glaubenspraxis impliziere und zudem nicht mit der Möglichkeit rechne, dass gerade durch die Praxis »Herz und Geist eben berührt werden« könnten.266 Der Blick auf die überaus umfangreiche katholische Gottesdienstumfrage erlaubt einige allgemeine Einsichten sowohl zur konfessionellen Spezifik der Begegnung mit dem Thema der Ritualität als auch zu Gemeinsamkeiten, die bereits hier deutlich werden und zur evangelischen Untersuchung hinführen. Die Verbindung von Ritus und Ritual ist innerhalb der katholischen Theologie aufgrund begrifflicher Kontinuität (s. u. 6.1) von Selbstverständlichkeit ge263 »Die Menschen beginnen mit einer partiellen, einer unvollständigen Motivausrüstung. Sie werden in ein Handlungsgefüge einbezogen und rechtfertigen das, was sie tun, erst später durch Aufbau von Motivation, insbesondere bei einem System unvollständiger Verstärkung, das heißt, wenn sie nicht jedes Mal erklärt bekommen, warum sie dies und jenes machen« (Schmidtchen: Rückblick, 276). 264 Bertsch: Die „Ritualisten“, 86. Genau diese Lücke zu schließen und das Erleben ins Zentrum zu stellen, war wenig später das Anliegen der Studie von Daiber u. a. (Hg.): Gemeinden erleben ihre Gottesdienste (s. u. 2.4.3). 265 Vgl. Kaufmann: Empirische Sozialforschung, 192. Kaufmann zufolge sei der Begriff des »Ritualismus« von Robert K. Merton übernommen (Social Theory and Social Structure, Glencoe, IL 21957). Merton verstand unter »ritualism« eine Adaptionsstrategie von Individuen angesichts gesellschaftlicher Erwartungen. Ihr Spezifikum liegt in der Ablehnung der als erstrebenswert geltenden kulturellen Werte bei gleichzeitiger Akzeptanz der institutionalisierten Mittel, um diese Ziele zu erreichen (vgl. aaO., 131–160). »Ritualism« stellt also eine Form des Auseinanderfallens von innerer Überzeugung und äußerlichem Handeln dar. Paradoxerweise führt dies zu einer gesteigerten Genauigkeit, mit der die Regeln eingehalten werden. Merton spricht dabei vom »bureaucratic virtuosos« (vgl. aaO., 152). Diese Aspekte spielen in der Gottesdienststudie jedoch keine Rolle. 266 Emil J. Lengeling: Fragen des Gottesdienstes, in: Forster (Hg.): Befragte Katholiken, 106–132, 109.
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prägt, sodass unter Ritualen eben vor allem die kirchlichen Riten verstanden werden. Anders als im Protestantismus spielt das Verhältnis Ritual und Predigt nur eine untergeordnete Rolle. Die Vermittlung von Lehrinhalten, ob dogmatischer oder liturgischer Art, wird dem Ritualvollzug als vor- oder nachgelagert verstanden. Somit ist mangelnde Verständlichkeit und Zugänglichkeit in der katholischen Studie ein rein liturgisches Problem, ohne dass homiletische Erwägungen an dieser Stelle angestellt würden. Eine weitere Besonderheit ist die gelegentliche Verbindung kirchensoziologischer Problemanzeigen mit Fragen nach der Dimension von Glauben und geistigem Leben, sodass es für Bertsch »einzig der Weg zu immer größerer Gläubigkeit [ist], auf dem dann auch neue rituelle Verhaltensformen kirchlichen Lebens gefunden und erprobt werden können«267. In der evangelischen Diskussion waren »geistliche« Problemanzeigen ein typisches Kennzeichen dialektischer Theologie gewesen, die im Zuge der Neuaufbrüche seit den 1960er Jahre nahezu verschwanden (s. o. 1.2.1). Mit der Bejahung der Volkskirche schien man sich dezidiert geistlicher Visionen für die Kirche zu enthalten und sinkende Vertrautheit mit traditionellen Vollzügen vorwiegend als hermeneutische oder ästhetische Problemanzeige zu verstehen. Am Beispiel Karl Forsters zeigte sich jedoch, dass vergleichbar mit der Frage nach der »Kerngemeinde« im Protestantismus auch auf katholischer Seite volkskirchliche Partizipations- und Bindungsformen einer »Entscheidungskirche« gegenübergestellt werden konnten. Mit dem Blick auf die Volkskirche und ihre Ritenpartizipation richtete sich die Aufmerksamkeit dann auf die Sakramente, deren rituelle, leibliche Kernvollzüge durch die liturgischen Reformen prinzipiell gestärkt worden waren. Auch begrifflich zeigte sich mit der Verbindung von »Ritus und Symbol« (Bertsch) die Nähe zur evangelischen Theologie als Variante der von Jetter populär gemachten Formel von »Symbol und Ritual«. Schließlich ließ die Auswertung auch die methodischen Grenzen der Umfrage erkennen. Sie erlaubte nur stark eingeschränkt, die Differenz zwischen (äußerem) Handeln und (innerer) Überzeugung zu deuten. Warum Menschen weiterhin (»trotzdem«) an rituellen Gottesdienstformen partizipieren, konnte nur anhand von Kriterien erklärt werden, die dem Ritual selbst äußerlich sind. Die Erhebung der »Gläubigkeit« zeigte schließlich auch die Grenzen quantitativer Umfragen. Glaube wurde dabei auf Zustimmung oder Ablehnung vorgegebener Aussagen reduziert. Damit erschien der Glaube zwar messbar, aber die geäußerten Zweifel oder Unsicherheiten, die eine fragende und suchende Haltung ausdrückten, konnten nur als Mangel an Glauben gewertet werden. Diese theologisch problematische soziologische Engführung forderte eine theologische Korrektur heraus.
267 Bertsch: Die „Ritualisten“, 97.
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2.4.2.2 Gottesdienst in einer rationalen Welt (1973) 2.4.2.2.1 »Ritualismus« zwischen sozialer Einbettung und spiritueller Defizienz Nachdem die Methode der schriftlichen Befragung der ersten Studien von mehreren Seiten kritisiert worden war, bediente sich die von der VELKD in Auftrag gegebene und wiederum unter Leitung von Gerhardt Schmidtchen stehende zweite Studie von Beginn an der Methode der standardisierten Interviews. Diese wurde im Frühsommer 1972 mit mehr als 2000 Personen durchgeführt. Bewusst bezog man eine große Zahl von Nichtkirchengängern ein, um »der Gefahr der Konformitätsantworten zu entgehen«268, wie Manfred Seitz erläuterte, der Vorsitzende der VELKD-Kommission. Angesichts »leerer Kirchen« bestand durchaus die Hoffnung auf konkrete Gestaltungsempfehlungen, welche die Attraktivität und Zugänglichkeit des Gottesdienstes erhöhen könnten. Zunächst aber sollten generelle Wertvorstellungen, religiöse Überzeugungen, religiöse Sozialisation und kirchliche Bindung als Faktoren untersucht werden, die mit dem Gottesdienstbesuch bzw. dem »GottesdienstEntgehen« korrelieren. Noch bevor man also über einen möglichen »besseren« Gottesdienst nachdenken wollte, galt es das »Image dessen, was Gottesdienst ist« zu erforschen, wie man bewusst progressiver Sprache formulierte.269 Der Grund, die gesellschaftlichen Werte zum Ausgangspunkt einer Gottesdienststudie zu machen, lag in der durchaus problematischen Annahme, dass die »Funktion des Kirchenbesuchs in der säkularisierten Gesellschaft« (12) von instrumental-rationalem Verhalten bestimmt sei. Daraus ergaben sich zwei Folgerungen: Zum einen beurteilen Menschen Handlungen danach, ob sie zur Realisierung subjektiv gültiger Werte und Ziele beitragen. Zum anderen liegen die Gründe für den Besuch des Gottesdienstes nur zu einem geringen Teil auf der Ebene der Gestaltung, sie sind vielmehr hauptsächlich vom Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft bzw. der Wahrnehmung dieses Verhältnisses aus Sicht der Kirchenmitglieder abhängig.270 Die Reichweite liturgischer Reformen galt damit von vornherein als begrenzt. 268 Manfred Seitz: Die Umfrage-Ergebnisse als Aufgabe, in: Schmidtchen (Hg.): Gottesdienst in einer rationalen Welt, 150–160, 151. Die folgenden Seitenzahlen im Text folgen diesem Band. 269 Die Diskrepanz zwischen theologischer und empirischer Relevanz wurde hier zunächst als Problemanzeige verstanden. Die Ein- und Unterordnung des Gottesdienstes in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, an der auch die Liturgie nolens volens immer beteiligt ist, wirkte seither immer wieder entlastend. 270 Schmidtchen (Hg.): Gottesdienst in einer rationalen Welt, 1: »Die Gestaltung des Gottesdienstes erklärt vom Kirchenbesuch nur relativ wenig. […] Liturgische Reformen sind ein unzureichendes Instrumentarium, um das Verhältnis von Kirchen und Gesellschaft zu ändern.«
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Im ersten Teil der Studie wurden die gelten Wertvorstellungen erfragt und in Dimensionen wie »Mitmenschlichkeit«, »Fortschritt und Humanität«, »Ordobedürfnis« oder »Selbstverwirklichung« unterteilt. Dabei wurde eine deutliche Diskrepanz sichtbar zwischen den persönlichen bzw. gesellschaftlichen Werten und jenen Werten, die man von der Kirche repräsentiert sah. Mehr noch: »Die Kirche, so empfinden beträchtliche Minderheiten, behindere soziale Gerechtigkeit, behindere Lebensgenuß, behindere das Weltverständnis und die Modernisierung der Gesellschaft« (9). Mit der Einsicht in diese Diskrepanz, welche die Kirche als »dysfunktional« kennzeichnete, war ein wichtiger Grund für den geringen Kirchenbesuch ermittelt. Zumal umgekehrt galt: »Je mehr sich kirchliches und gesellschaftliches Wertesystem decken, desto stärker [ist] der Kirchenbesuch« (28) und desto eher versteht man sich als gläubiges Mitglied der Kirche. Die theoretische Grundlage dieses Zugangs bildete das von Milton Rosenberg entwickelte »affektiv-kognitive Konsistenzmodell«271. Es geht davon aus, dass ein Bestreben besteht, Inkongruenzen durch Veränderungen entweder der Einstellung oder des Verhaltens auszugleichen. Weil sich die globalen Werteistellungen kaum verändern ließen, erfolgt die Adaption auf der Ebene des Verhaltens durch einen reduzierten Gottesdienstbesuch. Entgegen der Annahmen dieses Modells zeigten sich parallel zur katholischen Studie wiederum »unwahrscheinliche Kirchgänger«, die trotz mangelnder Kongruenz der Wertevorstellungen den Gottesdienst regelmäßig besuchten.272 Neben der Untersuchung der allgemeinen Religiosität (»Glaubenssituation«273) wurde ein besonderer Schwerpunkt auf religiöse Sozialisation und kirchliche Bindung gelegt. Neben dem Einfluss der religiösen Erziehung kristallisierte sich heraus, dass religiöse Einstellung und Praxis deutlich sozial bedingt sind, d. h. der Kirchenbesuch steht in starker Abhängigkeit zu einem gottesdienstpraktizierenden Umfeld.274 In diesem Zusammenhang geht die 271 Milton J. Rosenberg: An Analysis of Affective-Cognitive Consistency, in: Milton J. Rosenberg u. a. (Hg.): Attitude Organization and Change. An Analysis of Consistency Among Attitude Components, New Haven, CT 31966, 15–64 geht davon aus, dass die affektive Reaktion auf einen Gegenstand auf Überzeugungen gründet, inwiefern das Objekt bestimmte Zielwerte befördert oder behindert. 272 Dass es zugleich »unwahrscheinliche Nichtkirchengänger« gab, die also trotz bester kognitivaffektiver Disposition vom Gottesdienst fernblieben, wurde mit protestantischer Tradition erklärt und nicht weiter vertieft. 273 D. h. wie Menschen die Stellung der Religion in der modernen Welt (Naturwissenschaften) beurteilen, was für sie christliche Lebensführung beinhalten sollte (Werte, religiöse Praxis, gesellschaftliches Engagement) sowie welche Erwartungen sie an die Kirche stellen und ob sie diese hinreichend erfüllt (zeittypisch wird dabei etwa gefragt, ob die Kirche in den Bereichen »Drogen, Suchtgefahren«, »Sexualität und Veränderung der Moral«, »Empfängnisverhütung« oder »Ostpolitik« zu wenig, genügend oder zu viel tut, vgl. 60f.). 274 Bereits hier wird festgestellt: »Kirchenbesuch vollzieht sich in einem sozialen Kontext«, d. h. die Häufigkeit des Kirchgangs hängt wesentlich von der Kirchgangspraxis des nähren sozialen Umfelds ab (vgl. bes. 66–73). Damit relativiert sich der Neuigkeitswert der jüngsten KMU, die beansprucht »[d]en Kirchgang als eine in soziale Netzwerke eingebundene Praxis zu verstehen,
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Studie auf die ebenfalls bereits aus der Synodenumfrage bekannte Gruppe der »jugendlichen Ritualisten« ein. Diese bilden eine Untergruppe jener »unwahrscheinlichen Kirchgänger«, die mindestens fast jeden Sonntag zur Kirche gehen und nicht der Aussage zustimmten »Ich bin gläubiges Mitglied der Kirche und stehe zu ihrer Lehre« und/oder nicht der Aussage »Jesus Christus ist der Sohn Gottes. Er hat den Menschen Gottes Wort verkündigt, und das gilt heute ebenso wie vor 2000 Jahren.« Damit tritt zum Wertekonflikt der »unwahrscheinlichen Kirchengänger« ein expliziter Glaubenskonflikt hinzu, sodass auch vom »unorthodoxen regelmäßigen Kirchgänger« die Rede war. Unter jugendlichen Kirchgängern (16–29 Jahre) traf dies auf mehr als 40 % zu, auf die restlichen Altersstufen immerhin auf je ein Viertel bis ein Fünftel der Befragten. Verglichen mit den allgemeinen Erkenntnissen müsse die Gewohnheit, die Kirche zu besuchen trotz der Meinung, dass »die Kirche gesellschaftlich dysfunktional sei« (42), als »irrational« bezeichnet werden. Schmidtchen verteidigte den »Ritualismus« vehement gegen vor allem entwicklungspsychologischen Widerspruch (s. o. 2.4.2.1.2). Die Ergänzung um die Frage nach Jesus Christus erlaubte es seiner Meinung nach nicht mehr, »Ritualismus« allein als kirchlichen Antikonformismus zu erklären. Es handele sich nun eindeutig um eine Glaubenshaltung.275 Diese Menschen folgten »einem Ritual, ohne seine Inhalte zu akzeptieren, ohne sich am spirituellen Geschehen mit voller Motivation beteiligen zu können« (77f.). Ihre Motive zu ergründen, bildete einen Schwerpunkt innerhalb der VELKD-Studie. Die Erörterung im Rahmen der Frage nach den sozialen Faktoren des Gottesdienstbesuchs ergab sich aus der Tatsache, dass »Ritualisten« häufig aus einem religiösen Elternhaus stammen, überdurchschnittlich kirchlich engagiert sind und eine gute Beziehung zum Pfarrer haben. Die Studie schließt daraus auf ein »rollenkonformes Verhalten ohne spirituelle Basis«. In Verträgt eine neue Perspektive in die empirische Gottesdienstforschung ein. Ob jemand einen Gottesdienst besucht, ist eben nicht nur Gegenstand individueller Entscheidung, sondern hängt an einer Fülle von Faktoren – und der soziale ist vermutlich einer der gewichtigsten« (Julia Koll/Gerald Kretzschmar: Gottesdienst im Plural. Zwischen Gewohnheit, Desinteresse und Aufbruch, in: Evangelische Kirche in Deutschland [Hg.]: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 52–57, 57). Seitz formulierte die Konsequenz 1972 schlicht so: »Es gibt kaum Möglichkeiten eines Christentums außerhalb der Kirche« (154). 275 Schmidtchen sah das Phänomen zudem in einer Umfrage in Luxemburg bestätigt, wobei »die Befunde sich überkonfessionell und auch interkulturell wiederholen« (vgl. Schmidtchen: Rückblick, 272). Anhand der drei Studien bestimmt er »Ritualisten« als Personen, »die jeden oder fast jeden Sonntag zur Kirche gehen und nicht erklären: Ich bin gläubiges Mitglied meiner Kirche und stehe zu ihrer Lehre […] nicht der Äußerung zustimmen: Jesus Christus ist der Sohn Gottes. Er hat den Menschen Gottes Wort verkündigt, und das gilt heute ebenso wie vor 2000 Jahren […] nicht der Äußerung zustimmen: Jesus ist der Sohn Gottes. Er hat uns am Kreuz erlöst. Heute lebt er als Auferstandener. Ich begegne Ihm im Gebet, in den Sakramenten, in der Bruderliebe« (aaO., 273).
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bindung mit ihrem tendenziell positiven Bild der Kirche als einer Institution, die gegenüber Veränderungen offen ist, sei von »schwächerer subjektiver Motivation« unter den »Ritualisten« auszugehen, sodass extrinsische Handlungsgründe überwögen.276 Auch in dieser Studie wurde deutlich, dass Menschen mit starker Gemeindebindung, religiöser Sozialisation und persönlichem Zugang zu kirchlichen Ritualen einen verringerten »Konsistenzdruck« empfinden: »Für den, der sich in einer Gemeinde oder in einem Ritual aufgehoben fühlt, werden Widersprüche [sc. zwischen persönlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Werten, RG] offenkundig deaktualisiert« (140). Darüber hinaus verbinden »Ritualisten« genuin religiöse Gemeinsamkeiten: Sie beschäftigen sich häufig mit dem Tod, suchen nach einer transzendenten Verankerung ihres Lebens und sind in Bezug auf ihre religiösen Überzeugungen »Anhänger des Symbolismus« (ebd.). Im Gottesdienst finden sie Zugang zu Gesang, klassischen Kirchenliedern und deren Inhalten sowie zum Abendmahl. Dem Kirchgang an Feiertagen kommt für nahezu alle Mitglieder dieser Gruppe eine herausgehobene Bedeutung zu. Schlussfolgerungen für eine mögliche Erklärung des Phänomens »Ritualismus« ließen sich aus der Studie jedoch nur unzureichend ziehen. Zwar konnte gezeigt werden, mit welchen Überzeugungen und welchem Sozialverhalten Ritualismus gekoppelt ist, über die subjektiven Motive oder das Erleben der Teilnehmer erfuhr man erneut kaum etwas. Der Verweis auf die Prägung durch das Elternhaus verriet nicht, ob daraus eine bloße Gewohnheit resultiert, ob es sich um tiefere, weniger kontextvariante Überzeugungen handelt oder gar um eine spezifische Einstellung zum gottesdienstlichen Handeln selbst. Im Grunde wird unter dem Begriff »Ritualismus« weniger die Gottesdienstteilnahme selbst thematisiert, als ein damit verbundenes Abweichen von üblichen Verhaltensmustern und kirchlichen Normen (»Ritualismus kann man immer nur in Bezug auf die Normen einer Institution definieren«, 78). Schmidtchen war der Meinung, dass »Ritualismus« dann als Kategorie verschwinden würde, wenn die Kirche ihre Normen liberaler gestalten bzw. darauf verzichten würde, solche Normen überhaupt festzulegen. Hier wird nun erneut deutlich, inwiefern das soziologisch operationalisierte Verständnis von Glaube noch immer vorwiegend inhaltlich-kognitiv bestimmt war und nicht als Handlungsform mit spezifischen Praxiskennzeichen und Handlungsmotiven aus Sicht der Akteure. Problematisch war die Kategorie des »Ritualismus« sodann unter zwei weiteren Gesichtspunkten. Zum einen stellte die Studie »orthodoxes« und »symbolisches« Verständnis religiöser Inhalte gegenüber. Das konnte theologisch in dieser Zeit kaum noch befriedigen. Das Gleiche trifft auf die 276 Hier mag Wölbers Unterscheidung zwischen »Meinungs-« und »Entscheidungschristentum« nachklingen: Dem herrschenden »Meinungschristentum« mangele es beim Gottesdienst an »personalem Bezug« (Wçlber: Religion ohne Entscheidung, 78).
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Parallelisierung von »Symbolisten« und »Skeptikern« zu (vgl. 78). Zum anderen ist »Ritualismus« in der Studie nahezu ausschließlich als Defizienzkategorie gefasst: Der Gruppe wird sowohl mangelnder Glaube, mangelnde (subjektive) Motivation, mangelnde Spiritualität als auch mangelnde Identifikation mit »dem Sinn, dem Inhalt dieses Verhaltens« (145) attestiert. Positiv sah man im »Ritualismus« den Blick auf den Eigenwert des Gottesdienstes gerichtet und damit auf sein Proprium als etwas Fremdes, ein »Stück Geheimnis« in der modernen Welt, das zugleich »Kontinuität« und »Heimat« zu erzeugen vermochte.277 In diesem Sinn kam auch der Gottesdienstritus selbst als »altehrwürdig« zu seinem Recht. Dass weder der attestierte Mangel an Religion noch lediglich psychisch-emotionale Wirkungen den regelmäßigen Gottesdienstbesuch hinreichend beschrieben, schienen die Autoren der Studie zu ahnen. Sie zögerten »Ritualismus« allein als »abwartenden Konformismus« zu beschreiben278 und fragten schließlich, ob hier nicht ein »neues Glaubensverständnis in die Kirche hinein[ge]tragen [wird], das mit orthodoxen Kategorien nicht mehr zu fassen ist« (145). Die Erkenntnis, dass hier zwar kein »orthodoxes«, zumindest aber ein »symbolisches« und damit ein religiöses Glaubensverständnis vorhanden ist, mag eine der Ursachen derartiger Überlegungen gewesen sein. Dieses »neue Glaubensverständnis« könnte dann doch subjektive Deutungen von Ritualen mit vermeintlich objektiver, »orthodoxer« Bedeutung umfassen. Dem negativen Befund zum »Ritualismus« steht ein positiver Befund hinsichtlich der ökumenischen Öffnung evangelischer Liturgik gegenüber. Gerhard Schmidtchen steht dabei persönlich für die – zumindest ansatzweise – 277 »Den Hauptgottesdienst am Sonntag einer generellen und abrupten Reform zu unterziehen, wäre nach allen bisherigen Beobachtungen mit dem Verlust einiger psychisch sehr wichtiger Komponenten in der traditionalen (sic!) Liturgie verbunden, die den Gottesdienstbesuchern das Gefühl von Kontinuität geben, ein Heimatgefühlt, das Gefühl an einem altehrwürdigen Ritual teilzunehmen, in dem etwas ganz anderes geschieht als in sonst üblichen Kommunikationszusammenhängen. Ein Stück Geheimnis und Schweigen würde verschwinden. Ein Teil des religiösen Charakters könnte […] verlorengehen, der mit dafür verantwortlich ist, daß die Menschen im Gottesdienst auch sich selbst begegnen [… .] Dies sind Dinge, die von traditionellen liturgischen Formen unter Umständen besser geleistet werden können« (147f.). Ähnlich auch Manfred Seitz im Nachwort: »Vielleicht hat er [sc. der Gottesdienst, RG] einer Exodus-Generation Geborgenheit anzubieten« (151). Bei Seitz wird deutlich, dass die Gegenüberstellung von »Fremde« und »Heimat« Züge des unterschwelligen Abarbeitens an theologischen Kategorien der 50er Jahre trägt. Das zeigt sich nicht nur in seiner Hoffnung, dass die Liturgik neu bei Emil Brunner ansetzen könnte, sondern auch bei der Frage, ob und wenn ja wo die Kirche die – ihr fremden – gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigen dürfe (vgl. 156). Die Bewertung des »Gottesdienstes in einer rationalen Welt« führt bei ihm schließlich zur Einsicht, dass der Gottesdienst »fremd in der heutigen Welt« ist und die Auseinandersetzung mit Kirche und Gottesdienst das »Eintreten in eine Gegenwelt« (153) für den in der gegenwärtigen Gesellschaft beheimaten Menschen bedeutet. Für die Frage nach möglichen Gottesdienstreformen war dies freilich entlastend und minderte den häufig empfundenen Konkurrenzdruck. 278 Was nicht zuletzt deshalb nicht recht passend war, da das Phänomen auch bei älteren Personen zu finden ist, wenn auch in reduziertem Umfang.
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Überwindung der noch zuvor durchgängigen Konfessionalisierung und gemeindezentrierten Partikularisierung der Kirchensoziologie.279 In Verbindung der beiden von Schmidtchen durchgeführten Untersuchungen (von ihm als ein »zusammenhängendes Ganzes« bezeichnet), zeigten sich zwischen Protestanten und Katholiken nur noch marginale Unterschiede. Das traf nicht nur auf Wertevorstellungen und soziale Identität zu, auch in Bezug auf die Wahrnehmung der Kirche und der Spannungen zwischen kirchlichen und gesellschaftlichen Werten: »Die Krise ist ökumenisch« (149).280 Ein solcher Befund mag auch heute noch unerwartet erscheinen, doch war damit die Notwendigkeit gegeben, liturgische Fragen weniger konfessionell zu bewerten, als dies bisher erfolgt war und die Möglichkeiten zu nutzen, voneinander zu lernen. Genau diesen ökumenischen Zuschnitt hat sich Werner Jetter dann für seine anthropologisch orientierte Gottesdienstlehre zum Ziel gesetzt, die von den Ergebnissen dieser Gottesdienststudie ausging.
2.4.2.2.2 Auswertung: Vom »Ritualismus« zum Ritual Ein Sammelband zur Auswertung der Studie erschien vier Jahre später 1977 unter dem Titel Gottesdienst und öffentliche Meinung.281 Im Gegensatz zur katholischen Studie wurde starke Kritik an den Vorannahmen wie am Theoriekonzept der Studie geäußert. Nur wenige Autoren waren bereit, die Annahme einer weitgehenden Unabhängigkeit des Gottesdienstbesuchs von liturgischen Gestaltungsfragen zu akzeptieren.282 Das von vornherein als gering eingeschätzte Potenzial liturgischer Reformen schien nicht nur für Lutz Mohaupt vor die Alternative »Theologiereform statt Liturgiereform?«283 zu stellen und damit liturgische Resignation zu befördern. Die Betonung der »Fremdheit« des Gottesdienstes schien auch dem interdisziplinären Dialog zwischen soziologischen Einsichten und liturgischer Praxis kaum Chancen einzuräu279 Vgl. Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum, 76. 280 Schmidtchen: Protestanten und Katholiken, 251: »… zu den auffallenden Ergebnissen der Untersuchungen gehört andererseits auch, wie ähnlich sich Protestanten und Katholiken sind […]. Damit erhebt sich die skeptische Frage: Gibt es heute überhaupt noch so etwas wie eine konfessionelle Kultur? […] Ist nicht vielleicht die Ähnlichkeit im gesellschaftlichen Verhalten beider Konfessionsgruppen darauf zurückzuführen, daß diese Gesellschaft selbst die Verhaltensgrundlagen in der Persönlichkeit prägt und nicht die Kirchen?« 281 Seitz/Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung. 282 S. o. Anm. 277. Die Einschätzung der Studie hingegen teilt etwa Meier: Der Gottesdienst, 192: »Der Gottesdienst ist fremd in der heutigen Zeit, weil die Kirche mit ihrem Wert- und Glaubenssystem insgesamt fremd ist, nicht umgekehrt. Das aber heißt, daß Reformen des Gottesdienstes und der Liturgie für sich allein dem Substanzschwund nicht Einhalt gebieten oder gar den Trend umkehren können. Vielmehr müßte man durch umfassendere Reformen die Distanz zwischen Kirche und Gesellschaft insgesamt vermindern.« 283 Vgl. Mohaupt: Feiern – Hören – Handeln, 11.
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men.284 Auf grundlegende Kritik stieß auch der theoretische Rahmen. Die schlichte Gegenüberstellung »gesellschaftlicher« und »kirchlicher« Werte unterlief die erreichten Einsichten in die Verwobenheit von Kirche und Gesellschaft und ein Verständnis der Kirche als Akteur auf dem Feld gesellschaftlicher Wertebildung, auf die Joachim Matthes immer wieder hingewiesen hatte (vgl. 1.1.2). Folge der deutlichen Kritik am theoretischen Rahmen war, dass eine Auseinandersetzung mit dem »unwahrscheinlichen Kirchgänger« und dem »jugendlichen Ritualismus« eher am Rand stand. Ingrid und Wolfgang Lukatis etwa sahen in diesen Kategorien nicht zuerst ein Ergebnis der Studien, sondern das Versagen des zugrundeliegenden Rosenbergschen affektiv-kognitiven Konsistenzmodells. Folglich kritisierten sie besonders die mangelnde Ergänzung um andere Theoriemodelle.285 Auch Karl-Fritz Daiber kritisierte den monotheoretischen Ansatz als irreführende Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit. Für ihn stellte sich die Frage, ob sich »religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen überhaupt adäquat erfassen [lassen], wenn man sie ausschließlich als Ausdrucksformen von Wertrationalität oder sogar Zweckrationalität beschreibt«286, wie Daiber im Anschluss an eine Webersche Begrifflichkeit formulierte. Insbesondere die emotionale Komponente der Religion sah er hierdurch gänzlich ignoriert.287 Speziell mit dem »Ritualismus« setzte sich Eilert Herms auseinander. Das bereits geschilderte Ungenügen dieses Begriffs aufnehmend formulierte er eine anthropologisch-psychologische Ritualtheorie, die ritualtheoretische Ansätze unterschiedlicher Disziplinen rezipierte.288 Hier ist vor allem seine Argumentation gegen Schmidtchens Deutung der empirischen Befunde von Interesse. Dabei bestritt Herms die These, dass die Frage nach einem »orthodoxen« Verständnis von Jesus Christus und die Frage nach der Selbstbeschreibung als gläubiges Mitglied der Kirche in gleicher Weise auf das Phänomen des »Ritualismus« deuteten. Zwischen beiden Gruppen bestand keineswegs Deckungsgleichheit. Vielmehr bezeichneten sich 66 % derer, die die in der Umfrage vorgeschlagene (Be-)Deutung von Jesus Christus ablehnten, dennoch als gläubiges Mitglied der Kirche. Darin zeige sich nicht eine 284 Vgl. Karl-Fritz Daiber: Bedingungen einer praxisbezogenen kirchensoziologischen Forschung, in: Seitz/Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, 65–81, 77. »[Ü]berhebliche Kritik« hielt Daiber jedoch für unangemessen, da sich die Reflexion der sozialwissenschaftlichen Forschungsansätze noch in den Anfängen befinde. 285 Vgl. Ingrid Lukatis/Wolfgang Lukatis: Überlegungen zur Erklärung des Gottesdienstbesuchs mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Theorien, in: Seitz/Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, 47–63, 60. 286 Daiber: Bedingungen, 75. 287 Zur zentralen Rolle der Emotionalität für Daibers Verständnis von Ritualen s. o. 2.3.3. 288 Zu nennen wären neben Sigmund Freud, Edmund Leach, Mary Douglas, Basil Bernstein, Erik Erikson, Robert Bocock und Susan K. Langer.
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Form von »Ritualismus«, sondern die protestantische Eigenheit, sich sehr wohl der Kirche und auch ihrer Lehre verbunden fühlen zu können, ohne bestimmte institutionell vorgegebene Lehrinhalte unmittelbar zu übernehmen. Zudem werde der Satz »Ich bin ein gläubiges Mitglied der Kirche und stehe zu ihrer Lehre.« von Kirchenmitgliedern – wiederum typisch protestantisch – zuerst auf die Gesamtkirche und somit die Großorganisation bezogen, der man kritisch gegenüberstehe. Davon unbenommen sei die Verbundenheit mit der Ortskirche, ihren Mitgliedern und ihrem Pfarrer, welche wiederum zum Gottesdienstbesuch motiviert. Nur jene Gruppe der regelmäßigen Kirchgänger, die beide Aussagen ablehnten, kämen, so Herms, für die Diagnose »Ritualismus« in Frage. Herms plädierte daher für eine veränderte Ritualtheorie, die sich zunächst von einem pejorativen Ritualbegriff verabschieden müsse. »Ritualismus« stelle kein Übergangsphänomen zum Abbruch der Religiosität dar, sondern sei als Beleg zu werten, »[d]aß auch der lutherische Gottesdienst als restringierter Code funktioniert und eine Regelmäßigkeit ritualistischer Teilnahme zuläßt«, was wiederum »als Zeichen seiner sozialen Funktionalität und damit Stabilität gewertet werden«289 müsse. Auch Protestanten beherrschten also andere als bloß kognitiv-reflexive Kommunikationsformen.290 Herms griff für seine Theorie nicht mehr nur auf soziologische Einsichten wie die von Basil Bernstein (»restringierter Code«) zurück, sondern erweiterte das Spektrum auf anthropologische (M. Douglas) und psychoanalytische Konzeptionen (E. Eriksson). Der Beitrag von Herms zeichnet sich zudem durch einen systematischen Bezug von Ritualtheorie und Rechtfertigungslehre aus. Im »Ritualismus« sah er eine Anfrage an die protestantische Gottesdienstpraxis, die rituelle Kommunikationsstrukturen vernachlässige. Zugleich betonte er die Notwendigkeit seiner kritischen Gestaltung und gelangte dabei zu einem qualifizierten Begriff der Ambivalenz des Rituals: Als Ausdruck eines elementaren (symbolischen) Kommunikationsbedürfnisses steht das Ritual immer in der Gefahr, als Mittel der Manipulation vereinnahmt zu werden. Herms explizite Forderung, den pejorativen Ritualbegriff zu überwinden, findet besonders in der Auseinandersetzung mit dem »Ritualismus« anklang. Die Ritualität des Gottesdienstes wird – neben einigen noch der alten Ritualkritik verhafteten Positionen291 – vielfach konstruktiv thematisiert. Mo289 Eilert Herms: Gottesdienst als »Religionsausübung«. Erwägungen über die »jugendlichen Ritualisten«, in: Seitz/Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, 147–168, 158. 290 »Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, daß die Kirchenmitglieder selber das Gespür für diese Strukturen gottesdienstlicher Kommunikation nicht verloren haben« (aaO., 162). Herms verweist auf die Angabe von Orgelmusik und Glockenläuten als essenzielle Bestandteile des Gottesdienstes unmittelbar nach der Predigt. 291 Schloz: Gottesdienst und Verständigung, 173: »In dieser Spannung zwischen einer zeremoniellen, d. h. stark ritualisierten und symbolisch befrachteten kultischen Handlung und der grundsätzlichen Loslösung des Begriffs des Gottesdienstes von dem Vollzug des Zeremoniellen (W. Elert) wird sich jede Reflexion der Liturgie vollziehen.«
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haupt verortete den Ritualbegriff innerhalb eines ganzen »theologischen und liturgischen Syndroms«, das »Festlichkeit, Phantasie, Tanz, Kontemplation, Meditation, Ritual, Spiel, Feier, Freude, Gelächter, Glück usw.«292 umfasst. Damit steht der Begriff auch im Zusammenhang mit der Gestaltung des Gottesdienstes unter dem Leitbild des »Festes« (s. o. 1.3.2.3). Sie beinhaltet die Ausrichtung auf »Ganzheitlichkeit« liturgischer Prozesse und den »Versuch, Gottesdienste zu feiern, die den ganzen Menschen erfassen, auch seine emotionale Personschicht (sic!), und den intellektualistischen Verbalismus, der viel zu lange geherrscht hat, hinter sich zu lassen.«293 Daiber erhebt das »religiöse Ritual« geradezu zum »Schlüsselbegriff der Vermittlung von sozialwissenschaftlicher und theologischer Theoriebildung«. Es verbürge die »sinnstiftende Funktion« des Gottesdienstes, insofern es »Symbole christlicher Tradition vermittelt, die es erlauben, Alltagserfahrung als Transzendenzerfahrung zu deuten.«294 Während in der Kausaltheorie Daiber stärker auf den stabilisierenden und integrativen Charakter fokussiert hatte, steht nun die – nicht näher ausgeführte – Sinndeutung im Vordergrund. Ähnlich stoßen auch die Untersuchungen zur Predigtrezeption auf den Ritualbegriff. Alfred Mauder etwa kritisiert eine einseitige Fokussierung auf intellektuelle Aneignung der Predigt (Menschen sollen nach der Predigt deren Inhalt wiedergeben können) und fragt, ob es bei der Predigt (»vielleicht selbst ein rituelles Element«295) nicht weniger darum ginge, »über« bestimmte Inhalte zu sprechen, als vielmehr darum, die von den Hörern in der Umfrage genannten »Themen« als »Umschreibungen von Wirklichkeitsbereichen« zu verstehen, die »durch das Medium der Predigt real vermittelt, erfahrbar gemacht und kommuniziert werden sollten«: »In, mit und durch die Predigt wollen die Leute Erfahrungen von Friede, Gerechtigkeit, Lebenssinn machen«296, wie Mauder, die Diktion performativer homiletischer Entwürfe vorwegnehmend, formulierte. Eine Predigt, die diesen Erlebnisbezug herzustellen vermag, kann für Mauder schließlich als »Stellvertretung dessen […], was sonst durch Rituale geschieht«297 fungieren. Das vom Ritualbegriff ausgehende Predigtkonzept macht damit – so die Pointe – weitere rituelle Vollzüge wiederum überflüssig. Wie bereits in der katholischen Diskussion beobachtet, mündeten die Aufgeschlossenheit gegenüber rituellen Vollzügen auf der einen und die Einsicht, dass die alten Rituale ihre Selbstverständlichkeit verloren haben auf der anderen Seite in das Bestreben, neue Ritualformen zu finden und doch zu Mohaupt: Feiern – Hören – Handeln, 44. Zu Deutungen des Gottesdienstes als Spiel s. u. 3.3. AaO., 43. Daiber: Bedingungen, 79. Albert Mauder: Funktion und Aufgabe der Predigt. Ein Diskussionsbeitrag, in: Seitz/ Mohaupt (Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, 141–146, 145. 296 AaO., 146. Genau diese Überführung der Predigt von einem Reden »über« zu einem Reden »in« unternimmt dann Martin Nicol: Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005, 47. 297 Mauder: Funktion, 146.
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wissen, dass diese »sich ja auch nicht aus dem Handgelenk erfinden«298 lassen. Wie die alten Rituale einer »Überprüfung« unterzogen werden könnten und was es heißt, dass auch Rituale »plausibel sein« müssten, darüber herrschte weitgehende Ratlosigkeit. Hier schien eine ganz andere Art der Kreativität gefragt zu sein, als bei den bisherigen Reformbemühungen im »zweiten Programm«.299 Daiber schlug daher vor, zuerst liturgische Handlungsziele zu erarbeiten und anschließend zu überprüfen, ob diese Ziele erreicht werden, d. h. sich im Erleben der Gemeinde widerspiegeln. Erst anschließend sei über »Veränderungen im rituellen Angebot« nachzudenken.300
2.4.3 Sinnstiftung im Ritualvollzug. Die Entdeckung der Handlungsdimension des Rituals in K.-F. Daibers u. a. Gemeinden erleben ihre Gottesdienste 2.4.3.1 Gottesdienst als »Ritual der Bundeserneuerung« Zwar hatten die Synodenumfrage und die VELKD-Studie den Gottesdienst zum exklusiven Thema gemacht, sich der gefeierten Liturgie aber noch aus der Distanz genähert, vermittelt über Fragen nach dem Gottesdienstbesucher, seinen Verhaltensweisen und Einstellungen. Karl-Fritz Daiber u. a. versuchten in ihrer Studie Gemeinden erleben ihre Gottesdienste von 1975/76 nun das ›Erleben‹ des Gottesdienstes und zwar im zeitlichen und räumlichen Umfeld gefeierter Liturgien zu erforschen.301 Die Untersuchung ist für die hier verfolgte Frage von besonderem Interesse, da zum ersten Mal das liturgischrituelle Handeln der am Gottesdienst Beteiligten (Prediger/Liturg und Ge298 Mohaupt: Feiern – Hören – Handeln, 41. 299 Konservative Stimmen wie Schloz wollten bei der Suche nach einer »kommunikativen Liturgie« auch Rituale dem Paradigma der Verständlichkeit unterordnen und forderten, dass »die Struktur der Liturgie durchsichtig und jedes Element in seiner Bedeutung und Notwendigkeit erkennbar und verständlich« sein müsse: »Es beruht auf einer erheblichen Überschätzung der Selbstevidenz der Liturgie, wenn mit ›Regieanweisungen‹ und deutenden Hinweisen gespart wird, um das Ritual nicht zu stören« (Gottesdienst und Verständigung, 193). 300 Vgl. Daiber: Bedingungen, 79. 301 Die Studie sah vor, ein und dieselbe Predigt vom selben Prediger jeweils in unterschiedlich gestalteten Gottesdiensten zu integrieren, um zu ermitteln, inwiefern die liturgische Form Einfluss auf das Hören der Predigt ausübt und welche Faktoren dabei wirksam werden. Die beginnende empirische Homiletik sollte damit auf den Bereich der Liturgie erweitert werden. Gleichwohl stellt sich hier bereits eine kritische Anfrage ein, da der Einfluss der Liturgie und des ›Rituals‹ auf das Erleben vor allem im Hinblick auf die Struktur des liturgischen Ablaufs, auf traditionelle oder neuere liturgische Elemente oder den allgemeinen Rahmen bezogen wird (agendarisch, agendarisch mit neuer Sprache, Predigtgottesdienst, freie Form) – es war jeweils nur der Prediger derselbe, während die Liturgen wechselten. Die Frage nach der konkreten liturgischen »Performance«, wie also die Elemente im Detail gestaltet wurden und ob dies überzeugend geschah, blieb hingegen unbeachtet.
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meinde) ins Zentrum rückte. Diese wurden nicht primär nach allgemeinen Einstellungen gefragt, sondern danach, was sie »angesprochen« oder »berührt« hat und wie sie liturgische Elemente »persönlich empfunden« haben. Damit zielte man auf die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den liturgischen Handlungszielen jener, die den Gottesdienst gestalten, und der Rezeption durch die Feiergemeinde, die Daiber bereits in der Auswertung der VELKD-Studie eingefordert hatte. Um zu klären, ob »der Gottesdienst in seinem rituellen Vollzug grundsätzlich in der Lage [ist], die Sache des Glaubens angemessen zu formulieren«,302 war der Studie eine grundlegende Bestimmung des Gottesdienstes als Ritual von Karl-Fritz Daiber vorangestellt. Neben den formalen Kennzeichen der – mittlerweile als positiv gewerteten – Herausgehobenheit ritueller Handlungen aus dem Alltag (durch Zeit, Ort und symbolische statt diskursive Kommunikationsform) sowie der Regelhaftigkeit der Interaktionen, legte sich für Daiber aufgrund der Frage nach der Leistungsfähigkeit von Ritualen wiederum ein funktionaler Ansatz nahe: »Von Ritualen spricht man dann, wenn Handeln in wiederkehrende Regeln gefügt ist und dabei die Handlungsform symbolisch einen Sinngehalt ausdrückt. Durch das im Ritual geregelte symbolische Handeln werden Probleme gelöst, ohne daß diese diskursiv erörtert werden müßten.« (17) Der Sonntags- wie der Kasualgottesdienst waren damit unter Bezugnahme auf die Ritualtheorie von E. Thomas Lawson als Mittel zur Problemlösung bestimmt.303 Bei Kasualien steht die biographische und damit primär individuelle Krisensituation im Zentrum. Der Gottesdienst hingegen antwortet auf die Fragilität der Gottesbeziehung des Menschen im Allgemeinen sowie auf das »Konstitutionsbedürfnis der religiösen Gruppe« (18). Er ist »als Kult […] seiner Intention nach Ritual der Bundeserneuerung« (20).304 Nachdem Sonntags- und Kasualgottesdienst bereits über den Sakramentsbegriff verbunden waren (s. o. 2.3.4), ermöglichte die Unterscheidung der Anlässe der Problemlösung eine klare und die Diffe302 Karl-Fritz Daiber: Der Gottesdienst als Ritual und Sprechhandlung, in: Daiber u. a. (Hg.): Gemeinden erleben ihre Gottesdienste, 16–23, 22. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Abschnitt (die Überlegungen sind erneut dargelegt in: Der Gottesdienst als Mitte der Gemeindearbeit, in: WPKG 69 [1980], 74–90, 78–83). 303 E. Thomas Lawson: Ritual as Language, in: Religion 6 (1976), 123–139, 134: »Ritual is a problem-solving device.« 304 Neben einem anthropologisch bestimmten Ritualbegriff ist Daiber auch an der Rehabilitierung des Kultbegriffs gelegen. In klarer und zugleich provokanter Weise formulierte dies auch Peter Cornehl: Theorie des Gottesdienstes. Ein Prospekt, in: ThQ 159 (1979), 178–195, 185: »Der christliche Gottesdienst ist Kult.« Nicht nur die Kritik an der Ritualität des Gottesdienstes wurde anhand des Kultbegriffs formuliert (s. u. 4.2). Auch dort, wo man rituelles Handeln als anthropologische Tatsache bestimmte, der sich Kulturen nicht entziehen können, sprach man im Blick auf die Religion häufig von »Kult« oder »Kultus«. Auf lange Sicht hingegen wurde der Kultbegriff – nicht zuletzt aufgrund alltagssprachlicher wie interdisziplinärer Anschlussfähigkeit vom ›Ritual‹ verdrängt (vgl. Alexander Deeg: Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik, Göttingen 2012, 214).
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renz wahrende Zuordnung zum ›Ritual‹ als übergeordnetem Begriff. Davon ausgehend unterscheidet Daiber – wiederum mit Lawson – die Oberflächenstruktur der einzelnen liturgischen Elemente von einer theologischen Tiefenstruktur, die als schrittweise Begegnung zwischen Gott und Mensch präsentiert und im gottesdienstlichen Erleben realisiert werden soll. Dieses »Kommen Gottes« findet im Abendmahl seinen Höhepunkt.305 Daiber gelangt damit nicht nur zu einer Vertiefung der bisher allgemein formulierten funktionalen Bestimmung (Artikulation, Integration, Stabilisierung), auch wird der Gottesdienst nicht nur als Ganzer in einen umfassenderen Prozess eingezeichnet (wie etwa bei der Bestattung), sondern er selbst wird als prozesshaftes Geschehen interpretiert. Die einzelnen Elemente werden dabei zu konstitutiven Wegmarken.306 Der Prozess ist als transformatives Geschehen angelegt, der »verändern« und »erneuern« soll und sich gerade in seinem rituellen Charakter als kulturkritisch oder »counter-cultural«307 erweist: In einer »Gesellschaft, die vorrangig an Aktivität und Leistung orientiert ist«, symbolisiert der Gottesdienst die Tatsache, »daß die neue Lebensmöglichkeit zugesprochen werden muß« (21). Konkret bezieht sich dies auf die entlastende und vergewissernde Regelhaftigkeit des Rituals. Der Wegcharakter ist hier ausschließlich im Blick auf die religiöse Gruppe, nicht als individueller psychischer Prozess konzipiert. Dem transformativen Charakter entspricht, dass neben dem im Ritual wirksamen Zuspruch ein Anspruch formuliert wird – oder zumindest formuliert werden könnte, denn »gerade diese Elemente des Gottesdienstes« (z. B. »Opfergabe« oder »Fürbitten«) seien »häufig verkümmert« (125). Dass der die Gruppe konstituierende Gottesbezug in freiheitlichen Gesellschaften keiner ständigen Bedrohung unterliegt, erklärt für Daiber schließlich die Unregelmäßigkeit des entsprechenden Bedürfnisses nach ritueller Problemlösung und damit den geringen Gottesdienstbesuch. Dennoch gelte: »Für die Distanzierteren bleibt der Kult und seine Durchführung auch ohne eigene Teilnahme relevant, weil er die religiöse Tradition sichert und sie damit ›verfügbar‹ hält« (18). Zu diesem Zweck werde die Pflege der liturgischen Tradition an eine Teilgruppe delegiert. Zwar ist damit die Bedeutung der gottesdienstlichen »Kerngemeinde« positiv bestimmt, ihr regelmäßiges Problemlösungsbedürfnis aber bleibt erklärungsbedürftig. Zudem bleibt offen, wie sich das Gottesdienstritual als Funktion der Problemlösung und der Traditionspflege zueinander verhalten, 305 Die Frage, ob damit nicht der Gottesdienst grundsätzlich als Abendmahlsgottesdienst gestaltet sein sollte (126), wird von Daiber zwar erwähnt, aber mit Verweis auf die in der Gemeinde auch vorhandenen ritualkritischen Einstellungen ausgeklammert. 306 Lawson hatte das »Bewegung des Rituals« als Überwindung »ritueller Oppositionen« bereits im Hinblick auf die Erwachsenentaufe ausgeführt (vgl. Ritual as Language, 137). Vgl. dagegen die bereits zitierte Auffassung von Rössler, dass die »Leistung« des Rituals ohnehin »überall gegenwärtig« ist (s. o. S. 89). 307 Vgl. Nairobi Statement on Worship and Culture. Contemporary Challenges and Opportunities, in: IRM 85 (1996), 184–188, 186f.
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wie die höchst unterschiedlichen Motivationen zum (regelmäßigen) Gottesdienstbesuch zu dieser Bedeutungszuschreibung passen und letztlich welche Auswirkungen dies für die Gruppe der Gottesdienstteilnehmer in ihrem Verhältnis untereinander hat. Erneut machen sich die Grenzen eines rein funktionalen Ansatzes auch im Hinblick auf die Ausrichtung an einer rituellen Struktur bemerkbar, vollziehen die Akteure doch einzelne rituelle Handlungen, die in keinem notwendigen Zusammenhang stehen. Dass diese Deutung ausgehend von einer Metastruktur unterschiedlicher Dialogschritte damit die »Oberfläche« des Rituals verlässt (vgl. o. 1.3.3.3), hat Daiber selbst problematisiert: »Die Relevanz des Gottesdienstes entscheidet sich offenbar nicht nur an dem seiner Struktur innewohnenden Sinn, sondern auch an seinem konkreten Vollzug und damit daran, welche neuen Erfahrungen er tatsächlich zu erschließen vermag« (22 f.). Die Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur ist vor allem das Resultat distanzierter Reflexion, welche primär dem Forscher einsichtig wird. Zugleich suggeriert der Begriff der Tiefenstruktur, dass es sich dabei um das Wesentliche handelt. Unbefriedigend beantwortet bleib auch die Frage, was der Gottesdienst innerhalb des beschriebenen Problemlösungsverfahrens als Ritual leistet und was die freiere Gestaltung nicht vermag. Der Vorteil des verwendeten Verfahrens liegt darin, dass mit Hilfe der Ritualtheorie die theologische Leistungsfähigkeit des agendarischen Gottesdienstes aufgezeigt wird. Zugleich wird damit die Ebene der konkreten Analyse des vollzogenen Rituals verlassen.
2.4.3.2 Ritualhandlungen als Form protestantischer Spiritualität Die Studie griff auch die Bemühungen um eine Frömmigkeitstypologie wieder auf (s. o. 2.2). Die Aussagen zum gottesdienstlichen Erleben wurden zu diesem Zweck bezogen auf grundsätzliche Einstellungen der Befragten zum gottesdienstlichen Rahmen (Kirchenraum), zu religiösen Überzeugungen (Bibel als Gottes Wort?) sowie auf das Traditionsbedürfnis. Drei verschiedene Typen »religiös-kirchlicher Einstellung« wurden so unterschieden: »rituell-fundamentalistisch«, »institutionell-gebunden« und »kritisch-nichtrituell«.308 Wie bereits bei der KMU zeigt sich, dass die Fähigkeit, sich auf rituelle Vollzüge einzulassen, abhängig ist vom Bildungsgrad, höher Gebildete also tendenziell institutionen- und auch ritualkritischer sind.309 Eine positive Haltung zum 308 Vgl. 104 ff. Die einzelnen Bezeichnungen sind freilich problematisch, sowohl was die Bezeichnung »fundamentalistisch« betrifft als auch die Implikation, es gäbe ritualfreie Formen der Glaubens- und Lebensgestaltung. 309 »Offenbar orientiert sich der Gebildetere weniger an der Ordnung und an der Feierlichkeit des rituellen Vollzugs« (102). Unklar bleibt dabei, wie sich der niedrige Bildungsgrad zur Bestimmung des Rituals als symbolischer Kommunikation über existenzielle Fragen und verdichteter, also voraussetzungsreicher Interaktion verhält.
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Ritual hingegen fördert der Studie zufolge nicht nur die emotionale Verbundenheit zu den einzelnen liturgischen Stücken (vgl. 111) und steigert die positive Wahrnehmung der Predigt (vgl. 115), sondern führt generell zu einem positiveren Bild vom Gottesdienst.310 Die Verteilung der Gruppen in den jeweiligen Gottesdienstgemeinden machte deutlich, dass die jeweiligen Besuchertypen »ihre« Gottesdienstform aufsuchen, der traditionelle Gottesdienst also vermehrt von Personen mit »rituell-fundamentalistischer« Einstellung frequentiert wurde, während im frei gestalteten Gottesdienst der »kritisch-nichtrituelle« Typ überwog. In den Gesamtbeurteilungen erzielten die unterschiedlichen Formen jeweils vergleichbare Werte (vgl. 103). Folglich müsste diese Vielfalt für die liturgische Theoriebildung eine gleichwertige Relevanz beanspruchen können. Auch hinsichtlich des emotionalen Faktors erzielten der klassische agendarische und der Gottesdienst in neuer Gestalt ähnliche Ergebnisse.311 Mit dem Aufzeigen »unterschiedlicher Orientierungsmuster« (116) leistete die Studie einen wichtigen Beitrag zur Einsicht in die grundsätzliche Pluralität liturgisch-ritueller Bedürfnisse. Eine spezifisch positive Einstellung zu rituellen Vollzügen erschien auf dieser Grundlage nicht mehr als idiosynkratische Eigenschaft einer speziellen Randgruppe (»Ritualisten«), sondern als gegebene und als solche samt ihrer Bedürfnisse legitime Form liturgischer Spiritualität. Die Normalität ritueller Bedürfnisse auf Seiten der Gemeinde auf der einen und »das Problem der Fremdheit des gottesdienstlichen Rituals« auf der anderen Seite führte Hans Werner Dannowski zur Einsicht, man müsse »mit Ritualen leben lernen« (118). Damit bekomme die Frage nach der konkreten Gestaltung von Ritualen wie auch ihre Vermittlung neue Aufmerksamkeit, um die »Fremdheit« zu überwinden. Für protestantische Liturgen sei damit jedoch häufig die Angst verbunden, in zwangsneurotisches Handeln zu verfallen oder ihre professionsspezifische Autonomie auf dem Gebiet des Gottesdienstes übermäßig zu beschränken. Die Entdeckung der Ritualkategorie wird damit auch zur professionellen wie spirituellen Herausforderung für die liturgischen Akteure. Zur Erneuerung des Umgangs mit Ritualen erwies sich die Verwendung dezidiert zeitgemäßer Sprache innerhalb des agendarischen Gottesdienstes als wenig geeignet (vgl. 116). Vielversprechender erschienen die Ansätze zur ReAktivierung des Erlebten, der vielfältigen kognitiven, sinnlichen und emotionalen Eindrücke. Gerade intensive Erlebnisse würden durch eine nach310 Auch hier galt der Umkehrschluss: »Jene mit kritisch-nichtrituellen Ansichten fühlten sich überhaupt nicht berührt durch die einzelnen Gottesdienstmerkmale, insbesondere nicht durch Pastor, Musik, Liedertexte, Glaubensbekenntnis, Predigt oder Segen« (111). 311 Vgl. 120. Infolge der Einsicht in die Sinnhaftigkeit ritueller Handlungen stellte sich nun auch für die freien Formen, die Teil der Studie waren, die Frage »Wie können neue Gottesdienste in wiederholbare Rituale gebracht werden?« (123). Dies könnte auch als Beitrag zur immer wieder gestellten Frage nach dem Verhältnis von agendarischen zu freieren Gottesdienstformen verstanden werden (vgl. o. S. 51 sowie 1.3.3).
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trägliche Auseinandersetzung intensiviert und regten zur weiteren Reflexion und Aneignung an. In diesem Zusammenhang rückte auch der Begriff des ›Verstehens‹ wieder in den Mittelpunkt. Die Studie verweist dafür auf die Möglichkeiten von liturgischer Moderation und Predigt sowie besonders auf Predigt- bzw. Gottesdienstnachgespräche. Gerade Letztere waren ja selbst Bestandteil der Studie. Dieses Verstehen sollte aber nicht einseitig kognitiv beschränkt werden und die Erlebnisqualität des Gottesdienstes nicht wieder auf diskursive Kommunikation zurückgeführt werden. Daher gehe es vor allem um ein Verstehen im Erleben, welches den Gottesdienst als »in sich geschlossene Einheit« (124) erfährt und »Formen symbolischer Kommunikation […] emotional rezipiert« (22). Als Voraussetzung für die Rezeption der Gesamtstruktur beschrieb Dannowski die Fähigkeit, »die einzelnen Sprechhandlungen erkennen und vollziehen können« (119). Dafür bot sich in besonderer Weise die Katechese an, um einerseits eine Einführung in die Handlungsvollzüge selbst vorzunehmen und zu einem selbständigen Umgang mit religiösen Formen anzuleiten.312 Andererseits könne im katechetischen Unterricht die Sinnhaftigkeit rituellen Handelns generell vermittelt werden. Für den Konfirmandenunterricht als konkretem Lernfeld schlägt Daiber vor: »Wichtig ist vielmehr, daß die Konfirmanden und ihre Eltern den Gottesdienst als Angebot eines rituellen Problemlösungsverfahrens verstehen. Um dieses Verstehen einzuleiten, scheint es mir erforderlich zu sein, die vielfältigen Formen von Ritualen in unserer Gesellschaft aufzuweisen und ihre Funktion verständlich zu machen« (127, H.i.O.). Neben den Möglichkeiten von Lernprozessen im Ritualvollzug wird zugleich ein erweiterter Nutzen ritualtheoretischer Erkenntnisse sichtbar, insbesondere dann, wenn der Blick über unmittelbar religiöse Rituale hinausreicht. Wird der Gottesdienst als spezifische Form einer generellen gesellschaftlichen Praxis einsichtig, reduziert dies den Eindruck seiner »Fremdheit« in einer vermeintlich »rationalen«, d. h. zumeist ritualfreien Welt, wie diese mit dem Titel der VELKD-Studie impliziert wurde. Im Unterschied zu sonstigen rituellen Praktiken bietet er die Möglichkeit (!), diese Handlungsform innerhalb seiner selbst zu thematisieren.313 Dieses erweiterte Bild rituellen Verstehens vertiefte sogleich das Verständnis liturgischer Partizipation, die nicht nur eine praktische Forderung war, sondern auch theoretisch etwa im Zusammenhang mit dem Gottesdienst als Lernprozess reflektiert wurde.314 Die Autoren werteten als Beleg für eine tatsächliche liturgische Beteiligung eben auch die vielfach überraschend starke Ge312 Die Aneignung ritueller Handlungen stellte sich als umso leichter heraus, je mehr der selbständige Umgang mit der zugrundeliegenden Handlungsform beherrscht wird: Selbst Gebete formulieren zu können ist nicht nur die Folge, sondern auch wiederum eine hilfreiche Voraussetzung, um geprägte Gebete wertschätzen und übernehmen zu können. 313 In dieser Weise kann auch der weithin bekannte Satz von Manfred Josuttis verstanden werden: »Der Gottesdienst sagt explizit, was die Party soll« (Der Gottesdienst als Ritual, 54). 314 S. o. 1.3.2.4.
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sprächsbereitschaft und Auskunftsfähigkeit der Gottesdienstteilnehmer. Partizipation bedeutet dann nicht mehr einseitig liturgische Präsentation und Agieren im Gegenüber zur Gemeinde, sondern die emotionale wie kognitive Aktivität von Individuum und Gemeinde im gesamten liturgischen Vollzug. Die Orientierung an der Frage nach dem Erreichen der liturgischen Handlungsziele mag verhindert haben, dass man neben der Partizipation auch die Frage nach der liturgischen Produktion neu verhandelte. Als Akteure kommen lediglich jene in Blick, die den Gottesdienst leiten, obgleich rituelles Handeln als Aneignungsprozess kaum zulässt, Produktion und Rezeption trennscharf auf einzelne Akteure zu verteilen. Dass sich mit der Studie von Daiber u. a. eine durchweg positive Sichtweise auf den Gottesdienst als Ritual durchgesetzt hat, spiegelt bereits die Tatsache wider, dass die theologische Einführung zum Ritualbegriff auf die Auseinandersetzung mit Ambivalenzen zunächst verzichtet und die Problematik der Ritualität vorrangig in ihrer Vermittlung sieht. Untersuchungen zur Teilnehmerperspektive konnten in der empirischen liturgischen Forschung bisher keinen zentralen Platz einnehmen. Ein Grund dafür dürfte die Komplexität des Gegenstands sein. Dies betrifft sowohl die Frage, was im Gottesdienst von wem wahrgenommen wird, aber auch die Frage, welche Prägungen die Teilnehmer – und Beobachter – jeweils als Vorbedingungen mitbringen.315 Daibers Beitrag war zwar nicht die letzte Veröffentlichung auf diesem Gebiet. Jüngeren Studien gelingt es allerdings kaum, neue Impulse für das Verstehen und Erleben der Gottesdienstteilnahme zu setzten. Ausblickhaft seien zwei Arbeiten erwähnt, die zwar die Ritualität des Gottesdienstes einbeziehen, ihre theoretischen Überlegungen zum Ritual aber stark begrenzen. Die 2007 von Jeannett Martin herausgegebene Studie Mensch – Alltag – Gottesdienst. Bedürfnisse, Rituale und Bedeutungszuschreibungen evangelisch Getaufter in Bayern zielt ausdrückt auf die Perspektive der gottesdienstlichen Ritualakteure und fragt nach zu beobachtendem »gottesdienstlichen Performanzmuster«316. Der Ritualbegriff wird dabei jedoch nicht 315 Vgl. Jan Hermelink: Gottesdienst aus Sicht der Leute. Ein Überblick über neuere Forschungsergebnisse, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 21 (3/2007), 5–14. Vgl. auch die nichtrepräsentative Studie unter der Leitung von Hans-Joachim Thilo, 1984 in Lübeck durchgeführt, die danach fragte, »wie der Besucher eines Gottesdienstes heute das empfindet, was an Gefühlen, Eindrücken und Erinnerungen in ihm wach wird« (Die therapeutische Funktion des Gottesdienstes, Kassel 1985, 9). Hier zeigen sich klar die Grenzen nichtgesprächsbasierter Studien zum Empfinden und Erleben. Weiterführend ist hier der Ansatz Hans-G nter Heimbrocks, der im Anhang zweier Interviews die Wahrnehmung und das Verstehen insbesondere der sinnlichen Erlebnisse im Gottesdienst erfragt und analysiert (vgl. Gottesdienst: Spielraum des Lebens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen zum Ritual in praktischtheologischem Interesse, Kampen/Weinheim 1993, 87–103). 316 Jeannett Martin: Mensch – Alltag – Gottesdienst. Bedürfnisse, Rituale und Bedeutungszuschreibungen evangelisch Getaufter in Bayern, Berlin/Münster 2007, 29. Das Projekt wurde von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Auftrag gegeben und vom Institut zur
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methodisch reflektiert, vielmehr als vorwissenschaftlicher Begriff in die Gespräche eingebracht. Er dient »als heuristisches Mittel, um einen Zugang zu den Bedürfnissen, Relevanzen und damit Alltagshandeln unserer Interviewpartner zu erhalten«. Man wollte also dezidiert »keinen Beitrag zu dem […] ritualtheoretischen Diskurs« leisten.317 Erneut konnte die Verbindung zwischen institutionell-positiver Grundhaltung und Aufgeschlossenheit gegenüber Ritualen bestätigt werden, die bereits bei Daiber anklang.318 Ein wichtiger Erkenntnisgewinn ergab sich jedoch aus dem methodischen Ansatz, rituelle Vollzüge im Alltag in Beziehung zu setzen mit liturgischen Bedürfnissen und Präferenzen. Damit wurde rituelles Verhalten von der Festlegung auf einen exklusiven (Zeit-) Raum gelöst. Auch explizite Bezugnahm stellt bereits der Titel der 2011 veröffentlichten Untersuchung von Uta-Pohl Patalong, Gottesdienst erleben eine Verbindung mit Daibers Studie her.319 Wiederum wird auf die Perspektive der Teilnehmenden im Gottesdienst fokussiert. Dieser wird zwar als auf »Ritualität angelegt«320 verstanden, doch beschränken sich die Erläuterungen zum Ritualbegriff selbst auf die Unterscheidung zwischen dem »auf die Gemeinschaft bezogenen Kultritual einerseits und der Unterstützung individueller Sinnsuche und Vergewisserung andererseits«321, ohne dass deren Verbindung deutlich würde. Für die Einordnung der rituellen Perspektive liturgischer Forschung ist die Studie dennoch von Bedeutung: Anhand der Vielzahl des unter dem Begriff des ›Erlebens‹ Versammelten wird deutlich, inwiefern sinnliche, partizipative, seelische oder soziale Dimensionen des agendarischen Gottesdienstes auch ohne den Ritualbegriff untersucht werden können – und auch sollten, um eben die Ubiquität bei schwindendem heuristischem Gehalt zu vermeiden, mit der der Ritualbegriff gegenwärtig belastet ist (s. u. 5).
2.4.4 Fazit In der Studie Karl-Fritz Daibers u. a. zum gottesdienstlichen Erleben ist geprägt von einer positiven Wertung der Vielfalt unterschiedlicher Glaubens-
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Erforschung der religiösen Gegenwartskultur (IrG) an der Universität Bayreuth in Kooperation mit dem Gottesdienst-Institut Nürnberg durchgeführt. AaO., 31. Das »implizite Ritualverständnis« der Autoren, bei dem sie sich vor allem von V.W. Turner und E. Goffman beziehen, kann für (neuere) protestantische Ritualtheorie als typisch gelten (s. u. 4.3). Aktuellere Entwicklungen auf dem Gebiet der Ritualforschung werden kaum mitvollzogen (vgl. auch den Ansatz von R. Grimes unter 7.2). Vgl. aaO., 126–131. Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben. Vgl. auch die Studie von Achim Knecht: Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie ›Erlebnis‹ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011. Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben, 23. AaO., 26.
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und liturgischer Partizipationsformen und damit auch des Gottesdienstes als Ritual. Die Auseinandersetzung mit dem von Gerhard Schmidtchen in den großen Gottesdienststudien beider Konfessionen benannten Phänomen des »Ritualismus« wandelt sich in der Untersuchung Daibers unter der Perspektive des Erlebens der Gemeinde von einer Defizienzkategorie zur »rituellen«, »religiös-kirchlichen Einstellung«, als einer Ausprägung liturgischer Bedürfnisse neben anderen. Ritualität war damit auch begrifflich keine normabweichende Praxis einer Sondergruppe mehr, sondern akzeptierte volkskirchliche Realität. Daibers Studie knüpft an die Bemühungen um eine Typologie von Frömmigkeitsformen an (2.2), wie auch an die teilnehmerorientierte Perspektive, die erstmals Mitte der 60er Jahre Jens Marten Lohse im Zusammenhang mit der Frage nach einer Kirche ohne Kontakte? einnahm (2.4.1). Auch Lohse hatte nach den subjektiven Voraussetzungen für die gemeinsame Feier des Gottesdienstes gefragt. Schon hier war deutlich geworden, dass der regelmäßige Kirchenbesuch unter Erwachsenen sich nicht durch bloße Gewohnheit oder sozialen Zwang erklärt werden kann, sondern zumeist auf einer bewussten Entscheidung beruht. Dabei unterschied Lohse »Gesinnungssolidarität« und »Lebenssolidarität« als zwei grundlegende Bindungsmuster und -bedürfnisse unter Gottesdiensteilnehmern. Über die Studie hinausgehend lassen sich diese in Beziehung zu unterschiedlichen Gottesdienstformen setzen: »Gesinnungssolidarität« als Gemeinschaftsform stärker ritualisierter Gottesdienste lässt mitunter den Wunsch nach stärker an einer »Lebenssolidarität« orientierten liturgischen Formen aufkommen. Womit zu erklären wäre, warum an den Gottesdiensten im »zweiten Programm« nicht selten dieselben Personen teilnehmen, die auch am Sonntagmorgen kommen. Die Einsicht in die Pluralität gottesdienstlicher Bedürfnisse gilt es aber auch gegen einseitig an rituellen Kriterien orientierte Gottesdienstgestaltung zu behaupten. Die Normalität eines ritualisierten Kirchenbesuchs anzuerkennen, der nicht zugleich mit entschiedener Zustimmung zu christlichen Lehrmeinungen und zur Institution Kirche korreliert (»Ritualismus«), bedeutete zugleich eine Öffnung in der Wahrnehmung des Gottesdienstes für die Volkskirche. Als katholische Position begegnete dies explizit bei Karl Forster, während auf evangelischer Seite Eilert Herms das vermeintliche Abweichen geradezu als Kennzeichen protestantischen Glaubens herausstellte. Mit Daibers Studie u. a. trat auch methodisch ein wichtiger Richtungswechsel ein. Der Gottesdienst wurde nicht nur pauschal als Gesamtritual verstanden, sondern zunehmend auf seine einzelnen Elemente hin untersucht.322 Man interessierte sich stärker für den Handlungsaspekt des Rituals 322 Eine detaillierte Analyse einzelner, exemplarischer Gottesdienstelemente aus semiotischer Perspektive in Bezug auf die unterschiedlichen Sprachcodes von Raum, Licht, Bewegung, Musik, Sprache, Handlung, Gerätschaften, Kleidung etc. haben Schiwy u. a.: Zeichen im
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und die formalen Kriterien dieses Handelns. Neben der Regelhaftigkeit und der symbolischen Kommunikationsform kam so auch eine spezifische Einstellung der Akteure in den Blick. Andererseits erfolgte vermehrt eine Annäherung an das gottesdienstliche Erleben, besonders in Bezug auf die emotionale Wirkung der einzelnen liturgischen Elemente. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch die Verschiebung von rein quantitativen Methoden (Synodenumfrage) hin zu stärker qualitativen, gesprächsorientierten Ansätzen (Daiber). Dies eröffnete zudem eine Annäherung an die Frage, warum Menschen ritualisierte Gottesdienste besuchen. Rituale wurden dabei als Sinnstiftungs- und Lebensdeutungsprozesse verstanden. Insgesamt zeichnete sich eine Erweiterung ausschließlich an empirischer Religionssoziologie orientierter Methoden zu einer empirischen Liturgik im engeren Sinn ab, wenngleich diese Perspektive seither nur selten weiterverfolgt wurde (vgl. u. a. Martin; Pohl-Patalong; Knecht). Parallel zur beschriebenen ritualtheoretischen Entwicklung verbindet die hier behandelten Ansätze die nahezu ausschließliche Ausrichtung auf die sozialen Funktionen von Ritualen – auch dort, wo ein Problemlösungsprozess zugrunde gelegt wird, der schließlich doch auf die Erneuerung des Gottesverhältnisses einer Gruppe abzielt (Daiber). Allein die unterschiedlichen Definitionen des ›Rituals‹ bei einem Autor (2.3.3; 2.4.2.2.2; 2.4.3) zeigen die Liquidität des Konzepts »Ritual« innerhalb der evangelischen Liturgik der 1970er Jahre. Grund dafür war nicht zuletzt Vielzahl der rezipierten ritualtheoretischen Ansätze. Diese Vielfalt sich in der evangelischen Liturgik hat sich jedoch kaum längerfristig etabliert oder weiterentwickelt.323 Abschließend zwei generelle Beobachtungen: Die Einsicht in die Notwendigkeit ritueller Vollzüge führte zur Reflexion auf die faktische Ritualkultur in der protestantischen Kirche. Infolge einer gesteigerten Wahrnehmung wurde immer wieder Kritik an der Vernachlässigung der Sorgfalt in der rituellen Gestaltung laut. Bildhaft ausgedrückt findet sich dies bei Manfred Josuttis: »Die theologische Kritik des Rituals heißt nicht, daß man darauf verzichtet, daß man es nicht ernst nimmt oder daß man es schludrig vollzieht. Wer einen magischen Mißbrauch des Sakraments ausräumen will, sollte deswegen nicht sauren Abendmahlswein ausschenken.«324 Die zweite Beobachtung bezieht sich auf die vermehrt gestellte Frage nach dem Verstehen ritueller Praxis und damit auch nach ihrer Vermittlung. In der Liturgiekonstitution des 2. Vaticanums wird der Anspruch formuliert, man Gottesdienst, erarbeitet. Von »Ritualisierung« ist dabei nur als verhinderter Kommunikation die Rede. 323 Vgl. exemplarisch Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre: Neben den gleichsam »kanonisierten« Autoren Durkheim, van Gennep, Goffman und Turner wird für weitere – zumal neuere – theoretische Ansätze zur »rituellen Gestalt gottesdienstlicher Darstellung und Mitteilung« lediglich auf allgemeine Sammelbände verwiesen (aaO., 40). 324 Josuttis: Der Vollzug der Beerdigung, 202.
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möge die Texte und Riten »möglichst leicht erfassen und an ihnen in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Weise teilnehmen« (SC 21) können, daher sollen die Riten »knapp und durchschaubar« und »dem Fassungsvermögen der Gläubigen angepasst sein und im allgemeinen nicht vieler Erklärungen bedürfen« (SC 34). Umso mehr verwundert es, dass die Frage der Verständlichkeit der Riten in der Auswertung der Synodenumfrage keine Rolle spielte, dafür aber umso mehr im evangelischen Kontext.325 Zum einen wurde über liturgische Moderation, katechetische Bemühungen sowie über die Aufgabe der Predigt nachgedacht. Andererseits wurde die Verständlichkeit des Ritus’ Gottesdienst selbst thematisiert. Darunter fiel die Anordnung seiner Elemente, ihre theologische Deutung, besonders aber die Frage nach den Möglichkeiten des Erlebens als Bedingung und zugleich als Kriterium des Verstehens, ohne dass eine hinreichende Antwort gefunden werden konnte. Wie also kognitiv-diskursive und emotional-intuitive Zugänge zum Ritual gleichermaßen eröffnet und vertieft werden können, ist als bleibende Fragestellung der Liturgik festzuhalten.
2.5 Vom theologischen ›Ritualismus‹ zum anthropologischen ›Ritual‹: Bündelung und Weiterführung in Werner Jetters Symbol und Ritual (1978) Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass bereits vor Werner Jetters Hauptwerk Symbol und Ritual von 1978 die im Titel enthaltenen Begriffe Gegenstand intensiver theologischer Forschungen waren.326 Es handelt sich also gerade nicht um den »Beginn einer breiten ritualtheoretischen Diskussion«.327 Vielmehr gelingt es Jetter, wichtige Erkenntnis der Ritualtheorie zu bündeln und weiterzuführen. Die enthaltenden Impulse für die evangelische Liturgik scheinen bisher nur ungenügend erschlossen und rezipiert. Das Zitat aus dem Vorwort fasst die zentralen Anliegen Jetters zusammen: »Nur: hat man nicht vieles, was im Schatten der klassischen theologischen Themen blieb, im Gottesdienst allzu wenig beachtet und einer Freiheit überantwortet, die in Wirklichkeit oft bloß der Gewohnheit oder dem Belieben das Feld überließ? Der Gottesdienst will sowohl als Gesamtritual wie im Kontext der kirchlichen und ge325 Damit bestätigt sich die Beobachtung Andreas Odenthals, dass »die evangelische Tradition, […] stärker als die katholische Seite das Thema Ritual forcierte« (Liturgie als Ritual. Theologische und psychoanalytische Überlegungen zu einer praktisch-theologischen Theorie des Gottesdienstes als Symbolgeschehen, Stuttgart 2002, 33), obgleich die begrifflichen Brücken zur eigenen liturgischen Tradition durchaus gegeben waren (s. o. 2.4.2.1.2). 326 Vgl. Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, 41. 327 Thomas Klie: Fremde Heimat Liturgie. Ästhetik gottesdienstlicher Stücke, Stuttgart 2010, 187, H. RG. – Wenngleich die monografische Bearbeitung einen erheblichen, wenngleich als solcher weitgehend unbeachteten Bedeutungsgewinn für die Thematik brachte, wie noch zu zeigen sein wird.
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sellschaftlichen Lage bedacht werden. Für beide Betrachtungen haben Human- und Sozialwissenschaften wichtige Ergebnisse und Hypothesen und damit ein differenziertes Instrumentarium zur Verfügung gestellt.«328
Erstens soll der rituelle Charakter des »veranstalteten«, agendarischen Gottesdienstes exklusiv ins Zentrum einer protestantischen liturgischen Arbeit gestellt werden. Ausgehend von einer vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen liturgischer Partizipation, wie sie in den Gottesdienststudien zutage getreten waren, soll die bisherige, theologisch motivierte Kritik an Riten und Zeremonien überwunden werden, die zur Vernachlässigung eines wichtigen Praxisfeldes geführt hat. Zugleich stellt dies die konsequente Weiterarbeit an den bisherigen Bemühungen um eine Theorie protestantischer Ritualkultur dar, an denen Jetter auf dem Gebiet der Kasualtheorie selbst beteiligt war (s. o. 2.3.4). Zweitens sollen nicht nur einzelne rituelle Vollzüge innerhalb des Gottesdienstes benannt und analysiert, sondern dieser als »Gesamtritual« untersucht werden. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Predigt ist dabei unerlässlich. Sich auf die Ritualität des Gottesdienstes einzulassen ist für Jetter drittens nur auf der Basis einer vorangehenden Verständigung über dessen anthropologische Grundlagen sinnvoll, d. h. im Austausch mit Human- und Sozialwissenschaften. In umgekehrter Reihenfolge werden diese Anliegen in Jetters Werk durchgearbeitet: Grundlegenden Erörterungen zu Symbol und Symbolisierung sowie zum Ritual als Form symbolischer Kommunikation folgen konkrete Überlegungen zum christlichen Gottesdienst. Dieser wird in seiner Symbolhaftigkeit erläutert, um anschließend seine Chancen angesichts der anthropologischen Voraussetzungen wie auch des unmittelbaren historischen Kontextes zu bedenken. Der folgenden Darstellung und Würdigung der Ritualtheorie Jetters sollen einige Bemerkungen zum Anlass, zum persönlichen Hintergrund sowie zur weiteren Zielsetzung seiner Arbeit vorangestellt werden. Anschließend richtet sich der Fokus auf die funktionale Bestimmung von Ritualen als Form symbolischer Kommunikation. Daraufhin ist noch einmal nach seiner Bestimmung des Verhältnisses zwischen Ritualen und ihrer Auslegung zu fragen, das in seinem kasualtheoretischen Aufsatz von 1976 bereits eine wichtige Rolle gespielt hatte. Schließlich soll Jetters Unterscheidung zwischen großkirchlichen und gruppengemeinschaftlichen Gottesdienstformen samt ihrer theoretischen Fundierung und ihrer Implikationen für die liturgische Praxis dargestellt werden, die seinen volkskirchlichen Ansatz unter der Voraussetzung liturgischer Pluralität verdeutlicht.
328 Jetter: Symbol und Ritual, 7. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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2.5.1 Anlass, Hintergrund und Zielsetzung Jetters Arbeit entstand im unmittelbaren Kontext der VELKD-Gottesdienstumfrage (2.4.2.2), zu der auch er um eine Kommentierung der Ergebnisse gebeten worden war. Der Kommentar wuchs sich aufgrund grundsätzlicher Bedenken zum »Ritualismus«-Begriff der Studie unter der Hand zu einer eigenständigen Publikation aus. Wie andere Kommentatoren hinterfragte auch Jetter auch das vorschnelle Urteil über den Glauben jener »unwahrscheinlichen Gottesdienstbesucher«, insbesondere der »jugendlichen Ritualisten«. Die mit dem »Ritualismus« gestellte Frage nach dem »Zusammenhang von Frömmigkeit und Religionsausübung« dürfe zudem nicht mehr einseitig dogmatisch beantwortet werden. Eine Möglichkeit, die unterschiedlichen Teilnahmeformen am Gottesdienst als Ausdruck einer eigenständigen Frömmigkeitspraxis besser zu erfassen, schien Jetter das »kulturanthropologische Konzept des Ritualismus« zu bieten, welches. Daraus ergab sich für ihn zugleich eine Neubewertung des Verhältnisses von traditionellem, agendarischen Gottesdienst und den mittlerweile etablierten Gottesdienstformen des »zweiten Programms«: »Sicher gibt es eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen, die im Gottesdienst nicht jeweils neue und besondere religiöse Erlebnisse und neue Einsichten zu erfahren wünschen, die ihn vielmehr mit Schwerpunkt als Ritualvollzug […] ansehen, nämlich als die sichtbare Form ihrer häufigen oder sporadischen Religionsausübung.« Und: »Man muss […] damit rechnen, daß der Gottesdienst gerade als das Gesamtritual, […] sowohl eine langfristige Funktion im kirchlichen Sozialisationsprozeß erfüllen kann und soll, wie er auch eine aktuelle Funktion im kirchlichen Kommunikationsprozess wahrnehmen soll« (22). Die Relativierung der Erwartung an subjektiv transformierende Erfahrungen im Gottesdienst und zugleich die Hervorhebung der kommunikativen Leistungen des agendarischen Gottesdienstes lässt bereits erahnen, dass Jetter seinen Blick auf die empirischen Daten zu Gottesdienstbesuch, Kirchenbindung und »ritualistische« Formen der Teilnahme vor allem an der Perspektive der Volkskirche ausrichtet. Mit der volkskirchlichen Perspektive verbunden war die Einsicht in eine zunehmend »kasuelle Gottesdienstteilnahme« (89). Dies führte zu einer Übertragung der Erkenntnisse über religiöse Rituale von der Kasual- auf die Gottesdiensttheorie. Hier konnte Jetter auf seine Auseinandersetzung mit der Taufe im Rahmen der 1951 in Tübingen eingereichten Dissertationsschrift zurückgreifen.329 Zu dieser Arbeit angeregt hatte ihn der Systematiker und 329 Vgl. Ders.: Die Taufe beim jungen Luther. Eine Untersuchung über das Werden der reformatorischen Sakraments- und Taufanschauung, Tübingen 1954. Die »Vorliebe für alles Zeremonielle« war dort noch mit dem »Gesetz« verbunden worden. Es bestehe aber die Hoffnung, dass ganz im Sinne Luthers die »geistlichen Fortschritte« die Bedeutung äußerlicher Vollzüge zunehmend relativierten: »Je geistlicher, desto weniger werkeifrig, auch im Rituellen und Liturgischen« (aaO., 134 sowie 295, Anm. 2).
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Lutherforscher Gerhard Ebeling. Neben ihm muss auch dessen Lehrer Dietrich Bonhoeffer als prägende Gestalt für Jetters theologisches Denken gewertet werden. Insbesondere Jetters positive Grundhaltung gegenüber der Moderne und sein Interesse an den Menschen außerhalb und am Rande der verfassten Kirche lassen dessen theologischen Einfluss spürbar werden. Nach einer zehnjährigen Tätigkeit als Pfarrer in Stuttgart330 folgte Jetter 1962 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Tübingen. Vor wie nach seiner Berufung bildeten Predigtstudien und homiletische Reflexionen den Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen.331 Während aus heutiger Sicht die Frage nach dem Gottesdienst als Ritual tendenziell einem eher konservativen Ansatz zugerechnet würde, hätten Jetters Rezeption anthropologischer Erkenntnisse ihn in seiner Zeit vornehmlich als progressiven Theologen erkennbar werden lassen. Seinem Selbstverständnis nach sah sich Jetter jedoch stets als Vertreter einer Mittelposition. Er betonte die Notwendigkeit zu liturgischen Reformen genauso, wie er auf die Ambivalenzen des »Neuen« hinwies.332 Als »liturgischer Hypotoniker mit Auch in den kirchlichen Veröffentlichungen der folgenden Jahre war die Taufe immer wieder ein zentrales Thema (vgl. etwa Jetters Taufbüchlein: sieben Briefe für junge Eltern, Stuttgart 1958). 330 In seine Zeit als Pfarrer der Stuttgarter Gedächtniskirche fiel auch der Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Kirche (1956/57). Den mitunter heftigen Auseinandersetzungen mit dem Architekten Helmut Erdle ist zu entnehmen, wieviel Jetter an einem liturgisch zweckmäßigen Kirchenraum gelegen war, der sich architektonisch wie auch in der künstlerischen Ausgestaltung einer modernen Formensprache bediente. Vgl. dazu das anlässlich des Neubaus von ihm konzipierte und herausgegebene Gedenkbuch der Gedächtniskirche, Stuttgart 1963, das selbst wiederum eindrückliches Zeugnis gibt von Jetters Affinität zur modernen Kunst, die er mit der Liturgie in Beziehung zu setzen wusste: Das Buch enthielt biblische Texte zum Thema »Gedächtnis« sowie Holzschnitte von Wiltraud Walter-Jasper und sollte sowohl im Gottesdienst Verwendung finden als auch außerhalb: »… [das Buch] ist für nachdenkliche Leute geschrieben, aber auch Kinder sollen sich an ihm freuen können. Sein Gebrauch ist so gedacht, daß es nicht nur den besinnlichen Betrachter ansprechen will, der seine Seiten umblättert, sondern daß es auch bei den Gottesdiensten in unsrer Kirche mitwirken soll: die Gemeinde soll es aufgeschlagen vor sich sehen, und es soll jeweils mit einem Wort oder Bild in das Gedenken und in die Verkündigung des Gottesdienstes einstimmen. Dabei mag sich mit der Zeit von selbst eine gewisse Ordnung herausbilden« (»Zum Geleite«, in: Werner Jetter [Hg.]: Gedenkbuch der Gedächtniskirche, Stuttgart 1963, o. S.). 331 Vgl. Joachim Mildenberger (Hg.): Bibliographie Werner Jetter 1937–1998. Zum 90. Geburtstag am 4. Februar 2003, Heidelberg 2003. 332 Hinsichtlich der Abendmahlspraxis etwa betonte er 1968 zum einen die Notwendigkeit, »den Blick entschlossen von den erstarrten Formeln und Bedeutungen weg[zu]wenden, [und] das Schwergewicht bewußt auf das freie Experimentieren mit neuen Feiergestalten [zu] legen«. Zum anderen wies er Versuche zurück, den Gottesdienst »zur freien Wildbahn für wildes Experimentieren« zu machen (Jetter: Was wird aus der Kirche?, 196.184). Zur Selbsteinschätzung Jetters vgl. auch die Bemerkung in Ders.: Bemerkungen zur Situation und zum Verständnis des Gottesdienstes heute, in: Dietrich Rçssler/Gottfried Voigt/Friedrich Wintzer (Hg.): Fides et communicatio. Festschrift für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, Göttingen 1970, 183–214, 183: »In den schwäbischen Gefilden, denen ich mich zugehörig weiß, hält sich liturgischer Enthusiasmus sowieso in Grenzen.«
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kleiner Amplitude«, wie er sich selbst beschrieb, äußerte er immer wieder seine Unzufriedenheit in beide Richtungen: Er sah »beim Alten oft mehr Ruß als Feuer und beim Neuen oft mehr Rauch als Flamme«333. Das Ziel für den agendarischen Gottesdienst sah er darin, die rechte Balance zwischen Formlosigkeit auf der einen und Rekatholisierung auf der anderen Seite zu finden, zwischen »zu viel oder zu wenig Form, […] zu wenig Menschlichkeit oder zu viel des Allzumenschlichen«334. Weil sich liturgische Fragen nicht als Entweder-oder beantworten ließen, zielten seine liturgischen Beiträge auf »geistliche Entspannung und Entkrampfung«335. Auch Symbol und Ritual ist vor dem Hintergrund dieses Anspruchs zu lesen. Er schlägt sich nicht nur in der durchgängigen Betonung der unvermeidlichen Ambivalenz jedweder liturgischen Formen nieder, sondern auch in einem durchweg essayistischen Stil. Gleichwohl trägt Jetter seine Mittelposition immer wieder in provokanter Abgrenzung sowohl gegenüber ritualkritischen Positionen als auch gegenüber überzogenen Forderungen liturgischer Bewegungen vor. Symbol und Ritual erschien nahezu zeitgleich mit Jetters Emeritierung. Das Bemühen um eine theologisch verantwortete, anthropologische Basis für die zukünftige Gestaltung des Gottesdienstes verstand er als Teil der Antwort auf die von ihm selbst aufgeworfene Frage Was wird aus der Kirche? (1968). Bereits in jenem Krisenjahr deutete er die wachsende Pluralisierung als Chance, war sich aber bewusst, dass damit »verschärfte Qualitätserwartungen« an Kirche und liturgische Praxis einhergingen.336 Die Kirche müsse darauf mit verstärkten Professionalisierungsbemühungen der Gottesdienstkultur reagieren. Dazu sollte Symbol und Ritual einen Beitrag leisten. Der Qualitätsmaßstab liturgiewissenschaftlicher Theorie war für Jetter die Bewertung und Beförderung der »Leistungsfähigkeit« des Gottesdienstes. In dieser Hinsicht sei der Gottesdienst »entschlossen instrumental«337 zu behandeln. Seine Formen stünden grundsätzlich zur Disposition, ohne dass damit bereits zwischen Altem und Neuem entschieden wäre. Dieser »entschlossen« funktionale Zuschnitt der Liturgik Jetters findet seinen Niederschlag in der ausführlichen und das ganze Werk durchziehenden Konzentration auf die Leistungen symbolischer und ritueller Kommunikation, die er bei der »Suche nach den jeweils erschwinglichen und bestmöglichen Kommunikationsweisen« (91) in den Blick nahm.
333 Vgl. aaO., 184. 334 Ders.: Praktische Theologie, in: Claus Westermann (Hg.): Theologie: VI x 12 Grundbegriffe, Berlin 1967, 297–368, 329. 335 Ebd. 336 Vgl. Ders.: Was wird aus der Kirche?, 11. Die Rückseite dieser Einsicht bildet Jetters häufige und freizügige Kritik an der mangelnden Sorgfalt liturgischer Praxis: »Nicht immer freilich provoziert solche Armut den Geist; zuweilen deprimiert sie auch bloß das Formempfinden« (Ders.: Praktische Theologie, 326). 337 Ders.: Bemerkungen, 210.
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Jetter hatte die Arbeit Dieter Trautweins zum Lernprozess Gottesdienst338 begleitet und für die Publikation ein Vorwort verfasst. Darin machte er die Notwendigkeit deutlich, dass »ein neuer Zugang zur gottesdienstlichen Veranstaltung überhaupt erschlossen«339 werden müsse, statt »Innovation« sei »Konzeption« gefragt. Jetters Augenmerk fiel daher besonders auf Trautweins Analyse der Messform als Lernprozess. Dass gerade die historisch gewachsene, keiner einzelnen Intention zuzuschreibende Form sich unter lernpsychologischer Perspektive als äußert funktional erwies, war für Jetter Anstoß, diese Leistungsfähigkeit nun noch einmal für das Ritual überhaupt als eigenständiger Form symbolischer Kommunikation aufzuzeigen. Im Blick auf den Protestantismus hieß das, die Schizophrenie seines »kultisch-akultischen Credos« als Folge der Verwechslung theologischer Urteile mit anthropologischen Konstanten kenntlich zu machen. Das dadurch ermöglichte bessere Verständnis der liturgischen Konstruktionsprinzipien sollte nicht zuletzt die herrschende »Indifferenz« überwinden, die sich auch gegenüber dem Gottesdienst zeigt.340 Ohne das evangelische Profil aufzugeben, versteht er sein Werk als »Vorüberlegungen zu einer ökumenischen Verständigung über den Gottesdienst« (7). Die Notwendigkeit solcher Überlegungen entnahm Jetter dem empirischen Befund, dem zufolge »das traditionelle, stark konfessionsverschiedene Profil der Beziehung zur Kirche für die volkskirchliche Frömmigkeit weitgehend verschliffen« (18) sei. Der spezifische Beitrag des Protestantismus innerhalb der Ökumene konnte für Jetter nicht in seinen liturgischen Formen liegen, sondern in seiner theologischen Grundhaltung, liturgische Pluralität nicht als Mangel an Einheit, sondern als konstitutiv für die Kirche überhaupt zu begreifen.341 Diese Pluralität exemplarisch theologisch unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu bekräftigen, stellt ein weiteres Anliegen des Werkes dar (s. u. 2.5.4). Das von einem »engagierte[n] Dilettant[en]« (8) verfasste Werk wurde innerhalb der evangelischen Theologie rasch rezipiert.342 Vor allem die entschiedene Ausrichtung am Symbolbegriff, die vielfältige Integration außertheologischer Erkenntnisse und insgesamt ein hoher Informationsgehalt wurden vielfach positiv bewertet.343 Dabei fällt auf, dass von Beginn an allgemeine Verweise auf das Werk – zumeist mit explizitem Hinweis auf dessen 338 S. o. 1.3.2.4. 339 Trautwein: Lernprozess, XII. 340 »…ein Schweigen und ein teilnahmsloses Gewährenlassen, das vielleicht schwerer zu nehmen ist als laute Proteste und giftige Pamphlete« (Jetter: Bemerkungen, 199). 341 Vgl. aaO., 193. 342 Keine Aufnahme fand das Werk in der äußerst umfassenden Bibliographie zur Ritualtheorie von Jens Kreinath/Jan Snoek/Michael Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals. Annotated Bibliography of Ritual Theory, 1966–2005, Leiden/Boston 2007. 343 Umfassendes Lob erfährt das Werk bei Peter Cornehl: Rez. zu W. Jetter: Symbol und Ritual, in: WPKG 68 (1979), 393–396, 393: »Ein gehaltvolles, überlegenes, oft bewegendes Buch! … eine vorzügliche Zusammenfassung, sorgfältig, zuverlässig, abgewogen.«
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forschungsgeschichtliche Bedeutung – sowie das Zitieren von Schlagworten (wie die Rede von Ritualen als »gefährlichen Unentbehrlichkeiten«, 112) dominieren. Eine systematische Auseinandersetzung mit Jetters Theorie findet sich kaum. Starke Kritik äußerte hingegen Karl-Heinrich Bieritz. Zwar würdigte er das grundlegende Ansinnen, Begriffe wie »Ritual« nicht aus historischer Sicht zu bewerten, sondern induktiv auf Grundlage empirischer Daten jeweils neu zu erarbeiten. Dem interdisziplinären Ansatz bescheinigte Bieritz aber letztlich einen »spekulativen« Umgang mit den kultur-, kommunikations- und sprachwissenschaftlichen Theorien, sodass »im Blick auf die […] praktischtheologischen Neuansätze eines nichtspekulativen Umgangs mit den Phänomenen von Symbol und Ritual […] wohl eher ein Rückschritt [zu] konstatieren«344 sei. Als Grund für dieses Urteil können in der Tat die Fülle der – mitunter eklektisch – rezipierten Theorien gelten, häufige Redundanzen, aber auch stilistische Eigenheiten. Jetters Formulierungen sind zumeist breit ausgeführt und weiten den an ›Symbol‹ und ›Ritual‹ orientierten Gedankengang immer wieder in Richtung einer allgemeinen liturgischen Kommunikationstheorie bis hin zu einer generellen Gottesdiensttheorie (bes. Kapitel 7). Es fällt daher nicht immer leicht, die Gedankenstruktur im Einzelnen wie im Gesamten nachzuvollziehen. Jetters Schrift ist nicht zuletzt deshalb seither ein zwar oft zitiertes, aber nur selten gelesenes Werk geblieben. Die Auseinandersetzung mit Jetters Ritualtheorie soll hier nun nicht in Form einer Gesamtdarstellung erfolgen, sondern im Nachzeichnen einzelner Argumentationslinien. Dies macht es indes nötig, den Rahmen des zumeist rezipierten 4. Kapitels (»Der Gottesdienst als Ritual«) zu überschreiten.
2.5.2 Rituale als symbolische Kommunikation und symbolisches Handeln 2.5.2.1 Das Symbol als »fundamentale Eigentümlichkeit« menschlicher Weltwahrnehmung Rituale sind für Jetter Ausdruck der Bemühungen, »Glaubensfragen in Gestaltungsfragen zu übersetzen« (19). Dazu bedienen sie sich symbolischer Sprache, denn »Rituale sind und wirken symbolisch« (20). Daher ist der Ritual- eine Symboltheorie vorangestellt, die im Folgenden kurz erläutert werden soll. Jetters »enger« Symbolbegriff umfasst nur jene Zeichen, »deren unmittelbar erkennbarer Sinn auf weiterführenden Sinn hindrängt« (29). In einem ersten Schritt (Kapitel 2) erörtert Jetter unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge zum Symbolbegriff: Darunter finden sich religionsphänomenologische (M. Eliade; G. van der Leeuw), verhaltenspsychologische (A. 344 Karl-Heinrich Bieritz: Rez. zu W. Jetter: Symbol und Ritual, in: ThLZ 106 (1981), 292–294, 294.
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Lorenzer), philosophische (P. Ricœur) und soziologische Zugänge (G.H. Mead). Jetter greift auch die vielfach rezipierte philosophisch-kulturwissenschaftliche Symboltheorie Susanne K. Langers auf, die nicht nur für seine Symboltheorie, sondern auch für Jetters erwähnte Unterscheidung zweier unterschiedlicher Gottesdienstformen wichtig ist.345 Langer hatte das Verhältnis von Sprache und Symbol mithilfe der Unterscheidung zwischen »diskursiver« und »präsentativer« Symbolik beschrieben. Ihr zentrales Anliegen bestand darin, die präsentative Symbolik des Rituals – wie auch der Kunst – als eigenständige Kommunikationsform gegenüber der Sprache (diskursive Symbolik) zu etablieren. Damit verbunden ist eine spezifische Form von Rationalität, die sich von einer technisch-instrumentellen Rationalität abgrenzt, aber gleichermaßen Träger von Bedeutung und Ausdruck menschlicher Erfahrung ist.346 Präsentative Symbolik ist gekennzeichnet durch die Individualität ihres Mediums, die weder einen Ersatz durch andere Symbole noch die Übersetzung in diskursive Symbolik erlaubt, ohne dabei Bedeutungsverluste zu erleiden. Jetter sieht eine der Schwachstellen protestantischer Liturgik genau darin, präsentative Symbolik wie Mimik und Gestik »herunterzuspielen« aus »Angst vor falscher Sakralität« (164). Als Ursache für die Krise von Kirche und Gottesdienst benennt Jetter einen allgemeinen »Verfall der Symbolkraft des Christentums« (60) in der Gegenwart. Aus diesem Grund unternimmt er im nächsten Schritt (3. Kapitel) eine theologische und existenzielle Deutung des Symbols. Dabei soll die Fähigkeit des Symbolisierens als »fundamentale Eigentümlichkeit dessen, wie Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen können« (65) herausgestellt werden: Symbole sind Ausdrucksformen von Herrschaft, sie sind Selbstdarstellung, aber auch Auseinandersetzung mit individueller wie kollektiver Begrenztheit. Sie ermöglichen das Überschreiten des Begrifflichen, Verobjektivierten und sind ein Heranwagen an das »Unvergleichliche« in Form von Gleichnissen (74). In allem zeigt sich das Symbol als unverzichtbare Ausdrucksform des Religiösen. Auch der Protestantismus verfügt für Jetter trotz aller konfessionellen Vorbehalte über ein »geschlossenes Symbolsystem«, das im Glauben der Einzelnen meist tief verankert ist und somit ein wesentlicher Faktor ihrer religiösen Identitätsbildung. Dabei wird der Einsicht Rechnung getragen, dass 345 Vgl. Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. Main 1965 [1941]. Das Werk erschien 1941 und erfuhr in den folgenden Jahrzehnten eine unübersichtliche Zahl unveränderter Neuauflagen und -drucke. Die deutsche Ausgabe erstmals erschien 1965. 346 »Die Anerkennung des präsentativen Symbolismus als eines normalen Bedeutungsvehikels von allgemeiner Gültigkeit erweitert unsere Vorstellung von Rationalität weit über die traditionellen Grenzen hinaus und wird doch der Logik im strengsten Sinne niemals untreu. Wo immer ein Symbol wirkt, gibt es Bedeutung; andererseits entsprechen verschiedene Erfahrungstypen, wie Erfahrung durch Verstand, Intuition, Wertschätzung – verschiedenen Typen symbolischer Vermittlung. Jedem Symbol obliegt die logische Formulierung oder Konzeptualisierung dessen, was es vermittelt« (aaO., 229).
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in kirchlichen Bekenntnissen »weniger ihre ausformulierte Doktrin, als deren symbolischer Tiefgang« ihre »kirchen- und gemeinschaftsbildende Kraft« verleiht. Dieser »Vorrang der Symbolik vor der Dogmatik« (85) kann für religiöse Symbole insgesamt in Anspruch genommen werden. Zugleich aber finden sich im Umfeld der Symbolik immer auch auf diesen bezogenen Reflexionen: »Wo das Symbolische ins Spiel gebracht wird, findet man alsbald Theorie und Praxis miteinander verschränkt« (86). Das Symbol präsentiert somit keine fertig formulierte Wahrheit, sondern stellt eine Form der Annäherung an die Wahrheit dar: »Das Symbol gibt zu denken« (Ricœur). Der durchwegs implizierte Handlungskontext, in dem Symbole stehen, lässt den Schritt zur Behandlung des Rituals als logische Folgerung erscheinen, wirft jedoch zugleich die Frage nach der Spezifik des Ritualbegriffs auf. 2.5.2.2 Die Funktionen des Rituals und ihre Ambivalenz Der Charakterisierung und funktionalen Bestimmung von Ritualen widmet sich Jetter im 4. Kapitel, überschrieben »Der Gottesdienst als Ritual«. Bereits diese Formulierung enthält eine provokante Aussage, da explizit der evangelische Gottesdienst den Bezugspunkt dieser Überlegungen bildet, dessen Kern – dem bis dahin üblichen Verständnis nach – eben nicht das Ritual bildet, sondern die Predigt. Für Jetter war nicht nur der eucharistische »Vollgottesdienst«, wie er von liturgischen Bewegungen eingefordert wurde, sondern »auch der protestantische Predigtgottesdienst mit seiner oft so beklagten Symbolarmut dennoch vor allem Ritual« (89, H. RG). Auch bezog Jetter diese Aussage nicht zuerst auf das agendarisch fixierte Formular, sondern auf den gefeierten Gottesdienst in seiner »konkreten Lebensgestalt in einem konkreten Kontext«. Mit Verweis auf Erving Goffman347 wird ein »unaufkündbares Wechselverhältnis zwischen den rituellen Vollzügen und den [sc. alltäglichen] Lebensvollzügen« (90) behauptet. Ihre Lebendigkeit hänge nicht an ihrer Nähe zum Sakralen, sondern daran, »wieviel vom vitalen und sozialen Leben sie mit integrieren können« (131). Jetter tritt damit bewusst in Gegensatz zur geläufigen Überzeugung, der zufolge Rituale stets den Anspruch erhöben, eine isolierte sakrale Sphäre zu erschaffen bzw. zu inszenieren – und daher für den Protestantismus abzulehnen seien.348 Provokant angesichts der von dialek347 Jetter gibt ausführliche Zitate aus Goffmans Werk Interaktionsrituale (dt. 1971) wieder. Zuvor hatte lediglich Josuttis: Der Vollzug der Beerdigung, 189 auf diese später vielfach rezipierte Theorie verwiesen. 348 S. u. 4.2. In Symbol und Ritual finden sich diesbezüglich Spannungen im Text. Jetter beschreibt einerseits die Zirkularität betont von »hörendem Glauben«, der ins »Tun« übergeht und dieses wiederum zum »Hören« zurückkehrt und damit die Gleichberechtigung von Liturgie und Diakonie. Andererseits betont er – stärker der Diktion der 60er Jahre verpflichtet – auf die »sachliche Priorität des sich dem Leben zuwendenden und dort einmischenden vor dem sich
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tisch-theologischer Seite betonten Unvergleichbarkeit des (protestantisch-) christlichen Gottesdienstes wirkte schließlich die Feststellung, dass die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Ritualen349 nicht nur eine sekundäre Entwicklung darstelle, sondern für eine Ritualtheorie keine primäre Bedeutung habe, auch dann, wenn ihr Fokus auf dem Gottesdienst liegt. Auch inhaltlich ist Jetters Bestimmung des Rituals vorreligiös, handelt es sich dabei um eine Umgangsweise »mit dem, was am Leben und Sterben unheimlich und furchterregend bleibt« (93). Jetters Definition des Rituals fällt im Vergleich mit seinem früheren Aufsatz knapp aus: »Rituale sind wiederholbare Handlungsmuster von symbolischem Charakter. Sie konzentrieren den, der sie vollzieht, ganz auf den Vollzug; sie verweisen aber dabei zugleich ganz von sich weg, über sich selber hinaus und auf das hin, das sie begehen« (22).
Bei der näheren Beschreibung der »Leistungen und Ambivalenzen« von Ritualen (93–108) erhebt er weder einen systematischen Anspruch noch zielt er auf Vollständigkeit. Rituale wirken insgesamt »expressiv«, d. h. sie ermöglichen es dem Handelnden durch »festgelegte Vollzüge, geformte Anrufungen, stilisierten Zuspruch« etwas auszudrücken, was anders nicht ausgedrückt werden kann. Die These wird in neun Punkten näher entfaltet, wobei jeweils die Gefahr des Rituals mitbeschrieben wird: – Rituale sind (a) als Sprachgewähr zu verstehen, die von der Notwendigkeit entlastet, sich in jeder Situation neu definieren zu müssen. Auf diese Weise generiert und stabilisiert das Ritual die eigene Identität.350 Umgekehrt können sie »freiere Ausdruckmöglichkeiten beschränken, das Nach- und Weiterdenken hindern, statt Sprachgewähr Sprachverarmung bewirken«. Nicht nur dem »Glauben« bieten sie Unterschlupf, sondern auch dem »Unglauben«. – Rituale stellen (b) eine Verhaltenshilfe dar in Form von bereitliegenden Rollenmustern. Diese ermöglichen jedoch auch das Vortäuschen falscher Frömmigkeit. – Insofern Rituale (c) Traditionsvermittler sind und »im Gestrigen heimisch werden« lassen, sichern sie nicht zuletzt die Stabilität der Werte- und darstellenden Glauben« (187) hin. Den Gottesdienst bestimmt er zudem als »Feierform«, die »weitgehend unabhängig [ist] von den Situationen, die ihn umgeben« (185). 349 Vgl. Sally F. Moore/Barbara G. Myerhoff (Hg.): Secular Ritual, Assen/Amsterdam 1977, wo erstmal die Frage verhandelt wird, inwiefern ein religiöser oder transzendenter Bezug konstitutiv für Rituale ist. 350 Die Betonung der Entlastungsfunktion des Rituals (vgl. auch die Kriterien h) und i)) ist als Widerspruch zur These Yorick Spiegels zu lesen, dass gerade die symbolische Kommunikationsform die Zugänglichkeit des Gottesdienstes für die Mehrheit der mit den Symbolen nicht vertrauten Teilnehmer erschwere (s. o. 2.3.2).
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Glaubenstradierung. Die tiefreichende historische Verwurzelung birgt jedoch stets die Gefahr in sich, dass falsche Lehren sich einnisten und notwendige Reformen verhindert werden. Ästhetisch bemerkt Jetter im Ritual einen »gesunden Widerstand gegen das Modische«. Rituale werden die vorherigen Eigenschaften bündelnd beschrieben (d) als Bürgen für Ordnung und Sinn. Ordnung ist dabei nicht nur im Sinn eines äußerlichen Rahmens zu verstehen, sondern als existenzielle Orientierungshilfe. Die Ordnung bietet Schutz, verlangt aber vom Einzelnen auch Unterordnung und kann so zum Zwang werden. Umfassende Funktion kommt Ritualen zu als (e) Medien und Indikatoren des Gemeinschafts-, Geschichts- und Wertebewusstseins. Weil sie die Identität einer bestimmten Gruppe generieren wie auch bestätigen, bleiben sie bezogen auf ihren sozialen wie historischen Kontext.351 Identität wird nicht zuletzt generiert durch die Festlegung von Grenzen, die wiederum nicht nur ein Innen, sondern auch ein Außen definieren. Dadurch inkludieren Rituale gleichermaßen wie sie exkludierend wirken. Ausdruck findet diese Tatsache in Form von Initiations- und Kommunionsritualen. Rituale sind (f) Hilfen dafür, dass die Religion das Leben zu durchdringen vermag. Zugleich sind sie Formen der Darstellung dieser Durchdringung. Beide Aspekte sind nicht notwendig miteinander verbunden, wenngleich die Durchdringung auf Darstellung wie auch die Darstellung auf Durchdringung zielt, und doch unhinterbaute Fassade bleiben kann. In dieser Spannung steht unvermeidlich auch der christliche Glaube, der »eindeutig an der Durchdringung des Lebens orientiert und interessiert« ist, aber gerade die gegenwärtig noch ausstehende Gotteserfahrung »immerzu und immer wieder der Darstellung bedarf«. Während der Aspekt der Durchdringung die Unterschiede von Profanem und Sakralem auflöst bzw. ineinander überführt, kann die Darstellung das Heilige antizipierend vor Augen stellen. Der religiösen Grundspannung zwischen Durchdringung und Darstellung kann auch der Protestantismus nicht entkommen, auch er muss zwischen »befremdlichem Sonderdasein« (Darstellung ohne Durchdringung) und »allzufreundlichem Allerweltsdasein« (Durchdringung ohne Darstellung) die Balance finden. Erkennbares Merkmal von Ritualen ist (g) ihre Wiederholung. Diese bzw. die Wiederholbarkeit ermöglicht ihre Institutionalisierung, sie macht das Ritual »praktikabel, nachahmend erlernbar, unreflektiert nachvollziehbar«. Besonders betont Jetter sowohl die mit der Wiederholung verbundene nachhaltige und tiefgreifende Wirkung auf das Individuum, wie auch den Aspekt der Demokratisierung: die Wiederholung entfernt das Ritual aus
351 Gerade an diesem Punkt zeigt sich eine besondere Nähe zur Ritualtheorie mil Durkheims, die über das sozial-funktionale hinausgeht, einerseits im Hinblick auf Rituale als Medien der sozialen Wertekommunikation, andererseits bezüglich der Deutung der Magie als rein instrumentellem, mechanischem Ritualvollzug (s. u. S. &, Anm. 77).
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dem Bereich exklusiven Sonderwissens Einzelner und ermöglicht die Partizipation einer größeren Gruppe.352 Die Wiederholbarkeit setzt Jetter zufolge voraus, dass Rituale weder zu detailliert noch zu stark in ihrer konkreten Ausführung reglementiert sein sollten.353 Die Kehrseite der Wiederholung zeigt sich dort, wo sie der Abwehr von Neuem oder einem »infantilen Verlangen nach Sicherheit« dient. – Rituale übernehmen (h) eine Vertretungsfunktion, die unmittelbar mit dem expressiven Grundcharakter verbunden ist: das äußere Handeln vertritt die innere Empfindung, die gemeinsame Form vertritt das Individuelle und erlaubt zugleich ein Vorausgreifen, das »vertretungsweise [Eintreten] in ein anderes Leben«. Damit ist der Gedanke der Wechselseitigkeit zwischen Innen und Außen eingeführt, demzufolge das äußere Handeln Auswirkungen hat auf die innere Empfindung. Qua Verweisungsfunktion des Symbolischen ist das Ritual selbst eine Vertretung für das Objekt des Verweises. Problematische Aspekte offenbaren sich hier im Umfeld der kultischen »Vertretung«, durch die der Leiter des Rituals selbst symbolische Qualität erlangt.354 Die Aufgabe speziell für den Protestantismus sieht Jetter darin, sich dieser »Vertretung« trotz berechtigter theologischer Kritik zu stellen. – Schließlich schreibt Jetter Ritualen (i) die Funktion der existenziellen wie emotionalen Vergewisserung zu. Diese relativiert für Jetter unter anderem die Forderung nach »absoluter Verständlichkeit« des Gottesdienstes. Auch für die Katechese ergibt sich aus der Einsicht in die Priorität der Vergewisserung eine Verschiebung der Zielrichtung, weniger »Ausdeutung« als »mystagogische Einübung« zu sein. Bedenklich wird die Orientierung am Aspekt der Vergewisserung nur dann, wenn sich das Ritual inhaltlicher Kritik und einer daraus folgenden Modifikation seiner Form entzöge. Als Vergewisserung geht das Ritual in der Religion Lehre und Deutung voraus 352 Die positive Wertschätzung der Wiederholung war nicht zuletzt Folge eines gesteigerten Bedürfnisses Ende der 1970er Jahre nach Ordnung und Entlastung von gesellschaftlichen Erwartungen an das Individuum (s. o. 1.1.3). Vgl. die Äußerung bei Gerhard Ebeling: Dogmatik III, 319: »Deshalb stellt die gleichbleibende Gestalt von Taufe und Abendmahl nicht eine ermüdende Wiederholung und eine Verarmung dar. Im Gegenteil, ihr kommt eine gar nicht hoch genug zu schätzende Situationsüberlegenheit zu in Hinsicht auf den steten Wandel des jeweiligen Aktuellen und in bezug auf das Bedürfnis, mit ihm Schritt zu halten.« Zugleich findet sich bei Ebeling der immer wieder der Hinweis, dass das an sich situationslose Ritual die Predigt an ihrer Seite brauche, sonst gehe es »tatsächlich an der Zeit und ihren Nöten vorbei und wir zu einem belanglosen Fremdkörper« (ebd.). 353 Wo Jetter vom »Spielraum der Freiheit« spricht, den Rituale ermöglichen sollen, wirkt sich insbesondere der Einfluss von H. Cox’ stark rezipiertem Fest der Narren aus, das allein zwischen 1970 und 1972 vier Auflagen erfuhr (s. o. 1.3.2.3). 354 »Der evangelische Pfarrer kann sich nicht nachträglich wieder als Priester gerieren, obwohl er auch dessen Part teilweise weiterzuspielen hat. Er hat die ihm zugedachten problematischen religiösen Qualitäten in einem fröhlichen Wechsel gegen menschlichere eingetauscht. […] Nur: eine symbolische Figur ist der protestantische Pfarrer auch so noch geblieben« (149f.).
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und kann zugleich auch dort weiterwirken, wo die Grenzen von Belehrung und Verstehen erreicht sind.355 Die umfassende Darlegung der Ambivalenz rituellen Handelns stellt eine Besonderheit der Theorie Jetters dar. Er macht einerseits auf die Fehlformen und Degenerationen ritueller Handlungen aufmerksam, die das Ritual zum Zwang und den Akteur zum »Zwangsvollstrecker seines eigenen Spiels« (70) werden lassen. Zum anderen will er dazu beitragen, die Unumgänglichkeit ritueller Formen zu belegen und sie positiv als Schutz vor Moralisierung und Ideologisierung des Glaubens356 sowie der Pädagogisierung des Gottesdienstes ins Bewusstsein heben. Dabei setzt er sich auch mit zahlreichen Kritikpunkten an rituellen Vollzügen auseinander, wie sie in der protestantischen Theologie typischerweise vorgetragen werden (s. u. 4.2): leere Vollzüge ohne innere Beteiligung (»Durchdringung«), die von der Reformation einst überwundene Abgrenzung heiliger Orte oder das Vortäuschen falscher Frömmigkeit unter dem Deckmantel korrekt vollzogener Handlungen. Auch für das Ritual soll gelten: abusus non tollit usum. Wie Peter Cornehl bemerkt hat,357 ist Jetter nicht nur daran gelegen, die dialektisch-theologische Ablehnung des Rituals mit Verweis auf seine Ambivalenz zu relativieren. Er greift zugleich die Grundgedanken dieser Theologie auf und führt sie weiter, wenn er am Ende seines Werkes das Kreuz als »umfassende Konzentration« (132) aller christlichen Symbolisierung beschreibt (vgl. 286–295): Im Kreuz wurzeln alle kirchlichen Rituale und zugleich bildet das Kreuz das »Sachkriterium jeder hier statthaften metaphorischen Rede« (285), d. h. jeder symbolischen Kommunikation in ritueller Form.358 Die Möglichkeit einer kreuzestheologischen Fundierung ritueller Praxis soll die Etablierung der Ritualtheorie in der protestantischen Liturgik ermöglichen. Während Jetter die Funktionen ritueller Handlungen umfassend beschreibt, hält er die Handlungsmotivation der Akteure für unzugänglich: »Die Motive für eine regelmäßige oder abgestufte Gottesdienstteilnahme sind nicht schlüssig aufzuhellen« (213). Mögliche Gründe für den Kirchgang sieht er im 355 Die »erstrangige pädagogische und missionarische Potenz« der Liturgie liegt nach Jetter im Aspekt der Wiederholung (g), da »die Tiefenwirkung stets wiederholter Formen kaum überzubewerten« sei (Praktische Theologie, 326). 356 Bereits 1967 formulierte Jetter (aaO., 328): »Völlig kultloser Glaube fällt rasch der bloßen Moral anheim oder wird zur Ideologie.« 357 Cornehl: Rez. Jetter, 394. 358 Das protestantische Profil zeigt sich auch in einer Vielzahl von Stellen, in denen Jetter zum einen die Tradition prophetischer Kultkritik als grundlegende und bleibende Anfrage an den (rituell) »gefeierten Glauben« betont. Auch die Hinweise auf die Vorrangstellung des »gelebten Glaubens« sind von einem protestantischen Impuls geprägt (vgl. bes. die Ausführungen zu »Gottesdienst und Frömmigkeit«, Kap. 7.4). Die Rede vom Kreuz als »Kriterium für alle Symbole« findet sich bereits bei Paul Tillich: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (GW, Bd. 5), Stuttgart 1978, 222.
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Einklang mit den Umfrageergebnissen in familiären Gewohnheiten, Erziehung, herausragenden Erlebnissen, persönlichen Bindungen, guter Gewohnheit aber auch in heimatlichen Empfindungen. Eine Verallgemeinerung sei jedoch kaum möglich, handelt es sich beim Gottesdienst doch um einen »Treffpunkt ganz unterschiedlicher, teilweise auch ganz widerspruchsvoller Erwartungen« (ebd.). Das Ziel rituellen Handelns wird in der Einheit von »Darstellung und Durchdringung« bestimmt. Dies entspricht der Vorstellung einer völligen Übereinstimmung von äußerem Handeln, innerem Empfinden und Verstehen, die Jetter anhand des Spannungsverhältnisses zwischen innerem »Glauben« und gelebter »Frömmigkeit« verhandelt (282 f.) und die bereits in der Auseinandersetzung mit dem »jugendlichen Ritualismus« beobachtet werden konnte (2.4.2.1.2). Für die Frage nach dem Verhältnis von Ritual und Deutung wird dies noch zu bedenken sein.359 Jetters Liste von Eigenschaften ritueller Handlungen ist vor allem in zwei Punkten zu hinterfragen. Zum einen sind die Aspekte ritueller Handlungen auf gänzlich unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Die »Mischung aus formalen, funktionalen und inhaltlichen Bestimmungen« verspiele, so Thomas Klie, »mögliche Differenzierungsgewinne im Blick auf den Eigensinn der protestantischen Gottesfeier« und reduziere das Besondere der Liturgie als Ritual »auf das Level kulturanthropologischer Universalien«360. Der Vorwurf der mangelnden Spezifik der von Jetter benannten Kriterien war bereits im Rahmen der Untersuchung funktionaler Ritualtheorien aufgetaucht, die nur unbefriedigend zu zeigen vermochten, worin sich Ritual und Religion funktional unterscheiden.361 Auch bei Jetter ist zu fragen, ob Religion nicht auch andere Mittel als Rituale zur Verfügung stellt, um ihre Traditionsbindung und Wertetradierung zu sichern, und vor allem, worin das Spezifikum von Ritualen als Handlungen liegt, wenn der Religion insgesamt eine vergewissernde, orientierende und ordnungsstiftende Funktion zukommt. Ein zweiter Kritikpunkt richtet sich an Jetters Ausrichtung auf die stabilisierende Funktion von Ritualen.362 Gerade diese Eigenschaft wurde freilich besonders stark rezipiert und gehört noch immer in der Liturgik363 wie in der Gesellschaft zu den selbstverständlichen Annahmen. Jetter schreibt Ritualen die Fähigkeit zu, die Kirche zu bewahren, nicht aber sie zu erneuern (vgl. 134). 359 360 361 362 363
S. u. 9. Klie: Fremde Heimat Liturgie, 188f. S. o. 2.3.2. Vgl. Odenthal: Liturgie als Ritual, 35. Vgl. etwa Christian Grethlein: Abriß der Liturgik. Ein Studienbuch zur Gottesdienstgestaltung, Gütersloh 1989, 26: Beim Glauben handele es sich »um ein Daseins- und Wertorientierungssystem, ein bestimmtes Wissen, das freilich den kognitiven Bereich übersteigt. Solches Wissen bedarf, vor allem in einer Zeit, in der es in zumindest teilweiser Differenz zum Alltagswissen steht, einer Stabilisierung. Dazu eignen sich besonders Riten in vorzüglicher Weise, weil sie den Menschen ganzheitliche Kommunikation ermöglichen« (H. RG).
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Dass Rituale bei Jetter hinsichtlich ihrer kalkulierbaren Wirkung einseitig als fixiert erscheinen, verwundert jedoch. Seine ausführliche Darstellung der Ambivalenzen wie auch die Bemerkungen zur Vielfalt möglicher Motivationen für den Ritualvollzug boten durchaus Anknüpfungspunkte, um zu einer anderen Schlussfolgerung zu gelangen: Ob ein Ritual zu »Ritualismus« oder Zwang verkommt oder ob es tatsächlich gelingt, Gemeinschaft und Orientierung zu stiften, hängt weniger an objektiven und planbaren Kriterien oder schlichtweg »dem Ritual«, sondern ist ganz wesentlich vom situativen Kontext und vor allem von der Rezeption der Akteure abhängig. 2.5.2.3 Symbol und Ritual? Zur Problematik begrifflicher Überschneidungen Wie bereits erwähnt, fügt Jetter seine Bestimmung des Rituals in den Kontext einer Symboltheorie ein, die auch den Gottesdienst insgesamt als Form symbolischer Kommunikation versteht. Jetters hier wiederholte These, »Rituale sind und wirken symbolisch«, gibt eine in der Liturgiewissenschaft – aber auch der Ritualtheorie364 – etablierte Ansicht wieder, der zufolge es sich bei Ritualen um eine Unterkategorie möglicher Felder symbolischer Kommunikation handelt. ›Symbole‹ wie ›Rituale‹ bezeichnet Jetter als »Elementarphänomene« (6). Ihre Handlungsformen »Symbolisieren« und »Ritualisieren« stellen spezifisch menschliche Fähigkeiten dar und sind zugleich Ausdruck menschlicher Grundbedürfnisse.365 Während »Symbolisierung« innerhalb der Theologie durchweg positiv besetzt war, haftete dem Begriff der »Ritualisierung« lange der Verdacht an, lediglich die stereotypisierte Verfallsform einer ursprünglich lebendigen Handlung zu sein. Entgegen einer solchen Unterscheidung versteht Jetter beide Tätigkeiten als »grundlegende und umfassende, ineinandergreifende Elemente menschlichen Weltverhaltens« (200). Als solche werden sie von Jetter außerhalb des Ritualkapitels vielfach synonym bzw. als feststehende Kombination verwendet. Überschneidungen zwischen beiden Begriffen zeigen sich zunächst auf formaler Ebene. Symbole wie Rituale stellen Formen »ganzheitlicher Kommunikation« (76) dar, die die Möglichkeiten der Sprache übersteigen und den gesamten Körper einbeziehen. Beide adressieren nicht zuerst den Verstand, sondern lösen emotionale Prozesse wie etwa das »Gefühl der Zugehörigkeit« (112) aus.366 Die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung ist nicht auf Interpretation 364 Vgl. etwa Mary Douglas: Natural Symbols. Explorations in Cosmology, London/New York 2003 [1970], 2: »Anthropologists need to communicate with sociologists as well as with zoologists. They are in the habit of using ritual to mean action and beliefs in the symbolic order«. 365 Erich Feifel: Symbolerziehung durch Ritualisierung, in: LS 29 (1978), 309–315, 309 greift dieses Konzept auf und spricht vom »Ritualisierung« als dem »für Symbolerziehung grundlegenden Vorgang«. 366 Auch dieser Gedanke findet sich häufig, vgl. z. B. Ingrid Jorissen/Hans B. Meyer: Zeichen
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angewiesen (vgl. 157). Stärker noch zeigt sich die annähernde Deckungsgleichheit von Symbol und Ritual auf funktionaler Ebene: Symbole wie Rituale werden von Jetter als »Verhaltenshilfen« (95) bzw. »Verhaltensregulatoren« (37) sowie als »Verstehenshilfen« (vgl. 131) beschrieben; beide stiften Identität und bewirken Integration (76/98), auch weil sie Sprach- und Bildungsgrenzen zu transzendieren vermögen (50/98). Sodann ist für beide eine Deutungsoffenheit konstitutiv: Jetter nennt solche Vorstellungen »symbolisch«, »in die jeder sich selbst einbringen kann, in denen er sich selbst unterbringen muß, um auf seine Weise in ihnen zu leben« (282) und die »für verschiedene Weisen der Anerkenntnis und Aneignung, für kognitive wie für affektive Zugänge, für ganz verschiedene Verständnismöglichkeiten der Angesprochenen und Miterlebenden« (74) empfänglich sind. Auch das Ritual »will verstanden werden« (94). Seine Offenheit spiegelt sich in der Wiederholung, die jeweils eine Form der Interpretation ist (vgl. 120). Nicht zuletzt kennzeichnen beide Begriffe eine funktionale Ambivalenz, auch Symbole sind gleichermaßen »zweischneidig wie unvermeidlich« (75). Beide ziehen Grenzen, die ein- aber auch ausschließen; sie integrieren, können aber zugleich die »Gleichschaltung« von Gefühlen und Verhaltensweisen bewirken (73). Sie setzen Einübung voraus und beschränken ihr Verständnis nicht selten auf eine »eingeweihte Gruppe« (49). In ihrer Deutungsoffenheit schließlich sind sie anfällig für Beliebigkeit und Willkür. Im Christentum schützt davor vor allem der historische Bezug auf Jesus von Nazareth bzw. die ursprüngliche Handlung. Schließlich stehen Symbol wie Ritual in der Gefahr, aufgrund kultureller Wandlungen bedeutungslos zu werden, »Einbußen in ihrem symbolischen ›Mehrwert‹, in ihrer unmittelbaren Verweisungskraft [zu] erleiden« (201): »Ein erschöpftes Ritual wird zur Mumie, die kein Volk mehr, sondern nur noch Besucher besitzt« (104 f.). Diese Vielzahl der Überschneidungen bei der Beschreibung der Phänomene Symbol und Ritual lassen die – letztlich alle symbolischen Ritualtheorien betreffende – Frage umso dringlicher werden, worin sich beide unterscheiden und worin das Spezifikum ritueller Handlungen liegt. Eine Beantwortung innerhalb der Theorie Jetter ist kaum möglich, nicht zuletzt deshalb, weil beide Phänomene die Unklarheit über ihren genauen Gegenstandsbereich teilen (vgl. 24 f.). Auch traditionell mit Ritualen assoziierte Verhaltensweise werden von Jetter als Symbole bezeichnet: »alle natürlichen, künstlichen oder gedanklichen, gegenständlichen, persönlichen oder fantastischen Gestaltungen, […] Bilder, Worte, Tonfolgen oder Verhaltensweisen, die sich dem Betrachter in ihrem Verweisungszusammenhang zeigen und darin als Bedeutungsträger erscheinen« (66).
und Symbole im Gottesdienst. Sichtbare Zeichen unsichtbarer Wirklichkeiten, Innsbruck 1977, 13: Das Symbol wendet »sich nicht vor allem an unseren Verstand, vielmehr wird seine Botschaft intuitiv, auf dem Weg über unser Empfinden, unser Gefühl erfaßt.«
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Jetters Werk, das lange als liturgisches Standardwerk zur Ritualtheorie galt, ist in seinem weit überwiegenden Umfang eine Theorie symbolischer Kommunikation. Insofern diese in einem expliziten Handlungskontext wie dem der Liturgie steht, ist von ›Ritualen‹ die Rede. Gleichwohl tauchen die Begriffe zumeist in Kombination auf. Die nahezu vollständige Überschneidung mit dem Symbolbegriff in formaler wie funktionaler Hinsicht beschränkt daher den Wert als eigenständige Ritualtheorie, insbesondere da Jetter einen allgemeinen Ritualbegriff bereits vorauszusetzen scheint. Thomas Klies Kritik, Jetter habe Rituale auf »kulturanthropologische Universalien« reduziert, müsste daher stärker noch seinen Symbolbegriff treffen. Dagegen spricht jedoch Jetters eigene Intention, gerade diesen universalen Aspekt so weit wie möglich auszuführen, bevor durch die christologische und speziell kreuzestheologische Rückbindung ein theologischer Begriff dieser Universalie gewonnen wird. Für die Liturgik ist jedoch weniger entscheidend, unter welchem Begriff der Gottesdienst untersucht wird, sondern ob die jeweilige Theorie das Phänomen besser zu beschreiben und zu verstehen hilft. Kritik an Jetters symbolischer Ritualtheorie ließe sich dennoch benennen, insbesondere im Blick auf den damit verbundenen Verweisungscharakter. Einerseits hält Jetter an der Selbstbezogenheit von Ritualen fest, die keine bloßen Mittel zur Verwirklichung eines äußeren Ziels darstellen, sondern um ihrer selbst willen bedeutsam sind. Andererseits sind Symbole wie Rituale für ihn religiös relevant aufgrund ihres Verweisungscharakters. Doch worauf verweisen das Vaterunser oder das Abendmahl? Mag das Kreuz als Symbol für das Kreuzesgeschehen, für Hoffnung in Leid und Verachtung oder die Verbindung Gottes mit den Menschen stehen, das Abendmahl aber ist Gemeinschaft, ist Verwirklichung des Reiches Gottes und nicht nur Verweis darauf. Mit dem Verweisungscharakter verbunden ist zudem die Annahme, dasjenige, worauf verwiesen wird, die Tiefenstruktur, sei eigentlich relevant, während der rituellen »Oberfläche« nur eine dienende Funktion zukommt. Und schließlich ließe sich fragen, wann Rituale ihren Verweisungscharakter nicht mehr erfüllen und auf welche Weise Deutungsgrenzen festzulegen wären, wenn doch gerade die Deutungsoffenheit eines ihrer konstitutiven Merkmale darstellt. Die zur Beantwortung dieser Frage nötige Fokussierung auf Symbole und Rituale als Rezeptionskategorien bleibt bei Jetter weitgehen unausgeführt. 2.5.3 Das Ritual und seine Deutung Bereits in Jetters kasualtheoretischem Aufsatz von 1976 war die enge Verbindung von Ritus und Deutung aufgefallen (2.3.4). Zum einen sah Jetter beide als gleichberechtigte Medien an, die Zuwendung Gottes zum Ausdruck zu bringen und gleichermaßen eine Verkündigungsfunktion zu erfüllen. Zum anderen standen Predigt und Ritual für ihn in einem wechselseitigen Interpretationsverhältnis, insbesondere dann, wenn die Kasualpredigt unmittelbar
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auf den Ritus bezogen wird. Für den Gottesdienst begründet sich die Nähe von Ritual und »freiem Wortteil« unmittelbar mit dem symbolischen Charakter und der damit verbundenen Expressivität: »Jedes Ritual wirkt expressiv und wird deshalb mindestens implizit immer vom Wunsch nach wörtlicher Deutung begleitet. Es will verstanden werden, auch wenn es durch keine verbale Erklärung ersetzt werden kann« (94). Anders als bei der Kasualie ist es kein konkreter Anlass, sondern »der Glaube selbst« (272), der sich im Gottesdienst mittels ritueller Gestaltung thematisiert. Der Wunsch nach »wörtlicher« Deutung dieser Gestaltung entsteht insbesondere aufgrund der eigentümlichen Spannung zwischen formaler Fixierung und offener Deutung. Die Interpretation des Rituals erfolgt jedoch »nicht im deutenden, sondern im handelnden Nach- oder Mitvollzug« (120), in »mithandelnder Teilnahme (121) und somit als »Interaktion« – einem wiederum deutungsoffenen Geschehen. Darin kann es nie um ein vollständiges Ausdeuten gehen, sondern darum, den Zugang zu den rituellen Formen selbst zu vertiefen. In diesem Zusammenhang wehrt sich Jetter gegen ein »Übermaß an [sc. wörtlicher] Ausdeutung« als dem »Tod der Symbolik« (161). Ziel muss es vielmehr sein, die Vielzahl der möglichen Deutungen, die wesentlich die Kraft des Rituals ausmachen, zu bewahren. Mit der Vielzahl der Deutungen korreliert die Möglichkeit unterschiedlicher Art und Intensität von Partizipation.367 Die Wiederholung der Handlung ist Ausdruck der prinzipiellen »Unabschließbarkeit« der Deutungen, deren Grund für Jetter in jenem »Überschuss an Bedeutung« (104) liegt, der präsentativer Symbolik eigen ist. Die liturgische Darstellung, d. h. die Ausführung des Rituals durch die liturgischen Akteure, ist somit »nie bloß Nachvollzug, sondern immer auch Deutung« (162). Angesichts dieser zentralen Rolle des Handlungsvollzugs stellt sich für den Protestantismus dann geradezu reflexartig die Frage, »wieviel kognitive Substanz« (120) zum Ritual gehören muss. Entscheidend für die Gestaltung der Liturgie unter ritualtheoretischem Gesichtspunkt ist daher, »wie dann die rituelle Praxis der Christenheit beschaffen sein muß, um ihren rechten Gebrauch zu ermöglichen und zu bewahren« (ebd.). Die Antwort darauf liegt weder auf der Ebene dogmatischer Beurteilung oder inhaltlicher Ausrichtung noch im Verweis auf die Agende, sondern im tatsächlichen Vollzug. Der »rechte Gebrauch« ist also einerseits liturgische Partizipation und Interaktion, insofern sie selbst Aneignung und Deutung des Rituals durch die Akteure ist, andererseits jene Handlungsform, die eine Verbindung zu kognitiven Inhalten und Interpretationen herzustellen vermag, also nicht »leer« bleibt. Jetters Rede vom Wunsch nach »wörtlichen Deutungen«, der im Ritual enthalten ist, provoziert die Frage nach dem klassisch als Gegenüber konzi367 »[M]an kann ja in verschiedener Intensität an ihnen [sc. den Ritualen, RG] teilnehmen, sie ganz unterschiedlich verstehen, ja sie sogar im Widerspruch zum common sense deuten« (Symbol und Ritual, 100).
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pierten Verhältnis von Liturgie und Predigt: »[i]st die Predigt im protestantischen Gottesdienst nur die Alternative zum Ritual und nicht auch selber ein solches?« (135). Obgleich die Predigt als diskursiver Kommunikationsprozess angelegt ist, zeigt sich hier wie bei jeder gottesdienstlichen Kommunikation, dass zum einen eine Zuordnung von verbalen und diskursiven sowie von nonverbalen und präsentativen Formen nur schwer möglich ist. Zum anderen kann sich die Predigt einer Ritualisierung nicht entziehen. Sie wird »ein Stück einer festen symbolischen Ordnung, eines Gesamtrituals« (184). Die Predigt muss geradezu den Verweisungscharakter des Symbols aufweisen, will sie nicht zu einer »Rede über die Sache statt Rede aus der Sache« (160) werden. Ihre symbolische Qualität verdankt sie wiederum einer symbolischen Textgestalt, dem Predigttext. Auch dieser Text wird stetig wiederholt gelesen, neu übersetzt, erklärt und gedeutet. Die bisherige Rekonstruktion ermöglicht auch eine Bewertung der von Alexander Deeg vorgetragenen Kritik an der Theorie Jetters. Deeg sieht bei Jetter »eine grundlegende Rechtfertigung des evangelischen Gottesdienstes mit seinem Ankergewicht auf der Predigt«, insofern er »die Notwendigkeit« sehe, »im Kontext des Rituals dessen Deutung mit zu verankern«.368 Wie gesehen, ergibt sich für Jetter diese »Notwendigkeit« der Deutung – für Jetter keineswegs »natürlich: die Predigt«369 – aber nicht aus einem Verlangen der »Bemächtigung des verstehenden Menschen« (Deeg), sondern aus dem symbolischen, verweisenden Charakter des Rituals selbst. Dieser ließe sich auch am Beispiel biblischer Texte nachweisen, die innerhalb der Liturgie verwendet werden. Zudem verpasst Deegs Kritik auch jene Elemente der Theorie Jetters, die seine Argumentation für einen »WortKult« stützen.370 Denn zum einen betont Jetter die Selbstinterpretationsfähigkeit von Ritualen (vgl. 157), die es erlauben, dass »im Einzelnen dies und das unverstanden bleiben« (158) kann. Zugleich zeigt sich das Funktionieren gewachsener Rituale für Jetter darin, dass sie zumeist »im Kreis derer, für die sie bestimmt sind, ohne Erklärung« (110) auskommen. Zunehmender Rubrizismus muss hingegen als Anzeichen des Schwindens der Kraft dieser Rituale gewertet werden. Zum anderen fasst Jetter unter dem Begriff der ›Deutung‹ im Fall des Rituals ein Handeln und sieht dort, wo diese Deutung die Form der Predigt annimmt, diese selbst wiederum dem Prozess der Ritualisierung unterworfen. Schließlich hinterfragt Jetter selbst das »protestantische liturgische Axiom – kein Gottesdienst ohne Predigt« (275), eben weil unter der Voraussetzung 368 Deeg: Das äußere Wort, 212 f. 369 AaO., 212. Deeg zitiert in diesem Zusammenhang Jetters Bezeichnung der Predigt als »rituell gewährleistete Überbietung des Rituals« (Symbol und Ritual, 160). Damit ist jedoch keine Relativierung des Rituals beschrieben, wie sie bei Alfred Mauder begegnete (s. o. 2.4.2.2.2). Vielmehr referiert Jetter diese Aussage als Zusammenfassung des reformatorischen Vorhabens, das ihm zufolge ebenfalls »seine Gefährdungen […] in sich trug« (ebd). 370 Deeg: Das äußere Wort, 175.
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einer engen Verbindung von Ritual und Deutung die Predigt nicht die einzige Option ist, die dem Gesamtritual Gottesdienst zur Verfügung steht.
2.5.4 Liturgie und Ritual in »Großkirche« und »Gruppengemeinschaft« 2.5.4.1 Liturgische Praxis als kirchensoziologische Kategorie Jetters Unterscheidung von »großkirchlicher« und »gruppengemeinschaftlicher« Gottesdienstpraxis (225–243), hat Peter Cornehl als »Schlüssel für eine strukturelle Analyse« der liturgischen Lage bezeichnet. Um diesen Bezug zur »liturgischen Lage«, nicht zuletzt wie sie in 1.3 skizziert wurde, herzustellen, soll zunächst das Profil der beiden Konzepte gegenübergestellt werden, die Jetter auch in anderen Publikationen wiederholt vorgetragen hat.371 Anschließend soll sowohl der theoretische Hintergrund erhellt werden als auch nach den Zielen der Unterscheidung gefragt werden, was wiederum Anlass bietet für kritische Rückfragen. Wie bereits anhand von Jetters Erörterungen über den ambivalenten Charakter von Ritualen dargestellt, entfaltet er seine Gottesdiensttheorie immer wieder anhand aufeinander bezogener Gegensatzpaare. Die beiden Gottesdienstmodelle sind begründet durch unterschiedliche theologische Impulse und Zielsetzungen, die sich in jeweils unterschiedlichen soziologischen Profilen niederschlagen. Aus diesem Grund spricht Jetter auch von zweierlei »Kirchenkonzepten«, die hier ihren Ausdruck finden. Während die großkirchliche Form unter dem eucharistischen Leitbild des »für euch, für viele, für alle« steht, ist die gruppengemeinschaftliche Praxis auf den missionarischen Aspekt des Evangeliums bezogen, der sich im Leitvers der Berufungsgeschichten bündelt: »Du aber folge mir nach«.372 Die biblische Begründung macht deutlich, dass es sich nicht um Alternativen handelt, sondern um ein »spannungsvolles Nebeneinander« (237), das nicht einseitig aufzulösen ist. Gerade in seiner Kombination charakterisiert es die Kirche als Ganze, die sich für Jetter in einem stetigen Übergangsprozess zwischen beiden Typen befindet. Die mit den Konzepten verbundenen liturgischen Leitvorstellungen sollen weder feste Gottesdiensttypen markieren noch mit »zwingenden liturgischen Grundmodelle[n]« (235) einhergehen. Auch entscheidet sich der jeweilige Typus nicht an der Teilnehmerzahl. Deutliche Tendenzen lassen sich dennoch ausmachen: Das Großkirchliche neigt eher zu festeren, komplexeren und stärker rituell geprägten Formen wie der Messe. Dem Gruppengemein371 Zuerst in Jetter: Bemerkungen, 200f. 372 Vgl. Ders.: Unser Gottesdienst – Ende oder Wiederentdeckung?, in: Liturgische Blätter 28/29 (1980), 5–29, 26f.
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schaftlichen hingegen entspricht eher der »schlichtere Predigt- oder Gebetsgottesdienst« (ebd.). Die großkirchliche Praxis steht ganz unter dem Anspruch von Offenheit und Weite. Indem ihre liturgische Ordnung einen verlässlichen Rahmen bietet, wird einerseits ein klarer Erwartungshorizont bestimmt, andererseits wird Raum geschaffen für eine große Diversität an Glaubenshaltungen und Handlungsdeutungen. Die Teilnehmer treten nur begrenzt miteinander in Interaktion, da es stets möglich sein soll, anonym zu bleiben. Die großkirchliche Praxis ist von einem institutionellen Charakter geprägt. Sie dient der Repräsentation gemeinsamer Werte ebenso wie der intergenerationellen Tradierung von Glaubensinhalten und Werten. Dazu bedient sie sich »großer«, allgemein verständlicher Symbole und Formen. Sie strebt zudem allgemeine Verständlichkeit an, um die Zugangsschwelle möglichst niedrig zu halten. Damit steht sie Jetter zufolge für die »verheißungsvolle Universalität« (240) der christlichen Botschaft, die unterschiedliche Bindungsformen umfasst – ein zentrales Thema der KMU –, aber auch eine Stärkung der ökumenischen Verbundenheit bedeutet (vgl. 229). Bedenklich ist dabei die Tendenz, Kritik auszublenden und Kirche nur noch in ihrer Organisationsgestalt zu präsentieren. Gänzlich gegenläufig dazu verhält sich die gruppengemeinschaftliche Praxis, die auf eine Glaubensgemeinschaft mit persönlichen Bindungen abzielt und der Offenheit der großkirchlichen Praxis die Intimität der Gruppe gegenüberstellt. Dafür ist weniger der liturgische Rahmen wichtig, als die tatsächliche Erfahrung einer realen Zusammengehörigkeit. Die liturgische Gestaltung ist in hohem Maße geprägt vom unmittelbaren Kontext und individuell gesetzten Schwerpunkten. Auf das Anliegen der Werterepräsentation nach innen wie nach außen kann dabei weitgehend verzichtet werden. Die soziale Nähe ermöglicht nicht nur intensiven Austausch und Kritik, sondern stellt auch eine Offenheit für Experimente bereit. Die Kehrseite einer starken Konformität unter den Akteuren sind die Gefahren von Uniformität und Abhängigkeit, von der Gruppe wie auch speziell von den Leitenden. 2.5.4.2 Restringierter und elaborierter Code Um den theoretischen Hintergrund der Unterscheidung von gruppengemeinschaftlicher- und großkirchlicher Praxis zu verstehen, muss zum einen noch einmal auf die beiden Symbolformen Langers zurückgegriffen werden. Großkirchlich geprägte Kommunikation besitzt eine stärkere Neigung zu präsentativen, symbolisch geprägten Formen, während in der Gruppengemeinschaft dem diskursiven Austausch ein höherer Stellenwert zukommt. Zum anderen ist die Unterscheidung von »elaboriertem« und »restringier-
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tem« Sprachcode heranzuziehen, wie sie Basil Bernstein eingeführt hatte.373 Bernstein hatte im Rahmen seiner Forschungen zur Kommunikation im Kontext der Erziehung eindeutig dem elaborierten Code den Vorzug gegeben, da er Urteilsfähigkeit befördert. Um zu verstehen, wie es nicht nur bei Jetter zu einer positiven Neudeutung des restringierten Codes innerhalb der Ritualtheorie kam, bedarf es eines Exkurses zu Mary Douglas’ Werk Natural Symbols von 1970. Darin verwendet Douglas Bernsteins Modell um zum einen das Wesen rituellen Handelns als Form symbolischer Kommunikation zu bestimmen – wobei dem Körper als natürlichem Symbol eine wesentliche Bedeutung zukommt –, zum anderen um die antirituellen und intellektualisierenden Tendenzen des II. Vaticanums zu kritisieren.374 Douglas weist die Vorstellung zurück, der elaborierte Code könne als allgemeines Ziel der Kommunikationsentwicklung gelten, sodass symbolische und rituelle Kommunikation mehr und mehr obsolet würden. Denn einerseits existierten auch vormoderne Kulturen wie die afrikanischen Mbuti Pygmäen, die eine nur schwach entwickelte Ritualkultur aufwiesen und sich verstärkt des elaborierten Codes bedienten. Umgekehrt ließen sich auch moderne Kulturen der Gegenwart finden, die sich durch eine besondere Hochschätzung der Ritualkultur (»ritualism«/»Ritualismus«) und damit des restringierten Codes auszeichneten.375 Folglich sei Ritualismus nicht nur unter primitiven Völkern der Vergangenheit zu finden wie Anti-Ritualismus keineswegs nur als Phänomen der Moderne zu gelten habe. Andererseits zeigt sich für Douglas die Ambivalenz beider Codes. Welcher Code zu wählen ist, könne nur im Blick auf die kommunikativen Bedürfnisse einer Situation entschieden werden. Der elaborierte Code helfe freilich wenig in Notsituationen, die schnelles Verstehen 373 Bernstein erarbeitete die Unterscheidung ausgehend von der Untersuchung kommunikativer Formen elterlicher und schulischer Erziehung. Damit grenzte er einen stärker kontextbezogenen, von Imperativen geprägten, positionalen Sprachstil auf der einen Seite von einem argumentativen, emotionalisierten und personalisierten Stil auf der anderen Seite ab. Eltern, die sich vorwiegend eines restringierten Codes bedienen, belehren ihre Kinder mit Sätzen wie »So spricht man nicht mit seinem Vater.«. Im elaborierten Code hingegen werden den Anweisungen Begründungen zugeordnet: »Papa wird sich freuen/ärgern/enttäuscht sein, wenn du weiterhin dieses oder jenes tust« (vgl. Basil Bernstein: Social Class and Psycho-therapy, in: British Journal of Sociology 15 [1964], 54–64, 59f.). Zur Rezeption bei Herms s. o. 2.4.2.2.2. 374 Vgl. Richard Fardon: Mary Douglas. An Intellectual Biography, London/New York 1999, 102–124. 375 Douglas verweist bei Letzteren auf die sogenannten »Bog Irish«, eine Gruppe katholischer Iren, die ihren Lebensunterhalt mit Torfstechen bestritt [bog = Torf/Moor] und mit denen Douglas durch ihre familiäre Herkunft verbunden war. Diese pflegten eine besondere Hochschätzung der Freitagsabstinenz, der infolge des II. Vaticanums in mehreren Ländern ihr verpflichtender Charakter genommen wurde. Douglas deutet dies als Zeichen der Geringschätzung äußerlicher, körperlicher und insgesamt symbolischer Formen des Glaubens. Im Rückblick erscheint Douglas’ Intervention als erfolgreich: 2011 wurde die Freitagsabstinenz in England und Wales wieder eingeführt (vgl. Catholic Bishops’ Conference. England and Wales: Catholic Witness – Friday Penance. Question and Answer [2011], http://www.catholic-ew.org.uk/content/down load/22658/144819/file/friday-penance.pdf [29. 03. 2019]).
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und Handeln erfordern. Während der restringierte oder kondensierte Code376 voraussetzungsreicher, aber zugleich knapper gefasst sei, bedürfe der elaborierte Code ausführlicherer Formen, sei aber aufgrund seiner Kontextunabhängigkeit besonders für die Kommunikation zwischen Personen geeignet, die nicht unmittelbar derselben Gruppe angehörten. Die einseitige Konzentration auf den elaborierten Code in westlichen Gesellschaften bleibt Douglas zufolge nicht ohne Auswirkungen. Mit dem Zurückdrängen der Symbole schwinde der in ihnen zum Ausdruck gebrachte und durch sie generierte soziale Zusammenhalt. Ferner bliebe dem modernen Menschen auch die damit verbundene Erfahrungsebene verwehrt, nämlich die Ästhetik des restringierten Codes.377 Und schließlich bedeute die Abwertung des restringierten Codes eine soziale Barriere für Menschen mit niedrigerem Bildungsstand, die sich weit weniger an Formalismus und regelorientiertem Handeln stören, sondern vielmehr gewohnt sind, sich in einem solchen System zu orientieren. Zwar ist damit auf die intellektuellen Voraussetzungen des elaborierten Codes ebenso hingewiesen wie auf die Spannung zum inklusivistischen Grundcharakter des Handelns Jesu Christi, das sich in der Liturgie widerspiegeln soll. Zugleich zeigt sich erneut eine anti-intellektuelle Tendenz, die das Werben für eine lebendige Ritualkultur begleitet. Angesichts der engen Verbindung von Ritual und dessen Deutung bei Jetter ist die Übernahme der Kategorisierung Bernsteins in Symbol und Ritual nicht spannungsfrei.378 Der Unterscheidung von restringiertem und elaboriertem Code ordnet Jetter nicht nur großkirchliche und gruppengemeinschaftliche Gottesdienstpraxis zu, er verbindet sie zudem mit den Polen von Feiern und Lehren als liturgischen Grundmodellen, die von Beginn des Christentums an nebeneinander existierten (vgl. 273). Die Predigt stellt als Lehre, die im gruppengemeinschaftlichen Kontext eine zentrale Rolle spielt, »der Idee nach fast in Reinkultur eine Kommunikationsbemühung im elaborierten Code« (183) dar. Doch »[a]uch Rituale können und sollen lehren« (258). Dies gilt umso mehr dann, wenn rituelle, geprägte Formulierungen in »ungewohnten Varianten« (183) in der Liturgie auftauchen und dadurch eine elaborierte, stärker auf die 376 Robert N. Bellah: Durkheim and Ritual, in: Jeffrey C. Alexander/Philip Smith (Hg.): The Cambridge Companion to Durkheim, Cambridge/New York 2005, 183–210, 195 verwendet durchgängig die Bezeichnung »condensed code«. Douglas selbst umschreibt den »restricted code« als »form […] which shortens the process of communication by condensing units into pre-arranged coded forms« (Natural Symbols, 57, H. RG). Alternativ ist dort auch vom »ritualistic code« die Rede. Vom »kondensierten Code« zu sprechen liegt auch inhaltlich nahe, da es – zumindest für Douglas – weniger um eine von außen auferlegte Begrenzung geht, sondern vielmehr um die eigentümliche Kompaktheit ritueller Symbole. 377 Vgl. aaO., 35. 378 Zwar erwähnt Jetter die Arbeit von Douglas (Symbol und Ritual, 22), nimmt jedoch keinen direkten Bezug auf ihren Ansatz. Bernsteins Begriffe erwähnt er nur in Zusammenhang mit Fragen der kulturgeschichtlichen Entwicklung (Ders.: Der Kasus und das Ritual, 212): Der Mensch »benützte [sic] den restringierten Codes des Rituals, ehe er sich den elaborierten Code sprachlicher Verständigung erarbeitete.«
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inhaltliche Ebene ausgerichtete Kommunikation befördern.379 Der restringierte Code hingegen setzt als »Gruppensprache« eine Gemeinschaft voraus und eignet sich insbesondere für liturgische Formen mit ausgeprägtem Feiercharakter, der durch die Integration des Abendmahls verstärkt wird. Rituale sind somit »Hilfen zum Feiern« (272). Beide Modelle und somit beide Codes sollten im christlichen Gottesdienst stets verbunden sein, damit die »Grenzziehung […] zugleich Grenzöffnung« (188) ist, damit »Kontinuität und Konkretheit« zusammentreffen. Bezieht man die Kombination von feierlichem Charakter und restringiertem Code auf den agendarischen Gottesdienst, die lehrorientierte, elaborierte Form hingegen auf die freieren Gottesdienste des »zweites Programms«, ergeben sich interessante und zugleich spannungsvolle Einsichten: Obwohl der großkirchliche Gottesdienst sich eher an ein öffentliche Versammlung wendet, als an eine intime Gruppe, arbeitet er stark mit restringiertem Code und präsentativer Symbolik, die auf Erklärungen und Diskurse weitgehend verzichtet. Er bedient sich also Kommunikationsformen, die eine Gruppengemeinschaft voraussetzen bzw. generieren. Die gruppengemeinschaftliche Praxis hingegen verwendet vorrangig den elaborierten Code, der in Diskussionen oder der Predigt zum Tragen kommt. Sie wird damit der Einsicht gerecht, dass die Gottesdienstteilnahme keine in der Gesellschaft unhinterfragte Selbstverständlichkeit mehr ist. Stattdessen bedarf sie ausführlicherer, moderierender und dialogischer Elemente. Hinsichtlich ihres Sprachcodes sind gruppengemeinschaftliche Formen Ausdruck des Wunsches nach mehr Gemeinschaft und zugleich Zeugnis eines Mangels an Gemeinschaft.380 Der agendarische Gottesdienst hingegen scheint mit der Verwendung des restringierten Codes eine Gemeinschaft vorauszusetzen und für die jeweiligen Teilnehmer zugleich zu erzeugen. Dabei könnte durchaus jeweils auf unterschiedliche Formen von Gemeinschaft abgezielt werden. In Lohses Studie Kirche ohne Kontakte? (2.4.1) wurde mithilfe der Unterscheidung von »Lebenssolidarität« und »Gesinnungssolidarität« eine erste Einordnung derartiger Bedürfnisse versucht. Die hier aufgezeigten Spannungen zwischen Sprachcode und grundsätzlicher sozialer Ausrichtung werden von Jetter nicht weiter ausgeführt. Obgleich die von Jetter anhand sprachlichen Codes herausgearbeiteten liturgischen Grundtendenzen sich vielfach als plausibel erweisen, fällt die Darstellung immer wieder in klassische Abgrenzungen zurück. Als Beispiel sei auf die Zuordnung des restringierten Codes auf die Funktion der Bestätigung und Stabilisierung hingewiesen. Dadurch dient auch das Ritual insgesamt der 379 Vgl. dazu auch den Ansatz des Strukturpapiers, eine feste Struktur durch unterschiedliche Ausformungsvarianten zu gestalten (1.3.3). 380 »Ausgebaute Codes entstehen … in Kulturen, oder Subkulturen, die das ›Ich‹ stärker betonen als das ›Wir‹« (Bernstein, zitiert bei Jetter: Symbol und Ritual, 195).
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Aufgabe, dass »unter den Eingeweihten […] das vorgegebene und erwartete Einvernehmen aus[ge]drückt und reaktiviert« (183) wird. Demgegenüber erscheinen die freien, vom elaborierten Code geprägten Stücke wesentlich dynamischer und in ihrer Wirkung unvorhersehbarer. Ihnen kommt nicht nur die Aufgabe des »Belebens« und »Öffnens« (183) zu, auch die »Offenheit für die Zukunft« wird ausschließlich mit dem elaborierten Code verknüpft. Auch ist es allein die Predigt, die für Jetter ein »Kommunikationsinstrument mit erheblichen Risiken« (184) darstellt. Dass auch rituelle Stücke wie etwa Beichte und Absolution oder Epiklese und Segen mit ihren jeweiligen Erwartungen an Gottes Gegenwart und Wirken keineswegs als selbstverständlich empfunden werden, kommt nicht in den Blick. Jetters klare Zuordnung bricht lediglich dort auf, wo der Gottesdienst nicht mehr als allgemeine Werterepräsentanz fungiert, sondern selbst einen Akt des Widerspruchs darstellt.381 Zu denken wäre hier insbesondere an die Zeit der Bekennenden Kirche, als Glaubensbekenntnis und Vaterunser nun (wieder) von der Gemeinde gesprochen wurden. Insofern der christliche Gottesdienst der Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, der bedingungslosen Annahme des Menschen oder der zuvorkommenden Vergebung Ausdruck verleiht, wäre dieses Moment des Widerspruchs und der Kritik jedoch dauerhaft für den christlichen Gottesdienst in Anspruch zu nehmen. 2.5.4.3 Liturgische Pluralität als Folge pluraler religiöser Bedürfnisse Die Rezeption der linguistischen Theorie Bernsteins als Grundlage der Unterscheidung zweier liturgisch-ekklesiologischer Modelle verfolgt das Ziel, die Notwendigkeit des Nebeneinanders von Großkirche und Gruppengemeinschaft aufzuzeigen. Entgegen des weithin verbreiteten Empfindens vom »Ende der großkirchlichen Ära des Christentums« (237) argumentiert Jetter für eine konstitutive liturgische Pluralität. Dies bedeutet zum einen den Abschied »von der Behauptung, die eine Weise [sc. Gottesdienst zu feiern, RG] sei die allein wahre und christliche Weise«382. Darin spiegelt sich nicht nur die Einordung der liturgischen Situation in den »weltanschaulichen Pluralismus« (216ff.) der Gegenwart, sondern auch Jetters Überzeugung, die innerkonfessionelle Pluralität werde durch das sinkende Bedürfnis konfessioneller Profilierung nach außen erleichtert (vgl. 211). Zum anderen wendet sich Jetter mit der Betonung der irreduziblen Pluralität gegen eine Vermischung der Grundmodelle: »Es ist in den letzten Jahren 381 »Wo immer sich christliche Kirchen in weltanschaulichen Antagonismen behaupten müssen, in der Luft einer feindseligen Ideologie, da kann ihr Gottesdienst auch und gerade bei ganz traditionellem Vollzug ein eindrucksvolles Profil und eine starke religiöse Ausstrahlungskraft bekommen. Er verkörpert dann ganz von selbst eine Widerstandsposition gegen das un- oder gegenchristliche Denken und Handeln der Umwelt« (aaO., 221). 382 Ders.: Unser Gottesdienst, 28.
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viel Gutgemeintes und angestrengt Versuchtes oft bloß deshalb danebengegangen, weil man die Grundmodelle gewaltsam vermischte.«383 Damit bezieht er sich indirekt auf die vielfach geäußerten Hoffnungen, die seit den 60er Jahren gewachsene liturgische Vielfalt einem integrierten Modell zuzuführen (s. o. 1.3.3.3.4). Für Jetter sind die jeweiligen Stärken der Modelle aber nicht ohne ihre Begrenzungen umzusetzen (vgl. 274 f.). Als positives Beispiel führt Jetter die Communaut de Taiz an. Hier findet er eine gelungene »Verbindung des Kommunitären mit dem Konziliaren«, in der »offene Verbindlichkeit und verbindliche Offenheit« (242) gelebt werde. Liturgische Pluralität erlaubt eine Differenzierung innerhalb der Gottesdienstgemeinde hinsichtlich ihrer liturgischen Bedürfnisse, insbesondere in Bezug auf den rituellen Charakter wie auf Partizipationsformen. Damit lässt sich auch der empirische Befund zum Ritualismus, wie er durch die Gottesdienststudien hervorgetreten ist, theoretisch integrieren und plausibilisieren. Ohne eine Präferenz zu formulieren, entfaltet Jetter das Verhältnis von liturgischer Form und liturgischen Bedürfnissen am Beispiel der großkirchlichen Praxis. Diese drohe im »Sog zur gruppengemeinschaftlichen Parzellierung« (239) vernachlässigt zu werden. Dabei gerieten öffentliche Bedürfnisse aus dem Blick, die aus der historisch gewachsenen Bedeutung des Christentums und speziell des Gottesdienstes für die Gesellschaft resultieren (vgl. 128). Es ist die gesellschaftliche Relevanz, welche die Kirche zu offenen liturgischen Formen nötig. Zugleich sind es die individuellen Bedürfnisse, die die großkirchliche Praxis prägen. Da der Gottesdienst »Treffpunkt ganz unterschiedlicher, teilweise auch ganz widerspruchsvoller Erwartungen« (213) ist, braucht es Formen, die über einzelne Glaubensüberzeugungen und Teilnahmeformen hinweg zugänglich sind. Bereits 1963 hatte Jetter die Sakramente als Ort bestimmt, an dem »die entschlossenen und die unentschlossenen Christen«384 zusammenkommen. Die empirischen Einsichten der Kasualtheorie sowie die daraus gewonnene positive Haltung gegenüber volkskirchlichem Christentum erlauben es daher nicht, die Offenheit des Gottesdienstes gegenüber distanzierten Kirchenmitgliedern zugunsten von Bemühungen, die kirchliche Bindung zu stärken aufs Spiel zu setzen. Dass die Haltung, Christen an den Rändern der Kirche als »Missionsobjekte« zu adressieren, durchaus vorhanden war, zeigt der Blick auf nahezu zeitgleich erschienene Texte des katholischen Pastoraltheologen Paul M. Zulehner. Auch er setzt er sich zunächst mit dem soziologischen Befund der Existenz unterschiedlicher Gruppen und damit korrespondierender Erwartungen unter den Gottesdienstteilnehmern auseinander.385 383 Ebd. Analog wendet sich Jetter gegen die Vermischung von Lehre und Feier: »Und doch sollte das Lehren nicht feier-lich und das Feiern wennmöglich nicht lehr-haft ausfallen« (Ders.: Symbol und Ritual, 259). 384 Ders.: Werde ich Christ durch die Taufe? Bleiben wir Christen durchs Abendmahl?, in: ZThK 60 (1963), 370–391, 374. 385 Vgl. Paul M. Zulehner: Ritus und Liturgie. Religionssoziologische und pastoraltheologische
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Schnell wird jedoch deutlich, wie stark der Ansatz einer normativen, kerngemeindlichen Perspektive verhaftet bleibt. Zulehner unterscheidet zwischen »vollkirchlichen Christen« auf der einen Seite, welche sich im »erforderten Ausmaß« am Gemeindeleben beteiligen, und dem die Mehrheit bildenden »Auswahlchristentum« auf der anderen Seite.386 »Auswahlchristen« erwarten von der Religion vornehmlich Stabilisierung und Sicherheit, weshalb sie ausschließlich »vertikale Kommunikation« mit einer die Ordnung gewährleistenden göttlichen Macht anstreben. Die Dimension »horizontaler Kommunikation« (Kirchenzugehörigkeit, gemeinschaftliche Teilnahme am Gottesdienst) wird dagegen weitgehend als unwichtig erachtet. Zwar dürfte Zulehners Beobachtung zutreffend sein, dass der Gemeinschaftsaspekt als Motivationsfaktor bei sporadischer Partizipation gering ist, zumal dann, wenn der Kirchgang nicht sozial veranlasst ist.387 Gleichwohl kommt seine Argumentation nicht darüber hinaus, das rituell orientierte »Auswahlchristentum« als defizitär zu beschreiben. Es bedürfe einer »Bekehrung«, die auf liturgischem Weg kaum erreicht werden könne.388 Zulehner attestiert dem Großteil der Kirchenmitglieder eine ausschließliche Ausrichtung auf den Ritus selbst. Außerliturgische Folgehandlungen, etwa im Bereich der Diakonie unterblieben – eben »bloßer Ritus«. Hier begegnen innerhalb der katholischen Liturgik Argumentationsfiguren, die lange Zeit zum Standardrepertoire protestantischer Ritualkritik gehörten (s. u. 4.2). Vor dem Hintergrund von Zulehners Ansatz wird noch einmal deutlich, inwiefern Jetter seinen Beitrag als Hilfe zur Überwindung der vielfach empirisch konstatierten Milieuverengung innerhalb der Gottesdienstgemeinde verstand, die ihre Ursache neben einer Hinwendung zu sozial anspruchsvolleren Gottesdiensten nicht zuletzt in der theologischen Kritik nichtkerngemeindlicher Kirchgangspraxis hatte. Jetters wertneutrale Beschreibung unterschiedlicher liturgischer Praxisformen setzt das Anliegen der Rehabilitierung kasueller wie ritueller Gottesdienstteilnahme fort. Dies wird abschließend noch einmal deutlich im Blick auf die Auseinandersetzung mit dem – von Jetter wiederum als legitim erachteten – Bedürfnis nach sozialer Distanz beim Gottesdienstbesuch. Die empirischen Gottesdienststudien hatten bei Jetter den Eindruck verstärkt, dass »die Zahl derer nicht klein ist, die im Gottesdienst weniger nach persönlicher Gemeinschaft als nach privater Erbauung verlangen und gern anonym bleiben wollen« (207). Gleichwohl geAspekte der religiösen Praxis, in: LJ 25 (1975), 47–67, 48. Ausführlich erörtert wird dieser Ansatz in Zulehners Habilitationsschrift: Ders.: Religion nach Wahl. Grundlegung einer Auswahlchristenpastoral, Wien 1974. 386 Vgl. Ders.: Ritus und Liturgie, 49. 387 Ähnlich auch Franz Kohlschein: Symbol und Kommunikation als Schlüsselbegriffe einer Theologie und Theorie der Liturgie, in: LJ 35 (1985), 200–218, 213: »Wer Stabilisierung seines Lebens im allgemein religiösen Sinn sucht, erwartet rituelles Handeln mit möglichst wenig interpersonaler Kommunikation.« 388 Vgl. Zulehner: Ritus und Liturgie, 66.
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langt er zu gänzlich anderen Ergebnissen als Zulehner. Bereits 1970 hatte Jetter erwogen, ob die vorwiegende Suche nach persönlicher Erbauung, gekoppelt mit dem Wunsch nach persönlicher Anonymität, »nicht der Struktur der großkirchlichen Gottesdienstveranstaltungen ziemlich genau entspricht«389. Eine ähnliche Tendenz hatte bereits Lohses Studie Kirche ohne Kontakte? gezeigt (2.4.1). Darin war deutlich geworden, dass das gemeinsame Verhalten im Gottesdienst nicht dem Verhalten geprägter Gruppen entspricht. Bei Jetter mündet diese Erkenntnis in einer ausführlichen Würdigung der katholischen Messe (275–277). Nicht nur ihr klar erkennbarer nichtalltäglicher Charakter überzeugt Jetter, sondern auch die »kluge, nötige und kühle Distanz«, die sie den Teilnehmern gewährt. Dass der »Grad der persönlichen Identifizierung« nicht erfragt wird, führt empirisch nachweisbar zu einer offeneren Sozialstruktur. Jetters lobende Deutung der Messe entspricht zwar der ökumenischen Grundhaltung, verwundert aber auch, ist sie doch weithin einem vorkonziliaren Messverständnis verhaftet.390 Ihre Zielrichtung besteht wohl vor allem im vielfach beschriebenen Gegenüber zur gruppengemeinschaftlichen Praxis: Nicht nur wird die im Gottesdienst unter volkskirchlichen Bedingungen häufig gesuchte und erwartete Anonymität von der gruppengemeinschaftlichen Praxis nicht gewollt. Aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von den jeweils mit der Vorbereitung und Durchführung beauftragten Personen kann sie diese auch nicht leisten. Wie im großkirchlichen Gottesdienst immer wieder eine Mangel an Gemeinschaft empfunden wird, so erwächst im gruppengemeinschaftlichen Vollzug das »leise Heimweh nach großkirchlicher Festigkeit und geräumiger Offenheit« (269).
2.5.4.4 Liturgiekompetenz als Ziel sozialwissenschaftlicher Gottesdienstanalyse Einer der zentralen Gründe für die Gottesdienstreformen der ›langen 60er Jahre‹ war der empfundene Mangel an Gemeinschaftserlebnis. Bei ihrer Umsetzung wurde allerdings kaum erörtert, wieviel Gemeinschaft im Gottesdienst überhaupt realisierbar oder gar wünschenswert sei. Bei seinem Nachdenken über den Gottesdienst »sowohl als Gesamtritual wie im Kontext der kirchlichen und gesellschaftlichen Lage« (7) verfolgt Jetter daher im 7. Kapitel (»Zum Gottesdienst heute«) das Ziel, angesichts der Unterscheidung von großkirchlicher und gruppengemeinschaftlicher Gottesdienstpraxis liturgi389 Jetter: Bemerkungen, 200. 390 Vgl. Ders.: Symbol und Ritual, 276: Das »Opfer wird von den Geweihten hinter den Schranken bewacht und bewahrt. Vor den Schranken kann sich dann umso ungezwungener eine achtungsvolle Unbefangenheit ausbreiten. Da kommt und geht das gläubige Volk.« Besonders Bieritz hat diese Argumentation scharf kritisiert. Jetters Hochschätzung der vorkonziliaren Messe diene lediglich der ohnehin künstlichen und »spekulativen« Unterscheidung der beiden liturgischen Grundformen (vgl. Rez. Jetter, 293 f.).
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sche Gestaltungskriterien zu erarbeiten. Die Einsicht in den symbolischen Charakter gottesdienstlicher Kommunikation sowie die Erörterung unterschiedlicher Formen von Symbolik und Sprachcodes bilden die Basis, um schließlich Klarheit darüber zu gewinnen, »was man hier jeweils will und ob man es wollen kann« (241). Der erste Schritt kompetenter liturgischer Gestaltung besteht für Jetter in einer realistischen Zielsetzung: die Verknüpfung gruppengemeinschaftlicher Erwartungen mit großkirchlichen Formen scheint ebenso wenig zielführend wie Versuche, ältere Rituale durch erklärende Zusätze attraktiver zu machen (vgl. 243). Diskrepanzen zwischen theologischer Zielsetzung und liturgischer Realität gründen häufig in theologischer Überforderung, etwa wenn jeder Gottesdienst in gleichem Maße Freiheit und Verbindlichkeit verwirklichen soll (vgl. 205). Im zweiten Schritt müssen die von Jetter erörterten Spannungen, wie die von Offenheit und Intimität, für die jeweilige Form ins rechte Verhältnis gesetzt werden. Jetter zufolge heißt es, sich dabei »über den Sinn dieses Ineinandergreifens von verfestigten und freier zu gebrauchenden Stücken, von kirchlichen und persönlichen Elementen Klarheit [zu] verschaffen« (173). Dasselbe gilt für die Frage, »wo die strenge Form gewahrt werden muß, wo der Spielraum minimal ist, wo man die Form großzügig handhaben darf und wo persönliche Ausdrücklichkeit nicht bloß möglich, sondern erwünscht oder notwendig ist« (162). Weder teilt Jetter diese Gegensätze auf großkirchliche und gruppengemeinschaftliche Praxis auf, noch sind damit konkrete Gestaltungformen vorgegeben. Die vom Liturgen getroffenen Entscheidungen resultieren gleichwohl in spezifischen Möglichkeiten und Grenzen gottesdienstlicher Kommunikation, Interaktion und Gemeinschaftserfahrung. Damit wird als dritter Schritt vom Liturgen verlangt, in Distanz zur eigenen Unmittelbarkeit eine (Selbst-) Analyse zu unternehmen, um »Klarheit über die möglichen Leitvorstellungen und Besonderheiten gegenüber den eigenen Lieblingsvorstellungen« (241) zu erhalten: »da darf es nicht auf eine extreme, da muß es auch nicht auf eine verwaschene, da kann es auf eine besonnene Praxis hinauskommen« (241). Jetters systematisierende Unterscheidung zweier Grundmodelle gottesdienstlicher Praxis vermag die im Strukturpapier nebeneinander aufgelistete Vielfalt an Gottesdienstformen deshalb zu reduzieren, weil sie weniger von den möglichen liturgischen Varianten in ihrer historischen und konfessionellen Gewachsenheit ausgeht. Das Nebeneinander von gruppengemeinschaftlicher und großkirchlicher Praxis kann auch gegenwärtig als grundlegende Orientierung noch Gültigkeit beanspruchen. Als »strukturelle Analyse« (Cornehl) finden Jetters Kategorien gegenwärtig ihren Niederschlag in der Unterscheidung von »traditionskontinuierlichem«391 Gottesdienst und den 391 Vgl. Klaus Raschzok: Gottesdienst feiern. Erwägungen zur Fortführung des agendarischen Reformprozesses in den evangelischen Kirchen. Ein Dokument der Liturgischen Konferenz, in:
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sogenannten »anderen Gottesdiensten«392. Gerade die inhaltliche Schwerpunktsetzung letzterer nimmt jeweils eine bestimmte Zielgruppe in den Blick und weist darin eine deutliche Nähe zur gruppengemeinschaftlichen Praxisform auf. Ihre Teilnehmer bilden zumeist eine Teilmenge jener Gruppe, die auch am agendarischen Gottesdienst teilnimmt und die »anderen Gottesdienste« als religiöse aber auch soziale Vertiefung erfährt. Neuere Überlegungen zum gegenseitigen Verhältnis unterschiedlicher Gottesdienstformen weisen genau darauf hin, dass Gottesdienste, die sich an explizit an Fernstehende wenden wollen, nur in seltenen Fällen Erstkontakte mit Kirche und Gottesdienst herstellen, sondern stattdessen kerngemeindlichen Gruppen eine Vertiefung ihres Glaubens ermöglichen. Diese Einsichten finden sich ähnlich schon bei Jetter. Er war der Überzeugung, dass »[d]ie losere Form […] meist nicht die freiere, sondern die schwerere Form« (153) ist. Das gilt sowohl im Blick auf die Anforderungen an die Gestaltung,393 als auch bezüglich der sozialen Voraussetzungen, welche mit der intensivierten Gemeinschaftsform gegeben sind. 2.5.5 Fazit Das zentrale Anliegen Werner Jetters bestand darin, unterschiedliche Formen kirchlichen Teilnahmeverhaltens, wie es durch mehrere Studien empirisch erfasst war, zu untersuchen und auf liturgische Bedürfnisse innerhalb der Volkskirche zurückzuführen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft zur vorurteilsfreien Wahrnehmung gelebter Religion. Jetters interdisziplinärer Ansatz stellt zugleich eine Antwort auf die Krisenstimmung samt kirchlichem Reformdruck in Bezug auf Gottesdienst (1.3.1) und Kirche allgemein (1.2.1) dar.394 Schließlich sollte die Frage nach der Ritualität protestantischer Liturgik vom begrenzten Rezipientenkreis soziologischer Studien auf all jene erweitert werden, die sich mit liturgischen Gestaltungsfragen beschäftigen, die Pfarrer und Pfarrerinnen also. Der empirische Befund zum »Ritualismus« der beiden großen Gottesdienststudien konnte Jetter lediglich als begrifflicher Anknüpfungspunkt zur Auseinandersetzung mit den Phänomenen von Symbol und Ritual dienen. Gleichwohl zielte Jetter darauf, die in diesen Studien konstatierte Differenz zwischen kirchlich-theologischem Anspruch und tatsächlicher Kirchgangspraxis auf die dahinterliegenden religiösen Bedürfnisse zu befragen und dabei Michael Meyer-Blanck/Klaus Raschzok/Helmut Schwier (Hg.): Gottesdienst feiern. Zur Zukunft der Agendenarbeit in den Evangelischen Kirchen, Gütersloh 2009, 26–79. 392 Vgl. Arnold (Hg.): Andere Gottesdienste. 393 Vgl. Anm. 108. 394 Vgl. exemplarisch die Kapitelüberschrift »Der Gottesdienst – Institution in der Krise?« (vgl. 206ff.).
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zu einer realistischen Erwartungshaltung an den rituell geprägten, »großkirchlichen« Gottesdienst hinzuführen. Vor dem Hintergrund außertheologischer Symbol- und Ritualtheorien arbeitet Jetter die funktionalen Leistungen wie auch die Ambivalenzen und Gefährdungen rituellen Handelns heraus. Die Bezeichnung des Gottesdienstes als »Gesamtritual« stellt eine der zentralen Pointen seiner Argumentation dar. Vor dem Hintergrund der geläufigen Kritik am »Ritualismus« (2.4) war dies durchaus provokant. Jetter macht begrifflich deutlich, dass im Rahmen geprägter, symbolischer Kommunikationsformen wie dem Gottesdienst sämtliche Elemente notwendigerweise Ritualisierungsprozessen unterliegen – selbst im noch so nüchternen schwäbischen Predigtgottesdienst – und die einzelnen Elemente sinnvollerweise nicht isoliert betrachtet werden können.395 Dieser Tatsache kann man sich weder durch Verzicht auf nonverbale Kommunikation entziehen noch durch eine säuberliche Trennung von Predigt und Liturgie als Wort und Ritual. Jetter entfaltet diese Argument anhand der Ritualisierung von Predigt und Predigttext, die sich bei näherer Betrachtung keineswegs ausschließlich diskursiver oder elaborierter Kommunikationsformen bedienen.396 Ritualtheorie wird für Jetter damit zum Mittel der Selbstaufklärung des Protestantismus, die ihr Ziel in der Professionalisierung liturgischer Arbeit und in der Kompetenzsteigerung der Liturgen findet. Beides ist aufgrund gesteigerter Erwartungen der Gottesdienstteilnehmer geboten. Wichtige Wegmarken dazu sind zum einen die Überwindung der »Angst vor falscher Sakralität« – zumal diese auch »zu unappetitlichen Nachlässigkeiten führen« (164) kann. Dazu bedarf es eines neuen Bewusstseins für die Verknüpfung von Alltag und Ritual. Für Jetter hängt genau daran die Wirkung und Kraft des Rituals, diese Verbindung aufrechtzuerhalten, ohne sie explizit thematisieren zu müssen. Rituale zielen also keineswegs auf religiöse Sonderwelten, sondern werden immer schon von der sie umgebenden Situation erfasst und verändert. Umgekehrt verändert auch der Ritualvollzug die Alltagswahrnehmung, er kann das Leben »erwartungsvoller, griffiger, begehbarer« (131) machen. Zum anderen geht es um eine Selbstklärung der Liturgen, die nicht nur um ihre eigenen Vorlieben wissen und zugleich im Stande sein müssen, sich davon zu distanzieren, sind sie doch keine »Parteigänger ihrer eigenen Gruppenbindung« (241). Sie sollen zudem zu einem bewussten Umgang mit ihrer Rolle innerhalb des Rituals gelangen, was auch die Auseinandersetzung mit der 395 Jetter: Symbol und Ritual, 197: Es wäre »wohl mehr über die jeweilige instrumentale Dienlichkeit und geschichtliche Notwendigkeit der beiden Kommunikationsweisen [sc. von elaboriertem und restringiertem Code, RG] als über qualitative und substantielle Prioritäten in der Vergegenwärtigung des Heilsnotwendigen auf die eine oder die andere Weise nachzudenken«. 396 Angesichts dieser mittlerweile wohl etablierten Einsicht kann es nur verwundern, wenn auch gegenwärtig in theologischen Examina noch »Predigtarbeiten« zu verfassen sind, die weder eine liturgische Kontextualisierung vorsehen noch die Möglichkeit, die Predigt in der Auseinandersetzung mit dem liturgischen Kontext bzw. der konkreten liturgischen Handlung zu entwerfen.
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»Vertretungsfunktion« für die Gemeinde einschließt.397 Dies gilt insbesondere für den protestantischen Gottesdienst, der aus Jetters Sicht das Agieren der Gemeinde besonders stark begrenzt und auf den »Prediger« konzentriert. Liturgen sollen eine Sensibilität für liturgische Formen entwickeln, um zu »merken, wo was am Platz ist« (ebd.), d. h. welches Maß an Freiheit und Bindung und welcher Sprachcode innerhalb einer Gottesdienstform der jeweils angemessene ist. Jetters Werk kann zwar nur eingeschränkt als allgemeine und umfassende Ritualtheorie des Gottesdienstes gelten.398 Zugleich liegt dem Werk aber ein klarer systematischer Aufbau zugrunde, der bei der häufig eklektischen Rezeption meist verlorengeht. Jetter sammelt zentrale Aspekte rituellen Handelns, die er als eigenständige Kommunikationsform präsentiert und mit dem volkskirchlich orientierten Gottesdienst in Beziehung setzt. Theoretisch fundiert wird dies durch die Rezeption der Symboltheorie Susanne K. Langers sowie der Sprachtheorie Basil Bernsteins. Rituale besitzen einen expressiven Charakter, doch sind die ausgedrückten Bedeutungen für Jetter nicht unmittelbar in der Handlung selbst enthalten, sondern nur als Verweise. Darin, dass das Ritual als symbolische Handlung »mehr« ausdrückt, als unmittelbar präsent ist und der Vollzug mit einem »darstellerischen Interesse« (117) einhergeht, lässt es sich von anderen wiederholbaren »Verhaltenstechniken« wie Routinen oder Gewohnheiten abgrenzen. Nicht ohne Spannung zum expressiven Charakter versteht Jetter Rituale zugleich als Handlungen, die nicht um eines äußeren Zweckes willen verfolgt werden, sondern ihren Zweck in sich selbst haben.399 Die für die vorliegende Studie wichtige Fragestellung danach, was die rituelle Handlung aus Sicht der Akteure qualifiziert, wird bei Jetter mehrfach be397 »Sich dieser Spannung redlich und menschlich stellen, sich ihr weder durch prüde übersteigerte noch durch rüde verweigerte ›Geistlichkeit‹ zu entziehen, das könnte zum Zeichen dafür werden, daß man jenes ›wahrhaftige Menschsein‹ bejahen und weitergeben will, von dem die christlichen Rituale herkommen und auf das sie hinweisen wollen« (aaO., 107). 398 Nicht zuletzt, weil eine Unterscheidung der Phänomene von Symbol und Ritual offen bleibt (vgl. 2.5.2.3). Gleichwohl entwickelte sich aus der bei Jetter noch gekoppelten Bearbeitung von ›Symbol‹ und ›Ritual‹ in der Folge ein eigener Strang liturgischer Theoriebildung, der sich ausschließlich dem ›Symbol‹ widmete. Dieser Begriff war für das gesamte Spektrum praktischtheologischer Theoriebildung noch einmal breiter verwurzelt war als der Begriff des ›Rituals‹ (s. u. 3.2.5). 399 Vgl. aaO., 116. Dagegen aaO., 117: »[I]hre Lebendigkeit liegt nicht im Vollzug, sondern in dem, was sie durch ihren Vollzug über diesen hinaus ausdrücklich machen.« Dass Jetter immer wieder unterschiedliche Momente betont, wird vor dem Hintergrund ritualkritischer Argumentationen (s. u. 4.2) verständlich: Einerseits will Jetter das Ritual von magischen Praktiken abgrenzen, die Gott im menschlichen Handeln verfügbar machen wollen und betont deshalb ihre Selbstzweckhaftigkeit. Andererseits soll deutlich werden, dass Rituale als Frömmigkeitspraxis eben nicht selbstgenügsam sind, sondern auf den »Gottesdienst im Alltag der Welt« (E. Käsemann) hingeordnet.
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handelt. Erstens findet sich bereits in seiner Ritualdefinition die knappe Beobachtung, dass rituelle Handlungen »den, der sie vollzieht, ganz auf den Vollzug« (22) konzentrieren. In Verbindung mit der von Jetter mehrfach betonten förderlichen Distanziertheit und »Kühle«, die den Ritualvollzug kennzeichnen sollen, bedeutet eine Unterbrechung dieser Konzentration auf die Handlung eine Beeinträchtigung seiner Wirkung. Zweitens weist Jetter auf den Zusammenhang von äußerer Handlung und innerer Haltung hin: Das Ritual »ist nicht unempfindlich gegenüber der Haltung dessen, der es veranstaltet und leitet. Er kann es so mechanisch vollziehen, daß es wie leblos erscheint« (117). Dennoch kann ein derart negativer Eindruck das Ritual nicht zerstören. Umgekehrt aber kann, »wenn der Leiter sich selber eher zurücknimmt und unterkühlt wirkt«, »der Eindruck der Symbolik besonders stark werden« (ebd.). In diesem Zusammenhang steht auch Jetters Lob der katholischen Messe. Das Ziel rituellen Handelns besteht schließlich in der »Einheit von Darstellung und Durchdringung«, von körperlicher Handlung und innerem Mitvollzug, was wiederum dann gelingt, wenn die beschriebene Handlungskonzentration gegeben ist. Im Gegensatz zur klassischen protestantischen Ansicht, welche die religiöse Durchdringung zur Vorbedingung der Darstellung macht, betont Jetter umgekehrt den Wert der Darstellung für die religiöse Durchdringung des Lebens. Dennoch wird dies bei Jetter nur ansatzweise als zirkuläres Verhältnis gedacht und ausschließlich auf den Liturgen fokussiert, ohne das Handeln einer Gemeinschaft zu thematisieren: »Das Ritual braucht und erzeugt seinen Meister« (100). Ausdruck findet die innere Dynamik der Einheit von Darstellung und Durchdringung bei Jetter drittens in der engen Verknüpfung des Rituals mit seiner Deutung. Ricœurs Dictum »Symbole geben zu denken« wird für das Ritual in unterschiedlichen Deutungs- und Aneignungsformen realisiert – sowohl als handelnde Interpretation als auch in Gestalt religiöser Rede. Auch hier findet eine über den Liturgen hinausgehende Perspektive kaum Beachtung. Das Spektrum der Deutungsformen wäre etwa dadurch zu erweitern, dass das Verhältnis der Diskurse innerhalb der Liturgik auf der einen und auf privater oder gemeindlicher Ebene auf der anderen Seite einbezogen würden. Wo und wie wird über gottesdienstliche Rituale gesprochen? Welche Bedeutungen, auch emotional, werden mit ihnen verbunden? Noch einmal ist zur Bestimmung der Grundfunktionen des Rituals zurückzukommen, die Jetter mit den Begriffen Heimat, Ordnung und Stabilität verbindet und die sich immer wieder als problematisch erwiesen hatten, d. h. dem empirischen Befund nur unzureichend gerecht werden. Jetters Heimatbegriff etwa kommt weitgehend ohne jene Ambivalenz aus,400 die den Cha400 Vgl. den Titel der 2. KMU Fremde Heimat Kirche (2000), der von Thomas Klie (2010) wieder aufgenommen wurde und sich auch bei Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, 50 findet: »Rituale teilen die Ambivalenzen des ›Heimatlichen.‹« Jetter spricht vom »einheimisch werden« (93),
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rakter des Rituellen bei Jetter sowohl theologisch wie sozial bestimmen. Grund dafür ist vor allem ein begrenzter Begriff von ›Ambivalenz‹ selbst. Die »Gefährlichkeit des Unentbehrlichen« bleibt ihm äußerlich und benennt lediglich Gefahren rituellen Handelns, die Verfallserscheinung darstellen oder Folge sind eines mehr oder weniger bewussten Absolutsetzens einer Seite der im Ritual enthaltenen Spannungen. Bei rechtem Gebrauch, so scheint es, könnten diese vermieden werden. Die Betonung des stabilisierenden Charakters von Ritualen verdankt sich nicht zuletzt dem volkskirchlichen Blickwinkel. Dadurch werden die im Zusammenhang mit Kasualien an Übergangs- und Schwellenereignissen geäußerten Bedürfnisse nach Bestätigung und Stabilisierung auf den Gottesdienst übertragen, ohne dass die empirischen Erkenntnisse darüber Auskunft geben. Es wäre zu fragen, ob es nicht gerade die intrinsische Ambivalenz ist und das damit verbundene Potenzial zur Verunsicherung und nicht planbaren Transformation, die der Handelnde im Ritual nicht nur akzeptiert oder erwartet, sondern gerade sucht. Werden die von Jetter beschriebenen Spannungen zwischen Darstellung und Durchdringung, Offenheit und Verbindlichkeit, Universalität und Intimität, Großkirche und Gruppengemeinschaft als Rezeptionskategorien verstanden, wird die Ambivalenz zum grundsätzlichen Moment rituellen Handelns, das zugleich ein transformatives und kreatives Potenzial erzeugt. Angesichts spezifischer historischer Kontexte wie dem Kirchenkampf, in denen Ritualvollzügen ein widerständiges Potenzial eignete, sieht sich Jetter letztlich doch genötigt, die grundlegende Zuordnung von Ritual und Stabilität zu öffnen für das dynamische und kritische Potenzial des Rituals. In seinen Ritualbegriff fließt diese Beobachtung allerdings nicht ein. Jetters Konzeption zweier parallel existierender Gottesdienst- und Kirchenkonzepte lässt sich als Reformvorschlag lesen, der sich gegen eine integrative, nach der einen Form suchende Liturgiepraxis richtet. Diese würde nach Jetters Ansicht die neuen Formen in ihrer kreativen Freiheit und der erhofften Gemeinschaftsbildung ebenso beschränken, wie sie der großkirchlichen, agendarischen und rituell geprägten Ordnung ihre Weite und Offenheit im Hinblick auf Partizipation und Bedeutungszuschreibung nähmen. Darauf hatte er schon im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur »Kasualkirche« eindrücklich hingewiesen (2.3.4). Jetter macht deutlich, dass beide Formen auf unterschiedlichen religiösen Bedürfnissen und daraus folgenden liturgischen Erwartungen unter den Kirchenmitgliedern gründen. Bei der Zuordnung dieser Bedürfnisse zur liturgischen Grundform war eine grundlegende Spannung deutlich geworden: Einerseits verleiht der großkirchliche Gottesdienst in besonderer Weise der Universalität des Christentums Ausdruck, andererseits bedient er sich dazu des restringierten Codes, der eine von »Heimatgewähr«, »heimatlichen Empfindungen« (213); »Glaubensheimat« (239 u. ö.); »heimatlicher« Aufnahme (257) oder »Beheimatung« (282).
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gemeinsame Kommunikationsbasis und somit eine Gemeinschaft bereits voraussetzt und zugleich erzeugt. Angesichts der massiven Traditionsabbrüche innerhalb des Christentums war und ist freilich zu fragen, wie die zukünftige Ritualpraxis einer Volkskirche beschaffen sein und gefördert werden kann. Dabei lässt der Gedanke an eine durch den gewählten Sprachcode bereits vorausgesetzte Gemeinschaft an Friedrich Schleiermachers Beobachtung denken, dass »die Sache dadurch wieder zu Stande« kommt, »daß man sie voraussetzt«401. Das wiederum hieße den praktischen Glaubensvollzügen jene Selbstverständlichkeit zu geben, die sie durch ihre Geschichte und Prägekraft für die religiöse Erziehung allgemein besitzen, wenn auch nicht immer im Bewusstsein des Einzelnen. Eine solche Haltung räumt dem Wirken Gottes selbst einen gehörigen Platz im Gottesdienst ein, der eben nicht erst dann agendarisch gefeiert werden kann, wenn Darstellung und Durchdringung zu letzter Einheit verschmolzen sind. Die Aufgabe der Ritual- und Liturgiedidaktik wäre damit keineswegs suspendiert, sondern vielmehr von der Einsicht getragen, dass nicht das Verstehen des Rituellen den Ausgangspunkt bildet, sondern der »Vollzug« selbst. Wie es jene Konzentration auf den Vollzug ermöglicht werden kann, die Jetter als Grundzug rituellen Handelns bestimmt, wäre eine der Aufgaben ritualsensibler Liturgie.
2.6 Zusammenfassung (1) Der Gang durch die Entwicklung der Ritualtheorie innerhalb der protestantischen Liturgik bis zum Ende der 1970er Jahre hat deutlich gemacht, inwiefern sich der Ritualdiskurs einzeichnen lässt in die teilweise parallel verlaufenden Entwicklungen von liturgischer Erneuerung auf der einen und einer Rückbesinnung auf den agendarischen Gottesdienst auf der anderen Seite. Letztere war getragen von einem gesamtgesellschaftlichen Bedürfnis nach Stabilität und Ordnung im Nachgang zum Reformjahrzehnt der ›langen 60er Jahre‹. Während die Rede vom »Ritualismus« in den Gottesdienstumfragen noch ganz von der Verunsicherung durch kirchliche Um- und Abbrüche gekennzeichnet ist, spiegelt die Selbstverständlichkeit, mit der Werner Jetter wenige Jahre später vom ›Ritual‹ spricht, eine deutliche Konsolidierung von liturgischer Praxis und Liturgik. Man hatte gelernt, mit und in der Krise zu leben. Jetters Symbol und Ritual stellt eine entscheidende Wegmarke für die Theoriebildung protestantischer Liturgik dar, weil in der Folge die Beschreibung des Gottesdienstes unter dem Aspekt der Ritualität zum obligatorischen Inhalt jeder Gottesdienstlehre avancierte. Auch in diesem Sinn kann die bereits in der Einleitung zitierte Forderung von Manfred Josuttis verstanden werden, dass jede theologische Theorie des Gottesdienstes die sozialwissen401 Friedrich Schleiermacher: Predigten. Bd. 1, Berlin 1843, 7.
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schaftliche Feststellung zu berücksichtigen habe, dass der Gottesdienst ein Ritual sei. (2) Als Quellen des Diskurses um den rituellen Charakter des Gottesdienstes wurden drei unterschiedliche Stränge dargestellt. Erstens ist auf das religionssoziologische Interesse an der Typologisierung religiöser Praxis zu verweisen (2.2). Charles Glock arbeitete eine »ritualistische Dimension« heraus, die häufig mit anderen Dimensionen in Wechselwirkung steht. Auch kirchensoziologische Forschungen der 60er Jahre stellten heraus, dass eine Mehrheit der Christen diese ritualistische Dimension insbesondere im Rahmen der Inanspruchnahme von Kasualien pflegt. Diese sind biographisch verankert und wurden weit weniger mit einer Bindung an die kirchliche Institution assoziiert, die in dieser Zeit starker Grundsatzkritik unterlag. Der Ritualdiskurs verdankt sich, zweitens, der Einsicht in den rituellen Charakter der Kasualien, die in ihrer Bedeutung für die Volkskirche durch die KMU neu ins Interessensfeld der Praktischen Theologie gerückt waren (2.3). Die anhand der Kasualien erarbeiteten Ritualtheorien wurden schließlich auf den Gottesdienst übertragen. Gleichwohl erfährt Ritualität in Verbindung mit Kasualpraxis bis in die Gegenwart eine wesentlich stärkere Aufmerksamkeit und eine positivere Beurteilung, als in Gestalt des sonntäglichen Kirchgangs. Auf theoretischer Ebene etablierte sich hier zum einen das Verständnis von Ritualen als symbolische Handlungen, die sowohl ein Deutungsangebot darstellen, als auch selbst unterschiedlicher Deutung zugänglich sind. Zum anderen wurden rituelle Handlungen ausgehend von ihrer sozialen Funktion als ordnungs- und identitätsstiftende wie auch Heimat gewährende Institutionen verstanden. Drittens steht die Entwicklung der Ritualtheorie protestantischer Liturgik in enger Verbindung mit den empirischen Gottesdienststudien, die parallel auch von katholischer Seite beauftragt wurden (2.4). Im Hintergrund stand jeweils eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem eigenen volkskirchlichen Anspruch angesichts sinkender Teilnahme und Einfluss auf die private Weltanschauung und Lebensgestaltung. Mit dem Begriff des »Ritualismus« wurde eine Form der Partizipation beschrieben, die aufgrund mangelnder Zustimmung zu den zentralen Glaubenswerten vorwiegend als äußerlich gewertet wurde sowie als Vorstufe zum gänzlichen Verlust der Religion. In beiden Konfessionen fand jedoch mehr und mehr eine Übertragung des Ritualbegriffs aus dem dogmatisch-religionsphänomenologischen Kontext in einen soziologischen und sozialwissenschaftlichen Theorierahmen statt. Eben dieser Vorgang kann als Weg »vom Ritualismus zum Ritual« bezeichnet werden. In der theologischen Rezeption dieser Theorien stießen die beiden Ansätze freilich immer wieder aufeinander. Die dogmatische Herkunft des liturgischen Ritualbegriffs wirkte insbesondere in der Betonung der Ambivalenz ritueller Handlungen nach, die sich bereits in den Anfängen bei Otto Seydel findet (2.1). Jetter formulierte eine detaillierte Ausarbeitung dieser
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Ambivalenz als Spannung zwischen »entlastendem« und »erdrückendem« Charakter des Rituals. Den Gefahren sollte mit der Integration nichtritueller Momente in den Gottesdienst begegnet werden. Das als Ziel ritueller Praxis beschriebene Heimatempfinden, welches das Strukturpapier mit dem agendarischen Gottesdienst insgesamt verband, schien dabei erstaunlicherweise von jeder Ambivalenz befreit. Wenn nach Rainer Volp »[d]ie Leistungsfähigkeit des religiösen Rituals [zu] bedenken heißt, nach seinen Funktionen fragen«402, dann spiegelt sich darin noch immer der in allen Strängen des beginnenden Ritualdiskurses zu beobachtende soziologisch-funktionale Theorierahmen. Die Frage nach der Bedeutung der Handlung für die rituellen Akteure trat dabei in den Hintergrund, ebenso wie die Frage nach den Kennzeichen ritueller Handlungen selbst. Der Verweis auf den Umgang mit Symbolen war zwar eine Möglichkeit der Näherbestimmung, doch stand auch hinter dem Symbolbegriff keineswegs ein einheitliches Konzept.403 (3) Die Überlegungen zum Gottesdienst als Ritual stehen angesichts der Pluralisierung der liturgischen Landschaft für den Versuch, das Auseinanderfallen von agendarischem Ritus und den Formen des »zweiten Programms« zu verhindern, indem beide in konstruktiver Weise aufeinander bezogen und ihre jeweilige Unverzichtbarkeit anhand spezifischer Leistungen herausgestellt werden sollte. ›Ritual‹ und mit ihm der agendarische Gottesdienst wurden zu Synonymen für die im Zuge der Reformen vernachlässigten Elemente von Religiosität und wurden in der Folge einseitig mit Stabilisierung, Tradition, Kontinuität, ›Heimat‹ und dem Begriff des religiösen ›Geheimnisses‹ verbunden. Von den im Gegensatz zum allgemeinen Rückgang stabilen Kasualzahlen schien man auf die generell stabilisierende Funktion des Rituals zu schließen. Unbeachtet blieb dabei das transformative Moment ritueller Vollzüge, das nicht nur in der Theorie der Schwellenrituale eine wichtige Rolle spielt. Einschlägige Texte van Genneps und Turners erlangten in Deutschland jedoch erst nach Erscheinen ihrer Übersetzungen in den 80er Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Das beschriebene Abgrenzungsbedürfnis der neueren liturgischen Formen vom agendarischen Gottesdienst als Inbegriff vermeintlich überholter Formen von Liturgie und Kirche korrespondierte mit der Auffassung, der agendarische Gottesdienst könne seine ihm zugeschriebe stabilisierende Funktion dann besonders effektiv erfüllen, wenn er in seiner Gestalt deutlich sichtbar dem Bekannten und Vertrauten verhaftet blieb. Eine derart säuberliche Unterscheidung trat freilich immer wieder in Spannung mit der liturgischen Realität – spätestens dann, wenn aufgrund rasanter Traditionsabbrüche die 402 Rainer Volp: Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern, Band 1: Einführung und Geschichte, Gütersloh 1992, 65. 403 S. u. 3.2.5.
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agendarischen Formen eben nicht mehr vertraut waren und deshalb über die Frage der Ritualfähigkeit und ihrer Vermittlung nachgedacht werden musste. (4) Kritik an der Beschreibung des Gottesdienstes als Ritual richtete sich unter anderem gegen Jetters Formulierung vom »Gesamtritual«. Dies schien sämtliche Formen (vermeintlich) nichtritueller Kommunikation, zu vernachlässigen, allen voran die Predigt. Jetters Argumentation zielte aber hauptsächlich darauf, die Unausweichlichkeit von Ritualisierungsprozessen im Kontext sich wiederholender Handlungen mit symbolischer Prägung zu verdeutlichen. Er konnte zeigen, weshalb auch die Predigt in dieser Weise zu verstehen ist. Die Auseinandersetzung mit dem rituellen Charakter des Gottesdienstes war nicht nur eine Erweiterung evangelischer Liturgik um einen neuen, interdisziplinär gewonnenen Aspekt, sondern eine Öffnung hin zur Wahrnehmung der konkreten Praxis. Diese war (und ist) trotz aller Wortlastigkeit und Intellektualisierungstendenzen stark geprägt von rituellen Vollzügen404 – ohne dass damit notwendigerweise eine Einschränkung seiner Leistung als Mittel der Kommunikation des Evangeliums verbunden ist. Einerseits wollte Jetter also eine einseitige Betonung des »Einbruchs- und Umbruchscharakters [des] gottesdienstlichen Geschehens«405 und der vermeintlich per se ritualkritischen Haltung evangelischer Liturgie überwinden. Andererseits strebte er die Professionalisierung liturgischer Praxis durch eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Ritual und seinen Regeln in der theologischen Aus- und Weiterbildung an. Wenn auch ohne explizite Verwendung des Begriffs beschreibt auch die Studie Gemeinden erleben Gottesdienst von Karl-Fritz Daiber u. a. den Gottesdienst als »Gesamtritual«. Dabei wird der Ritualbegriff um prozessuale Aspekte erweitert und der Gottesdienst als mehrstufige Abfolge mit dem Ziel der Gottesbegegnung verstanden. Die zunächst pauschale Beschreibung des Gottesdienstes als Ritual wird nun an den einzelnen liturgischen Elementen konkretisiert und das Spektrum ihrer jeweiligen Funktionen und Bedeutungen näher bestimmt. Dabei lässt sich beobachten, wie unter der Hand die Beschränkung von Ritual und agendarischem Gottesdienst auf die Funktionen von Stabilisierung und Ordnungsstiftung aufgelöst wird. Zuvor hatte man lediglich den freien Formen das Potenzial eingeräumt, transformative Dynamik zu evozieren und dem sozialkritischen Anspruch des Evangeliums gerecht zu werden. Die rituellen Prozesse resultieren bei Daiber noch ganz aus dem theologischen Ziel der »Bundeserneuerung« und werden ausschließlich auf die Gemeinde als Ganze bezogen. Die spezielle Verbindung von indivi404 So auch bereits in seinem Rückblick auf die 70er Jahre Meier: Der Gottesdienst, 193 f.: »Faktisch aber war und ist er [sc. der Gottesdienst, RG] zumeist bestimmt durch ritualisiertes Verhalten und eine weitgehende Überlagerung der verbalen und kognitiven Zielsetzungen durch emotionale Ausdruckselemente und Wirkungen.« 405 Mohaupt: Feiern – Hören – Handeln, 40.
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duellem und kollektivem Erlebnis, welche das Ritual kennzeichnet, war damit noch nicht hinreichend beschrieben. Ein prozessuales Verständnis des Gottesdienstes aus der Wahrnehmung der Teilnehmer und im Austausch mit ihnen zu gewinnen, wurde innerhalb der liturgischen Ritualtheorie auch seither nicht weiterverfolgt. Diesem Anliegen widmen sich die Ausführungen im dritten Teil der vorliegenden Arbeit. (5) Anstatt der lange tradierten Entgegensetzung von rituellem Handeln und Erleben auf der einen Seite und diskursiven religiösen Deutungsprozessen auf der anderen Seite weisen die hier untersuchten empirischen Untersuchungen auf eine Verbindung von Ritual und Deutung hin. Daiber u. a. haben auf das starke Mitteilungsbedürfnis über rituelles Erleben hingewiesen. Darin äußern sich reflexive und interpretative Ansprüche, die nach einer Aufnahme in die liturgischen wie oikodomischen Konzepte verlangen. Der Blick richtet sich aber auch auf die bei Jetter dargestellte Bandbreite dessen, was als Interpretation und somit als Durchdringung und Aneignung des Rituals gewertet werden kann. Neben der Predigt und anderen Formen diskursiver Auseinandersetzung treten die wiederholte, bewusst als Darstellung angelegte rituelle Handlung selbst, die als eigene Formen von Rationalität gewertet werden kann.406 (6) Sämtliche Texte lassen das gemeinsame Interesse erkennen, die Pluralität liturgisch-ritueller Bedürfnisse neu zu würdigen und theoretisch zu erschließen. Aber nicht nur die Auseinandersetzung mit ritualtheoretischen Fragen und die Konzentration auf rituelle Vollzüge in der Kasualtheorie undpraxis war eine »Strategie volkskirchlichen Handelns« (Jetter). Vielmehr muss das rituelle Handeln selbst als volkskirchliche Religionspraxis und somit als religiöse Strategie verstanden werden, die nicht allein auf traditionsorientiertes, übernommenes Verhalten zurückführbar ist. Erst die soziologisch orientierten Forschungen im Zuge der empirischen Wende haben auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht und dazu beigetragen, die Distanz zwischen alltäglich gelebter und kirchlich gelehrter Religion zu verringern. In diesem Zusammenhang wuchs auf der Ebene liturgischer Praxis die Einsicht, dass auch der agendarische Gottesdienst als Ritual die religiöse Produktivität zu fördern vermag. Es bleibt zu betonen, dass die Stärke der in den 1970er Jahren erarbeiteten ritualtheoretischen Ansätze sich der engen Verbindung von Theoriebildung 406 Das Wechselverhältnis von Ritus und Rede wird gegenwärtig wieder stärker betont. Vgl. Michael Meyer-Blanck: Ritus und Rede. Eine Verhältnisbestimmung auf dem Hintergrund ökumenischer Theologie, in: Alexander Deeg u. a. (Hg.): Gottesdienst und Predigt – evangelisch und katholisch, Neukirchen-Vluyn 2014, 11–39 sowie der generelle Anspruch der mit diesem Band begründeten Reihe Evangelisch-katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt (EKGP), in der auch die vorliegende Studie erscheinen darf.
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und empirischer Forschung verdankt. Bei isolierter Lektüre allgemeiner Auflistungen der Funktionen von Ritualen kann dies leicht übersehen werden. Mit der Veränderung von Frömmigkeits- und Gemeindetypologien in späteren Jahren konnten die früheren Theorien leicht als unzureichend erscheinen. Im zweiten Teil der Arbeit soll deutlich werden, dass die empirischen Befunde der früheren Studien bereits zahlreiche Anknüpfungspunkte an gegenwärtige Fragestellungen enthalten. Mithilfe neuerer Ritualtheorien ist dann erneut nach den formalen Merkmalen ritueller Handlungen, nach der Wahrnehmung der Handlung aus Sicht der Teilnehmer und nach der Verbindung von Handlung und Deutung zu fragen. Diese gerade für ein protestantisches Verständnis des Rituals Gottesdienst zentralen Aspekte konnten bisher nicht hinreichend erklärt werden.
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3 Die Entfaltung des ritualtheoretischen Diskurses Der Blick in die Lehrbücher zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Ritualität im Rahmen der anthropologischen Fundierung der Gottesdiensttheorie seit Beginn der 1980er Jahren zum Standard der Gottesdienstlehregeworden geworden ist.407 Schon 1988 sprach Hans-Günter Heimbrock allerdings von einer »kaum übersehbaren Fülle relevanter Literatur« im Bereich Ritualtheorie.408 Die Bandbreite dessen, was seither unter Ritualen verstanden wird, reicht von Goffmans Interaktionsritualen bis zu Ritualen im Umgang mit modernen sozialen Medien und findet in der praktisch-theologischen Literatur einen entsprechenden Niederschlag. Im folgenden Kapitel soll daher ein Überblick über zentrale Perspektiven des Ritualdiskurses gegeben werden, wobei nicht nur die Theoriebildung selbst, sondern auch die angestrebten Ziele der Gestaltung liturgischen Praxis herausgearbeitet. Dabei kann freilich weder die gesamte verfügbare Literatur dargestellt werden, noch sollen sämtliche Definitionen des Ritualbegriffs analysiert und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Ritualtheoretische Zugänge zum Sonntagsgottesdienst stehen vor dem Problem, diesen innerhalb der üblichen Ritual-Taxonomien nur schwer einordnen zu können. Allein die Vielzahl derartiger Ordnungsversuche führt bereits die Problematik solcher Konstruktionen vor Augen.409 Lassen sich Kasualien noch plausibel lebenszyklischen Ritualen, das Weihnachtsfest kalendarischen Riten zuordnen, so sind beim Sonntagsgottesdienst höchstens Schnittmengen auszumachen, die er etwa mit Fest-, Reinigungs- oder Heilungsritualen teilt. Daher liegt es nahe, den Gottesdienst stattdessen unter dem Vorzeichen bestimmter Paradigmen zu untersuchen. Der jeweilige Fokus der 407 Vgl. u. a. Josuttis: Der Gottesdienst als Ritual; Volp: Liturgik, Bd. 1, 56–69; Karl-Heinrich Bieritz: Anthropologische Grundlegung, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber (Hg.): Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 3 2003, 95–128, 119–126; Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, 40–51. Bereits Peter Cornehl setzt in seinem vielfach rezipierten Aufsatz zur Bestimmung der Aufgaben der Gottesdiensttheorie mit einer »theologisch-anthropologischen Grundlegung« ein (Aufgabe und Eigenart einer Theorie des Gottesdienstes. Zum Stand der Debatte, in: PThI 1 [1981], 12–37). Das Thema Ritualität wird dabei nicht verhandelt. Dass in anderen praktisch-theologischen Disziplinen ein positiv besetzter Ritualbegriff erst wesentlich später Einzug gehalten hat, zeigt etwa für die Religionspädagogik Hans-G nter Heimbrock: Religiöse Entwicklung und die rituelle Dimension, in: Karl E. Nipkow/ Friedrich Schweitzer/James W. Fowler (Hg.): Glaubensentwicklung und Erziehung, Gütersloh 1988, 193–207. Heimbrock erachtet es auch 1988 noch für notwendig, rituelle Praxis von einer exklusiven Bindung an die Frühphase religiöser Entwicklung zu lösen, wie dies im bekannten Stufenmodell von Fritz Oser und Paul Gmünder erfolgt. 408 Ders.: Ritual als religionspädagogisches Problem, in: JRP 5 (1988), 45–81, 51. 409 »Almost all of the theories of ritual […] come with their own typologies or classification systems for analyzing the plethora of ritual activities« (Catherine M. Bell: Ritual. Perspectives and Dimensions, New York 2009 [1997], 93).
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ritualtheoretischen Analyse steht dabei in engem Zusammenhang mit der gewählten oder für den einzelnen Autor besonders prägenden Bezugswissenschaft. Dadurch ist die Wahrnehmung des Gesamtphänomens Gottesdienst mitunter reduktionistischen Tendenzen unterworfen. Neben dem bereits ausführlich erörterten soziologischen Zugang sollen nun psychologische, kommunikationstheoretische sowie spiel- und alltagstheoretische Zugänge näher dargestellt werden.
3.1 Zwischen Heil und Heilung – psychoanalytische Zugänge zum Ritual »Kann Liturgie eine therapeutische Intervention bewirken, wissen wir, was wir selbst als Liturgen an heilender und zerstörender Dynamik auslösen oder verstärken, und zu welchem Ziel? Kurz: Gottesdienst als Behandlung!?«410 Was hier von Jürg Kleemann im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit Werner Jetters Symbol und Ritual noch mit einem Fragezeichen versehen wird, stellte schon bald eine weithin geteilte Überzeugung dar. Die »heilsame« Dimension rituellen Handelns wurde dabei in sehr unterschiedlicher Weise Gegenstand liturgischer Forschung. Bei Karl-Fritz Daiber (2.4.3.1) war das Ritual des Gottesdienstes als Prozess der problemlösenden Begegnung von Gott und Mensch bereits thematisiert worden. Dieser Prozess betraf dort ausschließlich die Gemeinde als Ganze. Einen stärker individuellen Zugang hatte Eilert Herms gewählt (2.4.2.4), der dafür auch auf psychoanalytische Konzeptionen zurückgriff, in denen die Begriffe ›Symbol‹ und ›symbolischen Kommunikation‹ eine zentrale Rolle spielten. Beide Autoren waren mit ›Symbol‹ und ›Ritual‹ auf dem Gebiet der Seelsorge in Kontakt gekommen.411 Im Verhältnis zu den bisher untersuchten, vorwiegend soziologischen Zugängen zum Ritualbegriff werden nun die inneren Prozesse zum Thema, welche der Ritualvollzug im Menschen auslöst. Dabei wurden die auf dem Gebiet der Seelsorge zunehmend wichtiger werdenden Ansätze Sigmund Freuds oder Erik Eriksson für die Liturgik fruchtbar gemacht. Für die Rezeption Freuds bedeutete dies eine erhebliche Verschiebung. Sein ritualkritischer Ansatz, der eine Parallele zieht zwischen neurotischen Zwangshandlungen und den »Verrichtungen […,] durch welche der Gläubige seine Frömmigkeit bezeugt«412, wurde in ein therapeutisches Modell liturgisch-ritueller Prozesse überführt. Dies ermöglichte eine vertiefte Auseinanderset410 J rg Kleemann: Symbol und Ritual. Erfahrungen mit einem Buch von Werner Jetter, in: JLH 23 (1978), 102–107, 105. 411 Vgl. etwa die zahlreichen Veröffentlichungen Joachim Scharfenbergs: u. a. Ders.: Symbol, in: Hans J. Schultz (Hg.): Psychologie für Nichtpsychologen, Berlin 51982 [1974], 330–340; Ders./Horst K mpfer: Mit Symbolen leben. Soziologische, psychologische und religiöse Konfliktbearbeitung, Olten/Freiburg i. Br. 1980. 412 Sigmund Freud: Zwangshandlungen und Religionsübungen, in: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt a. Main 111989, 11–21, 13.
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zung mit der inneren Logik des gottesdienstlichen Rituals, seinen einzelnen Elementen sowie seinem Gesamtablauf.
3.1.1 Rituale im Rahmen »therapeutischer Seelsorge« 3.1.1.1 Rituelle Praxis als pastoraler Versöhnungsdienst (D. Stollberg) Zur Annäherung an die Auseinandersetzung mit den psychologischen Funktionen und Wirkungen des Rituals im Gottesdienst lohnt ein Blick in Dietrich Stollbergs Dissertation von 1968, in der er sich mit der amerikanischen Seelsorgebewegung auseinandersetzte.413 Stollberg, der auch eine psychoanalytische Ausbildung absolviert hatte, zeigt unter dem Titel Therapeutische Seelsorge auf, inwiefern der kontinentaleuropäisch noch immer dominierende Verkündigungscharakter in den amerikanischen Ansätzen zugunsten des Gesprächs als zentralem Medium der Seelsorge in den Hintergrund tritt. Dadurch wird die persönliche, partnerschaftliche Begegnung zwischen den Beteiligten zur Voraussetzungen für das Gelingen einer seelsorgerlichen Beziehung.414 Obgleich seelsorgerliche Beziehungen ihre konkrete Ausformung der Individualität der Beteiligten verdanken und daher einmalig und unwiederholbar sind, trifft Stollberg auf einen Ansatz, der die Bedeutung wiederholbarer, vorgegebener Rituale für die Seelsorge neu ins Blickfeld rückt. Stollberg greift unter anderem auf die 1964 erschienene die Geschichte der Poimenik von William A. Clebsch und Charles R. Jaekle (Pastoral Care in Historical Perspective) zurück. Die Autoren unterscheiden vier grundlegende Funktionen bzw. Gestalten von Seelsorge: Heilung (healing), Bewahrung (sustaining), Beratung (guidance) und Versöhnung (reconciling). Damit widersprechen sie einer einseitigen Ausrichtung auf ein bestimmtes, im amerikanischen Raum vorherrschendes psychologisches oder psychoanalytisches Konzept, das Seelsorge vorwiegend mit Lebensberatung gleichsetzt. Das Versöhnungshandeln hingegen (reconciling), dass im Christentum in der Form von Beichte und Absolution verwirklicht wird, sahen sie gegenwärtig vernachlässigt. Die damit verbundene Unterbewertung des Ritus, die zudem einen Bruch mit der christlichen Tradition darstellt, gelte es zu überwinden. Gegenwärtig vorherrschende Individualisierungsprozesse hätten auch in der Kirche zu »ritueller Armut« geführt sowie zu einem Mangel an »allgemeinverständlichen Symbolen als Mitteln seelsorgerlicher Kommunikation« (316). Die Chance der Neuentdeckung der Riten lag aber nicht nur in ihrer sozialen 413 Dietrich Stollberg: Therapeutische Seelsorge. Die amerikanische Seelsorgebewegung. Darstellung und Kritik, München 1969, 146 Die folgenden Seitenzahlen im Text entsprechen dieser Ausgabe. 414 Seelsorge werde »nicht ›gespendet‹, sondern gemeinsam vor Gott ›erlebt‹« (aaO., 136).
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Funktion. Sie können zudem Riten der Erneuerung pastoraler Autorität im Sinne anerkannter Handlungskompetenz dienen, da gegenwärtig »die pastorale Autorität und ihre helfende, heilende Kraft […] direkt proportional zum Abnehmen des Ritus« (315) schwinde.415 Das Fazit lautet daher: »Mißachtet die Kirche den Ritus, verliert sie ihn an andere helfende Berufe, die sich seiner dann evtl. in einer für die Kirche keineswegs wünschenswerten Weise bedienen« (317). Clebsch und Jaekle gehen somit von pastoralpsychologischen, am Einzelnen und der individuellen Begegnung orientierten Überlegungen aus und fragen nach den sozialen Voraussetzungen der Seelsorge. Dabei kommen sozial eingeübte, im Bedarfsfall für den Einzelnen bereitliegende Riten neu in den Blick, die sie zugleich als Spezifikum kirchlicher Seelsorge im breiten Feld allgemeiner Lebensberatung sehen. In Stollbergs anschließenden Überlegungen zu einer systematischen Bestimmung der Seelsorge fließt der zuvor ausführlich dargestellte Ansatz von Clebsch und Jaekle nicht ein. Grund dafür dürfte die negative Prägung des Ritualbegriffs bis Anfang der siebziger Jahre sein (s. u. 4.2). Deutliche Spuren lassen sich dennoch erkennen, die wiederum auch ritualtheoretisch von Interesse sind.416 Einer der zentralen Gedanken war das Ziel der Seelsorge nicht in der Wiederherstellung eines status quo ante zu begrenzen, sondern eine neue Stufe der Integration der ganzen Identität anzustreben (»restoration in advance«, vgl. 308). Seelsorge solle nicht zurückblicken, sondern eine neue Zukunft eröffnen. Stollberg integriert diesen Ansatz in seine Definition: »So kommt die Seelsorge gerade dadurch zustande, daß eschatologisch bestimmter Glaube und empirisch-natürliche Vorfindlichkeit des Menschen zusammentreffen« (158). Um in der Seelsorge etwa sichtbar und erlebbar wird, was gegenwärtig noch aussteht, spielt die Verwendung von Symbolen eine wichtige Rolle, die innerhalb der neueren, psychologisch wie psychoanalytisch geprägten pastoraltheologischen Ansätze eine immer größere Bedeutung gewann. Seelsorgerliche Kommunikation – auch nicht verbale – sollte nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Erfahrung zum Ausdruck bringen, wie sie in Symbole bewahrt ist (vgl. 151). 3.1.1.2 Rituale als Erfüllung der Sehnsucht nach »Ganzheit« (H.-J. Thilo) Hans-Joachim Thilo war ebenfalls zunächst hauptsächlich auf dem Gebiet der Poimenik hervorgetreten und hatte sich intensiv damit befasst, psychoanalytisches Wissen und therapeutische Ansätze für die Seelsorge fruchtbar zu 415 In Stollbergs Zusammenfassung seiner eigenen Ergebnisse heißt dies dann schlicht: »Die Verwirklichung der Seelsorge entscheidet sich darum an der Person des Seelsorgers« (ebd.). 416 Man darf vermuten, dass die hier gemachten ersten Begegnungen mit der positiv formulierten Leistungsfähigkeit von Ritualen nicht nur den Seelsorger, sondern auch den Liturgen Stollberg nachdrücklich beeinflusst haben (vgl. Ders.: Liturgische Praxis. Kleines evangelisches Zeremoniale, Göttingen 1993).
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machen. Der »Nestor der deutschen Pastoraltheologie« (Stollberg)417 war nicht zuletzt aufgrund persönlicher Prägung zugleich von einem starken Interesse an liturgischen Fragen umgetrieben und wollte dazu beitragen, die rituell geprägten liturgischen Formen aufgrund ihrer therapeutischen Wirkung neu für den Protestantismus zu entdecken. Dieses Anliegen verfolgte er bereits in seinem vielfach rezipierten Frühwerk von 1957, Der ungespaltene Mensch. Darin entwirft er, ausgehend von der Einheit von Leib, Seele und Geist im Menschen, Perspektiven einer religiösen Praxis, die dieser Ganzheit entsprechen, und fragt in der »Unzeit des Glaubens« nach Formen, diesen Glauben ganzheitlich zu vermitteln. Für Thilo bietet der Glaube inmitten der Fragmentarität des Lebens Formen an, welche die Fülle des Lebens »blitzlichtartig« erfahrbar machen, die aber auch dabei helfen, diese Fragmentarität gemeinsam auszuhalten. Hierin besteht für ihn die wichtigste Funktion der Seelsorge. In einer für diese Zeit, zumal aus protestantischer Sicht, erstaunlichen Offenheit, in der er etwa die Meditation als Nachvollzug des Geheimnisses Christi würdigt, richtet er seinen Blick auf rituelle Vollzüge des Glaubens, auf die Eucharistie, insbesondere aber auf das Stundengebet. Es steht für ihn nicht nur für eine religiöse Praxis, die im Einklang mit den Zeitverläufen der Natur steht, sondern auch für eine Möglichkeit des Wiedergewinnens des geprägten, formulierten Gebets. Die Komplet ist für ihn nicht nur eine »seelsorgerliche Notwendigkeit«, sondern gar eine Form von »Therapie«418: aus der Gemeinschaft der nächtlich Verzweifelten, der Nichtschlafenkönnenden wird eine Gemeinschaft der Anbetenden, die aus Grübelei und Isolation befreit. An diese Überlegungen knüpfte Thilo an, als er 1985 Die Therapeutische Funktion des Gottesdienstes erörtert und wiederum ausgehend von der Gespaltenheit des menschlichen Daseins in der Trias von Leib, Geist und Seele nach Zugängen zur »Ganzheit« und Fülle des Lebens sucht. Die Aktualität seiner Fragestellung sieht er in einer zeitgeschichtlichen Analyse begründet. Für die letzten Jahrzehnte sei eine neue »Sehnsucht nach Ganzheit« zu bemerken, die insbesondere unter jungen Menschen einen Wertewandel er417 Ders.: Psyche und Wort. Zum Tode von Hans-Joachim Thilo am 23. Januar 2003, in: WzM 55 (2003), 181–183, 181. Stollberg und Thilo waren beide an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) 1972 beteiligt, beide waren therapeutisch und supervisorisch tätig und beide waren zugleich eng mit der Evangelischen Michaelsbruderschaft verbunden. Während Thilo seinem liturgischen Interesse als Pastor der Lübecker Marienkirche nachgehen konnte, wohnte Stollberg in Möhrendorf bei Erlangen und konnte dort unter dem langjährigen Pfarrer Heinrich Krimpelbein (Amtszeit 1968–1999) besonders hochkirchlich geprägte Gottesdienste feiern (vgl. auch die in Anm. 416 genannte Publikation). Die personale Verbindung von Theologie und Psychoanalyse reicht freilich historisch weiter zurück. Zu nennen wäre etwa Otto Haendler (1890–1981), der bereits in den 1930er Jahren eine psychotherapeutische Ausbildung absolvierte. 418 Hans-Joachim Thilo: Der ungespaltene Mensch. Ein Stück Pastoralpsychologie, Göttingen 1957, 157.
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kennen lässt, der die »Anerkennung der non-verbalen Prägekräfte« ebenso umfasst wie einem »neuen Traditionalismus«419. Dieser mit dem auch heute geläufigen Stichwort der »Sehnsucht nach ›Spiritualität‹« (9) versehene Wandel findet Thilo zufolge »in unseren herkömmlichen Gottesdiensten noch kaum eine Entsprechung« (215). Mit dem Nachweis der seelsorgerlichen, ja therapeutischen Funktion des gottesdienstlichen Rituals verbindet sich also die Hoffnung auf eine veränderte liturgische Praxis. Erfahrungen von »Ganzheit« können medizinisch und psychologisch zugleich als Gesundheit beschrieben werden. Was aber heißt ›gesund‹ und inwiefern kann der Gottesdienst ›gesund‹ machen? Eine der wichtigen Erkenntnisse der Psychoanalyse ist für Thilo die Einsicht in den sozialen Charakter von Gesundheit, der etwa Beziehungs- und Liebesfähigkeit einschließt. Dem entspricht auf theologischer Ebene die Sünde als Krankheit des Menschen, die sich in verschiedenen Formen von ›Schuld‹ äußert, die jeweils eine Störung in der Beziehungsfähigkeit des Menschen bedeutet sowohl zu sich selbst als auch zu seinen Mitmenschen. Die Überwindung der dieser Schuld, die er auch als Überwindung der fundamentalen Dichotomie von (beweisbarer) Realität und (nur erfahrbarer) Wirklichkeit beschreibt, findet Thilo in den kulturellen Phänomenen von Fest, Symbol und Ritual. Rituale fördern »die Eingeordnetheit, die Sichtbarmachung der Harmonie und dienen damit der Herstellung von Ganzheit« (40). Sie tun dies, indem sie zur »Stabilisierung des mitmenschlichen Verhaltens« (ebd.) beitragen, da sie »Sicherheit« und »Klarheit« bieten und damit zugleich »Perspektiven neuer Lebensgestaltung« (21). Um zu zeigen, dass der Gottesdienst als Ritual tatsächlich »gesund« macht, setzt sich Thilo zunächst mit den Einwänden Sigmund Freuds auseinander. Freud hatte kritisiert, dass im Ritual neuralgische Punkte der psychologischen Entwicklung wie Sexualität und Aggressivität tabuisiert und sublimiert würden zugunsten einer infantilen, verdrängenden »Harmonisierungssehnsucht«, welche eine psychische Reifung verhindere. Dieser Kritik begegnet Thilo indem er im Gottesdienst das von Freud für den psychischen Heilungsprozess grundlegende Schema von »Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten« aufdeckt und nachweist, »daß eben dieser Dreischritt im Aufbau religiöser Rituale uns immer wieder begegnet und grundlegend – wenn auch wohl unbewußt – den liturgischen Meßkanon der Kirche geformt hat« (22). Um den von Freud benannten Gefahren des Rituals zu entgehen, beinhaltet der Gottesdienst für Thilo selbst Mechanismen, die zum einen einer bloßen 419 Ders.: Die therapeutische Funktion, 93.215; die folgenden Seitenzahlen im Text entsprechen dieser Ausgabe. Interessant ist, dass Thilo die »neue[n] Formen traditionsgeleiteter Kirchgänger« (aaO., 212) gerade unter jungen Menschen nicht auf die Gottesdienstumfragen der 70er Jahre bezieht. Seine Analyse beruhte auf einer eigenen, nichtrepräsentativen Lübecker Studie, die »durch eine Fragebogenaktion nach dem Gottesdienst zu erfahren [suchte], wie der Besucher eines Gottesdienstes heute das empfindet, was an Gefühlen, Eindrücken und Erinnerungen in ihm wach wird« (aaO., 9).
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»Anpassung« der Akteure entgegensteuern, bei der der Einzelne Fremdes (Handlungen, Vorstellungen) unter Aufgabe des Eigenen annimmt. Das Ritual zielt stattdessen auf »Einpassung«. Hier greift Thilo als Beispiel das Glaubensbekenntnis heraus. Nach dem gemeinsamen Überschreiten der Schwelle im anfänglichen Schweigen zu Beginn des Gottesdienstes wie auch im Introitus wird mit dem Glaubensbekenntnis der Schritt vom Wir zum Ich vollzogen. Dieses »Ich« ist das notwendige Signal, dass die Übernahme des Rituals als des Fremden gerade die Stärkung der Individualität zum Ziel nennt, die Thilo im Begriff der »Einpassung« (vgl. 87) fasst. Zum anderen verhindert das gottesdienstliche Ritual eine falsche Regression, die bei bloßer Wiederholung stehenbleibt, ohne zu Erinnerung und Durcharbeitung vorzudringen. Kurz: Im Gottesdienst geht es nicht um »Verdrängung«, sondern um »Integration«. Ohnehin sei Regression nicht mehr nur negativ zu bewerten, sondern nehme eine Entlastungs- und insofern lebensbewältigende Funktion wahr: »Im Gottesdienst kann ich mich dem Vertrauten, dem Gewohnten ohne Gefahr hingeben. [… Er] ist das Rasthaus, in das wir müde einkehren. Hier genießen wir, hier erfrischen wir uns. Aber alles nur zu dem Zwecke, um uns wieder auf die staubige Straße des Lebens zu begeben« (42). Der Gottesdienst ist als Regression somit Recreatio. Thilos Argumentation für die therapeutische Wirkung beschreibt jedoch zunächst lediglich das Potenzial des Gottesdienstes, das nicht selten in sein Gegenteil verkehrt wird. Auch er betont also die Ambivalenz des Rituals, sein »Doppelgesicht«. Fragt man noch einmal nach den Voraussetzungen für den therapeutisch wirksamen Ritualvollzug, so scheint das Bild der Krankheit bzw. der Sünde mehrfach problematisch. Thilo setzt die Handlungsmotivation mit der ›Sündigkeit‹ des Menschen in Beziehung. Deren Vergebung wird im Gottesdienst zwar zugesprochen, doch wird die Ursache dabei nicht aufgelöst. Die Vergebung ermöglicht ja gerade ein neues Leben unter Einbeziehung der Tatsache, dass der Mensch simul iustus et peccator bleibt. Problematisch ist auch die im Bild der Krankheit implizierte Notwendigkeit zum Ritualvollzug. Jener Mehrzahl der Christen, die nur sehr selten am Gottesdienst teilnimmt, wäre dann ein Verdrängen dieser Krankheit zu attestieren. Der freiheitliche Impetus zum Gottesdienst geht verloren und das Ritual verbleibt im Kontext zwanghaften Handelns. Dies ist insofern plausibel, da der Mensch eben in seinem religiösen Bedürfnis nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf einen inneren Mangel reagiert – traditionell als Mangel an Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe beschrieben. Eine positivere Motivation zum Ritualvollzug wäre der Ausgang vom religiösen Bewusstsein des Menschen, wie er sich in der Tradition liberaler Theologie findet. Auch darüber hinaus kann Thilos Durchgang durch den Messgottesdienst420 (80–97) der Beweislast jedoch nur eingeschränkt gerecht werden. Zum einen 420 Auch der ebenfalls nicht nur als praktischer Theologe, sondern auch als Psychoanalytiker
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wird das Freudsche Schema inhaltlich kaum präzisiert und auf die Theologie übertragen, zum anderen kann es nur lose auf die einzelnen Elemente appliziert werden – nicht zuletzt deshalb, weil der Bezugspunkt unklar bleibt, der zwischen der evangelischen Ordnung, historischen Entwicklungsstufen und Seitenblicken auf die römisch-katholische Feierpraxis schwankt. Können Erinnerung und Wiederholung an unterschiedlichen Orten nachgewiesen werden, fällt der Aspekt der Durcharbeitung nahezu komplett aus.421 Diese Verknüpfung des Rituals mit dem Gesamtablauf des Messgottesdienstes zeigt dennoch, inwiefern Thilo die Annahme vom Gottesdienst als »Gesamtritual« teilt. Dabei führt er die Linie Daibers fort und versteht den Gottesdienst als dynamischen Prozess, nun aber nicht mehr in vorwiegend theologischer, sondern in psychologischer Begrifflichkeit.422 Auch die stark auf Jetter rekurrierende Festlegung des Rituals auf die Funktionen von Stabilisierung und Integration verlässt zugleich den zuvor konstitutiven soziologischen Rahmen. Auch bei Thilo stehen ›Symbol‹ und ›Ritual‹ in einem engen Verhältnis, deren Unterscheidung unklar bleibt. Während das ›Symbol‹ für ihn schlichtweg »da« ist unabhängig von seiner Rezeption, existiert das Ritual nicht unabhängig von seinem Vollzug. Das Ritual ist daher die »Wiederholung der symbolhaften Handlung« (39). Ein Aspekt der Ritualtheorie Hans-Joachim Thilos soll noch einmal näher erwähnt werden. Thilo geht der Frage nach einer für den Ritualvollzug vorauszusetzenden Haltung nach. Die für ein Fest konstitutive positive und akzeptierenden Einstellung (»Bring gute Laune mit!«) könne auch auf das Ritual übertragen werden. Wie das Fest so könne auch das Ritual Gemeinschaft stiften oder Gegensätze gerade hervortreten lassen. Die Frage nach den Voraussetzungen wird auch im Kontext der Auseinandersetzung mit einem tätige Joachim Scharfenberg unternahm einen Versuch, den Ablauf des Gottesdienstes hinsichtlich seiner pastoralpsychologischen Qualitäten zu befragen. In der Ordnung der Messe lässt sich für Scharfenberg eine »geheime Agenda und Geschäftsordnung eines seelsorgerlichen Gesprächs« finden, die etwas zutage treten lässt, »das wir in seiner ganzen Fülle noch nie ganz verstanden haben und an dem es noch immer Neues zu entdecken gibt« (Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen 1985, 101). Trotz des bewusst spielerischen Zugangs, der die innere Plausibilität einer häufig als bloße Tradition verstandenen Struktur aufweisen soll, erweist sich der Ansatz als durchaus problematisch. Der als Gespräch mit dem Liturgen (»Darf ich Dich ›Gottesmann‹ nennen …? […]Es ist John Patton.«) inszenierte Durchgang scheint ein eigentümliches Bild pfarrerzentrierter Liturgie zu verstärken, nicht zuletzt durch eine starke Nähe zum römisch-katholischen Priesterbild: »Noch einmal sehe ich Dein Angesicht leuchten, Gottesmann, aber es ist nicht mehr Dein Gesicht allein, auf einmal wird es mir durchsichtig, und ich vermag das Angesicht zu sehen, das über meinen Anfängen geleuchtet hat« (aaO., 105). 421 Der Begriff des »Durcharbeitens« ist bereits in dem zugrundeliegenden Aufsatz bei Freud kaum ausgearbeitet. Zu den Anfragen an den Bezug zur psychotherapeutischen Therapie als Grundlage einer Analyse des Gottesdienstes s. u. (3.1.3). 422 Der theologische Anspruch bleibt dabei bestehen, geht es Thilo doch darum, »Theologie mit dem Rüstzeug der Psychologie zu betreiben« (Thilo: Die therapeutische Funktion, 43).
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ethologischen Ritualbegriff behandelt. Thilo lehnt eine Übertragung der Ergebnisse von Tierstudien zwar ab, will aber die dort gewonnene Einsicht in Kontextualität der Gültigkeit von Ritualen festhalten: »Rituale entfalten ihre Bedeutung stets nur für spezielle Gruppen« (21). Folglich sind für den Vollzug des Rituals »soziologisch und weltanschaulich harmonisierende« Gemeinschaften vorauszusetzen. Diese Argumentation steht nicht nur in Spannung zu Thilos eigenem Ansatz der Ganzheitlichkeit, die kaum mit umfassender »weltanschauliche Harmonie« gleichzusetzen sein dürfte. Bereits Lohse (2.4.1) hatte nachgewiesen, dass die Basis kollektiven rituellen Handelns weder auf der Ebene geteilter Weltanschauung noch auf der Ebene persönlicher Bindung liegt, sondern vielmehr in einer gemeinsamen Akzeptanz der rituellen Handlung selbst. Erst dadurch wird es möglich, dass weltanschaulich plurale (und sich zunehmend pluralisierende) Gruppen wie die Sonntagsgemeinde gemeinsam dasselbe Ritual vollziehen. Fragt man abschließend nach Zielen, die eine solche rituell-therapeutische Theorie des Gottesdienstes für die liturgische Praxis verfolgt, rückt noch einmal die Sehnsucht nach »Ganzheitlichkeit« in den Fokus. Diese umfasst für Thilo sowohl die »gesunde Neuentdeckung der Emotionalität« als auch »die Wiederentdeckung symbolischer Gesten und sich daraus entwickelnder Verhaltensformen« (81) und befördert eine »völlig neue Form der Kommunikation, nämlich die auf der non-verbalen Ebene« (82). Trotz seiner »hochkirchlichen« Prägung vermeidet Thilo einseitige oder radikale Reformvorschläge traditioneller oder progressiver Art. Vielmehr geht es ihm darum, einen Prozess anzustoßen, der zu einer handelnden Ästhetik führt, die wiederum der »Sichtbarmachung der unsichtbaren Wirklichkeit mitten in der sichtbaren Realität« (216) dient. Dazu zählen Fragen der Sakralarchitektur und Raumgestaltung (Paramente), aber auch von Handlungsvollzügen wie Prozessionen oder Gesten. Die liturgische Form, welche dem Kriterium der »Ganzheitlichkeit« am stärksten gerecht wird, ist für Thilo gleichwohl die Messe. Mit ihr verbunden ist das deutliche Werben für die Re-Integration des Herrenmahls in den Gottesdienst, das er als »heilendes Geschehen« versteht, in dem die erwähnte Spannung von Realität und Wirklichkeit aufgehoben ist: »Nur einen für Christen legalen Ort können wir angeben, an dem durch die Zerbrochenheit die Ganzheit für wenige Augenblicke hindurchscheint: Die Feier der Eucharistie« (184). Die Wiedergewinnung der Messform kann Thilo zufolge jedoch nur gelingen, wenn das Kriterium der Kontextualität in jeder Gottesdienstgestaltung gewahrt bleibt und wenn parallel dazu eine Aufwertung der Liturgie- und Ritualdidaktik stattfindet. Die Einführung in rituelle Vollzüge wie Knien, Kreuzschlagen oder Meditation und das Vertrautwerden mit dem Wegcharakter der Messe, welche die Strukturparallelen zur psychoanalytischen Therapie eröffnet und erfahrbar macht, findet zuerst innerhalb des bewusst gestalteten und gefeierten Gottesdienstes statt. Liturgiedidaktik, zumal die evangelische, muss aber auch für Thilo Erklärungen
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bereithalten (vgl. 81), wie der Gottesdienst überhaupt bei aller Fokussierung auf das Emotionale »durchaus eine Komplementierung durch das KognitivRationale einschließt« (70).
3.1.2 »Ritualismus in 1. Ableitung« (M. Meyer-Blanck) In der Reihe der Autoren, die sich im weiteren Sinn mit der »therapeutischen Funktion des Gottesdienstes« im Ausgang von Freuds Schema »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« auseinandergesetzt haben, ist schließlich Michael Meyer-Blanck und seine 1997 erschienene Schrift Inszenierung des Evangeliums zu betrachten. Im Kontext der Entstehung des Evangelischen Gottesdienstbuches wird ausgehend vom erwähnten Dreischritt die funktionale Leistungsfähigkeit des Gottesdienstes in Gestalt des Messform erwogen. Leitend ist dabei ein anthropologisch geprägtes Liturgieverständnis, dass die leiblich-sinnliche Qualität der Handlungen ins Zentrum rückt. Der in diesem Zusammenhang bedeutsame Ritualbegriff erfährt dabei eine Erweiterung und Neuausrichtung innerhalb der evangelischen Liturgik. Vorangestellt wird noch einmal die grundsätzliche Frage nach der Legitimität der Übernahme außertheologischer Begriffe für die Theologie. Statt der üblichen inkarnationstheologischen Begründung, welche das Menschliche pauschal für theologisch relevant erklärt, zieht Meyer-Blanck stattdessen trinitätstheologische Überlegungen heran. Diese können die Dynamik der GottMensch-Beziehung ebenso berücksichtigen wie sie einen kritischen Zuschnitt der theologischen Rezeption anthropologischer Einsichten erlauben. Auch bei Meyer-Blanck trifft man mit Freud, Erikson, Goffman und Durkheim erneut auf die bereits bekannten Theorieansätze. Die Verknüpfung theologischer Grundannahmen mit einer Vielzahl ritualtheoretischen Positionen führt jedoch nicht zu einer besonders komplexen, sondern im Gegenteil zu einer auffällig niederschwelligen Ritualdefinition: »Rituale sind Handlungsgewohnheiten einer Gemeinschaft, die wiederkehrende Situationen wiedererkennbar machen (selbstverständlich gibt es auch Rituale des einzelnen, wie das Ritual des Aufstehens am Morgen).«423
Die Definition hält die erwähnte Pluralität möglicher zu Ritualen offen. Gewöhnlich als zentral geltende Eigenschaften von Ritualen wie ihre symbolische Kommunikationsform oder soziale Funktion werden nicht erwähnt. Stattdessen wird die bewusste Inszenierung der Routine (»wiedererkennbar machen«) innerhalb eines sozialen Kontexts zum konstitutiven Merkmal erklärt. Im Zuge einer Näherbestimmung der Ritualität des evangelischen Gottesdienstes führt Meyer-Blanck den Ritualbegriff als Reflexionskategorie ein. 423 Michael Meyer-Blanck: Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, 43.
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›Ritual‹ beschreibt für ihn nicht zuerst eine konkrete Handlung, sondern impliziert bereits einen kritischen, genauer selbstkritischen Umgang mit dem ritualisierten Gefüge des Gottesdienstes: »Wer vom Ritual spricht, tritt denkerisch neben seine eigenen liturgischen Vollzüge.«424 Meyer-Blanck hält den Ritualbegriff daher besonders für die protestantische Liturgik für geeignet, weil er als dezidiert anthropologischer Begriff nicht in der Gefahr steht, eine eigene theologische Dignität anzunehmen (wie etwa der Begriff des ›Ritus‹). Der Ritualbegriff dient dazu, die Wurzeln und die Bedingtheit des eigenen Handelns sowie die Voraussetzungen der sozialen Existenz zu bestimmen. Dadurch erfährt er im Vergleich zur Ritualkritik der 1960er Jahre, die stets das Bedrohliche und die Eigendynamik des Rituals betonte (s. u. 4.2), eine Desakralisierung. Rituale sind nicht mehr Beschwörung und Bemächtigung des Göttlichen, sondern bewusste menschliche Inszenierung. Auf diese Weise gelingt es auch den Graben zu überwinden zwischen theologischer Begrifflichkeit und Alltagssprache, in der der Ritualbegriff mit der Überzeugung einhergeht, dass Menschen Rituale »brauchen«. Im derart bestimmten Ritualbegriff verbindet sich für Meyer-Blanck die Reflexion rituellen Handelns mit der »kritisch-reflektierende[n] Grundeinstellung«425 des Protestantismus im Ganzen, die wiederum in eins fällt mit einem wesentlichen »Kennzeichen der Moderne«, nämlich der »Selbstreflexivität«.426 Parallel zur Bestimmung des Ritualbegriffs als Reflexionskategorie beschreibt Meyer-Blanck den Ritualvollzug selbst. Dem Protestanten sei es überhaupt unmöglich, »ungebrochen« am Ritual teilzunehmen und »sich dem Ritual ganz auszuliefern«427. Weil für den Protestanten rituelles Handeln mit stetiger Reflexion einhergeht, kann er als »Ritualist in der 1. Ableitung«428 beschrieben werden. Vergleichbar mit der therapeutischen Maßnahme, dem Zwangsneurotiker die Wiederholung als Wiederholung einsichtig zu machen, vollzieht der Protestant das Ritual stets als Ritual. Der rituell Handelnde ist sich also stets der Tatsache bewusst, dass er rituell handelt. Meyer-Blanck wendet sich mit dieser Beschreibung gegen das etwa bei Thilo begegnende Ideal der »Ganzheitlichkeit«, der zufolge das Subjekt der Handlung im Handlungsvollzug das Bewusstsein seiner selbst verliert. Hinter einer solchen liturgischen Utopie sieht Meyer-Blanck den Rückfall in ein vorkritisches Zeitalter, wie er sich häufig innerhalb der liturgischen Bewegungen finden lässt. An das von Meyer-Blanck als paradigmatisch für den modernen, protestantischen Ritualvollzug beschriebene Nebeneinander von Handlung und Reflexion sind einige Anfragen zu richten: Zunächst ist zu fragen, ob es sich 424 425 426 427 428
AaO., 44. Ebd. AaO., 92. AaO., 91. AaO., 45.
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tatsächlich um eine spezifisch protestantische Fähigkeit bzw. Unfähigkeit handelt. Die bisherigen Überlegungen, insbesondere die historische Einordnung der Entdeckung der Ritualität hatten zum einen enge Parallelen mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, zum anderen parallele Entwicklungen im Katholizismus aufgezeigt. Der Versuch, eine veränderte, weniger unmittelbare Haltung zum Ritual nicht durch soziale Umbrüche oder den Verlust der Selbstverständlichkeit kirchlicher Formen im Rahmen von Säkularisierungsprozessen zu erklären, sondern innerhalb fester Konfessionsbilder zu verorten und dabei von einer »ungebrochenen« – und insofern vormodernen – römisch-katholischen Ritualität (»katholische religiöse Unmittelbarkeit«) auszugehen, kann kaum überzeugen. Nicht zuletzt die Transformation der römischen Liturgie infolge des Vaticanums widerspricht der These vom protestantischen Proprium. Nicht nur erfuhr darin die Predigt als Reflexionsform des Rituals eine erhebliche Aufwertung. Auch insgesamt kam dem Verstehen ritueller Vollzüge eine erhöhte Aufmerksamkeit zu, woraus wiederum liturgiedidaktischen Überlegungen resultierten. Im katholischen Umgang mit den Ergebnissen der Gottesdienstumfrage konnte diese anschaulich beobachtet werden (s. o. 2.4.2.1). Die zweite Frage richtet sich auf die Modernität eines selbstreflexiven Ritualverhaltens. Auch hier scheinen eher pauschale Vorstellungen ritueller Praxis außerhalb moderner westlicher Kulturen im Hintergrund zu wirken. Deren Widerlegung könnte zum einen bereits anhand der zahlreichen Ritualbeschreibungen des Alten Testaments erfolgen. Diese sind häufig von erkennbaren Interessen geleitet, die wiederum Reflexionsvollzügen darstellen, die von der Handlung selbst kaum vollständig abgetrennt werden können. Auch die Erkenntnisse der Ethnologie weisen deutlich in eine andere Richtung. Mary Douglas etwa konnte im Rahmen ihrer Feldforschungen ritualkritische Positionen in vormodernen Gesellschaften nachweisen (s. o. 2.5.4.2). Der weitgehende Verzicht auf die Rezeption ethnologische Forschungsergebnisse innerhalb der evangelischen Liturgie erweist sich auch hier als nachteilig. Geht man also grundsätzlich von einer bewussten Aneignungspraxis und der ständigen Adaption von Ritualen an veränderte Umweltbedingungen aus, kann die für Meyer-Blanck genuin protestantische Weise der »Aufnahme alter und fremder Rituale […] in reflexiv gebrochener Art und Weise« (92) weder als Kennzeichen der Moderne noch des Protestantismus gelten.429 Drittens wäre zu fragen, ob die von Meyer-Blanck beschriebene Parallelität von Handlungsvollzug und Reflexionspraxis überhaupt möglich und wenn ja, wünschenswert ist. Die ethnographische Methode der teilnehmenden Beob429 Es wäre dann auch zu fragen, warum diese Fähigkeiten angesichts der Omnipräsenz des Rituellen und Inszenierten auf das Gebiet der Liturgie beschränkt bleiben sollte, ob es folglich (nur) dem Protestanten dann auch im Stadion, im Theater oder auf der »Party« (Josuttis) unmöglich ist, sich der Sache »ganz auszuliefern«.
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achtung wird hier zum Dauermodus erhoben: »Evangelische Christen feiern Gottesdienst, indem sie immer zugleich Ritualtheoretiker sind, dieses wissen und dabei kein schlechtes Gewissen haben« (45). Dies steht zum einen in Spannung zu Beobachtungen zum Teilnehmerverhalten, wie sie bereits bei Jetter begegnet sind. Rituale, so Jetter, »konzentrieren den, der sie vollzieht, ganz auf den Vollzug«430. Zum anderen widerspricht die Formulierung der subjektiv empfundenen Ambivalenz dieser Reflexionsvollzüge, die sich »erst jenseits des Rituals stellen oder im rituellen Vollzug nur dann, wenn man innerlich aussteigt.«431 Gerade aufgrund der Suspendierung reflexiver Vollzüge wurde dem Ritual eine Entlastungsfunktion vom »Streß der Dauerreflexion«432 attestiert. Meyer-Blanck ist zwar darin zuzustimmen, dass die Tatsache eines mit dem Ritual verknüpften Reflexionsverhaltens kein Grund für ein »schlechtes Gewissen« ist, sondern möglicher, aber eben nicht notwendiger Bestandteil ritueller Praxis. Von rituellem Handeln ist auch dann zu sprechen, wenn keine unmittelbare Reflexion einsetzt, gehört es doch zur spezifischen Eigenart dieser Handlungsweise, die innere Ausrichtung und Haltung der Akteure auf die Handlung selbst zu fokussieren. Auch MeyerBlanck formuliert in diesem Sinne, dass »[d]ie Feier der Nähe Gottes […] eine Realität [bedeutet], die die Reflexionsfähigkeit des Menschen außer Kraft setzt« (92). Die Beschränkung der kognitiven Auseinandersetzung mit dem Ritual auf Formen der expliziten Selbstreflexion über die aktuelle Handlung als Ritual stellt daher eine unnötige Eingrenzung dar. War bei Jetter deutlich geworden, dass auch das Handeln selbst als eine Form der Interpretation des Ritus zu werten ist (2.5.3), so hatte der Blick auf kasualtheoretische Ansätze das Ritual als Form der Lebensdeutung insgesamt vor Augen gestellt (2.3). Obgleich Ritual und Reflexion bei Michael Meyer-Blanck also in besondere Nähe gebracht werden, wird letztere noch immer als dem Ritual äußerlich verstanden. Die vermeintlich spezifisch protestantische »Selbstreflexivität« wird im Gegensatz zu einer unmittelbaren Teilnahme am Ritual verstanden. Insofern Meyer-Blanck sich also gegen ein in der Tat verkürzendes Ganzheitlichkeitsideal stellt, kann sein Beitrag als Ausdruck eines Desiderats der Ritualtheorie gedeutet werden, die einerseits lange Zeit auf der Grundlage von Forschungen an vormodernen Kulturen oder krankhaften Phänomenen erfolgte, und andererseits das Verhältnis von Ritual und Deutung nicht angemessen zu beschreiben vermag. Lässt man hingegen klassische Pauschalurteile über Ritualität beiseite, wäre die beobachtete Unfähigkeit (des Protestanten), die Reflexion »abzustellen« positiv geradezu als besondere Fähigkeit des Rituals zu werten, Reflexionsvollzüge zu befördern und hervorzurufen. Genau diese Annahme wird im zweiten Teil der Arbeit im Rahmen 430 Jetter: Symbol und Ritual, 22. 431 Josuttis: Der Weg in das Leben, 288. 432 Jetter: Symbol und Ritual, 16.
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neuerer Ritualtheorien wieder aufgegriffen. Einen solchen Anknüpfungspunkt für eine Integration von Ritual und Reflexion bietet Meyer-Blanck selbst: »Das Ritual lebt von der Bedeutungszuschreibung der Menschen, die es vollziehen, reformatorisch: vom Glauben.«433 Diese Gleichsetzung von Glauben mit Bedeutungszuschreibung mag zunächst überraschen, ist doch der Glaube nicht zuerst inhaltlich bestimmt (fides quae), sondern als Vertrauensund Zutrauensverhältnis zu Gott und den Verheißungen des Evangeliums. Gleichwohl könnte auf dieser Grundlage eine erste theologische Zielbestimmung ritueller liturgischer Vollzüge unternommen werden, nämlich als Vollzüge, bei denen äußere Handlung und persönliche Aneignung in Korrelation treten. 3.1.3 Fazit Der psychologische Zugang zum Ritual lenkt den Blick auf seine Leistungen für den Einzelnen. Dadurch verschiebt sich der Fokus von kirchensoziologischen zu primär seelsorgerlichen Fragen. Die Funktion des Rituals gilt nicht mehr der Wiedergewinnung einer volkskirchlichen Breite des agendarischen Gottesdienstes, sondern als Ort der Erfahrung von »Ganzheit«, die theologisch als Heilserfahrung gedeutet wird. Eine individuelle solche Erfahrung besitzt dennoch eine kollektive Dimension. Nicht zuletzt hängen die Prozesse von Regression und Recreatio (oder mit Jetter: »Entlastung«) auch an der Möglichkeit der »Einpassung« in eine soziale Gemeinschaft (Thilo). Die gewählten Beispiele psychologischer Zugänge zum Ritualbegriff bezeugen am Beispiel der Rezeption des therapeutischen Schemas »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« nach Sigmund Freud einen Wandel innerhalb der Liturgik.434 Yorick Spiegel sieht 1972 den agendarischen Gottesdienst noch als Hindernis an, um einen heilsamen therapeutischen Prozess in Gang zu setzen, da der »Besucher« (!) weitgehend in einer »passiven-responsiven Haltung«435 verbleibt. Aufgrund seiner starren Strukturen und dem daraus resultierenden Mangel an Emotionalität votiert Spiegel für die Hinwendung zu weniger ritualisierten Gottesdienstformen.436 Die Forderung nach gesteigerter Emotionalität des Gottesdienstes bildet 433 Meyer-Blanck: Inszenierung des Evangeliums, 47. 434 Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: Ders.: Studienausgabe Ergänzungsband, 205–215. 435 Spiegel: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, 18. 436 Zu einer ähnlichen Diagnose war zuvor auch Walter Neidhart bei seinen »Pychologische[n] Überlegungen zur Gestaltung von Gottesdiensten für die Gegenwart« gelangt. Der Baseler Praktische Theologe attestierte dem agendarischen Gottesdienst, »im besten Falle eine Kümmerform der Gefühle beim Erleben des Tremendum et Fascinosum« (ThPr 5 [1970], 233–245, 235) bieten zu können. Auch er plädiert daher für die Erarbeitung »zeitkritischer Gottesdienste«, die in Gruppen vorbereitet werden. Dem traditionellen Gottesdienst gelingt es allenfalls, dem Teilnehmer »die Bestätigung seines Bezugssystems« (244) zu ermöglichen.
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das Kontinuum beim Übergang zu einem veränderten psychoanalytischen Zugang zum agendarischen Gottesdienst und zum Ritual bei Hans-Joachim Thilo. Der Wiederholung als zentralem Kennzeichen des Rituals wird nun eine positive Funktion zugeschrieben. Sie lässt den Gottesdienst zum »Rasthaus« werden, dass eine positive Regression ermöglicht und daher schlichtweg »gesund macht«. Was Jetter aufbauend auf den lerntheoretischen Einsichten Trautweins anhand symbol- und kommunikationstheoretischer Theorien verdeutlicht, erfolgt hier nun mit Hilfe des psychoanalytischen Ansatzes. Die gebundene liturgische Form erhält so eine neue Existenzberechtigung jenseits eines »Steinbruchs« (E. Lange). Auch innerhalb des stärker wahrnehmungsorientierten Ansatzes von Michael Meyer-Blanck (3.1.2) spielt das therapeutische Schema eine wichtige Rolle. Er fokussiert dabei auf den Schritt der Durcharbeitung. Ihr dient die Wiederholung insofern, als sie ein »Zwischenreich« inszeniert, das »von der Vergangenheit her auf Zukunft hin«437 orientiert ist. Dies geschieht hauptsächlich in der Schriftauslegung. Bei Meyer-Blanck wie auch bei Thilo zeigt sich im Einzeldurchgang immer wieder die Problematik eines solchen Ansatzes: das Schema scheint den liturgischen Elementen übergestülpt, die sich einer derart eindeutigen Klassifizierung entziehen. Was einerseits der Orientierung dient, gelingt nur mit Einbußen an Komplexität und Polivalenz. In neuerer Zeit hat Andreas Odenthal in seiner Bestimmung der Liturgie als Ritual noch einmal einen Neuansatz aus römisch-katholischer Sicht unternommen, um die psychoanalytischen Vorgänge im Ritualvollzug zu entfalten.438 Odenthal zufolge dient der Gottesdienst der Ermöglichung von »symbolischer Erfahrung«, die zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Glauben und Leben vermittelt. Im Ritual entsteht ein »intermediärer Raum« (D.W. Winnicott). Dabei weist Odenthal wie auch Meyer-Blanck die Sehnsucht nach dem Erleben von Ganzheitlichkeit deutlich zurück: Das christliche Ritual zielt auf »die Darstellung des gebrochenen Menschen, nicht die verharmlosende Inszenierung des Schönen«.439 Hier wird der psychoanalytisch erarbeitete Ritualbegriff anschlussfähig an eine theologische Anthropologie. Ritualität kann damit die »Fragmentarität« (H. Luther) der menschlichen Existenz integrieren, ohne diese durch einseitige Orientierung an Stabilität und verklärten Heimatgefühlen zu überspielen. Bei der abschließenden Frage nach den Folgen für die Liturgiewissenschaft benennt Odenthal die Notwendigkeit der verstärkten »Erforschung der Erfahrungsebene des Menschen«440. Dazu bedürfe es vermehrt soziologischer Einsichten und insgesamt eine stärkere Fokussierung der Liturgik auf empirische For437 438 439 440
Meyer-Blanck: Inszenierung des Evangeliums, 80. Odenthal: Liturgie als Ritual. AaO., 229. AaO., 249.
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schungsmethoden. Diese Einsicht erinnert stark an die Entwicklung der Ritualtheorie im Ausgang von soziologischen Forschungen in den 1970er Jahren (s. o. 2). Dabei wurde ebenfalls die Notwendigkeit erkannt, das gottesdienstliche Erleben und Empfinden durch empirische Untersuchungen besser zu erschließen. Mehr als vierzig Jahre später scheint dies noch immer ein Desiderat geblieben zu sein.
3.2 Das Ritual als Kommunikation – Kommunikation im Ritual Gottesdienst ist eine Form der Kommunikation. Jenseits konkreter, verbal kommunizierter Inhalte werden auch Beziehungen, Werte und Überzeugungen kommuniziert. Dabei bedient sich der Gottesdienst unterschiedlicher Kommunikationsmittel, zu denen neben unmittelbar sprachlichen Äußerungen in Lesungen, Predigt, Gebet und Bekenntnis auch die Musik sowie sämtliche Interaktionen und Handlungen zu zählen sind, die dann unter dem Begriff ›Ritual‹ zusammengefasst werden. Für die Gestaltung des Gottesdienstes wie auch für die praktisch-theologische Reflexion stellt sich die Frage nach den gerade im Ritualvollzug kommunizierten Inhalten, darüber hinaus nach den Bedingungen, unter denen liturgisch-rituelle Kommunikation gelingt. Die abnehmenden Besucherzahlen und die empirischen Gottesdienststudien bezeugten massive »Kommunikationsstörungen«, sodass die konfessionsübergreifend empfundene Krise des Gottesdienstes als Kommunikationskrise verstanden wurde. Auf evangelischer wie katholischer Seite finden sich Forderungen, die Verständlichkeit des Gottesdienstes durch zeitgenössische Sprache zu erhöhen und die Liturgie so zu gestalten, dass die Teilnehmer sie »möglichst leicht erfassen« können, wie Sacrosanctum Concilium formuliert.441 Darüber hinaus musste es jedoch darum gehen, insbesondere die Mechanismen der Kommunikation im Rahmen von Ritualen besser zu verstehen. Dies war wiederum mit der Frage verknüpft, welche Funktion Rituale im Gottesdienst erfüllen. Die folgenden Ausführungen greifen exemplarisch drei Untersuchungen zum Ritual aus kommunikationstheoretischer Sicht heraus. Sie lassen sich mit Günther Thomas dem verbal-kommunikativen Zugang zuordnen, der in der kurzen Orientierung beschrieben wird. Die herangezogenen Beiträge sind hauptsächlich dem von Karl Ermert herausgegebenen Tagungsband Gottesdienst als ›Mitteilung‹. Kommunikative Aspekte rituellen Handelns von 1984 entnommen.
441 SC 21. S. o. 1.3.1.
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3.2.1 Orientierung: Kommunikation durch Rituale (G. Thomas) Günther Thomas versteht Rituale als »multidimensionale und polykontextuelle Form von Kommunikation«442, bei der es keinen Konsens über den kommunizierten Inhalt gibt. Soziale Strukturen, die Kommunikationsgemeinschaft, ihre Beziehung zur Umwelt oder auch zu transzendenten Inhalten können thematisiert werden. Als Form symbolischer Kommunikation helfen Rituale Kultur zu verstehen und generieren sie zugleich. Thomas erörtert zusammen mit den Leistungen des Mediums zugleich dessen Risiken. Rituale verkürzen Kommunikationsprozesse innerhalb von Gruppen. Dabei besteht die Gefahr des Missverstehens. Sie ist die Kehrseite der sozial integrativen Funktion darstellt. Dabei wird ein weitgehender Verzicht in Kauf genommen, das Verstehen zu kontrollieren sowie überhaupt sicherzustellen.443 Insbesondere nonverbale Kommunikationsmittel (Raum, Geruch, Berührung, Klang) erzwingen keine Unterscheidung zwischen der Äußerung an sich und ihrem Informationsgehalt, wodurch der Inhalt der Kommunikation nur schwer zu kontrollieren ist. Dieser Verzicht eröffnet zugleich die Freiheit zu anderen Deutungen als den ursprünglich intendierten. Wiederholungen und die damit einhergehende Vertiefung der Kommunikation reduziert jedoch das Bedeutungsspektrum, sodass Rituale also nicht gänzlich auf Mechanismen verzichten, die ein Verstehen ermöglichen. Mit Risiken behaftet ist sodann der massenmediale Charakter von Ritualen. Aufgrund der Identifikation von Ritualen mit magischen, häufig gruppenspezifischen oder gar arkanen Praktiken blieb dieser Aspekt lange Zeit unbeachtet und somit auch die spezifischen Strategien, mit denen Rituale ihre Adressaten erreichen. Im Gegensatz zu anderen Medien der Kommunikation senden Rituale ihre Botschaft nicht nach außen zur den Empfängern, sondern ziehen sie die Empfänger zur Botschaft hin, indem sie Aufmerksamkeit erzeugen und lenken: »[R]itual is one of the most widespread and elementary mechanisms for the management of orchestrated public attention.«444 Das massenmediale Wirkungspotenzial des Rituals zeigt sich auch daran, dass aufgrund der fixierten Form und der doppelten Möglichkeit, diese sowohl im Gedächtnis als auch dem Körper selbst einzuschreiben, eine zeitlich wie räumlich unbegrenzte Replikation möglich ist. Jede Handlung verzichtet dabei auf eine Unterscheidung zwischen Original und Kopie. Beide werden als gleich-wertig markiert. 442 G nter Thomas: Communication, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 321–342, 326. 443 »Ritual risks individual misunderstanding in order to combine social inclusion with uninterrupted communication« (aaO., 333). 444 AaO., 335.
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Ein weiteres Risiko ritueller Handlungen besteht im Aufkommen von Langeweile. Weil Rituale etwa durch Wiederholungen und fixierte Äußerungen auf wachsende Vertrautheit mit Form und Sprache zielen und diese somit zu den bewussten Kommunikationsstrategien des Rituals gehören, müssen sie zugleich in Kauf nehmen, dass diese Gewöhnung Aufmerksamkeitspotenziale freisetzt, die es nicht selbst wieder binden kann: »ritual becomes the victim of its own success.«445 In den hier behandelten Ansätze wird immer wieder deutlich, wie die Liturgen selbst mit der Erwartung umgehen, dass die Rituale, die sie vollziehen, auch zu Langeweile führen. Als wichtige Eigenschaft ritueller Kommunikation ist schließlich ihre Selbstreferenzialität zu benennen. Rituelle Äußerungen nehmen auf andere rituelle Äußerungen Bezug und bringen diese zugleich innerhalb ihres Vollzugs zur Darstellung, machen ihre Verweise also explizit. Thomas spricht daher von »prozessualer Interritualität«. Innerhalb der Liturgie wäre sowohl an biblische Verweise zu denken, an die Schriftlesungen, welche auf die Verkündung der Propheten, Apostel oder Jesu Bezug nehmen, ganz besonders aber auch an das Abendmahl. Hier wird ein biblisches Geschehen dargestellt, welches das Urspungsgeschehen erinnert. Die Selbstreferenzen dienen der Legitimation und damit der Identität wie auch der Abgrenzung zum Umwelt. Rituale müssen Thomas zufolge als »polykontextuell« bezeichnet werden, da sie gleichzeitig auf mehrere Kontexte bezogen sind. Sie stehen zur psychischen Konstitution des Akteurs ebenso in Relation wie zum sozialen Umfeld, in dem die Handlung stattfindet. Anschaulich zeigt sich dies etwa am Hochzeitsritual, dass unter anderem den familiären, religiösen, rechtlichen und intimen Kontext zugleich berührt. 3.2.2 Abwesenheit von Diskussion und Kritik. Noch einmal: Gottesdienst in der Krise (K.-F. Daiber) Der einführende Beitrag von Karl-Fritz Daiber enthält neben einer Situationsanalyse Überlegungen zur Problematik ritueller Kommunikation. Aus Sicht der Theologie befindet sich der Gottesdienst der 1980er Jahre – nach wie vor – in einer tiefen Krise, die sich in den sinkenden Teilnehmerzahlen ausdrückt und für die »Kirche des Wortes«, der »Kommunikation des Evangeliums« zuallererst eine Kommunikationskrise darstellt. Insofern der Gottesdienst in seiner rituellen Gestalt eines der zentralen Kommunikationsmittel darstellt, muss gefragt werden, ob die Botschaft des Rituals noch verständlich ist und das Ritual nicht generell nur »zur Kommunikation zwischen denen geeignet [ist], die zur ›Kerngemeinde‹ gehören?«446 Um dies zu beantworten ist 445 AaO., 339. 446 Karl-Fritz Daiber: Gottesdienst als religiöse Institution. Einleitung zu den theologischen, pastoralsoziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Aspekten des Tagungsthe-
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es zum einen notwendig, den Gottesdienst als Ganzen als Kommunikationsmittel zu analysieren und den verengten Blick auf die Predigt zu erweitern. Zum anderen ist die kommunikative Leistungsfähigkeit der Liturgie zu überprüfen, ob sich denn darin »rational nachvollziehbare Formen« finden, die die Verständlichkeit erhöhen und letztlich das Verstehen durch die Teilnehmer fördern (s. o. 1.3.4). Bereits in seinen früheren Ritualdefinitionen hatte Daiber den Regelcharakter der Handlung hervorgehoben (s. o. 2.3.3, 2.4.3.1). Dadurch rücken Rituale für ihn unweigerlich in die Nähe der Institution als »gesellschaftlich anerkannter Regelform« und übernehmen daher vorrangig eine stabilisierende Aufgabe: sie »betonen das Nichtveränderbare, das Traditionssichernde, das Geprägte, das Erkennbare und damit das Verläßliche.« Zur Kommunikationskrise kommt es Daiber zufolge deshalb, weil es gottesdienstlicher Kommunikation nicht mehr gelingt, an die außeralltägliche, transzendente Erfahrung anzuknüpfen, die den Ursprung des Rituals bildet. Dieses wird »nicht eo ipso als relevant erfahren«. Einer der Gründe dafür ist, dass die genannte Aufgabe und damit zugleich »elementare Erwartungen an institutionelles und so auch rituelles Handeln«447 auf Seiten der Gemeinde durch die Liturgieverantwortlichen übergangen werden. Ihr mangelnder Zugang zum Ritual ist wiederum die Folge einer institutionellen Krise, durch die der Liturg im Konflikt steht mit seiner institutionellen Rolle. Sie verpflichtet ihn dazu, institutionelle Sprechhandlungen zu vollziehen, in denen er der Gemeinde gegenübertritt und die seinen »Freiraum für eine personenspezifische Definition der Rolle des Gottesdienstleiters« stark einengen. Eine solche Rollenzuschreibung wird subjektiv als problematisch erlebt, ebenso wie die Fokussierung auf den Pfarrer als Ausleger der Tradition, die nicht selten zum Gefühl der Überforderung führt. Auch auf Seiten der Gemeinde erfährt die Rolle des Liturgen und Predigers zunehmend Skepsis. Die Predigt gilt nicht mehr als religiös codierte Wortverkündigung, sondern wird als »Wort des Einzelnen, das einen Diskussionsbeitrag darstellt«448, gedeutet. Problematisch ist für Daiber aber auch die kommunikative Rolle der Gemeinde selbst, die im Rahmen im Voraus festgelegter Äußerungen nur als Kollektiv auftritt. Zwar besitzt die weitgehende Fixierung der Sprache durchaus Vorteile, etwa die Möglichkeit ihrer Bewährung im Alltag, jedoch widerspricht der dabei wirksame institutionell organisierte Kontrollmechanismus449 nicht zuletzt den Strukturen einer demokratisch geprägten, partizipativen Gesellschaft. Der zunehmende Kenntmas, in: Karl Ermert (Hg.): Gottesdienst als »Mittteilung«. Kommunikative Aspekte rituellen Handelns, Tagung vom 26. bis 28. Okt. 1983, Rehburg-Loccum 31987 [1984], 25–40, 35. 447 AaO., 33. 448 AaO., 39. 449 »Die religiöse Sprache der Gemeinde wurde durch die Bindung an vorformulierte Texte im Interesse der Sicherung der Überlieferung kanalisiert und kontrolliert« (ebd.).
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nisverlust dieser Sprachformeln stellt jedoch vor kaum geringere Herausforderungen, da mit ihnen auch die individuelle Glaubenssprache und -sprachfähigkeit bedroht ist. Die diagnostizierte Kommunikationskrise des Rituals stellt damit einen Zirkel sich wechselseitig bedingender und verstärkender Komponenten dar, zu denen sowohl allgemeine Institutionenkritik als auch eine Problematisierung der Rollen gehören, welche das Ritual als Erscheinungsform institutionalisierter Religion dem Liturgen wie auch der Gemeinde zuweist. Einen Ausweg vermag Daiber nicht zu formulieren, da die Voraussetzungen dafür, dass das Ritual seine stabilisierende und auf Konsens ausgerichtete Funktion erfüllen kann, dem parallelen Bedürfnis nach persönlicher Meinungsäußerung, Dialog und Gespräch zu widersprechen scheinen. Die Kommunikationskrise des Gottesdienstes beruht also auf dem Kommunikationsdilemma des Rituals in der Moderne. Eine Auflösung dieses Dilemmas ist folglich nur möglich, wenn eine seiner Prämissen sich als unzureichend erweist. Daiber versteht Rituale als Problemlösungsverhalten und ist genötigt, die jeweiligen Gottesdienstelemente dahingehend zu befragen, ob sie der ›Problemlösung‹ dienlich sind. Dies führt allerdings zu der bereits benannten einseitigen Festlegung der kommunikativen Funktion des Gottesdienstes: »Gottesdienst und Predigt wollen stabilisieren, das beständige Interpretieren, den Konsens in der Gemeinde stärken.«450 Insbesondere aus protestantischer Sicht musste dies Widerspruch hervorrufen. War unter dieser Bedingung der evangelische Gottesdienst noch immer sinnvoll als Ritual zu beschreiben und sollte dessen Kriterien gemäß organisiert werden (s. u. 4.2)? Damit der Ritualbegriff unter kommunikationstheoretischer Hinsicht dennoch hilfreich sein konnte, bedurfte es einer detaillierteren Analyse seiner Formen, insbesondere des Umgangs mit den genannten kommunikativen Risiken sowie eine Analyse der als problematisch empfundenen Stellung des Liturgen zwischen Institution und Person, die schon Daiber benannt hatte. Dazu waren nicht zuletzt fachspezifische Kenntnisse der Linguistik und Sprachwissenschaft nötig, die das generelle Anliegen des ritualtheoretischen Zugangs zum Gottesdienst aufgreifen, diesen anhand von Kriterien zu untersuchen, die nicht dem liturgisch-theologischen Kontext entstammen, sondern soziokultureller Analyse.
3.2.3 Das Ritual als kommunikatives Handeln (I. Werlen) In seiner Habilitationsschrift von 1981 war Iwar Werlen am Beispiel des Rituals der Frage nachgegangen, »was es heißt, daß Sprechen immer auch 450 AaO., 33.
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Handeln sei«451. Rituale werden also nicht als Verhaltensform verstanden, wie dies Parallelen zum Tierreich oder zur Psychose nahelegen könnten, sondern als Handlung, d. h. zunächst als »bewußte, willkürliche und nicht-instinktgeleitete« (89) menschliche Tätigkeit. Darüber hinaus handelt es sich Werlen zufolge um »inhaltliche, thematische und rhetorische Strategien« (374). Zwei Kennzeichen bestimmen diesen Handlungstyp: »Expressivität« und »Institutionalisiertheit«.452 Ersteres bezeichnet den konstitutiven Bezug auf ein Wissens- und Glaubenssystem, dessen inhaltliche Bestimmung religiöse Rituale von zivilen unterscheidet.453 Letzteres bezieht sich auf die feste Organisation der Handlungsabläufe, die häufig an einem sanktionierten Skript orientiert ist. Weil die rituelle Handlung in der Regel aus einzelnen Sequenzen besteht, definiert Werlen das Ritual somit als »expressive institutionalisierte Handlung oder Handlungssequenz« (81). Den Nachweis seiner Theorie erbringt Werlen unter anderem an der römisch-katholischen Messe, die ihn als »primär verbales Ritual, beruhend auf einer Wortreligion« (148) interessiert. In dieser frühen Arbeit wählt Werlen noch einen stark distanzierten Ansatz zur tatsächlichen Messfeier und stützt seine Beobachtungen allein auf die Auswertung des Missale – ein Beispiel für ein besonders rigides Handlungsskript.454 In einem ersten, »syntagmatisch« verfahrenden Durchgang richtet sich der Blick auf die Struktur der Messe. Dabei zeigt sich, wie stark »beinahe jedes Element durch Eröffnung und Schluß abgegrenzt ist gegen das folgende« (167). Der zweite, »paradigmatische« Durchgang kategorisiert die in der Messe enthaltenen verbalen (Gebete, Lesungen, Segen etc.) und nonverbalen Elemente (Gegenstände, Körpersprache, Handlungen wie Essen und Trinken). Wiederum fällt das Augenmerk auf die Schnittstellen zwischen den einzelnen Sequenzen. An ihnen finden sich sogenannte »Marker«, welche die erwähnten Rahmungen gestalten und ex451 Iwar Werlen: Ritual und Sprache. Zum Verhältnis von Sprechen und Handeln in Ritualen, Tübingen 1984, 373. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 452 Innerhalb des ritualtheoretischen Diskurses sind diese und ähnliche Begriffe auf ganz unterschiedliche Weise definiert (vgl. etwa den Begriff der ›Institution‹ bei Rössler, s. o. 2.3.2). Dies trägt erheblich zur immer wieder erwähnten wie beklagten Unübersichtlichkeit bei, die den Diskurs um den Ritualbegriff kennzeichnet. 453 Der übergeordnete handlungstheoretische Rahmen schlägt sich auch in der Annahme nieder, das »expressive Handlungen« die Grundlage für »expressive Gegenstände« bilden, wenngleich es immer wieder zu zirkulären Entwicklungen kommt, sodass letztere durch ihren Statuswandel selbst wiederum expressive Handlungen hervorrufen: So »erzeugt« die Messe die theologische Aufladung der Hostie, ihr Verständnis wiederum ist der Auslöser für die unterschiedlichen Formen der Hostienverehrung wie etwa die Fronleichnamsprozession. 454 »Wir gehen hier nur davon aus, daß es Menschen gibt, die die Messe feiern – wie groß ihre Zahl ist, welchen Einfluß auf ihr eigenes Leben und das der andern diese Feier hat und so weiter – all das sei hier weggelassen« (aaO., 148f.). Die Gefahr dieses Zugangs besteht darin, die Bestimmung des inhaltlichen Aspekts von einem »emischen« Standpunkt aus vorzunehmen, der zum einen die Vorschriften des Missale mit dem tatsächlichen Ritual gleichsetzt und in gleicher Weise die kodifizierten und kirchlich sanktionierten Deutungen des Rituals mit der Bedeutung (Expressivität) gleichsetzt.
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plizit als Übergänge kennzeichnen (vgl. 227ff.). Die Rahmung ritueller Sequenzen gehört zu den zentralen Einsichten der Arbeit und wird auch in späteren Arbeiten immer wieder thematisiert.455 Zwei Aspekte der Ritualtheorie Werlens sind darüber hinaus von Interesse. Erstens handelt es sich um die Problematisierung des Prozesses der Ritualisierung, mit dem sich ein zentrales Thema neuerer ritualtheoretischer Zugänge verbindet (s. u. 8). Werlen versteht darunter die Veränderung einer Handlung, die zunächst funktional organisiert war, deren »Sinn [aber] nicht mehr verstanden wird« (178). Als Beispiele führt er die Gabenbereitung und das Kreuzeszeichen an. Was hier noch als negativ konnotierte Entwicklung erörtert wird, die auf einen Verlust der expressiven Funktion des Rituals hinausläuft, befragt Werlen später auf den Aspekt der Semantisierungen durch die Ritualteilnehmer (s. u.). Beachtenswert sind zweitens Werlens Überlegungen zu den konstitutiven Merkmalen ritueller Kompetenz. Ein kompetent »rituell Handelnder« ist zum einen in der Lage, erlernten »Mustern von Abläufen« (380) zu folgen. Mit der Institutionalität des Rituals verbunden ist ein spezifischer Erwartungshorizont der Akteure, dessen Grenzen je nach Ritualtypus weiter oder enger sein können. Zwar ist dieser Horizont im Fall von Begrüßungsritualen im Alltag weiter als in der Messe. Aber auch sie öffnet »Raum für ›Originalität, Flexibilität und Variabilität‹ (Mead)« (88), ihre Gestaltung muss sich jedoch – wie bei jedem Ritual – an den Erwartungen der Teilnehmer orientieren. Zum anderen kennt der Ritualteilnehmer Werlen zufolge »auch die Expressivität seines Handelns – vielleicht nicht explizit oder nicht genau, aber – wie so vieles andere Alltägliche – explizit und genau genug für den jeweiligen Zweck.«456 Auf dem Hintergrund von Werlens handlungsorientiertem Ansatz wäre somit zu unterscheiden zwischen dem Ausführen der Handlung, die auch ohne expressives Verständnis möglich ist, und einer Transzendierung der bloßen Verrichtung, welche das Ritual erst zur Handlung im vollen Sinne macht. Im seinem Beitrag auf der eingangs erwähnten Tagung setzt sich Werlen erstmals mit dem protestantischen Gottesdienst auseinander und legt dafür nun Beobachtungsprotokolle zugrunde. Auf der Basis des Verständnisses von Ritualen als »sozialer Gelegenheit«457 erhebt er die kommunikativen Rollen, Strukturen und Formen. Dabei macht er mit Verweis auf Roman Jakobson deutlich, dass die Aufgabe der Mitteilung nur eine, im Ritual eher unterbestimmte Funktion von Sprache ist, neben der sie auch eine »referenzielle, emotive, konative, poetische, phatisch und metasprachliche Funktion«458 er455 Vgl. u. 4.2.1.1. 456 AaO., 380. 457 Ders.: Ritual als kommunikatives Handeln. Perspektiven der Linguistik, in: Ermert (Hg.): Gottesdienst als »Mittteilung«, 41–83, 41. 458 AaO., 48.
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füllen kann. Als problematisch im protestantischen Gottesdienst erachtet Werlen den – im Vergleich zur Messe – weitgehenden Verzicht auf Pausen sowie die »rituelle Rederechtsverteilung«459. Letztere begünstigt mitunter die sprachliche Vereinnahmung der Gemeinde durch den Liturgen, etwa im Gebet: Dessen Inhalt steht – trotz gegenteiliger Anzeige (»Wir wollen beten«) – immer wieder der Gattung der Bitte entgegen, welche die Annahme voraussetzt, dass der Sprecher das Erbetene nicht selbst tun kann. Obgleich es Werlens Ansatz entspricht, die Struktur und deren Funktionalität aus der Kommunikationshandlung selbst zu erschließen, mündet die zu beobachtende Relativierung der Mitteilungsfunktion in der einseitigen These, dass alles, »was im Ritual überhaupt gesagt werden kann [entsprechend des Erwartungshorizonts], […] allen Teilnehmern ›immer schon‹ bekannt«460 ist. Nicht in der Neuheit der Botschaft, sondern in ihrer Bestätigung liege die kommunikative Funktion des Rituals. Es wäre zu fragen, ob sich hierin nicht Daibers Insistieren auf die Stabilisierungsfunktion niedergeschlagen hat. Innerhalb von Werlens Ansatz besteht für diese Festlegung kein Anlass, zumal insbesondere das Kriterium der Expressivität der inhaltlichen Komponente Variabilität verleiht. Einen Schritt weiter geht Werlen in seinem Aufsatz zur »Logik« ritueller Kommunikation. Darin widmet er sich der Untersuchung von nur teilweise vorstrukturierten Ritualen, bei denen die Bedeutung der Handlung im Ritual erst mitgeteilt und erläutert wird. Gemäß den zuvor entwickelten Kriterien der Expressivität und Institutionalisierung stehen zwei Fragen im Zentrum: 1. Wie funktioniert die soziale Ordnung des Handelns in solch freieren Ritualen. 2. Wie entsteht der Sinn der Handlung, also »welche Hinweise gibt es auf die Logik des Rituals?«461, wenn die Abfolge keiner äußeren Logik streng folgt. Exemplarisch setzt er sich dabei neben dem Arzt-Patienten-Gespräch wiederum anhand ausführlicher Kommunikationsprotokolle mit dem reformierten Predigtgottesdienst in seiner gegenwärtigen Gestalt auseinander. Werlen geht aus von der häufig gemachten Beobachtung, dass die Durchführung der Handlung wichtiger ist als ihr Verständnis. Das gilt sowohl aus Sicht der Handelnden als auch im Blick auf die Organisation des Rituals, in dem das Verstehen etwa durch die Verwendung von Fremdsprachen eher erschwert ist. Der Sinn der Handlung, ihre »Logik« konstituiert sich für die Teilnehmer somit im Vollzug selbst und kann nicht aus den verbalen Botschaften erschlossen werden. Werlen spricht daher von einem »Übergewicht des bloß Institutionellen über das Symbolische, Inhaltliche«462. Das Ziel seiner 459 AaO., 71. 460 AaO., 47. 461 Ders.: Die „Logik“ ritueller Kommunikation, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 17 (1987), 41–81, 45. 462 AaO., 42.
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Untersuchung formuliert er wie folgt: »Ich werde zeigen, daß – bei einer handlungstheoretischen Interpretation des Rituals als kommunikativem Handeln unter verschiedenen Rollenträgern – eine am zugrundeliegenden Glaubenssystem orientierte Motivation der Abfolge erkennbar wird. Weiter wird zu zeigen sein, wie die Gottesdienstteilnehmer selbst dazu tendieren, die Abfolge der Handlungen zu semantisieren, d. h. ihr einen Sinn zu geben, wenn die Handlungsabfolge undurchsichtig ist. Damit wird deutlich, daß die Bedeutung des Rituals nicht einfach festliegt, sondern von den Teilnehmern auch interpretiert werden kann.«463 Werlen kommt im Durchgang durch die unterschiedlichen Kommunikationsformen des Gottesdienstes zu mehreren interessanten Beobachtungen: Der reformierte Gottesdienst scheint seine Gesamtbedeutung – anders als die Eucharistie-zentrierte katholische Messe – entweder bereits vorauszusetzen oder als unwichtig zu erachten. Anders wären die Unterschiede in der Abfolge nicht zu erklären. Diese erscheint eher willkürlich, auch wenn sich kleine Strukturen wie Wort-Antwort erkennen lassen. Gleichwohl beharren die Teilnehmer häufig darauf, dass die Grobstruktur eingehalten wird. Die relative Willkür der Anordnung der Elemente korreliert mit einem »extensiven Gebrauch von Rahmen«464. Je stärker dieser Rahmen ausgebaut ist, desto freier können diese Sequenzen in den Ablauf integriert werden und desto weniger stehen sie in Beziehung von vorangehenden und auf sie folgenden Sequenzen. Diese Rahmen sind zugleich der Ort der Organisation sowie der Interpretation, die zumeist durch verbale Einschübe durch den Pfarrer erfolgen und besonders bei Lesungen und Liedern ausführlicher ausfallen. Dabei unterscheidet Werlen zum einen »globale Interpretationen«, die die Verbindung einzelner Sequenzen mit dem übergeordneten Thema des Gottesdienstes herstellen. Zum anderen benennt er »lokale Interpretationen«, welche die jeweilige Folgehandlung in den Blick nehmen. Als typisch für reformierte Gottesdienste dieser Zeit ist zu werten, dass ihre Gestaltung besonders stark an einzelnen Themen orientiert ist und (daher) die Gemeinde außer im Vaterunser und in den Liedern nicht zu Wort kommt (Glaubensbekenntnis, Kyrie etc. haben keinen festen Platz). Die für die Teilnahme am evangelischen Gottesdienst als Voraussetzung nötige rituelle Kompetenz ist für ihn aufgrund der geringeren Dialogizität und nur weniger non-verbaler Elemente wesentlich niedriger als dies bei der Messe der Fall ist. Um die Frage nach den Ordnungs- und Sinnstrukturen zu beantworten, entwirft er eine eigene, von der Agende entkoppelte dialogische Struktur des Gottesdienstes. Als Grundmuster zeigt sich die Abfolge Botschaft – Annahme der Botschaft – Antwort an Sender. Hieraus erklärt sich der häufige und für »den außenstehenden Beobachter [i]rritierende«465 Rollenwechsel des Pfar463 Ebd. 464 AaO., 48. 465 AaO., 55.
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rers. Werlen unterscheidet zwischen drei Rollen, denen unterschiedliche Adressaten seiner Kommunikation korrelieren: als Repräsentant der Gemeinde tritt er vor Gott, als Sprachrohr des Wortes Gottes wendet er sich zur Gemeinde und als Prediger spricht er im eigenen Namen zur Gemeinde. Diese Struktur lässt sich jedoch nur grob auf die einzelnen Blöcke anwenden. Insbesondere in der Gegenüberstellung zu Daiber wird deutlich, dass der von Werlen gewählte sprachwissenschaftliche Zugang wesentlich besser geeignet ist zu erklären, wie Menschen den Gottesdienst feiern, die ihn feiern, statt sich darauf zu konzentrieren, warum man nicht mehr so oft, so zahlreich etc. feiert. Den theologisch stark aufgeladenen Bemühungen, die Stringenz und innere Logik des Gottesdienstes ausgehend von psychologischen Überlegungen zu erweisen, wird die Beobachtung gegenübergestellt, dass zum einen die starke innere Rahmung eher auf die Autonomie vieler Einzelsequenzen hinweist und zum anderen Verständlichkeit keine der primären Eigenschaften der Struktur wie auch der Ausführung und Teilnahme ist. Neu innerhalb der Ritualdebatte ist auch der Gedanke, dass das Ritual selbst nicht Träger einer Bedeutung ist, sondern sich der Systematisierung und sinnhaften Aneignung durch die Teilnehmer verdankt. Erhellend ist schließlich die Wahrnehmung der Spannung zwischen dem Beharren auf einer Grundordnung und zugleich einer beachtlichen Flexibilität gegenüber der Anordnung der Einzelsequenzen. Genauere Ausführungen dazu finden sich bei Werlen nicht, jedoch lässt sich eine erstaunliche Nähe sowohl zur Ritualtheorie von Frits Staal erkennen, der ebenfalls von der Priorität des Vollzugs vor der Bedeutung ausgeht (s. u. 7.3), wie auch zum Ansatz von Carolin Humphrey und James Laidlaw, die sich insbesondere der Frage nach der Sequenzierung und den rituellen Aneignungsprozessen zugewandt haben (s. u. 9).
3.2.4 Institutioneller Überhang des Rituals (E. Gülich, I. Paul) Eine kommunikationstheoretische Untersuchung des evangelischen Gottesdienstes aus der Perspektive der Sprachwissenschaft haben auch Elisabeth Gülich und Ingwer Paul erarbeitet.466 Sie gehen dabei nicht wie Werlen am Beispiel der Messe von einem Formular, sondern vom real gefeierten Gottesdienst aus, der nicht zuletzt die individuellen Darstellungsstile der Liturgen zu erfassen vermag, insofern sie sich an einem übergemeindlichen Grobschema orientieren. Damit werden sie dem evangelischen Umgang mit den 466 Zugrunde gelegt werden dafür sowohl der Aufsatz von Ingwer Paul: Der evangelische Gottesdienst als institutionell inszeniertes Ritual, in: Angelika Redder (Hg.): Kommunikation in Institutionen, Osnabrück 1983, 91–106 wie auch die gemeinsame Publikation von Elisabeth G lich/Paul Ingwer: Gottesdienst: Kommunikation – Institution – Ritual. Linguistische Überlegungen zum Problem von horizontaler und vertikaler Kommunikation und zur institutionellen Vermittlung des Rituals, in: Ermert (Hg.): Gottesdienst als »Mittteilung«, 84–141.
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rituellen Instruktionen besser gerecht und zeigen sogleich die rituelle Problematik, die sich durch den Gottesdienst in der Neuzeit zieht: parallel zum sogenannten homiletischen Dreieck geht es um die notwendige Vermittlung zwischen vorgegebener ritueller Praxis, tatsächlicher Ritualkompetenz der Gemeinde und dem Selbstverständnis des Liturgen. Die Strukturanalogien zwischen »Predigt« und »Liturgie« sind keineswegs kontingent, sondern machen erneut die Fraglichkeit der Trennung bzw. die nur vermeintliche Spezifik der homiletischen Aufgabe deutlich. Beim Ansatz von Gülich und Paul handelt es sich gemäß der Klassifikation von Thomas wiederum um einen verbal-kommunikativen Ansatz, wenn die Autoren der Frage nachgehen, »wie Sprache im Ritual eingesetzt wird […] und wie mit rituellen Formeln umgegangen wird«467. Die Besonderheit des Ansatzes liegt darin, die Funktionsweise des Rituals nicht auf Basis der Agende, sondern real gefeierter Gottesdienste zu untersuchen und damit empirische Liturgik zu praktizieren, wie sie seit den siebziger Jahren immer wieder gefordert wurde (s. o. 2.4.4). Die Aufmerksamkeit richtet sich weder auf das gottesdienstliche »Erleben« wie bei Daiber noch auf die Deutungen der Akteure, sondern auf die konkreten kommunikativen Interaktionen. Die detaillierten Sprachprotokolle, die den Ausgangspunkt für strukturelle Interpretationen bilden, umfassen nicht nur die Wortwahl und den Inhalt des Gesprochenen, sondern auch den Sprachstil und die Vortragsweise. Die Situationsanalyse erfolgt aus einer bewusst distanzierten und möglichst neutralen Beobachterperspektive. Auf eine Klärung des Ritualbegriffs selbst wird dabei bewusst verzichtet.468 Auch Gülich und Paul verfolgen letztlich ein kritisch-konstruktives Anliegen. Es gilt ihnen, die »Funktionsweise des Rituals aufzudecken, seine Problematik bewußt zu machen und Überlegungen zur Veränderbarkeit begründbar zu machen.«469 Trotz einiger nicht nur theologisch problematischer Annahmen470 gelingt es, bisher kaum beachtete Aspekte in den Ritualdiskurs einzubringen. Den theoretischen Rahmen bildet die doppelte Bestimmung des Gottesdienstes als Ritual und zugleich als Institution. Beide Eigenschaften werden vor allem anhand der Kommunikation des Liturgen untersucht, wobei sich 467 468 469 470
AaO., 88. Vgl. aaO., 130f. AaO., 87. Zu nennen wären insbesondere: »Vertikale« und »horizontale« Kommunikation werden geradezu kontradiktorisch positioniert; rituell geprägten Gebeten wird jeglicher Informationsund Neuigkeitswert abgesprochen (so auch schon bei Werlen), sodass sie bei den Rezipienten keiner Verarbeitung bedürfen; die liturgischen Formen werden ahistorisch als »unwandelbar« verstanden; die rituellen Komponenten des Rituals werden einseitig auf den Austausch mit dem Transzendenten festgelegt. Besonders schwerwiegend ist zu werten, dass die Funktion der Musik, speziell der Kirchenlieder, in die Theorie nicht einfließt, die sich zwar einer für Rituale typischen Sprache bedienen, zugleich aber auch durch ihren Inhalt wirken, der den meisten Teilnehmern nicht vertraut ist. Überhaupt dürfte der Grad der Vertrautheit mit rituellen Formen zu stark von nichtrituellen Formen abgegrenzt sein.
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die Aufmerksamkeit auf Begrüßung, Verabschiedung/Segen sowie auf die Gebete richtet. Darin lässt sich die Bipolarität sprachlich nachweisen anhand des Nebeneinanders von »rituellem Kern«, »institutionellen Regieanweisungen« und »umgangssprachlich hergestellter ›Bürgernähe‹«471. Die rituellen, häufig im Kollektiv gesprochenen oder dialogisch organisierten Passagen dienen dabei der »vertikalen Kommunikation«, mithilfe derer die so zur rituellen Gruppe formierten Versammelten sich an ein numinoses Gegenüber wenden. Im Gegensatz dazu übernimmt die institutionelle, »horizontale« Kommunikation die Aufgabe der Organisation der Beteiligten, die einen reibungslosen Ablauf gewährleisten soll (Regieanweisungen). Durch die darin häufig eingeflochtenen alltagssprachlichen Formen findet hier zugleich die persönliche, auf Egalität zielende Beziehungsbildung zwischen Liturg und Gemeinde statt. Ein solches Nebeneinander von institutioneller und alltäglicher Kommunikation ist auch in anderen Kontexten üblich, da Institutionen auf diese Weise versuchen, den Zwangscharakter ihrer Kommunikation zu relativieren. Da der Liturg somit als multifunktionaler Kommunikator agiert, geraten die unterschiedlichen kommunikativen Interessen und dahinterliegenden Handlungsziele immer wieder in Spannung zueinander. Dies ist etwa bei der Gestaltung von Übergängen zwischen rituellen und nicht-rituellen Teilen der Fall oder wenn der Liturg als Vertreter der Institution Handlungsabläufe vorgibt, aber zugleich an einer persönlichen Bindung mit der Gemeinde interessiert ist. Aus der klaren Aufforderung „Lasst uns beten.“ wird dann der persönliche Wunsch „Ich möchte euch bitten, euch zum Gebet zu erheben.“. Was nach Paul letztlich aber zu einer »Opposition von Institution und Ritual im evangelischen Gottesdienst« führt, sind im Wesentlichen zwei Ursachen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Zum einen lässt sich eine Legitimationskrise des Gottesdienstes als Institution feststellen. Der Verlust seiner Selbstverständlichkeit betrifft sowohl die Gemeinde als auch den Liturgen. Von letzterem wird die Asymmetrie der institutionellen Kommunikation zunehmend als problematisch empfunden. Zum anderen bestehen weitreichende Defizite in der Ritualkompetenz, die sowohl die Handlungs- als auch die Deutungskompetenz umfassen. Bereits Daiber hatte ja darauf aufmerksam gemacht, dass der Kenntnisverlust vermeintlich objektiver ritueller Formeln auch Auswirkungen hat auf die Fähigkeit der persönlichen Glaubensartikulation. Die Wechselseitigkeit von Legitimationskrise und rituellem Kompetenzverlust als zwei Formen von Handlungsunsicherheit erlaubt es nicht, eine eindeutige Trennung vorzunehmen zwischen der Tatsache, dass die Liturgie erklärungsbedürftig geworden ist und dem Empfinden auf Seiten des Liturgen bzw. der Organisation, sie für erklärungsbedürftig zu halten. Als unmittelbare Folgen der Opposition nehmen Gülich und Paul die 471 Paul: Der evangelische Gottesdienst, 93.
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Rollenkonflikte des Liturgen in den Blick. Die Kommunikationsprotokolle zeugen immer wieder vom Unbehagen gegenüber dem formalen und fixierten Charakter der agendarischen Vorgaben. Spontanität und Ritualität werden ebenso als Widerspruch empfunden wie rituelle Kommunikation und der Ausdruck einer persönlichen Beziehung unter den Anwesenden. Um die empfundene Distanz zu überwinden kommt es Paul zufolge daher zu sogenannten »Ausgleichshandlungen«. Dazu zählen Neu- und Uminszenierungen genauso wie Regieanweisungen, Moderationen, Zusatzinformationen (Programmhefte), aber auch interpretierende und deutende Äußerungen. Linguistisch entspricht dies einer »prophylaktische[n] Sicherung des Verstehens«472 mit den Mitteln institutioneller Kommunikation. Sie sollen die Rollenkonflikte des Liturgen ebenso bearbeiten wie zwischen Gemeinde und Ritual vermitteln, um so den (empfundenen) Mangel an ritueller Kompetenz zu überbrücken. Die Verschiebung der Gleichgewichte zwischen den Kommunikationsformen führt zu einem »institutionellen Überhang«. Für den evangelischen Gottesdienst insgesamt beobachtet Paul daher eine »vom Ritual fortweisende Tendenz«473. Die Problematik dieses »Überhangs« besteht darin, dass die Ausgleichshandlungen entgegen ihrer Intention zu einer weiteren Verschärfung der Problematik beitragen und die Handlungskompetenz weiter reduzieren. Indem der individuellen Inszenierung ein größerer Stellenwert beigelegt wird, erhöht sich die Abhängigkeit der Gemeinde vom Liturgen. Gesteigerte Variabilität und ritueller Kompetenzverlust bedingen sich gegenseitig: »Jede Veränderung am gewohnten Gottesdienstablauf vermindert die rituelle Kompetenz der Gemeinde: die Gemeinde wird zum Publikum.«474 Der Gewinn an Nachvollziehbarkeit und Plausibilität ist also nicht ohne einen Verlust an Partizipation zu haben. Deutlich wird dies in den Gebeten, in denen die unterschiedlichen Kommunikationsweisen häufig ineinandergreifen, Informationen und religiöse Vollzüge sich vermischen, sodass die Gemeinde »rezipierend betet oder betend rezipiert«475. Zudem wird mit den Ausgleichshandlungen in Kauf genommen, das Ritual nicht nur zu relativieren (es steht nicht mehr für sich, sondern bedarf der Kommentierung), sondern auch zu suspendieren und zu unterbrechen. Das Ziel der Wiederherstellung des Gleichgewichts zur Steigerung der Ritualkompetenz ist, so das Fazit, mit diskursiven Mitteln nicht zu erreichen. Eine Würdigung der Erkenntnisse des Ansatzes von Gülich und Paul erfordert die Einordnung in den Kontext der 1980er Jahre. Die analysierten Gottesdienste zeigen, wie die Impulse der ›langen 60er Jahre‹ im Gottesdienstalltag 472 473 474 475
G lich/Ingwer: Gottesdienst, 94. Paul: Der evangelische Gottesdienst, 98.103. AaO., 97. G lich/Ingwer: Gottesdienst, 119.
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angekommen sind. Statt einer starren Ritualpraxis findet sich allerorts das Bedürfnis, den Gottesdienst aufzulockern, zu erklären und die Liturgie moderierend zu einem Ganzen zu verbinden. Das ursprüngliche Nebeneinander von erstem und zweitem »Programm« hat sich zu einem Ineinander entwickelt. Die Grundlagen dieser Entwicklung waren im Strukturpapier bereits angelegt (s. o. 1.3.3). Diese Verbindung resultiert in linguistisch unterscheidbaren Kommunikationsformen, die den Blick auf die Spezifik ritueller Kommunikation und Inszenierung lenken. Unabhängig von der grundsätzlichen Prägung des Liturgen und dem Maß, wie Alltagssprache in den Gottesdienst bewusst integriert wird, erfährt der Wechsel der Kommunikationsrichtung eine deutliche Markierung. Ähnlich dem Verhaltenswandel beim Betreten einer Kirche lassen sich als Kennzeichen ritueller Rede unter anderem ein verändertes Sprechtempo, die Ausformulierung der Endsilben oder auch deutlichere Pausen nachweisen. »Mit Gott wird, kurz gesagt, eine andere Sprache gesprochen.«476 Dabei fällt insbesondere der Wechsel der Anredepronomen auf vom »Sie« zum »Wir«, vom Gegenüber von Liturg und Gemeinde zum Kollektiv (»Lasst uns beten.«).477 Die Autoren sehen diesen Wechsel mit Roy A. Rappaport als generelles Unterscheidungsmerkmal ritueller Kommunikation.478 Die Beobachtung erlaubt jedoch auch einen andere Deutung, die hier favorisiert wird: der real gefeierte (evangelische) Gottesdienst als Ritual kennt eben beides, Teilnehmer und Zuschauer, und darin liegt eines seiner Spezifika, das als Strategie zu verstehen ist, mit dem Problem der rituellen Vereinnahmung umzugehen.479 Die Verwendung der Höflichkeitsanrede ist dafür keineswegs eine notwendige Voraussetzung. Die Aufforderung zum Gebet etwa zeigt, dass das Gottesdienstritual den Konsens, den die gemeinsame Handlung voraussetzt, erst herstellt. Hier können Nuancen in der Formulierung durchaus relevant werden, etwa wenn die traditionelle Formel »Lasst uns beten« durch »Wir wollen beten« oder schlicht »Wir beten« ersetzt wird. Mit der Fokussierung auf die Rolle des Liturgen wenden sich Gülich und Paul einem weitgehend kaum beachteten Feld zu. Allein Jetter verhandelt das Thema zum einen unter dem Stichwort der »Stellvertretung«, das bei ihm 476 AaO., 126. 477 Unbeachtet bleibt dabei, dass der Prozess der Ritualisierung auch alltagssprachliche Wendungen erfasst. Ein saloppes »Guten Morgen!« in der Begrüßung mag für einen Gast (und den einmalig teilhabenden Forscher) umgangssprachlich wirken. Für den wiederholten Besucher bzw. den Liturgen selbst, der diese Formel allsonntäglich verwendet, ist dies nicht mehr der Fall und kann im Bewusstsein beider zum konstitutiven Bestandteil der Eröffnung werden, mit der etwa ein progressives Selbstverständnis kommuniziert und gesichert werden soll. 478 »[D]ramas have audiences, rituals have congregations. An audience watches a drama, a congregation participates in a ritual« (Roy A. Rappaport: The Obvious Aspects of Ritual, in: Ders.: Ecology, Meaning, and Religion, Richmond 1979, 173–221, 177). 479 Dieser Gedanke des Nebeneinanders von Zuschauer und Teilnehmern wurde in neuerer Zeit unter dem Stichwort der ›Theatralität‹ näher ausgearbeitet: vgl. Ursula Roth: Die Theatralität des Gottesdienstes, Gütersloh 2006; Hannes B. Pircher: Das Theater des Ritus. De arte liturgica, Wien 2010.
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noch sehr der älteren religionsphänomenologischen Tradition verhaftet scheint, zum anderen mit Blick auf den nötigen Selbstklärungsprozess, in dem er die Voraussetzung für zielgerichtetes Agieren sieht. Die linguistische Analyse ermöglicht es nun, die teilweise widersprüchlichen Handlungsprinzipien deutlich zu machen, die aus vorhandenen Rollenkonflikten resultieren bzw. diese zur Folge haben. Vor dem Hintergrund der bei Thomas genannten Ritualkonflikte lassen sich die gewählten Ausgleichshandlungen nicht nur als – bewusst gewählte – Strategien im Umgang mit der institutionellen Legitimationskrise und den tatsächlichen oder vermuteten Kompetenzdefiziten verstehen. Sie sind zugleich eine Auseinandersetzung mit respektive Vermeidung von ritueller Langeweile sowie mit der als problematisch empfunden Selbstreferenzialität, die dem Gottesdienst eine nach außen verschlossene Anmutung gibt. Dabei tritt die Ritualkompetenz und -sensibilität der Pfarrer ebenso hervor wie auch ihr häufig mangelndes Verständnis für die unterschiedlichen, jedoch gleichermaßen zu füllenden Rollenbilder. Das Bemühen, die Ritualkompetenzen zu stärken, zeugt vom Bewusstsein, dass die für einen ungestörten Ritualvollzug nötigen Voraussetzungen häufig nicht gegeben sind. Dabei handelt es sich für Gülich und Paul zum einen um einen »kollektiven Konsens der rituellen Gruppe«, zum anderen um die »Identifikation des rituellen Subjekts«480 mit der Handlung. Wo die unterschiedlichen Kommunikationsformen aber nicht sachgemäß voneinander unterschieden werden, besteht die Gefahr, eben diesen rituellen Konsens zum Transport persönlicher Überzeugungen zu missbrauchen und damit das Ritual insgesamt zu schwächen. Derartige Bemühungen laufen zudem konträr zu den auf Verstehenskontrolle verzichtenden Mechanismen, die Thomas als Spezifika ritueller Kommunikation benannt hatte. In den Protokollen fällt auf, dass die Markierung des Wechsels von ritueller zu organisatorischer Kommunikation zumeist auf der metakommunikativen Ebene stattfindet und dabei dem verbalen Gehalt mitunter sogar widerspricht. Etwa wenn einer Aufforderung zum Beten Worte folgen, die eine lediglich in feierliche Sprache gehüllte Aufforderungen an die Gemeinde enthalten. Der Umfang mit den in den Gottesdienst implementierten Ausgleichshandlungen gibt schließlich nicht nur Auskunft über die Situation der Gemeinde, sondern auch über das Selbstverständnis des Liturgen und seine Beurteilung der Frage, wieviel Ritualkompetenz er der Gemeinde zutraut. Die Herausbildung längerer Moderationspassagen im Gottesdienst spiegelt ferner die Tatsache, dass der Einschätzung des Liturgen nach bereits der gewöhnliche Ablauf die gemeindliche Kompetenz übersteigt und ihn zu Erläuterungen nötigt. Der Gottesdienst wird dadurch verstärkt zum Ort von Liturgie- und Ritualdidaktik. Weil diese aber allein auf diskursive Mittel setzt, 480 G lich/Ingwer: Gottesdienst, 127.96. Insbesondere die Momente der Akzeptanz bis hin zur Identifikation mit einer Handlung als Voraussetzung ritueller Handlungen spielen eine zentrale Rolle in der Ritualtheorie von Humphrey und Laidlaw (s. u. 9.9).
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befördert sie das bereits bei Michael Meyer-Blanck analysierte Problem der Gleichzeitigkeit von Vollzug und Reflexion (s. o. 3.1.2). Dies gilt umso mehr, da der Liturg mit seinen Ritualdeutungen zu verstehen gibt, dass diese Bedeutungszuschreibungen – »Wir wollen nun x tun, um damit y auszudrücken« – die Voraussetzung bilden, um das Ritual »richtig« zu vollziehen. Zielt man hingegen darauf, die Gemeinde aus der Publikumsrolle herauszuführen und wieder stärker zum Subjekt des Ritualvollzugs zu machen, wäre die Ritualdidaktik genötigt, andere Orte, auch außerhalb der Liturgie zu finden. Schließlich erlaubt der linguistische Blick von Gülich und Paul ein vertieftes und zugleich relativiertes Verständnis der – immer wieder als anstößig empfundenen – Bezeichnung des Gottesdienstes als »Gesamtritual«. Der empirische Zugang führt über die agendarischen Vorgaben hinaus und erfasst neben den genuin rituellen Passagen die dem Umfang nach keineswegs unerheblichen Kommunikationsanteile, die in jenem weder verzeichnet noch vorgesehen sind, aber das tatsächliche liturgische Geschehen wesentlich prägen.481 Es wird deutlich, dass innerhalb dieses Rituals nicht nur unterschiedliche Form der Partizipation (Publikum und Gemeinde), sondern auch unterschiedliche Kommunikationsebenen bestehen, die sich anhand der Sprache nachweisen lassen und die unter anderem darüber bestimmen, wie stark oder schwach die Nähe zwischen Gottesdienst und Alltag empfunden wird. Auch bei Gülich und Paul werden Reflexivität und Diskursivität trotz ihrer zentralen Rolle in gegenwärtigen Gottesdiensten vorwiegend als Hindernisse und Gefahren für rituelle Kommunikation wahrgenommen. Dies lässt die Frage aufkommen, ob es in der Beschreibung des Gottesdienstes als Ritual weniger um scharfe Trennungen gehen sollte als darum, auf jene Mechanismen aufmerksam zu werden, durch die explizit Rituelles und Organisatorisches sowie Kontingentes im Ritual integriert werden.
3.2.5 Das Ritual als symbolische Kommunikation Die Beschreibungen des Rituals als »symbolisches Handeln« oder als Form »symbolischer Kommunikation« sind in den bisher behandelten Theorieansätzen immer wieder aufgetaucht. Die enge Verbindung der Begriffe von ›Symbol‹ und ›Ritual‹, die nicht zuletzt im Titel von Jetters Monografie greifbar wird, lässt die Frage aufkommen, worin die Symbolizität des Rituals genauer besteht und wie das Verhältnis beider Begriffe zu bestimmen ist. Der 481 Die insbesondere auf Goffmanns Interaktionstheorie aufbauende Analyse wird neuerdings durch mikrosoziologische Zugänge noch einmal intensiviert und durch die Videoanalysen erweitert (vgl. Randall Collins: Violence. A Micro-sociological Theory, Princeton 2008; Hubert Knoblauch u. a. [Hg.]: Video Analysis: Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology, Frankfurt a. Main 32012).
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folgende Abschnitt zielt nicht darauf, den jeweiligen Symbolbegriff zu rekonstruieren, der den zahlreichen Ritualdefinitionen zugrundeliegt. Vielmehr sollen einige historische und systematische Grundlinien eine Orientierung zur Verwendung des Symbolbegriffs ermöglichen und die Anliegen verdeutlichen, die mit der Kombination von ›Symbol‹ und ›Ritual‹ verbunden sind. Notwendig ist dies nicht zuletzt deshalb, weil der Symbolbegriff wie der Ritualbegriff aufgrund seiner vielfachen interdisziplinären Verwendung eine enorme Bandbreite an Bedeutungen annimmt, die Abgrenzungsfragen dauerhaft virulent machen und immer wieder dazu führen, seine hermeneutische Erschließungskraft generell in Frage zu stellen.482 Der für den Ritualbegriff lange Zeit prägende Symbolbegriff entstammt der Religionsphänomenologie, einer bedeutenden Richtung innerhalb der Religionswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Interesse am ›Symbol‹ mit dem Interesse an ›Mythos‹, ›Ritual‹ und ›Magie‹ in enger Verbindung stand. Unter Rückgriff auf platonische und inkarnationstheologische Ideen benennt das ›Symbol‹ ein Sichtbarwerden der Transzendenz unter den Bedingungen der Immanenz. So sprach etwa Gerardus von der Leeuw vom Altar als dem »eigentlichsten Symbol«483. Es repräsentiert die metaempirische Wirklichkeit in einer nicht substituierbaren Form. Neuere Theorien etwa von Clifford Geertz legen einen weiteren Begriff zugrunde, der das ›Symbol‹ aus dem religiösen Kontext herauslöst und die Religion als kulturelles System zugleich als Symbolsystem versteht. Das Symbol in Gestalt eines Objektes oder einer Handlung fungiert dabei als Bedeutungsträger abstrakter Vorstellungen und ermöglicht deren Kommunikation. Für Fritz Stolz, der diesem Ansatz folgt, besteht der Kern des Symbols und damit die Spezifik seiner Kommunikationsweise in seiner »Zeigefunktion« bzw. seinem »Verweischarakter«484. Dieser wird für ihn auf drei Ebenen realisiert: »als Gefüge von handlungsmäßigen, visuellen und sprachlichen Elementen«. Insofern die visuellen und sprachlichen Elemente auch innerhalb des Handlungszusammenhangs ›Ritual‹ vorkommen, ergibt für Stolz »die Synthese solcher Rituale […] das Symbolsystem«485 einer Religion. Die Systematik von Stolz erlaubt es zum einen, die Spezifik des Rituals als Symbolgestalt in seinem Handlungs482 Bereits Iwar Werlen distanzierte sich in seiner Ritualdefinition (s. o. 3.2.3) vom Symbolbegriff: »In einer früheren Fassung der Definition (Werlen 1978) wurde von ›symbolisch‹ gesprochen, das uns jetzt aber zu belastet erscheint durch die unterschiedlichen Verwendungsweisen in der Semiotik und mit ihr verwandter Disziplinen. Wir wählen daher ›expressiv‹ und verstehen das in dem sehr weiten Sinn, daß die ausgeführte Handlung A für einen bestimmten ›Inhalt‹ B steht, wobei diese Relation stehen für noch unbestimmt ist« (Ritual und Sprache, 82 f., H.i.O.). Äußerst kritisch äußert sich auch Ulrich Berner: Art. Symbol/Symbole/Symboltheorien I. Religionswissenschaftlich, in: RGG4 Bd. 7 (2004), 1921 f., 1921: »Es stellt sich die Frage, ob der Symbolbegriff noch brauchbar ist, wenn er so ausgeweitet wird, oder ob er dann nicht durch den Begriff des Zeichens zu ersetzen wäre« (aaO., 1922). 483 Gerardus van der Leeuw: Phänomenologie der Religion, Tübingen 31970 [1933], 511. 484 Fritz Stolz: Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, 101 f. 485 AaO., 116.
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bezug zu bestimmen. Zum anderen macht sie die vielfach beobachteten Überschneidungen beider Begriffe (s. o. 2.3.3; 2.5.2.3) verständlich, da andere Symbolgestalten wiederum im Ritual integriert sind. Damit ist zugleich der gelegentlich geäußerten Ansicht widersprochen, es gäbe eine Ritualpraxis auch unabhängig von ihrem symbolischen Charakter, womit dann häufig das »leere Ritual« gemeint war. Stattdessen ist festzuhalten, dass Symbole wie Rituale der kulturellen Dynamik unterliegen, sodass Gegenstände, Handlungen, aber auch sprachliche Wendungen einen symbolischen Charakter erhalten, diesen aber auch wieder verlieren können. Der Blick auf die Rezeption des Symbolbegriffs innerhalb der Theologie zeigt zunächst die weitreichende historische Verwurzelung bis in die Zeit der Alten Kirche.486 Nicht zuletzt durch die Aufnahme bei Schleiermacher besitzt der Begriff im Protestantismus eine durchgehende Anerkennung.487 Im 20. Jahrhundert wurde der Symbolbegriff konfessionsübergreifend zu einem zentralen Begriff der Theologie insgesamt und speziell der Liturgiewissenschaft.488 Ihn ins Zentrum zu stellen ermöglichte etwa Jetter ein Anknüpfen an liturgische Tradition im Protestantismus, das für den Ritualbegriff so nicht möglich war. Zahlreiche Autoren griffen dabei auf die erwähnte Symboltheorie von Susanne K. Langers zurück (s. o. 2.5.2.1) und schrieben dem ›Symbol‹ die Rolle zu, einen »Grundakt des Verstehens wie als Grundakt der Verständigung«489 zu bezeichnen. Ähnlich fundamental plädiert auch Ernst Lange auf dem Düsseldorfer Kirchentag von 1973 für diese Form der Kommunikation: »Symbole sind lebenswichtig.«490 Diese nachhaltige Betonung spiegelt nicht zuletzt die Sorge um den Verlust der »Symbolfähigkeit« des modernen Menschen. Diese stand wiederum im größeren Kontext der Frage nach der »Liturgiefähigkeit« (Guardini491). Einen solchen Verlust befürchtete man vielfach auch für Fähigkeit der Ritualpartizipation.492 486 Zur Geschichte des Begriffs vgl. Kohlschein: Symbol und Kommunikation, 200–204. 487 Neben vereinzelten Bezügen u. a. bei Jetter findet eine umfassendere Schleiermacherrezeption in der Praktischen Theologie erst seit den 1980er Jahren statt. 488 Dies gilt für die katholische (Odo Casel, Romano Guardini) und die orthodoxe Theologie (Alexander Schmeemann), wo der Symbolbegriff eine zentrale Stellung hatte für die Theologie des christlichen Mysteriums, die sich mit Technisierung und Szientismus auseinandersetzte bzw. davon abgrenzte und insgesamt von einer gänzlichen Neugewichtung der Eucharistie als Grundvollzug der Kirche ausging. Aber auch für die protestantische Theologie spielte der Symbolbegriff eine wichtige Rolle, so etwa bei Hans Lietzmann oder Peter Brunner. Vgl. die Beiträge zu den einzelnen Autoren in Benedikt Kranemann/Klaus Raschzok (Hg.): Gottesdienst als Feld theologischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Deutschsprachige Liturgiewissenschaft in Einzelporträts, Münster 2011. 489 Zitiert nach Feifel: Symbolerziehung, 309. 490 Lange: Was nützt uns der Gottesdienst?, 87. 491 S. o. 1.3.1. 492 Vgl. etwa die Klage bei Jorissen/Meyer: Zeichen und Symbole im Gottesdienst, 48: »Früher trug der Ritus die, die ihn feierten. Heute muß die christliche Gemeinde ihr rituelles Programm tragen.«
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Für seine weit verbreitete Rezeption innerhalb der Praktischen Theologie im Gefolge der sogenannten ›empirischen Wende‹ müssen mehrere Faktoren herangezogen werden. Der Symbolbegriff ermöglichte zunächst eine Vielzahl intra- wie interdisziplinärer Bezüge. Er ist anschlussfähig an die Religionswissenschaft ebenso wie an Philosophie, Psychologie, Musik, Kunst, Ästhetik, Literatur oder Politik.493 Darüber hinaus ermöglichte er neue Beziehungen zwischen Liturgik und systematischer Theologie, etwa im Bereich der Sakramentenlehre oder der Schöpfungstheologie, in der parallel die Begriffe Natur, Umwelt und Körper eine Aufwertung erfuhren.494 Neben dieser wissenschaftsorganisatorischen Funktion verband sich mit dem Symbolbegriff zum einen die neue Ausrichtung auf die Dimensionen von Leiblichkeit und Ästhetik. Hierdurch kamen auch der Materialität und konkreten Gestalt des Symbols eine Bedeutung zu jenseits einer direkten Relation zwischen dem Symbol und einer mit ihm verbundenen Vorstellung. Das Symbol steht für einen Überschuss an eindeutig explizierbarer Bedeutung und ist zugleich Ausdrucksmittel von Bedeutung, die mit seinem expressiven Charakter bezeichnet werden. Zum anderen wandte man sich mit dem Symbolbegriff gegen die Intellektualisierung495 und Politisierung des Glaubens sowie gegen die ausschließliche Orientierung am instrumentellen, zweckrationalen Denken.496 Stimmen, die wie Spiegel den symbolischen Charakter liturgischer Kommunikation als problematisch erachteten, weil sie erhöhte Zugangshürden für die Teilnehmer bedeuteten, blieben die Ausnahme.497 Stattdessen wurden Symbole als kulturell codierte Marker verstanden, die Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck brachten. Die Identifikation mit ihnen war Teil der Identitätsge493 Vgl. 1.3.2.2 sowie Arno Schilson: Symbolwirklichkeit und Sakrament. Ein Literaturbericht, in: LJ 40 (1990), 26–52, besonders 31–34. 494 Großen Einfluss hatte insbesondere der Symbolbegriff Paul Tilllichs. Man darf dabei von einem Einfluss seiner liturgischen Prägung und Überzeugungen ausgehen, da er den Begriff während seiner Berneuchener Zeit in den 1920er Jahren entfaltete. Eine breite Rezeption setzte jedoch erst ein mit der Herausgabe des Sammelbandes Symbol und Wirklichkeit 1962 sowie mit dessen Wiederauflage 1986 (vgl. Martin Leiner: Tillich on God, in: Russell Re Manning [Hg.]: The Cambridge Companion to Paul Tillich, Cambridge 2009, 37–55). 495 Steffensky: Glossolalie – Zeichen – Symbol, 83: »Es ist eine Intellektualisierung des Gestischen erfolgt, so daß die Inhalte des Symbols völlig aussagbar geworden sind.« 496 Dieser Bestimmung folgen auch neuere symbolorientierte Ritualtheorien. So beschreibt Burckhard Dücker Rituale als »symbolrationales Handeln« (D cker: Rituale, 102–108). 497 Zur These Spiegels s. o. 2.3.3. Auch die bereits erwähnte Ökumenische Vollversammlung von Uppsala 1968 rief angesichts der Gottesdienstkrise die Liturgiewissenschaft auf, die gottesdienstlichen Symbole auf ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen: »Wenn aber die Kommunikation [sc. innerhalb des Gottesdienstes] wirksam sein soll, müssen sich die Christen fragen, ob ihre gewohnten Symbole heute noch geistliche Wirklichkeiten vermitteln können. Deshalb bitten wir […] eine Untersuchung über die im Gottesdienst und in der Gegenwartsliteratur verwendeten Symbole (auch der Wortsymbole) durchzuführen. […] Da christliche Symbole für die Kommunikation unerläßlich sind, muß unsere Zeit ihre eigenen Symbole beitragen« (Bericht aus Uppsala, 88).
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nerierung. In diesem Bereich zeigt sich besonders deutlich die Überschneidung mit jenen Leistungen, die dem Ritual zugeschrieben werden. Zentrales Anliegen der Verbindung von Symbol und Ritualbegriff war schließlich die Einsicht, dass die alleinige Verortung des Symbols im Kontext von Zeichen und direkter Repräsentation bestimmter inhaltlicher Vorstellungen ungenügend war und die Tatsache vernachlässigte, dass Symbole häufig innerhalb eines Handlungskontextes vorkamen und selbst Ergebnis von Handlungsvollzügen waren. Dies ließe sich besonders anschaulich am Symbol des Kreuzes zeigen, das zum einen als direkte Referenz und zeichenhafter Stellvertreter für die christliche Religion fungiert, darüber hinaus aber jeweils neu aktualisiert und verändert wird, wenn es als Vortragekreuz gebraucht wird oder in vielfältiger Weise im Rahmen von Bekreuzigungen vorkommt, sei es im Kontext der Taufe, des Aschermittwochs oder der Selbstbekreuzigung. Symbole sind also nicht einfach da, sondern sie entstehen und vergehen und werden durch rituelles Handeln vermittelt.498 Jetter drückt diese Wahrnehmung darin aus, dass er überwiegend vom Prozess des »Symbolisierens« und von symbolischen Kommunikationsvollzügen spricht. Unter »Symbolisieren« versteht er die »Zusammenschau von Erfahrungen im Austausch über sie«499, womit dem Symbol sein »Sitz im Leben« sowohl im Kontext der Rezeption (»Zusammenschau«) als auch der Reflexion (»Austausch«) zugewiesen wird. Im Umfeld der Untersuchung liturgischer Ritualtheorien hatte sich gezeigt, dass beide Begriffe keineswegs von Anfang an verbunden waren, um diesen symbolischen Handlungskontext zu benennen. Horst Jürgen Helle etwa verstand Symbole als im Laufe der Zeit geronnenes symbolisches Handeln.500 Auch Fulbert Steffensky spricht vom »gestischen Symbol«501 und verzichtet dabei noch auf den Ritualbegriff. Die explizite Verbindung beider Begriffe begegnete erst bei Karl-Fritz Daiber.502 Damit erweist sich die Auffassung Peter Biehls als nur bedingt zutreffend, dass »[d]ie Wiederaneignung des
498 Daiber etwa versteht Rituale als Symbolvermittler: »Der christliche Gottesdienst hat als religiöses Ritual sinnstiftende Funktion, insofern er einzelnen und Gruppen Symbole christlicher Tradition vermittelt, die es erlauben, Alltagserfahrung als Transzendenzerfahrung zu deuten« (Bedingungen, 79). 499 Jetter: Symbol und Ritual, 87. 500 S. o. Anm. 198. Vgl. auch aaO., 137. 501 Steffensky: Glossolalie – Zeichen – Symbol, 84. 502 S. o. 2.3.3. Die Kombination beider Begriffe besitzt gleichwohl eine wesentlich längere Geschichte. Bereits bei Theodosius Harnack: Praktische Theologie. Erster Theil. Einleitung und Grundlegung, Erlangen 1877, 399 werden »liturgischer Ritus« und »Symbol« unmittelbar nebeneinander genannt: »Den liturgischen Ritus und das Symbol endlich betreffend, so spricht der Geist zum Geiste nicht bloss mittelst des Worts, sondern auch durch bedeutsame Zeichen, da er sich alles Leiblichen und Natürlichen zum Organ seiner Selbstdarstellung bedienen kann.« Dabei sei an das Symbolische die Forderung zu erheben, die Forderung: »dass sie nicht selbständig auftrete, sondern stets nur das Wort begleite« (ebd.).
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S[ymbolbegriffs …] sich in der Liturgik über ein erneuertes Ritualverständnis«503 vollzog. Was in der Folge jeweils unter dem Symbol verstanden wurde, konnte stark variieren und verblieb oft in der zwar zutreffenden, aber doch wagen Vorstellung, dass Symbole eben »mehr« sagen, als was allein durch Worte sagbar ist und damit sowohl ein Deutungsangebot bereitstellen wie auch selbst unterschiedlichen Deutungen zugänglich sind.
3.2.6 Fazit Die Auseinandersetzung mit dem Ritual als Kommunikationsform wurde vor allem aus der Perspektive außertheologischer Forschung dargestellt. Während aus theologischer Sicht die Frage nach den Ursachen der Kommunikationskrise und dem vermeintlichen Verlust der Attraktivität, aber auch der Wirkung von Ritualen gestellt wurde (Daiber), gehen sprachwissenschaftliche Zugänge von der Liturgie selbst aus, sei es von ihrer agendarischen Vorlage (Werlen) oder von tatsächlich gefeierten und dokumentierten Gottesdiensten (Gülich/Paul, Werlen). Damit rücken der Vollzug der Handlung und ihre inneren Mechanismen in den Blick. Zugleich wurde versucht, Inhalt und Kommunikationsmodus aufeinander zu beziehen. Dadurch ergaben sich interessante Einsichten für die rituelle Organisation kollektiver Vollzüge, der Konstitution von Rollen sowie zur Vielzahl von Sprechhandlungen, die der Vermittlung und Aneignung von Inhalten aber auch der rituellen Form dienen sollen. Der »Kommunikationswert« des Gottesdienstes umfasst damit wesentlich mehr als die von Peter Cornehl betonte Beziehungspflege.504 Im Gegensatz zu den psychologischen Ansätzen, die durchgehend die Einheitlichkeit und innere Stringenz des Gottesdienstablaufs, insbesondere der Messform, hervorhoben, wurde hier nun mit Blick auf die vielfältigen Formen von Rahmungen und Übergangsgestaltung seine Sequenzialität deutlich, die zugleich mit einem erheblichen Maß an Autonomie der einzelnen Teile zueinander verbunden ist. Bereits frühere Definitionen hatten die Institutionalisierung des Rituals benannt. Doch die Unterscheidung zwischen ritueller und institutioneller Sprache (Paul und Gülich) war wesentlich besser geeignet, die Spannungen gegenwärtiger Gottesdienstpraxis zu erfassen – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Gestaltungsparadigmas. Deutlich wurde dabei nicht zuletzt die Integrationskraft ritueller Vollzüge und damit die Weite ritueller Kommunikation deutlich. Diese wird zudem nicht automatisch unwirksam, wenn ihr andere Formen zur Seite gestellt werden. Dennoch weisen die Autoren immer wieder auf die Gefahr hin, dass die Kommunikation gerade 503 Peter Biehl: Art. Symbol/Symbole/Symboltheorien VII. Praktisch-theologisch, in: RGG4 Bd. 7 (2004), 1928f., 1929. 504 Vgl. Cornehl: Aufgabe und Eigenart, 16f.
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im protestantischen Gottesdienst einen deutlichen institutionellen Überhang aufweist. Durch das permanente Angewiesensein auf Informationen über nachfolgende Geschehen wird die Partizipationsmöglichkeit der Gemeinde einschränkt. Umso wichtiger ist, verstärkt auf die Übergänge zwischen den einzelnen Sequenzen und ihre jeweiligen Marker zu achten (z. B. Gebets- oder Handlungsanweisungen). Damit soll nicht zuletzt das Bewusstsein unter den Liturgen geschärft werden für die unterschiedlichen, von ihnen auszufüllenden kommunikativen Rollen. Die Einsichten zur »technischen« Seite ritueller Kommunikation lenkten schließlich auch den Blick auf die Zugangsvoraussetzungen und damit auf die notwendige Ritualkompetenz. Der von Guardini aufgeworfenen Frage nach der »Ritualfähigkeit« gilt es mithilfe verstärkter liturgie- und ritualdidaktischer Bemühungen nachzugehen. Insgesamt bestätigen auch die linguistischen Analysen den Eindruck, dass es längst nicht mehr – wie in den siebziger Jahren – um die Entdeckung der rituellen Struktur des Gottesdienstes geht, sondern um deren Schutz und Bewahrung. 3.3 Ritual und Spiel Zahlreiche Formen sozialer Interaktion werden durch sprachliche Wendungen begleitet, die dieses Verhalten als Spiel interpretieren, das man ›mitspielt‹ oder eben auch nicht mehr. Auch im Gottesdienst wurde und wird gespielt, sei es im unmittelbaren Sinn in Form von Ballspielen in den Labyrinthen französischer Kathedralen oder durch Wortspiele, die in der Osterpredigt das Lachen der Hörer provozieren sollen. Auch dann, wenn der spielerische Charakter der Handlung sich in subtileren Formen äußert oder die Liturgie als Ganze als Spiel begriffen wird, stellt die nähere Bestimmung des Verhältnisses von Spiel und Ritual eine Herausforderung dar. Nicht immer ist klar erkennbar, ob es sich um ein Spiel mit rituellen Zügen handelt oder ein spielerisches Ritual. Bereits 1918 hatte Romano Guardini in seiner berühmten Definition der Liturgie die Auseinandersetzung mit dem Spiel als Aufgabe der Liturgik bestimmt: »Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie.«505 Die protestantische Theologie sieht darin freilich gern eine Spiegelung der Überlegungen Friedrich Schleiermachers, den Gottesdienst als »darstellende« und insofern zweckfreie Tätigkeit zu beschreiben, die nach Darstellern und insofern auch nach Spielern verlangt. Spielerische Leichtigkeit als Teil der rituellen Inszenierung klingt nicht zuletzt an in Josuttis’ schon zitierter Bezeichnung des Gottesdienstes als einer »Party«. Es ist also zu fragen, welche konkreten Eigenschaften und Handlungsvollzüge des Rituals unter der Perspektive seines 505 Romano Guardini: Vom Geist der Liturgie, Mainz/Paderborn 201997, 30.
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Spielcharakters in Vordergrund treten und was die Deutung des Rituals vom Spiel her überhaupt motiviert.
3.3.1 Das Spiel zwischen »bloß so« und »heiligem Ernst« (J. Huizinga) Für eine erste Orientierung im Schnittfeld von ›Ritual‹ und ›Spiel‹ bietet sich noch immer der Rückgriff auf Johan Huizingas 1938 unternommenen Versuch an, die kulturfundierende Funktion des Spiels nachzuweisen. Sie dient nicht nur neueren kulturtheoretischen Spieltheorien noch immer als Ausgangspunkt, insbesondere die darin gebotene Definition des Spiels. Darüber hinaus zeigt Huizingas Ansatz zahlreiche Parallelen zu Fragestellungen gegenwärtiger Ritualtheorie. Interessant ist nicht zuletzt die hohe Übereinstimmung des methodischen Zugangs zum ›Spiel‹ mit dem ritualtheoretischen Ansatz der vorliegenden Studie. »Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹.«506
Mit dieser Definition sind sowohl die innere Organisation wie auch die äußeren, formalen Kennzeichen des Spiels beschrieben. Spiele sind zum einen wesentlich durch ihre Selbstzweckhaftigkeit gekennzeichnet. Diese korreliert mit dem Kriterium der Freiwilligkeit, denn was von keinen äußeren Interessen bestimmt ist, kann auch nicht erzwungen werden wollen. Weil damit der Kontext funktionaler Rationalität verlassen ist, tritt das Spiel in seinem Kontrast zur Alltagsrationalität, in seiner Außeralltäglichkeit hervor. Zum anderen bedarf das Spiel festgesetzter, in ihrer Gültigkeit auf das Spiel begrenzter und von den Akteuren anerkannter Regeln. Diese bestimmen die Ordnung des Spiels, sie ermöglichen seine Wiederholbarkeit, verleihen ihm eine ästhetische Qualität – das Spiel hat eine »gewisse Neigung, schön zu sein«.507 Die Besonderheit des Spiels besteht somit insbesondere in der Spannung zwischen Freiwilligkeit und verpflichtenden Regeln, die sich in einem das Spiel häufig begleitenden »heiligen Ernst« äußert. Dass die Regeln zwar verpflichtend sind, aber keine vollständig determinierte Handlungskette erzeugen, sondern einen »Spielraum« zulassen, darf als Ursache jener vorwiegend positiven Gefühle verstanden werden, die den Spielverlauf begleiten. Mit der Rede vom »heiligen Ernst« ist bereits begrifflich die Nähe zum Religiösen hergestellt, die Huizinga zuvor auf formaler Ebene feststellte: Spiel 506 Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 1987 [1938], 34. 507 AaO., 17.
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wie Ritual durchbrechen die Homogenität von Zeit und Raum und erschaffen ausgesonderte Bereiche, wie sie Tempel oder Kirchen darstellen: »Wir rühren hier an die Grundlagen der Religionswissenschaft, an die Frage nach dem Wesen von Kult, Ritus und Mysterium«508. Beiden liegen Regeln zugrunde, die absolute Geltung besitzen und deren Verletzung zumindest die Wiederholung der Handlung notwendig machen oder gar Sanktionen nach sich ziehen. Als Handlungen zeichnen sich Spiel wie Ritual dadurch aus, dass sie mit hoher Intensität und Hingabe ausgeführt werden. Hinsichtlich dessen, was beide Handlungen schließlich unterscheidet, äußert sich Huizinga zögerlich: das Spiel betrachtet er als durchzogen von einem »Bewußtsein, wenn es auch noch so sehr in den Hintergrund gedrängt sein mag, daß man ›bloß so tut‹. Es bleibt die Frage, inwieweit ein derartiges Bewußtsein auch mit der mit Hingabe verrichteten heiligen Handlung verbunden sein kann.«509 Das Spiel kann sich an seiner eigenen Welt genügen lassen, was darin erreicht oder verloren wird, ausgedrückt oder unterdrückt wird, hat keine Folgen für die das Spiel umgreifende Welt. Das Ritual hingegen wird mit einem Anspruch vollzogen, Auswirkungen auf den eigenen sozialen, rechtlichen, religiösen Status zu bewirken – nicht zuletzt deshalb ist die Teilnahme an vielen Ritualen, d. h. die Möglichkeit in ihren Regelraum überhaupt erst eintreten zu können, häufig an Bedingungen und spezifische Voraussetzungen geknüpft. Zur Entfaltung seiner These von der kulturfundierenden Rolle des Spielens sah sich Huizinga vor allem deshalb veranlasst, weil er das ›Spiel‹ unter dem vorherrschenden ausschließlich funktionalen Zugriff phänomenologisch unterbestimmt sah. Das Ziel, »[d]en Spielbegriff dort anzupacken, wo die Biologie und die Psychologie mit ihm fertig sind«, heißt für ihn, das »Spiel als eine bestimmte Qualität des Handelns« aufzufassen und danach zu fragen, »wie der Spieler es selber nimmt.«510 Huizinga postuliert somit den Anspruch, eine Theorie des Spiels habe sich vor allem dem Handlungsprozess selbst zuzuwenden und dabei zugleich nach der Perspektive der Akteure zu fragen.
3.3.2 Spiel und Ritual im Wechselspiel? Die Rezeption Huizingas und damit auch eine signifikante Auseinandersetzung mit dem ›Spiel‹ innerhalb der Praktischen Theologie setzten erst wieder zu Beginn der 1970er Jahre ein. Es ist durchaus bemerkenswert, dass ›Spiel‹ und ›Ritual‹ in der evangelischen Liturgik zur selben Zeit eine Wiederentdeckung und zugleich eine Neuausrichtung erfuhren. Der als Anfang der ritualtheoretischen Debatte verortete Beitrag von Seydel trägt beide Begriffe 508 AaO., 22. 509 AaO., 29. 510 AaO., 11.
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gleichgewichtig nebeneinander im Titel: Spiel und Ritual.511 Diese werden als »zwei Pole« benannt, die für eine Reform des Gottesdienstes in ein konstruktiv-komplementäres Verhältnis zu setzen sind, um ihre jeweilige Einseitigkeit in einer neuen Synthese zu kompensieren. Unter Ausgrenzung des vom Griechischen her für das Spiel gegebenen Bezugs auf agonale Handlungen soll dazu das Spiel als paidi\ und damit als gegenwartsbezogene, zweckund absichtslose, aber auch narzisstische Realisation von Freiheit auf das in geschichtlicher Kontinuität stehende und auf die Repräsentation einer anderen Wirklichkeit abzielende, gemeinschafts- und ordnungsstiftende Ritual bezogen werden. Was bei Seydel im Bild der ausbalancierten Waage präsentiert wird, mündete schon bald in unterschiedliche, sich aber immer wieder berührende und überschneidende Diskurse, die ihre anthropologische Grundlegung jeweils auf einem der beiden Begriffe aufbauen. Mit den Begriffen ›Spiel‹ und ›Ritual‹ werden weniger unterschiedliche Handlungen benannt. Vielmehr wird auf unterschiedliche Dimensionen kollektiver, regelgebundener und mit besonderem Inszenierungsanspruch ausgeführter, zeit-räumlich abgegrenzter Handlungen aufmerksam gemacht. Ob aber das Spielerische im Ritual oder der rituelle Charakter des Spiels untersucht wird, welche Kategorie also die jeweilige Leitperspektive darstellt, ist für die Bewertung dessen, was Ritual und Spiel jeweils sein sollen, nicht unerheblich.
3.3.2.1 Vom Ritual zum Spiel: Rituale als erspielte Möglichkeitsräume (W. Jetter, K.-H. Bieritz, H.-G. Heimbrock) Werner Jetters Überlegungen zum ›Spiel‹ finden sich in Symbol und Ritual vornehmlich im Rahmen der Erörterungen zur präsentativen Symbolik (s. o. 2.5.2.1). Als Symbolgestalt ist das Spiel – wie auch das Kunstwerk – eine Auseinandersetzung mit dem »Mehr-als-Notwendigen«. Das Spezifikum des Menschen, ja des Menschseins überhaupt liegt für Jetter darin, dass diese Auseinandersetzung einer Dialektik unterliegt, die ihr selbst wiederum eine Notwendigkeit verleiht. Im Spiel nimmt der Mensch ein »Leben ohne den Druck der ehernen Notwendigkeiten vorweg«, auf dem Weg der Symbolisierung erprobt er »eine Gegenwelt größerer Freiheit«512 an den Rändern einer technisierten und wissenschaftsdominierten Welt. Der so erzeugte symbolische »Spielraum« erlaubt unterschiedliche individuelle Gestaltungen und verwirklicht so den integrativen Charakter von Symbolen. Genau in dieser Hinsicht ist das Ritual – neben dem Symbolbegriff der zweite Fokus der Arbeit 511 Jenes unter 2.1 erwähnte Themenheft enthielt nicht nur Seydels Ausatz, sondern auch den für den Spieldiskurs wichtigen Beitrag von Gerhard M. Martin: Eine neue Genitiv-Theologie? Gibt es so etwas wie eine ›Theologie des Spiels‹?, in: WPKG 60 (1971), 516–523. 512 Jetter: Symbol und Ritual, 54.
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Jetters – auch Spiel: »Daß Rituale einem Überschuß an Bedeutung Raum geben können, nur dies macht ihre Wiederholung sinnvoll: es bleibt darin ein Spielraum der Freiheit, in dem Neues zum Zug kommen kann.«513 Die Wiederholung ist somit Ausschöpfen der Möglichkeiten im Modus des Erprobens. Insofern das Spiel auf »Mitspieler« ausgerichtet und angewiesen bleibt, schließt es »den Willen zum Zusammenleben zwangsläufig mit ein«514. Weil die dabei »erspielten« Möglichkeiten dem Menschen jedoch schnell zum Unverzichtbaren werden, wird »aus dem Mitspieler wieder der Knecht seiner selbst inszenierten Notwendigkeiten«515. Spiel und Ritual teilen sich die Grundeigenschaft der Ambivalenz. Damit sind zunächst einmal anthropologische Einsichten formuliert, die noch keinen notwendigen liturgischen und theologischen Bezug beinhalten. Der entscheidende Anknüpfungspunkt für das Religiöse ist die im Spiel inszenierte, auf Freiheitsgewinn ausgerichtete Utopie. Darüber hinaus kann unter der Prämisse, dass der Gottesdienst ein Ritual ist, mit Hilfe spieltheoretischer Ansätze und Metaphern das Verständnis von Ritualität erweitert werden. Mit Blick auf das Spiel zeigt sich das Ritual eben nicht von einer traditionellen, starren Seite, wie noch bei Seydel, sondern das Ritual erscheint als spielerisch wiederholte Umgangsweise mit Symbolen. Das wiederholte Ausloten alternativer Welten setzt nicht nur Mitspieler voraus, sondern auch, dass deren Welten miteinander kompatibel sein müssen. Der spielerische Charakter des Rituals zeigt sich in seiner Ausrichtung auf das Zusammenspiel, auf das Gewinnen von »Mitspielern« und darin, dass es das Nachspielen und Mitspielen nicht aufgrund seiner vermeintlich starren Form und Rollenverteilung den Teilnehmern abnimmt, sondern Partizipation gerade zumutet. Die Perspektive des Spiels macht aufmerksam auf die unterschiedlichen liturgischen »Rollen« und die Veränderungen im »symbolischen Rollenspiel«, etwa im Blick auf den Wandel des Priesterbilds. Obgleich diese ›Rolle‹ zwar nachreformatorisch anders codiert ist, bleiben die Spielregeln und damit auch die Pflicht zur Rollenübernahme bestehen, die nur begrenzt eine persönliche Ausgestaltung zulässt.516 Das Ritual vom Spiel her zu betrachten öffnet schließlich den Blick auf Rituale als nichtnotwendige bzw. jenseits des Notwendigen liegende Handlungen. Wird das »geregelte Rollenspiel« des Rituals als spielerischer Erprobungsraum von Freiheit gedeutet, zeigt es sich in besonderer Weise anschlussfähig an ein protestantisches Gottesdienstverständnis, ohne dass dieser Anschluss explizit hergestellt würde. Immer wieder wird anhand der verwendeten Begriffe ein deutlicher Bezug des Spieldiskurses
513 514 515 516
AaO., 104. AaO., 116. AaO., 70. Vgl. aaO., 149.
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zu theatralen Vollzügen deutlich, die in jüngerer Zeit erhöhte Aufmerksamkeit erfahren haben.517 Auch Karl-Heinrich Bieritz macht den Spielbegriff zum zentralen Ansatzpunkt seiner gottesdienstlichen Theoriebildung. In seinem Beitrag zu einer »praktisch theologischen Spieltheorie«518 geht er insbesondere der Frage nach der Unterscheidung und Abgrenzung von Spiel und Nichtspiel nach. Zwar scheinen die geläufigen Entgegensetzungen von Spiel und Ernst, Spiel und Arbeit der Sonderwelt des Spiels eindeutige Grenzen zu setzen, in der Praxis jedoch erweist sich die Unterscheidung vielmehr als »eine Frage deutenden gedeuteten Erlebens«519 und somit als Resultat von Rezeptions- und Zuschreibungsprozessen, die grundsätzlich eine Übereinkunft unter den Akteuren vorsehen. Das Verhältnis von Spiel- und Nichtspiel bleibt bei Bieritz jedoch eines der gegenseitigen Bezugnahme. Anschaulich wird dies für ihn besonders am Beispiel des Kultes: »Kultwirklichkeit und Weltwirklichkeit …] verhalten sich […] zueinander wie […] zwei Seiten einer Wirklichkeit, die im Kult keineswegs nur abgebildet, dargestellt und nachgespielt, sondern darin und dadurch buchstäblich wieder(ge)holt, erneuert, vergegenwärtigt wird«520. Die im Zusammenhang mit der Ritualität des Gottesdienstes stets virulente Frage nach der Verbindung von allgemeinem und spezifischem Gottesdienst erhielt mit Blick auf das Spiel insofern eine Klärung, dass Bieritz den Kult bzw. das Ritual als spielerischen Umgang mit der Alltagswirklichkeit versteht. Diese ist Spiel insofern, als ihre Wirksamkeit nicht unmittelbar auf den Alltag durchschlägt. Sie ist aber zugleich Ritual und »Ernst«, da der Alltag als Gegenstand des Spiels durch das Spiel vergegenwärtigt, d. h. objektiviert und in seiner Gegenübersetzung relativiert wird, um den Weltbezug außerhalb des Spiels stärker als Möglichkeitsraum zu erfahren denn als schicksalhafte Gegebenheit. Im Rahmen der anthropologischen Grundlegung zum Gottesdienst im Handbuch der Liturgik, die sich ausführlich mit seiner Ritualität befasst, geht Bieritz auf den Spielcharakter des Rituals als Teil der »expressiv-ästhetische[n] Dimension«521 liturgischen Handelns ein und richtet damit seinen Blick auf den inszenatorischen Aspekt. Auch hier tritt die Notwendigkeit der 517 Diese werden ausführlich behandelt von Marcus A. Friedrich: Liturgische Körper. Der Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken für die Pastoralästhetik, Stuttgart 2001 sowie von Roth: Theatralität. Insbesondere Roth legt dabei gesteigerten Wert darauf, dass das Ergründen der Theatralität zu unterscheiden ist von einer Bestimmung des Gottesdienstes als Theater. Der Vergleich zum Theater soll also nicht den Gottesdienst subsumieren, sondern ein besseres Verständnis dessen ermöglichen, was im Gottesdienst geschieht. Vgl. auch Pircher: Theater des Ritus. 518 Karl-Heinrich Bieritz: Freiheit im Spiel. Aspekte einer praktisch-theologischen Spieltheorie, in: BThZ 10 (1993), 164–174. 519 AaO., 168. 520 AaO., 172. 521 Ders.: Anthropologische Grundlegung, 121.
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Gestaltung neben den damit zugleich eröffneten »Möglichkeitsraum«. Damit ist ein Begriff von Bieritz vorausgenommen, den dieser im Kontext der diakonischen Dimension von Ritualen einführt.522 Zwar wendet sich Bieritz hier stärker den Kasualien zu, doch nimmt seinen Ausgang wiederum vom Begriff des Spiels, genauer des »Gegenspiels«. Dieses versteht er als Grundzug im Wirken Jesu Christi. Das Ritual stellt für ihn eine Möglichkeit einer christlichen Einladung zum Spielen dar, bei der die Teilnehmer aufgefordert werden, Möglichkeiten der individuellen Lebensdeutung zu vollziehen. Weil eine neue Lebensdeutung mit inneren Transformationen verbunden ist, bedarf sie »angesichts von Verstörungen, Kränkungen, Verletzungen, die sich dabei einstellen können – helfender Begleitung,«523 Eine Übertragung eines so konzipierten Spielverständnisses auf den Gottesdienst müsste das liturgische Handeln etwa in Form von Stehen, Knien, Händefalten, Brot als »Leib Christi« zu-sich-Nehmen als riskante »Erspielung« einer Lebensdeutung verstehen. Hier werden die bereits dargestellte Erörterung zum Verhältnis von Spiel und Nichtspiel noch einmal vertieft. Die Lebensdeutung im Gegenspiel des Rituals macht zwar von der internen Begrenzung der unmittelbaren Folgen des Spiels Gebrauch, vollzieht die Handlung aber mit dem Ziel, sie für das Alltagsleben fruchtbar zu machen. Das Ritual als Spielraum und insbesondere der allsonntäglich wiederholte Gottesdienst mit seiner stark begrenzten Ausrichtung auf unmittelbare Transformationen erscheint somit gerade als Einübung in eine christliche Lebensführung mit »abgesenkter Schwelle«. Insofern kommt er genau in der Mitte zwischen rein selbstbezogenem Spiel und unmittelbar transformativem Schwellritual zu stehen. Die Erwägungen Hans-Günter Heimbrocks zum Gottesdienst als Spielraum des Lebens verdanken sich intensiven interdisziplinären Austauschs auf dem Gebiet der Ritualtheorie.524 Der hier gewählte multiperspektivische Ansatz geht über das bisher häufig beobachtete Vorgehen hinaus, einen singulären Ansatz als festen Ausgangspunkt zu wählen. Stattdessen werden charakteristische Dimensionen des Gottesdienstes als Ritual wie die Konstitution von Zeit und Raum, die Eigentümlichkeit rituellen Verstehens oder der fundamentale Bezug zum Körper einander ergänzend durchmessen. Die Auseinandersetzung mit dem spielerischen Charakter des Gottesdienstes findet unter der Überschrift »Gottesdienst und kreative Wahrnehmung« statt. Allein diese Kombination von Ritual und Kreativität stellt eine Neuerung dar. Die Fokussierung auf die individuelle »Wahrnehmung« resultiert aus Heimbrocks hermeneutischem Zugang, Rituale vom Erleben und Verstehen der Akteure 522 Ders.: Einladung zum Spielen. Riten-Diakonie und Ritualtheorie: Anregungen und Einwürfe, in: Benedikt Kranemann/Thomas Sternberg/Walter Zahner (Hg.): Die diakonale Dimension der Liturgie, Freiburg im Breisgau 2006, 284–304, 302. 523 AaO., 293. 524 Hans-G nter Heimbrock war Mitglied einer Groninger Arbeitsgruppe »Zur Praxis von Ritualen« (vgl. Gottesdienst, 11). S. auch u. 3.5.2.
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aus zu untersuchen, von der Tatsache also, dass »in Ritualen individuelle Menschen mit Worten, Texten, Gesten und Formen umgehen, daß sie sie mit ihrem Intellekt und Gefühl, aber auch mit ihrem Verhalten adaptieren und verstehen.«525 Auf diese Weise wird ein erweiterter Begriff ritueller Rezeption wie auch Partizipation erarbeitet. Heimbrock knüpft dabei an Donald W. Winnicotts Theorie der »Übergangsobjekte« und des »intermediären Raumes« an, mit der die entwicklungspsychologische Herausbildung einer Objektbeziehung beschrieben wird, wie sie sich beim Kind im spielerischen Umgang vollzieht. Hierbei wird der Prozess der Aneignung eines Gegenstandes oder einer Handlung mit dem Gedanken der Kreativität verknüpft, da die gelingende Aneignung stets eine subjektive Komponente beinhaltet. Dies gilt auch dann, wenn etwa bei der Deutung des eucharistischen Mahls die Hostie als Realpräsenz Christi gedeutet und somit ein traditionelles Verständnis wiederholt wird. Weil Heimbrock die »Psychodynamik individueller Ritualpartizipanten«526 erfassen will, dürfen solche Aneignungsprozesse nicht schon aufgrund dogmatisch motivierter Textanalyse festgeschrieben werden. Vielmehr ist das Ritual als potenzielles »Übergangsobjekt« – mit Bieritz könnte man wiederum vom »Möglichkeitsraum« sprechen – auf die Bedingungen hin zu befragen, unter denen es zur Realisierung des Potenzials kommt, aber auch, wo diese nicht gelingt und die »fundamentale In-Beziehung-Setzung zwischen innerer und äußerer Welt«527 scheitert.
3.3.2.2 Vom Spiel zum Ritual: Rituale als mimetische, obligatorische Sonderform des Spiels (Th. Klie) Thomas Klies Entwurf einer »Pastoraltheologie als Theorie pastoralen Zeichenspiels« tritt zunächst bescheidener auf. Ihr geht es nicht darum, die Kultur als Ganze im Spiel zu fundieren, wie dies bei Huizinga der Fall war. Dennoch unternimmt der Autor darin den Versuch, anhand des Spielbegriffs eine Grundlage der gesamten Praktischen Theologie zu entfalten, welche in der Lage ist, ihre Teildisziplinen zu integrieren. Der Spielbegriff wurde innerhalb der Praktischen Theologie vorwiegend auf das liturgische Handeln im Gottesdienst bezogen, abgesehen von sporadischen Versuchen auf den Gebieten der Homiletik und Poimenik sowie stark funktionalen Überlegungen innerhalb der Religionspädagogik. Anders als die zuvor verhandelten Theorien nimmt Klies somit seinen Ausgang nicht vom Ritualbegriff, sondern vom 525 AaO., 41. Heimbrocks Bemerkung, dass diese Adaptierung »Menschen begeistern und kreativ machen können« (ebd.), greift erstmals wieder das von Huizinga beschriebene spielbegleitende Gefühl der Freude auf. Hier schlägt sich auch eine neue Offenheit für unterschiedliche liturgische Stilrichtungen nieder, insofern Heimbrock auf charismatische Gottesdienste verweist. 526 AaO., 56. 527 AaO., 57.
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›Spiel‹. Entsprechend betrachtet er Rituale als Sonderform des Spiels, über die er im Kontext der für das Spiel maßgeblichen Regeln nachdenkt. Spielregeln besitzen einen konventionellen Charakter. Ihre Gültigkeit und Funktionalität hängen daran, dass sie von den Akteuren als maßgeblich erachtet werden. Dies wiederum stellt sich als Folge eines Interaktionsprozesses dar, in dem der Einzelne sein Regelwissen gegebenenfalls adaptieren und aktualisieren muss. Die Gültigkeit der Regeln beinhaltet über die Anerkennung hinaus eine »Selbstbindung durch die Spielenden«528. Sie verpflichten sich, die Regeln innerhalb des Spiels zu beachten. Das Einhalten der Regeln setzt damit voraus, dass diese zugleich gewusst werden. Dieses Wissen kann auch in Form von praktischem Wissen vorliegen und muss nicht notwendigerweise explizierbar sein. »Kompetente Spieler zeichnen sich dadurch aus, daß sie ihr Regelwissen den Konventionen entsprechend regelgerecht und situationsadäquat einzuspielen vermögen« (138). Erst die Regeln ermöglichen die Öffnung des Spiels für neue Mitspieler, seine Wiederholung wie auch die Tradierung des Spiels. Innerhalb des Spielverlaufs sind die Regeln im Normalfall nicht Gegenstand diskursiven Zugriffs. Überträgt man diese Einsichten auf den Bereich rituellen Handelns im Gottesdienst, muss zum einen nach den Voraussetzungen gefragt werden, also nach den Möglichkeiten des Mitspielens. Gerade im Vergleich mit dem Spiel zeigt sich, dass von unterschiedlichen Kompetenzstufen auszugehen ist, die von der Mimesis ihren Ausgang nehmen. Deutlich wird auch, dass für das Gelingen des Spiels mindestens ein Spieler vorhanden sein muss, der die Regeln beherrscht. In der Systematik Klies würde das spontane Vereinbaren neuer Regeln zwischen den aktuell beteiligten Akteuren nicht das Spiel verändern, sondern es würde ein neues Spiel entworfen werden. Ob dieses als Spiel funktioniert hängt an der Bereitschaft der Mitspieler, sich an diese Regeln zu binden. Es ist also nicht nur notwendig, die Regeln zu kennen, um mitspielen zu können. Sondern erst die zumindest bedingte Öffentlichkeit der Regeln stellt die Voraussetzung dar, dass das Spiel als solches erhalten bleibt. Dies ist freilich nicht bei allen liturgischen Spiel(züg)en von gleicher Bedeutung. Als Sonderform des Spiels zeichnen sich Rituale vornehmlich durch ihre geringere »Modifikationswahrscheinlichkeit bei Spielwiederholungen« (130) aus. Der fließend angelegte Übergang vom Spiel zum Ritual bedeutet eine Verstärkung der Prognostizierbarkeit des Verlaufs, aber auch ein weitgehend hermetisches Reglement und ein zunehmend konspiratives Verhalten der Akteure. »Ein Ritual ist eine Spielform, so soll hier definiert werden, bei der das Motiv der Wiederholbarkeit das der inventiven Freiheit dominiert. Beim Ritual ist der Verlauf als ganzer kodifiziert« (132, H.i.O.). Als positives Resultat der Transformation der spielerischen Handlung benennt Klie eine doppelte 528 Thomas Klie: Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003, 137. Die Seitenzahlen im Text entsprechen dieser Ausgabe.
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Erinnerungsfunktion: Zum einen sind Rituale »symbolische[r] Ausdruck eines individuellen bzw. kulturellen Gedächtnisses«, was eine freie Spontanität stark begrenzt. Zum anderen erheben sie selbst den Anspruch, auf ihre Erinnerung abzuzielen und somit eine dauerhafte Wirkung zu generieren. Während die Predigt, zumal wenn sie belanglos ist, auch einfach vergessen werden kann, soll das Kasualritual erinnerbar sein und erinnert werden. Ein derart voraussetzungsreicher Ritualbegriff steht, dies wird hier bereits deutlich, in deutlicher Spannung zu einem Verständnis des Gottesdienstes als »Gesamtritual«, wie dies in den meisten liturgischen Ritualtheorien der Fall ist. Denn auch der Sonntagsgottesdienst als Ganzer kann als mitunter nicht nur inhaltlich belanglos empfunden werden. Auch einzelne stark ritualisierte Momente wie das Confiteor, die dem Gedächtnis rasch entschwinden, sind dennoch als Ritual zu bezeichnen.529 Der mit ihnen verbundene Erinnerungsund insofern lebensgestaltende Anspruch dürfte von dem der Predigt – theologisch wie aus Sicht der Predigenden – kaum zu unterscheiden sein. Unter der Hand wandelt sich Klies Klassifikation des Rituals als Sonderform des Spiels jedoch zu einer Polarität »zwischen den Polen modifikationsresistentes Ritual und freies Spiel« (132). Die für das Spiel entscheidende Balance eines »angemessene[n] Verhältnis[ses] von Konvention und Invention« (130) sieht Klie im Ritual gänzlich auf die Seite von Konvention verschoben. Dabei besteht die Gefahr, den konventionellen, stipulierten Charakter der Regeln zu verkennen und ihnen eine absolute Geltung einzuräumen.530 Der spielerische Charakter des Rituals scheint hier ausschließlich auf die Regelhaftigkeit der Handlung begrenzt. Jegliche rituelle Dynamik und das für das Spiel so charakteristische Moment der Freiheit werden dem Ritual von vornherein abgesprochen. Die letztlich daraus resultierende Ablehnung Klies, den Ritualbegriff für den evangelischen Gottesdienst heranzuziehen, soll noch genauer untersucht werden.531 Mit der vorgenommenen Kontrastierung zum Spiel jedoch erscheint das unter der »Obligatorik möglichst exakter Wiederausführungen« (141) stehende Ritual kaum anschlussfähig an ein modernes Liturgieverständnis. Die Klie vorschwebende spielerische Liturgiepraxis des Sonntagsgottesdienstes wäre durch Ritualisierung somit eher gefährdet. 529 Als weiteren Unterschied zwischen Spiel und Ritual erwägt Klie die Annahme einer anthropologischen Konstante, die das Ritual zur »unentbehrlichen« bzw. unvermeidbaren menschlichen Ausdruckform erhebt, während das Spiel sich allein dem Ausdruck menschlicher Freiheit verdanke. Die Frage, ob eine solche Konstante existiert und auch nachweisbar ist, scheint müßig angesichts der Tatsache, dass weder menschliche Gesellschaften ohne Rituale noch solche ohne Spiel existieren. 530 Dass aber auch die Konventionalität für den Gottesdienst als einer Tischgemeinschaft, die sich aufgrund biblisch begründeter Spielregeln konstituiert, nur begrenzt gelten kann, weil eben genau dieses Spiel gespielt werden soll, wird nicht thematisiert. Nicht zufällig stehen sich bei Klie hier orthodoxe Chrysostomosliturgie und »protestantischer Wortgottesdienst« als Prototypen ritualisierter und spielerischer Liturgie gegenüber (vgl. aaO., 136). 531 S. u. 4.3.3.
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Festzuhalten ist somit zumindest die Frage nach dem Charakter jener Regeln, welche Spiel und Ritual benötigen. Mit Bezug auf die Unterscheidung von konstitutiven und regulativen Regeln bei John Searle wird dem im Rahmen der Ritualtheorie von Humphrey und Laidlaw noch nachzugehen sein.532 Die beiden Autoren erkennen im Regelcharakter die stärkste Überschneidung von rituellem und Spielverhalten ohne beide Phänomene gleichzusetzen. Denn das bereits von Huizinga aufgestellte Unterscheidungskriterium wird von Klie nicht hinreichend widerlegt, dass die Folgen des Spiels sich allein spielintern auswirken, das Ritual aber mit dem Anspruch vollzogen wird, die darin stattfindenden Transformations- und Sinnstiftungsprozesse mit allgemeiner und dauerhafter Gültigkeit zu versehen. Der alleinige Verweis auf den Erinnerungscharakter des Rituals scheint dafür kaum ausreichend. Auch die unterschiedliche innere Organisation zahlreicher Spiele, die in den Begriffen ›Spannung‹, ›Gewinnen‹ oder ›Verlieren‹ zum Ausdruck kommt, will sich in die liturgische Logik nicht so recht einfügen. 3.3.3 Fazit In dem seiner Spieltheorie vorangestellten historisch-systematischen Überblick unterscheidet Thomas Klie drei Begründungs- und Verwendungszusammenhänge des Spielbegriffs innerhalb der Theologie:533 Den mit Romano Guardini begründeten kultischen Zugang, der vor allem Zweckfreiheit und Ästhetik des Spiels betont, die dieses in der protestantischen Rezeption und unter Rückgriff auf Schleiermacher in die Nähe der Kunst stellen. Das kultische Spiel steht dabei »ganz im Dienste der ›kirchlichen Gemeindeerziehung‹« (32). Von einem pädagogischen Impetus gekennzeichnet ist Klie zufolge auch die bereits in den 1960ern einsetzende befreiungstheologische Lesart, die das Freiheitliche und Spontane des Spiels betonte. Als »Typus und Prolepse zwangsfreien Lebens in Kirche und Gesellschaft« (455) geriet das Spiel in das Fahrwasser einer »konsequente[n] Funktionalisierung […] für Problemlagen außerhalb des liturgischen Spiels« (32). Als dritte Form benennt Klie die ritualtheoretische oder »ritologische Lesart (Spiel = Freiheit zu)«, die schließlich »an die Stelle libertärer Lesarten (Spiel = Befreiung von)« (40) tritt und paradigmatisch von Werner Jetter vertreten wird.534 Den Ertrag dieser 532 S. u. 9.5. 533 Vgl. aaO., 28 Der forschungsgeschichtliche Abschnitt findet sich auch in Ders.: Immer mal wieder gespielt. Zur sprunghaften Rezeption des Spielbegriffs in der Praktischen Theologie, in: T katoptriz mena. Magazin für Theologie und Ästhetik Nr. 24/2003, www.theomag.de/24/ tk1.htm (20. 02. 2016). 534 Insbesondere die ritualtheoretische Lesart ist die theoretisch am geringsten fundierte. Zum einen spricht Klie bei den beiden neben Jetter genannten Ansätzen von Heimbrock und Grötzinger bereits als Mischformen von befreiungstheologischem und ritologischem Ansatz. Zum anderen zeichnet sich bei näherer Betrachtung auch Jetters Ansatz stark durch eine
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ritualtheoretischen Perspektive veranschlagt Klie als äußerst gering. Es sei lediglich gelungen, die »Transparenz des gottesdienstlichen Geschehens auf seine anthropologischen Funktionen aufzuweisen« (43), ohne zu einer spezifisch religiösen Lesart des Spiels vorzudringen. Diese Periodisierung bestätigt zunächst als Parallele auf dem Gebiet der Spieltheorie die im ersten Kapitel gemachte Beobachtung, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Ritual einem veränderten Verständnis von Ordnungsvollzügen im Nachgang kultureller und religiöser Umbrüche verdankt, die parallel verliefen zu einer vorwiegend freiheitlich-experimentellen Ausrichtung (s. o. 1.1.3). Dass für Klie die ritologische Perspektive kaum fruchtbare Einsichten für den Spielbegriff erbringt, egibt sich unmittelbar aus seiner Perspektive vom freiheitlichen, innovativen, wenn auch an Regeln rückgebundenen Spielbegriff als liturgischem Paradigma. Gemessen an den Freiheitsgraden des Spiels erscheint das Ritual als starr und somit allein als defizitäre Spielform. Betrachtet man das ›Spiel‹ hingegen nicht als Begründungs-, sondern als Entdeckungszusammenhang, der auf Eigenschaften des Rituals aufmerksam macht, wie sie vom Spiel her bekannt sind, erweist sich die spieltheoretische Perspektive auf rituelle Vollzüge in vieler Hinsicht als Erweiterung und Überwindung einseitiger Zuschreibungen. Dies gilt umso mehr, weil die spieltheoretische Perspektive, mehr noch als dies für psychologische oder sprachwissenschaftliche Analysen der Fall war, an den konkreten Handlungsvollzügen und ihren formalen Bedingungen interessiert ist. Überwunden werden kann zum einen die Vorstellung von Ritualen als Zwangshandlungen, insofern das Ritual auf ›Mitspieler‹ ausgerichtet ist, die sich auf den spielerischen Charakter der Inszenierung einlassen und zugleich bereit sind, die Regeln nicht nur einzuhalten, sondern »ins Spiel zu bringen«. Zum Spiel, das über das bloße Ausführen vorgeschriebener Handlungen hinausgeht, kann niemand gezwungen werden. Vor diesem Hintergrund bringt Heimbrock den Ritualbegriff mit der Vorstellung von Kreativität zusammenbringen. Als Spiel verstanden zeichnet sich auch für das Ritual ein verändertes Bild der Partizipation und Interaktion zwischen den Akteuren. Das Ritual setzt die Beteiligung mehrerer Akteure voraus, wie sehr diese auch auf die körperliche Präsenz beschränkt sein mag. Darüber hinaus sind die Beteiligten für das Gelingen der Handlung als Ritual aufeinander angewiesen. Überwunden wird sodann auch die Vorstellung vom Ritual als isolierter Sonderwelt, wie sie vielleicht vom Brettspiel her bekannt ist. Karl-Heinrich Bieritz bezeichnet mit dem Begriff des »Möglichkeitsraums« das Ritual als Ort befreiungstheologische Prägung aus. Dies zeigt sich, erstens, im bereits zitierten Verständnis des Spiels als »einer Gegenwelt größerer Freiheit«, zweitens anhand der Tatsache, dass der Regelcharakter und die Beschränkung der Handlungsoptionen, die für das rituelle Spiel kennzeichnend sind, weitgehend unbeachtet bleiben. Insofern stellt Jetters Ansatz einer einen um das Moment der Ernsthaftigkeit und Ambivalenz des Spiels ergänzten »befreiungstheologischen« Ansatz im Sinne Klies dar. Zur zunächst antinomisch verstandenen Beziehung ›Spiel‹ und ›Ritual‹ s. o. Anm. 135.
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des spielerischen Umgangs mit der Alltagswirklichkeit. Ähnlich hatte auch Jetter das Ritual als Schutzraum für die Erprobung einer alternativen Wirklichkeit gedeutet, die sich gerade in der Wiederholung entfalten kann. Spiel- und ritualtheoretischer Diskurs teilen nicht nur innerhalb der Liturgik eine vielbeklagte Unbestimmtheit ihres Gegenstandes.535 Dies hat insbesondere mit der von Bieritz hervorgehobenen Beobachtung zu tun, dass die Bestimmung einer Handlung als ›Spiel‹ eine Frage der Deutung ist, sowohl auf Seiten der Produzenten als auch der Rezipienten. Innerhalb einer sozialen Interaktion kann diese Frage von den Beteiligten unterschiedlich beantwortet werden. Weiterführend für das Ritual- wie auch das Gottesdienstverständnis insgesamt hat sich der Theatralitätsdiskurs erwiesen. Die Auseinandersetzung mit den Vorgaben eines Theaterstücks, das einen Gestaltungswillen voraussetzende Spielen der vorgegebenen Rollen samt ihren verbalen und gestischen Elementen stellt zugleich einen Prozess der Aneignung dar, der gerade dann einsetzt, wenn sich die Spieler in freier Entscheidung einer Selbstbindung unterwerfen. Die Vorlage zum gottesdienstlichen Ritual in Gestalt der Agende reglementiert dieses in ähnlicher Weise, wie es für Theaterstücke das mit Regieanweisungen versehene Skript übernimmt. Auch aktuelle ritualtheoretische Überlegungen betrachten den Spielcharakter im Rahmen der Kategorie ›Ritualdynamik‹. Das Spielerische tritt durch die Integrationsleistung von Pflicht und Wahl, Solidarität und Individualität, von Bestätigung und Kritik hervor. Sodann befreit die spielerische Form sozialer Begegnungen deren Reduktion auf bloße Zweckgemeinschaften und macht im Vollzug des Spielens diese Gemeinschaft jenseits theoretischer Diskurse körperlich erfahrbar.536
3.4 Ritual und Alltag (E. Hauschildt) Einer der zentralen Kritikpunkte an der Bestimmung des Gottesdienstes als Ritual bestand über lange Zeitdarin, dass dem Gottesdienst als Ritual der Anschluss an den »Gottesdienst im Alltag der Welt« (E. Käsemann) fehlt.537 Der Vorwurf richtet sich auf die Inszenierung einer rituellen Sonderwelt, die im Gegensatz zu reformatorischen Grundüberzeugungen steht. In Durkheims Ritualtheorie ist diese Vorstellung in der Dichotomie von Heiligem und Profanem zur Darstellung gebracht.538 Die Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf bzw. dessen Entkräftung stellt daher von Beginn an eine Pflichtaufgabe 535 Vgl. Bieritz: Freiheit im Spiel, 166. Seydel sah diese Unbestimmtheit noch allein auf den Spielbegriff beschränkt (vgl. Spiel und Ritual, 510f.). 536 Vgl. Christoph Wulf: Praxis, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 395–411, 406–408. 537 Zur Kritik an der rituellen Sonderwelt der Liturgie als Grundzug der älteren Ritualkritik s. u. 4.2. 538 S. u. 7.2.1.
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protestantischer Ritualtheorie. Die konstitutive Verbindung von Alltag und Ritual findet sich besonders stark bei Werner Jetter, der die Wirksamkeit von Ritualen an ihren Alltagsbezug bindet, also daran, »wieviel vom vitalen und sozialen Leben sie mit integrieren können«.539 Wie diese Beziehung zum Alltag näherhin konzeptionell entfaltet werden kann, wurde sodann etwa anhand kommunikationstheoretischer oder spieltheoretischer Überlegungen bereits erörtert. Die Behauptung des spielerischen Umgangs mit der Alltagswelt im Ritual steht freilich mitunter in erheblicher Distanz zum Erleben der Teilnehmer und kann kaum an konkrete liturgische Handlungsvollzüge anknüpfen. In diesem Spannungsfeld stellt Eberhard Hauschildts vielfach rezipierter540 Ansatz einer theologischen Ritualtheorie eine eigenständige Position dar, die den Alltag als grundlegenden Gegenstandsbezug des Rituals bestimmt. Hauschildts Entwurf steht im Zusammenhang der Erarbeitung einer Theorie der Alltags-Seelsorge, so der Titel seiner Habilitationsschrift. In deren Entstehungszeit fällt auch der Aufsatz Was ist ein Ritual? von 1993, der hier als Grundlage herangezogen wird.541 Der methodische Ansatz wie auch der Gegenstandsbereich seiner Gesprächstheorie fließen darin ein. Um zu zeigen, inwiefern auch alltagsseelsorgerliche Gespräche ohne explizit kerygmatischen oder therapeutischen Duktus in qualifizierter Weise als Seelsorge zu bezeichnen sind, wählt er als Ausgangspunkt die konkrete Handlung, also das »›tatsächliche‹ Gespräch«.542 Das seelsorgerliche Proprium alltagsseelsorgerlicher Gespräche sieht Hauschildt dabei in einem Nebeneinander unterschiedlicher Formen von Solidarität. Neben der Solidarität der »Infragestellung der Normalität unserer Alltagswelt« (Henning Luther), wie sie von den ›hohen‹ Formen der Seelsorge betont werden, hat auch die »alltägliche Solidarität der Konvention«543 einen Platz. In der Alltagsseelsorge finden sich somit unterschiedliche Formen der Distanznahme und Transzendierung von Alltag: »Alltagsseelsorge stellt den Raum bereit, wo der Übergang vom Alltag zur seelsorgerlichen Abstandnahme vom Alltag und umgekehrt andauernd ausgehandelt werden kann, wo er manchmal gelingt, manchmal mißlingt.«544 Am Beispiel von Geburtstagsbesuchen bestätigt sich die These Wolfgang Stecks, dass sich »[d]ie Themen der Seelsorge […] nicht jenseits der alltäg-
539 Jetter: Symbol und Ritual, 131. Vgl. auch o. 2.5.5. 540 Vgl. u. a. Bieritz: Anthropologische Grundlegung, 122 f. 541 Eberhard Hauschildt: Was ist ein Ritual? Versuch einer Definition und Typologie in konstruktivem Anschluss an die Theorie des Alltags, in: WzM 45 (1993), 24–35. Die folgenden Seitenzahlen im Text sind darauf bezogen. 542 Ders.: Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches, Göttingen 1996, 76. 543 AaO., 386. 544 Ebd.
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lichen Lebenserfahrung formulieren und bearbeiten«545 lassen. Die zusammenfassende These lautet: »Seelsorge ist fundiert im Alltag. Diese Fundierung realisiert in einer selbstverständlichen Form von Seelsorge, der Alltagsseelsorge. Durch momentane Reflexion findet eine Steigerung (Abstandnahme und/oder Bestätigung) des Alltags statt.«546 Einer differenzierten Beschreibung des Verhältnisses von Alltag und Ritual stellt Hauschildt methodologische Überlegungen voran, die ebenfalls auf eine Fundierung im Alltag, genauer: eine »Theorie des Alltags« abzielen. Hauschildt fragt nach dem Funktionieren des »Sprachspiel[s] ›Definieren‹« (24) für Ritualbegriff angesichts seiner Pluralisierung. Als Aufgabe, die Spezifik des religiösen Rituals zu erfassen, formuliert er die Integration formaler, inhaltlicher und funktionaler Theorieansätze. Zur Bearbeitung wählt Hauschildt den phänomenologischen Ansatz der »Theorie des Alltags«, wie sie von Alfred Schütz und Thomas Luckmann erarbeitet wurde. Bei der Erfahrung und dem »Wissen […] im gewöhnlichen Alltag unseres Kulturkreises« ansetzend geht es um die Frage, wie das Subjekt die Wirklichkeit des Rituals in seinem Handeln erschafft und sich zugleich durch das Ritual als sozial konstruiertes Subjekt erfährt. Es geht also um die Verbindung von sozial vermittelter Außenund subjektiver Innenansicht. Dazu ist der Bezug der Teilnehmenden auf Alltag einerseits und auf Transzendenz andererseits zu ermitteln. »Ritual ist symbolische Übergangs-Routine des Alltags mittels genereller Defocussierung« (30). Hauschildts Definition löst den integrativen Anspruch ein, insofern sie den Ritualbegriff in dreifacher Weise formal, inhaltlich und funktional bestimmt. Formal handelt es sich um defokussierende Routine, die inhaltlich als Symbol im Sinne Luckmanns und somit als Bezug zu einer außeralltäglichen Wirklichkeit verstanden werden muss. Die Funktion des Rituals liegt schließlich darin, einen wechselseitigen Übergang von Alltag und Transzendenz zu ermöglichen.547 Als Routinehandlungen führen Rituale zu einer »lebenspraktischen Reduktion von Bewußtseinsspannung«. Von sonstigen Routinen ist diese Form der Reduktion dadurch unterschieden, da sich das Bewusstsein nicht auf andere Alltagshandlungen, sondern auf ein Symbol und damit auf eine außeralltägliche Wirklichkeit ausrichtet. Für Hauschildt ist
545 Zitiert aaO., 380. 546 AaO., 388. 547 Nicht nur die unterschiedlichen Transzendenzstufen (s. u.), sondern auch die Entfaltung in inhaltliche, formale und funktionale Aspekte übernimmt Hauschildt in modifizierter Form von Thomas Luckmann: Riten als Bewältigung lebensweltlicher Grenzen, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 11 (1985), 535–550 (erneut, geringfügig aktualisiert abgedruckt: Phänomenologische Überlegungen zu Ritual und Symbol, in: Florian Uhl/Artur R. Boelderl [Hg.]: Rituale. Zugänge zu einem Phänomen, Düsseldorf 1999, 11–28). Luckmann bezeichnet Rituale als soziale »Handlungsformen von Symbolen« (formal), die eine Kommunikation mit dem Außeralltäglichen (inhaltlich) ermöglichen und dadurch als übergeordnete Instanzen das Verhalten im Alltag regulieren (funktional).
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dies das Transzendente. Das von sich selbst (»generell«) defokussierte IchBewusstsein wird sich dabei seiner selbst als Teil des Ganzen ansichtig. Ausgehend von Luckmanns Unterscheidung von »kleinen«, »mittleren« und »großen« Transzendenzen, bei denen die Grenzen der Erfahrung und der Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich überschritten werden, benennt Hauschildt drei Formen von Ritualen: (1) Die alltäglichen Rituale beinhalten die »kleine Transzendenzen«. Beim Aufsteh-Ritual etwa an der Grenze von Alltagsrealität und Traum oder bei Interaktionsritualen wird das Transzendenzbewusstsein kaum explizit, solange der Übergang (Aufwachen, Begrüßung) gelingt. Und doch verweisen diese Rituale auf das, was Alltag und Traum, individuelle und soziale Identität zusammenhält. Ihre Existenz belegt für Hauschildt die Notwendigkeit, sich dieser Grenzen immer wieder zu versichern. (2) Die den »mittleren Transzendenzen« zugeordneten »Rituale der Alltagswelt« umfassen insbesondere die klassischen Passageriten. Dabei sind Übergänge zu gestalten, die für die Gesellschaft Routine sind, vom Einzelnen jedoch besondere Anstrengungen erfordern. Erneut zeigt sich der entlastende Charakter des Rituals, da die Akteure hier ganz auf die sozial stipulierte Form vertrauen und sich ihr überlassen können. Die Defokussierung verlagert Hauschildt zufolge die Konzentration darauf, dass »die Form genau befolgt« wird und verzichtet damit auf weitere Partizipationssteuerung: »Das Maß der inneren Beteiligung bleibt für jeden einzelnen offen – auf die gesellschaftlich vorgeschriebene Handlung kommt es an« (32).548 (3) Unter die »Rituale der Alltagswelt-Ansicht« fasst Hauschildt schließlich vor allem religiöse Rituale im engeren Sinn. Bei näherer Betrachtung handelt es sich dabei gar nicht um eine weitere Form von Ritualen, sondern um eine Erfahrungs- und Erlebnisdimension, die von beiden anderen Ritualformen ausgelöst werden kann, wenn sich dabei etwa Gefühle der Ohnmacht, Angst oder schlicht Neugier einstellen, die danach fragen lassen, was das Funktionieren dieser Übergänge letztlich gewährleistet. Dabei wird die Brüchigkeit der Alltagswelt und des Ich bewusst. Hier erst kommt es zu jener »generellen Defocussierung«. Christliche Rituale lassen sich zwar auf allen drei Ebenen finden. Den Gottesdienst aber verortet Hauschildt zusammen mit der Mediation innerhalb dieser letzten Stufe. Das spezifisch Christliche des »Übertritts in das ganz Andere« (34) tritt erst infolge einer theologischen Deutung hervor: Die durch die Defokussierung entstandene Leerstelle füllen christliche Rituale mit dem Rekurs auf ein personales Gegenüber (›Gott‹), der zugleich eine Befreiung des Menschen von sich selbst bedeutet. Derartige Unterbrechungen des Alltags als zeitweilige Suspendierung des Ich-Bewusstseins
548 Es darf für den volkskirchlichen Fokus als typische Argumentationsfigur und als später Reflex auf die Ergebnisse der Gottesdienststudien der 70er Jahre (s. o. 2.4) gelten, das Maß der inneren Beteiligung vor allem bei volkskirchlicher Ritualität möglichst offen zu lassen.
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kommen »sofort dem Alltag zugute« (ebd.). Das Ritual führt daher zu einer »Alltagsintensivierung«.549 Hauschildts ritualtheoretischer Ansatz macht deutlich, dass der Ritualdiskurs in ein neues Stadium eingetreten ist. Weder geht es noch darum, Ritualität zu entdecken, noch darum, die rituellen Vollzüge des Protestantismus zu bewahren und zu schützen, wie dies insbesondere bei psychologisch motivierten Theorien beobachtet werden konnte. Hauschildt setzt sich vielmehr mit der schwer überschaubaren Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze auseinander und bemüht sich um Integration, die weder in die Enge rein religiöser Definitionen noch in die Unbestimmbarkeit verfällt. Der Ansatz spiegelt damit die Ausweitung des Ritualbegriffs vom wissenschaftlichen Diskurs auf den alltagssprachlichen Kontext. Hauschildt will nicht nur den Alltagsbezug des ›Rituals‹ aufzeigen, sondern beide Handlungskontexte in ein substanzielles Wechselverhältnis setzen. Dies hat zur Folge, dass auch die Definition des Ritualbegriffs und die darunter gefassten Phänomene dynamischer und offener erfasst werden können. Insofern Rituale auf der Routinierung von Handlungen beruhen, ist diese Handlungsqualität und ihre Funktion nicht mehr auf bestimmte Handlungen beschränkt. Im Bereich der Ritual Studies, die noch zu behandeln sein werden, wird diese Tatsache mit dem Begriff der ›Ritualisierung‹ gefasst (s. u. 8.2). Dennoch zeigt Hauschildts Ansatz paradigmatische Problemkonstellationen der Ritualtheorie innerhalb des evangelisch-liturgischen Diskurses. Dabei wäre zunächst ganz grundlegend bei Hauschildt Interesse am Funktionieren des »Sprachspiels ›Definieren‹‹ anzusetzen. Dieses muss nicht zuletzt vor seinem eigenem Anspruch der Orientierung am Alltag letztlich doch misslingen, weil sie einerseits innere Prozesse (Transzendierung) der Akteure festschreibt, ohne diese empirisch verifizieren zu können, und weil sie andererseits nicht mehr vom konkreten Handeln ausgeht.550 Bereits die Grundierung im Begriff der ›Routine‹ muss die theatralen und ästhetischen Qualitäten von Ritualen ignorieren.551 Geradezu eklatant werden die rituellen Handlungen selbst über den Begriff der Defokussierung marginalisiert. Die Form des Rituals tritt zugunsten ihrer Funktion vollständig zurück. Damit steht Hauschildts Ansatz in deutlicher Spannung zu Jetters Beobachtung, dass Rituale die Konzentration der Akteure ganz auf sich richten und gerade den konkreten Vollzügen ein hohes Gewicht zukommt. Bezeichnenderweise und geradezu paradox spricht Hauschildt von der »Formalität des Vorgangs in seiner Allgemeinheit« (29, H. RG). Die Körperlichkeit ritueller Handlungen 549 Hinter dieser Argumentation lassen sich durchaus Motive erkennen, die bereits bei Durkheim begegneten: Durkheim schrieb dem Ritual genau deshalb eine enorme Kraft für den Zusammenhalt der Gesellschaft zu, weil darin der für den Alltag prägende Egoismus zugunsten kollektiven Denkens und Erlebens durchbrochen wird (vgl. u. 7.2.2.1). 550 Zu Überlegungen zum »fuzzy framing« als Versuchen einer weicheren Definitionen s. u. 8.4. 551 S. u. 9.6.3.
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wird für die Definition nicht berücksichtigt und es verwundert kaum, dass die höchste Stufe des Rituals metaphorisch als »Ansicht« bestimmt wird. Das Erleben der Akteure, das zunächst zum Ausgangspunkt erklärt wurde, geht innerhalb der programmatischen Bestimmung dessen, was Rituale leisten, unter. In welchem Umfang und bei welchen gottesdienstlichen Vollzügen die Alltagswelt als Ganzes ansichtig wird, bleibt ohne nähere Erläuterung. Trotz der Ansätze zu einer Dynamisierung des Ritualbegriffs steht auch bei Hauschildt die Festlegung des Rituals auf den Entlastungsaspekt im Vordergrund, der das Ritual mit Stabilität, Ordnung und Struktur assoziiert.552 Mit der grundlegenden Bestimmung des Rituals als Routine ist auch seine funktionale Rolle festgeschrieben: »Jede Routine vermittelt Vertrautheit« (27). Nicht nur die riskante und kritische Seite des Rituals findet kaum Beachtung, auch das Verstehen der Handlung selbst wird auffällig ausgeblendet. Für die Klärung des Selbstverständnisses, wie sie im Rahmen »großer Transzendenzen« erfolgt, ist es bedeutungslos geworden, Form und Inhalt fallen auseinander. Dieser Ansatz steht in deutlicher Spannung zu Hauschildts sonstigem Anspruch, beim subjektiven Erleben der Teilnehmer anzusetzen. Der innerhalb seiner Gesprächsanalyse herausgearbeitete Aspekt der »Verschmelzung von Deuten und Handeln«553 wird nicht auf die Handlungsform des Rituals übertragen. Das Ritual stellt nur mehr den Raum bereit für die Transzendierung des Alltags. Auch hier schwächt die Bestimmung als Routine den Handlungscharakter des Rituals.554 Der Anspruch, Ritual und Alltag in ein Wechselverhältnis einzubinden, kann daher letztlich nicht eingelöst werden. Grund dafür ist wiederum der Mangel an konkretem Handlungsbezug. Diese veränderte Alltagswahrnehmung beschreibt Hauschildt folgerichtig lediglich ausgehend von theologischen Deutungen des Rituals. Die Theorie bleibt schuldig, was Ronald Grimes die »paradigmatische Funktion« des Rituals genannt hat: »its capacity to form values and guide activity outside the context of the rite itself.«555 Luckmanns Theorie, die das Ritual mit der Wahrnehmung der Grenzen der unmittelbaren räumlichen wie zeitlichen Erfahrung verbunden hatte, bietet für eine Konkretion gleichwohl einige Anhaltspunkte. So evoziert ein Ritual häufig die 552 Hauschildt: Die vier Typen liturgischer Erfahrung, 337 verdeutlicht diese Position erneut: »Die liturgische Erfahrung der Stabilität schätzt das Beständige, das Geordnete, das klar Strukturierte. Liturgie begegnet hier als Ritual.« Hauschildt trennt dabei die »rituelle Logik« von der »Expressivitätslogik«. Nur letzter schreibt er bezeichnenderweise das Moment der Körperlichkeit zu und spricht dabei von »basale[r] liturgische[r] Erfahrung« (aaO., 343). 553 Ders.: Alltagsseelsorge, 75. 554 Auch die Generalisierbarkeit der Theorie erweist sich bereits mit kurzem interreligiösem Seitenblick als problematisch. Während Hauschildt das »Rituale der Alltagswelt-Ansicht« mit einer zeitweiligen Distanzierung vom Alltag verknüpft, setzt etwa die Zenmeditation gerade auf die Einübung und Bewusstwerdung alltäglicher Vollzüge. Eines der bekanntesten Dikta lautet »Der alltägliche Geist ist der Weg.« 555 Ronald L. Grimes: Ritual Criticism of a Catholic Liturgical Evaluation, in: Ders.: Ritual Criticism. Case Studies in Its Practice, Essays on Its Theory, Waterloo 22010, 27–61, 43.
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Erinnerung an andere Ritualvollzüge. Diese finden insbesondere beim Gottesdienst nicht nur auf der Erlebnisebene statt, sondern werden explizit, wie etwa der Taufbezug im Beerdigungsritual. Auch Burckhard Dücker hat in seiner Ritualtheorie ebenfalls den Alltagsbezug und die Verknüpfung mit alltäglichen Handlungen insbesondere für die das Ritual vorbereitenden und ihr nachfolgenden Handlungen herausgestellt.556 Ein stärker am konkreten, leiblichen Handeln orientierter Versuch, rituelle Handlungen mit dem Alltag zu verknüpfen, findet sich bei Manfred Josuttis. Er beschreibt Rituale zunächst schlicht als »eine Variante des in der Gesellschaft Üblichen«557. Seinem ebenfalls phänomenologisch, allerdings an Hermann Schmitz orientiertem Ansatz soll im Folgenden nachgegangen werden.
3.5 Multiperspektivische Zugänge zum Ritual Seit den 1990er Jahren lassen sich innerhalb der evangelischen Liturgik ritualtheoretische Ansätze finden, die nicht mehr von der Auswahl einer paradigmatischen Perspektive (Spiel, Kommunikation, Therapie) ausgehen, sondern integrative Theorien ausgehend von der Phänomenbeobachtung entwickeln. Damit verbunden ist der verstärkte Anspruch, Ritualtheorie im Ausgang von ihrer tatsächlichen Gestalt und Feierpraxis, vom Erleben der Akteure und den im Ritual begegnenden anthropologischen Grundvollzügen zu entwickeln. Als weiterer Aspekt dieses neuen Zugangs wird die verstärkt kritische Auseinandersetzung mit bisherigen Theorieentwürfen deutlich.
3.5.1 Ritualtheorie auf phänomenologischer Grundlage (M. Josuttis) 3.5.1.1 Ritualtheorie als »Erschließung verborgener Wirklichkeitsdimensionen« Mit seiner im Untertitel als Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage bezeichneten Liturgik von 1991 stellt Manfred Josuttis den theologischen Ritualdiskurs auf ein breites, mehrperspektivisches Fundament. Dem Erkenntnisgewinn in Anthropologie und Sozialwissenschaften soll damit ebenso Rechnung getragen werden wie der bisher unterbestimmten Komplexität des Phänomens. Josuttis geht es konkret um die Erweiterung der bisher vorwiegend funktional und »genetisch« ausgerichteten Ansätze um einen phänomenologischen.558 Der Gewährsmann hierfür ist 556 Vgl. D cker: Rituale, 122. 557 Josuttis: Der Weg in das Leben, 41. 558 Vgl. dazu auch Ders.: Art. Gottesdienst/Kult, in: Siegfried R. Dunde (Hg.): Wörterbuch der Religionspsychologie, Gütersloh 1993, 164–169.
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Hermann Schmitz, der Begründer der sogenannten »neuen Phänomenologie«. Deren Zielsetzung besteht darin, die menschliche Lebenswelt im Ausgang von den »unwillkürlichen Lebenserfahrungen« zu erschließen. Daraus resultiert bei Josuttis zunächst ein dezidiert deskriptiver Ansatz, der helfen soll, die Kirche »vor liturgischem Machbarkeitswahn [zu] bewahren«559. Die Gottesdienststudien hatten die begrenzten Möglichkeiten vor Augen geführt, den Kirchenbesuch durch veränderte Gestaltung zu beeinflussen.560 Es war daher plausibel, zunächst neu zu beobachten und zu beschreiben, wie Menschen sich verhalten, wenn sie sich »agendarisch« verhalten. Zugleich sollen durch Aufdecken impliziter und unterbewusster Mechanismen rituelle Potenziale erschlossen werden. Am Ausgangspunkt steht jedoch nicht, wie bei Thilo, die Wahrnehmung eines liturgischen Aufbruchs, sondern die Einsicht in die gegenwärtige der Fremdheit der Liturgie. Menschen, die ohne Vorerfahrungen den Gottesdienst besuchen, finden dort eine »Verhaltenssequenz« vor, »die im Kommunikations- und Symbolrepertoire der soziokulturellen Umwelt wie ein exotischer Fremdkörper wirken muß« (48). Josuttis zielt darauf, rein funktionale wie auch handlungstheoretische Ansatz zu überwinden.561 Zwar stellt der funktionale Ansatz ein notwendiges Korrektiv gegenüber »genetischen« Ansätzen dar, indem sie deutlich machen, dass Ritualisierung und Habitualisierung keine bloßen »natürlichen« Entwicklungen bezeichnen, sondern zu den »großartigsten Kultureigenschaften« (A. Gehlen) und Kulturleistungen des Menschen zu zählen sind, die eine umfassende Entlastungfunktion für den Menschen erfüllen. Mit dem Verweis auf das »Verhalten im Kult [als] eine Variante des in der Gesellschaft Üblichen« (41) ist freilich die Besonderheit des Gottesdienstes aber noch nicht erfasst. Andernfalls könnten gesellschaftliche Akteure wie Medien, Sport oder Wissenschaft mit ähnlichen Funktionen die Leistungen des (religiösen) Rituals verlustfrei übernehmen. Der Gottesdienst ist für Josuttis unter funktionaler Perspektive in dreifacher Weise unterbestimmt: Die Funktion kann weder das Moment der Zweckfreiheit ritueller Handlungen erfassen, noch den im Ritual zum Ausdruck gebrachten Wahrheitsanspruch bestimmter Überzeugungen adäquat erfassen. Schließlich blendet der Verweis auf Entlastung und Integration das zentral mit dem Ritualvollzug verbundene Anliegen aus, »in die Begegnung mit einer spezifischen Macht zu führen« (ebd.). Darüber hinaus grenzt sich Josuttis auch von den auf Schleiermacher aufbauenden liturgischen Ansätzen ab, die den Gottesdienst als darstellendes Handeln und die Liturgik somit als Handlungswissenschaft konzipieren. Zwar macht die Bestimmung des Gottesdienstes als Handlung deutlich, dass es sich 559 Ders.: Der Weg in das Leben, 50. Die folgenden Seitenzahlen im Text entsprechen dieser Ausgabe. 560 S. o. 2.4.2.2.1. 561 Josuttis setzt sich dabei insbesondere mit der Theorie des Gottesdienstes von Peter Cornehl auseinander, der dem Gottesdienst die Funktionen von »Orientierung, Expression und Affirmation« zuschreibt (vgl. Cornehl: Theorie des Gottesdienstes, 181).
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beim Vollzug des Rituals nicht um ein zwanghaftes Zeremoniell oder um die Folge behavioristischer Prädispositionen handelt. Rituale verdanken subjektiven Motivation sowie die Überzeugung, dass sich dieses Handeln als wirksam erweisen wird. Daher ist für Josuttis »das rituelle Verhalten im Gottesdienst als ein methodisch reflektierter Versuch zu verstehen, sich der Wirklichkeit des Göttlichen auf angemessene Weise zu nähern« (34) und stellt somit eine »Technik zur Erschließung von Wirklichkeit« (35) dar. Doch auch eine handlungstheoretische Perspektive bleibt ergänzungsbedürftig. Sie vermag die »Leerstelle« innerhalb des kommunikativen Handelns nicht erklären, die durch die normative Fixierung des Rituals entsteht und den Akteuren kaum Möglichkeiten eröffnet zu Konsensbildung und kommunikativer Regulation. Erst die phänomenologisch-verhaltenstheoretische Grundlage erlaubt den für Josuttis charakteristischen multiperspektivischen Ansatz, der ethologische, ethnologische, psychologische und philosophische Zugänge integriert (vgl. 18–35). Paradoxe Momente sollen bewusst nicht einseitig aufgelöst werden. Beispiel eines solchen Paradoxons ist das protestantische Gottesdienstverständnis selbst. Die irdische Feier der Liturgie zielt auf die Begegnung mit Gott und behauptet zugleich, dass die Realisierung dieser Möglichkeit vom Menschen nicht herstellbar ist: »Es geht um Tätigkeit in einem Bereich, in dem kein Mensch etwas ausrichten kann« (228). Darum gilt: »Wer in den Gottesdienst geht, tut nicht das, was er sagt. Gerade der verhaltenswissenschaftliche Ansatz kann zeigen, daß hier ein erheblicher Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem faktischen Vollzug und der theologischen Interpretation des Verhaltens besteht« (106). Diese Spannung kann und muss nach Josuttis aber nicht aufgehoben werden, weil die Desakralisierung der Welt und die Hoffnung auf Vergegenwärtigung des Heiligen in dieser desakralisierten Welt zwei gleichermaßen zentrale protestantische Überzeugungen darstellen. Der phänomenologische Zugang geht daher von den konkreten Handlungsvollzügen aus, ohne diese zuvor an theologischen Vorgaben zu messen. Vielmehr werden diese auf die bewussten wie unbewussten Implikationen hin befragt. Dadurch sollen sowohl das subjektive Empfinden der Akteure, ihre intentionalen Entscheidungen als auch die durch ihr Handeln ausgedrückten sozialen Werte und Traditionen erfasst werden. Dieses Erheben der Handlungsimplikationen umschreibt Josuttis als die »Fähigkeit zur Erschließung verborgener Wirklichkeitsdimensionen« (289).562
562 Hier klingen bereits Formulierungen an, die in seinem späteren »energetischen« Zugang ins Zentrum rücken (vgl. Manfred Josuttis: Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996).
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3.5.1.2 Die Feier des Gottesdienstes als Sicherstellung, Darstellung und Aushandlung religiöser Identität Josuttis versteht den Gottesdienst im Ganzen als einen »Weg in das Leben«, der seinen Höhepunkt im Abendmahl findet, wo »die Grenzen des alltäglichen Bewußseins, der alltäglichen Identität, der alltäglichen Wirklichkeit überschritten werden« (289). Der Darstellung der »Tiefenstruktur eines rituellen Verhaltens« mit seinem spezifischen Verhältnis von Alltag und Transzendenz muss daher eine Beschreibung jenes Bewusstseins und Handelns vorausgehen, das diesen Alltag prägt. Konkret untersucht Josuttis dafür das allgemeine, menschliche Verhaltensrepertoire von Hingehen, Sitzen, Sehen, Singen, Hören, Essen und Weggehen. Bereits an anderer Stelle hatte Josuttis deutlich gemacht, dass eine Auseinandersetzung mit dem Gottesdienst als Ritual eine unumgängliche Aufgabenstellung der Liturgik sei (»Der Gottesdienst ist ein Ritual.«563) und mit ihr die Auseinandersetzung mit außertheologischen Ritualtheorien. Auf dem »Weg in das Leben« führt dies zu einer breiten Rezeption religionswissenschaftlichen Einsichten. Dabei kommen Ritualtheorien, die bei der Opferpraxis ansetzen (H. Hubert und M. Mauss, R. Girard) ebenso vor wie sozialfunktionale (E. Durkheim), genetisch-biologische (I. Eibl-Eibesfeldt), phänomenologische (M. Eliade), mythosbezogene (W. Burkert) oder psychoanalytische (Th. Reik, C.G. Jung, S. Freud) Ansätze. Der Begriff des Rituals wird dabei aber nicht eigens thematisiert, vielmehr allgemein als spezifisches »Verhaltensprogramm« der Annäherung an eine transzendentale Macht klassifiziert und als gegeben vorausgesetzt. Auch in Josuttis’ Bestimmung der Agende als »Anleitung für eine gelenkte Kollektivphantasie in wirklichkeitserschließender Absicht« (289) schlägt sich dieses im Nebeneinander von Alltag und Transzendenz nieder. An anderer Stelle hatte Josuttis das Ritual definiert als »ein System von interaktionalen Vollzügen, durch das eine Gruppe von Menschen für sich und ihre Mitglieder in einer bestimmten Situation die Identität sicherstellt«564. Schon hier wird betont, dass es sich bei Ritualen nicht um idiosynkratische, isolierte sakrale Vollzüge handelt, sondern um Varianten des Alltagsverhaltens. Die Spezifik des Sonntagsgottesdienstrituals, dass eben häufig nicht »in einer bestimmten Situation« vollzogen wird, war damit jedoch noch nicht ausreichend gewürdigt. Der Verzicht, diese Definition zu wiederholen signalisiert die Weiterentwicklung der Theorie: Angesichts der pluralen und häufig umstrittenen Praxis kann vom »Sicherstellen« kaum noch die Rede sein.565 In 563 Ders.: Der Gottesdienst als Ritual, 44. 564 Ders.: Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. Grundprobleme der Praktischen Theologie, München 21980, 189. Erneut in Ders.: Der Gottesdienst als Ritual, 54. 565 Ähnlich kritisch wäre eine weitere Bestimmung zu sehen, in der Josuttis davon spricht, dass im
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der Konsequenz von Josuttis späteren Ausführungen wäre besser von einem »Aushandeln« der Identität zu sprechen und damit die bereits mehrfach begegnete funktionale Zuschreibung der Identitätsbildung als grundsätzlich offener und unabgeschlossener Prozess konzipiert. Dies soll beispielhaft erläutert werden. Eine besondere Leistung des Entwurfs liegt darin, nicht bei der – durchaus berechtigten – Kritik des protestantischen Gottesdienstrituals hinsichtlich seiner eingegrenzten körperlichen und affektiven Ausdrucksdimension und dem weitgehenden Verlust von (in der Geschichte der Ritualtheorie einflussreichen) Kategorien wie ›Opfer‹, Sexualität und Aggression stehenzubleiben. Auch die unterschiedlichen lokalen Ausformungen und Entwicklungen werden nicht zugunsten einer rituellen Deutung reduziert. Stattdessen ist Josuttis immer wieder darum bemüht, den gegenwärtig tatsächlich vollzogenen Gottesdienst als Ritual zu untersuchen. Dies zeigt sich zum einen deutlich im Umgang mit Positionen, die innerhalb der Liturgik besonders umstrittenen sind. So kann Josuttis die Verwendung der eucharistischen Gebete Anamnese und Epiklese als Ausdruck des Wissens darum würdigen, dass die Wirksamkeit des Rituals nicht im Vollzug selbst liegt. Zugleich wird aber der häufig praktizierte Verzicht auf diese Gebete als Ausdruck der Gewissheit gegenüber der göttlichen Stiftung und Verheißung gedeutet, die in der Konzentration auf die Einsetzungsworte zum Ziel kommt (289f.). Unter Absehung von vermeintlicher Eindeutigkeit verortet er auch die unterschiedlichen Positionen des Liturgen vor bzw. hinter dem Altar im Spannungsgefüge zwischen Pfarrerund Priesterrolle (vgl. 171 f.).566 Den Verzicht auf Eindeutigkeit hält Josuttis jedoch nicht zuletzt angesichts der Bedeutungspluralität des Rituals für geboten. Ein auf die Funktionen von Ordnungs- und Identitätsgewährung, Stabilisierung und Entlastung festgelegtes Ritual, wie dies in der früheren Definition noch formuliert war, müsste entschiedener auf das Erreichen dieser Ziele ausgerichtet werden. Ein solches Vorgehen wäre jedoch überaus ambivalent: »Die Steigerung psychologischer Stringenz wird freilich immer mit einer Reduktion der inhaltlichen Weite erkauft« (236). Mit der Frage nach der Bedeutung und Aneignung des Rituals ist zugleich die stärkste Anfrage an Josuttis Entwurf verbunden, die sich vor allem auf die Bedeutung der Predigt richtet. Eine protestantische Auslegung des Gottesdienstes, welche die Predigt explizit nur auf zweieinhalb von 320 Seiten thematisiert, stößt unumgänglich auf Kritik. Insbesondere deshalb, weil das Verhältnis von Handlung und Reflexion in kein Verhältnis gesetzt werden. Gottesdienst »eine religiöse Gemeinschaft ihre Identität zur Darstellung bringt« (Ders.: Gottesdienst/Kult, 164). Auch hier dominiert noch die affirmative Funktion. 566 Vgl. im Gegensatz dazu die Entschiedenheit in der Argumentation von Friedemann Merkel: Im Angesicht der Gemeinde. Celebratio versus populum – zu einem Problem des heutigen evangelischen Gottesdienstes, München 1970.
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Interessant ist dieses Fehlen auch im Blick auf seine früheren Ausführungen zum Gottesdienst als Ritual. Hier hatte er die Spezifik des evangelischen Gottesdienstes genau darin gesehen, dass hier »das Ziel und die Funktion jedes Rituals explizit verbalisiert« werden: »Der Gottesdienst sagt explizit, was die Party soll.«567 Diese Feststellung führt gleichwohl nicht in die nähere Bestimmung der Rolle, die diese Explikation innerhalb des Rituals spielt und welche Auswirkungen dies auf seinen Vollzug hat. Die Wirkungen des Rituals scheinen auch ohne diese Explikation erbracht werden zu können. Allenfalls dient die Predigt dem Schutz vor den »negativen Funktionen« des Rituals. In der Einführung in das Leben wird das Verhältnis von Vollzug und Reflexion noch einmal stärker voneinander getrennt. Die abendmahlstheologischen Fragen nach Konsekration und Realpräsenz stellten sich »erst jenseits des Rituals stellen oder im rituellen Vollzug nur dann, wenn man innerlich aussteigt« (288). Mögen im Ritual das Alltagsbewusstsein und ein damit verknüpftes Theoriebewusstsein auch an Bedeutung verlieren. Dass aber die Predigt, die Fragen nach der Präsenz Gottes »in, mit und unter« den Elementen nicht nur zum Gegenstand haben kann, sondern gerade die Verbindung von Auslegung und Ritualvollzug zum Proprium evangelischen Liturgieverständnisses gehört, wird für die Bestimmung des Rituals nicht fruchtbar gemacht. Hier zeigt sich noch einmal die Stärke des Ansatzes von Jetter, Auslegung und Interpretation nicht auf die Predigt zu beschränken, sondern auf die Ebene des Handelns auszuweiten. Zugleich lässt diese Fehlstelle in Josuttis’ Theorie nach alternativen Möglichkeiten fragen, das Verhältnis von Vollzug und Reflexion zu bestimmen, etwa in der Weise, wie dies Michael Meyer-Blanck mit seinem Begriff der »Ritualisten in der 1. Ableitung« unternommen hat (s. o. 3.1.2). Gleichwohl legt Josuttis hier eine Weiterentwicklung seines eigenen Ansatzes vor, wie ein weiterer Blick in den genannten früheren Beitrag zum Gottesdienst als Ritual verdeutlicht. Darin setzt er den Ritualbegriff der empirischen Sozialwissenschaften als Bezugspunkt der Liturgik fest und versteht dieses Vorgehen neben einem historischen und einem dogmatischen Ansatz als den dritten – und für ihn genuin praktisch-theologischen – Zugang zum Gottesdienst. Bereits hier stellt Josuttis nicht mehr die Fixierung, sondern die Dynamik des Rituals und seine individuelle Aneignung durch die Akteure ins Zentrum. Eine lebendige Ritualpraxis bedarf seiner Ansicht nach a) einer »materialen Füllung« des Rituals, was als Bedeutungszuschreibung zu identifizieren wäre, b) des »personalen Engagements« in der Ausführung, um den bekannten »leeren« Ritualismus zu vermeiden, sowie c) der »ständigen Modifikation«568. Die unterschiedlichen Perspektiven – das Verhältnis von Ritual 567 Josuttis: Der Gottesdienst als Ritual, 54. 568 AaO., 55. Daraus folgend ist auch die Liturgik gefordert, die »geschichtlich bedingte[n] Ausprägungen des Rituals im jeweiligen sozialen Kontext« (aaO., 56) zu analysieren.
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und Zwangsneurose (Freud), von Ritual und Urvertrauen (E. Erikson) sowie von Ritual und Interaktion (E. Goffman) – stehen allerdings noch weitgehend unverbunden nebeneinander. Die Art der Darstellung mag dem Genre des Lehrbuchs geschuldet sein, gleichwohl werden so lediglich mehr oder weniger plausible Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit ansonsten eigenständigen Verhaltensformen aufgedeckt. Dabei kommt das Ritual Gottesdienst als Ganzes kaum in den Blick, nicht zuletzt deshalb, weil die Orientierung am konkreten Ritus fehlt. Auch die vermeintlich analogen Verhaltensformen drohen mit dem Wandel von Lebenswelt und religiösen Lebensformen rasch an intuitiver Einsicht zu verlieren. Diesen Aspekten geht Josuttis im Weg in das Leben nun intensiver nach. Obwohl dabei eine explizite Auseinandersetzung mit neueren spezifisch ritualtheoretischen Ansätzen nicht stattfindet, erörtert Josuttis Diskursfelder, die gerade in nichttheologischen Zugängen dieser Zeit eine wichtige Rolle spielen: Körperlichkeit, Autorität und Machtstrukturen, Inklusion und Exklusion (»Wer darf am heiligen Essen partizipieren?«, 248), Inszenierung und Spiel. Insgesamt findet bei Josuttis die ritualtheoretische Betrachtung innerhalb der protestantischen Liturgik eine bemerkenswerte Tiefe und Weite. Die Ritualgestalt des Gottesdienstes wird als fraglos vorausgesetzt und zum Ausgangspunkt theologischer Überlegungen gemacht. Der agendarische Gottesdienst ist schlichtweg als »agendarisches Ritual«. Damit gelangt auch der anthropologische Zugang, der sich seit den 1960er Jahren entwickelte, zu einer Entschiedenheit, die seither kaum wieder erreicht wurde. Vielmehr traten performative, theatrale oder ästhetische Perspektiven und Kontextualisierungen wie Kirchenjahresbezug, Musik und Kunst ergänzend zur Seite. 3.5.2 Erleben und Verstehen im Ritual (H.-G. Heimbrock) Hans-Günter Heimbrocks ritualtheoretischer Ansatz lässt sich ebenfalls als multiperspektivischer Zugang einordnen. Im engen Kontakt mit ritualtheoretischer Forschung sollen integrative Handlungsbeschreibungen entworfen werden, die produktions- wie rezeptionslogischen Dimensionen gleichermaßen gerecht werden. Heimbrocks Verständnis des Gottesdienstes als Ritual steht dabei unter dem Überbegriff des »Spielraums«, wodurch die Verknüpfung von Ritual und Kreativität deutlich wird, die in Verbindung mit dem spieltheoretischen Diskurs bereits anklang. Heimbrocks Auseinandersetzung mit dem Ritualbegriff stand zunächst im Kontext seiner religionspädagogischen Arbeiten. Angesichts eines allgemein verstärkten Interesses an rituellen Vollzügen schien ihm das entwicklungspsychologisch geprägte Bild einer Korrektur bedürftig. Diesem zufolge stellen Rituale »Objekte kritischer Abarbeitung des reifenden Verstandes« und Ritualität generell lediglich eine Übergangsstufe dar. Heimbrock zielt auf einen
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Neuansatz innerhalb des liturgischen Ritualdiskurses, der über die »Grenzen von van Genneps Ansatz«569 hinausgeht und dessen statisches Bild von Gesellschaft wie auch von Ritualen erweitert. Auch hier fällt die breite Rezeption außertheologischer Ritualtheorien auf, die den klassischen Kanon übersteigen.570 Noch in den 1980er Jahren zeigt Heimbrocks Werben für die Entdeckung ritueller Vollzüge an, wie allmählich sich diese Perspektive durchsetzt. Religionspädagogisch fragwürdig geworden ist Heimbrock zufolge auch das Urteil, Rituale als »magisch und vorrational«571 zu deuten. Dadurch wird verhindert, dass die sozialen, kulturellen und vor allem die Deutungsleistungen von Ritualen gewürdigt werden können. »Es kann nicht bestritten werden, daß Menschen im Vollzug von Ritualen ein spezifisches ›inneres Verhalten‹ aktualisieren, daß sie Gefühle mobilisieren und ausagieren, auch nicht, daß sie meist einen bestimmten verstandesmäßig-kognitiven Zugang zu dem haben, was sie gerade tun.«572 Das Zitat spiegelt nicht nur den multiperspektivischen Ansatz, es verdeutlich den neuen Zugang, der bereits bei Josuttis deutlich wurde und der weniger an festen Handlungsdefinitionen interessiert ist, als an der Beschreibung unterschiedlicher Dimensionen des Rituals, die wiederum ins Verhältnis zum Alltagshandeln gestellt werden. Insbesondere im Blick auf die Liturgie müsse es darum gehen, »im Interesse der Ermöglichung von Partizipation an solchen Ritualen, die die herrschenden Zwänge des Alltags gerade spielerisch oder phantasievoll provokativ [zu] durchbrechen« und daher an einer »Analyse psychischer und politischer Machtfaktoren im Hintergrund von Ritualen«573 zu arbeiten. Die Religionspädagogik sieht Heimbrock »vor der doppelten Aufgabenstellung, Rituale als Dimensionen des elementaren Lernens, aber auch als elementare Formen des Lehrens zurückzugewinnen.«574 Für den Gottesdienst aber gilt es, dessen Begrenzung als Lehr- und Lernraum zu erweitern, um zu erkennen, inwiefern Rituale »auch einen anthropologisch bestimmbaren innerpsychischen und interaktiven Spielraum anbieten, in dem Menschen innere Erfahrungen und kollektive Deutungsvorgaben für diese Erfahrungen miteinander in Beziehung bringen können.«575 Heimbrocks Ansatz steht insbesondere für die intensive Auseinandersetzung mit der Deutungsleistung von Ritualen wie auch der Deutungskompetenz ihrer Akteure, wie sie diesen »Spielraum« für sich nutzen, wie biographische und kulturelle Prägungen 569 Heimbrock: Ritual als religionspädagogisches Problem, 57. Ähnliche Anfragen werden zur gleichen Zeit innerhalb der Ritual Studies laut (s. u. 8.2 und 8.3). 570 Zitiert werden u. a. E.G. d’Aquili, M. Douglas, . Durkheim, E. Erikson, C. Geertz, E. Goffman, J.S. Huxley, E.R. Leach, C. Lev -Strauss, B. Malinowski, S.F. Moore/ B.G. Myerhoff, R.A. Segal, A.R. Radcliffe-Brown, V.W. Turner. 571 Heimbrock: Religiöse Entwicklung, 198. 572 AaO., 203. 573 AaO., 206. 574 Ders.: Ritual als religionspädagogisches Problem, 78. 575 Ders.: Gottesdienst, 8.
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einfließen und wie schließlich individuelle und institutionelle Deutungen sich zueinander verhalten. ›Ritual‹ ist für Heimbrock daher nichts, was unabhängig von der konkreten Handlung, aber auch unabhängig von diesen Deutungen existiert. Aufgabe der Liturgiewissenschaft ist es Heimbrock zufolge, ein »Modell zur empirischen Analyse individuellen und kollektiven Ritualerlebens«576 zu entwickeln. Dieses soll nicht zuletzt die Pluriformität der Ausführung und Gestaltung der agendarischen Vorlage auf der Ebene der verbalen- wie nonverbalen Zeichen und Handlungen zu erfassen in der Lage sein. Dafür entwickelt Heimbrock zwei Grundkriterien, denen ein solches Modell zu entsprechen hat: »1. muß es prinzipiell hermeneutisch orientiert sein« (38). Rituale sollen daraufhin untersucht werden, wie die für den Ritualvollzug prinzipiell angenommenen Verstehens- und Sinngebungsprozesse funktionieren, wobei den »außersprachlichen Akten« besondere Bedeutung zukommt. »Hermeneutisch« soll nicht als Alternative zu einem funktionalen Ansatz verstanden werden, allerdings soll die Fokussierung auf das Verstehen den unmittelbaren Vollzug insofern übersteigen, als auch die kulturellen, biographischen, politischen oder religiösen Kontexte einbezogen werden, wie dies etwa von Clifford Geertz im Konzept der »dichten Beschreibung« vertreten wird.577 »2. muß das Modell interaktional orientiert sein« (39). Rituale sollen nicht mehr als reaktionäre, genetisch oder etologisch gesteuerte Prozesse verstanden werden, sondern als bewusst gewählte Strategien erscheinen. Damit verändert sich auch das Bild der Ritualanalyse: Als Interaktionsanalyse geht es nicht um das Entziffern der vermeintlich ›hinter‹ den Symbolen liegenden Bedeutungen, sondern es geht um die Entdeckung der Freiheit für »Reaktionen, Interaktionen und auch kreativ[e] Akt[e] neuer Interpretation« (40), die Rituale zu eröffnen im Stande sind. Heimbrock verdeutlicht, dass die Momente der Fixierung und Starre des Rituals – etwa im Gegenüber zu spontaner oder spielerischer Interaktion – vor allem dann hervortreten, wenn immer noch von dem Ritual die Rede ist. Damit wird zugleich die langwährende Orientierung allein an der Agende als dem rigide zu befolgenden Ritualskript perpetuiert. Fragt man hingegen danach, was »Menschen über ihr Verständnis von Gottesdienst und einzelnen Sequenzen dadurch zum Ausdruck [bringen], daß sie an ganz bestimmten Stellen ganz bestimmte Dinge tun oder lassen«578, kann das erwähnte dynamischere Gesamtbild umso deutlicher hervortreten – vorausgesetzt jedoch umfangreichere, die individuellen Prägungen der Akteure einbeziehende empirische Forschungen können durchgeführt werden. Heimbrock greift
576 AaO., 38. 577 S. u. 9.1.1. 578 AaO., 101.
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damit die Anliegen der Gottesdienststudien aus den 1970er Jahren auf (s. o. 2.4). Das Bild von Ritualen als Deutungsprozessen im Vollzug wird insofern konkretisiert, als es symbolisch-begriffliches, ästhetisches, moralisches und Selbst-Verstehen differenziert werden. Insbesondere die letzte Form ist für ein interaktives Modell von Interesse. Eignet Ritualen »eine Qualität des Selbstausdrucks und der Selbstauslegung«, werden die »Verstehensprozesse des Rituals auch zum Selbst-Verstehen des Individuums«.579 Heimbrocks Ritualtheorie, die sich um eine Integration entwicklungspsychologischer, ästhetischer, spieltheoretischer und phänomenologischer Erkenntnisse bemüht, bietet schließlich eine Bestimmung des Ritualbegriffs, die bereits in ihrer Ausführlichkeit versucht, bei aller Allgemeinheit nicht an Spezifik zu verlieren. Insbesondere für den evangelischen Gottesdienst erfasst sie zentrale Fragestellungen nach dem Verhältnis von vorgegebener Form und freier Aneignung, von institutionell organisierter Produktion und individueller Rezeption und den dabei zu beobachtenden Interessenkonflikten sowie schließlich von Texten und nonverbalen Handlungen. Diese Bestimmung, die jedoch seither nicht erkennbar rezipiert wurde, steht in großer Übereinstimmung mit dem hier vertretenen und im dritten Abschnitt ausführlich entfalteten Ansatz580. Sie wird daher im Ganzen wiedergeben: »[Rituale] sind als formalisierte symbolische Ausdruckshandlungen anzusehen, in welchen einerseits institutionalisierte Bedeutungsvorgaben der jeweiligen Gruppe präsentiert werden; sie stellen damit andererseits Angebote zur Ausgestaltung subjektiver Bedeutungsgebung dar. Auf der kognitiven, der emotionalen und der aktionalen Ebene kann bei der Partizipation von Menschen an heiligen Feiern ein Wechselspiel (mit mehr oder weniger großem Spielraum) stattfinden. Einerseits werden vorgegebene Bedeutungselemente, diskursive und präsentative Symbole, aufgenommen, z. B. werden Texte zu hören versucht, Rollen adaptiert etc., andererseits geschieht dabei stets eine persönliche Ausgestaltung der Formangebote in individuellen, gleichwohl bedingten Deutungsakten. Auf seiten der Menschen bzw. Gruppen, die ein Ritual inszenieren, gibt es erkennbar oder verborgen ein Mehr oder Weniger an Konformitätserwartungen bzw. Zwang, die vorgegebenen Deutungen eines Rituals ›richtig‹ zu rezipieren oder sie freier auszudeuten. Auf seiten des Individuums existiert die analoge Ambivalenz; auch dort ist im Zusammenhang mit biografischen, kognitiven und emotionalen Faktoren jeweils der Spielraum zur Wahrnehmung der Deutungsaktivitäten präformiert.«581
579 AaO., 102. 580 S. u. Kapitel 11. 581 AaO., 38.
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3.6 Zusammenfassung Die von Hans-Günter Heimbrock Ende der 1980er Jahre beschriebene »unübersehbare Fülle« ritualtheoretischer Ansätze und Publikationen zum Themengebiet ›Ritual‹ ist seither kaum abgeebbt: »Die Literatur zu den Themen Ritual, Ritualisierung. Ritualität usw. ist unübersehbar und wächst buchstäblich von Tag zu Tag«582, konstatiert Karl-Heinrich Bieritz mit hörbarem Seufzen fast 20 Jahre später. Die mit der Interdisziplinarität verknüpfte Komplexitätssteigerung bewirkte zunehmend, dass gemeinsame Bezugspunkte zwischen den theoretischen Ansätzen immer weniger sichtbar waren und die Diskurse häufig parallel zueinander verliefen. Dies führte zu einer sich stetig weiter ausdifferenzierenden Analyse einzelner ritueller Aspekte. Allmählich setzte zudem eine Ausweitung der Rezeption des Ritualbegriffs über die Liturgik und Poimenik hinaus ein. Nicht nur andere Teildisziplinen der Praktischen Theologie wie etwa die Religionspädagogik widmeten sich der Thematik, auch in den historischen und exegetischen Fächer gewann sie an Bedeutung.583 Auf dem Gebiet der Liturgik wurde im Durchgang deutlich, inwiefern Ritualtheorie der Plausibilisierung ritueller Vollzüge sowie theologischer Aussagen und institutioneller Bedeutungszuschreibungen diente. Der mit der Säkularisierung verbundene Umbruch, der einen Verlust an Selbstverständlichkeit kirchlicher Praxis bedeutete, war auf Dauer gestellt und die Aktualisierung der Argumentationsstrategien wurde zur bleibenden Aufgabe. Die Wandlungen im Ritualverständnis zeigt der Vergleich zwischen frühen, psychoanalytisch geprägten Konzepten und spieltheoretischen Ansätzen. Wurde zuerst der Sinn wiederholter Handlungen als »Auszeit« in einer rasant sich wandelnden Welt samt ihrem Zwang zur Kreativität gedeutet, heben spätere Ansätze besonders den kreativen Gehalt ritueller Inszenierungen hervor. Das Ritual ist nicht mehr »Rasthaus« der Regression, sondern Spielraum einer Gegenwelt. Sprachwissenschaftlichen Ansätzen wie den von Werlen und Paul gelang es, die Aufmerksamkeit auf die internen Mechanismen ritueller Kommunikation zu richten. Bis auf die Wortebene hinab wird hier eine exakte und detaillierte Analyse der unterschiedlichen Kommunikationstypen mit besonderer Aufmerksamkeit auf Rahmungen und Übergänge geboten. Dabei zeigte sich insbesondere die Integrationsfähigkeit von Ritualen gegenüber nichtrituellen Handlungen und Kommunikationsvollzügen. Rituale können auch dann funktionieren, wenn nicht jede Äußerung innerhalb ihres Rahmens ritualisiert ist. Somit besteht aus ritualtheoretischer Sicht keine Notwendigkeit, die Folgen unterschiedlichen Kommunikationsbedürfnisse – insbesondere auf 582 Bieritz: Einladung zum Spielen, 287. S. u. 4.3.1. 583 Zur Rezeption der Ritual Studies s. u. 10.
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Seiten der Liturgen – mit Verweis auf den Ritualcharakter des Gottesdienstes schlichtweg zu eliminieren. Kurz: Das Ritual verträgt auch ein begrenztes Maß an Moderation. Daraus resultiert ein differenziertes Verständnis der von Jetter benannten Vorstellung vom Gottesdienst als »Gesamtritual«. Der ›Gottesdienst als Ritual‹ steht damit in weitaus geringerem Maß im Gegensatz zur tatsächlichen Gottesdienstpraxis, als dies weithin angenommen wird. Eine wichtige Funktion zur Überwindung ritualkritischer Vorurteile im Protestantismus erfüllte auch die spieltheoretische Sichtweise. In Verbindung mit der Betonung des theatralen und inszenatorischen Charakters wurden hier die Grundlagen gelegt für ein Verständnis des Rituals als dynamische, mit Kreativität und aktiver Beteiligung der Akteure assoziierter Handlungsform inmitten eines durch Regeln bestimmten Handlungsraumes. Dabei erlangte die konzeptionelle Integration des Alltags zunehmend an Bedeutung. Diesseits und Jenseits der Grenzen des Rituals konnten als gegenseitige Bereicherung und Transformation gedacht werden. Eberhard Hauschildts Vorstellung vom Ritual als »Routine der Alltagswelt-Ansicht« ließ hingegen Aspekte der Körperlichkeit des Rituals ebenso unbeachtet wie die konkreten Handlungen. Die ausgewählten Zugänge spiegeln einen latenten Eklektizismus, wie ihn Thomas Klie mit deutlichen historischen Parallelen für den Spielbegriff gezeigt hat.584 Dieser führt zum Ausblenden wichtiger Aspekte: dort, wo das Ritual die integrative Funktion des Gottesdienstes innerhalb der Volks- und »Kasualkirche« gewährleisten soll, wird der Heimatcharakter betont und das Transformative und Begrenzende größtenteils ausgeblendet; wo das Ritual einen Heilungsprozess anregen soll, wird der Sequenzialität und begrenzten Stringenz und Abfolgelogik historisch gewachsener Rituale kaum Beachtung geschenkt; wo das Ritual Kommunikation ermöglichen und organisieren soll, wird kaum erwähnt, dass zahlreiche Elemente, die gemeinhin als konstitutiv für Kommunikation gelten, wie etwa die klare Identifizierung von Sender, Empfänger und Botschaft, im Ritual kaum eindeutig zu bestimmen sind. Im Verhältnis zum Diskurs der siebziger Jahre zeigt sich ein erster deutlicher Wandel: Das Ritual wird nicht mehr ›entdeckt‹, vielmehr dienen die Argumentationen zum Schutz der rituellen Komponenten der Liturgie, die im Sog liturgischer Freiheiten verloren zu gehen drohten. Hierbei zeigen sich deutliche Parallelen auf katholischer Seite, wo etwa Alfred Lorenzers Ausführungen über Das Konzil der Buchhalter von 1981 die Umstellung von einer Religion des Rituals auf eine Religion des Wortes kritisiert.585 584 S. o. 3.3.3. 585 Lorenzer zufolge bedeutete diese Umstellung in der Zeit der Reformation zwar einen Gewinn an Subjektivität und religiöser Autonomie, am »Ende des bürgerlichen Zeitalters« jedoch rufe sie genau die umgekehrte Wirkung hervor: mit der Abschaffung der tridentinischen Messe solle das Individuum in das rationale, zweckorientierte und auf Verfügbarkeit ausgerichtete Grundmuster der modernen Gesellschaft eingepasst werden. Die Reform der Messe erlaube nur noch eine Form der rituellen Kommunikation, die der Belehrung (vgl. Lorenzer: Das
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Einen weiteren Wandel erfuhr die ritualtheoretische Diskussion unter dem Einfluss phänomenologischer Ansätze (Josuttis, Heimbrock). Die damit verbundene Öffnung schlägt sich nicht nur anhand der interdisziplinär erweiterten Forschungsrezeption nieder. Darüber hinaus wandelt sich auch der Zugang von einem perspektivischen zu einem dimensionalen. Es geht nunmehr weniger um einzelne leitende Paradigmen wie Kommunikation oder Spiel. Vielmehr sollen unterschiedliche Dimensionen des Gesamtphänomens ›Ritual‹ erfasst werden. Gerald Klingbeil listet insgesamt zehn Dimensionen, die zu bedenken sind: die interaktive, die kollektive, die traditionalisierendinnovative, die kommunikative, die symbolische, die multimediale, die performative, die ästhetische, die strategische und die integrative Dimension.586 Wenngleich derartige Aufzählungen stets nach ihrer Vollständigkeit fragen lassen wie auch nach Überschneidungen – etwa zwischen kommunikativer und symbolischer Dimension –, ist damit dennoch ein wesentlich flexiblerer Zugang zur Ritualität gewonnen, aber auch zum liturgischen Ritualdiskurs. Insgesamt verbindet sich mit dem phänomenologischen Zugang das Anliegen, das Bild eines starren, allein stabilisierenden Rituals aufzubrechen und das dynamische Erleben und interpretierende Verstehen der Akteure in den Blick zu nehmen. Modifikation bildet Josuttis zufolge die Grundvoraussetzung einer lebendigen Ritualpraxis. Auch Heimbrock hebt die Verbindung von Ritual und Kreativität hervor. Wird das Ritual nicht mehr unabhängig von seinen Deutungen konzipiert, erhöht sich zugleich die Anschlussfähigkeit einer liturgischen Ritualtheorie für das, was unter dem Stichwort der ›Ritualisierung‹ in den außertheologischen Ritualtheorien behandelt wird und noch näher zu bestimmen ist. Die Vielfalt der Aspekte, Dimensionen und Bezugswissenschaften und die damit verbundene Unübersichtlichkeit stellen einen bleibenden Ausgangspunkt von Kritik dar, die Kategorie ›Ritual‹ als hermeneutischen Schlüssel für die Analyse des Gottesdienstes zugrunde zu legen. Darüber hinaus ist festzustellen, dass mit den Entwürfen von Josuttis und Heimbrock ungeachtet der zahllosen Einzelstudien, die seither in großer Breite erschienen sind und noch erscheinen, die Phase intensiver konzeptioneller Überlegungen zum Ritualbegriff evangelischer Liturgik vorerst abgeschlossen scheint.
Konzil der Buchhalter, 185). Vgl. auch Dieter Funke: Religion als Ritual? Praktisch-theologische Anmerkungen zu A. Lorenzers “Konzil der Buchalter”, in: PThI (1983), 274–292. 586 Vgl. Gerald A. Klingbeil: Art. Ritus/Ritual. in: WiBiLex (2010), https://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/33518 (22. 05. 2015).
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4 Ritualkritik und Kritik am ›Ritual‹ In der bisherigen Darstellung wurde die Entdeckung und Entfaltung der Ritualität des evangelischen Gottesdienstes dargestellt. Die anfängliche Skepsis gegenüber dem Ritual konnte mittels einer anthropologischen Fundierung dieser Handlungsform überwunden werden. Die theologische Kritik am Ritual, die sich nicht zuletzt an der Agendenreform der 1950er Jahre entzündete und die bis zu jener Wende um 1970 herum vorherrschte, schien in der späteren Betonung der Ambivalenz des Rituellen immer wieder hindurch. Eine explizite Auseinandersetzung mit den Anfragen älterer Ritualkritik fand dabei kaum statt. Auch die reflexive und diskursive Prägung protestantischer Gottesdienstkultur wurde nur unzureichend integriert und gab in jüngster Zeit immer wieder Anlass, die Bestimmung des Gottesdienstes als Ritual in Frage zu stellen. In diesem Kapitel sollen daher Positionen jüngerer und älterer Ritualkritik noch einmal vor Augen geführt werden, um damit die Aufgabe einer protestantischen Ritualtheorie präziser erfassen zu können, die in Kapitel 5 an die Stelle einer Zusammenfassung tritt. 4.1 Vorbemerkung: Ritualkritik in Bibel und Kirchengeschichte Rituellen Vollzügen mit Ambivalenz zu begegnen ist keineswegs erst seit der Reformation Bestandteil der christlichen Tradition. Vielmehr finden sich bereits im Alten Testament neben ausgeprägten Ritualbeschreibungen und vehement als verbindlich eingeschärften Ritualanweisungen verschiedene Formen von Ritualkritik. So stehen sich etwa detaillierte Angaben zum Vollzug der Opferrituale in den Rechtstexten des Pentateuchs auf der einen Seite und harsche Kritik an der Opferpraxis in den Büchern der Propheten Hosea, Amos und Jesaja gegenüber. Mangelnde Verehrung Jahwes (Jes 1) und Verfehlungen an der geforderten sozialen Gerechtigkeit entziehen der rituellen Praxis die Legitimation und Selbstverständlichkeit und lassen rituell geprägte Zeiten, Handlungen und Gesten wie das Ausbreiten der Hände zum Gebet fragwürdig werden (Am 5,21–23). Weil der liturgische Gottesdienst in das das ganze Leben umspannende Gottesverhältnis eingebettet ist, bildet auch gelebte Religion des Einzelnen wie auch der Gruppe eine Einheit. Eine ähnliche Ambivalenz gegenüber rituellen Formen der Gottesverehrung lässt sich auch bei Jesus von Nazareth finden. Zahlreiche rituelle Formen wie der Synagogengottesdienst (Lk 4), das Fasten und Almosengeben (Mt 6) werden zunächst von ihm selbstverständlich als tradierte Bestandteile religiöser Praxis vorausgesetzt und akzeptiert. Rituelle Handlungsformen sind fester Bestandteil seines Wirkens im Kontext von Heilungen, Absolutionen sowie der von ihm initiierten Mahlgemeinschaften. Dabei werden stabile, rituell geprägte Formen und Formeln zugleich neu kontextualisiert. So ge-
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neriert das letzte Abendmahl durch die Bezüge zum Passaritus wie auch zu Jesu alltäglicher religiöser Praxis im Rahmen der Speisungen ein komplexes rituelles Gefüge mit neuen Bedeutungsebenen.587 Zugleich lassen sich aber zahlreiche Belege einer ritualkritischen Haltung Jesu finden, die in der Tradition prophetischer Kultkritik stehen (Mt 23,23). Mit der Aufforderung zu einer Ritualpraxis, der Adäquanz an die Berücksichtigung des konkreten Kontextes und der darin agierenden Menschen gekoppelt wird (Mk 2,27), setzt er einen wichtigen neuen Impuls. Die Entwicklung der christlichen Praxis des westlichen Christentums von der Spätantike beginnend mit der Verstaatlichung der Kirche seit konstantinischer Zeit bis hin zum späten Mittelalter war in ihren Grundzügen einerseits geprägt durch jene machtförmigen Strukturen, welche rituelle Regeln zunehmend mit der Gültigkeit juristischer Gesetze versahen. Nicht zuletzt dadurch wurde das Anwachsen ritueller Formen begünstigt und die Entwicklung neuer, aus den Erfordernissen der Situation entstehender Formen war leichter möglich, als Bestehendes zu verändern.588 Auch die Einbettung der Pflicht zur Einhaltung ritueller Vorschriften in den soteriologischen Diskurs beförderte rituelle Einstellungen, die weniger von einem freien als von einem ängstlichskrupulösen Umgang geprägt waren.589 Andererseits existierten in den verschiedenen Formen der Mystik religiöse Strömungen, die hinsichtlich der sanktionierten Praxis subversive Kräfte darstellten. Die im späten 14. Jahrhundert entstandene – und von Luther 1516 und noch einmal 1518 herausgegebene – Theologia deutsch weiß zwar um den Nutzen der »Ordnungen«, Riten und Bräuche als »Leitern« beim geistigen Aufstieg.590 Zugleich zeugt sie 587 Bei Matthäus stellt etwa das Brotwort einen dezidierten Rückbezug auf das Dankritual für die Speisen bei der Speisung der Fünftausend dar, das eine geregelte Abfolge deutlich erkennen lässt (Mt 14,23): »… und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel, dankte und brach’s und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk.« Freilich ist eine Rekonstruktion einer tatsächlichen rituellen Praxis nur bedingt möglich, da literarische Intention und Stilisierung nicht ausreichend abzutrennen sind. Der dezidiert rituelle Charakter wird aber den Berichten vom letzten Mahl Jesu nicht zuletzt dadurch deutlich, dass die Handlungen und Gesten genau registriert und benannt werden. 588 So sind etwa bei der Taufpraxis zahlreiche Elemente über Jahrhunderte tradiert worden, die ursprünglich innerhalb von Katechumenat und Erwachsenentaufen verortet waren und im Rahmen von Kindertaufen inhaltlich kaum sinnvoll erscheinen – und dennoch erhalten blieben. Man kann darin eine Parallele zur Textgeschichte heiliger Texte erkennen (vgl. den Abschnitt zur »Sinn-Entleerung« der Taufe bei August Jilek: Die Taufe, in: Schmidt-Lauber [Hg.]: Handbuch der Liturgik, 285–318, 295). 589 Die Tendenz, Abweichungen von rituellen Vorschriften als ›Vergehen‹ zu sanktionieren, die mit göttlicher Strafe belegt werden können, findet sich gleichwohl in den meisten religiösen Traditionen. 590 Der sog. ›Frankforter‹ zeiht hier die »geistliche hoffart«. Diese »dunckt, sie bedorff nicht schrifft noch lere vnd des gleich, ßo werden do alle wiße, ordenunge vnd gesetze vnnd gebote der heiligen kirchen vnd die sacrament czu nichte geachtet«. Um der Sündhaftigkeit des Menschen ist es aber »not vnd nutze […], das ordenung vnd wiße vnd gesetze vnd gebot sint.« (Wolfgang v. Hinten [Hg.]: ›Der Franckforter‹ [›Theologia Deutsch‹]. Kritische Textausgabe, München/Zürich 1982, 105 f.)
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von jener ritualkritischen Haltung, welche die Wendung des Glaubens ins Innere der Seele zu befördern suchte und dabei menschliches Handeln unter dem Urteil der Äußerlichkeit relativierte sowie überhaupt das Lassen dem Tun, das Schweigen dem Reden vorzog. Diese Haltung blieb jedoch innerhalb der Westkirche durchgängig in der Minderheit und wurde nicht nur mit kirchenrechtlichen Mitteln lange unterdrückt. Als eine Art Vorläufer jener Ritualkritik, die sich in der Epoche der Reformation in vielen Bereichen entlud, bleibt sie aber gleichwohl von großer Bedeutung. 4.2 Ritualkritik in den 1950er und 60er Jahren Maßgeblich für die Ausrichtung protestantischer Theologie bis zur sogenannten zweiten empirischen Wende in den 1970er Jahren war die sogenannte Dialektische Theologie, deren Höhepunkt zwischen dem Ersten Weltkrieg und den frühen 1930er Jahren lag. Ausgangspunkte dieser Theologie waren eine Skepsis gegenüber liberalen Strömungen sowie ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein hinsichtlich der Lage des Christentums. Ihrem dialektischen Anspruch entsprechend sollte auf biblisch-reformatorischer Grundlage das theologische Potenzial jener Gegensätze erschlossen werden, die in der Moderne drohten nivelliert zu werden. Zwischen Vernunft und Glaube, zwischen allgemeiner Religion und Christentum und letztlich zwischen Mensch und Gott werde, so die Auffasung, nicht mehr hinreichend unterschieden. Sowohl die Gotteslehre als auch die christliche Anthropologie seien deshalb neu zu bestimmen. Insbesondere die Sündhaftigkeit des Menschen und seine Begrenztheit sah man durch die Moderne weitgehend verdrängt. Der Fokus sollte daher auf dem Begriff des ›Wortes Gottes‹ liegen in seiner christologischen, schrifttheologischen und kerygmatischen Bedeutung. Hieraus entwickelte die Dialektische Theologie eine »Schrifttheologie neuen Typs« (Rudolf Bultmann), welche die Offenbarung Gottes in der Schrift nicht nur als herausgehobenen, sondern als exklusiven Ort der Gottesoffenbarung überhaupt begriff. Gott selbst bleibt aber auch in dieser Offenbarung der »unbekannte Gott« (Karl Barth). In Bezug auf die religiöse Praxis ging es damit vor allem um eine Reinigung des Glaubens von allen historischen, kulturellen und psychologischen Bedingtheiten. Zwar seien diese als gegeben anzuerkennen, sie könnten aber eben keine Synthese mit der Offenbarung Gottes eingehen, wie dies von der liberalen Theologie behauptet wurde. Die Kritik an Ritual und Ritus wurde vor allem aufgrund der Restauration des Gottesdienstes durch die sogenannte Jüngere Liturgische Bewegung zum wichtigen Feld der Auseinandersetzung. Deren Ursprünge lagen etwa zeitgleich mit der Hauptphase der Dialektischen Theologie zwischen 1919 und 1939. Angesichts der empfundenen Gottesdienstkrise galten die Bemühungen, anders als beim dialektischen Ansatz mit seinem Fokus auf die Predigt, zuerst der Reform der rituellen (›kultischen‹) Vollzüge. Dennoch bestanden zwi-
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schen beiden Bewegungen nicht nur personelle Schnittmengen (etwas mit Peter Brunner). Auch inhaltlich speisten sich die liturgischen Bemühungen aus der Beschäftigung mit Karl Barth und Martin Luther. Besonders deutlich wurde dies in der Kirchlichen Arbeit von Alpirsbach (KAA). Deren Mitglieder, wie etwa der Theologe Paul Schempp, konnten einerseits in der KAA engagiert sein, andererseits aber gegen die »Verkultung« des Gottesdienstes protestieren. Der liturgische Aufbruch war aber breiter organisiert und verlief quer durch die theologischen Lager hindurch. Er umfasste liberale Ansätze591 ebenso wie stark vom – ökumenisch verstandenen – Katholizismus geprägte.592 Besonderes Zeugnis der Breite des Anliegens war auch das maßgeblich von Karl Bernhard Ritter und Wilhelm Stählin verantwortete, aber von insgesamt mehr als 70 Theologen und Laien unterzeichnete Berneuchener Buch von 1926. Auch hier war der Ausgangspunkt die Wahrnehmung einer generellen Not der Kirche. Sie äußerte nach Ansicht der Unterzeichner auch darin, dass »in beiden evangelischen Kirchen […] es zu keiner wirklichen evangelischen Gestaltung des Kultus gekommen [ist … und] die Formlosigkeit selbst wieder zu einem negativen Formgesetz erstarrt [ist]«.593 Zur Wiedergewinnung der ›Form‹ müsse man sich neben dem »unveräußerlichen Recht der Predigt« im Bereich des ›Kultus‹ vor allem der Handlungsdimensionen der Liturgie widmen. Diese finde sich vornehmlich im Abendmahl, aber auch im ›stehen‹, ›knien‹, ›schreiten‹, in den Gewändern und in der Kunst.594 In allen Dimensionen soll der »evangelische Gottesdienst den Gleichnischarakter allen Lebens« offenbaren.595 Gegenüber der in FC X bestimmten Trennung des äußeren Zeremoniells vom verus cultus liegt hier ein gänzlicher Neuansatz vor, demzufolge »die Form der Darstellung überhaupt […] sich von dem ›eigentlichen‹ Gottesdienst überhaupt nicht scheiden läßt.«596 Maßgeblich geprägt vom Einfluss dieser liturgischen Bewegung waren die Agendenwerke der 1950er Jahre, die den Protestantismus von der Nach591 Ihren Niederschlag fanden diese etwa im Evangelischen Kirchenbuch (11917) von Karl Arper und Richard Bürkner bzw. Alfred Zillessen, in Julius Smends Kirchenbuch für evangelische Gemeinden, zunächst für die in Elsaß-Lothringen (11906) oder in dem von Ulrich Altmann und Ernst Kölln herausgegebenen Sammlung Erhebet eure Herzen. Ein gottesdienstliches Handbuch (2+31924). 592 Der sich auf das Augsburger Bekenntnis verpflichtende, gleichwohl nie offiziell vom Katholizismus konvertierte Friedrich Heiler sprach vom Prinzip einer »evangelischen Katholizität«, das innerhalb der ›Hochkirchlichen Vereinigung‹ umgesetzt werden sollte (u. a. in der Deutschen Messe oder Feier des Heiligen Abendmahls von 1939, die neben ökumenischen auch neulutherische Wurzeln hatte. 593 Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums für die Kirchen der Reformation, hg. von der Berneuchener Konferenz, Hamburg 1926, 51. 594 Hier knüpft man an Autoren der älteren liturgischen Bewegung an, besonders an Julius Smend und Friedrich Spitta, deren »Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst« (1986–1941) neue Maßstäbe gesetzt hatte. 595 AaO., 111 f. 596 AaO., 113.
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kriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts prägten. Sowohl in der 1955 erschienen lutherischen Agende, als auch in der 1959 folgenden Agende für die Evangelische Kirche der Union war die Integration des Abendmahls und damit die Wiedergewinnung der Messform ein zentrales Anliegen.597 Peter Cornehl bezeichnete die Agendenreform als die »umfassendste liturgische Restauration, die es in der Geschichte des evangelischen Gottesdienstes in Deutschland je gegeben hat«.598 Damit ist einerseits positiv die Rückgewinnung der Verbindung von Wortgottesdienst und Mahlfeier benannt, die das prägende Kennzeichen der Liturgie der Alten Kirche gewesen war.599 Andererseits soll mit diesen Worten der konservative und deutlich retrospektive Grundduktus kritisiert werden, der die Reform durchzog. Die Agendenwerke entstanden im Kontext der Bemühungen um den Wiederaufbau Deutschlands in der Nachkriegszeit und die Neukonstituierung und Konsolidierung der Kirchen. Auch die Gottesdienstgestalt sollte einer konsolidierenden, Stabilität, Ordnung und Geborgenheit vermittelnden Funktion entsprechen.600 Die Betonung des ›Ritus‹ auf liturgischer Ebene ging noch nicht einher mit expliziten anthropologischen Überlegungen zum ›Ritual‹.601 Wenn im Folgenden einzelne Positionen der Ritualkritik darstellt werden, geht es weniger darum, bestimmte ritualkritische Positionen mit etablierten theologiegeschichtlichen Epochen nahtlos in Einklang zu bringen. Vielmehr kann gezeigt werden, dass die Offenheit gegen über dem Rituellen seit den 597 In dem Bemühen darum, die volle Messgestalt für den evangelischen Gottesdienst zurückzugewinnen war das Agendenwerk eine Fortsetzung der liturgischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts – die bis in die Gegenwart Aktualität besitzen. Wilhelm Lçhe wollte neben die Predigt als den einen Gipfel des Gottesdienstes, das Abendmahl als zweiten gesetzt wissen (vgl. Die Kirche in der Anbetung. Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7,1, Neuendettelsau 1953, 13). Bereits Löhe hatte sich nicht nur mit agendarischen Bemühungen begnügt – die über die vergangenen Jahrhunderte das Zentrum der liturgischen Reformen gebildet hatten (vgl. etwa die in Martin Klçckener/Benedikt Kranemann [Hg.]: Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes. Bd. 1: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur Aufklärung, Münster 2002 versammelten Beiträge) –, sondern auch die Ästhetik explizit als liturgische Dimension ins Spiel gebracht. Seine Beschäftigung mit der Frage nach dem Schmuck der heiligen Orte (1858) war die theoretische Grundlage der Neubegründung evangelischer Paramentik. Ähnliches betraf auch die Neuaufbrüche in der Kirchenmusik, die in hohem Maße versuchten, die Gemeinde aus der Passivität des Predigtpublikums herauszureißen. Die Zusammengehörigkeit von Wort und Sakrament im Gottesdienst hatte selbst Karl Barth gefordert (Karl Barth: Kirchliche Dogmatik. I.2 Gottesdienst und Gotteserkenntnis nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938, 853). 598 Cornehl: Gottesdienst, 77. 599 Wenngleich bis zur tatsächlichen Etablierung des mindestens monatlichen Sakramentsgottesdienstes und der Abschaffung der an den Gottesdienst als separate Feier angehängten Gottesdienst noch einige Jahrzehnte vergehen sollten, ohne dass dieser Prozess bereits abgeschlossen wäre. 600 Vgl. Schulz: Agende, 16f. 601 Zur Begriffsgeschichte, speziell zum Vergleich der Ritus-Artikel der unterschiedlichen Auflagen der RGG s. u. 6.3.
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1970er Jahren in den ritualkritischen Positionen bereits vorbereitet wurde. Immer wieder finden sich hier Bemühungen, die Bedeutung von Ritualen für den Glauben in positiver Weise zu erfassen und das rituelle Handeln nicht nur aus dogmatischer Bewertung, sondern auch aus Sicht der Akteure in den Blick zu rücken. 4.2.1 Der Ritus als Problem (G. Harbsmeier) Als umfassender Kritiker der liturgischen Entwicklungen trat Götz Harbsmeier (1910–1979) hervor. Seine theologische Prägung verdankt sich vor allem der Assistententätigkeit bei Rudolf Bultmann sowie seiner Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche. Nach einer Tätigkeit als Pfarrer übernahm er ab 1962 den Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Göttingen. Harbsmeier widmet sich in einem seiner bekanntesten, in einer Festschrift für Bultmann 1949 erschienenen Aufsätze dem Problem des Kultischen im evangelischen Gottesdienst. Darin setzt er sich in weiten Teilen mit der Ritualität des Gottesdienstes auseinander, wie sie hier verhandelt wird, nämlich als liturgische Handlungsform, die sowohl »Gebärden«, »Haltungen« und das »Tun« umfasst, aber auch die »Haltung des Herzens«.602 Harbsmeiers Ansatz darf als repräsentativ gelten für jene bereits erwähnten Theologen dialektisch-theologischer Provenienz, welche die Mitarbeit in der Bekennenden Kirche stark geprägt hatte und sich gegenüber den liturgischen Reformen der Nachkriegszeit äußerst kritisch äußerten. Harbsmeier wendet sich in seiner Schrift an jene, die auf den »Kulte der Kirche […] ihr Herz gesetzt haben«.603 In der wiederholten Kritik am vermeintlichen Gleichnischarakter des Kultischen klingen die Thesen des Ber602 Gçtz Harbsmeier: Das Problem des Kultischen im evangelischen Gottesdienst, in: Ernst Wolf (Hg.): Festschrift Rudolf Bultmann. Zum 65. Geburtstag überreicht, Stuttgart/Köln 1949, 99–126, 99. Rezipiert wurde der Aufsatz weitgehend aus seinem Wiederabdruck in: Ders.: Dass wir die Predigt und sein Wort nicht verachten. Eine Aufsatzsammlung zur Theologie und Gestalt des Gottesdienstes, München 1958, 11–40. Diesen Aufsatz unter dem Gesichtspunkt der Ritualkritik zu behandeln erhält seine Berechtigung u. a. aus der Tatsache, dass Harbsmeier die enge Verbindung des Kultischen mit dem Mythos betont und damit an die Ritus-Mythos-Debatte anknüpft, die bei der Darstellung der Ritualtheorie W. Robertson Smith’ (s. u. 7.1) noch ausführlicher behandelt wird. Bei Harbsmeier finden sich keine Hinweise auf eine Rezeption dieser Debatte, insofern er fraglos von einer die Priorität des Mythos ausgeht. Dass die Kritik am Ritual innerhalb der protestantischen Theologie zunächst lange als Kritik am Kultus formuliert wurde, vertrat bereits Daiber: Die Trauung, 595. Entsprechend verlief auch die spätere Rehabilitierung von Ritual- und Kultbegriff parallel (vgl. auch o. 2.4.3). 603 Harbsmeier: Das Problem des Kultischen, 122. Die Rede vom ›Kult‹ oder vom ›Kultischen‹ verdankt sich sicherlich auch der im protestantischen Bereich lange üblichen Bezeichnung der gottesdienstlichen Angelegenheiten als dem ›Kultus‹, der im sogenannten ›Kultusministerium‹ bis zum Ende des landesherrlichen Kirchenregiments staatlich organisiert war. Zur generell engen Verbindung von ›Kult/Kultus‹ und Ritus bzw. Ritual vgl. Dorothea Baudy: Art. Kult/ Kultus I. Religionswissenschaftlich. II. Forschungsgeschichtlich, in: RGG4 Bd. 4 (2001), 1799–1802.1802–1806.
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neuchener Buches an. Sie waren in jenen liturgischen Gremien noch immer wirksam, die bald nach Kriegsende mit der Erarbeitung einer neuen Agende begannen.604 Harbsmeier sieht – ganz im Sinn der dialektischen Theologie – die eigentliche Not der Kirche in der »Not des Sagens, diese[r] Not der Predigt«.605 Die aus seiner Sicht vergeblichen Versuche der Neubelebung des Gottesdienstes aus den Sakramenten bewertet Harbsmeier als Ausdruck dieser Not. Für Harbsmeier muss die Richtung eine andere sein: »der rechte Gebrauch der Sakramente ist abhängig von der rechten Predigt und nicht umgekehrt«.606 Harbsmeiers Anliegen, vor ›Irrtümern‹ und ›Gefahren‹ zu warnen, zeugt vom typischen Zungenschlag dialektischer Theologie. Die Sonderstellung des Christentums zeigt sich für ihn besonders im Verhältnis zum Kultischen: »[es] ist da und doch zugleich aufgehoben und erledigt«.607 Das Wesen des Kultes bestimmt Harbsmeier in doppelter Weise. Positiv stellt es eine Form der Ordnung dar. Zugleich äußert sich in ihm aber der menschliche Drang nach Selbstbehauptung vor Gott, ja mehr noch sich gegen Gott abzusichern und ihn durch die Festlegung auf einen bestimmten Ort oder Machtbereich einzugrenzen und letztlich beherrschen zu wollen. Das Kultische kann daher im christlichen Glauben nicht ohne Kritik bleiben. Sein Hauptaugenmerk richtet Harbsmeier dabei auf die Kritik an der Ritualgestalt des Gottesdienstes. Gerade die liturgischen Ordnungen seien Ausdruck menschlicher Sündhaftigkeit, ja das »vorgeschobenste Zeichen menschlicher Verlorenheit«.608 Darum müsse das Kultische stets eine Kritik seiner selbst mit sich führen, sodass seine Symbole (›Gleichnisse‹) stets vom wahren Sein zu 604 Allen voran die von Christhard Mahrenholz vereinigte Lutherische Liturgische Konferenz (vgl. Alfred Niebergall: Art. Agende, in: TRE Bd. 1.2 [1976.1978], 755.70f.). In diesem Sinne verstand auch der bereits erwähnte Paul Schempp Harbsmeiers Anliegen als »sachliche Auseinandersetzung mit den kultischen Renovationsbestrebungen unserer Zeit« (Die Profanität des Kultus. Aus Anlaß zweier neuer Bücher, in: EvTh 18 [1958], 135–141, 141). 605 Harbsmeier: Das Problem des Kultischen, 120. 606 Ebd. Die Kritik an den Bemühungen, das Sakrament ins Zentrum zu rücken und damit die Bedeutung der Predigt zu relativieren, mündet hier im klassischen Vorwurf, das Proprium des evangelischen Gottesdienstes aufzugeben und einer Katholisierung bzw. einer Nivellierung der Konfessionen Vorschub zu leisten: dann »ist ernstlich kein Grund … lieber die Spaltung der Kirche zu tragen ….[als] eine allgemeine, heilige, kultisch-christliche Kirche als die una sancta aller kultisch Heiligen zu bilden« (aaO., 126). Eine besonders schroffe Absage an die Erneuerung der Gemeinde aus den Sakramenten findet sich erneut bei Paul Schempp: »… niemals darf die Gemeinde das Abendmahl benützen wollen, um die Predigt wirksamer und die Gemeinde machen zu wollen. Das hieße, den Geist aus den Werken empfangen wollen […] Das hieße, den Weg Roms und aller Schwärmer gehen […]. Das hieße, den falschen Weg Israels gehen und die Erwählung auf den Gottesdienst gründen […]. Wer nicht durch die Predigt Lust zum Abendmahl bekommt, der […] würde die Anziehungskraft der kultischen Weihe für Offenbarung halten. [… D]er will nicht das Zeichen vom Wort gedeutet sein und werden lassen, sondern er will das Wort durchs Zeichen deuten« (Schempp: Profanität des Kultus, 164). 607 Harbsmeier: Das Problem des Kultischen, 113. 608 AaO., 122.
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unterscheiden seien. Harbsmeier fordert darum eine sichtbare Gebrochenheit liturgischer Formen, die ihre Vorläufigkeit stets erkennen lassen und deutlich machten, dass der »neue Gottesdienst, der bleiben wird«609 eben nicht liturgisch einzufangen sei. Das Wissen um die eschatologische Vorläufigkeit und Vergänglichkeit alles Sichtbaren mahne, der Versuchung zu widerstehen, die Offenbarung liturgisch zu objektivieren, sie in feste Formen zu bannen und zu vergegenständlichen. Doch genau dies wirft Harbsmeier den liturgischen Reformbestrebungen seiner Zeit vor. Sie zielten auf die Erschaffung einer gottesdienstlichen Sakralität ab und verkennen dabei die mit der Offenbarung in Jesus Christus gegebene unbedingte Festlegung auf die Welt des Profanen als Ort der Gottesbegegnung. Eine als Hort der Heiligkeit verstandene Liturgie stehe der Niedrigkeit des Kreuzes aber entgegen und umgebe sie mit einem falschen Schein der Ewigkeit. Zwar stellt Harbsmeier der falschen Sakralisierung immer wieder die Rede vom »Ende des Kultischen« entgegen, das seine Macht im Christentum verloren habe, die objektivierende Redeweise von ›dem Kultischen‹, dessen Existenz geradezu beschworen wird (»… die Kirche darf dem Kultischen nicht dienen«), zeugt aber davon, dass er darin eine nach wie vor präsente Gefahr sieht. In der Kritik an sakraler Inszenierung zeigt sich ein klassischer Topos protestantischer Ritualkritik generell. Die »Theatralität des Gottesdienstes«610 wird hier durchweg negativ bewertet im Sinne des Erzeugens einer Illusion und einer als Fluchtort erbauten Scheinwelt, die den realen soteriologischen Anspruch des Glaubens unterläuft: Denn »nicht in der Darstellung, sondern im Sein [werden wir] erlöst«.611 Ihre Blendwirkung entfalte die Liturgie auch durch ihren generellen ästhetisch ansprechenden Charakter, der sich besonders in der Musik zeige. Dabei werde der Schönheit ein Eigenwert zugemessen und der Anspruch verlassen, dass allein Funktionalität die Form legitimiert.612 Auf Seiten der Rezipienten korrespondiert damit die innerliche Ausrichtung auf das Empfangen, eine Haltung des bloßen Hinnehmens, die »von Begierde zum Genuß und vom Genuß wieder zur Begierde nach neuen und noch schöneren musikalisch und gedanklich-symbolisch tieferen Formen taumel[t]«.613 Ursache dieser Skepsis gegenüber dem Schönen ist die Furcht vor 609 Schempp: Profanität des Kultus, 114. 610 So der Titel der gleichnamigen Monografie von Roth (Gütersloh 2006), in der sie Strukturanalogien zwischen Liturgie und Theater anhand des theaterwissenschaftlichen Diskurses für die Liturgik fruchtbar macht und dabei freilich ausführlich der vermuteten Kritik widerspricht, der Gottesdienst solle deshalb als Theater begriffen werden (»Der Gottesdienst ist keine Theateraufführung.«, aaO., 284). 611 Harbsmeier: Das Problem des Kultischen, 121. Ähnlich scharf grenzt auch Paul Schempp die rechte Liturgie vom »Kultus« ab, der »jeden Augenblick haarscharf an die Grenze des Theaters, der religiösen Dramatik« (Schempp: Profanität des Kultus, 138) grenzt. 612 Auch darin klingt eine Spitze gegen die liturgischen Bewegungen durch, die durchweg das Verhältnis von Liturgie zu Kunst und Ästhetik ins Zentrum gestellt hatten. 613 Harbsmeier: Das Problem des Kultischen, 118.
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Vereinnahmung und Unterdrückung der (selbst-)kritischen Funktion des Glaubens – genau darin aber bestand für jene Theologen vor der Hintergrund des Versagens der Kirchenleitungen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Besonderen wie mit dem jeweiligen Zeitgeist im Allgemeinen die vordringliche Aufgabe des Glaubens.614 Der liturgischen Inszenierung stellt Harbsmeier die wahre Heiligung entgegen, die im »profanen Bezug zu meinem Nächsten«615 geschieht. Damit ist ein weiterer häufiger Ansatzpunkt protestantischer Ritualkritik benannt. Die Zweckfreiheit liturgischen Handeln wird dem ethisch gebotenen diakonischen Handeln gegenüberstellt. Harbsmeier bestimmt den »Sinn und Zweck« der gesamten liturgischen Handlungen darin, »der Heiligung dadurch [zu] dienen, daß sie dazu einlüden, hinzugehn und danach zu tun.« Interessanterweise bleibt offen, ob Harbsmeier gar im Sinn hat, liturgisches Handeln solle ein Beispiel der geforderten Hinwendung zum Nächsten vor Augen stellen, gar dieses experimentell, spielerisch vorwegnehmen.616 Dafür jedoch müsste sich die Darstellung den konkreten gottesdienstlichen Vollzügen zuwenden, etwa dem Buß- und Vergebungshandeln, dem Friedensgruß oder der Fürbitten. Doch dies unterbleibt. Stattdessen widmet sich Harbsmeier am Schluss seiner Ausführungen der Frage, warum der evangelische Gottesdienst trotz allem auf das Kultische angewiesen bleibt und sich mit einer »so problematischen Größe« belaste. Die Antwort scheint ihm »denkbar einfach« zu sein: Unumgänglich sei das Kultische allein als »Ordnung«, die den Gottesdienstverlauf regelt und das Nacheinander (und nicht Durcheinander) des Handelns reguliert. Sie soll dem 614 Vgl. auch Schempp: Profanität des Kultus, 137: »… da befindet man sich wohl beim Ablauf altvertrauter Riten oder hat neugierige Augen, weil es doch so schön ist.« Paul Schempp war einer jener genannten Theologen, die zunächst in der liturgischen Erneuerungsbewegung aktiv waren und die der mangelnde Widerstand ihrer Kirche gegen die völkisch-nationale Ideologie und Machtherrschaft bereits in den 30er Jahren in die Opposition zu seiner Kirche getrieben hatte und deren kirchliche Reform- bzw. Restaurationsbemühungen deutlich kritisierten. Das Einrichten einer »schönen, neuen, heiligen Welt« auf dem Gebiet der Liturgie war für ihn nur Beispiel für den generellen Weg der Kirchen nach dem Krieg, sich im neuen Staat einen möglichst sicheren Platz zu suchen, ihre Pfarrer zu verbeamten und mit der Gründung der CDU eine Kontinuität zur Zentrumspartei vorzutäuschen, die so nicht bestehen könne. Schempps harsche Kritik am kirchlichen Wiederaufbau, der eben nicht nur liturgisch eine Restauration bedeutete, ist freilich von dessen persönlicher Biografie nicht zu trennen. Hier meldete sich ein weithin bekannter Theologe zu Wort, der 1939 seiner Pfarrstelle enthoben wurde, diese nach langem Kampf 1943 schließlich niederlegte und aus der Kirche austrat. Seine Auseinandersetzung mit der Kirchenleitung resultierte nach dem Krieg in einer langen Phase des freien Schriftstellertums, ehe er nach einer Aussprache mit Landesbischof Theophil Wurm 1949 wieder eine Anstellung als Gymnasiallehrer fand. Auf eine Bonner Ehrenpromotion 1958 folgte der Ruf auf den dortigen Praktisch-theologischen Lehrstuhl, wo er bereits im folgenden Jahr verstarb (vgl. Paul-Gerhard Scharpf: Paul Schempp. Rebell für Gottes Wort [1900–1959], hg. von Matthias Morgenstern, Tübingen 1998, 12–16). 615 Harbsmeier: Das Problem des Kultischen, 117. 616 Vgl. dazu die Anregungen bei Lange: Was nützt uns der Gottesdienst?, 89f.
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›Wort‹ Gehör verschaffen und den notwendigen Grad an Öffentlichkeit der Wortverkündigung gewährleisten. Die Auseinandersetzung mit der Ritualgestalt wird bei Harbsmeier aus der Opposition von Liturgie und Predigt her konzipiert, wobei eine Überordnung der Predigt – gemäß dem Pauluswort, dass der Glaube aus der Predigt kommt (Röm 10,17) – als Proprium des evangelischen Gottesdienstes verstanden wird. Das Kultische hat damit im christlichen Glauben seine konstitutive Bedeutung verloren und ist über die Ordnungsfunktion hinaus primär negativ zu bewerten. Es braucht diesen Rahmen, in dem das ›Wort‹ zur Sprache kommt. Die vom Menschen erwartete ›Antwort‹ hat ihren Platz jedoch außerhalb des Kultes. Sie besteht darin, »hinzugehen und danach« zu tun. Kultisches Handeln ist also weder legitime ›Antwort‹ noch legitime Form des ›Wortes‹. Dies kommt allein der Predigt zu. Weil das Kultische aber zugleich Ausdruck der Sündhaftigkeit des Menschen ist, ist es zugleich auch der Ort, in den hinein das ›Wort‹ immer wieder ergehen muss. Rituale unterlaufen das kritische Potenzial des Glaubens. Sie repräsentieren Ordnung und Sicherheit und generieren damit einen Gegenimpuls zum immer wieder zur ›Antwort‹ herausfordernden ›Wort‹. Statt der Haltung des Empfangens gerät der Mensch hier in ein reines ›Tun‹ und ›Machen‹ und genau darin, in der Nähe zur Werkgerechtigkeit, besteht die Gefahr. Die Kritik speziell an körperlichen liturgischen Handlungen verbindet sich bei Harbsmeier mit dem Vorwurf der mangelnden inneren Anteilnahme bzw. mangelnder Kongruenz von Herzenshaltung und äußerem Vollzug. Der freie Ausdruck der Herzenshaltung bedarf der geprägten Formen nicht. Er findet selbst eine Form, die den Formen der Tradition in ihrer Individualität und Authentizität überlegen ist. Für Harbsmeier steht daher fest, dass »gerade das sich am allermeisten kultisch gestaltende Gebet unter allen konkretesten Formen des Kniens und sich Bekreuzigens unter Wechselgesang und Anwendung aller Bildnisse und Gleichnisse selbst bei größtem subjektiven Ernst des Betenden nichts bedeutet gegenüber einem einzigen Schrei und Jammern des kananäischen Weib es, das da hinter Jesus in so unkultischer Weise herläuft […] Das eine kann man ›machen‹, das andere aber ist eben in keiner Weise zu ›machen‹ und zu gestalten und ist doch das eigentliche Gebet.«617 Harbsmeier legt damit die Messlatte einer unter theologischen Gesichtspunkt akzeptablen Form der Teilnahme hoch. Im Falle auch nur geringer Diskrepanz zwischen innerer Haltung und äußerer Form ist für ihn das Handeln nach Maßgabe traditioneller Formen keine Option, die damit verzichtbar werden. Als starker Gegenentwurf gegen die agendarischen Formen seiner Zeit spiegelt sich hierin Harbsmeiers Sorge, das evangelische Proprium des Gottesdienstes zu verlieren. Dass auch in Formen, die das gemeinsame Handeln einer Gruppe ermöglichen, Glauben adäquat zum Ausdruck kommen kann, scheint nicht vorgesehen. »[D]iese soziale Seite des gottesdienstlichen Lebens«, die sich im 617 Harbsmeier: Das Problem des Kultischen, 125.
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gemeinschaftlichen Handeln ebenso zeigt wie in der Tatsache der diachronen Beständigkeit ritueller Formen, findet bei Harbsmeier keine Beachtung. Rituelle Handlungen kommen lediglich funktional als Kommunikationsregulation im Sinne eines ›Ablaufplans‹ in den Blick, nicht jedoch die die Interaktions- und Partizipationsformen, die erst die rituelle Gestalt ermöglicht. Die im Dienst der Abwehr einer vermeintlichen Gefahr stehende Fundamentalkritik verhindert zudem zu erfassen, worin die Attraktivität kultisch-ritueller Vollzüge besteht und warum die als »Liturgismus« (P. Schempp) abwertend bezeichnete Fokussierung auf genau die Ritualgestalt des Glaubens überhaupt eine Option darstellt. 1979 verfasste Götz Harbsmeier unter dem Titel Ritus und Charisma im Gottesdienst. Eine Utopie als Impuls noch einmal einen Beitrag zum Verhältnis von Ritual und Predigt. Das theologische Klima hatte sich gegenüber dem Aufsatz von 1948 spürbar gewandelt. Die Auseinandersetzung mit dem Ritualcharakter des Gottesdienstes war spätestens mit Jetters Monografie 1978 zum Standard innerhalb der Liturgik geworden. Der Ritus ist für Harbsmeier nun nicht mehr – wie das Kultische – Ausdruck menschlicher Selbstbehauptung vor Gott, sondern stellt ein Kennzeichen gemeinschaftlichen Lebens dar, welches die menschliche Gesellschaft mit dem Tierreich verbindet. Fundamentale anthropologische Tatsachen werden nun schlichtweg anerkannt. Sie sollen nicht gegen die Wortverkündigung, sondern für die Wortverkündigung nutzbar gemacht werden. Ritus, Ritual oder das Rituelle – die Verwendung der Begriffe innerhalb der Liturgik blieb auch weiterhin uneinheitlich – stellen zunächst eine Form von »Regelverhalten« dar. Die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit des Rituals im Religiösen ergebe sich aus seinem »gemeinschaftsstiftenden und -tragenden Charakter«. In Bezug auf den Gottesdienst ermögliche der Ritus Kommunikation jenseits von »Subjektivität« und »taktloser Zudringlichkeit« und sei noch dazu weniger Missverständnissen ausgeliefert. Weil der Ritus aber immer schon selbst eine Bedeutung enthält (er ist »selbsttönend«), komme es darauf an, ihn zu beherrschen. Harbsmeier versteht darunter wohl als Aufprägung einer spezifischen Interpretation und die Kontrolle über die inhaltlichen Deutungen. Dafür brauche es »wohlgegründetes Wissen und volle theologische Bildung«: »jeder Christ kann in aller Regel Sinn und Gebrauch eines Ritus einer Kirche lernen.«618 Im Gegensatz dazu steht die Predigt, sie ist erneut der eigentliche Fokus des Aufsatzes. Während der Ritus durch »Wissen«, »Bildung« und Übung erlernbar sei, erhebe erst das unverfügbare »Charisma« die Predigt über die bloße Rede und mache sie zur »Gnadengabe«. Daher gelte es die Illusion zu überwinden, »man solle den gelernten Theologen nur auf die Kanzel stellen,
618 Ders.: Ritus und Charisma im Gottesdienst. Eine Utopie als Impuls, in: DtPfrBl 79 (1979), 237–240, 238.
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Predigen muß er dann schon können.«619 Die eigentliche Not – und damit knüpft Harbsmeier doch wieder an seine Position unmittelbar nach Kriegsende an – liege in der Predigt, denn »wer predigten kann der kann auch mit dem Ritus umgehen«.620 Wenn Harbsmeier hier noch einmal seine Vision des »Zusammenwirkens von Ritusvollzug und dem Element des freien Wortes der Predigt« entfaltet, biete er durchaus überraschende Erkenntnisse. So entfaltet er die Wechselseitigkeit der beiden Elemente geradezu als aufeinander Angewiesensein: »Ohne die Predigt wird das Mahl zur Magie. Ohne das Mahl wird die Predigt gegenstandslos«.621 Während die Predigt nach einem »Geschehen« verlangt, so das Mahl nach einem »Sinn«. Eine gewisse Widersprüchlichkeit zur Rede vom »selbsttönenden« Ritual ist offensichtlich. Bemerkenswert ist aber der liturgiekatechetische Zugang zur Predigt, die das Ritual auslegen soll und in ihm ihren Gegenstand findet. Damit rückt die liturgische Bildung in den Fokus. Zwar werden keine konkreten pädagogischen Vorschläge entfaltet, aber »Wissen« und »Bildung« als Grundvoraussetzungen ritueller Kompetenz benannt. Trotz aller Offenheit fällt Harbsmeier immer wieder in die alten Kategorien zurück. Das Rituelle ist das Verfügbare. Die Predigt hingegen ist Begegnung mit Gott als dem ganz und gar Unverfügbaren. 4.2.2 Ritualkritik als Agendenkritik (M. Geck, G. Hartmann) Eine besonders umfassende Kritik am gottesdienstlichen Ritus, wie er im Agendenwerk der 50er Jahre festgelegt wurde, erschien 1968 in Form von 38 Thesen gegen die (damals schon nicht mehr ganz) neue Gottesdienstordnung der lutherischen und einiger unierter Kirchen in Deutschland. Die bewusst polemisch formulierten Thesen repräsentieren einen weiteren Typus protestantischer Ritualkritik. Dieser wendet sich speziell gegen den formalen Charakter ritueller Vollzüge. Stattdessen wird intellektuelle Stringenz eingefordert sowie die Übereinstimmung zwischen der historisch ermittelten Bedeutung liturgischer Stücke und deren Funktion innerhalb des Ritualgefüges Gottesdienst.622 619 AaO., 239. 620 Ebd. Vgl. auch Manfred Mezger: Die Amtshandlungen der Kirche als Verkündigung, Ordnung und Seelsorge. Bd. 1: Die Begründung der Amtshandlungen, München 21963, 99: »Es bedarf in allem zuvörderst des Glaubens, der Riten und Zeremonien schon wird zu gebrauchen wissen.« 621 Harbsmeier: Ritus und Charisma, 239. 622 Geck und Hartmann geht es weniger um Einsichten in die historische Genese einzelner Sequenzen, sondern um Argumente für ihre Forderungen, diese umzustellen oder gar abzuschaffen – dies trifft im besonderen Maß den Eingangsteil. So dürfe das Kyrie unter christlichen Bedingungen keine Akklamation sein, wie dies im Kaiserkult der Fall war, sondern allein als Responsorium dienen. Dieses Vorgehen ist freilich nicht identisch mit der historischgenetischen (bzw. ritengenetischen) Methode Josef Andreas Jungmanns, welche die katholi-
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Die Vorwürfe, die der Musikwissenschaftler Martin Geck und der Theologe Gert Hartmann an die »Väter der Agende I« richten, münden in der Feststellung, dass »[d]ie Mängel der Agende I so schwerwiegend [sind], daß ihre Ablösung nicht früh genug angestrebt werden kann«, um das »tote Zeremoniell« durch eine »lebendige Glaubensaussprache« zu ersetzen.623 Anhand eines detaillierten Durchgangs durch die einzelnen Sequenzen der Liturgie soll deutlich werden, wo der Aufbau der Agende der Gemeinde unverständlich bleiben müsse und im Ganzen einem »Liturgismus« huldige. Dieser Kampfbegriff, der bereits bei Schempp begegnete und sich gegen rituelle Formen und wie auch zu weit reichende Verbindlichkeit agendarischer Formen richtet, korreliert mit Schlagworten wie »Formalismus«; »kultisches Verständnis des Gottesdienstes« und »Ästhetizismus«.624 Im Kern wenden sich Geck und Hartmann gegen einen »unevangelischen Geist« der Gottesdienstordnung, die versuche die römische Messform wieder einzuführen. Statt einem magischen Wort-Verständnis Vorschub zu leisten, wie dies durch die zeremonielle Einrahmung von Lesungen und Predigten erfolge, gelte es, sich wieder an Luthers Deutscher Messe zu orientieren. Insbesondere die darin erfolgten Streichungen funktionsloser und redundanter Stücke wie dem Gloria Patri und dem Gloria in excelsis seien wiederherzustellen. Statt ›Liturgismus‹ und »liturgischem Zeremoniell« gehe es um eine »einfältige und selbstverständliche Feier des Abendmahls«.625 Konkret wird darunter die Konzentration – und Reduzierung – auf die Verba Testamenti sowie die Kommunion verstanden. Wo die Liturgie biblische Texte zitiert, dürfen diese nicht in ihrer Ritualgestalt und mit eigener Würde (»Selbstzweck«) versehen Verwendung finden, sondern immer nur als Anweisung für den »geschichtlichen Auftrag«. Daher sei auch die melodische Fassung der Einsetzungsworte als Rückschritt zu werten, da hier der Liturg wieder vorwiegend rezitiere, anstatt zu verkündigen.626
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sche Liturgik des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt hat (vgl. Josef A. Jungmann: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. 2 Bde., Wien 51962 [1948]). Jungmann nahm einerseits sehr viel stärker den Funktions- und Bedeutungswandel einzelner Stücke in den Blick, andererseits ging es ihm nicht um die Urgestalt, sondern um ›Urbilder‹ und ›Grundgedanken‹, die für eine lebendigere Liturgiekultur zu entdecken waren (vgl. Rudolf Pacik: Josef Andreas Jungmann SJ [1889–1975], in: Kranemann/Raschzok [Hg.]: Gottesdienst als Feld theologischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert, 538–555, 543–546). Martin Geck/Gert Hartmann: 38 Thesen gegen die neue Gottesdienstordnung der lutherischen und einiger unierter Kirchen in Deutschland, München 1968, 5 f. AaO., 13. AaO., 31. Die Spannung zwischen den Gattungen Verkündigung und Handlungsanweisung (wie sie in den Einsetzungsworten enthalten ist) wird nicht thematisiert. Es sei angemerkt, dass die Forderung nach einer der Loslösung der Verba Testamenti aus dem Gebetskontext auch in der Gegenwart Unterstützung erfährt. Verstärkt wird dies durch die Anweisung, der Liturg möge sich für diese Sequenz ad populum wenden (vgl. Jochen Arnold: Was geschieht im Gottes-
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Die rasch gezogenen Konsequenzen, Überflüssiges und funktional nicht mehr zu Rechtfertigendes aus dem Ablauf des Gottesdienstes zu entfernen, zeigt, in welch massiver Weise der Gottesdienst hier einer »Sinnkultur« (H. U. Gumbrecht) unterworfen wird, der es vor allem um Rationalität, Subjektivität und Plausibilität geht.627 Ob einer Sequenz Sinnhaftigkeit zukommt, entscheidet sich für Geck und Hartmann einerseits daran, ob sie für die Rezipienten verständlich sind – so werden etwa die ›verschachtelten Sätze‹ des Kollektengebets kritisiert –, andererseits, ob sie eine unmittelbare Funktion erfüllen – oder sich in ihrem »musealen Charakter« erschöpfen und einer »Galerie leerer Rahmen« gleichen.628 In ungewohnter Deutlichkeit sprechen die Autoren daher im Fall der Kombination Kyrie und Gloria von »sinnlosen Formeln«, da der abrupte Wechsel von Demut und Lobpreis nicht nachvollziehbar sei – außer er würde als »kultisches Geschehen verstanden und von entsprechenden Zeremonien begleitet«. Doch »Niederwerfen« und »ekstatisches Aufspringen« scheinen für Geck und Hartmann innerhalb eines evangelischen Gottesdienstes selbstevident unmöglich. Alle Stücke seien daraufhin zu prüfen, ob sie nicht etwa wie die Salutatio »keinerlei theologische Substanz« besäßen und eine bloße »Häufung uns unverständlich gewordener Mythologeme« darstellten.629 Wiederum auf einer Linie mit der von Harbsmeier geäußerten Kritik am Ritual liegt die Betonung des profanen Charakters der Liturgie. Es müsse vermieden werden, den Rüstakt als dem eigentlichen Gottesdienst vorgeschoben zu inszenieren. Stellt er kein vollwertiges Bekenntnis im Gottesdienst dar, dann »wird der Gottesdienst unserer Lebenswirklichkeit enthoben und mit der Aura einer kultischen Handlung oder erbaulichen Feier umgeben«.630 Auch im gregorianischen Choral sehen Geck und Hartmann falsche Flucht in der Ausrichtung auf die Ewigkeit, statt auf die gegenwärtige Gottesdienstgemeinschaft. Noch dazu sei der römische Choral nicht vom römischen Gottesdienstverständnis zu trennen, statt auf eine aktiv sich beteiligende, singende Gemeinde sei er auf einen Chor ausgerichtet.631 Die schon häufiger
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dienst? Zur theologischen Bedeutung des Gottesdienstes und seiner Formen, Göttingen 22011, 116). Dass dadurch ein zeitweiliger Rollenkonflikt entsteht, scheint nicht bedacht. Vgl. Deeg: Das äußere Wort, 5. Damit ist keineswegs eine rein negative Wertung verbunden, lediglich die Kritik an der extremen Einseitigkeit. Geck/Hartmann: 38 Thesen, 39. In Bezug auf die Postcommunio ist davon die Rede, dass hier einzelne Stücke in »unorganischer und sinnloser Weise aneinander[ge]reiht« würden (aaO., 40). AaO., 31. Auch die »Bekenntnisfloskeln« (aaO., 24), welche die Lesungen umrahmen, hielten einer solchen Prüfung wohl kaum stand. AaO., 23. Ihre Kritik an der Wiedereingliederung der Gregorianik fußt ohne expliziten Hinweis auf den Ansichten des Musikwissenschaftlers Thrasybulos Georgiades, der die unauflösliche Bindung des gregorianischen Chorals an die lateinische Sprache nachzuweisen versucht hat, sodass folglich eine Übertragung ins Deutsche nicht sinnvoll möglich ist. Anders als im Lateinischen ist die Bedeutung eines Wortes wie Sequenz stark von den Akzenten abhängig und kann nicht
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kritisierte Trennung zwischen Alltag und Gottesdienst erweist sich also auch hier verknüpft mit konfessionellen Abgrenzungsbemühungen. Die bekannte Forderung nach einer Übereinstimmung von äußerlich erkennbarer Handlung und innerem Vollzug bleibt hier nicht im Allgemeinen, sondern wird auf den konkreten Ablauf bezogen. So stören sich Geck und Hartmann an der Stellung des Vaterunsers als Abschluss der Fürbitten. Nicht nur spiele dann der ›eigentliche‹ Inhalt des Gebets eine untergeordnete Rolle und die Verwendung erfolge allein um seiner beigelegten Würde willen (»kultischen Aufwertung«). Noch dazu verleite es die Akteure zu einer »uneigentlichen Gebetshaltung«.632 Die Vorstellung, dass eine Unterscheidung zwischen ›eigentlichem‹ oder ›echtem‹ Beten und vermeintlich bloß äußerlichen Vollzügen ohne Weiteres getroffen werden kann, darf als klassisch für die protestantische Ritualkritik gelten. Interessant ist bei Geck und Hartmann nun das Insistieren auf die Erlebnisqualität des Gottesdienstes und eine »psychologisch vertretbare« Struktur. Darauf hatte bereits das Argument gegen die Verbindung von Kyrie und Gloria abgezielt, die einen Wechsel von Demut und Freude verlangt, der von der Gemeinde nicht mitvollzogen werden könne. Angesichts der Wirkung ritueller Texte auf die emotionale Verfassung der Teilnehmer halten es die Autoren für »unbarmherzig«, die »Gottesdienstbesucher« gleich zu Beginn zu einem Schuldbekenntnis zu nötigen. Hinsichtlich der Postcommunio wird hingegen kritisiert, dass rituelle Stücke wieder hinter die mit der Kommunion gegebene Unmittelbarkeit zurückführen und eine Distanzierung zwischen der inneren Erfahrung und dem liturgischen Ausdruck bewirken. Vermutlich leiten die Autoren diese These allein aus der Formelhaftigkeit der Stücke ab. Eben weil das Ziel des Gottesdienstes ein möglichst starkes Erleben ist, kommt der Eigenschaft von Ritualen, auch eine Partizipation mit emotionaler Distanz zu erlauben, hier nur negativ in den Blick.633 Die Autoren unterscheiden insgesamt im Gottesdienst zwei Teile. Auf der einen Seite steht der »aktuelle Wortgottesdienst«, den sie – der positiven Konnotation gemäß – auf den Synagogengottesdienst mit der Thora als Zentrum zurückführen. Auf der anderen Seite steht der aus »heidnischen Kulthandlungen« bestehende »Ritualgottesdienst«. Zwar wird beiden Teilen zugestanden, sich gegenseitig zu aktualisieren, die Sympathien der Autoren sind jedoch allein Bezeichnung nach klar angezeigt. Es scheint also darum zu gehen, den Wortgottesdienst möglichst weitgehend vom ›Ritualgottesdienst‹ zu trennen, diesen aber nur in stark reduzierter Form in seiner Existenz zu einfach in ein Versmaß gepresst werden, wie dies der Choral vorsieht (vgl. Thrasybulos G. Georgiades: Musik und Sprache. Das Werden der abendländischen Messe. Dargestellt an der Vertonung der Messe, Darmstadt 42009 [1954]; vgl. auch Friedemann Merkel: Liturgische Bewegungen in der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert, in: LJ 33 [1983], 236–250, 247). 632 Geck/Hartmann: 38 Thesen, 33. 633 Eine ganz andere, dann positive Bewertung der reduzierten Subjektivität ritueller Handlungen findet sich später bei Harbsmeier (s. u. 2.2.4).
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belassen. Auch wenn in dieser Hinsicht der Text ganz entlang der bekannten, dialektisch-theologischen Argumentationen verläuft, findet sich hier jedoch unabhängig davon ein früher Versuch, den Gottesdienst aus der Perspektive der Handlungsakteure zu analysieren. Dabei geraten neben intellektueller Konsistenz und Stringenz auch die jeweils evozierten emotionalen Prozesse in den Blick. Geck und Hartmann verbinden also die Kritik am Ritual mit einer Handlungsanalyse und greifen damit über rein dogmatische Erörterungen hinaus. 4.2.3 Die »Macht von Symbol und Ritus« (M. Mezger) Ein weiterer Ansatz protestantischer Ritualkritik dieser Zeit findet sich bei Manfred Mezger (1911–1996). Seine Auseinandersetzung mit den rituellen Formen des Glaubens steht im Kontext seiner Beschäftigung mit der Kasualtheorie. In seiner 1957 erstmals erschienenen Monografie setzt sich Mezger intensiv mit den Fragen nach ›Ordnung‹ und ›Form‹ auseinander.634 Anschließend an die Behandlung der Kasualie als Ort der Verkündigung fragt er danach, »was wir in den Amtshandlungen tun«635 – unter der Voraussetzung, dass die Handlungen dasselbe ›sagen‹ wie die Worte der Verkündigung. Zahlreiche bereits bei Harbsmeier begegnete Aspekte von Ritualkritik finden sich auch hier: die Begrenzung auf die Funktion der Ordnung, die Gefahr falsch verstandener Sicherheit im Glauben durch die festgelegten Handlungen und die Tendenz, die Vorläufigkeit aller äußeren Formen durch kunstvolle Inszenierung zu verschleiern.636 Auch hier ist der unmittelbare zeithistorische und theologiegeschichtliche Kontext unverkennbar. In der Parallele von ›Ordnungskirche‹ und ›Ordnungsstaat‹, die Mezger als Warnung vor einer Überregulierung der Liturgie verstanden wissen will, klingt die Erfahrung des Nationalsozialismus durch.637 Im Kontext der Einführung der neuen Agendenwerke, die für Mezger vor allem durch aufoktroyierte Ver634 Mezger: Die Amtshandlungen der Kirche. Den Begriff der Ordnung verwendet er synonym mit dem seiner Ansicht nach fälschlich auf gottesdienstliche Handlungen beschränkten Liturgiebegriff. Die zur 1. Auflage von 1957 weitgehend unveränderte zweite Auflage ist u. a. Paul Schempp gewidmet, mit dem er 1956 bereits den Band Die Freiheit evangelischen Glaubens (Bad Cannstatt) herausgegeben hatte und mit dem ihn, wie zu sehen sein wird, auch theologisch einiges verbindet. 635 AaO., 91, H. RG. 636 Die Parallele der Argumentationen zeigt sich auch, wo Mezger in einem kleineren, an anderer Stelle erschienenen Beitrag sein Verständnis des Heiligen darlegt und dabei – ähnlich wie in der Auseinandersetzung mit der Liturgie – das Formale dem Personalen und die liturgische Inszenierung dem ›echten‹, ›wahren‹ Sein gegenüberstellt. Es geht ihm um »[d]ie Entscheidung nämlich gegen jeden formalen, magischen, substanzhaften Begriff des Heiligen; [und …] für den inhaltlichen, personhaften, geistigen Begriff«. Das »Heilige, Würdige, Feierliche, der ganze Aufwand solenner Repräsentation« lässt danach fragen, »[w]er garantiert, das hinter der Fassade auch etwas steckt?« (Ders.: Kritischer Glaube, Olten 1969, 51). 637 Vgl. Ders.: Die Amtshandlungen der Kirche, 100.
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einheitlichung und gesteigerte Verbindlichkeit charakterisiert sind, betont er warnend die enge Verbindung von Formgestalt und Theologie: »Man darf nicht vergessen, daß ein genormter Ritus – gleich, in welcher Kirche – von einer genormten Theologie herkommt oder auf sie hinausläuft.«638 Der Einheitsliturgie stellt er provokativ das Nachdenken über eine »Situationsliturgik« entgegen und wiederholt den seit der Reformation bekannten Vorwurf des »Katholisierens«639, wo Feierlichkeit, Festlichkeit, Genauigkeit und Ausführlichkeit geschätzt werden. In seiner intensiven Auseinandersetzung mit den Vertretern der liturgischen Bewegungen (O. J. Mehl, K.B. Ritter, W. Stählin, P. Brunner etc.) fügt Mezger den ritualkritischen Argumenten noch weitere hinzu. Er wendet ein, dass die Aufnahme jener Gestaltungselemente der Religion, die sich »in Farben und Lichtern, in Zeichen und Gebärden […] an das Auge« wenden nicht dem jüdisch-christlichen Ursprung verdanke, sondern »im griechischen Denken« wurzele. In Anspielung auf die These Adolf von Harnacks von der ›Hellenisierung des Christentums‹ soll dem Rituellen ein Platz im Christentum und damit auch in der Theologie verwehrt werden. Dabei haftet der Gegenüberstellung der vermeintlichen Passivität des liturgischen ›Tuns‹ mit der »intensive[n] Aktivität rechten Zuhörens« immer wieder eine gewisse Künstlichkeit an. Der Mensch könne gerade »bei äußerlich vollendeter Geste und Haltung […] im radikalen Unglauben des ›puren Vollzuges‹ verharren« und Gott gegenüber die bloße »Zuschauerhaltung« einzunehmen. Dies führe dazu, dass der Mensch »sich ausschaltet an den Orten, wo Gott ihn dabei haben will«.640 Akzeptabel ist für Mezger nur die vollständige Kongruenz zwischen den kognitiven Prozessen der liturgischen Akteure mit den Inhalten der liturgischen Texte wie auch mit der theologischen Bedeutung, die der jeweiligen Sequenz zugeschrieben wird. Mezger fasst die vor allem kritische und abwehrende Stoßrichtung in der Auseinandersetzung mit der ›Ordnung‹ in der These zusammen, »daß die Tendenz der Formfragen zur Eigenbedeutung (und das will sagen: die das freie Evangelium umklammernde Gewalt des
638 AaO., 113. Im Unterton wird die Sorge um eine sich weiter verstärkende, unaufhaltsame Tendenz deutlich: »es liegt im systematischen Ansatz: ob die Gestaltfrage von vornherein zum zweiten Brennpunkt und dann gewiß bald auch zur allesbeherrschenden These wird« (aaO., 96). 639 Ein Vorwurf, der – jeweils mit unterschiedlichem theologischem Zugriff – im deutschsprachigen Raum immer wieder dort erhoben wird, wo die liturgische Grenze zwischen Konfessionen zu verwischen droht. Vgl. Dorothea Wendebourg: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen? Zur gegenwärtigen Diskussion über Martin Luthers Gottesdienstreform und ihr Verhältnis zu den Traditionen der Alten Kirche, in: ZThK 94 (1997), 437–467. Zur folgenden Auseinandersetzung mit Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Frieder Schulz vgl. Klaus Raschzok: Der Streit um das Eucharistiegebet in den Kirchen der Reformation, in: Winfried Haunerland (Hg.): Mehr als Brot und Wein. Theologische Kontexte der Eucharistie, Würzburg 2005, 145–172. 640 Mezger: Die Amtshandlungen der Kirche, 96.
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Der Gottesdienst als Ritual in der protestantischen Liturgik
Kultus) stets mehr zu fürchten und deshalb schärfer zu meiden ist, als die Gefahr der unzureichenden Form.«641 Die weithin einlinige Argumentation gewinnt erst dort eine konstruktive Weite, wo Mezger die andere Schlagseite der zu großen liturgischen Freiheit bedenkt.642 Gerade im Befolgen der Ordnung stellt er dann ›Überraschendes‹ in Aussicht: »Hier sind Situationen, wo in einer fast gefährlich scheinenden Einseitigkeit gesagt werden darf: ›Mache du bei dir erst einmal das Formale in Ordnung, so wirst du wahrscheinlich in Bezug auf den Inhalt einiges überraschende erfahren‹.«643 Und so mündet der Abschnitt mit dem Appell zur wohlbestimmten Balance: »Freiheit vom Formgesetz – Freude an der Formbemühung.«644 Immer wieder nähert sich Mezger der Handlungsdimension rituellen Tuns aus Sicht der Akteure an. Das ›tadellose‹ Vollziehen der verbindlichen Handlung, das für ihn den Kern des rituellen Tuns bildet, wird allerdings noch ganz innerhalb der Kategorien ›Gesetzlichkeit‹ und ›Werkgerechtigkeit‹ verortet.645 Aber Mezger fragt auch nach der Erlebnisqualität des Gottesdienstes. In der Auseinandersetzung mit den Thesen von Geck und Hartmann war die Forderung begegnet, den liturgischen Ablauf an psychologischen Kriterien auszurichten. Ein ähnliches Argument begegnet auch hier, wenn Mezger gegen Peter Brunner einen »anthropologischen Ort des Gottesdienstes« einfordert, der die »Solidarität mit der sündigen, aber gottgeliebten Welt« zum Ausdruck bringt.646 Mezger geht es um eine Gottesdienstgestalt, die zur »Liturgie des Lebens« werden kann und daher müsse diese ›natürlich‹ sein und geradezu ›selbstverständlich‹ aus dem Auftrag der Kirche entspringen. Die damit benannten Gestaltungskriterien sind zunächst einmal als Wunsch nach einer freieren Gottesdienstgestaltung zu verstehen. Die Suche danach, »was Lust zum Wort Gottes macht und Menschen zusammenbringt«, führt hier aber weder zu konkreten Gestaltungsvorschlägen noch zur Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen und dem Verhältnis von Sozialität und Ritualität, wie dies später der Fall sein wird. 641 AaO., 99. 642 In der Auseinandersetzung mit dem Evangelischen Gottesdienstbuch Anfang des 21. Jahrhunderts wurde diese Balance noch einmal zu einem wichtigen Diskussionsthema. 643 AaO., 114. Hintergrund ist hier die Auseinandersetzung mit Oskar Johannes Mehls Anregungen zu einem evangelischen Zeremoniale bzw. einer Rubrizistik. 644 AaO., 115. »Dem einen, der sich in Gestaltfragen verliert, wird man ein geistliches oder aesthetisches Fasten verordnen müssen. Dem anderen, der die Nähe und den Gebrauch des Schönen fürchtet, darf man sagen, daß es erlaubt ist, das Heilige zu schmücken« (aaO., 116). 645 Gleichwohl wird mit der Frage nach dem Verhältnis von Ritualvollzug und Akzeptanz der jeweiligen Form ein breites Diskussionsfeld späterer Ritualtheorien berührt. Vor dem Hintergrund des Agendenprozesses lässt sich fragen, ob Mezgers Einschätzung eine andere wäre, wenn es sich weniger um eine Verpflichtung handelte, die von Seiten der Kirchenleitung der Gemeinde vorgeschrieben wird, sondern um eine Selbstverpflichtung der Gemeinde unter Berücksichtigung (landes-)kirchlicher Traditionen und Zielsetzungen. 646 AaO., 97.
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In einem Sammelband mit dem einschlägigen Titel Ist der Glaube krank? setzt sich Mezger 1966 noch einmal explizit mit dem Ritus auseinander. Die Überschrift Der Glaube an den Ritus lässt gewohnte Argumentationsmuster erwarten.647 Wiederum finden sich hier die bekannte Angst vor dem »leeren Mechanismus« des Rituals, vor »falschem Vertrauen« und falscher »Sicherheit«. Zudem warnt der Autor: Das, »[w]as nicht aus Glauben kommt, das ist – keineswegs nur leer und bedeutungslos, sondern – Sünde«648. Mezger ist jedoch gewillt, zunächst einmal beobachtend nach dem Wesen des Ritus zu fragen und theologische Beurteilungskriterien zurückzustellen. Am Beginn die Reflexion steht daher die nicht zu leugnende »Macht von Symbol und Ritus«649, der auch der moderne Mensch unterliegt. Als einer Grundform menschlichen Handelns gelte es dem Ritus »sein Recht zu gönnen«. Weil der Ritus nicht auf das Sakrale beschränkt bleibt, könne man mit der »Verneinung des Religiösen […] dem Bann des Ritus nicht entfliehen«.650 In dieser Forderung, die Faktizität des Rituellen anzuerkennen und diese nicht mehr gegen das ›Christliche‹ in Anschlag zu bringen, erweist sich Mezgers Beitrag dann doch als tendenziell progressiv. Dass Kennzeichen ritueller Handlungen bestimmt Mezger ausgehend von der lateinischen Herkunft des Wortes, die er als »rechte, ordnungsgemäße Weise religiöser Übung« übersetzt und dieses Prinzip vor allem in der Rezitation ›rechtsverbindlicher‹ und daher invarianter Formeln verwirklicht sieht. Mezger ist in der Folge um eine ausgewogene Darstellung der Ambivalenz des Ritus bemüht. Auf die eine Seite stellt er die Unvermeidbarkeit ritueller Formen für sozialen Zusammenhalt, für Ordnung, aber auch – und das ist ein anderer, als der bisher bekannte Akzent – für den Glauben, der »nur in den Formen« lebt. Auf der anderen Seite müsse eine kritische Prüfung stehen, die im Kontext der Liturgie danach frage, ob die Formen – »Lichter, Farben, Gewänder, Gesten« – nur Fassade seien oder ihre dienende Funktion erfüllen: »Riten sind Zeichen: Sie weisen hin auf das, was gemeint ist. Bleibt das Gemeinte aus oder soll der Ritus den Mangel verdecken, so ist’s Brimborium.«651 Die funktionale Beschreibung des Rituals zielt erneut ganz darauf ab, diesen wie auch den Glauben generell an seiner Verwirklichung in Akten der Nächstenliebe zu messen. 647 Ders.: Der Glaube an den Ritus, in: Johannes Lehmann (Hg.): Ist der Glaube krank? Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit der Gläubigen, Stuttgart 1966, 39–48. Dem Einband zufolge handelt es sich um die Dokumentation eines Radiobeitrags aus einer 1955/56 im Sueddeutschen Rundfunk gesendeten Reihe. 648 AaO., 43. 649 AaO., 40. Der Doppelbegriff von ›Symbol‹ und ›Ritus‹, der seit Jetter in der Verbindung von ›Symbol und Ritual‹ populär geworden ist, findet sich bereits bei Harnack: Praktische Theologie, 399. Mezger verwendet ›Ritus‹ und ›Zeremonien‹ zusammen mit der Rede vom ›Kult‹ und dem ›Rituellen‹ synonym. 650 Mezger: Glaube an den Ritus, 41. »Vermutlich reicht der Wirkbereich, das Kraftfeld des Rituellen, weiter, als wir annehmen« (aaO., 48). 651 AaO., 44.
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Neben die damit gestellte kritische Aufgabe formuliert Mezger positiv die Aufgabe, dem Ritus von innen her einen Sinn zu verleihen, d. h. ihn »mit dem Leben in Einklang [zu] bringen«. Im Vergleich mit der Vorbereitung eines Festes durch Kinder, die dabei ihrer Kreativität freien Lauf lassen und etwas vom »vom tiefen Sinn im heiteren Spiel« wissen oder im Vergleich mit der dörflichen Feier, »die alten Brauch bewahrt und doch für alles Muntere Raum lässt« entwickelt Mezger geradezu eine Vision eines christlichen Ritualverständnisses. Neben das »Gleichgewicht von Bindung und Freiheit«, was es dabei zu finden gelte, tritt dabei dasjenige von »Originalität und Publizität«.652 Erneut weist der Text auf wichtige ritualtheoretischer Entwürfe der evangelischen Liturgik voraus, wenn Mezger das Ritual einerseits mit dem Wesen des Spiels, andererseits mit der Frage nach dem Öffentlichkeitscharakter des Gottesdienstes in Verbindung bringt. Das Anliegen, das Rituelle wertneutral und aus Sicht der handelnden Gemeinde zu beleuchten, führt Mezger dazu, sich erneut auf die Ebene der empirischen Beobachtung zu begeben. Dabei stellt er fest, dass es für viele Menschen gerade die rituellen Momente seien, die Handlungen und Gebärden, die »das Heimatgefühl im Gottesdienst« erzeugen.653 Damit verknüpft er jedoch ausschließlich die Rolle des Rituals als Hüter und »Medium der Tradition«. Die Möglichkeit zu erörtern, inwiefern das Christentum – nicht nur in seinen unmittelbaren Anfängen – neue Rituale hervorzubringen vermag und Neues im Ritual einen Platz finden kann, ist damit verwehrt. In der Verbindung mit Spiel und Fest ist sie gleichwohl bereits angelegt. Abschließend sei noch auf zwei weitere Gedanken hingewiesen, die die weitgehend negative Bestimmung der rituellen Komponente liturgischen Handelns aufbrechen. Mezger fordert dazu auf, »den Glauben zur Beunruhigung des Ritus« aufzuwenden. Was einen solchen durch den Glauben herausgeforderten Ritus kennzeichnet, der zugleich nicht aufhört noch immer auch Ritual zu sein, wird nicht entfaltet. Schließlich vertieft Mezger das Bild des Rituellen, das er jenseits seiner sozialer Funktion würdigt. Weil ›Ritus und Symbol‹ im »Grenzbezirk der Sprache« und damit der Zugangswege zu jenem doch immer auch fremden Gott agieren, stellen sie einen besonderen Ort der Möglichkeit dar, an dem sich Gott und Mensch begegnen.
4.2.4 Fazit In Götz Harbsmeiers Beitrag Ritus und Charisma im Gottesdienst von 1978 lassen sich noch einmal die Grundlinien der theologischen Auseinandersetzung mit der Ritualgestalt des Gottesdienstes nachvollziehen, welche die Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er Jahre prägten. Lange wurde der Kern 652 Ebd. 653 AaO., 45.
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des Gottesdienstes allein inhaltlich bestimmt und auf die Predigt zentriert, ohne die konkreten Handlungsvollzüge als Gestalt gelebten Glaubens und gelebter Evangeliumsverkündigung zu integrieren. Die rituelle Inszenierung wurde der ›Verkündigung‹ entgegengestellt und mit falscher Sakralität, der Konstruktion einer liturgischen Gegen- und Scheinwelt assoziiert und sollte daher ganz an den Dienst der Wortverkündigung gebunden und dadurch sichtbar relativiert wie auch entsakralisiert werden. Gerade weil das Ritual als Ausdruck des menschlichen Willens galt, Gott beherrschen und festlegen zu wollen, lag es nahe, die rituellen Momente des Gottesdienstes mit dem vermeintlich unproblematischen Ordnungsaspekt zu identifizieren und die Ritualgestalt auf ihre Ordnungsfunktion, ja auf einen »Ablaufplan« zurückzuschneiden. Die in der Agendenreform implizierte Aufwertung des Ästhetischen im Sinne eines durchweg feierlicheren und ausführlicheren Charakters sowie die massive Vereinheitlichung auf im Wesentlichen nur noch zwei Agenden im deutschen Protestantismus trug zu ihrer Ablehnung ebenso bei wie zur Spezifik der Ritualkritik dieser Zeit. Dazu kamen auch ungelöste Fragen nach der konfessionellen Ausrichtung und Abgrenzung auf dem Gebiet der Liturgie, die häufig zum bloßen Perpetuieren konfessioneller Klischees des Protestantischen wie des Katholischen führten. Immer wieder lässt sich ein Abarbeiten an der Verhältnisbestimmung von Verkündigung und Liturgie, Wort und Sakrament, Glaube und Handeln, Sein und Darstellung belegen, wobei darunter eher Gegensätze als komplementäre Paare verstanden wurden. Im Ganzen können die hier verhandelten Positionen aber als Beitrage zu einer letztlich weiterführenden Auseinandersetzung des Protestantismus mit der Ritualgestalt des Gottesdienstes gelesen werden. Die Autoren zeigen sich um eine Verhältnisbestimmung zur Predigt sowie um die adäquate Bestimmung der Aufgabe, Funktion und Handlungsform der spezifisch rituellen Komponenten des Gottesdienstes bemüht. Dabei zeigt sich, dass Ritualkritik im Rahmen dialektisch-theologischer Vorzeichen keineswegs nur jenen destruktiven, radikal ablehnenden Unterton kennt, der häufig unterstellt wird und in den Titeln der Publikationen zunächst auch zum Ausdruck gebracht zu werden scheint. Wenn Mezger fordert, dem »Ritus sein Recht zu gönnen«, kann dies einerseits als Zugeständnis an die anthropologische Dimension der Liturgie gewertet werden. Zu dieser Neubwertung nötigen nicht zuletzt die immer deutlicher werdenden Risse im Bild des stabilen Nachkriegsprotestantismus. Andererseits ist damit die grundsätzliche Akzeptanz des Rituellen anthropologischer Grundkonstante vorbereitet, die sich im Laufe der 1970er Jahre schließlich durchgesetzt hat. Die implizit wie explizit in den Texten immer wieder auftauchenden, weiterführenden Fragestellungen seien hier noch einmal benannt: 1. In welchem Verhältnis stehen die Handlungen innerhalb des Gottesdienstes zum Handeln im (christlichen) Alltag und auf welche Weise wirkt sich die wechselseitige Beeinflussung auf die rituelle Gestalt aus? Damit verbunden ist die Frage, wie rituelle Vollzüge das Handeln gegenüber dem Nächsten
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zunächst im Blick zu behalten und schließlich zu eröffnen vermögen. Schließlich gilt es zu verhindern, dass das selbstzweckhafte Ritual das Handeln in der Welt verdrängt und relativiert. 2. Wie kann im Ritus der kritische Charakter des Glaubens zum Tragen kommen, wie ihn die protestantische Theologie stets betont hat? Diese Frage stellte sich umso mehr, da für die dialektische Theologie die Predigt diese Aufgabe hinreichend thematisierte und offenblieb, warum man sich mit der »problematischen Kategorie« (Harbsmeier) des Kultischen bzw. Rituellen überhaupt weiter auseinandersetzen sollte – wenn man die ›Macht des Symbolischen‹ nicht mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Ordnung ausblenden wollte. Mezgers Frage nach einer ›Liturgie des Lebens‹ formuliert eine Hoffnung, die nicht ohne eine theologische Ritualtheorie erfüllt werden kann. 3. Mit der Einforderung einer kritischen Ritualgestalt sind zugleich die Fragen nach den kognitiven Prozessen und dem Verstehen im Ritual gestellt (Geck/Hartmann). Anders gefragt: welcher Art von Logik müssen liturgische Ordnungen genügen und welche Art von Logik bestimmt das rituelle Handeln selbst. 4. Im Ganzen geht es also um den Grund und Ort rituellen Handelns innerhalb protestantischer Theologie. Angesichts der wohl auch vermehrten liturgisch-rituellen Bedürfnisse der Gemeinden konnte die Theologie darauf kaum passende Antworten geben. Dass sie gleichwohl nicht nur den Wandeln mitvollzog, wie er etwas bei Götz Harbsmeier dargestellt wurde, sondern dafür auch zentrale Fragen und Anregungen einbrachte, sollte deutlich geworden sein. Besonders der Blick auf den Ansatz von Manfred Mezger hat gezeigt, wo mit Blick auf parallele kulturelle Phänomene wie Spiel und Fest auch für die Entwicklung einer Ritualgestalt des Gottesdiensts wichtige Beiträge geliefert wurden und hin zu einer Verknüpfung von Ritual und Kreativität geöffnet wurde, die sich Anfang der 1970er Jahre erstmals in der Literatur niederschlug (s. u. 2.1). Die hier genannten Anfragen sind auch insofern als konstruktiver Beitrag zum Ritualdiskurs zu werten, dass sie die Erarbeitung einer Ritualtheorie einfordern, die sich in ein biblisch-theologischen Bestimmung des Gottesdienstes integrieren lässt. Nicht erst die Untersuchung des Ritualdiskurses in den siebziger Jahren vermag also zu zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Gottesdienst als Ritual keineswegs erst mit Werner Jetter einsetzte. Vielmehr ist die Phase der Wert- und Hochschätzung der Ritualität des Gottesdienstes in den 1970er bis 1990er Jahren historischen zu beiden Seiten eingebettet in einen breiten Strom, wenngleich vorwiegend kritischer protestantischer Auseinandersetzung mit der Ritualgestalt des Gottesdienstes. Wird also nun der Blick auf aktuelle Positionen der Ritualkritik gerichtet, dann ist zu prüfen, ob die Forderungen der 50er und 60er Jahren nach einer sichtbaren Vorläufigkeit, Brüchigkeit und Selbstkritik des gottesdienstlichen Rituals eine Neuauflage
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erfahren und wie sich die Argumente nach den massiven Veränderungen Gottesdienstgestalt seit den siebziger Jahren gewandelt haben.
4.3 Neuere Ritualkritik
Überspringt man die Jahrzehnte von den beginnenden 1970er Jahren bis zur Jahrtausendwende, in denen das Ritual durchweg als hilfreiche Kategorie zur Beschreibung des evangelischen Gottesdienstes gewertet wurde,654 trifft man in jüngerer Zeit erneut auf ritualkritische Positionen und Anfragen an das Konzept ›Ritual‹. Wissenschaftstheoretisch sind es nicht selten vermeintliche Selbstverständlichkeiten, die kritisches Hinterfragen evozieren, umso mehr, wenn Theorien im Verdacht stehen, allein der Legitimation bestimmter Praktiken zu dienen. Eben dies kann auch für das erneute Hinterfragen des rituellen Charakters des Gottesdienstes gelten. Die Voraussetzungen, unter denen diese Kritik geäußert wird sind hingegen völlig andere. Die Erforschung ritueller Vollzüge ist zu einem wichtigen Feld innerhalb der Sozialwissenschaften gereift. Der Ritualbegriff hat weit in die Alltagssprache hinein eine große Popularität erfahren und ist vor allem im Bereich freier Spiritualität durchweg positiv besetzt. Auch ist die Gottesdienstpraxis weitaus weniger von jener Stabilität und Gleichförmigkeit geprägt, wie dies vor den 1970er Jahren der Fall war. Neue und ›offene‹ Gottesdienstformen sind nicht nur etabliert, sondern haben selbst bereits eine Ritualisierung durchlaufen, die sich nicht zuletzt in der Etablierung der Unterscheidung von erstem und zweitem Programm niederschlägt. Dennoch ist zu fragen, ob sich trotz der unterschiedlichen Ausgangslage gelegentlich Parallelen in der Argumentation gegen eine Beschreibung des Gottesdienstes als Ritual finden.
4.3.1 Angeln in der Flut der Rituale Bereits 1977 sprach sich der Sozialanthropologe Jack Goody gegen die Verwendung des Ritualbegriffs aus. Für Goody steht der Begriff am Ende einer Reihe von Begriffen rund um den – kaum präziser zu fassenden – Religionsbegriff, »[that] are virtually useless for analytic purposes and have done little but confuse the attempt to understand human behavior […] above all ritual.«655 Der Beitrag erschien in einem Band, der sich erstmals allein mit ›säkularen Ritualen‹ befasste. Die Frage, ob es so etwas überhaupt geben könne, oder Rituale vielmehr qua ihres Begriffs auf religiöse Phänomene beschränkt 654 Einzelne Ausnahmen – wie etwa Okko Herlyn: Theologie der Gottesdienstgestaltung, Neukirchen-Vluyn 1988 – können als Bestätigung dieser Regel gewertet werden. 655 Jack Goody: Against ›Ritual‹. Loosely Structured Thoughts on a Loosely Defined Topic, in: Moore/Myerhoff (Hg.): Secular Ritual, 25–35, 25.
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seien, war innerhalb des sozialwissenschaftlichen Diskurses höchst strittig. Goody kritisierte aber nicht nur die Tatsache, dass schon der Gegenstandsbereich der Ritualforschung völlig unklar war. Weder ein weiter noch ein engerer Ritualbegriff besaß für ihn heuristische Aussagekraft. Im Fall einer zu spezifischen Definition ließ sich letztlich nur jenes Phänomen als Ritual bestimmen, an dem der Begriff erarbeitet wurde. Zu weite Ritualdefinitionen hingegen ließen – wie ein Blick in einschlägige Sammelwerke zeige656 – letztlich alles unter ihren Begriff fallen und bezeugten eine überzogene Hoffnung der Forscher, über die vermeintlich vorreflexive Handlungsform der Rituale einen gegenüber anderen sozialen Verhaltensformen privilegierten Zugang zu erhalten zu jenen tiefliegenden kulturellen Werten, welche die Gesellschaft zusammenhalten. Trotz intensivster Forschung sei der Ritualbegriff aber bisher nicht über den Status hinausgekommen »[to be] vagueness itself«. Obgleich Goody damit eine Herausforderung und ein Umdenken innerhalb der Ritualtheorie intendierte, formulierte er auf diese Weise eine Kritik an der ritualtheoretischen Forschung, der seither nie ganz verstummt ist. Genau diese Kritik begegnet mehr als zwanzig Jahre später innerhalb der protestantischen Theologie wieder. Der Feststellung Theo Sundermeiers, der Ritenbegriff habe sich undeutlich ausgeweitet, »vom Händeschütteln bis zum Fernsehverhalten«657, schließen sich zahlreiche Autoren an.658 Auch die Herkunft des Ritualbegriffs aus der Ethnologie wird als problematisch erachtet. Dies mündet schließlich in die grundsätzliche Anfrage, ob der Ritualbegriff überhaupt in der Lage sei, das Wesen des protestantischen Gottesdienstes und seine Spezifik zu erfassen. Dass diese Frage so gestellt wird, impliziert zugleich mit welcher Selbstverständlichkeit der Ritualbegriff und die Entlehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Ritualtheorie mittlerweile erfolgten. Gerade diese Selbstverständlichkeit regt jedoch erneut zum Widerspruch an. Christoph Dinkel sieht einen »grundlegenden Unterschied zwischen archaischen Ritualmorden und reflexiver protestantischer Gottesdienstpraxis«.659 Der polarisierende und bisweilen polemische Duktus macht deutlich, dass es ihm um mehr geht, als um bloße Begriffssemantik. Eine ähnlich zu656 »[…] ranging from coronations, to funerals, Christmas, dances, football, theatre, gymnastics, brass-bands, pop festivals, to student demonstrations. Include elections, schools, work groups and the rituals of family living, and you have covered much of social life in Britain today« (aaO., 26). 657 Theo Sundermeier: Art. Ritus I., in: TRE Bd. 29 (1998), 259–265, 260. Gegenüber dem ethologischen Ritualbegriff gelte es, das Spezifische menschlicher Rituale herauszustellen, für die der »enge Zusammenhang von Wort und Tun« ebenso wie die »religiöse Dimension« konstitutiv seien (ebd.). 658 »Rituale sind mithin fast überall – und das ist das Problem.« (Christoph Dinkel: Was nützt der Gottesdienst? Eine funktionale Theorie des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2000, 95) »Wenn heute (fast) alles Ritual sein kann, dann ist (fast) nicht mehr wirklich Ritual« (Klie: Fremde Heimat Liturgie, 184). 659 Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 97.
Ritualkritik und Kritik am ›Ritual‹
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gespitzte Gegenüberstellung findet sich auch bei Thomas Klie, der die Unbrauchbarkeit des Ritualbegriffs mit der Unvergleichbarkeit zwischen dem modernen (westlichen) Protestantismus und tribalen Ritualkulturen schlicht so begründet: »heilsgeschichtliche Erinnerung« statt »stammesgeschichtliches Ritual«.660 Schließlich hält auch Reiner Preul »[s]chon wegen der zahlreichen Assoziationen an magische Zeremonien« den Ritualbegriff für »wenig geeignet, das Wesen des ev[angelischen] Gottesdienstes auszudrücken.«661 Es entsteht somit der Eindruck, die Frage nach der Ritualität des Gottesdienstes füge den möglichen Perspektiven auf das menschliche Handeln im Gottesdienst nicht einfach eine weitere, sozialwissenschaftliche hinzu. Vielmehr droht, so die Meinung der Autoren, mit der Ausrichtung auf den Ritualbegriff das ›Wesen‹ des protestantischen Gottesdienstes verfehlt zu werden, das in seiner Reflexivität bestimmt werden müsse. Tatsächlich wurde gerade in der Anfangszeit der Ritualdiskussion die Fähigkeit ritueller Vollzüge explizit hervorgehoben, religiöse Kommunikation in nichtdiskursiver Weise zu ermöglichen, sodass auch reflexive Vorgänge pausieren.662 Da in der Reflexivität zugleich ein wesentliches Kennzeichen der Moderne gesehen wird, scheinen sich modern-reflexiver Gottesdienst und archaisch-vorreflexives Ritual unvereinbar gegenüberzustehen. Wer also – so die Folgerung – den Gottesdienst von der Ritualität her bestimmt, setzt mit der reformatorischen Grundlegung zugleich die Anschlussfähigkeit an die Gegenwart aufs Spiel. Derartige Polarisierungen werden erst dann plausibel, wenn dahinter mit der Absicht zu rechnen ist, bestimmten Entwicklungen innerhalb von Liturgiewissenschaft und Kirchenleitung entgegenzutreten. Tatsächlich bestand – und besteht – ja in Teilen von Theologie und Kirche die Hoffnung, über die Vermehrung der rituellen Dimension im liturgischen Angebot der Kirchen die Attraktivität des Glaubens – und nicht zuletzt die Kirchenbindung – zu erhalten und zu steigern.663 Um dies nun als Fehlentwicklung zu markieren, wird bereits der Möglichkeit einer ritualtheoretischen Untersuchung die Unvereinbarkeit mit einem spezifischen Gottesdienstverständnis entgegengehalten. Das »eigentlich« Protestantische wird dabei wahlweise im »performative[n] Ineinander 660 »Dass am Anfang eines Gottesdienstes – wenn es rite zugeht – ein Psalm vorgetragen, gemeinsam gesprochen, gesungen wird, ist nicht Re-Inszenierung eines stammesgeschichtlichen Übergangsrituals, sondern die heilsgeschichtlich begründete Erinnerung der christlichen Gemeinde an die von ihr mitgesungenen Lieder ihrer jüdischen Mutterreligion« (Klie: Fremde Heimat Liturgie, 195). 661 Reiner Preul: Art. Ritus/Ritual c) Liturgisch b) evangelisch, in: RGG4 Bd. 7 (2004), 555 f., 556. Die Rede vom »Wesen« des evangelischen Gottesdienstes ist historisch auf der Linie konfessioneller Polemik zu verorten. Für die Frage nach einem liturgisch-humanwissenschaftlichen Ritualbegriff führt sie nicht weiter. 662 Vgl. etwa Daiber: Gottesdienst als Mitte, 79. 663 Das zeigt nicht nur die Errichtung spiritueller Zentren, sondern in anschaulicher Weise auch die Ausrichtung zahlreicher Glaubenskurse im Rahmen der EKD-weiten Initiative »Erwachsen Glauben«.
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von gestischem Vollzug und verbaler Deutung«664 (Klie) gesehen oder als Verbindung von »Kommunikation und Glaube« (Dinkel) beschrieben. Gerade im liturgiewissenschaftlichen, mit empirischer Forschung besonders eng verzahnten Kontext mögen diese deduktiven Argumentationen überraschen: »Wer in der späten Moderne die Akzeptanz der Liturgie rituell sichern will, verkennt den reflexiven, dialogischen und kontextgebundenen Grundton protestantischer Gottesfeiern.«665 Zumindest die Argumentation vom Wesen des Protestantischen her verbindet diese gegenwärtigen Positionen mit früherer Ritualkritik. Trotz nicht selten pauschaler Ablehnungen (»Weder der weite, noch der enge Ritualbegriff tragen für eine differenzierte Beschreibung des evangelischen Gottesdienstes etwas aus.«666) und der vorrangigen Bestimmung des Gottesdienstes von der Predigt her, scheint man sich zu Zugeständnissen genötigt zu sehen. Während Dinkel dann doch Taufe, Abendmahl und Segen als Rituale gelten lassen will, spricht Klie von »theatral-ritueller Kommunikation« als »Rahmung« der »den Gottesdienstverlauf stark bestimmende[n], subjektiv verantwortete[n] Kanzelrede«.667 Um die Befürchtungen wie auch die weiterreichenden Implikationen einer Ablehnung des Ritualbegriffs genauer erfassen zu können, sind die Argumente von Christoph Dinkel und Thomas Klie nun näher zu prüfen.
4.3.2 Rituale als »Kommunikationsvermeidungskommunikation« (Chr. Dinkel) Als erstes Beispiel einer ritualkritischen Haltung innerhalb des aktuellen Protestantismus soll Christoph Dinkels funktionale Gottesdiensttheorie von 2002 untersucht werden. Sie ist auf theoretischer Ebene maßgeblich beeinflusst von der Kommunikationstheorie Niklas Luhmanns. Auch Luhmanns spezifische Deutung der Reformation wird der Argumentation zugrunde gelegt. Beeinflusst scheint der Ansatz ferner durch die religiöse und liturgische Prägung des Autors durch den württembergischen Protestantismus. Dieser pflegt die Tradition des oberdeutschen Predigtgottesdienstes und zeichnet 664 Klie: Fremde Heimat Liturgie, 191. Von Gesten ist oft die Rede, ohne dass man wüsste, welche Gesten denn für den evangelischen Gottesdienst – zumal durch die Gemeinde – so zentral sind: Stehen, Knien, Bekreuzigen, Orantehaltung, Falten der Hände, Aufschlagen der Bibel, Segenskreuz, an die Brust klopfen …? Vgl. die Zusammenstellung von Anselm Gr n/Michael Reepen: Gebetsgebärden, Münsterschwarzach 82000 sowie von A. Ronald Sequeira: Gottesdienst als menschliche Ausdruckshandlung, in: Hans B. Meyer u. a. (Hg.): Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen, Regensburg 21990, 7–39. 665 Klie: Fremde Heimat Liturgie, 195. 666 Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 97. 667 Klie: Fremde Heimat Liturgie, 191. »Rahmung« wird hier jedoch nicht im ritualtheoretischen Sinn verwendet (s. o. Exkurs, S. 254).
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sich ausgesprochene Bescheidenheit an rituellen Gesten und Symbolen aus. Dass vor diesem Hintergrund eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der Ritualgestalt des Gottesdienstes keineswegs zwingend ist, hat das Beispiel des anderen Stuttgarter Pfarrers Werner Jetter gezeigt. Ausgangspunkt der Argumentation Dinkels ist die Annahme, der evangelische Gottesdienst sei »aus der programmatischen Überwindung von Ritualisierungen entstanden«668 und der Protestantismus habe stattdessen »von Kult auf Kommunikation« umgestellt. Bereits Luhmann sieht in der Betonung der Kommunikationsfunktion des Gottesdienstes ein wichtiges Kennzeichen dessen, was er als »Glaubensreligion« versteht und worunter auch der Protestantismus zu fassen sei. Diese Verbindung von Kommunikation und Glauben nimmt auch Dinkel als Grundlage seines eigenen Ansatzes, in dem der Glaube als »Kommunikationsmedium« entfaltet wird. Zwar können Luhmann zufolge auch Rituale als Kommunikationsform betrachtet werden, doch zeichne sich diese einerseits durch ihre Stereotypie aus, die eine Negation des Kommunizierten oder einen Widerspruch ausschließt. Andererseits werde im Ritual keine Information kommuniziert, sodass rituelle Kommunikation unmittelbar und ausschließlich auf sich selbst bezogen sei.669 Folglich bezeichnet Luhmann Rituale als »Kommunikationsvermeidungskommunikation«, worin ihm Dinkel folgt. Eine solche Haltung mag vor dem Hintergrund des in den 80er Jahren intensiv geführten Diskureses um das Ritual als Kommunikationsform zunächst verwundern.670 Die Entgegenstellung von Glauben und Ritual, die sich auch bei anderen Autoren in Verbindung mit einer ritualkritischen Haltung findet,671 erinnert trotz unterschiedlicher Referenzrahmen erneut an Argumentationslinien älterer Ritualkritik. Dabei fällt der einseitig diskursiv-handlungsorientierte Glaubensbegriff auf, der die Akzeptanz der konkreten Handlungsform durch die Beteiligten als ungenügende Vorstufe kritisiert. Daraus resultiert zwar eine deutlichere Abgrenzung vom Ritualbegriff, doch bleibt dies theologisch nicht folgenlos, sondern resultiert sowohl in einem stark verengten Bild dessen, was evangelischer Gottesdienst ist, wie auch in einem problematischen Glaubensbegriff.672 Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 96. Zum Problem der Selbstreferenzialität des Rituals s. o. 3.2.1. S. o. 3.2. Die einschlägigen Autoren wie I. Werle und I. Paul werden von Dinkel nicht rezipiert. Eine ähnliche Vorordnung von Glaube und Ritual findet sich auch dort, wo dem Ritual allenfalls zugebilligt wird Ausdruck des Glaubens zu sein, aber keineswegs Mittel (Medium) zum Glauben, wie dies bei Reiner Preul zu lesen ist: »Der Glaube verdankt sich keiner rituellen Einwirkung, obwohl er sich auch in rituellen Handlungen einen Ausdruck geben darf« (Art. Ritus/Ritual. III. Dogmatisch, in: RGG 7 [2004], 556f., 556). 672 Vgl. Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 96. In seiner Abgrenzung von ›Akzeptanz‹ und ›Glaube‹ bezieht sich Dinkel hier auf Rappaport: Obvious Aspects. Gegen Dinkels Interpretation dieses Ansatzes spricht jedoch zweierlei: 1. Wie Dinkel zu Recht anführt, argumentiert Rappaport dafür, dass für den Ritualvollzug allein die Akzeptanz der Handlungsform die entscheidende Voraussetzung ist, nicht aber der Glaube an die Wirksamkeit des Rituals oder die darin kommunizierten Inhalte. Damit lasse das Ritual Raum für Unaufrichtigkeit und
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Für Dinkel geht die Kommunikationsvermeidung mit einem funktionalen Gewinn an »Stabilität und Plausibilität«673 einher – womit wiederum die klassischen Deutungskategorien bedient werden –, doch dürfe der Protestantismus diese falschen Stützen nicht annehmen.674 Stattdessen sei er – und darin liege seine Modernität – auf »Dauerreflexion« gerichtet, die mit der reformatorischen Aufwertung der Predigt erstmals in den Gottesdienst in prägender Weise Einzug hielt. Nicht nur erstaunt dabei die Argumentation für eine Kontinuität des Gegenübers von Predigt und Ritual, die bereits bei Autoren wie Götz Harbsmeier einen roten Faden bildete, zugleich scheint die tatsächliche Predigtpraxis auf die Theoriebildung kaum einen Einfluss auszuüben. Wenn Dinkel etwa aus der mangelnden Diskursivität des Rituals ihm zugleich jede Interpretationsoffenheit bzw. -bedürftigkeit abspricht (»Rituale sprechen für sich [… und] müssen sich daher nicht rechtfertigen«675), die Predigt aber stets mit der Möglichkeit zur »Entscheidung zwischen Ja und Nein« verbunden sieht, ist diese Gegenüberstellung angesichts der vorherrschenden monologischen Predigtpraxis durchaus verwunderlich, ist die Predigt doch zunächst einmal wesentlich stärker als eine exklusive und nicht Betrug. Nur weil im Ritual Akzeptanz und Glaube eben keine notwendige Verbindung eingehen, können Rituale ihre soziale Funktion auch unabhängig von der subjektiven Disposition des Einzelnen erfüllen. Rapport sieht darin den Vorzug des Ritualvollzugs: die zum Handeln befähigende Akzeptanz ermöglicht das ein performatives Transzendieren der eigenen Zweifel. Auf diese Weise könne ein Glaubensbegriff formuliert werden, der Glaube und Zweifel gleichermaßen umfasst, wie dies etwa bei Tillich erfolgt. Die Unterscheidungen geben zudem Raum für unterschiedliche Glaubensüberzeugungen, die mit dem Ritual verbunden sein können. Außerdem trennt Rappaport das Aufstellen und Bestätigen von gültigen (Handlungs-) Normen – was im Ritual erfolgt – von einem direkten Zugriff auf das außerrituelle Handeln. Auch wenn Dinkel diesen Zusammenhang als konstitutiv für das protestantische Gottesdienstverständnis erachtet, kann auch er einen direkten Zugriff im Sinne instrumentalisierender Liturgie weder wollen noch durch die Predigt in Kraft gesetzt sehen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Rappaport mit dem Verweis auf die ›Anerkennung‹ zunächst um die Voraussetzungen rituellen Handelns geht. Zu einem Zusammentreffen von Ritual und Glauben kommt es für ihn schließlich dort, wo rituelles Handeln Unglauben und Zweifel zu überwinden vermag und damit zum Glauben hinführt. 2. Gerade aus protestantischer Perspektive erstaunt die Gegenüberstellung von Glaube und Akzeptanz, darf doch das Moment des assensus fidei als assensus generalis und umso mehr als assensus specialis in liturgicis explicatus als notwendiger und somit legitimer Bestandteil der fiducia angesehen werden. 673 Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 98. 674 Nicht nur werden sprachtheoretische Untersuchungen zum kommunikativen Charakter des Rituals, die ein vielschichtigeres Bild zeichnen (s. o. 3.2), von Dinkel nicht rezipiert. Auch die Bemühungen Jetters, der in seiner Ritualtheorie von der »Kommunikation« des Evangeliums im Gottesdienst ausgeht und die Eigenständigkeit ritueller Kommunikation mit Verweis auf ihren präsentativ-symbolischen Charakter bestimmt, werden nur in einer Fußnote erwähnt. Eine der Rede von »falschen Stützen« vergleichbar negative Beurteilung der Inanspruchnahme des Rituals findet sich auch bei Thomas Klie, der dem Ritual einen inhärenten Wiederholungszwang attestiert, der sich »aus der Unlust oder auch aus der Angst, den Stabilität und Sicherheit gewährenden Regelraum wieder zu neutralisieren« speist (Zeichen und Spiel, 141; s. ausführlicher u. 4.3.3; vgl. auch 3.3.2.2). 675 Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 98.
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responsoriale Tätigkeit – zumeist pfarramtlicher – Liturgen konzipiert. Nicht nur müsste also hier deutlicher erläutert werden, worin die betonte Diskursivität einer in den liturgischen Zusammenhang eingebetteten Predigt genauer besteht, es müsste zugleich reflektiert werden, inwiefern die Predigt selbst rituelle Elemente enthält und damit Ritualisierungsprozessen unterliegt, durch die sie selbst der Ambivalenz des Rituellen unterliegt.676 Das Insistieren auf das Ritual als Kommunikationshindernis geht ebenso an der Frage vorbei, was Kommunikation im Ritual bedeutet und welche Formen sie annimmt (s. o. 3.2). Noch setzt sich Dinkel mit den Einschränkungen der religiösen Autonomie und Subjektivität auseinander, welche die Verschiebung ritueller Kommunikation auf rational-diskursive Predigtzentrierung mit sich brachte.677 Das vehemente Eintreten gegen eine Bestimmung des Gottesdienstes als Ritual bei Dinkel wird verständlicher, je mehr man den Blick auf einige der Befürchtungen richtet, die der Autor wohl als Folge einer solchen Bestimmung erwartet. Zum einen verbindet Dinkel mit dem reflexiven Gottesdienstgeschehen eine unmittelbar bildende Wirkung (»Glauben und Lehre«), die sich von bloßer Akzeptanz ritueller Vollzüge intellektuell abhebt. Ein Verlust dieser Dimension würde für Dinkel eine massive Beschneidung der kulturellen Anschlussfähigkeit bedeuten sowie der lebenspraktischen Funktion des Gottesdienstes, »den Anforderungen gesellschaftlicher Modernisierung an Reflexivität begegnen zu können«.678 Sodann sieht Dinkel in der Aufwertung des Rituals eine Relativierung der Beziehung zwischen Gottesdienst und »guten Werken«, einem wesentlichen Kennzeichen besagter »Glaubensreligion«. Während das Ritual nur auf sich bezogen sei, wolle der Protestantismus als Glaubensform »weltgestaltend wirken und muß daher auch abseits der religiösen Feier Entscheidungen im Sinne der christlichen Ethik motivieren.«679 Schließlich kann man hinter den Argumenten Dinkels auch die Sorge um 676 Bereits die Ausführungen zur Ritualisierung der Predigt bei Jetter (s. o. 2.5.3) werden der Komplexität dieses Prozesses weitaus besser gerecht. Dinkel vertritt hier jedoch hier keine Einzelmeinung. Auch Rainer Preul bezeichnet die Predigt als »antirituelles Element« innerhalb des Gottesdienstes (Art. Ritus/Ritual. III. Dogmatisch, in: RGG 7 [2004], 556f., 556). Nicht nur wird hier – ohne dies kenntlich zu machen – eine Predigttheorie allein auf systematischen Überlegungen dargestellt. Auch werden dabei rituelle Elemente der Predigt ausgeblendet. Zwar lassen sich rituelle Elemente im Gottesdienst aufgrund dogmatischer Überlegungen kritisieren, aber die Funktion einer liturgischen Sequenz kann eben nicht rein dogmatisch, isoliert von ihrem tatsächlichen Vollzug bestimmt werden. Ob also und inwiefern die Predigt im Handlungsvollzug als »antirituelles Element« fungiert, müsste unter Einbezug empirischen Einsichten erfolgen. In diesem Fall dürfte sich eine solche Unterscheidung kaum als weiterführend erweisen. 677 Besonders scharf formuliert hat diese Anfrage Alfred Lorenzer (Das Konzil der Buchalter), die auch dann zur Auseinandersetzung herausfordert, wenn man die liturgiehistorischen Prämissen zum II. Vaticanum nicht teilt, die von der Umstellung von der Religion als Ritual auf eine Religion des Wortes ausgehen. 678 Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 98. 679 AaO., 107.
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einen Bedeutungsverlust und die Reduktion der intellektuellen Aufgabe des Pfarrers vermuten. Der vorreformatorische Geistliche musste ihm zufolge nur ein Ritual möglichst korrekt ausführen, dieses aber nicht auf mögliche Handlungsimpulse hin reflektieren. »[E]vangelische Geistliche« hingegen müssten »die sehr viel komplexere Aufgabe erfüllen, durch religiöse Kommunikation vom Unglauben zum Glauben zu führen.«680 In Verbindung mit dem Herausstellen der durch die Reformation erhöhten Komplexität kirchlicher Organisationsstrukturen, die zu verwalten eine wichtige pfarramtliche Tätigkeit darstellt, sieht Dinkel den auf rituelle Vollzüge spezialisierten Pfarrer in seiner Existenz als Intellektueller, als Autoritäts- und Führungsperson und auch als Gelehrter gefährdet. Nicht zuletzt dort, wo reformatorische Entwicklungen unter Ausblendung ihrer Ambiguität und der für gegenwärtige spirituelle Bedürfnisse problematischen Folgen hervorgehoben werden,681 zeigt sich bei Dinkel trotz der gesuchten Nähe zur Moderne ein rückwärtsgewandtes »Profil« protestantischer Frömmigkeit, deren faktischer Pluralität vermeintlich normative Kennzeichen entgegengehalten werden.
4.3.3 Dynamischer, moderner Ritus statt tribales, starres Ritual (Th. Klie) Vor einem ganz anderen Hintergrund entfaltet Thomas Klie unter der Überschrift Jeden Sonntag dasselbe – vom Ritual zum Ritus seine Kritik am Ritualbegriff und den damit verbundenen Implikationen für die Wahrnehmung des Gottesdienstes.682 Sein Beitrag ist auch deshalb von Interesse, weil er sich bereits mit der jüngeren Ritualdiskussion innerhalb der Liturgik auseinandersetzt. In der Monografie Fremde Heimat Liturgie von 2010 geht es Klie um eine Liturgik, die zwar an »Luther Maß [zu] nehmen« weiß, aber »aktuelle Gefühlslagen und kulturrelative Wahrnehmungen«683 gleichermaßen einbezieht. Obgleich damit das grundsätzliche Wechselverhältnis von dogmatischer Grundlegung und empirischen Einsichten angelegt ist, steht dennoch am Beginn eine grundsätzliche Bestimmung, wann sich »[e]vangelisch-kirchliche Religion« ereignet: »nicht, wo geheimnisvolle Rituale und hermetische Formeln inszeniert werden, sondern wo man diffuse Horizonte im Modus theo680 AaO., 102 f. 681 Zu nennen wären hier die pauschale Deutung der »bewussten Abgrenzung von der Kirche der Bilder« (aaO., 108) oder die in den Zusammenhang mit einem protestantischen »Selbstbefriedigungsverbot« gestellte »Auflösung der Orden und Klöster« (aaO., 110). 682 Der Abschnitt in Klie: Fremde Heimat Liturgie, 183–204 ist die überarbeitete Fassung eines Aufsatzes von 2009: Vom Ritual zum Ritus. Ritologische Schneisen im liturgischen Dickicht, in: BThZ 26 (2009), 96–107. Diese Art der nachdrücklichen Publikation regt umso mehr zu einer Auseinandersetzung an. 683 Ders.: Fremde Heimat Liturgie, 11 f.
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logisch gebildeter Rede disambiguiert.«684 Auch Klie geht es also darum, das Profil des protestantischen Gottesdienstes zu bewahren. Die dafür nötigen ästhetischen Überlegungen dienen ihm daher weniger zu einem neuen Verständnis dessen, was Kommunikation des Evangeliums jenseits der Kanzelrede sein kann. Stattdessen will er eine zeitgemäße Inszenierung ermöglichen, die umso mehr das Zentrum stärkt, die »biblisch motivierte« Zeitansage. Auch »[p]roduktive Irritationserfahrungen« erwartet Klie vor allem von der Schriftlektüre und deren Auslegung, weniger von Ritualen und Symbolhandlungen. Für den ritualtheoretischen Diskurs ist der von Klie gewählte Titelbegriff der »Heimat« nicht unerheblich. Mit ihm wurde bereits bei Jetter einer der funktionalen Vorzüge ritueller Handlungen benannt. Klie versteht den Gottesdienst als »Heimat« aufgrund seines gesellschaftlichen Bekanntheits- und Vertrautheitsgrades, der einerseits breiten Bevölkerungsschichten die Teilnahme ermöglicht und andererseits eine fortwährende Rezeption in unterschiedlichen Medien zur Folge hat. Zudem impliziert der Begriff für ihn eine »leibliche Verankerung«685 der Liturgie. Und doch existiert der Gottesdienst Klie zufolge nur als »fremde Heimat«686, als nichtselbstverständlicher, aber doch als »Herkunfts- und Bezugsraum« von hoher gesellschaftlicher, öffentlicher und immer wieder auch individueller Bedeutung. Dieser Raum ist zugleich »eigen« und »fremd«. Bereits der Titel soll also einseitige Forderungen zurückzuweisen, den Gottesdienst ausschließlich als »Heimat« zu inszenieren. Die enge semantische Symbiose von »Ritual« und »Heimat« lässt damit Klies ritualskeptische Haltung von Beginn an durchscheinen. Um aber der die Bedeutung von Ästhetik und Performanz, von gesteigertem Formbewusstsein und Leiblichkeit auch dann gerecht zu werden, wenn auf den Ritualbegriff verzichtet wird, führt Klie den Begriff des »Ritus« als genuin liturgischen Begriff ein. Bevor die Vorzüge des Ritus-Begriffs näher erläutert werden, ist noch einmal seine Kritik am gegenwärtig in der Liturgik verwendeten Ritualbegriff zu erläutern. Klie wendet sich, dies ist vorauszuschicken, dabei nicht gegen rituelle Handlungen selbst, sondern vor allem gegen die Implikationen des Ritualbegriffs, seine semantische Codierung. Die problematische RitualHausse auch innerhalb der Praktischen Theologie, von der bereits die Rede war, bezieht Klie unmittelbar auf die Anfänge bei Werner Jetter. Schon bei Jetter sei es zu einer Vermischung formaler, funktionaler und inhaltlicher Kennzeichen des Ritualbegriffs gekommen und »der kerygmatische Mehrwert doxologischer, eucharistischer oder homiletischer ›Rituale‹ wird hier auf das
684 AaO., 13. 685 Vgl. aaO., 18. 686 Der Titel ist an die 1992 durchgeführte 3. EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung angelehnt, die unter dem Titel Fremde Heimat Kirche publiziert wurde.
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Level kulturanthropologischer Universalien reduziert«.687 Dadurch erscheint das Ritual als »geschichtslose Kategorie«. Den Gottesdienst wie bei Jetter als »Gesamtritual« zu verstehen, bedeutet für Klie die Ausblendung des spezifisch protestantischen Spannungsverhältnisses von Ritual und Predigt. Das Ungenügen des bisherigen Ritualbegriffs manifestiert sich für Klie in den zahlreichen Spannungen zwischen Theorie und tatsächlicher Gottesdienstpraxis, die für ihn eine »empirische Dekonstruktion des Ritualbegriffs« bedeuten. Den Gottesdienst als Ritual zu verstehen, hieße von einem »modifikationsresistenten Grundmuster« auszugehen und damit seine tatsächliche Flexibilität und Situationsadäquatheit zu verkennen. Bereits in den klassischen Gottesdiensten zeige sich die »ungebremste Kreativität des innerprotestantischen Ritendesigns«688, umso mehr überdehnten die »neuen Rituale« den herkömmlichen Begriffsrahmen. Darin werde die Sicherheit und Heimat stiftende Funktion des Rituals gerade in seiner allgemeinen Gültigkeit und unveränderlichen Form begründet. Damit trete die Theorie in eklatanten Widerspruch zu der von Ulrike Wagner-Rau und anderen benannten Beobachtung, dass Rituale in der Gegenwart »›relativiert‹, ›pluralisiert‹, ›individualisiert‹ und ›privatisiert‹« würden.689 Eine Theorie, welche die(se) Praxis nicht mehr zu erfassen vermag, müsste in der Tat verabschiedet werden. Bei allem Glauben an den Ritualbegriff werde, so Klie, kaum reflektiert, dass es sich dabei zunächst um ein wissenschaftliches Konstrukt handelt. Seine Rezeption sei daher häufig mit der Hoffnung auf Wiederherstellung einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit verbunden, die in modernen Gesellschaften nicht (mehr) existiert. Dem Ritualbegriff eigne so ein »anachronistische[r] Grundzug«. Als eines der Probleme der Argumentation Klies zeichnet sich bereits hier das Abarbeiten an ausschließlich älteren Ritualtheorien ab. Die Frustration am Ritualbegriff wird dadurch jedoch umso mehr nachvollziehbar: »Das rituelle Ausbreiten der Arme beim Segen bzw. bei der Orantehaltung lassen sich in Genese und Darstellung [und Handlungsvollzug, RG] weder mit Goffmans Pantheatralik noch mit Turners Passagenarchetypik hinreichend bestimmen.«690 Auch diese Position repräsentiert eine für die protestantische Liturgik verbreitete Ansicht.691 Dass auch innerhalb der Kul687 688 689 690
AaO., 189. AaO., 197f. Zitiert aaO., 189. AaO., 203. Berechtigte Kritik an Turners Theorie wie auch ihrer problematischen forschungsgeschichtlichen Voraussetzungen formuliert Catherine M. Bell: Ritual Tensions. Tribal and Catholic, in: StLi 32 (2002), 15–28. 691 Kritik an einem vorrangig auf den Schwellencharakter und die wirksame Transformation fokussierten Ritualbegriff äußert auch Ursula Roth (Theatralität, 203): »Den Gottesdienst in dieser Weise als transformative Performanz zu beschreiben, entlastet den liturgietheoretischen Diskurs in der Frage nach der Ritualität des Gottesdienstes. Die eindeutige Bestimmung des liturgischen Geschehens als Ritual droht den Gottesdienst auf die Funktion eines rituellen Mechanismus zu verkürzen und den Aspekt der (wirksam-bleibenden) Transformation zum alleinigen Zweck der Handlung zu erheben«. Roth hofft also, den rituellen Charakter über den
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tur- und Sozialwissenschaften immer wieder Kritik an einer rein funktionalen Bestimmung des Rituals geäußert wird, erwähnt Klie zwar, ohne jedoch anders orientierte neuere Ansätze explizit zu rezipieren. Weil also der Ritualbegriff für Klie keine heuristische Funktion für die Gottesdiensttheorie erfüllen kann, will er stattdessen den Begriff des »Ritus« in die Diskussion einführen. Diesen hält er vor allem seiner Liturgizität wegen für besonders geeignet, das grundsätzliche Ziel seines Durchgangs durch den Sonntagsgottesdienst zu verdeutlichen, nämlich den Reichtum der liturgischen Tradition mit den liturgischen Anforderungen der Moderne zu verknüpfen. In der Tat zeichnet sich Klies Ansatz durch eine erstaunliche Offenheit gegenüber auch vorreformatorischen Riten aus, etwa im Zusammenhang mit liturgischen Formen der Gottesdienstvorbereitung.692 Anders als der an anthropologischen Gegebenheiten orientierte Ritualbegriff verweise »Ritus« explizit auf religiöse Handlungen, genauer auf christliches Kulthandeln und ganz konkret auf liturgische Semiotik. Der Begriff erweise sich zudem anschlussfähig an die liturgische Tradition des Alten Testaments, wichtiger aber noch sei die durch CA VII unmittelbar gegebene Verbindung des Ritus-Begriffs mit der grundlegenden reformatorischen Bestimmung der Liturgie als plural und veränderbar. Die enge Verknüpfung mit dem Adiaphoron-Begriff (etwa in ApolCA XV) vermag zudem für Klie der typisch protestantischen Freiheit im Umgang mit Formen gerecht zu werden, wie auch deren Variabilität zu erklären. Kurz: Während das »Ritual […] tribal, ethologisch, invariabel« ist, ist der »Ritus« »konventionell, liturgisch, variabel«.693 Damit stehen sich »Ritual« und »Ritus« bei Klie nicht nur kontradiktorisch gegenüber, auch die Sympathien sind klar verteilt. Klies Ritusbegriff soll zudem die Integration der Semiotik und des Spielbegriffs in die Liturgik befördern (»Riten sind religiöse Formspiele.«694). Bereits in seiner Habilitationsschrift hatte er den Versuch unternommen, die Praktische Theologie allgemein auf semiotischer und spieltheoretischer Grundlage neu zusammenzubinden und zu begründen.695 Ein weiterer zentraler Gedanke, der über den Ritus-Begriff integriert werden soll, ist die bereits bei Dinkel betonte Reflexivität des protestantischen Gottesdienstes. Anders als Dinkel geht Klie jedoch weniger von unmittelbar reflexiver Kommunikation aus, sondern von der »Deutungsbedürftigkeit« des Ritus.696 Was Klie darunter
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Performativitätsbegriff zu inkludieren und sich damit auch der problematischen Semantik des Ritualbegriffs zu entledigen. Vgl. Fremde Heimat Liturgie, 31–34. AaO., 199. Mit ähnlicher Stoßrichtung, das Spezifische des religiösen Rituals herauszuarbeiten, argumentiert Alexander Deeg für die Rehabilitierung des Kultbegriffs (vgl. Das äußere Wort, 214). Klie: Fremde Heimat Liturgie, 200. S. o. 3.3.3. Dabei geht Klie von einem semiotisch anschlussfähigen Ritusbegriff aus, wie er ihn bereits bei Theodosius Harnack angelegt findet (s. o. Anm. 502). Als die Leiblichkeit der Liturgie inte-
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versteht wird etwa deutlich, wenn er die theologischen Möglichkeiten auslotet, den Elevationsritus zu deuten und dabei gerade die Deutungsoffenheit der Gesten für die Akteure hervorhebt, die zugleich die Vermittlungsfunktion des Liturgen begrenzt.697 Weil Flexibilität und Konventionalität den Eigenwert der Handlung beschränken und stattdessen die inhaltlichen Kriterien maßgeblich bleiben, mündet die zusammenfassende Definition des »Ritus« im Begriff der »offenen Iteration«: »Ritus soll hier definiert werden als eine in sich stimmige, kontingente Handlungsüblichkeit, bei der im Modus somatischer Kommunikation vor und mit anderen ein Sinnzusammenhang kommuniziert wird. Im Ritus verdichten sich Wort und Gestus zu einem deiktischen Performativ. Er ist auf eine offene Iteration hin komponiert.«698
Der Abschied vom Ritualbegriff wie auch die Ziele, die mit der Ersetzung durch den Ritusbegriff erreicht werden sollen, enthalten jedoch auch problematische Annahmen. Bei der Rückfrage ist das von Klie selbst bestimmte Kriterium der Entsprechung von gottesdienstlicher Praxis und Theoriebegriff anzulegen. Immer wieder betont Klie neben der Konventionalität und pragmatisch-inhaltlichen Grundausrichtung die Flexibilität des Ritus. Im Gegensatz zum »Ritual«, das in Anspielung auf Sigmund Freud »Zwangscharakter« besitze, bleibe der »Ritus« »volitiv« und könne als »variabler Handlungsroutine« beschrieben werden.699 Nicht nur im Blick auf die zumindest grundsätzlich Akzeptanz und Verwendung agendarischer Ordnungen auch in der Gegenwart lässt sich indes fragen, ob diese Beschreibung ausreichend ist oder nicht eher eine Form der Unterdeterminierung darstellt. Auch will die Rede von den Riten als »schlicht kontingente menschliche Übereinkünfte« nicht so recht passen weder zur historischen Genese speziell der stark ritualisierten Gottesdienstsequenzen wie Kyrie, Gloria und überhaupt der Abendmahlsliturgie, noch zum erheblichen organisatorischen Aufwand, der für die Erstellung von Agenden betrieben wird. Auch wird man kaum pragmatische Erwägungen heranziehen können, um die gewachsene Struktur der Liturgie zu erläutern. Eher bietet die Liturgie theologisch deutbare und damit grierendes Zeichen ist der Ritus »so gesehen nicht selbst verständlich, sondern deutungsbedürftig« (aaO., 195). Klie macht jedoch nicht weiter einsichtig, inwiefern etwa bei der Rezitation eines Psalms »das kulturelle Gedächtnis des Christentums […] szenisch reflexiv« (aaO., 196) wird. Es scheint Vielmehr plausibler zu sein, die Liturgiegestalt der historischen wie systematischen Reflexion zugänglich und zugleich als Resultat reflexiver Einsichten zu erachten. 697 »Ein rezeptionsoffenes Liturgie-Verständnis legt die professionellen Akteure nicht auf die Rolle von Hütern festgelegter Gewissheiten fest. Vielmehr ist ihre theologisch und liturgiegeschichtlich gebildete Kreativität gefordert, im Rahmen einer gottesdienstlichen Handlungsfuge die Predigt von ihrer Alleinzuständigkeit für Vermittlungsfragen zu entlasten« (aaO., 133). 698 AaO., 202. 699 AaO., 201. Die negative Bewertung des Ritualbegriffs bei Klie zeigt sich auch, wenn er als Motive für den Ritualvollzug vor allem »Unlust« und »Angst« vor Destabilisierung und Unsicherheit benennt.
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auch Sinn stiftende Formen. Schließlich wird es kaum der liturgischen Praxis gerecht, wenn der gottesdienstliche Ritus als »individuelle Kompositionsleistung« des Liturgen gekennzeichnet wird, die noch dazu nicht einmal »grundsätzlich wiederholbar sein muss«. Hier wie auch andernorts bleibt unklar, ob es Klie um eine liturgische Vision geht oder um die Auseinandersetzung mit dem agendarischen Gottesdienst, wie er gegenwärtig in seiner »Normalgestalt« im Evangelischen Gottesdienstbuch – nahezu – EKD-weit grundsätzlich in Geltung ist. Generell verschwimmt im Laufe der Argumentation immer wieder die Grenze zwischen grundsätzlichen, deduktiven theologischen Einsichten in den Charakter protestantischer Gottesdienste und empirischen Beobachtungen zur Feiergestalt.700 Damit stellt sich die Frage, ob die mit dem Ritusbegriff einhergehende Abkopplung von der Alltags- wie von der wissenschaftlichen Fachsprache hilfreich ist, um zu beschreiben, was »Protestanten« Woche für Woche in institutionalisierter Form und starker Ausrichtung an kirchlichen Vorgaben feiern. Die mit dem Begriff evozierte Eigengesetzlichkeit stünde zunächst der Wahrnehmung anderer Wissenschaften entgegen, dass hier doch – auch – ein Ritual vollzogen wird. Am Ende seines Beitrags räumt dann auch Klie der Kategorie des Rituals eine Berechtigung ein: »Ritual ist so gesehen ein dem Ritus übergeordneter Gattungsbegriff.«701 Die sich daraus ergebenden Folgerungen werden nicht ausgeführt. Problematisch wäre ein solcher Verzicht aber auch innerhalb der Liturgie. Er neigt dazu, die Beziehung und wechselseitige Beeinflussung von liturgischen und alltäglichen Handlungen, d. h. die Ritualisierungsprozesse innerhalb des Gottesdienstes auszublenden. Damit erbringt die Auswertung des Ansatzes von Thomas Klie ein ambivalentes Resultat. Klie kann zeigen, dass der bisher innerhalb protestantischer Liturgik rezipierte und tradierte Ritualbegriff der komplexen und dynamischen liturgischen Praxis nicht gerecht wird. Mit seiner Anfrage an den Ritualbegriff nötigt Klie die Liturgik zum einen, anthropologische Selbstverständlichkeiten auf ihren theologischen Gehalt hin zu untersuchen. Zum anderen muss eine Bestimmung des Gottesdienstes als Ritual dem spezifisch protestantischen Bemühen um situationsadäquate Gestaltung und folglich einem freieren Umgang mit dem Agendarischen im wörtlichen Sinn auch theologisch gerecht werden. Dass bei dieser Suche nach einem passenderen Theoriebegriff aber weder ein ökumenischer noch ein interdisziplinärer Seitenblick auf aktuelle ritualtheoretische Untersuchungen erfolgt, lässt neben 700 Etwa wenn davon die Rede ist, dass sich im Ritus »die Freiheit der jeweiligen Akteure« ausdrückt (aaO., 202) ausdrückt. Ähnlich steht es um die bei Klie zitierte Äußerung Michael Meyer-Blancks, dass Protestanten »insgesamt etwas von der Fähigkeit fehlt, sich dem Ritual gänzlich auszuliefern« (zitiert aaO., 200). 701 AaO., 202 Das genaue Verhältnis zwischen beiden Klassen wie etwa ihre Gemeinsamkeiten bleibt jedoch offen. Auch die Tatsache, dass Klie einerseits Iteration zu den Kennzeichen des Ritus zählt (s. o. Anm. 698), andererseits aber die Iteration den ›Spielregeln‹ des Rituals, dem Ritus aber die Interpretation zuordnet (vgl. a. a. O., 202), wird nicht erläutert.
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den genannten Kritikpunkten der These von der Notwendigkeit des Abschieds vom Ritualbegriff fragwürdig erscheinen.702
4.3.4 Fazit Die Ritualität des Gottesdienstes wird auch in neueren Publikationen nicht als neutrale Kategorie verstanden, deren sich die Theologie zur besseren Analyse und Gestaltung ihrer religiösen Praxis bedient. Die mitunter emphatische Ablehnung des Ritualbegriffs lässt deutliche Parallelen zur früheren Diskussion erkennen und weckt protestantische Urreflexe der Abwehr gesetzlicher, fixierter, nicht dem freien Belieben überlassener Formen. Anders als bei den zuvor untersuchten kritischen Stimmen ist jedoch nun die Reflexivität des protestantischen Gottesdienstes, die als sein Kern verstanden wird, der Ausgangspunkt der Kritik. Häufig liegt dabei ein Ritualbegriff zugrunde, der zum einen die Wirkung von Ritualen einseitig als stabilisierend festschreibt und damit ein weiteres Anliegen des protestantischen Gottesdienstes zu unterlaufen scheint, zur Nachfolge und insbesondere zum religiöse motivierten Handeln »im Alltag der Welt« aufzurufen. Zum anderen erschließt sich den Autoren häufig nicht die Relevanz eines auf ethnologischer Grundlage im Kontext von Studien vormoderner Kulturen gewonnenen Begriffs für die Religionspraxis moderner, westlicher Gesellschaften. Dabei zeig sich die Notwendigkeit, zum einen die Erkenntnisse des liturgischen Ritualdiskurses in den siebziger Jahren neu in Erinnerung zu rufen. Ferner gilt es, die Rezeption neuerer nichttheologischer Ritualtheorien zu erweitern. Werden ›Ritual‹ und ›Ritus‹ wie bei Klie als unvereinbare Alternativen verstanden, zwischen denen es zu wählen gilt, scheint die mit dem Wechsel vom Ritus- zum Ritualbegriff in der Liturgik der 1970er Jahre verbundene Verschiebung zugunsten eines nicht per se theologischen Begriffs in Vergessenheit geraten zu sein. Der ›Ritus‹ als Theoriegestalt soll nicht zuletzt in Abgrenzung von der inflationären Verwendung des Ritualbegriffs in der Alltagssprache ins Spiel gebracht werden. Doch eine Ausblendung der allgemeinen Ritualtheorie kann kaum befriedigen. Im Folgenden soll als Bündelung der bisherigen Einsichten die Aufgabe eine Ritualtheorie formuliert werden, die sowohl auf den Erkenntnissen des Ritualdiskurses seit den siebziger Jahren aufbaut, aber zugleich die Kritik ernst nimmt, die auch in jüngerer Zeit immer wieder dazu geführt hat, den 702 Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn Klie im Seitenblick auf die Studie von Simone Fopp, in der die »Reflexion über das Ritual […] als Teil des Rituals« betrachtet wird (Trauung – Spannungsfelder und Segensräume. Empirisch-theologischer Entwurf eines Rituals im Übergang, Stuttgart 2007, 109), darin eine begrifflich nicht statthafte Ausdehnung des Ritualbegriffs sieht, anstatt diese Einsicht in den eigenen Ritualbegriff zu integrieren. Gerade diese Spur, die Auseinandersetzung mit dem Ritual als zum rituellen Vollzug gehörig zu verstehen, weil sie durch ihn selbst ausgelöst wird, wird in dieser Arbeit weiterverfolgt.
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Ritualbegriff – in seiner bisherigen Bestimmung – für den protestantischen Gottesdienst abzulehnen.
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5 Zur Aufgabe evangelischer Ritualtheorie Die vorangegangene Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Spielarten protestantischer Ritualkritik ist die Voraussetzung, um die zentralen Grundsätze festzuhalten, denen eine Ritualtheorie des protestantischen Gottesdienstes gerecht werden muss. Sie hat sogleich das Ungenügen der bisherigen Ansätze deutlich werden lassen. Da eine Überführung der Anfragen in ein neues Theoriekonzept bisher nicht unternommen wurde, soll die Kritik an den bisherigen Theorien wie auch die im letzten Abschnitt herausgestellten problematischen Annahmen innerhalb der kritischen Anfragen an eine Bestimmung des evangelischen Gottesdienstes als ›Ritual‹ hier nun dazu dienen, die Aufgabe einer protestantischen Ritualtheorie zu formulieren. Für den Rahmen einer solchen Theorie ist zunächst festzuhalten: Fragen nach der Ritualgestalt behandeln keine ›heilsnotwendigen‹ Gegenstände, sie sind weder die notwendige Voraussetzung kirchlicher Einheit noch ein berechtigter Grund für Spaltungen (CAVII). Rituelle Formen müssen frei Zwang vereinbart, vollzogen und gepflegt werden. Gleichzeitig muss der Wunsch nach einer verbindlichen Form als anthropologisch begründetes, religiöses und daher auch liturgisch ernst zu nehmendes Bedürfnis gelten. Auch im Blick auf die Ritualität gilt es, an Luthers doppelten Freiheitsbegriff anzuknüpfen und die Freiheit zur Formgebung als Hilfsmittel zu verstehen, um sowohl dem Glauben einen zeit- wie sachgemäßen Ausdruck verleihen zu können, als auch der leiblich-geistigen Verfasstheit des Menschen zu entsprechen. Eine protestantische Ritualtheorie muss die spezifisch protestantische Flexibilität, Variabilität und Kreativität im Umgang mit liturgischen Formen integrieren können. Sodann muss auch die Bestimmung des Gottesdienstes als Ritual dem reflexiven Zugang zum Gottesdienst wie auch den liturgischen Reflexionsgestalten, allen voran der Predigt, gerecht werden. Dadurch verbietet sich eine schlichte, isolierte Aufteilung in Liturgie und Predigt, in unwesentlichen Rahmen und wesentlichen Kern. In der Diskussion wurde immer wieder und zurecht betont, dass der Gottesdienst auch innerhalb des liturgischen Rahmens auf den »ganzen« Gottesdienst des Menschen, d. h. auf sein christlich motiviertes Handeln im Alltag verweisen muss. Dieses umfasst Liturgie und Diakonie, Feier und Alltag gleichermaßen. Eine Ritualtheorie, welche die Grenze zwischen Liturgie und Leben zu starr zieht und in – beiderseitiger – Selbstgenügsamkeit mündet, wäre eine nichtstatthafte Verkürzung. Thomas Klie hat versucht, das spezifisch Liturgische, aber auch das Protestantische am gottesdienstlichen Ritual mit dem Begriff des »Ritus« zu erfassen. Damit ist der berechtigte Wunsch verbunden, von einem theoretisch aufgeladenen und zugleich unterbestimmten Theoriekonstrukt hin zu einer beschreibenden, handlungsanalytischen Kategorie zu wechseln. Wie aber müsste ein so gestalteter Ritualbegriff gefasst sein, der den evangelischen
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Gottesdienstritus angemessen beschreibt und der zugleich inner- wie interdisziplinär anschlussfähig ist? Den Kritikern des Ritualbegriffs scheinen die innerhalb des Ritualdiskurses der 1970er bis 90er Jahre entwickelten Ansätze darauf keine befriedigenden Antworten zu geben. Auch der hier unternommene Durchgang durch die große Bandbreite von Ansätzen und Perspektiven hat immer wieder Desiderata erkennen lassen. Kritiker des Ritualbegriffs beklagen seine mangelnde Spezifik (4.3.1). Er sei zu vielgestaltig, um überhaupt rituelle Phänomene exakt als solche zu beschreiben. Zugleich argumentieren dieselben Kritiker stets auf der Grundlage eines spezifisch gefassten Ritualbegriffs, um sich genau von diesem zu distanzieren. Der Begriff soll, so die Vorstellung, vor allem dem vermeintlichen bzw. vermeintlich protestantischen Spezifikum des Nebeneinanders von rituellem Rahmen und reflexiver Rede als dem Kern des Gottesdienstes gerecht werden. Doch derart zurechtgestutzt sind von vornherein die Möglichkeiten begrenzt, den Gottesdienst als Ganzes hinsichtlich seiner rituellen Gestalt in den Blick zu nehmen. Noch dazu wird dabei die Tendenz sichtbar, die Ritualität des Gottesdienstes als konfessionelle Frage zu klassifizieren, deren Beantwortung lediglich ein entweder/oder zulässt. Dieser Hintergrund lässt zumindest verständlich werden, warum ritualkritische Argumentationen nicht selten rigoristisch und polarisierend verlaufen. Freilich kommt darin auch ein Reflex gegen manche allzu apodiktischen Formulierungen zum Tragen.703 Doch die Abwehr gegen die Unausweichlichkeit ritueller Formen, wie sie ethnologische und soziologische Ansätze unterstellen, kann die Unterscheidung zwischen der theologischen Kategorie der Heilsnotwendigkeit und der Reflexion auf anthropologische Grundmuster nicht immer wahren. Doch genau mit diesen Mustern, die überall dort nachweisbar sind, wo Menschen gemeinsam handeln und diese Handlungen in freiem Entschluss wiederholen, ohne dazu gezwungen zu sein, setzt sich eine Ritualtheorie auseinander. Die bisherige Rezeption der ritualtheoretischen Forschung, die für die jüngere Kritik am Ritualbegriff im Wesentlichen verantwortlich ist, zeugt in mehrfacher Hinsicht von einer verengten und mitunter einseitigen Wahrnehmung. Zum einen konzentriert sich die Auseinandersetzung mit der Ritualität des Gottesdienstes innerhalb der Liturgik noch immer stark auf Jetters Symbol und Ritual. Die Vielfalt der unterschiedlichen ritualtheoretischen Perspektiven, die seit den 80er Jahren entstanden und ihre mitunter spezifischen Antwortversuche auf Ansatzpunkte von Ritualkritik (s. o. 3), werden kaum einbezogen. Darüber hinaus aber verzichtet man auch auf die Einsichten der grundlegenden Verbindung von Ritualität und Frömmigkeitsformen, die Überlegungen zum volkskirchlichen Charakter der Ritualität und 703 Ein häufiger Angriffspunkt expliziter Kritik ist (die Theorie von) Manfred Josuttis. Vgl. etwa Dinkel: Was nützt der Gottesdienst?, 97.
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nicht zuletzt auf die enge Verbindung von Ritualtheorie und empirischen Forschung, die ausgelöst von den Gottesdienststudien zu Beginn der 1970er Jahre einen massiven Forschungsschub auslöste. Zum anderen findet in den neueren Veröffentlichungen im Blick auf sozialwissenschaftliche Ritualtheorien explizit wie implizit noch immer eine Auseinandersetzung mit einer spezifischen Form ethnologischer Ritualtheorien statt, die sich vor allem stammesgeschichtlichen Forschungen verdanken. Damit verbunden ist weiterhin ein Abarbeiten an rituellen Passagetheorien, wie sie van Gennep und Turner vorgelegt haben und die für den Gottesdienst kaum weiterführend sind. Drittens hängt die Abwehrhaltung gegenüber einer Beschreibung des Gottesdienstes als Ritual an der einseitigen Betonung seiner stabilisierenden Funktion mit rein affirmativen Gehalten. Dass Rituale auch andere Funktionen erfüllen und sogar in Widerspruch zu herrschenden gesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Überzeugungen treten können, wurde bereits in frühen Texten gelegentlich erwähnt, ohne dass diese Überlegungen aufgegriffen worden wären.704 Dieser Befund macht nicht zuletzt deutlich, dass die Forschungsergebnisse der neueren Ritual Studies nahezu keine Beachtung finden. Nicht zuletzt angesichts der seit Ende 1980er Jahren rasant gestiegenen Publikationszahlen zum Themengebiet ›Ritual‹ stellt dies eine erhebliche Beschränkung dar.705 Dem Impuls, den Werner Jetter mit der Thematisierung des Gottesdienstes als Ritual konfessionsübergreifend für die Liturgiewissenschaft setzen wollte, wird gegenwärtig nahezu ausschließlich nur in der katholischen Liturgiewissenschaft entsprochen. Auch deren Einsichten werden evangelisch kaum rezipiert.706 Daraus ergeben sich weitere Folgen für die Wahrnehmungsfähigkeit der Liturgiewissenschaft in Bezug auf den Gottesdienst. Da Ritualität noch immer, so der Vorwurf der Ritualkritik, lediglich die Aspekte der Stabilisierung und Orientierung betone, drohe im Gegenzug eine einseitige Ausrichtung auf Flexibilität und situative Gestalt der Liturgie. Dabei werden die Konstanten in der Feiergestalt und ihr Charakter als wiederholte Handlungen vernachlässigt. Diese Gegenüberstellungen bestätigen die frühe Feststellung Jack Goodys, dass Ritualtheorien dazu neigen, auf bewussten und unbewussten Dichoto704 Die kritische Dimension hatte etwa E. Herms im Rückgriff auf R. Bocock zu bedenken gegeben (vgl. Herms: Gottesdienst als »Religionsausübung«, 152). Auch bei Jetter wurde dies mit Blick auf die Ritualpraxis der bekennenden Kirche angedeutet (s. o. S. 160). 705 Vgl. o. Anm. 132. 706 S. u. 10. Das fällt besonders im Beitrag von Thomas Klie auf. Die ritualtheoretischen Veröffentlichungen in deutscher Sprache werden teilweise zur Kenntnis genommen, etwa die Forschungen von Christoph Wulf und Jörg Zirfas, doch bleibt dies für seine Begriffskonstruktion ohne erkennbare Wirkung. Eine frühe Ausnahme, wenn auch nicht unmittelbar auf dem Gebiet der Liturgik, ist die Publikation von G nter Thomas: Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt a. Main 1998, bes. 386–455. Zur Auseinandersetzung mit Roy Rappaport vgl. Anm. 672.
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mien aufzubauen.707 Dadurch wird auch dem Spektrum unterschiedlicher Partizipationsformen am Ritual weniger Beachtung zuteil. Wenn damit schließlich pauschal der Ausschluss jener Orte verbunden ist, »wo geheimnisvolle Rituale« stattfinden, droht die Liturgik auch theologisch den Anschluss an das »Geheimnis des Glaubens« zu verlieren, von dem her und auf das hin sie ihr Ziel hat. Freilich ist unter diesem »Geheimnis« kein Ort zu verstehen, der nicht zumindest soweit wie möglich auf seine intelligible Zugänglichkeit hin zu prüfen ist. Nicht zuletzt dieser Annahme verdankt sich die Auseinandersetzung mit dem Ritual in liturgiewissenschaftlicher Perspektive wie die vorliegende. Das Negieren der Ritualität des Gottesdienstes und der Anwendbarkeit des Ritualbegriffs ist schließlich auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht für die Praktische Theologie kritisch zu beurteilen. Wird diese, um noch einmal zu den Grundlagen zurückzukehren, mit Friedrich Schleiermacher als »positive Wissenschaft« bestimmt, die über kein eigenes Wissen verfügt, sondern ihre Wissensbestände zum Zweck der Bearbeitung der ihr gestellten Aufgabe grundsätzlich aus anderen Wissenschaften entlehnt, dann gilt dies auch für ihr Begriffsrepertoire. Ein sprachlich-begriffliches Abkoppeln liefe Gefahr, sich auch von den Einsichten anderer Wissenschaften auszuschließen.708 Damit wäre für die Praktische Theologie auch die Möglichkeit verloren, jene Einsichten zu rezipieren, welche zu einer Kritik gottesdienstlicher ritueller Formen wie auch einer Selbstkritik der Ritualtheorie beitragen. Gerade die Hinweise auf die rituell organisierten Machtverhältnisse und die bewusste, strategische Wahl des Rituals als Handlungsweise würden innerhalb eines vermeintlich rein situativen, auf explizit diskursive Reflexionsgestalten fokussierenden Interpretationsansatzes des Gottesdienstes verklärt. Auch die Tendenz ritueller Inszenierungen, sich im Gestus des »Natürlichen«, »Gegebenen« zu präsentieren, bedarf einer Kritik, für die die Ritualtheorie hilfreiche Erkenntnisse beizutragen vermag.709 Die notwendige rituelle Ordnung sowie die Akzeptanz dieser Ordnung, die den gemeinsamen Vollzug ermöglicht, darf nicht als gegeben vorausgesetzt werden. Sie ist selbst Folge des rituellen Charakters des Gottesdienstes, die selbst wiederum liturgiewissenschaftlich zu reflektieren ist. Die Applikation des Ritualbegriffs in der liturgischen Forschung kann nicht primär zum Ziel haben, eine eigene, allgemeine Ritualtheorie zu erstellen – auch wenn hier gewonnene Einsichten Auswirkungen auf allgemeinere Ritualtheorien entfalten können. Sie stellt vielmehr eine 707 In einer Weiterführung hat Catherine Bell das dichotomische Denken als problematische Grundlage nahezu der gesamten Ritualforschung seit Durkheim herausgearbeitet (s. u. 8.3.2). 708 Damit wird Friedrich Schleiermachers Verständnis der Entstehung und Notwendigkeit von Theologie aufgrund des Zurücktretens symbolischer Handlungen (vgl. Kurze Darstellung, § 2) freilich ebenso überschritten wie sein Verständnis konfessioneller Unterschiede, die auch ein konfessionsspezifisches Maß an Ritualität unterstellt. 709 »Insofar as a ritual appears natural and ›innocent‹, it plays a central role in power structures« (Wulf: Praxis, 405).
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Wahrnehmungshilfe für liturgische Vorgänge und Prozesse zur Verfügung. Grundsätzlich geht es darum, der Wechselseitigkeit von gelebtem, gefeiertem Glauben und der Theologie als ihrer Reflexionsgestalt zu entsprechen und beide kritisch aufeinander zu beziehen. Nicht anders wäre eine evangelische Rezeption der Formel »lex credendi – lex orandi«710 oder das positive Wechselverhältnis von theologia prima und theologia secunda anzulegen. Ebenso wenig wie der Gottesdienst selbst, so muss vor dem Hintergrund der seit der empirischen Wende gesammelten anthropologischen, soziologischen und psychologischen Erkenntnisse auch die rituelle Gestalt des Gottesdienstes nicht erst ihr Existenzrecht beweisen. Unter der Voraussetzung also, dass es sich beim evangelischen Gottesdienst um ein Ritual handelt – zumal die Teilnehmer zu großen Teilen selbst davon ausgehen, hier eine rituelle Formen ihres Glaubens zu praktizieren711 –, muss die evangelische Liturgik darum bemüht sein, einen adäquaten Ritualbegriff und damit eine Ritualtheorie zu entwickeln, welche dem tatsächlichen Ritualverhalten gerecht wird, dieses zu analysieren wie auch zu gestalten hilft. Spieltheoretische (3.3) und mehr noch phänomenologische Ansätze (3.5) hatten vermehrt die Perspektive aller Ritualakteure einbezogen und jenseits der sozialen Funktion von Ritualen nach den konkreten Handlungsvollzügen selbst gefragt. Damit lässt sich nun auch die Aufgabe einer Ritualtheorie formulieren, welche die rituellen Prozesse innerhalb der Feier des evangelischen Gottesdienstes zu beschreiben vermag. Eine liturgische Ritualtheorie muss auf genauer Beobachtung und Analyse des tatsächlichen Ritualverhaltens der Akteure aufbauen.712 Ob sich dabei eine konfessionelle Spezifik nachweisen lässt, muss zunächst offen bleiben. Dazu müssen die Erkenntnisse verschiedener Forschungsdisziplinen berücksichtigt werden, die sich mit rituellem Verhalten und rituellen Handlungen auseinandersetzen und sich in den modernen 710 Vgl. Frieder Schulz: Evangelische Rezeption der Formel »lex ordandi – lex credendi«, in: LJ 49 (1999), 182–184; Geoffrey Wainwright: Der Gottesdienst als ›Locus theologicus‹ oder: Der Gottesdienst als Quelle und Thema der Theologie, in: KuD 28 (1982), 248–258; sowie jüngst die Auslegung der Dictums Tiro Prosper von Aquitaniens durch Julia Knop: Lex orandi – lex credendi. Prinzipientheologische Modelle zur systematisch-theologischen Relevanz des Gottesdienstes, in: Stephan Wahle/Helmut Hoping/Winfried Haunerland (Hg.): Römische Messe und Liturgie in der Moderne, Freiburg 2013, 269–302, 300: »Die Stärke des Axioms liegt darin, auf die gegenseitige Erschließungskraft von Inhalt und Gestalt, Aussage und Vollzug des Glaubens aufmerksam zu machen. Feier und Bekenntnis bilden eine Einheit, so sehr, dass keines ohne das andere vollständig oder verständlich wäre.« 711 Das Entdecken der Tatsache, dass es sich beim ›Ritual‹ um eine Beobachterkategorie handelt, wird oft verwechselt mit der Tatsache, dass die Akteure selbst von ›Ritualen‹ sprechen und grundsätzlich einordnen können, was sie unter einem ›Ritual‹ verstehen. Das müsste man einbeziehen, wenn etwa dem gottesdienstlichen Segen mit erhobenen Händen durch eine Pfarrerin ein ritueller Status abgesprochen werden soll (vgl. Klie: Fremde Heimat Liturgie, 193). 712 S. u. 9.1.1.
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Ritual Studies bündeln. Im Sinne sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit wäre somit der etische Standpunkt durch die Erschließung des emischen zu ergänzen, sodass externe und interne Perspektive, Beobachter- und Teilnehmerperspektive gleichermaßen Beachtung fänden. Ferner wäre das Verhältnis von Handlung und Bedeutung oder Bedeutungszuschreibung genauer zu analysieren, das in mehreren Ansätzen noch immer als weitgehend außerhalb des rituellen Vollzugs bzw. als dessen Unterbrechung verstanden wurde.713 Erst dann kann eine solche Theorie plausibel machen, warum Menschen nach wie vor am gottesdienstlichen Ritual teilnehmen – trotz berechtigter Kritik, trotz rückläufiger Tendenz der Besucherzahlen, trotz einer tendenziellen Minderung gesellschaftlichen Interesses – und warum dieses für das Selbstverständnis der Gemeinden wie der Kirche insgesamt kaum zu überschätzen ist.714 Warum also wählen und pflegen sie gerade die rituellen Formen der Kommunikation des Evangeliums und empfinden diese als passende Gestalt, ihren Glauben zu leben und zu feiern?715 Begründungsmuster, die allein auf Traditionswahrung und Sozialisierung abstellen, hatten bereits seit Ende der 60er Jahre deutlich an Plausibilität verloren.716 Um sich diesen Fragen zu nähern, muss der protestantische Vorbehalt vor dem »bloßen Ritual« ebenso zurückgestellt werden, wie die noch immer unterschwellig wirksame Annahme, Rituale seien durchweg invariable, affirmative, reflexionsvermeidende und ausschließlich stabilisierend wirkende Handlungen. Wie also steht es um die Einbettung von Ritualen in den kulturellen und lokalen Kontext und was bedeutet der allgemeine liturgische Anspruch der Situationsadäquanz für die Gestaltung von Ritualen? Schließlich, was besagt die Rede von der Deutungsoffenheit von Ritualen und welche Art von Reflexivität lässt sich darin finden? Im Folgenden sollen die bisherigen Einsichten der Ritualforschungen des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Ritual Studies für die liturgische Diskussion rezipiert werden. Die innerhalb der protestantischen Liturgik geleistete Forschung hat wichtige Einsichten in die soziologisch-funktionale Aufgabe von Ritualen erlaubt und im Blick auf Psychoanalyse, Kommunikations- und Spieltheorie unterschiedliche Dimensionen rituellen Handelns erarbeitet. Die dabei häufigen Pauschalisierungen haben sich jedoch immer wieder als problematisch erwiesen. Hans-Günter Heimbrock hatte auf einen »weit verbreitete[n] Widerspruch zwischen theoretisch behaupteter Bedeutung des mündigen Subjekts vor Gott und dem praktischen Ignorieren individuellen Erlebens und Verstehens von Gottesdienst«717 hingewiesen, der für 713 So etwa bei Michael Meyer-Blanck, s. o. 3.1.2. 714 Zum Nebeneinander von Reduktion, Transformation und Stabilität vgl. etwa Raschzok: Gottesdienst feiern, 34. 715 Redet man hier von »Stützen« (Dinkel), auf die der Protestantismus verzichten müsse, wird etwa verkannt, dass es sich beim Ritual um eine bewusst gewählte Strategie handelt. 716 S. o. 2.4. 717 Heimbrock: Gottesdienst, 101.
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die liturgische Praxis-Theorie noch nicht adäquat bearbeitet ist. Umso mehr soll der Fokus auf die Handlung selbst und ihre Wahrnehmung aus Sicht der Akteure gelegt werden. Dabei bleibt die generelle Frage erhalten, wie das rituelle Handeln im evangelischen Gottesdienst am besten zu bestimmen ist.
II Das Ritual als Handlung 6 Geschichte und Bestimmung der Begriffe ›Ritus‹ und ›Ritual‹ Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit soll die Frage, was ein Ritual ist, aus Sicht der nichttheologischen Wissenschaften, insbesondere der sogenannten Ritual Studies beantwortet werden. Als Einstieg wird eine Begriffsgeschichte zum ›Ritual‹ vorangestellt, deren Schwerpunkt auf der Verwendung im liturgischen und religiösen Kontext liegt. Dadurch wird der historischen Tatsache Rechnung getragen, dass das Begriffsfeld ›Ritual‹ seit Beginn der frühen Neuzeit wesentlich durch seinen Bezug zur christlichen Religionspraxis geprägt ist. Zugleich soll deutlich werden, seit wann und unter welchen Vorzeichen sich ein eigenständiger Ritualbegriff innerhalb der Religions-, Human- und Sozialwissenschaften ausgeprägt hat.
6.1 ›Ritual‹ zwischen Handlungsweise, Anweisung und Buchtypus Die heutige Verwendung des Wortes ›Ritual‹ ist vom Sprachgebrauch der Antike in mehrfacher Hinsicht zu unterscheiden. Ein antiker Sammelbegriff für die in der Gegenwart darunter zusammengefassten Handlungen existierte so nicht. Das im Deutschen erst seit dem 18. Jahrhundert verwendete Wort ›Ritual‹ leitet sich ab vom lateinischen »ritualis« ab und bedeutet zunächst »den Ritus betreffend«. Das Nomen »ritus« meinte in der Antike eine (religiöse) Vorschrift oder Zeremonie. Innerhalb der römischen Sakralsprache bezog sich der Begriff aber auch auf den »Brauch«, mit dem »religiöse Handlungen (ceremoniae, religiones, sacra) auszuführen«1 waren. Das entsprechende Adverb »rite« bezeichnete sowohl die angemessene und den vorgeschriebenen Zeremonien entsprechende, aber auch die gewöhnliche und herkömmliche Weise, eine Handlung zu vollziehen. Rituelles Handeln stellte also zunächst eine spezifische Handlungsform dar. Die lange Zeit übliche Gleichsetzung von Ritual und Zeremonie ist in der antiken Verwendung aber bereits angelegt.2 Schon in dieser Zeit finden sich zudem Hinweise auf eine 1 Andreas Bendlin: Art. Ritual VII. Klassische Antike, in: DNP Bd. 10 (2001), 1039–1041, 1040. Vgl. auch Reinhold Glei/Stephanie Natzel: Art. Ritus I. Antike und Mittelalter, in: HWP Bd. 8 (1992), 1052–1060, 1053. Die durchgängige Verwendung im religiösen Kontext löste sich zwar zunehmend auf, es blieb jedoch eine vorwiegend modale Verwendungsweise bestimmend. 2 Etwa wo eine Inschrift aus dem 4. Jh. v. Chr. die die Einhaltung der ›ritus sollemnes‹ anmahnt (Elog. 6. Corpus inscript. lat. I1, 191, zitiert ebd.).
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pejorative Verwendung des Wortfeldes, häufig dann, wenn mit »riten« vor allem die Kultbräuche anderer Völker und Religionen bezeichnet werden.3 Weiterhin standen bereits in der Antike Riten in unmittelbarem Zusammenhang mit schriftlich niedergelegten deskriptiven wie präskriptiven Anweisungen zur Durchführung religiöser Handlungen, einschließlich der zu rezitierenden Texte, den sogenannten »libri rituales«.4 Auch das Christentum kannte bereits seit den ersten Jahrhunderten derartige Ritenbücher. Ansätze finden sich beispielsweise im 1. Clemensbrief, der Didache (beide um 100 n. Chr. entstanden) und der Traditio Apostolica (bis 4. Jahrhundert). Dort werden die Abläufe gottesdienstlicher und sakramentaler Handlungen verzeichnet sowie Anweisungen für den Vollzug gegeben. Mit fortschreitender Institutionalisierung des Christentums nahmen auch diese Bücher zunehmend verbindlicheren Charakter an und zielten auf eine über ihren lokalen Entstehungskontext hinausreichende Geltung. Nach der Jahrtausendwende entwickelte sich der Buchtypus des Rituale. Neben dem die bischöflichen Handlungen beinhaltenden Pontifikale enthielt das Rituale alle dem Priester zukommenden Vollzüge, insbesondere die Kasualien. Die explizite Bezeichnung als Rituale taucht jedoch erst im 16. Jahrhundert auf. Ihre Durchsetzung gegenüber einer lange herrschenden Begriffsvielfalt5 verdankt sie vor allem der Herausgabe des Rituale Romanum Pauli Quinti Pontifici Maximi Iussu editum 1614 und der damit verbundenen fortschreitenden Zentralisierungsbemühungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Ihr ging die Einsetzung der Sacra Rituum Congregatio unter Sixtus V. 1588 voran, die damit beauftragt war, Normen für die Ausführung der gottesdienstlichen Handlungen zu erstellen.6 Mit der Epoche der Reformation setzte eine umfangreiche Diskussion über kirchliche Riten ein, die auch den Ritualbegriff wieder stärker in Verwendung brachte.7 Unter Riten wurden aber noch im 17. Jahrhundert eine Vielzahl festgelegte Handlungen verstanden, die nicht notwendig kirchlicher oder religiöser Provenienz waren, wie anhand der Zusätze »ritus Ecclesiasticos« erkennbar wird. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts taucht schließlich neben der lateinischen Bezeichnung ›Rituale‹ erstmals die deutsche Form ›Ritual‹ für diese Buchgattung auf.8 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. dazu einschließlich der Vielzahl der antiken gebräuchlichen Titel für diese Bücher Hubert Cancik: Art. Ritualbücher, in: RGG4 Bd. 7 (2004), 542 f., 542. 5 Andere häufige Bezeichnungen waren etwa ›Agenda‹, ›Manuale‹, ›Ordo‹ und ›Obsequiale‹. Vgl. Manfred Probst: Bibliographie der katholischen Ritualiendrucke des deutschen Sprachbereichs. Diözesane und private Ausgaben, Münster 1993. 6 Im deutschen Sprachraum setzt sich die Bezeichnung Rituale erst im 18. Jahrhundert durch, aber erst im 19. Jahrhundert war die Herausgabe dieser Bücher vollständig in römischer Hand (vgl. aaO., 6). 7 Vgl. G nther Bader: Art. Ritus III. Dogmatisch, in: TRE Bd. 29 (1998), 270–279, 271 f. 8 Z. B. Ludwig Busch: Liturgischer Versuch oder Deutsches Ritual für katholische Kirchen, Erlangen 1803.
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Rituale, Missale und Pontificale bildeten zusammen die liturgische Ordnung des Römischen Ritus, die westliche Einheitsliturgie. Kennzeichen dieses Ritus waren die detaillierten Festlegungen und der verbindliche Anspruch jeder einzelnen Handlung. Die Bücher waren daher entsprechend differenziert und umfangreich.9 Die Unterscheidung von Universal- und Partikularriten weist auf einen weiteren Sprachgebrauch von ›Ritus‹ im Bereich der Liturgie hin, der die gesamte liturgische Ordnung einer bzw. mehrerer (Teil)Kirchen bezeichnet. So existieren neben dem römischen Ritus zahlreiche andere katholische Riten wie der Mailänder Ambrosianische oder der aus Toledo stammende Mozarabische Ritus. Auch die neben dem Römischen Ritus bedeutenden Liturgiefamilien werden als Ritus bezeichnet, wie der Byzantinische, der Antiochenische (Syrien), der Alexandrinische (Äthiopien), der Armenische und der Ostsyrische Ritus. 6.2 ›Ritus‹ und ›Ritual‹ in der protestantischen Theologie Weil der Begriff ›Ritual‹ bis ins 20. Jahrhundert vor allem mit liturgischen Ordnungen nichtprotestantischer Konfessionen assoziiert wurde, lohnt der Blick in die lutherischen Bekenntnisschriften. Da lateinische und deutsche Fassungen der Schriften des Konkordienbuchs getrennt voneinander entstanden, finden sich zahlreiche deutsche Entsprechungen zum lateinischen ›ritus‹.10 Anders als der eng verwandte, teilweise synonym gebrauchte Begriff 9 Bücher, welche die detaillierten Vorschriften zur Art und Weise der Ausführung gottesdienstlicher Handlungen enthielten, wurden als Rubriken bezeichnet. Zuvor waren diese noch in die sogenannten Sakramentare, die Gebetssammlungen für Vorsteher, eingefügt und erschienen im weiteren Verlauf als eigene Werke mit zunehmend rechtlich verbindlichem Charakter. Für das Hoch- und Spätmittelalter hielten die Libri Ordinarii sämtliche Handlungen des faktischen Gottesdienstverlaufs für einzelne Ortskirchen und Klöster fest (vgl. Reinhard Messner: Einführung in die Liturgiewissenschaft, Paderborn 22009, 49). Die inhaltliche Nähe und Verbindung von Rubrik und Ritual wird 1634 explizit benannt bei Bartolommeo Gavanti: Thesaurus sacrorum rituum, seu Commentaria in rubricas missalis et breviarii Romani, Antverpiae 1634. Dieses Werk erfuhr über 200 Jahre hinweg zahlreiche Neuauflagen unter demselben Titel. In enger semantischer Verbindung steht auch der Begriff der Zeremonie. Der erste Teil des Werkes von Johann G. Spengler: Instructio Parochi Circa Tremendum Missae Sacrificium Privatum. Complectens Varia Conscientiae Dubia, Obligationes, Ritus ac Ceremonias, Nec Non Praeparationem Ad Idem, In Commodum et Usum Sacerdotum, Augustae Vind./ Monachii 1744, enthält die für Rubrikenbücher typische Kasuistik aller Eventualitäten innerhalb der Messfeier, wie also zu verfahren ist, etwa wenn die Hostie beschädigt oder der Priester vor Empfang der Kommunion von Übelkeit befallen ist etc. Der zweite Teil, überschrieben »De ritibus, ac Ceremoniis«, behandelt zunächst ausführlich die liturgischen Gebärden. Voran stellt Spengler den Artikel »De obligatione servandi Ritus ex Concilio Romano«. Darin heißt es über die Verbindlichkeit des vorgeschriebenen Altardienstes: »… non pro libitu inventi, & irrationabiliter inducti, sed recepti, & approbati Ecclesiae Catholicae Ritus, qui in minimo etiam sine peccato negligi, omitti, vel mutari aud possunt, peculiari studio, ac diligentia serventur« (aaO., 102 f.). 10 Folgende Entsprechungen finden sich in Confessio Augustana, ihrer Apologia sowie in der
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der ›Ceremonie‹, der sowohl im lateinischen wie auch im deutschen Text vorkommt, wird ›ritus‹ hier noch im lateinischen Text verwendet. Interessant ist die Bandbreite dessen, was unter Riten verstanden wurde. Der Begriff war keineswegs ausschließlich auf den religiösen Kontext beschränkt. So ist etwa die Rede von »civiles ritus«, die in der deutschen Fassung mit »Polizei und bürgerlichem Wesen« wiedergegeben werden.11 Im Bereich der Liturgie wurden mit ›ritus‹ einzelne Handlungen wie die Krankensalbung benannt. Auch die Ordnung des Kirchenjahres wie der Festtage und Fastenzeiten konnten damit bezeichnet werden.12 Häufig fungiert ›ritus‹ als Sammelbegriff für sämtliche liturgische Bräuche und zeremoniellen Handlungen (»pluribus ritibus«). Zentral für die protestantische Haltung zum Ritualbegriff war die Aussage in CA VII, dass es »nicht nötig zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche [sei], daß allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden«. Die Rede von den »gleichförmigen Zeremonien« stellt eine Kurzfassung der in der lateinischen Fassung gebotenen Trias von »traditiones humanas, seu ritus aut cerimonias« dar. Damit standen die Riten im Kontext der Abgrenzung von übergreifender Vereinheitlichung, die angesichts lediglich menschlicher Ordnungen nicht zu rechtfertigen ist. Sie werden als Teil des Gottesdienstes zwar vorausgesetzt, ein eigener Stellenwert innerhalb der Ekklesiologie bleibt ihnen jedoch verwehrt. Unter dem Aspekt der von Menschen eingesetzten, innerhalb der Kirche zur Ordnung zweckdienlichen Einrichtungen werden schließlich auch die bischöflichen bzw. landesherrlichen Kirchenordnungen als ›ritus‹ bezeichnet. Generell ist der Begriff hier eher positiv konnotiert und nicht als Abgrenzungsbegriff. Riten sind »gute Gewohnheiten« (FC X). Melanchthon bezeichnet Sakramente als Riten, die einem göttlichen Gebot entsprechen (»ritus, qui habent mandatum Dei et quibus addita est promissio gratiae«13). Auffällig ist im Vergleich mit der antiken Verwendung, dass der modale Aspekt völlig verschwunden ist. Liturgietheologisch diskutiert wird in der Reformationszeit ausschließlich ob und unter welchen Bedingungen bestimmte Riten überhaupt ausgeführt werden dürfen, ob sie zweckdienlich, pädagogisch sinnvoll etc. sind. Wie diese Formula Concordiae: ›Menschensatzung‹, ›menschliche Ordnung‹, ›Ceremonie‹; ›äußerliches Zeichen‹; ›äußerliche Ceremonie‹; [›Gottesdienst‹]; ›Kirchengewohnheiten‹. Zu den lateinischen Begriffen, die in das Bedeutungsfeld von Ritualen fallen vgl. Gerhard Scheidhauer: Das Recht der Liturgie. Zum Liturgie- und Rechtsbegriff des evangelischen ius liturgicum, Hamburg 2001, 96. 11 BSELK, 403. 12 »…das das volck wüste, wenn es solt zusamenkomen, das inn den kirchen alles ördenlich und züchtiglich umb guter Exempel willen zugienge, das auch das gemein, grob volck inn einer feinen kinderzucht gehalten würde« (aaO., 527). 13 AaO., 513 (ApolCA XIII; nach Melanchthon Loci Communis von 1521). Die deutsche Fassung spricht von »eusserlichen zeichen und Ceremonien, die da haben Gottes befehl und haben ein angeheffte Göttliche zusage der gnaden« (aaO., 512).
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auszuführen sind, spielt hingegen keine Rolle. Zugleich ist auffällig, dass hier die Grundlagen gelegt sind für ein Verständnis ritueller Handlungen, was durchaus mit Zweckdienlichkeit und daher mit Beweglichkeit und Veränderbarkeit verbunden ist – und das eben innerhalb eines grundsätzlich stark ritualisierten, d. h. von Ritualen bestimmten privatem, religiösen und gesellschaftlichen Lebens. Das Zusammendenken von Ritualität und Dynamik wurde nicht nur in der Folgezeit gänzlich vergessen, sondern steht auch für eine ritualtheoretische Analyse des Gottesdienstes bis heute noch aus. Der Typus des Ritualbuchs findet sich auch im Protestantismus. Auch hier wird der lateinische Begriff des Rituale im liturgischen Bereich verwendet. Dabei fällt auf, dass in der altprotestantischen Orthodoxie wie im Katholizismus eine juristische Konnotation vorliegt, welche die Verbindlichkeit bestimmter Riten regeln soll.14 In Caspar Calvörs 1705 erschienenem Ritualis ecclesiastici steht der Begriff gemäß der orthodoxen Systematik im Zusammenhang der Lehre von der Gesetzgebung Gottes.15 Diese findet ihren Niederschlag vor allem in den Moral-, aber auch in den Zeremonialgesetzen. Der Großteil der biblischen Zeremonialgesetze des Alten Testaments hat für Calvör seine Gültigkeit verloren. Doch nicht zuletzt die kirchlichen Sakramente mit ihrer neutestamentarischen Begründung machen diese Kategorie keinesfalls irrelevant. Die unter das Zeremonialgesetz fallenden Riten werden wiederum in solche unterteilt, denen ausdrücklich ein biblisches – und damit göttliches – Gebot zugrundeliegt und andere, welche sich allein menschlicher Einrichtung verdanken.16 Für die erste Gruppe gilt, dass deren Handlungsformen strengster Verbindlichkeit unterliegen. Innerhalb dieser Klasse gibt es zugleich auch andere Riten, die zwar ihren Ursprung in göttlichen Geboten haben, jedoch keine konkreten Handlungsformen etwa für Bestattung und Eheschließung vorgeben. Für jene rein konventionellen Riten gilt, dass deren Beibehaltung vornehmlich aufgrund ihrer Tradition erfolgt.17 Riten sollen generell, so Calvör, möglichst kaum verändert werden, solange sie dem Glauben nicht widersprechen. Jesus Christus selbst sei dieser Praxis in Bezug auf die ihm vorliegenden Riten gefolgt. Nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Schwachen sei dieses Vorgehen notwendig – ein Motiv, dass bei der Darstellung des Umgangs mit dem Ritual Gottesdienst bei Luther wieder begegnen wird. Damit tritt neben das sonst vorherrschende juristische Motiv ein seelsorgerliches, welches geeignet ist der Bezogenheit von Ritualen auf ihren Kontext und die nötige Anpassung in das Nachdenken für rituelle Gestal14 Wichtige Erkenntnisse finden sich bei Detlef Reichert: Der Weg protestantischer Liturgik zwischen Orthodoxie und Aufklärung, Münster 1975. 15 Caspar Calvçr: Ritualis ecclesiastici opus historico-didascalico-paideuticum, Jena 1705. Vgl. dazu Reichert: Der Weg protestantischer Liturgik, 224. 16 Ähnlich unterscheidet bereits die Brandenburg-Nürnberger Kirchenordnung von 1533 innerhalb des Taufritus zwischen Kirchenbräuchen, »die Gott befohlen und eingesetzt hat und was die Menschen darzu getan haben« (EKO XI/1, 174). 17 Vgl. Reichert: Der Weg protestantischer Liturgik, 82–92.
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tungen einfließen zu lassen – wenngleich dies in der Praxis kaum Umsetzung fand.18 Denn das Recht, Urheber die Riten betreffender Änderungen zu sein, räumen viele Theologen nur dem Bischof ein.19 Dieser – als politischer Landesherr zuerst an »Ruhe und Ordnung« interessiert – orientierte sich bei der Ausübung des ihm zugestandenen ius liturgicum im Hinblick auf die Gestaltung der Riten sowie der Frage ihrer kontextuellen Adaption vornehmlich auf deren genaue Einhaltung, nicht zuletzt aus Gründen der staatlichen und kirchlichen »disciplina«.20 Dass die Disziplin den Rituale im Sinne einer normierenden und somit auch einen liturgischen Qualitätsstandard konstituierenden konkreten Vollzugsanleitung in der Folge kaum noch vorhanden, aber insbesondere im Umfeld liturgischer Bewegungen mitunter stark vermisst wurde, zeigt etwa Oskar Mehls Schrift Liturgisches Verhalten von 1927 mit dem Untertitel: »Beiträge zu einem evangelischen Zeremoniale und Rituale«. 6.3 Enzyklopädische Zugänge zum Ritualbegriff Der neuzeitlichen Verwendung des Ritualbegriffs näherte man sich im 18. Jahrhundert an, insofern der exklusive Zuschnitt auf die christliche Liturgie überschritten wurde. Noch die erste Auflage der Encyclopaedia Britannica von 1771 enthält neben einem Eintrag zum Stichwort »Rite«, worunter »the particular manner of celebrating divine service, in this or that country« verstanden wird, auch einen Eintrag zum Stichwort »Ritual«: »a book directing the order and manner to be observed in celebrating religious ceremonies, and performing divine service in a particular church, diocese, order, or the like.«21 Beide Begriffe werden somit noch im Bereich der Liturgie im engeren Sinne verortet. Einerseits wird auf ein Ritualbuch Bezug genommen, andererseits die Verbindlichkeit der spezifischen Ausführung betont. Zugleich wird aber bereits eine Pluralität verschiedener ›Weisen‹ konstatiert. Bereits in der dritten Auflage (1797) wird bezüglich antiker Ritualbücher und der darin beschriebenen normativen Rituale und Zeremonien ›Ritual‹ nicht mehr als ausschließlich christlich bestimmter Begriff, sondern als religions- und sozialwissenschaftliche Kategorie. Interessanterweise verschwinden die beiden
18 In Bezug auf die Entlastungsfunktion des Rituals im Rahmen psychologisch orientierter Ritualtheorien wird dies ebenfalls wieder von Relevanz sein. 19 »Auf diesem Hintergrund ist Müllers [sc. Philipp Müller, der Verfasser der dem Rituale vorangestellten Praefatio, RG] Position auf den Grundnenner zu bringen, daß sämtliche Riten generell beizubehalten und nur im (Not-)Fall tatsächlich, d. h. dogmatisch erwiesenen Irrtums zu ändern sind, was dann jedoch ausschließlich in die Kompetenz bischöflichen Rechts fällt« (aaO., 227). 20 S. u. 12.5. 21 EBrit1 Vol. III (1771), 553.
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Stichworte in der achten Auflage wieder.22 Erst in der 11. Auflage von 1911 kehrt das Stichwort »Ritual« zurück, dann jedoch in erheblichem Umfang von fünf Spalten und in geradezu weitsichtiger Beschreibung der Grenzen der bisherigen Ritualforschung. Mehr als eine »minimum definition«, dass es sich beim Ritual um die »routine of worship« handelt, wagt man nicht; zu vielgestaltig bietet sich der Ritualbegriff angesichts der Erkenntnisse der entstehenden Religionswissenschaft nun dar.23 Damit kristallisierte sich der Ritualbegriff hier zunehmend als Beobachter- wie auch als Vergleichskategorie verschiedener religiöser Phänomene heraus.24 In ihrer ersten Auflage verzeichnet die Real-Encyklopädie für protestantischen Theologie und Kirche von 1884 lediglich einen Eintrag zum »Rituale Romanum«.25 Der 1906 erschienene 17. Band der zweiten Auflage der Realencyklopädie behandelt das »Rituale Romanum« nun auf eineinhalb Seiten. Dabei werden zunächst allgemein Ritualbücher als »katholische liturgische Bücher« bestimmt, bei denen es sich um Hilfen handelt, um die kultischen Handlungen »richtig vollziehen zu können«. Auf die Anfänge religionsgeschichtlicher Forschung und das stark gewachsene Wissen um Rituale, nicht zuletzt durch die Forschungen Max Müllers, wird hier im Vergleich mit der ausführlichen Behandlung in der Encyclopaedia Britannica lediglich durch einen Verweis auf eine Erwähnung der Gruppe der »Ritualisten« eingegangen. Der Ritualbegriff wurde trotz seiner religionsgeschichtlichen Erweiterung im deutschen Protestantismus lange exklusiv mit dem römischen Katholizismus in Verbindung gebracht. Ähnlich fällt der Befund zunächst bei dem als Handwörterbuch in gemeinverständlicher Sprache konzipierten Lexikon der Religion in Geschichte und Gegenwart aus. Die erste Auflage von 1913 verweist unter dem Stichwort »Ritual« einerseits auf »Liturgie«, andererseits auf den Artikel »Erscheinungswelt der Religion«. Es folgt der Eintrag zu »Ritualbücher (und Agenden)«, in welchem trotz der ausdrücklichen Erwähnung von »Agenden« lediglich die verschiedenen Typen katholische Liturgiebücher behandelt werden. In der liturgischen Fachsprache setzte sich der Begriff des ›Rituals‹ in religionswissenschaftlich-distanzierender Redeweise langsam durch. Dabei 22 Auch in der hauptverantwortlich von William Robertson Smith (s. u. 7.1) mitherausgegebenen 9. Auflage findet sich zum »Ritual« kein Eintrag. 23 EBrit11 Vol. XXIII (1911), 370. Interessant ist hier bereits die Beschreibung einer charakteristischen Handlungslogik (»its rationale is […] that by bringing subordinate functions under an effortless rule it permits undivided attention in regard to vital issues«, die vor allem den Zielen der »stability and continuance« des institutionalisierten Sozialsystems der Religionen dient. 24 Dass hier gleichwohl starke Interessen im Hintergrund standen und etwa die englischen Forscher meist in einem sehr dezidierten – bis ablehnenden – Verhältnis zu ihren Kirchen standen, zeichnet Jan Platvoet nach: Ritual: Religious and Secular, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 161–205. 25 Dabei wird auch auf die ursprüngliche Vielfalt hingewiesen, welche durch das von Paul V. 1614 herausgegebene Handbuch mehr und mehr verdrängt wurde. Verhandelt wird auch das generelle päpstliche Streben, die lokale Formenvielfalt zu vereinheitlichen.
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wurden Rituale vor allem der außerchristlichen Religionen sowie Katholizismus zugeordnet. In Julius Smends Gottesdienstlehre von 1904 findet sich der Hinweis, der evangelische Glaube zeichne sich gerade dadurch aus, dass er »seinem Volke kein Ritual vor[schreibt], nach dessen Bestimmung sich der wechselseitige Verkehr zu vollziehen hätte.«26 In der zweiten Auflage der RGG von 1930 fehlt der Eintrag »Ritual«. Stattdessen folgt nun aber auf die religionsübergreifende Behandlung von »Ritualbüchern«27 (mit dem Zwischenschritt »Ritualmord«) ein ausführlicher Artikel von Friedrich Pfister zum Begriff »Ritus«. Dieser wird definiert als »feste[r] Brauch im Gebiet der Religion und Magie«.28 Zugleich wird der Ritus modal verstanden als »geregelte und vorgeschriebene Art und Weise, mit der eine religiöse und magische Handlung vorgenommen wird«. Interessant dabei ist zum einen der Anschluss an die antike Wortverwendung, zum anderen die Beschreibung aus Sicht der Handelnden – im Gegensatz zur bisher üblichen Darstellung aus der Perspektive derer, welche den Ritus festlegen und damit andere Handelnde auf diese Ordnung zu verpflichten suchen.29 Ausgehend vom indischen wie vom griechischen Ritusbegriff fasst Pfister zusammen: »Also zum Ritus gehört Tradition und der Hüter der Tradition.« Zudem geraten auch Ritus-ähnliche Phänomene in den Blick, die als Resultat einer »zentrifugalen«, jeder Religion innewohnen »Kraft« verstanden werden und somit stets abgeleitete Phänomene darstellen. Der Ritus wird dann zum »profanen Brauch und zur Sitte«.30 Schließlich geht Pfister auf die Dynamik des Ritus ein. Nicht nur variieren rituelle Vorschriften in ihrer Verbindlichkeit, Riten können auch wegfallen, sollten sie »einem erreichten höheren Kultur- und Geisteszustand nicht mehr entsprechen«, sie können durch Reform beseitigt werden und zugleich im Brauchtum modifiziert weiterleben. Umgekehrt kann ein Zunehmen an Strenge im Ritus zum »Ritualismus« verkommen, wenn der Ritus nur noch um seiner selbst willen ausgeübt wird. Insgesamt überrascht die Modernität wie auch die durchweg neutrale Dar26 Julius Smend: Der evangelische Gottesdienst. Eine Liturgik nach evangelischen Grundsätzen, Göttingen 1904, 2. 27 Ritualbücher, welche insgesamt die Bemühung widerspiegeln, einen möglichst korrekten Vollzug zu gewährleisten, werden nun nicht mehr exklusiv auf katholische Riten hin untersucht, sondern auch mit Blick auf Judentum, »chinesische Religion«, »Indien« und andere v. a. antike Religionen. Dabei bemerkt der Autor auch, dass der chinesische Begriff für Ritual nicht nur auf religiöse, sondern auch für profane Bräuche verwendet wird. Für christliche Ritualbücher wird nun auf den Artikel zu ›Liturgie‹ verwiesen. 28 Friedrich Pfister: Art. Ritus, in: RGG2 Bd. 4 (1930), 2057–2059, 2057. 29 Besonders deutlich wird dies auch am Schluss des Artikels: »Dem Bestehen eines festen R[itus] auf Seiten der objektiven Religion entspricht im subjektiven Verhalten des Menschen einmal das Bewusstsein der Pflicht dem R[itus] gegenüber, sodann das Gefühl der Furcht, den R[itus] zu verletzen. […] Eine Verletzung des R[itus] kann als Sünde gelten […], und andererseits kann bereits die erfüllte Pflicht dem Ritual [sic!] gegenüber als Frömmigkeit angesehen werden und die Frömmigkeit allein im Ausüben des Rituals bestehen« (aaO., 2059). 30 AaO., 2058. Pfister zieht dabei die Parallele von der Entwicklung des Ritus mit jenen von Tanz und Theater, die ebenfalls der Religion entstammen.
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stellungsweise. Als legitim wird gar die Möglichkeit verstanden, dass »bereits die erfüllte Pflicht dem Ritual [sic!] gegenüber als Frömmigkeit angesehen werden und die Frömmigkeit allein im Ausüben des Rituals bestehen« kann.31 Der darin sichtbare Grad an Offenheit gegenüber rituellen Handlungs- und Partizipationsformen wird auch in den folgenden Jahrzehnten innerhalb der Praktischen Theologie weder rezipiert noch erreicht. In der dritten Auflage von 1961 findet sich ein Artikel zu »Ritualbücher[n]«. In diesem von Siegfried Morenz verfassten Artikel wird »Ritus« wieder enger gefasst als »gottesdienstliche Begehung«.32 Der »Ritus«-Artikel selbst, verfasst vom Kulturanthropologen Wilhelm Emil Mühlmann, fokussiert auf die soziale Stipulierung der stereotypen ritueller Handlungen, von denen religiöse Riten eine Untergruppe bilden. Hier finden sich jene Zuschreibungen an die Funktion des Rituals, die lange Zeit als kanonisch galten: Riten beruhen auf dem »menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit« und verlangen exakte Befolgung ihrer Regeln.33 Sie verdanken sich der Konventionalisierung »spontaner Motilitätsimpulse [sic!] Einzelner«, die durch Ritualisierung in ihrer Wirkung »entschärft« und von den »ursprünglichen Sinnerfüllungen« abgetrennt von einem Kollektiv wiederholt werden, wobei die Einzelnen »mitmachen wollen oder müssen«: »Hierin liegt eine immanente Tendenz des R[itus] zur Veräußerlichung.« Damit taucht zugleich ein traditionelles Motiv protestantischer Ritualkritik auf, das im Blick auf die Impulse der Reformationszeit noch näher zu bestimmen sein wird (s. u. 12).34
6.4 Zusammenfassung und Vorschlag zur Begriffsverwendung In der Antike bezeichnet ›ritus‹ zeremonielle Vorschriften und Bräuche, die in einer spezifischen Weise (›rite‹) ausgeführt werden. Konstitutiv für den Ritualbegriff ist hier das Nebeneinander von modalen, auf die Handlung selbst bezogenen Charakteristiken und ihrer Verbindlichkeit. Durch die Reformation trat der Begriff neu ins Bewusstsein, war jedoch – wie in der CA wird 31 AaO., 2059. Der freie Wechsel von Ritus zu Ritual zeigt die noch offene Begrifflichkeit. 32 Siegfried Morenz: Art. Ritualbücher, in: RGG3 Bd. 5 (1961), 1124–1126, 1124. Der Ägyptologe Morenz versteht Ritualbücher vor allem als Medien der Traditionsvermittlung. Neben Quellen aus der australischen Stammesreligion (vgl. Durkheim, s. u. 6.3.1) bezieht er sich hauptsächlich auf altägyptische und mesopotamische Ritualbücher. 33 Vgl. Wilhelm E. M hlmann: Art. Ritus, in: RGG3 Bd. 5 (1961), 1127f., 1127. Damit klingt beiläufig die Bedeutung der Intention für den korrekten Vollzug des Rituals an, die das Zentrum der Ritualtheorie von Humphrey/Laidlaw bilden wird (s. u. 9.3). Mühlmann betont zugleich die »Verlaufsganzheit« des Rituals, demzufolge eine von der Vorschrift abweichende Handlung zur Wiederholung des Ganzen nötigt. Auch dies wird mit Humphrey/Laidlaw zu korrigieren sein. 34 Interessant auch ist Mühlmanns Lösung: Nicht um Abschaffung oder das Kreieren neuer Riten gehe es, sondern um »Neudeutung und Umstiftung« (aaO., 1128). Distanzierend referiert er auch die seiner Ansicht nach katholische Auffassung, dass dem »vielleicht nur konventionellen Mitmachen […] zugetraut [werde], daß es auf die Dauer nach innen prägend wirken werde.«
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deutlich wird – keineswegs ausschließlich auf religiöse Zeremonien beschränkt. Dies änderte sich erst mit der Einführung und Verbreitung des Rituale Romanum. Unter »Ritualen« wurden nun ausschließlich liturgische Bücher verstanden, deren Verbindlichkeit mehr und mehr nach dem Vorbild juristischer Gesetze behandelt wurde. Diese Verrechtlichung und die damit verbundene Verfestigung betraf sowohl die katholische wie auch die protestantische Konfession. Enzyklopädisch blieb der Begriff der ›Ritualbücher‹ vorwiegend katholische besetzt, während man im Protestantismus von Agenden sprach. Die durchgängige und selbstverständliche Verwendung des Ritusbegriffs in der katholischen Liturgik hat später den Anschluss an den Ritualdiskurs erheblich erleichtert. Ende des 19. Jahrhunderts bildet sich der moderne, religionswissenschaftlich Ritualbegriff heraus, der religionsübergreifend zugleich als Beobachter- wie als Vergleichskategorie verwendet wurde. In der englischsprachigen Forschungsliteratur fand dies wesentlich früher Niederschlag als im deutschen Sprachraum. Der Vergleich der jeweiligen ›Ritus‹-Artikel der RGG von 1930 und 1960 hat gezeigt, wo jene, noch bis heute als Gemeingut geltenden Ansichten über Rituale als Stabilitätsgaranten sich innerhalb der enzyklopädischen Standardwerke etabliert haben. Wurde 1930 rituelles Handeln noch als legitime Form von Frömmigkeit akzeptiert, wird dies später einerseits konfessionell katholisch zugeordnet und andererseits als Verlust einer ursprünglich lebendigen religiösen Handlung verstanden, deren Stereotypisierung dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit entspricht. Die Perspektive der Handelnden tritt vorerst hinter eine allgemeine Funktionsbeschreibung von Ritualen zurück. Die weitere begriffsgeschichtliche Entwicklung wie die Auseinandersetzung über die Frage, ob etwa ein religiöser Bezug für rituelle Handlungen konstitutiv ist, wird im Rahmen der weiteren Darstellung der Geschichte der Ritual Studies erneut thematisiert werden. Zu Beginn der intensiven Auseinandersetzung mit dem Ritualbegriff innerhalb der Liturgik wurden beide Begriffe weitgehen synonym verwendet (Jetter, Heimbrock sowie Bader und Preul). Auf die Notwendigkeit einer begrifflichen Klärung und Unterscheidung hat besonders Thomas Klie hingewiesen. Dabei bleibt es für die Theologie unverzichtbar, auch begrifflich auf interdisziplinäre Anschlussfähigkeit zu achten. Zugleich muss sie sich davor hüten, die eigenen Begriffe losgelöst von der alltagssprachlichen Verwendung zu konstruieren. Ein notwendiger Schritt auf diesem Weg ist die Unterscheidung zwischen ›Ritus‹, ›Ritual‹ und ›Ritualisierung‹, wie sie in Kapitel 8 vorgenommen wird.35 35 Beispiel für eine Verwendung des Begriffs ohne Beachtung des ritualtheoretischen Diskurses (s. u. 8.2.1) findet sich bei Kristian Fechtner: Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten, Gütersloh 22011, 37. Hier sind selbst Taufe und Trauung keine Rituale mehr – als kollektiv verpflichtende Handlungen –, sondern »Ritualisierungen« mit Traditionsbezug, die immer wieder neu ausgestaltet werden müssen.
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Die Unterscheidung zwischen ›Ritus‹ und ›Ritual‹ wird für die Liturgiewissenschaft in Anlehnung an die Terminologie von Ronald Grimes36 vorgeschlagen: Als Ritus ist sowohl ein in liturgischen Büchern und Agenden festgelegtes Handlungsgefüge zu bezeichnen, wie auch einzelne liturgische Sequenzen. So kann etwa vom Ritus des Abendmahls oder der Taufe die Rede sein, aber auch bei Friedensgruß und Fürbittengebet ist von Riten zu sprechen.37 Die Geschichte, Interpretation und Gestaltung der gottesdienstlichen Riten ist wesentlicher Teil liturgiewissenschaftlicher Forschung und kirchenleitenden Handelns. Der Ritualbegriff ist hingegen weiter zu fassen. Der Religions- und kulturwissenschaftlichen Verwendung entsprechend bezeichnen Rituale zunächst eine spezifische Handlungsform. Damit ist der Ritualbegriff nicht auf liturgische oder religiöse Phänomene begrenzt. ›Rituale‹ existieren nicht als Gegenstände in der Welt, sie verdanken sich wissenschaftlicher Begriffsbildung. Diese dient dem Vergleich, der Unterscheidung, aber auch der Abgrenzung von anderen Handlungstypen. Die charakteristischen Eigenschaften des Rituals Gottesdienst sind daher auch mit Blick auf vergleichbare Rituale (anderer Religionen) herauszustellen. Die Liturgik jedoch bedarf somit eines eingehenden Verständnisses beider Begriffe und der unten ihnen subsumierten Forschungsgegenstände: sie muss sowohl die christlichen Liturgien verstehen, also auch liturgisches Handeln als eine Form rituellen Handelns einordnen können und dabei gemeinsame und unterscheidende Merkmale gegenüber anderen Ritualhandlungen analysieren können.38 Dabei sollte nicht zu rasch die Inkommensurabilität liturgischer Riten im weiten Feld der Rituale behauptet werden, bevor nicht die Gemeinsamkeiten gründich ausgelotet wurden.
36 Vgl. Ronald L. Grimes: The Practical and Cultural Contexts of Ritual Criticism, in: Ders.: Ritual Criticism, 5–25, 9f. S. u. 8.2.1. 37 Anders Manfred Hutter: Art. Ritus/Ritual I.1 Religionswissenschaftlich. Zum Begriff, in: RGG4 Bd. 7 (2004), 547f., 547, der vorschlägt, beide Wörter nicht synonym zu verwenden, sondern als »Ritus« den »›kleinste[n]‹ Baustein« eines »Rituals« zu bezeichnen. Was ein solcher Baustein ist, wird nicht erkläutert. Auch die Spannung zum gegenwärtigen Sprachgebrauch, zur Verwendung innerhalb der ritualwissenschaftlichen Diskussion sowie zur Bezeichnung der komplexen Ordnung gottesdienstlichen Lebens innerhalb einzelner Liturgiefamilien als Ritus (s. o.) bleibt unkommentiert. Eine noch einmal andere Bedeutungszuordnungen nimmt Frits Staal vor (s. u. 6.4.1). 38 Vgl. auch o. 4.3.2 und 5.
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7 Von der Funktion zur Form: Das funktionale Paradigma und seine Kritik Weil die gegenwärtig in der evangelischen Liturgik gebräuchlichen Ritualtheorien sich nur unbefriedigend auf den Gottesdienst anwenden lassen, soll hier noch einmal der Weg zurück an die Anfänge der Ritualforschung außerhalb der Theologie gegangen werden. Anhand der Positionen von W. Robertson Smith, mile Durkheim und Frits Staal werden für die weitere Entwicklung der Disziplin der Ritual Studies wichtige Wegmarken benannt. Bereits in den frühen Positionen wird nach Hinweisen gesucht, die das Verhalten der Akteure, ihre Ritualdeutungen sowie ihr Selbstverständnis genauer verstehen lassen. Diese Fragen wurden innerhalb der evangelischen Liturgik bisher kaum oder unzureichend bedacht.
7.1 Die Anfänge: Das Ritual zwischen Mythologie, Psychologie und sozialer Funktion (W. Robertson Smith) 7.1.1 The Religion of the Semites (1889) Die Anfänge der Religionswissenschaft sind eng verbunden mit der Durchsetzung der historisch-kritischen Methode innerhalb der exegetischen Fächer. Beide verdanken ihre leitende Methode dem Grundanliegen des Historismus, alles seiner historischen Genese nach zu erfassen. In der Person des Schotten William Robertson Smith (1846–1894) wird diese Verbindung explizit greifbar. Die Antworten, die Robertson Smith im Laufe seiner alttestamentlichen Forschungen auf die in seiner Antrittsvorlesung in Aberdeen unmittelbar nach seiner Ordination zum Pfarrer 1870 gestellten These »What history teaches us to seek in the Bible« gab, wurden von seiner Kirche, der er sich zeitlebens eng verbunden fühlte, aus dogmatischen Gründen scharf abgelehnt. Die gegen ihn angestrengten Lehrverfahren führten 1881 zur Absetzung von seinem Lehrstuhl. Wie zahlreiche Theologen seiner Zeit fand er nach Verlassen der theologischen Fakultät eine andere universitäre Heimat. Ab 1883 lehrte Robertson Smith Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Arabistik in Cambridge. Der historische Ansatz ließ Robertson Smith beim Gang in die Geschichte nicht nur nach der ursprünglichen Textgestalt heiliger Schriften fragen, sondern nach den sich ursprünglich darin ausdrückenden Glaubensüberzeugungen und den ihnen wiederum zugrunden liegenden religiösen Handlungen und historischen Ereignissen. Leitend war dabei die Annahme, auf diese Weise zur Urform von Religion überhaupt vorstoßen zu können.
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In seinen 1888 in Aberdeen gehaltenen und ein Jahr später unter dem Titel Lectures on the Religion of the Semites39 publizierten Vorträgen versuchte Robertson Smith die Grundzüge »der Religion der Semiten« herauszuarbeiten. Neben seinen philologischen Kenntnissen griff er dabei auch auf die Erfahrungen aus seinen Reisen in die arabische Welt zurück, in denen er sich besonders den kulturellen Bräuchen und religiösen Riten der dort lebenden Menschen zugewandt hatte.40 Robertson Smith war der Überzeugung, in dieser Gegend der Welt noch immer Reste der ursprünglichen Religionspraxis aufspüren zu können. Die Sprache und andere Merkmale der dort lebenden ›Rasse‹ gaben ihm Anlass zur Vermutung einer ursprünglichen Einheit der semitischen Kultur. Die später neu in dieser Region entstandenen Religionen Judentum, Christentum und Islam hätten keineswegs einen totalen Neuanfang gesetzt, sondern stünden in bleibender Verbindung mit den zuvor dort überlieferten Glaubensüberzeugungen und Bräuchen.41 Die Geschichte der Religion war für Robertson Smith nur interdisziplinär in der Verbindung von Philologie, Theologie und Ethnologie zu rekonstruieren. Sein Bild ›Religion der Semiten‹ zeichnet er anhand einer Untersuchung zum ›Tempelritual‹ des Opfers, das im Alten wie im Neuen Testament selbstverständlich vorausgesetzt wird, ohne seinen Ursprung je zu erklären. Erst eine Analyse der semitischen Religion kann diese Erklärung nachtragen. Alle Religionen manifestieren sich für Robertson Smith in ihren Glaubensbekenntnissen sowie in ihren Institutionen, d. h. vornehmlich ihren rituellen Praktiken und Verhaltensnormen.42 Die zentrale Bedeutung der Moral in den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Religionen darf jedoch nicht zu einer blinden Übertragung auf antike Religionen führen. Einerseits kam in der Antike nicht der religiösen Überzeugung die primäre Rolle zu, sondern der religiösen Praxis. Andererseits war nicht ein wie auch immer geartetes Glaubensbekenntnis das Gegenstück zur religiösen Praxis, sondern eine Erzählung in Gestalt des Mythos. Doch auch diese Verbindung kann keineswegs zwangsläufig oder ursprünglich gelten, sondern ist Resultat historischer Entwicklung.43 Damit wandte sich Robertson Smith gegen die Vorstellung, 39 William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites, hg. von Stanley A. Cook, New York 31969. Deutsche Übersetzung durch Rudolf Stübe, Freiburg 1899. 40 Vgl. James Muilenberg: Prolegomenon, in: William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites, 1–27. 41 Vgl. Smith: Lectures, 2: »No positive religion that has moved men has been able to start with a tabula rasa, and express itself as if religion were beginning for the first time; in form, if not in substance, the new system must be in contact all along the line with the older ideas and practices which it finds in possession.« Die Seitenzahlen entsprechen der 3. Auflage von 1907. 42 Vgl. aaO., 16. 43 »So far as myths consist of explanations or ritual, their value is altogether secondary, and it may be affirmed with confidence that in almost every case the myth was derived from the ritual, and not the ritual from the myth; for the ritual was fixed and the myth was variable, the ritual obligatory and faith in the myth was at the discretion of the worshipper« (aaO., 18).
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dass Rituale Mythen nachvollziehen bzw. nachspielen. Rituale bilden für ihn stattdessen die Grundlage, auf die der Mythos sich bezieht. Mit dieser These war ein fundamentaler Wandel in der bisherigen MythosRitus-Debatte markiert. Maßgeblich war zuvor die Ansicht von Edward Burnett Tylor (1832–1917), der in seinem zweibändigen Werk über Primitive Culture von 1871 die Abhängigkeit des Rituals vom Mythos zu beweisen versucht hatte.44 Für Robertson Smith galt hingegen das Ritual als die ursprüngliche Gestalt der Religion, der Mythos also Folgeerscheinung. Für die Rekonstruktionsversuche einer »Religion der Semiten« stand damit fest: »The conclusion is that in the study of ancient religions we must begin, not with myth, but with ritual and traditional usage.«45 Im Zusammenhang mit Überlegungen zum Ritualbegriff und zur rituellen Handlungsform interessiert im Folgenden weniger die Stufenfolge der Entwicklung der Religion von ihrem ursprünglich rein rituellen Charakter hin zu einer Bekenntnisreligion, die Robertson Smith versucht darzustellen.46 Auch die Frage nach der Gültigkeit seiner These über den Zusammenhang von Ritual und Mythos, soll hier nicht näher bewertet werden.47 Dargestellt werden soll vielmehr, wie die von Robertson Smith dem Ritual zugeschriebenen Eigenschaften, Funktionen und Leistungen mit seiner Bestimmung des Charakters ritueller Handlungen zusammenhängen.
7.1.2 Rituale als fixierte und zugleich deutungsvariable Gesellschaftsformierung (1) Rituale als fixierte Handlungen. Bei der näheren Bestimmung des Rituals geht Robertson Smith von der Annahme aus, dass Rituale Handlungen sind, die einer strengen (»rigorously«) Fixierung unterliegen, sowohl in Bezug auf die jeweils konstitutiven Elemente wie auch in Bezug auf die Regeln zur Durchführung.48 Das dafür nötige und verbindliche Wissen stammt allgemein aus der »religious tradition«.49 Obgleich die Religion als Ganze im Lauf der Geschichte erhebliche Veränderungen erfahren hat, war es die rituelle Tradition, »which embodied the only fixed and statuatory elements of the religi44 Vgl. Robert A. Segal: Myth and Ritual, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 101–121, 103). Zu den zahlreichen Aufnahmen und Variationen der Theorie innerhalb der ›Myth and Ritual School‹ vgl. Bell: Ritual, 6f. 45 Smith: Lectures, 18. 46 Vgl. Bell: Ritual, 4. 47 Vgl. zur Kritik bereits Clyde Kluckhohn: Myths and Rituals. A General Theory, in: HThR 35 (1942), 42–79; für die gegenwärtige Einschätzung mit umfassenden Literaturangaben zur MythRitual-School vgl. insgesamt Segal: Myth and Ritual. 48 »They must be performed at certain places and at certain times, with the aid of certain material appliances and according to certain mechanical forms« (84). 49 Smith: Lectures, 18.
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on«50. Dieser Fixpunkt, der zugleich die Religion in ihrem ursprünglichen Stadium repräsentiert (»pure and simple«51), ist zugleich Garant der Wirksamkeit des Rituals. Die Forderung nach einer exakten »performance of certain sacred acts« verlangt von den Akteuren nicht nur kein individuelles Verständnis, sondern das Verständnis überhaupt ist sogar völlig entkoppelt von der Wirkung des Rituals: »provided that he fulfilled the ritual with accuracy, no one cared what he believed about its origin.«52 Deshalb kam es gerade auf den korrekten Vollzug an. Die zunehmende Sanktionierung von Abweichungen als Rechtsvergehen verstärkte die Bedeutung satisfaktorischer Sühnopfer. Damit wurde dem Ritual sein ursprünglich fröhlicher Charakter mehr und mehr genommen, und die rituelle Bandbreite eingeschränkt.53 Weil Robertson Smith durchweg die Vorordnung von Praktiken und Institutionen vor Erklärungen derselben betont, kann er die Rückwirkungen veränderter Erklärungsmuster auf die Praxis kaum einbeziehen. Unter dem Ritualbegriff wendet er sich zudem allein aus dem Alltag herausgehobenen Anlässen im Leben der religiösen Gemeinschaften zu, vor allem den großen jährlichen Opferfesten. Denn erst das Opfer bringt die kultische Handlung zum Abschluss.54 (2) Ritualdeutungen treten sekundär zu Ritualen hinzu und sind variabel. Entsprechend der These von der historischen Priorität des Ritus gegenüber dem Mythos und sämtlicher Deutungen, erfährt der Ritus auch formal eine Priorisierung: auf der einen Seite steht das fixierte, stabile Ritual, auf der anderen Seiten Interpretationen desselben, die aufgrund ihrer Variabilität nur als »extremely vague»55 zu charakterisieren sind – nicht zuletzt deshalb, weil überhaupt die Frage nach einer »orthodoxen« Auslegung im Frühstadium einer Religion keine Rolle spielt. Dass die Deutung schließlich die Form des Mythos annimmt, setzt den Verlust des Wissens um eine ursprüngliche Bedeutung der Ritualhandlung bereits voraus. Mythen dienen der Legitimation gegenwärtig hinterfragter und unverständlich gewordener Rituale. Doch diese Strategie, verlorene Plausibilität wiederzuerlangen, geht auf Kosten der Emotionalität des Rituals und erzeugt eine Mechanistik der Durchführung. Dadurch verliert für Robertson Smith das Opferritual auch seine ursprüngliche ethische Kraft.56 Mythenbildung ist sodann Zeugnis eines Prozesses zunehmender Spiritualisierung, der bereits in biblischen Texten greifbar wird. Nicht mehr konkrete Handlungen und tatsächlich existierende Orte stehen im 50 51 52 53
AaO., 20. Ebd. AaO., 18. Vgl. Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997, 117. 54 Vgl. Smith: Lectures, 162. 55 AaO., 18. 56 Vgl. aaO., 413.
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Zentrum des Rituals, sondern Metaphern, die als Träger theologischer Aussagen fungieren.57 Die Entwicklung der Verschiebung von Handlung zur Erklärung befördert zugleich eine Verinnerlichung der Religion. (3) Die wesentliche Funktion des Rituals ist eine soziale. Im Zentrum der Religion, wo der Ritus seinen Ort hat, steht für Robertson Smith nicht das Individuum und seine Suche nach Heil, sondern die Gesellschaft, ihr Fortbestand und ihr Wohlergehen: »Religion did not exist for the saving of souls but for the preservation and welfare of society.«58 Wie das rituelle Handeln seinen Deutungen vorausgeht, so auch das Soziale (Clan) dem Privaten (der Verwandtschaft, Familie). Das religiöse Leben hat sich nicht vom Privaten ausgehend auf die Gesellschaft ausgeweitet, sondern umgekehrt war die soziale Gemeinschaft des Clans der primäre Bezugspunkt des Lebens. Auch der religiös wichtigen Frage nach dem eigenen Schicksal kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Wer diese Bestimmung missachtete und sich mittels religiöser Rituale einen persönlichen Vorteil verschaffen will, vergeht sich nach Robertson Smith an der Gemeinschaft.59 Das Ritual ist somit verknüpft mit einem spezifisch ethischen Anspruch: »Thus every act of worship expressed the idea that man does not live for himself only but for his fellows and that this partnership of social interests is the sphere over which the gods preside and on which they bestow their assured blessing.«60 In seiner Rekonstruktion der verschiedenen Opferrituale gelangt Robertson Smith zur Überzeugung, dass die mit ihnen verbundenen Mahlgemeinschaften zum Verzeht des Totemtiers sowohl eine Tischgemeinschaft innerhalb der Gruppe konstituierte, als auch im übertragenen Sinn als Gemeinschaft mit Gott gedeutet wurde. Hier wurde der Einzelne seiner Zugehörigkeit zur Gruppe versichert und an die Priorisierung des Gemeinwohls vor dem Einzelwohl erinnert.61 Weil das Totemtier zur Gruppe gehörte, verbat sich eine private Schlachtung. Das Ritual war ausschließlich kollektiv zu vollziehen. Fundiert wurde die Idee der Gemeinschaft durch die Annahme, dass Menschen und Götter einer gemeinsamen Familie angehören, deren Mitglieder durch Blutsverwandtschaft verbunden sind. Davon zeugt für Robertson Smith nicht zuletzt die Anrufung Gottes als »Vater«. Die soziale Gemeinschaft wird somit zur Familiengemeinschaft, deren kollektives Leben als heilig erachtet wird.62 Heiligkeit ist dabei nicht zu verstehen als Qualität, die einem 57 Als Beispiel erwähnt Robertson Smith die im Jesajabuch vollzogene Transformation des Zions vom tatsächlich lokalisierbaren heiligen Ort zur Beschreibung eines symbolischen und damit virtuellen Wohnortes Gottes (vgl. aaO., 117). 58 AaO., 23; vgl. auch aaO., 202. 59 Vgl. aaO., 264. 60 AaO., 264 f. 61 Vgl. aaO., 267. 62 Vgl. aaO., 401.
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Ding oder einer Person zukommt, sondern als eine Verpflichtung, dieser Sache gegenüber ein bestimmtes Verhältnis einzunehmen und daraus folgend Beschränkungen im Umgang zu beachten.63 Die Heiligkeit des Blutes führt zu zahlreichen Blutriten, welche die Blutsgemeinschaft zur Darstellung bringen sollen, etwa in Form von Besprengungen. Aber auch andere Riten zielen auf eine Wirksamkeit (»efficacy«) ab: Es geht um den Schutz der Gottheit, Sühneleistung, unbewusst aber auch um die Gemeinschaft selbst. Hierbei stützt sich Robertson Smith allerdings ausschließlich auf interpretierende Quellen, weniger auf reine Ritualbeschreibungen. Hinter den verschiedenen Formen von Wirksamkeit steht letztlich die Vorstellung einer Kommunikation und Gemeinschaft mit der Gottheit und unter den Gruppenmitgliedern.64 In diesem Zusammenhang spricht er von psychischen Auswirkungen des Rituals auf die Gruppe: Die Teilnehmer des Rituals sind verbunden durch eine »common emotion«65. Der Darstellung des Rituals als sozialer Handlung korrespondiert ihr konstitutiver Bezug zur Öffentlichkeit: »every complete act of worship […] had a public or quasi-public character«66. Damit steht das Ritual zugleich in engem Verhältnis zur öffentlichen Sphäre der Politik und der gesamten Organisation des Gemeinwesens. Politik und Religion gehören beide in den Bereich der »social custom«, des sozialen Umgangs. Deshalb könne religiöse »Nonkonformität« – hier wiederum bezogen auf die Ebene der Handlung, nicht der Gesinnung – zugleich als Angriff auf das politische Gemeinwesen verstanden werden, der die soziale Basis unterminiert und damit die Gunst der Götter, die diese trägt. Die erwähnte Vorordnung religiöser Institutionen vor ihren theoretischen Grundierungen trifft auch auf den politischen Bereich zu.67 Die Fokussierung auf die rituelle Handlung führt damit bei Robertson Smith auch zur Betrachtung der institutionellen Rahmenbedingungen und auf die sozialen Wirkungen.
63 »Holiness is essentially a restriction on the license of man in the free use of natural things« (aaO., 150). 64 »The one point that comes out clear and strong is that the fundamental idea of ancient sacrifice is sacramental communio, and that all atoning rites are ultimately to be regarded as owing their efficacy to a communication of devine life to the worshippers, and to the establishment or confirmation of a living bond between them and their god« (aaO., 439). 65 AaO., 260. 66 AaO., 264. 67 Vgl. aaO., 18. Die Einsicht in die Verwandtschaft der beiden Bereiche kann bei einem Alttestamentler kaum überraschen. Auch in Frazers Golden Bough von 1890 spielt das sakrale Königtum eine entscheidende Rolle.
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7.1.3 Fazit und Ausblick: Ritualtheoretische Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert Mit The Religion of the Semites wirkte Robertson Smith gleich in mehreren Hinsichten als wichtiger Impulsgeber ritualtheoretischer Forschungen des 20. Jahrhunderts. Die Arbeit war zunächst prägend für die Mythos-RitualDebatte, insbesondere durch seinen Schüler James George Frazer. Indem Robertson Smith die Handlungsdimension von Religion gegenüber ihren Interpretationen in den Vordergrund stellte, entkoppelte er nicht zuletzt die Entwicklung der Religion vom Mythos. Nicht jede Religion muss im Laufe ihrer Geschichte eine mythische Phase durchlaufen. Zwar musste sich die Religionswissenschaft schließlich generell von der Vorstellung trennen, Ritual und Mythos seien überhaupt in ein chronologisches Schema einzupassen, in dem sich die jeweiligen Einflüsse aufeinander eindeutig trennen lassen. Auch musste man die Hoffnung aufgeben, auf diesem Wege der Ritualrekonstruktion zu einer Ur-Religion vorzudringen, da nicht zuletzt das Quellenmaterial diese Projektion verweigert. Dennoch lassen sich Linien der Debatte ausgehend von Robertson Smith bis zu literaturwissenschaftlichen Forschungen der Gegenwart, etwa zu Autoren wie Ren Girard und Walter Burkert ziehen. So verweist die Frage nach dem Mythos als Teil des Rituals auf performative Ansätze, die Text und Handlung in Verbindung bringen, Textrezeption als Handlung verstehen. Auch wird mittlerweile nach der sozialen Funktion des Mythos gefragt, die bei Robertson Smith noch allein dem Ritual vorbehalten blieb.68 Nicht weniger prägend waren Robertson Smith’ Ansätze für die psychologische und psychoanalytische Erforschung des Rituals. Robertson Smith hatte unbewusste Prozesse ausfindig gemacht, die während des Ritualvollzugs in den Teilnehmern stattfänden und jenseits der – teilweise von den Handelnden selbst – vorgetragenen Deutungen des Rituals lägen. Zumindest für die folgenden Jahrzehnte wurde auch die bei Robertson Smith’ angelegte zentrale Stellung des Totems innerhalb der frühen, ›primitiven‹ Religionen weiterverfolgt. Vor allem Sigmund Freud hat daraus umfangreiche Schlussfolgerungen gezogen, die den Ritualbegriff nicht zuletzt innerhalb der praktischen Theologie stark geprägt haben.69 Wegweisend für die Ritualforschung wirkte der soziologische Zugang, den Robertson Smith mit seiner Deutung des Opfers als Communio angelegt hatte. Fragen nach der Bedeutung des Rituals für eine Gesellschaft, ihre Konstitution, ihren Zusammenhalt sowie ihre Wertnormierung haben auf dem Feld funktionaler Religions- und Ritualtheorien im Zentrum gestanden. Der folgende Abschnitt wird dieser Spur folgen und ihre Entfaltung bei mile 68 Vgl. Segal: Myth and Ritual, 119f. 69 Vgl. o. 3.1.
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Durkheim zum Zentrum haben. Seine im Anschluss an Robertson Smith formulierte sozial-funktionale Ritualtheorie stellt gegenüber der Weite des Ansatzes von Robertson Smith eine Beschränkung dar, die zudem die Handlung selbst wieder aus dem Blick verliert, d. h. das Spezifikum rituellen Handelns gegenüber anderen, sozial wirksamen Handlungsformen. Bereits der bei Robertson Smith’ vorausgesetzten Ritualbegriff erlaubt erste Implikationen für einen theologisch-liturgischen Ritualbegriff. Zunächst steht die Frage nach dem Ursprung des Rituals bei Robertson Smith im wesentlich größeren Zusammenhang der Frage nach dem Ursprung von Religion überhaupt. Der Ritualbegriff wird dabei stets als gegeben vorausgesetzt.70 Die Riten sind für ihn der Ausgangspunkt, von dem aus er die ›Religion der Semiten‹ rekonstruiert. Die synonym gebrauchten Begriffe ›Ritual‹ (ritual) und ›Ritus‹ (rite) mit Überlappungen zum Begriff der (religiösen) Institution, bezeichnen eine einheitliche, in ihrer Form fixierte, in sich geschlossene Handlung (›das levitische Ritual‹), die den Kern antiker (semitischer) Religion formt und die von ihrer übergeordneten sozialen Bedeutung her verstanden werden muss. Als Hintergrund dieser nachdrücklichen Betonung des sozialen Charakters der Religion darf die zunehmende Privatisierung der Religion in der Moderne vermutet werden, die bereits zu Lebzeiten Robertson Smith’ als Folge der industriellen Revolution und der Herausbildung des Bürgertums an Bedeutung gewann. Diese soziale Bedeutung religiöser Rituale ist jedoch nicht etwa identisch mit den verschiedenen, an sie im Verlauf der Geschichte herangetragenen Deutungen, die schließlich in die Form des Mythos münden. Aber gerade diese Verbindung wird von Robertson Smith mit Skepsis betrachtet. Die eingangs anhand seiner Biographie geschilderten Auseinandersetzungen um theologische Streitfragen und das Bemühen um die Anerkennung differierender Meinungen dürften dabei im Hintergrund gewirkt haben. Auch die von Robertson Smith diagnostizierte Entwicklung der semitischen Religion von der Ausrichtung auf die Gemeinschaft hin zur Sühnewirkung des Opfers, die er im Schema des Verfalls deutet, lässt an protestantische Kritik gegenüber katholischen Sühnopfervorstellungen der Eucharistie denken, die das ursprüngliche Gemeinschaftsmahl verdrängt hat. Bedeutungszuschreibungen, so sein Fazit, neigen dazu, das Wesen des Rituals zu verdecken: »We shall find that the history of religious institutions is the history of ancient religion itself, […] and that the articulate efforts of the antique intellect to comprehend the meaning of religion […], take their point of departure from the unspoken ideas embodied in the traditional forms of ritual praxis.«71 Bedeutungszuschreibungen werden damit als eine der rituellen Praxis nachgeordnete eigene Praxis gewertet. Diese hat ihre Ursache im unausweichlichen Bemühen des Verstandes um Verstehen. Dadurch wird der rituellen Handlung, eben weil sie 70 Vgl. aaO., 103. 71 Smith: Lectures, 25 f.
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in ihrer Form vorgegeben ist, eine ihr zugrundeliegende Idee unterstellt, welche im Ritual verkörpert wird (»embodiment«). Derartige Ideen werden jedoch im Ritual nicht expliziert, sondern bleiben zumeist unausgesprochen. In der Moderne besteht für ihn die Gefahr, die Bedeutung über das Ritual selbst zu stellen. Der Unterscheidung von Ritual und Bedeutungszuschreibung entspricht bei Robertson Smith derjenigen zwischen dem antiken, rituell dominierten, ›primitiven‹ Kult und der hochentwickelten – protestantischen – Religion seiner Zeit. Auch diese Beobachtung plausibilisiert sich im Blick auf Robertson Smith’ Forschungen als Exeget. Sein Bemühen, den Eigenwert der »Semitic Religion« in ihrer rituellen Gestalt herauszustellen, entsprach seinem Anspruch, die eigenständige Bedeutung alttestamentlicher Texte – sowohl als Deutungen wie auch als Quellen ritueller Praxis – innerhalb ihres historischen Entstehungszusammenhangs von nachträglichen allegorischen, christologischen oder ethischen Interpretationen und damit vor zeitgenössischer Vereinnahmung in Schutz zu nehmen. Diese wissenschaftliche Überzeugung hat für ihren Autor mehrfach im Verlauf seiner Karriere negative Folgen gehabt. Der Versuch, die eigene religiöse Kultur im Gegensatz zur antiken Religion zu erhellen, lässt schon an dieser Stelle den Ritualbegriff als Beobachterkategorie hervortreten. Die dadurch einerseits gewonnene Distanz zur Religion ermöglicht es bereits in dieser frühen Phase der Forschung, religiöse Phänomene und deren Dynamik nicht auf dem Hintergrund der Frage nach ihrer Wahrheit, also aus theologischer Perspektive, sondern bezüglich ihrer Handlungsform wie auch ihrer Funktion zu erforschen. Daraus folgt bei Robertson Smith jedoch zugleich eine problematische Generalisierung der von ihm erkannten Grundmuster. Aus ihnen resultierte ein reduktionistischer Ansatz, der auf der Suche nach verallgemeinerbaren Grundmustern der Vielschichtigkeit religiöser Phänomene nicht mehr gerecht werden kann.72 Die für das Ritual charakteristische Verbindung von fixierter religiöser Praxis und sich wandelnder Interpretation kann er nicht zusammenführen. In radikal gesteigerter Weise hat insbesondere Frits Staal mit seiner These von der »Bedeutungslosigkeit des Rituals« diese Trennung zu verschärfen gesucht (s. u. 7.3). Der Paradigmenwechsel, der mit der Vorordnung des Ritus vor dem Mythos beschritten wurde, legte den Keim für die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf das Handeln selbst, auf die rituelle Handlungsweise und die rituellen Akteure. Im historischen Verlauf stand jedoch zunächst die (soziale) Funktion im Zentrum der Ritualtheorie, wie dies beim mil Durkheim besonders deutlich wird.
72 Damit ist bereits eine Folge der oben genannten positiven Konstruktion des Ritualbegriffs genannt. Dieser Aspekt wird in der Darstellung der Ritualtheorie Durkheims (s. u. 7.2) erneut aufgegriffen.
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7.2 Der funktionale Ritualbegriff in . Durkheims Die elementaren Formen des religiösen Lebens Spätestens mit seinem 1912 erschienenen Hauptwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens avancierte mile Durkheim (1857–1917) zum Begründer der Religionssoziologie. Durkheims Religionstheorie stellt den ersten grundlegenden Versuch dar, diese Zusammengehörigkeit von Glaubensanschauungen und Ritualvollzug in nicht-theologischen Kategorien zu beschreiben, ohne dabei eine Seite der anderen unterzuordnen, wie dies in der Ritus-Mythos-Debatte stets der Fall war. Das Werk zählt daher auch für die Ritualtheorie zu den am meisten beachteten Texten und war für funktionale Zugänge zu Religion und Ritual lange Zeit prägend. Der hier gewählten Fragestellung gemäß soll es zum einen um Durkheims Ritualbegriffs gehen, näherhin um seine Bestimmung des Rituals als einer Handlungsweise. Zum anderen soll das Verhältnis zwischen der Handlung selbst und jenen Vorstellungen und Bedeutungen beleuchtet werden, die dem Ritual von Seiten der Akteure zugeschrieben werden. Dabei werden besonders die Rituale begleitenden emotionalen Zustände in den Fokus genommen. Erläutert wird zudem, was Durkheim unter einer »rituellen Haltung« verstand – einem in späteren Ritualtheorien wichtigen Begriff. Abschließend soll eine kritische Würdigung dieses Ansatzes den prägenden Charakter für die Ritualforschung verdeutlichen. 7.2.1 Die Religion als »eminent soziale Angelegenheit« Den Schlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft und der in ihr wirkenden Kräfte sah Durkheim in der soziologischen Erforschung der Religion. Hier ließ sich zeigen, wo die Ursachen sozialer Bindungskräfte liegen, wodurch sie aufrechterhalten, aber auch gefährdet werden. Die Fragilität sozialer Beziehung hatte Durkheim zuvor im Rahmen einer Untersuchung zur Arbeitsteilung in Industriegesellschaften thematisiert. Dabei war er auf das Paradoxon gestoßen, dass der moderne Mensch einerseits immer stärker seine Autonomie einfordert und erlebt, zugleich aber auch seine Abhängigkeit von der Gesellschaft stetig zunimmt. Durkheim beschäftigte darum die Frage, wie überhaupt Sozialität in einer Gemeinschaft entsteht, in der sich Menschen weitgehend nur noch als Konkurrenten erleben. Historischer Ausgangspunkt dieser Entwicklung war für zahlreiche Forscher im Umfeld Durkheims allem voran die Französische Revolution.73 Die darin angelegte Transformation der Gesellschaft unter Maßgabe der Rationalisierung und das immer massivere Vordringen der Wissens- und Informationsgesellschaft ließen die Frage vi73 Vgl. Terence Turner: Structure, Process, Form, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 207–246, 209.
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rulent werden, wo in dieser Gesellschaft die Quellen von Moral, Gemeinschaft und Menschlichkeit zu finden seien. Leitende Prämisse ist für Durkheim die Annahme, dass das Soziale, das sich primär in der Religion und in der Moral zeigt, primär ist gegenüber dem Individuellen. Das Soziale ist also keine Ableitung individueller, psychologischer Kategorien oder die Summierung individueller Interessen: »Die Gesellschaft ist eine Wirklichkeit sui generis.«74 Methodisch orientiert sich die Soziologie nach Durkheim ausschließlich an sozialen Tatbeständen (faits sociale). Darunter sind jene Fakten zu verstehen, die weder durch Naturgesetze vorgegeben, noch vollständig der Spontaneität und dem arbiträren Willen des Einzelnen entspringen. Empirisch zugänglich werden diese sozialen Tatbestände aus der Beobachtung von Handlungen. Wenn Durkheim im ersten Hauptteil der Elementaren Formen die religiösen Vorstellungen untersucht, dann ist stets ein handlungstheoretischer Grundimpuls impliziert und zugleich wird so die Analyse der Religionspraxis im zweiten Teil vorbereitet. Oder anders: Das Anschließen der Behandlung der Religionspraktiken an die Analyse der religiösen Vorstellungen ist nicht als Nach- oder Unterordnung im Sinne einer Deduktion, sondern im Sinne eines Zielpunktes zu verstehen. Dieser Ansatz spiegelt sich bereits im Titel wieder, wobei die Betonung des »religiösen Lebens« auch als Gegensatz zu einer rein dogmatisch bestimmten Auffassung von Religion gelten sollte. Der Einstieg in die Elementaren Formen des religiösen Lebens erweckt zunächst den Anschein, als schlösse Durkheim an die Forschungen der Generation seiner Lehrer und deren Frage nach dem Ursprung der Religion an: »Der Zweck dieses Buches ist, die primitivste und einfachste Religion zu studieren, die bis jetzt bekannt ist« (17). Tatsächlich war Durkheim in erheblichem Maß von Robertson Smith und den Fragen seiner Generation geprägt. Doch als Soziologe war er nicht primär an der Vergangenheit und der Genese der Religion interessiert, vielmehr am Verständnis der ihr zugrundeliegenden und allgemeinen Glaubensvorstellungen (croyances) wie auch ihrer Praxisformen (pratiques), als den beiden konstitutiven Elementen von Religion.75 Als Resultat sollte die Studie die These begründen, »daß die Relimile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. Main 1981, 36f. Die Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe. An dieser Stelle kann nur hingewiesen werden auf Durkheims Anspruch, im Rahmen einer Religionsanalyse auch eine Erneuerung der Erkenntnistheorie zu liefern. Diese ist als Vermittlung zwischen kantischem Apriorismus und Empirismus konzipiert und will den sozialen Ursprung der Kategorien der Vernunft aufzeigen. Die Priorität des Sozialen hatte Durkheim schon früh entdeckt. In der Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt und seiner Neubegründung der Ethik aus der Psychologie kam Durkheim zur Überzeugung, dass soziale Handlungen einen eigenständigen Charakter besitzen und nicht aus individuellen Motiven erklärt werden können. Zur Eigenständigkeit sozialen Handelns vgl. auch die Ausführungen zu we-Intentions bei Searle unter 9.3.2. 75 »An der Basis aller Glaubenssysteme und aller Kulte muß es notwendigerweise eine bestimmte Anzahl von Grundvorstellungen und rituellen Haltungen geben, die trotz der Vielfalt der For74
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gion eine eminent soziale Angelegenheit ist.« Religiöse Vorstellungen wie Praktiken verdanken sich eines sozialen Ursprungs. In ihnen werden die Quellen des kollektiven Lebens überhaupt, besonders aber der Moral erkennbar: »Die religiösen Vorstellungen sind Kollektivvorstellungen, die Kollektivwirklichkeiten ausdrücken; die Riten sind Handlungen, die nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können und die dazu dienen sollen, bestimmte Geistzustände dieser Gruppen aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen« (28). Glaubensvorstellungen und Rituale bilden einen Organisationszusammenhang, der um »bestimmte Geisteszustände« herum angelegt ist. Nirgends wird das ›eminent Soziale‹ der Religion für Durkheim besser sichtbar, als an der Idee des Heiligen. Das Heilige ist Symbol der Gesellschaft, in deren Gegenwart der Mensch einer Realität gegenübertritt, die ihn absolut übersteigt, und angesichts derer er seiner Abhängigkeit gewahr wird. Zugleich liegen hier die Quellen jener Kräfte, die das Individuum zur Lebensbewältigung befähigen. Den Ausgangspunkt der Darstellung bildet daher die Unterscheidung von Heiligem und Profanem. Beiden »Welten«, so Durkheim, müssen als diametral entgegensetzt verstanden werden. Alle Denk- und Handlungsform der Religion sind zu verstehen als ein Ausagieren dieses Gegensatzes.76 Auch sämtliche Erscheinungsformen der Religion sind von dieser Dichotomie her zu bemen […] überall die gleiche objektive Bedeutung haben und überall die gleiche Funktion erfüllen. Diese beständigen Elemente bilden das, was in der Religion ewig und menschlich ist« (22). Die soziale Produktivität der Religion hatte bereits 1864 Numa Denis Fustel de Coulange für den antiken Staat nachgewiesen. Auch er verstand die Religion aus zwei wesentlichen Bestandteilen, den Lehren und den obligatorischen Handlungen, zusammengesetzt. Obligatorisch seien diese Handlungen, weil sie Ausdruck des sozialen Zusammenhalts seien (vgl. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 202). Durkheim selbst hatte diese Unterscheidung bereits in seinem Aufsatz De la D finition des Ph nom nes Religieux von 1899 herausgestellt. Bei Bestimmung des Unterschieds religiöser Praktiken von moralischen oder rechtlichen Handlungen kam er zu der Erkenntnis, dass die verbindlichen und verpflichtenden Glaubensvorstellungen – auch im Bereich der Moral und des Rechts – mit verbindlichen Handlungen verbunden werden: »On appelle ph nom nes religieux les croyances obligatoires ainsi que les pratiques relatives aux objets donn s dans ces croyances« (zitiert bei Steven Lukes: Emile Durkheim, his Life and Work. A Historical and Critical Study, Stanford 1985, 241). 76 Durkeims Begriff des Heiligen changiert zwischen der Beschreibung einer Weise des Umgangs mit Dingen, bei der intensive »Ehrfurcht« oder »Liebe« eine Rolle spielt und einer Klasse von separierten Dingen. »Alle bekannten religiösen Überzeugungen […] haben den gleichen Zug: sie setzen eine Klassifizierung der realen oder idealen Dinge, die sich die Menschen vorstellen, in zwei Klassen, in zwei entgegensetzte Gattungen voraus, die man im Allgemeinen durch zwei unterschiedliche Ausdrücke bezeichnet hat, nämlich durch profan und heilig. Die Aufteilung der Welt in zwei Bereiche, von denen der eine alles umfaßt, was heilig ist, und der andere alles, was profan ist; das ist Unterscheidungsmerkmal des religiösen Denkens« (62). Auch, wenn das Heilige keine Eigenschaft von Dingen selbst ist, ist es im Sinne sozialer Tatbestände doch real: »Der heilige Charakter, den eine Sache bekleidet, liegt also nicht in den inneren Eigenschaften der Sache selbst: er ist dazugekommen. Die Welt des Religiösen ist also kein besonderer Aspekt der empirischen Natur, er ist ihr immer aufgesetzt« (314).
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stimmen. Ist die Idee des Heiligen der Kern aller Glaubensvorstellungen, so kommt Ritualen die Aufgabe zu, den gebotenen Umgang mit dem Heiligen zu regeln und den Übertritt aus der Welt des Profanen in jene andere Welt des Heiligen zu ermöglichen. Bei diesen Handlungen – Durkheims subsumiert sie unter den Begriff des »Kultes« – unterscheidet er den »negativen Kult«, insofern es sich um Verbote und Restriktionen handelt, vom »positiven Kult«, der vor allem im Rahmen des Festzyklus seinen Ort hat. Insofern das Ritual mit dem Heiligen befasst ist, das Heilige aber eine Repräsentation des Sozialen, also der Gruppe ist, kann für Durkheim nun auch der Rückschluss Gültigkeit beanspruchen: Nicht nur das Religiöse ist eminent sozial, sondern auch das Soziale ist in seinem Kern wesentlich religiös – und als solches Gegenstand soziologischer Untersuchung: »Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist« (561). Aus dieser engen Beziehung zwischen dem Religiösen und dem Sozialen folgt Durkheims Ablehnung der Magie, die er als rein instrumentelle und egoistische Quasi-Religion einordnet.77 Zur Ausführung seiner Thesen greift Durkheim auf Aufzeichnungen der beiden australischen Anthropologen Walter Baldwin Spencer und Francis James Gillen zurück, kommt aber in seiner Analyse zu neuen Schlussfolgerungen.78 Auch in dieser Themenwahl zeigt sich der Einfluss von Robertson Smith, der anhand des Totemismus besonders die Momente der Einheit und Verwandtschaft zwischen den Subjekten und den Objekten der Religion, zwischen dem Klan und seinem Totem betont hatte. Den Rückgriff auf die ›primitiven‹ Religionen erklärte Durkheim mit der Tatsache, dass für ihn zum einen alle Religionen »auf ihre Art wahr« (19) seien – die neueren also nicht besser als die alten – und zum anderen ihr frühes Entwicklungsstadium sie leichter analysierbar mache (»ihre Unfertigkeit macht sie lehrreich«, 26). Der Totemismus, der für Durkheim die früheste Form von Religion überhaupt darstellt, ist aber auch darum attraktiv, weil sich hier das Heilige doch in einer klar bestimmbaren Form als materieller Gegenstand zeigt, auf den alle Glaubensvorstellungen projiziert wurden.79 77 Wie Religion besteht für Durkheim auch die Magie aus Überzeugungen und Riten. Sie verfolgt aber im Gegensatz zu jener primär technische Ziele. Darüber hinaus ermangelt die Magie gänzlich eines solidarischen wie auch eines öffentlichen Charakters. Während die Religion »untrennbar mit der Idee der Kirche« (72) verbunden ist, »gibt [es] keine magische Kirche« (ebd.). Abwertend beschreibt Durkheim magische Praktiken in ökonomischen Mustern und den Magier im Gegensatz zum Priester als a-sozial (»Der Magier hat eine Kundschaft und keine Kirche«). Durkheims Unterscheidung spiegelt sich wesentlich später u. a. in der Unterscheidung von »liturgiezentrierten« Ritualen auf der einen und instrumentell oder »performance-zentrierten« Ritualen auf der anderen Seite bei Humphrey und Laidlaw wieder (s. u. 9.2). 78 Konkret erforschten Gillen und Spencer verschiedene Aborigines-Stämme des nördlichen Zentralaustraliens. 79 Die spätere Forschung erkannte in dem von Durkheim zugrunde gelegten Totemismus jedoch
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Der erste, umfangreichere Hauptteil des Werkes befasst sich mit den »elementaren Glaubensvorstellungen« des Totemismus. Durkheim fragt dabei zunächst nach der Herkunft des Totems und will zeigen, dass wichtiger noch als die Gestalt des Totems als Tier oder Pflanze das Wappen ist, welches das Totem repräsentiert. Damit wird der Totemismus als symbolisierende Religion begründet und ihre grundlegende Bedeutung für die generelle Religionsanalyse unterstrichen. Besonderes Interesse hat Durkheim an den Vorstellungen der Verwandtschaft und der Gemeinschaft zwischen den Mitgliedern eines Klans und ihrem jeweiligen Totem.80 Das Totem erscheint dabei immer wieder als konstitutives Element der Einheit des Klans und als dessen Repräsentation. Hinter dem Totem wirkt aber bereits in ›primitiven‹ Vorstellungen eine »Art anonyme und unpersönliche Kraft« (261). Die Gemeinschaft mit dem Totem bedeutet Anteilhabe an dieser Kraft. Dass diese als unpersönlich beschrieben wird, ist die Voraussetzung ihrer Identifikation mit der Gesellschaft selbst, worauf Durkheims Darstellung abzielt. Das Totem ist somit nur »ein Symbol, ein materieller Ausdruck von etwas anderem« (284). »Da die religiösen Kräfte nichts anderes sind als die kollektiven und anonymen Kräfte des Klans und da diese Kräfte nur in der Form des Totems vorstellbar sind, wird das Totemzeichen so etwas wie der sichtbare Körper Gottes« (304). Erst auf der Grundlage eines Verständnisses vom Wesen des Totems kann also der für die neueren Religionen bestimmende Gottesbegriff gewonnen werden. Zugleich erweist sich dieser damit als spätere Entwicklung. Gleiches gilt für die Vorstellung von Geistern und Seele, sie alle bezeugen bereits elaboriertere Vorstellungen des Gegensatzes von Heiligem und Profanem, als sie im Totemismus anzutreffen sind.
7.2.2 Voraussetzungen, Organisation und funktionale Leistung von Ritualen 7.2.2.1 Kollektive Erregung und Ekstase als Ursprung der Religion Durkheims Verständnis von Ritualen und ihrer Beziehung zu den genannten Glaubensvorstellungen ergibt sich aus seiner Vorstellung eines Ursprungsereignisses, dem diese Kollektivvorstellung und damit menschliche Gemeinschaft überhaupt entspringen. Dieser Frage wendet er sich besonders im 7. Kapitel des II. Buches zu. Wie bei der Unterscheidung von sozial und individuell, heilig und profan geht Durkheim auch hier wiederum von einer Dichotomie aus. Das Leben der australischen Gesellschaft zerfällt seiner Analyse gemäß in zwei gegensätzliche Bereiche. Auf der einen Seite steht die eine spezifische und eben gerade nicht eine typische Form australischer Stammesreligion (vgl. Lukes: mile Durkheim, 477). 80 Durkheim verwendet hier den aus der Trinitäts- und Sakramententheologie bekannten Begriff der »Konsubstanzialität« (520).
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Zeit der ›Zerstreuung‹, in der die Menschen ihren eigenen, vor allem ökonomischen Interessen nachgehen und dabei weitgehend isoliert voneinander leben. Auf der anderen Seite steht die Zeit der »Versammlung«. Hier handelt es sich um eine »verdichtete« Zeit, die die Menschen »elektrifiziert« und sie in einen »Zustand außerordentlicher Erregung« (297) versetzet. Die Teilnehmer lassen ihren Alltag zurück und treten in eine völlig andere Welt ein, die gänzlich andere Wahrnehmungsformen ermöglicht. Die Unterscheidung von heilig/profan wird somit fortgeführt auf der Ebene bestimmter Zeiten und Orte. In diesem Kontext verwendet Durkheim den Begriff der Efferveszenz, der nicht nur für den Ursprung des Sozialen, sondern auch für seinen Ritualbegriff von zentraler Bedeutung ist. Der französische Begriff ›effervescence‹ wird in der deutschen Übersetzung verschieden interpretiert als »kollektive Erregung«, »Gärung« bis hin zur »Raserei«. Dieser Zustand stellt die Verbindung her zwischen der Entstehung dessen, was die Gesellschaft als soziales, zusammenhängendes und als zusammengehörig empfundenes Gebilde ausmacht und ihrer Fortsetzung und regelmäßigen Erneuerung. Voraussetzung für diesen Zustand ist eine Zeit der Versammlung und das Zusammenkommen einer großen Menge. Erst die kollektive Kopräsenz ruft dieses Erleben hervor. Die dabei entstehenden Zustände gesteigerter Emotionalität und körperlicher Erregung bis hin zur Ekstase samt Formen des Kontrollverlusts, weisen für Durkheim eine Nähe zu »revolutionäre[n] oder schöpferische[n] Epochen« (290) der Geschichte auf. Hier erfährt der Einzelne die Gruppe als Ganzes und zugleich sich selbst als deren Teil. Er erlebt eine Form der Realität, welche das Individuum durchdringt, ihre Individualität aufhebt und eine bleibende emotionale Verbundenheit erzeugt: »Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Wiederstand in dem Bewußtsein eines jeden wieder« (297). Der beschriebene Zustand ist einerseits mit großer Erschöpfung verbunden, zugleich werden Kräfte freigesetzt. An diesem Punkt verortet Durkheim die Entstehung der Religion: Der Einzelne nimmt die Gruppe als etwas Heiliges war, an dem er zugleich teilhat: »In diesem gärenden [effervescent] sozialen Milieu und aus dieser Gärung [effervescence] selbst scheint also die religiöse Idee geboren worden zu sein« (301). Die Eigenständigkeit des Sozialen umfasst die religiöse Idee als etwas, das der Mensch nicht in sich, seiner individuell verstandenen Vernunft vorfindet, sondern zu dem erst die Versammlung ihm Zugang verschafft. Diese Erregung steht am Beginn der religiösen Erfahrung und ist zugleich Motor ihrer Entwicklung. Dieses »Delirium«, wie Durkheim den Zustand auch beschreibt, ist Voraussetzung, dass der religiöse Gedanke nachhaltige Tiefe erhält und dauerhaft verankert bleibt. Freilich bleibt dieses Erlebnis für den Einzelnen nicht folgenlos, er »glaubt verwandelt zu sein und folglich verwandelt er sein Milieu« (565).
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7.2.2.2 Medien, Emotionen und die Funktion verbindlicher Ritualordnung Ist damit für Durkheim die Grundlage der Religion und ihre Herkunft bestimmt, mit der sich unmittelbar die Idee des Heiligen als Symbol der Gesellschaft verbindet, so bedarf doch auch die kontinuierliche Religionspraxis einer Erklärung. Ist doch der »Kult […] die Summe der Mittel, mit denen er sich erschafft und periodisch wiedererschafft« (559). Wie der Zustand der Efferveszenz, so hat auch das Ritual seinen Ort innerhalb von Versammlungsphasen. Nicht nur am Ausgangspunkt der Religion steht eine intensive Erfahrung, auch generell eignet der Kultpraxis eine emotionale Dimension. Der regelmäßige Kult soll jenen Geisteszustand evozieren, aufrechterhalten und wiederherstellen, der in den Phasen der Efferveszenz entsteht. Es sind also Gefühle – des Schutzes, der Abhängigkeit –, welche den Gläubigen an seine Religion binden. Wie bereits Robertson Smith den emotional positiven Charakter der Rituale ›primitiver‹ Kulturen hervorgehoben hatte, so sieht auch Durkheim darin ein besonderes Kennzeichen: »Der Glaube ist vor allem Wärme, Leben, Begeisterung, Überschwang eines jeden Individuums über sich selbst hinaus.« Im Bereich der Religion ist es vor allem der rituelle Kult, der »die Freude, die innere Ruhe, den Frieden, die Begeisterung erregt« (ebd.). Wie erwähnt, versteht Durkheim Rituale als Verhaltensregeln, »die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat« (67).81 Diese Regeln garantieren, dass die beiden Bereiche des Heiligen und des Profanen separiert bleiben. Der Kult kann auf eine bewusste Trennung vom Profanen ausgerichtet sein (»negativer Kult«) oder die Annäherung an das Heilige anstreben (»positiver Kult«). Dem absoluten Charakter des Heiligen entsprechend erlauben die Riten keine geteilte Aufmerksamkeit, sie beanspruchen die absolute Herrschaft über ihre Zeit. Der Fokus ritueller Handlungen ist das Heilige in Gestalt des Totems, welches die Gesellschaft verkörpert. Dessen Leben zu vermehren und nachzuahmen ist nach Durkheim die vorderste Absicht der Religion und speziell des Kultes. Nachahmungsriten sind daher die »erste Form des Ritus überhaupt« (520), aus dem sich andere Formen (Darstellungsriten; Opferriten; Kommunionsriten) ableiten. Grundlage ist überall ein identischer ›Geisteszustand‹ ( tat d’esprit), der jeweils verschiedenen interpretiert wird. Durkheim versucht hier, die auf der Ebene der religiösen Glaubensvorstellungen erarbeitete inhaltliche Grundstruktur mit der rituellen Praxis zu verbinden. Er geht von emeinsamen Gedanken innerhalb der Gruppe aus (»da alle an das Tier oder an die Pflanze denken, mit deren Schicksal der Klan solidarisch ist«, 483), die sich im kollektiven Handeln niederschlagen. Dennoch liegt der Fokus seiner Ritualanalyse auf der Ebene ihrer Funktion. Ziel 81 Durkheim verwendet die Wörter »Ritus« (rite) und »Ritual« (rituel) synonym.
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der Darstellung ist nicht der Nachweis, dass der Totemismus die Grundreligion bildet, sondern die sozial-funktionalen Grundzüge von Religion überhaupt. Darum kann er die mit dem Kult jeweils verbundenen Glaubensvorstellungen als kontingent erachten, da »der Ritus der gleiche bleibt, ob nun die religiösen Wesen personifiziert sind oder nicht« (435). Insofern Rituale als Handlungsweisen bestimmt werden, ist noch einmal danach zu fragen, was diese konkret auszeichnet. Dabei lassen sich innerhalb von Durkheims Beschreibung zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen sind die Handlungen mit Objekten verbunden, zum anderen sind sie vor allem durch Bewegungen und Gesten geprägt. »Ein Kollektivgefühl kann sich nur bewußt werden, wenn es sich an ein materielles Objekt heftet« (323). Etabliert wird diese Beziehung in jenen bereits erwähnten Momenten der ›großen Gärung‹. Der zweite Aspekt betrifft das Abhängigkeitsverhältnis zwischen kollektiven Ideen und rituellen Gesten. Neben äußeren Medien tritt damit der Körper als Medium der Religion in den Blick. Durkheim bezieht sich hier auf kollektive Gesten, die durch »aktive Kooperation« entstehen und die als »gemeinsame Tat« den Kern der rituellen Handlung bilden. Die kollektiven Ideen und Gefühle sind Durkheim zufolge nicht anders als durch »äußere Bewegungen möglich, die sie symbolisieren« (560). Dabei geht es nicht um strenge Gleichförmigkeit. Vielmehr lassen besonders die Darstellungsriten überschwängliche Bewegungen erkennen, die ziellos erschienen und ihr Ziel in der Handlung selbst finden. Die emotionale und körperliche Partizipation führt bei den Akteuren zu Momenten der Freiheit und Unbestimmtheit, die gleichwohl innerhalb verbindlicher Handlungsabläufe sich ereignen. Die Verbindlichkeit, die den Ordnungsrahmen für die kollektive Erregung gewährleistet,82 verdankt sich – ähnlich wie Durkheim dies für die Moral beschreibt – keiner metaphysischen Vorgabe, sondern ist die Folge des sozialen Charakters der Religion. Rituale sind somit selbst soziale Tatbestände, die die Gesellschaft formieren und durch diese wiederum geformt werden. Die rituelle Ordnung stellt den erforderlichen Rhythmus sicher, der notwendig ist um »Kollektivgefühle und Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen« (571). In diesem Zusammenhang zeigt sich die Verbindung von ritueller Interaktion mit Institutionalisierungsprozessen, die sich in der Professionalisierung der Aufgaben (Priestertum) und einer Hierarchisierung der Verantwortungsträger auswirken.
82 »Zweifellos kann ein Kollektivgefühl nur dann kollektiv ausgedrückt werden, wenn eine bestimmte Ordnung eingehalten wird, die den Einklang und die Gesamtbewegung erlaubt.« Notwendig ist dies, um die Erregung zu begrenzen, die mitunter »zu unerhörten Akten verführt« (297).
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7.2.2.3 Funktion und Wirkung von Ritualen Im Zentrum der Ritualtheorie steht entsprechend der Gesamtausrichtung des Werkes eine funktionale Beschreibung. Die ›Wirkkräfte‹ des Rituals liegen für Durkheim zunächst allgemein darin, »die religiöse Eingestimmtheit der Individuen zu erhöhen« (419). Bei genauerer Untersuchung lassen sich drei Dimension unterscheiden: ein soziale, eine moralische und eine psychologische Wirksamkeit und Funktion von Ritualen. »[D]ie Riten sind vor allem die Mittel, mit denen sich die Gruppe periodisch erneuert« (520). Darunter versteht Durkheim die Tatsache, dass innerhalb der Versammlung eine Neuausrichtung des Individuums stattfindet. Der Einzelne bestimmt seine Identität nicht mehr nicht aus sich heraus, sondern grundlegend von jenem Kollektiv her, dessen Teil er ist. Folglich räumt er den Interessen der Gemeinschaft Priorität bei seiner individuellen Lebensgestaltung ein. Konkret wird dies dadurch bewirkt, dass in Gestalt des Totems Bilder präsentiert werden, welche die Gemeinschaft selbst repräsentieren und ihren heiligen Wert vor Augen führen. Insbesondere die Darstellungsriten dienen diesem Zweck, »bestimmte Ideen und Gefühle zu erwecken, die Gegenwart an die Vergangenheit zu binden, das Individuum an die Kollektivität« (509). Diese soziale Dimension des Rituellen geht aus der Funktion des Religiösen überhaupt hervor und bestätigt damit auch die bereits betonte Gewichtung des Rituellen für die Religion generell. Gleiches gilt für die Wirkung des Rituals auf moralische Orientierung. Wie die Kollektivideen benötigt auch die Moral, verstanden als Ausdruck und Darstellung der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit, eine periodische Erneuerung, eine »moralische Wiederbelebung [r fection morale]« (571). Wie Durkheim zuvor die Abhängigkeit spezifischer Glaubensvorstellungen wie ›Gott‹ oder ›Seele‹ von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem deduziert hatte, so kehrt er auch hier die klassische Logik um: »Die moralische Wirkung des Ritus, die wirklich ist, hat den Glauben an seine physische Wirksamkeit, die eingebildet ist, geschaffen« (484). Entgegen der Ansicht, ›primitive‹ Kulturen sind in ihrem Kern magische Kulturen, die an physischen Veränderungen der Wirklichkeit mittels Ritualen interessiert sind und erst allmählich einer Spiritualisierung und Moralisierung unterliegen, deutet Durkheim diese Kulturen als symbolische Kulturen und alle mit Magie verbundenen Vorstellungen als spätere Entwicklung. Besonders hier zeigt sich Durkheims Interesse an der Klärung der Bedeutung der Religion für die Gegenwart: Wenn jene Vorstellungen von physikalischer Wirksamkeit, welche die Religion in der modernen Wissenschaftsgesellschaft aufgrund ihrer Unbeweisbarkeit verächtlich machen, sich als spätere Zusätze entpuppen, dann kann dieser Teil der Religion auch wieder entfernt werden, ohne einen substanziellen Teil der Religion zu verlieren, was für Durkheim bedeuten würde, die soziale Funktion der Religion zu gefährden.
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Die moralische Funktion wiederum hängt eng zusammen mit der Beschreibung der positiven Wirkung, die Durkheim Ritualen in Bezug auf die psychische Verfassung zuschreibt: Den Ritualteilnehmern wird »bewusst, daß die Zeremonie ihnen guttut; und tatsächlich wird hiermit ihre Moral gestärkt« (ebd.). Der Gedanke der Erholung ist verbunden mit der ästhetischen Dimension, dem Ritus ist »das rekreative und das ästhetische Element« (510) eigen.83 Die Beschreibung der psychologischen Wirkung nimmt angesichts der sonst vor allem auf das Soziale fokussierenden Darstellungen von Durkheims Ritualtheorie einen überraschend großen Stellenwert ein. Der rituellen Erfahrung korrespondiert in ihrer eminent sozialen Dimension eine Erfahrung auf der individuellen Gefühlsebene. Beidem wird im gemeinsamen Handeln Ausdruck verliehen, sodass »die gemeinsamen Eindrücke gefühlt und durch gemeinsame Handlungen ausgedrückt werden« (520) können. Rituelle Erfahrungen werden als »Befreiung« (471) empfunden hinsichtlich der Zwänge, welche die Zeit des Alltags bestimmen. Die von Durkheim Ritualen zugeschriebene Entlastungsfunktion ist zum einen verbunden mit ekstatischen Erlebnissen, die die Alltagsrealität zeitweise suspendieren und verdrängen: »Der Mensch gerät außer sich und vergißt seine gewöhnlichen Beschäftigungen und Sorgen« (514 f.). Zum anderen handelt es sich um grundlegend transformierende und prägende Erfahrungen: »Wer eine Religion wirklich praktiziert hat, weiß genau, daß es der Kult ist, der die Freude, die innere Ruhe, den Frieden, die Begeisterung erregt, die für den Gläubigen der Erfahrungsbeweis für seinen Glauben ist« (559). Der Kontrast zwischen der Intensität der effervescence-Erfahrungen und den zwar positiv konnotierten, aber doch eher gemäßigten Gefühlen der Zufriedenheit und Erwartbarkeit, die den regelmäßigen Kult begleiten, wird bei Durkheim weder aufgelöst noch überhaupt thematisiert. Auch bei der Beschreibung des positiven Kults dominiert der »Eindruck des Wohlbehagens (une impression de bien-Þtre)« (484). Das Ungebändigte der Ursprungserfahrung findet im Kult kaum Niederschlag. Grund dafür ist nicht zuletzt die funktionale Zuschreibung der Religion, sozialen Zusammenhalt zu stiften und Emotionen zu regulieren, auf die Durkheims Darstellung hinausläuft. Darauf, wie die Ritualakteure selbst ihre Erfahrungen kognitiv verarbeiten und diskursiv äußern, nimmt Durkheim allerdings nur an einer Stelle ausdrücklich Bezug. Für eine Analyse der Glaubensvorstellungen scheint ihm diese Fragestellung unerheblich: »Diese mythischen Erklärungen drücken die Idee aus, die sich der Eingeborene vom Ritus macht, aber nicht den Ritus selbst. Wir können sie also beiseitelassen und uns der Wirklichkeit zuwenden, die sie, wenn auch verformt, ausdrücken« (535). Umso interessanter ist daher die Tatsache, dass Durkheim rituelles Handeln zugleich an eine bestimmte Einstellung und Haltung gekoppelt sieht. 83 In der Kategorie der Ästhetik – als Darstellungs- wie auch als Rezeptionskategorie – sieht Durkheim eine Nähe zwischen mimetischen Ritualen und theatraler Darstellung.
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7.2.2.4 Rituelles Handeln unter ritueller Haltung Das Konzept der rituellen Haltung ist bei Durkheim nicht vollständig ausgearbeitet und besitzt doch eine zentrale Stellung. Im Rahmen der Unterscheidung zwischen religiösen Vorstellungen und Praktiken spricht Durkheim explizit von »rituellen Haltungen« (les Principales attitudes rituelles), welche die Handlungen bestimmen: »An der Basis aller Glaubenssysteme und aller Kulte muss es notwendigerweise eine bestimmte Anzahl von Grundvorstellungen und rituellen Haltungen geben, die trotz der Vielfalt der Formen, die die einen und die anderen haben annehmen können, überall die gleich objektive Bedeutung haben und überall die gleich Funktion erfüllen« (21 f., H. RG).84 Im Blick auf den Inhalt des zweiten Hauptteiles liegt es nahe, jene Haltungen schlichtweg als synonym für die Vielfalt ritueller Praktiken wie Fasten, Sühne, Trauer, Opfer oder Gedächtnis zu verstehen, die unter dem Oberbegriff »Haltung« kategorisiert werden. Gleichwohl gibt Durkheim im Laufe des Textes immer wieder Hinweise darauf, dass hinter diesen Verhaltensweisen tatsächlich spezifische innere Haltungen auszumachen sind. In diese Richtung deutet die Beschreibung dieser Haltungen als »Geisteszustand ( tat d’esprit)« (548). Unter dem Begriff der Haltung oder Einstellung wird hier also eine Disposition verstanden, die sowohl eine körperliche wie eine kognitive Komponente umfasst. Wer umgangssprachlich »Haltung annimmt«, bringt damit körperlich eine innere Haltung etwa von Respekt, Ehrfurcht oder Zustimmung zum Ausdruck. In Bezug auf das Totem etwa korreliert die unmittelbare Nachahmung einer körperlichen Gebärde, etwa durch ritualisierte Gesten, die den Flug eines Vogels mimen, mit einem Sich-Hineinversetzen in das Totemtier. Jener Geisteszustand zeigt bei näherer Betrachtung unterschiedliche Schattierungen, die Durkheim insbesondere für Trauerriten beschreibt. Denn die Form, in der der Einzelne seine Trauer ausdrückt ist »keine natürliche Bewegung der persönlichen Sensibilität, […] sie ist eine Pflicht, die von der Gruppe auferlegt wird« (532) und somit im Sinne Durkheims ein sozialer Tatbestand. Eine innere Haltung der Trauer manifestiert sich damit in einer körperlichen Geste, deren Form sich jedoch keiner unmittelbaren individuellen Expression verdankt. Die rituelle Einstellung umfasst neben einer inneren Haltung und Emp84 Im Französischen kann »attitude« sowohl ein »Verhalten« wie eine »Haltung« bezeichnen. Ludwig Schmidt übersetzt auf Deutsch »Ritualhaltungen«. Karen E. Fields spricht von »modes of conducts« und legt die Gewichtung damit auf Moment des konkreten Handelns: »The contrast between croyances and attitudes in the titles of Books Two and Three, respectively, is that between thought and action« ( mile Durkheim: The Elementary Forms of Religious Life. Translated and with an Introduction by Karen E. Fields, New York 1995, 301). Die hier gewählte Lesart betont demgegenüber gerade die Verbindung von innerer Haltung und ausgeführter Handlung. Wo im Folgenden von »Haltung« die Rede ist, steht jeweils »attitude« im Hintergrund.
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findung somit die Verpflichtung, bestimmte Handlungsformen als verbindlich zu akzeptieren im Sinne einer Vorgabe, »von der der Gläubige in seinen Beziehungen mit den heiligen Wesen niemals abweichen darf.« Diese Verpflichtung wird einerseits mit Verweis auf die Tradition begründet, andererseits resultiert sie, wie bereits dargestellt, aus dem sozialen Charakter der Religion. Als Motivationsfaktor überwiegt nach Durkheim der Traditionsbezug. Alle anderen Erwägungen spielen nur eine Begleitrolle, »sie können dazu dienen, die Gläubigen in der Haltung, die der Ritus ihnen vorschreibt, zu bestärken. Sie sind aber nicht der Grund dieser Haltung« (509). Die soziale Verpflichtung zur Einhaltung der Vorgabe ergibt sich aus dem kollektiven Umfeld, in welchem Rituale stattfinden: Der Akteur »erfüllt eine Pflicht, an die ihn die umgebende Gesellschaft bei dieser Gelegenheit mit Nachdruck erinnert« (536). Diese Verbindlichkeit ist jedoch nur möglich, wenn die Handlungsform bereits normiert ist und für den Akteur zur Ausführung bereitliegt. Den doppelten Charakter ritueller Haltung als körperlicher und zugleich mentaler Vollzug veranschaulicht Durkheim wiederum am Beispiel der Beobachtung von Trauerriten: »[I]hre Einstellung und ihr Gang zeugen von religiösem Ernst: in ihren Augen nehmen sie an einem Akt von außerordentlicher Bedeutung teil« (444). Weil sich die innere Haltung aber stets nur in der vorgegebenen Handlungsform äußert, handelt es sich »um eine rituelle Haltung, die man aus Respekt für den Brauch anzunehmen verpflichtet ist, die aber in starkem Maße unabhängig ist vom Gefühlszustand des Individuums« (532). Der rituelle Ausdruck stellt also weniger eine exemplarische, als eine paradigmatische Form des Umgangs mit religiösen Bedürfnissen dar. Sie sind einerseits Ausdruck und Darstellung einer spezifischen Haltung des Einzelnen, der sie vollzieht, aufgrund der vorgegebenen Form ist der Vollzug aber zugleich losgelöst vom unmittelbaren Empfinden. Den Grund, eine Handlung zu vollziehen, die »kein spontaner Ausdruck individueller Gefühle« ist und nicht selten auch ohne »Beziehung zwischen den empfundenen Gefühlen und den ausgeführten Gesten der Ritenakteure« stattfindet, beschreibt Durkheim unter Hinweis auf jene »Pflicht, die von der Gruppe auferlegt wird« (ebd.). Neben dem Charakter ritueller Handlungen als regelgeleiteter, normierter und verpflichtender Handlungen entdeckt Durkheim also eine spezifische »rituelle Mentalität (la mentalit rituelle)« (509), welche sich besonders bei den Darstellungsriten zeigt. Das mit Ritualen verbundene Wohlbefinden führt dabei zu Handlungen, die auf keinen Zweck und keine physische Wirkung abzielen. 7.2.3 Ritualtheorie als Zeitkritik und Gesellschaftstheorie In den Elementaren Formen des religiösen Lebens untersucht Durkheim im Umfeld eines interdisziplinären Forscherteams die Grundlagen und Quellen sozialen Zusammenhalts. Dabei kommt den religiösen Vorstellungen, in deren
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Kern die Unterscheidung von Heiligem und Profanem steht, mehr aber noch der religiösen Praxis in Form von Ritualen eine eminente Bedeutung zu. Eine systematische Ritualtheorie erwächst daraus nur in Ansätzen. Vielmehr gilt auch hierfür das generelle Urteil von Steven Lukes über die Elementaren Formen des Religiösen Lebens: »It is to be read less as a study in Australian ethnology or even as a general theory of religion, but rather as a storehouse of ideas worth developing and refining, as well as criticizing.«85 Durkheim verstand sein Werk als konstruktive Analyse und Kritik seiner Zeit. Was sich im Bereich der Wirtschaft in der Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Berufe und der damit verbundenen Arbeitsteilung niederschlug, sah er als Ausdruck einer generellen Individualisierungstendenz. Damit verbunden bzw. Ursache derselben war ihm zufolge die in seiner Zeit herrschende »moralische Mittelmäßigkeit« (571). Diese wiederum resultiert aus einem Mangel an emotionaler Lebendigkeit und sozialer Begeisterungsfähigkeit, deren Quelle, Erfahrungen der Efferveszenz, er versiegt sah. Das Studium historischer (›primitiver‹), von Ausgelassenheit geprägter Rituale führt dabei unweigerlich zu einer kritischen Sicht auf die überwiegend verhaltenen, solennen Rituale der bürgerlich-religiösen Welt seiner Zeit. Im zusammenfassenden Kapitel verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, sie mögen wieder kommen, die Stunden der »schöpferischen Erregung [effervescence cr atrice]« (572). Er sah hierbei zugleich die Möglichkeit des Entstehens neuer Glaubensvorstellungen und neuer Riten. Durkheims Analyse der primitiven Religion unter den Bedingungen der modernen Welt, in der die Bedeutung von Religion und Ritualen zu schwinden schienen, zeigt sich damit weit entfernt von reiner Kritik an der Moderne unter dem Vorzeichen einer Verfallsgeschichte. Durkheims Vision war darum keineswegs ein frommer Wunsch zur Rückgewinnung einer religiösen Gesellschaft, vielmehr werde die Funktion der Religion in der Moderne von anderen, noch unbestimmten gesellschaftlichen Kräften übernommen.86 Entgegen eines religionskritischen Verständnisses Durkheims lassen sich in den Elementaren Formen immer wieder konstruktive Überlegungen zur Erneuerung der Ritualität finden, die insbesondere das Moment des Verstehens hervorheben.87 Darin spiegeln sich der Verlust der Selbstverständlichkeit 85 Lukes: Emile Durkheim, 482. 86 Arvi S rkel : Säkularisierung ohne Profanisierung? Durkheim über die Kraft religiöser Erfahrung, in: Thomas M. Schmidt/Annette Pitschmann (Hg.): Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2014, 7–14 hat darauf jüngst anhand der Unterscheidung von Profanisierung und Säkularisierung hingewiesen. Während Durkheim Formen der Profanisierung stark kritisierte, weil das Verschwinden des Heiligen unmittelbar mit dem Kern des sozialen Zusammenhalts verbunden ist, zählte auch er die Säkularisierung zu einem der Kennzeichen der Moderne. Besonders der Wissenschaft teilte er soziale Funktionen zu, die zuvor von der Religion erfüllt wurden. Gleichwohl konstatierte auch Durkheim: »Bislang gibt es nichts, das sie [sc. die Religion] ersetzen könnte« (zitiert aaO., 8). 87 »Wir haben gesagt, daß es in der Religion etwas gibt, das ewig ist: den Kult, den Glauben. Aber
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und inneren Plausibilität ritueller Vollzüge, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer deutlicher wurden. Die eigenständige Leistung der Religion sieht er aber gerade in ihrer rituellen, handlungsbezogenen Dimension. Denn »die wahre Funktion der Religion [besteht] nicht darin […], uns zum Denken zu bringen, unser Wissen zu bereichern, unsere Vorstellungen zu ergänzen, die wir der Wissenschaft verdanken […], sondern uns zum Handeln zu bringen und uns helfen zu leben. Der Gläubige, der mit seinem Gott kommuniziert hat, ist nicht nur ein Mensch, der neue Wahrheiten sieht, die der Ungläubige nicht kennt: er ist ein Mensch, der mehr kann« (558, H.i.O.). Blickt man nun noch einmal auf die zentralen Thesen sowie den theoretischen und methodischen Ansatz Durkheims, fällt der Blick zunächst auf sein unmittelbares Forschungsumfeld. Durkheim beschäftigte bis zu 40 Mitarbeiter aus unterschiedlichen Disziplinen, reine Lehrstühle für Soziologie waren noch nicht geschaffen.88 Diese zunächst aus der Not geborene Tatsache kann als Vorstufe des interdisziplinären Ansatzes gesehen werden, der für die modernen Ritual Studies wesentlich ist. Die damit verbundene Lösung der religionssoziologischen Fragestellung aus dem religionswissenschaftlichen Kontext kann somit als eine der Ursachen verstanden werden, warum bei Durkheim im Gegensatz zur Ritus-Mythos-Debatte Glaubensvorstellungen und religiöse Handlungen nicht mehr in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu stehen kommen. Beide dienen für ihn je auf unterschiedliche Weise dem sozialen Zweck der Religion und damit der Sozialität überhaupt. Die Bedeutung von Handlungen als Grundlage der Religion wie auch ihrer Erforschung lässt dennoch den Einfluss von Robertson Smith erkennen. Religion ist daher mehr als ein System von Zeichen. Sie ist vielmehr eine Weise des Umgangs mit diesen Zeichen, wobei dem Kult dabei die vornehmste Aufgabe zukommt. Charakteristisches Kennzeichen ritueller Handlungen sind ihre repetitiven Elemente, die wesentlich für die Erneuerung des Sozialen verantwortlich sind.89 Indem Durkheim hier die Begriffe der ›Darstellung‹ und der ›Mimesis‹ verwendet – er spricht von mimetischen wie von Darstellungsriten – nimmt er bereits Aspekte voraus, die unter dem Stichwort ›Ritual und Spiel‹ später im ritualtheoretischen Diskurs später eine wichtige Rollen spielen sollten.90 Noch die Menschen können keine Zeremonien feiern, deren Sinn sie nicht sehen, noch einen Glauben anerkennen, den sie auf keine Weise verstehen« (576). 88 Vgl. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 211. Wissenschaftliches Forum des um Durkheim formierten Kreises war das seit 1898(–1925), anfänglich von Durkheim, herausgegebene L’Ann e Sociologique. 89 »Wir müssen handeln; wir müssen die Taten wiederholen, die hierfür nötig sind, und zwar jedes Mal, wenn es nützlich ist, diese Wirkungen zu erneuern. […] So gesehen können wir ahnen, wie diese Gesamtheit regelmäßig wiederholter Handlungen, die den Kult ausmachen, ihre Bedeutung gewinnt« (558). 90 S. o. 3.3.
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dazu stellt er eine bestimmte rituelle Haltung heraus, welche rituelles Handeln als solches ausmacht. Auch darin, rituellen Handelns als Sonderform von Handlung und damit als eigene, nicht subsumierbare Kategorie zu verstehen, greift er späteren Fragestellungen voraus, will man darin nicht den Keim einer eigenen Ritualtheorie generell erblicken. Bemerkenswert gerade im Kontrast zur häufig mit Ritualen verbundenen Vorstellung rein mechanischer Ausführung mit »steifem« Charakter ist der enge und von Durkheim positiv bewertete Bezug von Ritualen mit emotionalen Erfahrungen. Auch dort, wo solche nicht mehr unmittelbar zum Tragen kommen, steht dieses Moment vermittelt über den Efferveszenz-Begriff im Hintergrund. Rituelle Praxis steht für Durkheim damit grundsätzlich in einem Verweisungszusammenhang zu unmittelbarer religiöser, emotional und existenzieller Erfahrung.91 Obgleich er seine Theorie der Religion also sozial begründet, ist ihr Ursprung wesentlich mit intensiven emotionalen Erfahrungen verbunden. Auch darum sah er sich immer wieder genötigt, seine Religionstheorie gegen eine psychologistische Deutung zu verteidigen, etwa indem er das »Delirium« als sozial »wohl begründet« (310) bezeichnete. Dem Fazit Catherine Bells ist dennoch zuzustimmen: »Indeed, despite his attempts to stay focused on ›social‹ phenomenon, one the critical problems in Durkheim’s sociology is his own recourse to rather psychological descriptions of effervescence as the key experience at the heart of ritual.«92 Kritik an Durkheims Religionssystem ist jedoch nicht nur aus methodischer Hinsicht geboten.93 Der von Durkheim als Urform der Religion bezeichnete Totemismus wurde schon bald als selbst für Australien atypische Religionsform erkannt, der keineswegs als repräsentativ oder gar als Ausgangspunkt sämtlicher späterer Entwicklungen zu sehen ist.94 Auch Durkheims Vorgehensweise der Theorieentwicklung, losgelöst von jeglicher Feldforschung wurde schon bald als problematisch betrachtet. So galten die Elementaren Formen vielen als Musterbeispiel einer petitio principii, die die bereits vorab 91 Dies droht im Rahmen theologischer Debatten um Bekenntnisgegenstände wie auch liturgische Formen immer wieder in Vergessenheit zu geraten. Eine prominente Erinnerung an diesen Bezug formuliert Peter L. Berger in The Heretical Imperative von 1979. 92 Bell: Ritual, 25. Auch Terence Turner beschreibt die Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis von Sozialität und Individualität als Paradoxon, das Durkheim letztlich nicht zu lösen vermochte: »Durkheim’s theory of ritual thus led him into a contradiction he was never able to solve: which came first, social-positivist chicken of external social constraint or the psychological-idealist egg of spontaneous subjective sentiment« (Structure, Process, Form, 211). 93 Auf eine theologische Kritik der von Durkheim erarbeiteten elementaren Glaubensvorstellungen wird an dieser Stelle verzichtet, auch wenn diese den Inhalt ritueller Handlungen bestimmt. Gleichwohl soll es hier vor allem um das Erfassen der Handlungskategorie ›Ritual‹ gehen und deren Einfluss auf die Ritualforschung. 94 Vgl. Lukes: mile Durkheim, 477. Einer der prominentesten Kritiker war Arnold van Gennep, dem daraufhin die Aufnahme in Durkheims Kreis lebenslang versperrt blieb (vgl. aaO., 524–527).
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getroffene Feststellung vom »eminent sozialen Charakter« der Religion nur noch beweisen suchte. Das Soziale als Gegenstand der Religion war nicht die Folgerung, sondern die Prämisse seiner Analyse. Gerade diese grundlegende Konzeption des untrennbaren, nahezu identischen Charakters von Religion und Gesellschaft, Religion und Kultur mag darauf beruhen, dass der Religionsbegriff für Durkheim nicht nur fraglich geworden war, sondern jede eigenständige Kontur verloren hatte.95 Weil er die Aufgabe von Religion in der Formierung und stetigen Erneuerung sozialer Bindungskräfte sah, fanden sämtliche nichtintegrativen Elemente von Religion keine Beachtung. Jener Charakter der Religion, der sie immer wieder auch zur Urheberin sozialer Konflikte werden ließ und deren Rituale die Kraft haben, Gemeinschaften nicht nur zu verbinden, sondern auch zu polarisieren, verschwand hinter den mit Religion positiv verbundenen Gefühlen der »Anlehnung, des Schutzes, der schützenden Abhängigkeit« (560). Noch spezifischer gilt dies im Blick auf Rituale. Gemeinsames Handeln kann nicht pauschal als Ausdruck gemeinsamen Erlebens, Empfindens oder gemeinsamer Vorstellungen gedeutet werden. Aus der Außenperspektive ist das Maß innerer Beteiligung nicht zu ermessen, da Rituale auch unter Zwang ausgeführt werden mussten. Rituelles Handeln war in diesen Fällen weder Ausdruck sozialer Bindung noch der Zustimmung zu den innerhalb der Gesellschaft geltenden Werten.96 Nicht nur aus heutiger Sicht ist diese statische Sicht auf die Funktion und Rolle von Religion und Ritualen inmitten gesellschaftlicher Entwicklungen problematisch und entspricht der gesellschaftlichen Realität nicht. Die mit der Rede vom »religiösen Leben« angelegte Dynamik muss ohne die Spannung zwischen Religion und Gesellschaft, aber auch zwischen Individualität und Sozialität auskommen.97 Problematisch an Durkheims Ansatz ist nicht zuletzt der Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Durkheims Interesse bezog sich ausschließlich auf die Leistung eines Rituals. Den Blick stets auf das gemeinsame Erleben gerichtet, spielte für ihn weder der einzelne Akteur noch das Spezifische eines jeden Rituals eine Rolle. Auch wenn die Beschreibung einzelner Riten mitunter sehr ausführlich ausfällt, ist es nur folgerichtig, dass Durkheim Form und Gestalt der einzelnen Handlungen nur insofern interessieren, als sie einer allgemeinen Funktion dient. Er ging davon aus, dass ein Ritual mehreren Zwecken dienen und verschiedene Rituale derselben Funktion dienen können. Darum könnten sich diese auch »gegenseitig ersetzen«. Daher lobt er die Religion für die »extreme Allgemeinheit ihrer Nutzbarkeit« (520). 95 Vgl. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 202. 96 Vgl. Dietrich Harth: Rituals and Other Forms of Social Action, in: Kreinath/Snoek/ Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 15–36, 19f. 97 In seinem Werk von 1912 betont Durkheim immer wieder den abgeleiteten Charakter individueller Religiosität. Das verwundert insofern, als er in der Auseinandersetzung mit der Causa Dreyfus den Individualismus deutlich verteidigt hatte (vgl. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 206f.).
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Die Vernachlässigung der Bedeutung des Individuums für die Gesellschaft war ohnehin einer der zentralen Kritikpunkt an Durkheims Werk. Dies schlägt sich letztlich auch darin nieder, dass das Ritual selbst in seiner jeweiligen Spezifik aus dem Blick geriet. Gleiches gilt für das rituell handelnde Individuum innerhalb des für ihn gänzlich sozial determinierten Versammlungskontextes. Vermittelt durch die übernommenen Aufzeichnungen scheint sich Durkheim zwar in die Teilnehmer einzufühlen, wie sie trauern und feiern, wie sie denken und imaginieren, ohne dies an ihre Erfahrungen bzw. Schilderungen rückzubinden zu können. Inwiefern er diese Aussagen der Teilnehmer dann aber doch für vernachlässigbar hält, wurde bereits erwähnt. Die Folge davon ist das Absehen von den individuellen Motiven und Zielen, welche die Handelnden selbst verfolgen. Durkheim scheint sich als Beobachter und als Wissenschaftler zudem in der Lage, die ›wahren‹ Motive und den ›wirklichen‹ Zweck ihres Handelns zu kennen: »Die wahre Rechtfertigung der religiösen Praktiken liegt nicht in den sichtbaren Zielen, die sie verfolgen, sondern in der unsichtbaren Wirkung, die sie auf das Bewußtsein haben, und in der Art, wie sie unser geistiges Niveau berühren.« (485) Die Ziele der Akteure scheinen geradezu losgelöst von der ›tatsächlichen‹ Funktion und Wirkung des Rituals. Damit soll nicht behauptet werden, allein die bewussten Motive seien für den Vollzug bestimmter Handlungen ausschlaggebend. Doch zeigt sich hierbei die Tendenz zur Dichotomie zwischen rituell Handelnden und Forschenden, die ihren Ursprung nach Catherine Bell in der grundlegenderen Trennung von Denken und Handeln hat.98 Durkheim entfaltet sein System ausgehend von Dichotomien. Die Unterscheidung von Heiligem und Profanen steht dabei am Ausgangspunkt und hat sich als äußerst wirkmächtig herausgestellt nicht nur für die Religionswissenschaft,99 sondern auch für die Theologie.100 Zwischen beiden Seiten der Wirklichkeit gibt es keine Überschneidung. Während das Heilige seinen Ort im Rahmen der Versammlung hat, ist das Profane ganz dem Alltag zugeordnet. Weil Rituale per Definition als Umgangsformen mit dem Heiligen verstanden 98 S. u. 8.3.2. Die Schwierigkeit einer klaren Unterscheidung von Beobachterperspektive und Perspektive der Ritualakteure beschreibt auch Jack Goody: Religion and Ritual: The Definitional Problem, in: BJS 12 (1961), 142–164, 160 heraus: »The general conclusion is […] that attempts to see […] the sacred-profane dichotomy as a universal part of the actor’s perception of his situation are misleading.« 99 Vgl. besonders die Ansätze Rudolf Ottos (Das Heilige, 1917) und Mircea Eliades (Das Heilige und das Profane, 1957). 100 Man denke nur an die Pastoraltheologie von Manfred Josuttis, der die pastorale Praxis ganz auf den Zugang zu den »verbotenen und verborgenen Zonen des Heiligen« ausrichtet. Auch in neueren Publikationen wirkt – zumindest in den Schlagworten der Überschrift – Durkheims Dichotomie fort (vgl. u. a. Hanns Kerner [Hg.]: Zwischen heiligem Drama und Event. Auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Agende, Leipzig 2008). Auch im Zusammenhang mit dem Sakralbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Frage nach heiligen und profanen Räumen intensiv diskutiert (vgl. u. a. Rainer B rgel [Hg.]: Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen 1995).
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werden, wird der profane Alltag als ritualfreier Raum verstanden. Dies gilt umso mehr, da Durkheim den Alltag als den Bereich des Individuellen konzipiert. Hiermit korrespondiert Durkheims Urteil über seine Gegenwart, der er ›moralische Mittelmäßigkeit‹ attestiert. Damit soll der Befund erklärt werden, warum Religionen innerhalb der westlichen Zivilgesellschaften nur noch ein geringes emotionales und ekstatisches Potenzial aufweisen. Durkheims Erklärung hierfür bestand in der Korrelation zwischen Versammlungshäufigkeit und Intensität. Die immer kürzeren Intervalle zwischen Versammlung und Zerstreuung senken ihm zufolge den Gegensatz zwischen beiden Zeiten und damit die Intensität der Versammlungszeiten. Durkheims Trennung war folgenreich. Sie führte dazu, die Aufmerksamkeit einzig und allein auf jene Rituale zu lenken, die an entscheidenden lebensgeschichtlichen- und kulturellen Schwellen stattfinden. Rituelle Formen des Alltags blieben lange Zeit außerhalb des Blickfelds der Ritualforschung. 7.2.4 Fazit Die aus den Elementaren Formen des religiösen Lebens herausgearbeitete Theorie des Rituals hat dieses als Handlung bestimmt, die kollektiver Ereignisse organisiert, die wiederum gesellschaftliche Bindungskräfte erneuern, sozial stabilisierend wirken und damit der allgemeinen, sozialen Funktion von Religion dienen. Rituale sind für eine Gemeinschaft zentrale Ereignisse, die an bestimmten Orten und zu festen Zeiten stattfinden und damit aus dem Alltag herausgehoben sind. Als Umgangsformen mit dem Heiligen sind sie Durkheims Auffassung zufolge vom Profanen und damit auch von individuellen Vollzügen zu trennen. Rituale lassen eine emotionale ›Hintergrundstrahlung‹ erkennen, die sich der »kollektiven Erregung« (effervescence) ihrer Ursprungsereignisse verdankt. Das Ritual bedient sich körperlicher Gesten wie materieller Objekte, um Geisteszustände zu evozieren, die für die Erfüllung der sozialen Funktion zentral sind. Auf der Ebene der konkreten Handlung erkennt Durkheim eine das Ritual begleitende »rituelle Haltung« (attitude rituelle), die als Verbindung von äußerer, normierter Handlung und innerer Einstellung verstanden werden kann, wobei letztere einerseits zur Akzeptanz der normierten Handlung führt, andererseits eine Entkoppelung von individuellem Gefühl und konkreter Ausdrucksform bewirkt. Die Rekonstruktion erklärt wesentliche Grundzüge der späteren ritologischen Theoriebildung. Durkheims Abhandlung erweist sich als Analyse und zugleich als Auseinandersetzung mit seiner Zeit und der sich beschleunigenden Auflösung kollektiver ritueller Formen. Der Blick auf vermeintlich abgeschlossene soziale Systeme der Vergangenheit, in denen Rituale allgemeine Gültigkeit besaßen und mit breiter gesellschaftlicher Partizipation rechnen konnten, war jedoch weniger historische Analyse als – durchaus aufschlussreiche – Konstruktion einer Gesellschaftsfiktion mit idealisiertem
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Verständnis von Ritualen. Aus diesem Grund wurde der Ritualbegriff in seiner funktionalen Ausrichtung einseitig als stabilisierende, integrierende und affirmative Praxis bestimmt, welche exkludierende, destabilisierende und kritische Optionen von vornherein ausschloss. Der Seitenblick auf den Ritualbegriff der evangelischen Liturgik zeigt, dass die dort zunächst historisch und theologisch begründete Ambivalenz von Ritualen die Ausweitung des Blicks für die Gefahren ritueller Praxis implizierte.101 Am Beispiel der Ritualtheorie Durkheims lassen sich weitere neuralgische Punkte ritualtheoretischer Begriffsbildung benennen. Der Anspruch grundsätzlicher Gültigkeit der erarbeiteten Theorie soll legitimiert werden mittels historischer Rekonstruktion einer vermeintlichen Ursprünglichkeit, welche die Benennung der Möglichkeiten und Bedingungen ihrer Übertragbarkeit auf die Moderne weitgehend schuldig bleibt. Problematisch erweist sich ferner die verallgemeinerte funktionale Zuschreibung, die zumeist lediglich anhand eines Beispiels erarbeitet wurde: Sie führt zum einen dazu, das jeweilige Ritual in seiner konkreten Gestaltung und seiner sequenziellen Logik nur unzureichend zu beachten. Zum anderen erfolgt die Zuschreibung zumeist unter gänzlichem Absehen vom individuellen Erleben und Deuten der handelnden Akteure. Damit ist auch die grundsätzliche Fraglichkeit einer Theorie berührt, welche soziale Phänomene allein aus der Beobachterperspektive ermittelt, wobei der unbeteiligte Wissenschaftler als derjenige erscheint, der die Motive und Ziele der Beteiligten nicht nur anders, sondern besser zu kennen scheint, als diese selbst. Diese Kritik wurde insbesondere von Frits Staal vertreten, der sich zugleich gegen jede funktionale Zuschreibung wandte, insofern sie den Anspruch erhebt, rituelles Handeln umfassend zu beschreiben.
7.3 Von der Semantik zur Grammatik: The Meaninglessness of Ritual (F. Staal) 7.3.1 Radikale Kritik am Funktions- und Kommunikationsparadigma In seinem 1979 veröffentlichten Aufsatz The Meaninglessness of Ritual vertrat Frits Staal (1930–2012) erstmals seine These von der Bedeutungslosigkeit von Ritualen.102 Ausgehend von seinen Feldforschungen zum vedischen Agnicayana-Ritual widersprach er dabei jeder Art der Verknüpfung von Ritualen mit einer ihnen intrinsischen symbolischen Bedeutung und wendete sich ebenfalls gegen das seit Durkheim als unumstößlich geltende funktionale Grundverständnis ritueller Handlungen. Statt nach den hinter der Handlung vermeintlich verborgenen und ihnen zugrundeliegenden Symbolbedeutung zu suchen, forderte er die Ritualtheorie heraus, ihren Fokus auf die Hand101 S. o. 2.6, 4.2 sowie 11. 102 Vgl. Frits Staal: The Meaninglessness of Ritual, in: Numen 26 (1979), 2–22; Ders.: Rules Without Meaning. Ritual, Mantras, and the Human Sciences, New York 1989.
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lungslogik des Rituals selbst zu richten und damit den Schritt von der Semantik zur Syntax zu vollziehen.103 Ausgangspunkt seiner Handlungsanalyse ist die Bestimmung rituellen Handelns als regelgeleitetem Handeln: »Their primary concern, if not obsession, is with rules.«104 Damit korrespondierende Überzeugungen und Deutungen spielen für den Vollzug keine Rolle.105 Sie erweisen sich in doppelter Hinsicht als sekundär: Zum einen handelt es sich bei der Zuschreibung von Bedeutung historisch um eine spätere Entwicklung. Staal will dies mit Blick auf die Entwicklung der Sprache aufzeigen. Ethologische Studien zur Ritualisierung bei Tieren hatten gezeigt, dass Tiere zwar Rituale besitzen, aber keine Sprache.106 Deren Herausbildung begreift Staal somit als Erweiterung ursprünglich bedeutungsloser Rituale (»Rules Without Meaning«) um die Dimension der Semantik zum Zweck der Kommunikation.107 Mantras wie auch religiöse oder magische Formeln (»Amen«, »Abracadabra«) bezeugen Staal zufolge eine Zwischenstufe innerhalb dieses Entwicklungsprozesses. Hier werden die Wörter nicht ihres Inhaltes willen rezitiert, vielmehr handelt es sich um universale, nicht vollständig übersetzbare und auch nicht übersetzungsbedürftige Ausdrücke. In Staals ethologischer Perspektive muss auch die Religion gegenüber dem Ritual als sekundäre Entwicklung verstanden werden. Religion als System von Bedeutungen spiegelt die Suche nach der Bedeutung jener Rituale, die sie vorfindet, ohne sie zu verstehen. Staal zufolge muss die religiöse Vereinnahmung des Rituals überwunden werden. Die Entwicklung des an sich bedeutungslosen Rituals zum religiösen Bedeutungsträger liest er als Verfallsgeschichte.108 Demgegenüber unterstreicht er die Ursprünglichkeit und kulturfundierende Bedeutung von Ritualen. 103 Innerhalb der von Günther Thomas erstellten Klassifikation kommunikationstheoretischer Zugänge zum Ritual handelt es sich dabei um den Schritt von der Perspektive auf das Ritual als »Kommunikation mit Tiefengrammatik« hin zum Verständnis von Ritualen als »Grammatik ohne Kommunikationsfunktion« (vgl. Thomas, 324 f.). 104 Staal: The Meaninglessness, 3. Ähnlich bei Robertson Smith, vgl. o. Anm. 52. 105 Darin zeigt sich eine erstaunliche Nähe zu Durkheim wie auch zu Robertson Smith. Jener hatte betont, dass bei gegebener Treue der Ausführung zu den vorgeschriebenen Regeln »no one cared what he believed about its origin«. Ähnlich formuliert nun Staal: »The important thing is what you do, not what you think, believe or say« (aaO., 4). 106 S. u. 8.1. 107 Zu den sprachanalytisch vorausgegangenen Studien Edmund Leachs mit dem Schwerpunkt Ritualsyntax, die wiederum auf der linguistischen Theorie illokutionärer Akte (Austin, Searle) und der Vorstellung einer sprachübergreifen Universalgrammatik (Chomsky) beruhen, vgl. Bell: Ritual, 68–70. Bell zeigt, dass Staal das linguistische Verständnis aus Rules Without Meaning zugunsten eines mathematisch-logischen Ansatzes verwirft. Staal hoffte dennoch, auf diesem Weg nicht nur zum Ursprung der Religion, sondern auch in die Anfänge der Menschheitsgeschichte vorzudringen (Staal: The Meaninglessness, 21) – eine so weitgreifende wie häufig widersprochene Annahme. 108 Vgl. auch Oliver Kr ger: Die Bedeutungslosigkeit von Ritualen und die Rituallosigkeit der Quäker. Anmerkungen zur Ritualtheorie von Frits Staal, in: Ders. (Hg.): Nicht alle Wege
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Zum anderen bezieht sich die Nachordnung der Bedeutung auf den Vollzug der Handlung. Die exakte Einhaltung der Regeln erfordert die volle Konzentration der Handelnden und verbietet es, begleitend dazu Bedeutungszuschreibungen vorzunehmen: »There are no symbolic meanings going through their minds when they are engaged in performing ritual«109. Die Formulierungen bei Robertson Smith noch einmal steigernd sind Bedeutungszuschreibungen daher nicht nur sekundär und variabel, sondern die Variabilität wird für Staal erst aus der Bedeutungslosigkeit heraus verständlich: »The meaninglessness of ritual explains the variety of meanings attached to it.«110 Der mehr und mehr auf seine Rationalität fokussierte Mensch habe die Einsicht in die Bedeutungslosigkeit seines rituellen Handelns durch dessen Verbindung mit religiösen Inhalten kompensiert: »[I]nstead of remaining useless and pure, it became useful and meritorious.«111 Ähnlich hatte Robertson Smith die Entwicklung des Rituals vom freudigen, auf Gemeinschaft ausgerichteten Ereignis zu einer auf Sühne ausgerichteten Handlung beschrieben und auch kritisiert. Staals Ritualanalyse schlägt nun jedoch wesentlich stärker religionskritische Tön an. Ausgehend von der Deutung von Ritualen als ein »system of acts and sounds related to each other in accordance with rules without reference to meaning«112, bestimmt Staal die Aufgabe der Ritualtheorie darin, die Regeln dieses Systems zu erforschen. Dafür bedient er sich wiederum des Verweises auf die Regeln der Sprache. Er unterscheidet zwischen der Regelbestimmtheit der Handlung und der weitaus weniger zentralen Frage nach dem aktiven Bewusstsein und Wissen um diese Regeln bei den Ritualakteuren. Für das Individuum mag die Kenntnis der Regeln mehr oder weniger bedeutsam sein, für den Fortbestand eines Rituals sei dies meist unerheblich, da die Regeln Resultat eines historischen Prozesses von großer Dauer sind: »It [sc. the knowledge of the rules] may be unconcious because it may reflect knowledge acquired by the species that never became concious in any individual.« Das Bewusstsein der Regeln variiert also je nach Individuen und Kontext, die Regeln selbst sind zeitinvariant. Die weitere syntaktische Analyse der Regeln beginnt Staal ausgehend von der Einzelsequenz (»rite«) und fragt weiter nach den Metaregeln, welche zur Herausbildung einer Gesamtstruktur (»ritual«) führen. Neben der Wiederholung nennt Staal auch die »Einbettung« als typisches Kennzeichen.113 Es ist diese Suche nach Metaregeln, die Staal zufolge
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führen nach Rom. Religionen, Rituale und Religionstheorie jenseits des Mainstreams. Festschrift für Karl Hoheisel, Frankfurt a. Main 2007, 95–113. Staal: The Meaninglessness, 3. AaO., 12. Eine ähnliche Bewertung der Bedeutungsvielfalt findet sich bei Humphrey/Laidlaw (s. u. 9). AaO., 14. Ders.: Rules Without Meaning, 433. Nach dem Studium der Mathematik, Physik und Philosophie versah Staal einen Lehrstuhl für Linguistik und Südasiatische Sprachen an der University of California, Berkeley. Seine Me-
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den Ausgangspunkt echter Ritualwissenschaft als Strukturanalyse ritueller Syntax bilden soll. Staal formuliert damit eine radikale Variante der These von der Selbstzweckhaftigkeit ritueller Handlungen, wie sie grundsätzlich auch in der Liturgik häufig in Anspruch genommen wurde. Mit Ritualen werden nicht nur keine äußeren Zwecke verfolgt, das Ritual ist auch ganz und gar auf sich selbst und seine internen Regeln bezogen (»self-absorbed«): »In ritual activity, the rules count, but not the result.«114 Mit der Bezeichnung als »purer Aktivität« löst Staal das Ritual aus jedem funktionalen und instrumentellen Kontext. Hier sieht er den entscheidenden Unterschied zum Alltagshandeln. Unterstützung seiner These deutet er sodann in der Tatsache, dass die (Be-)Deutungen für die Akteure in keiner Weise leitend noch normierend für den Vollzug der Handlungen gelten können. Als Grund für ihr Handeln verweisen diese – zumindest im Fall des von Staal untersuchten Rituals – häufig auf das Ritual selbst sowie auf die Tradition, die ihnen die Wiederholung und die für sie geltenden Regeln vorschreibt.115 Zwar ist sich Staal bewusst, dass mit Ritualen auch äußere Ziele verfolgt werden können, doch bezeichnet er diese nur als »Nebeneffekte«. Genauso wenig können die begleitenden positiven Gefühle (»a pleasant, soothing effect«), eine traditions- und wertvermittelnde Funktion oder das Stiften von sozialem Zusammenhalt als hinreichende Gründe gesehen werden, um einerseits die Motivation zur Ausführung der Handlung zu begründen, und andererseits die Fixierung ritueller Handlungen und den häufig anzutreffenden »extremen Konservativismus«116 plausibel zu machen. Staals Folgerung: Nur das, was reale Folgen in der Welt haben soll, bedürfe der permanenten situativen Anpassung. Da eine Anpassung des Rituals nicht stattfindet, kann das Ritual nur bedeutungs- und zwecklos sein, d. h. seine Begründung, seinen Zweck und sein Ziel in sich selbst finden.117
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thode spiegelt einen naturwissenschaftlich-logischen Ansatzpunkt. Auch der Begriff der »Einbettung« wird sowohl im mathematischen wie im linguistischen Kontext verwendet, etwa wenn von der »Einbettung« eines Nebensatzes in einen Hauptsatz die Rede ist. Staal verwendet hier eine eigentümliche, wenngleich keinesfalls singuläre Zuordnung der Begriffe »Ritus« und »Ritual« (vgl. o. 6.4). Staal: The Meaninglessness, 9. Diesem Argumentationsmuster widmet sich auch Durkheim. Aus der Tatsache, dass die nach Durkheim angestrebten physischen Ziele (bei Durkheim die »Vermehrung der Totemgattung«) ritueller Handlungen die Handlung nicht erklären können und die Teilnehmer noch dazu zur Begründung ihrer Handlungen auf die Tradition verweisen, kann auf die »tieferen Gründe«, nämlich die soziale und moralische Funktion der Handlungen geschlossen werden, welche den Handelnden jedoch unbewusst sind (vgl. Durkheim: Die elementaren Formen, 499). Staal: The Meaninglessness, 11. Dem widerspricht auch nicht die von Staal beobachtete syntaktische Metaregel der »modification«. Die Gründe der Modifikation von Riten innerhalb verschiedener Rituale liegen nicht in äußeren Bedürfnissen, sondern stellen interne Verweise dar. So können Riten verkürzt in anderen Ritualen auftauchen um anzudeuten, dass ein Ritual auf einem anderen aufbaut.
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Die Problematik dieser Radikalität zeigt sich unmittelbar bei der Frage, warum Ritualhandlungen trotz ihrer Bedeutungslosigkeit häufig mit großer Motivation ausgeführt werden. Auch für Staal muss der letzte Grund für die bleibende Bedeutung rituellen Handelns offen bleiben.118 7.3.2 Anfragen an Staals theoretische Grundlagen Freilich sind Staals Thesen nicht unwidersprochen geblieben.119 Zunächst wurde die Datengrundlage seiner Erkenntnisse in Zweifel gezogen. Staal hatte das äußerst aufwendige, und zu dieser Zeit kaum noch lebendige AgnicayanaRitual 1975 extra zu Forschungszwecken aufführen lassen.120 Dessen Vorschriften waren außerordentlich umfangreich dokumentiert und eine Gruppe von Personen besaß noch immer die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten. Dass Bedeutung und Funktion eines Rituals an der Grenze des Aussterbens fraglich werden, kann kaum verwundern, wie zahlreiche Kritiker anmerkten.121 Auch die bei Staal immer wieder auftauchende Vorstellung eines ur118 Vgl. Frits Staal: Within Ritual, About Ritual and Beyond, in: Religion 21 (1991), 227–234, 233: »Why, then, do rituals survive? I think I know the answer. They survive because animals and people like to perform them. But whence that strange liking? Hereupon the ethologists haw speculated and I speculate […] but I don’t think we have the answer.« Der von Staal aufgeworfenen Frage, warum Menschen überhaupt rituell handeln, widmet sich ausgehend von der These der Bedeutungslosigkeit ausführlich Axel Michaels: »Le rituel pour le rituel« oder wie sinnlos sind Rituale?, in: Corina Caduff/Joanna Pfaff-Czarnecka (Hg.): Rituale heute. Theorien, Kontroversen, Entwürfe, Berlin 1999, 23–48. 119 Zur Kritik vgl. besonders Hans H. Penner: Language, Ritual and Meaning, in: Numen 32 (1985), 1–16, Turner: Structure, Process, Form, Axel Michaels: Ritual and Meaning, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 247–261. In Rules Without Meaning hat Staal einige Kritiken versucht zu widerlegen. Etwa den Einwand, dass von ihm untersuchte Ritual sei einzigartig, zu voraussetzungsreich, zu sehr auf Ritualexperten beruhend und ohnehin zu weit weg von »common rites of ordinary people«. Dem begegnet Staal mit Verweis auf die Musikwissenschaft, die sich ebenfalls nicht nur mit Wiegenliedern beschäftigt, sondern vor allem mit Mozart. Die mentalitätsgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte mögen ihn darin widerlegen. Ohnehin geht es in der Wissenschaft darum, Einzigartiges in universalen, generell applizierbaren Kategorien darzustellen. Wenngleich Mantras nur in einigen Kulturen eine Rolle spielen, verweisen sie doch auf universale Formen, die sich auch in »abracadabra, amen, aleluja and hosanna« zeigen. Der Versuch, Bedeutung in Strukturen einzuzeichnen, die keine Bedeutung haben, beruht auf dem menschlichen Bedürfnis Sinn zu generieren – wiederum verwendet Staal hier Argumente, die bereits bei Smith auftraten. Auch wenn der Sinn bestimmter menschlicher Verhaltensweisen durch Dogmen, die sich aus Mythen manifestiert haben, gewährleistet werden soll, bleibt dieser Sinn für den außenstehenden Beobachter so willkürlich wie volatil. 120 Der dabei entstandene Dokumentarfilm von Staal und Robert Gardner trägt den Titel »Altar of Fire« (1976). 121 Vgl. auch Bell: Ritual, 247. Karin Barber: Interpreting Texts and Performances, in: Richard Fardon u. a. (Hg.): The SAGE Handbook of Social Anthropology, Los Angeles u. a. 2012, 69–83, 71–73 diskutiert inwiefern künstlich initiierte Performanzen den Erkenntnisgewinn beeinflussen. Dabei listet sie auch zahlreiche Vorteile auf, die solche Aufführungen bedeuten kön-
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sprünglichen ›reinen‹ – also ganz in der bedeutungsfreien Handlungsdimension aufgehenden – Rituals, das im Laufe seiner Geschichte von anderen Dimensionen wie Bedeutung und Zweck überlagert wurde, erhielte starke Kritik. Hier werde Ritualanalyse mit der Absicht der Kulturkritik betrieben, so der Vorwurf. Eine weitere Kritik richtete sich gegen Staals sprachtheoretischen Begriff von ›Bedeutung‹. Hans H. Penner zufolge sei bei Staal nur referenzielle Bedeutung im Blick, der zufolge eine Handlung A vergleichbar einem sprachlichen Zeichen einer Bedeutung B eindeutig zugeschrieben werden könne. Bereits Gottlob Frege hatte Bedeutung und Referenz klar unterschieden. Sollte einem Ritual also keine Referenz zugeschrieben werden können, sind damit andere Dimensionen von Bedeutung aber nicht ausgeschlossen. Wie sprachliche Ausdrücke Sinn machen können, ohne auf eine konkrete Bedeutung zu referieren, könnte auch der Ritualvollzug sinnstiftendes Handeln darstellen, ohne einer konkreten Bedeutung zu entsprechen.122 Schließlich ist noch auf Kritik einzugehen, die sich explizit mit Staals Analyse der Eigenschaften ritueller Handlungen auseinandersetzte. Terence Turner wies vor allem Staals Regelbegriff als erkenntnisleitender Kategorie für Planung und Vollzug des Rituals zurück. Die bei Staal damit verbundene Fixierung der Handlung entspricht nach Turner nicht den faktischen Adaptionen, die Ritualvollzüge stets begleiten müssten, nicht zuletzt aufgrund jeweils veränderter äußerer Umstände. Statt starrer Fixierung sei vielmehr ein gewisser Grad an Unbestimmtheit für das Ritual konstitutiv, der die Handlung für Effekte auf sich selbst öffne.123 Turner schlug daher vor, anstatt von Regeln von ›Schemata‹ zu sprechen, welche den Handlungsvollzug leiten, ihn aber nicht gänzlich festschreiben und gegenüber situativen Anpassungen abschirmen.124 Er sah Staals ›Regel‹-Begriff auch deshalb als mangelhaft, weil er nicht geeignet sei, die Reflexivität im Akt der Vorbereitung wie der Durchführung in den Blick zu bekommen. Die für das Ritual maßgeblichen Ausführungsbestimmungen seien zwar traditionsbezogen, aber ihr Ursprung könne nicht einfach fraglos in eine Urzeit projiziert werden. Statt sich allein willkürlicher Festsetzungen zu verdanken, reklamierte Turner eine eigene Form von Rationalität, die diesen Regeln unterliege.125 Turners Analyse of-
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nen, von der Genauigkeit, mit der die Handlungen gegenüber alltäglicher Praxis ausgeführt werden, bis hin zu der Tatsache, dass die Performer selbst dafür Sorge tragen, dass die wesentlichen Elemente vom Beobachter als solche erkannt werden. Vgl. Penner: Language, Ritual and Meaning, 2. Penners Verweis auf die Unterscheidung Freges von ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ (bei Frege ist die Verwendung der Worte bekanntlich umgekehrt zum heutigen Sprachgebrauch) wirft die generelle Frage auf, was unter ›Bedeutung‹ in Bezug auf Rituale überhaupt zu verstehen ist. Lediglich erwähnt sei hier die Auseinandersetzung mit dieser Frage bei Michaels: »Le rituel pour le rituel« oder wie sinnlos sind Rituale? Vgl. Turner: Structure, Process, Form, 223. In eine ähnliche Richtung zielt der Begriff des Prototypen bei Humphrey/Laidlaw (s. u. 9.6.2). Die Frage, ob und inwiefern Rituale rationales bzw. kognitives Handeln darstellen, wurde breit
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fenbart Staals Unterbestimmung ritueller Handlungen als performative Handlungen. Wenngleich Rituale nicht selten ohne konkretes Ziel ausgeführt werden, bewirken sie doch eine Veränderung im Handelnden. Diese Thematik wurde seither unter dem Stichwort der ›efficacy‹ immer wieder verhandelt.126 Auch die Frage nach der Bedeutung lässt sich durch den Verweis auf ethologische Erkenntnisse oder das Verzichten auf situative Anpassungen nicht ohne Weiteres Auflösen. Auch wenn den Handelnden selbst die Bedeutung des Rituals nicht bewusst ist und sie keine externe Absicht benennen können, so verbinden doch im Fall des (kostenaufwendigen) AgnicayanaRituals zumindest die Menschen mit dem Ritual eine Bedeutung, wenn nicht gar einen Nutzen, die den Vollzug des Rituals weiterhin befürworten und unterstützen. Insofern gilt jede intentionale Handlung als zumindest implizite Verkörperung von Werten. Auch hier hielt Turner den Begriff des ›Schemas‹ für geeignet: »Schemas also retain the quality of purposive activity, and thus carry, implicitly or explicitly, an intrinsically meaningful aspect. This means that a schema as a whole can have a meaning, not reducible to the sum of its symbolic constituents.«127 Die Bezeichnung ritueller Handlungsgefüge als absichtsvoll oder zweckbezogen verschiebt den Ort der Frage nach einer möglichen Bedeutung des Rituals von einer intrinsischen Qualität der Handlung hin zu den rituellen Akteuren: Ihrem Handeln muss eine Absicht zugrundeliegen, jedoch geht diese nicht darin auf, welche Absicht den Handelnden unmittelbar bewusst sind.
7.3.3 Fazit: Staals Kritik als Impuls zur Neukonzeption ritualtheoretischer Forschung Rituale wie den christlichen Gottesdienst im Ganzen als bedeutungslos zu verstehen, erscheint höchst unplausibel.128 Einer solchen Behauptung stünden nicht zuletzt die unzähligen Werke gegenüber, die darum bemüht sind, die diskutiert. In der Diskussion um den Ritualisierungsbegriff (s. u. 8.3) wird dies noch einmal thematisiert. An dieser Stelle sei nur auf die jüngst von Burckhard Dücker betonte Unterscheidung von zweckrationalem, wertrationalem und dem für Rituale kennzeichnenden symbolrationalen Handeln hingewiesen (D cker: Rituale, 102–108). 126 Vgl. Jørgen Podemann Sørensen: Efficacy, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 523–531; William S. Sax/Johannes Quack/Jan Weinhold (Hg.): The Problem of Ritual Efficacy, Oxford/New York 2010. 127 Turner: Structure, Process, Form, 223. 128 Ein experimenteller Versuch, mit Bedeutung und Bedeutungslosigkeit auf liturgischem Gebiet zu operieren, findet sich bei Stephan Weyer-Menkhoff: Die Ästhetik der Liturgie, in: LJ 52 (2002), 254–261, 258: »Bleibe ich bei der Oberfläche, so ist der Gottesdienst kein Zeichen. Besteht der Gottesdienst aber nicht aus Zeichen, so hat er auch keine Bedeutung. Weder transportiert er Bedeutung noch entwickelt der Gottesdienst irgendeine Bedeutung. Wer im Gottesdienst Bedeutung will, der zerstört die Oberfläche.«
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Bedeutung und Bedeutsamkeit ritueller Vollzüge zu ergründen und zu diskutieren. Staals radikale Theorie von der Bedeutungslosigkeit ritueller Handlungen auf inhaltlich-symbolischer wie funktionaler Ebene eröffnet aber dennoch wichtige neue Perspektiven für die Ritualtheorie und hinterfragt bisher gültige Plausibilitäten. Sie ist daher erster Linie als Anfrage zu lesen. Staal macht darauf aufmerksam, dass funktionale und symbolische Deutungen sich kaum mit dem Ritualvollzug selbst auseinandergesetzt haben. Sie erfassen weder die konkreten Handlungsregeln, die häufig komplexe Struktur noch die Deutungsmuster der Akteure. Nur so lässt sich für ihn erklären, dass die Spannung zwischen gewandelter Bedeutung bei gleichzeitiger Kontinuität der Handlungsform bisher noch nicht zum Gegenstand ritualtheoretischer Reflexionen wurde. Indem Staal auf Basis eines sprachwissenschaftlichen Ansatzes die grammatischen Regeln (Syntax) nicht nur von der Bedeutung (Semantik und Kommunikationsintention) unterscheidet, sondern letztlich auch davon trennt und erstere zum eigentlichen Gegenstand ritualtheoretischer Forschung erklärt, fokussiert er die Analyse verstärkt auf die konkrete Ritualhandlung selbst. Der Nachweis einer übergeordneten Bedeutung von Ritualen, deren Möglichkeit Staal verneint, müsste seiner Kritik dennoch darin entsprechen, dass sie die Verbindung zur konkreten Handlung herzustellen vermag und damit auch zur Intention und dem Erleben der Akteure. Auch dann, wenn die Sequenz nicht gegenüber dem Gesamtritual einseitig überbetont werden soll, darf der Blick auf das Ganze nicht die Untersuchung der Handlungslogik en Detail unterlaufen. Staals Einwand lenkt den Blick also auf die »Oberfläche« des Rituals unter Absehung der ihm zugeschrieben Bedeutung, sei es in religiösen Texte oder theologischen Reflexionen.129 Seine Theorie markiert damit zugleich einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Ablösung der Ritualtheorie aus einem exklusiv religiösen Kontext. Ritualtheorie sollte nicht länger als Teilgebiet der Religionswissenschaft konzipiert werden, sondern als eigenständiges Forschungsfeld (s. u. 8.2.1). Die Trennung von Handlung und Bedeutung behauptet Staal auch für den Vollzug der Handlung selbst. Er zeigt auf, dass die hierfür nötige Konzentration zur Einhaltung der Regeln und die Fokussierung der Aufmerksamkeit (die auf dem Gebiet der Liturgik bereits bei Jetter aufgetaucht war130) es nicht zulässt, widerspruchsfrei zugleich davon zu sprechen, dass Rituale expressive Handlungen sind, die dem Ausdruck spezifischer Bedeutungsgehalte dienen, denn: »There are no symbolic meanings going through their minds when they are engaged in performing ritual.« Staals These von der Bedeutungslosigkeit lässt sich konstruktiv als Zuspitzung der Deutungs- und Bedeutungsoffenheit des Rituals lesen. Insbesondere theologische Interpretationen religiöser Vollzüge implizieren häufig 129 Den Blick auf die ›Oberfläche‹ betont zur selben Zeit auch Rappaport: Obvious Aspects. 130 Vgl. Jetter: Symbol und Ritual, 22. S. o. 2.5.2.2.
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eine geradezu ontologische Verbindung zwischen Handlung und Bedeutung. Dieser Ansicht hält Staal die Kontingenz der Deutungen vor Augen. Innerhalb der Ritualtheorie evangelischer Liturgik konnte beobachtet werden, dass die Bedeutungsoffenheit als Grund der integrativen Funktion von Ritualen herausgestellt wurde. Dennoch führte dies nicht zum generellen Hinterfragen der Annahme einer intrinsischen Bedeutung. Mit Staals Anfrage wird deutlich, dass die bei Robertson Smith angelegte Umkehr des Verhältnisses Ritus und Mythos letztlich dazu führt, Handlungsdeutungen nicht länger als Voraussetzungen und Handlungsgrund zu verstehen, sondern als dem Handlungsvollzug nachgeordnete Auswirkung. 7.4 Zusammenfassung Mit der Ritualtheorie Frits Staals verband sich die schärfste Anfrage an bisherige ritualtheoretische Grundannahmen. Staal war der Ansicht, dass die Ritualen zugeschriebene funktionale Bedeutung, d. h. ihre sozial stabilisierende, organisierende und identitätsstiftende Wirkung, den tatsächlichen Vollzug motivational nicht hinreichend zu begründen vermag. Dasselbe attestierte er den mit Ritualen verbundenen, wahlweise sie begründenden oder ihnen korrespondierenden symbolischen Deutungen. Staal forderte daher die Ritualtheorie auf, sich stärker auf die Untersuchung der konkreten Handlungsform auszurichten, statt vermeintlich hinter den Handlungen stehende Bedeutungen ausfindig zu machen. Rituale, so seine These, sind an sich bedeutungslos. Obgleich Staal damit eine zentrale Wirkungslinie ritualtheoretischer Forschung seit Robertson Smith – mit Parallelen zur Argumentation innerhalb der Liturgik131 – radikal in Frage stellte, zeigen sich doch auf mehreren Ebenen wesentliche Gemeinsamkeiten. Diese betreffen sowohl zentrale Einsichten, aber ungeklärte Fragestellungen. Die daraus erwachsende theoretische Aufgabe beförderte letztlichen einen Neuansatz innerhalb der Ritualtheorie, wie er mit dem Ritualisierungsparadigma (8.) einsetzte. Grundsätzliche Übereinstimmungen zwischen Robertson Smith, Durkheim und Staal lassen sich zunächst bei der Bestimmung charakteristischer Eigenschaften ritueller Handlungen beobachten. Es fällt auf, dass alle drei Autoren davon ausgehen, dass Rituale von positiven emotionalen Wirkungen begleitet werden. Sei dies die Betonung des ursprünglich fröhlichen Charakters des Opferfestes bei Robertson Smith, die Erinnerung an die Erfahrung »kollektiver Erregung« oder Efferveszenz bei Durkheim oder Staals Erwähnung eines »wohltuenden und beruhigendes Effekts«, der sich beim Vollzug einstellt. Als formale Kennzeichen erwähnen die Autoren allem voran die Fixierung des Rituals aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Regeln. Trotz 131 S. o. 2.
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des Grundanliegens der Elementaren Formen des religiösen Lebens eine soziologische Begründung der Religion zu liefern, für die das Verhalten und Erleben des Einzelnen von geringerer Bedeutung ist, haben sich Durkheims Überlegungen zu einer »rituellen Einstellung« als intensive Auseinandersetzung mit dem Ritual als spezifischer Handlungsform und ihrer Motivation erwiesen. Staal, der stärker an den konkreten Konstruktionsregeln interessiert war, fokussierte auf die Wiederholung und Einbettung ritueller Sequenzen innerhalb eines Ritus. Diese zeitliche Invarianz und Stabilität des Rituals wird als Hinweis verstanden, dass Rituale ihrer Bedeutungszuschreibung vorausgehen. So argumentierte Robertson Smith für die Priorität des Ritus vor dem Mythos als der ältesten Stufe der Religion, während Staal das Ritual in Analogie zur Sprache als Syntax ohne Semantik beschrieb. Gemeinsam ist den Autoren die daraus folgende These, dass mit der Bedeutungszuschreibung ein Verlust einherging, der die ursprünglich »reine« und selbstverständlich ausgeführte Handlung zunehmend verdrängt und zu einer Verinnerlichung und Vergeistigung führte. Staal kritisiert dies zudem als Übergang von der reinen Handlung des Rituals zur Religion. Angesichts der faktischen Verzahnung von Handlung und Deutung – die zudem die Voraussetzung bildet, um sinnvollerweise darüber zu streiten, ob der Ritus oder Mythos primär sind – belegen die Theorien im Umkehrschluss, dass das Verhältnis diese beiden Elemente bisher nicht befriedigend beschrieben wurde. Weiterhin zeigt sich bei allen drei Autoren eine problematische Engführung ritueller Praxis auf besonders elaborierte und umfangreiche, für das Leben der Beteiligten mit großer Bedeutung versehene Rituale. Bei Robertson Smith wie auch bei Durkheim ist dies durch die Absicht begründet, die fundamentale soziale Funktion von Ritualen aufzuzeigen. Bei Staal hingegen erfolgt der Rückgriff auf das äußerst aufwendige Agnicayana-Ritual mit der Absicht, das seiner Ansicht nach typische Übergewicht ritueller Handlungsregeln gegenüber ihren Deutungen darzustellen. Beide Ansätze sind nicht in der Lage einen Bezug zum Alltag herzustellen. Weder kommen Rituale im Alltag in den Blick, noch werden die Auswirkungen des Ritualvollzugs auf den Alltag deutlich. Bei Durkheim war diese Unterscheidung fundamental mit der Trennung von Heiligem und Profanem verknüpft. Die starke Betonung der sozialen Verbindlichkeit von Ritualen erschwert die Anschlussfähigkeit diese Theorien auf das Verständnis der Ritualpraxis moderner, sozial schwächer normierter Kulturen. Die bisher dargestellten Ansätze lassen erkennen, inwiefern jede Ritualtheorie implizit Analyse und Deutung ihrer Gegenwart ist. Das Ausgreifen auf vormoderne, vermeintlich einfache Strukturen erweist sich dabei als Brennspiegel und Utopie ritualtheoretischer Theoriebildung. Immer wieder war es der Kontrast zur meist als ritualarm empfundenen Gegenwart, der die Ritualforschung motiviert hat: »In sum, the nostalgia for ritual led to its discovery
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everywhere and thus ironically reinforced its absence in modern, secular culture.«132 Seit Ende der 1970er Jahre stand die Ritualtheorie vor der Aufgabe, ihre eigenen Prämissen explizit zu machen und sich dabei mit der Tatsache auseinanderzusetzten, dass allein der Begriff des Rituals kein ›Ding an sich‹ an sich ist, sondern Resultat eines Reflexionsprozesses aus der Beobachterperspektive. Das Verhältnis von Alltag und Ritual, aber auch das von Handlung und Bedeutung musste neu konzipiert werden. Der Schritt hin zu einer Ritualtheorie, welche dem Ritualverhalten in der Moderne gerecht wird, bedurfte darüber hinaus auch der Modifikation der Vorstellung vom starren, zeitinvarianten Ritual. Der Blick auf die Rituale des Christentums ließ erkennen, dass es sich bei diesen Zuschreibungen um historische Fiktion und rituelle Konstruktion handelt. Die genannten Aufgaben beförderten die Herausbildung der neueren Ritual Studies, die Form und Funktion neu ins Verhältnis setzen, indem sie die konkrete Handlung als Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung wählen.
132 Grimes: Practical and Cultural Contexts, 22.
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8 ›Ritualisierung‹ als Forschungsparadigma und ritualtheoretischer Ansatz Als Mary Douglas 1970 in ihrem berühmte Werk Natural Symbols über den Verlust der Ritualfähigkeit in der Moderne schrieb, stand sie unter dem Eindruck der Studentenproteste in zahlreichen westlichen Ländern wie auch der Neuordnung des Katholizismus durch das II. Vaticanum. Hinter der allgegenwärtigen Kritik an autoritären Traditionen, sanktionierten Lebensentwürfen und den allgemeinen Auflösungserscheinungen einstmals verbindlicher Rituale sah sie einen aggressiven Anti-Ritualismus am Werk.133 Geprägt war Douglas ferner durch Durkheim und dessen auf Dichotomien konstruierte Ritualtheorie, die Rituale im Gegenüber zu alltäglichen Handlungen verstand. Zwischen der Zeit der »Zerstreuung«, in denen jeder seinen individuellen Bedürfnissen und Zielen nachgeht, und den Zeiten der »Versammlung« als Zeit der Gemeinschaft und des Rituals, gab es Durkheim zufolge keine Berührungspunkte (s. o. 6.2). Die neuen Rituale, die sich etwa in der politischen Protestbewegung entwickelten, wurden von ihr nicht beachtet. Das gelang erst, als mit dem Begriff der ›Ritualisierung‹ ein neues Verständnis von Ritualen Einzug hielt, das sich innerhalb der letzten Jahrzehnte in der Ritualforschung durchgesetzt hat. Zeitgleich mit der dem Begriff der ›Ritualisierung‹ bildeten sich die sogenannten modernen Ritual Studies als interdisziplinäres Forschungsprogramm heraus. Die folgende Darstellung setzt wiederum mit einem kurzen Blick in die Begriffsgeschichte der ›Ritualisierung‹ ein. Dadurch sollen die unterschiedlichen Einflüsse deutlich werden, die in den Begriff mitgeprägt haben. Anhand von Ronald Grimes und Catherine Bell soll dann ausführlicher dargestellt werden, was unter dem Leitbegriff ›Ritualisierung‹ zu verstehen ist. Dabei ist zum einen auf wissenschaftstheoretische und -organisatorische Einsichten der Autoren Bezug zu nehmen. Zum anderen soll am Beispiel der Ritualkritik (Grimes) sowie der Analyse von Ritualen unter den Aspekt der Selbstdifferenzierung und Aushandlung von Machtverhältnissen (Bell) jeweils eine zentrale Argumentationsfigur herausgegriffen werden, die exemplarisch das dynamische Ritualverständnis verdeutlicht und zugleich ein neues Licht auf die Vorwürfe gegenüber Ritualen aus Sicht der protestantischen Theologie wirft. Das Kapitel schließt wiederum mit Überlegungen zu einer Neukonzeption des Ritualbegriffs evangelischer Liturgik. 133 »All criticism of particular ritual are treated as attacks on ritual as such, which is unfortunate in that it prevents the writer developing any theory of symbolic or ritual change in terms other than the breakdown, or possibly the growth, of symbolism« (E. H. Lurkings: Symbols and Society, in: The Expository Times 85 [1973], 61). Douglas kennt den hier zu behandelnden Begriff der Ritualisierung in seiner graduellen Konnotation zwar (Douglas: Natural Symbols, 58), bezieht in aber lediglich auf die Alternativen unterschiedlicher Gesellschaftsformen.
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8.1 Zur Geschichte des Begriffs ›Ritualisierung‹ Der Begriff ›Ritualisierung‹ taucht erstmals unmittelbar am Anfang des 20. Jahrhundert auf, vornehmlich in englischsprachigen ethnologischen134 und religionswissenschaftlichen Abhandlungen. Grundsätzlich wird mit dem Begriff die Genese eines Rituals bezeichnet. Im Rahmen der Mythos-RitusDebatte hatte Robertson Smith für die Priorität des Ritus plädiert und damit für eine Entstehung des Mythos als Form der Auslegung des vorgegebenen, feststehenden Ritus. Vertreter der gegenteiligen Ansicht wie John R. Swanton wollten hingegen beschreiben, wie sich auf der Grundlage des Mythos das Ritual herausbildete und verwendeten dafür den Begriff der ›ritualization‹.135 Die ersten Nachweise des Begriffs lassen noch keine feste Verwendung erkennen. In seiner Abhandlung von 1910 spricht Alexander Francis Chamberlain vor dem Hintergrund evolutionsgeschichtlicher Forschung über ›ritualization‹ als Überführung von Mythen in dramatische Darstellungsformen. Diesen Vorgang deutet er positiv als Zeichen kultureller Entwicklung.136 Der Bezug zur Entwicklungspsychologie wurde prägend für die weitere Begriffsbildung. Interessant vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit immer wieder aufgegriffenen Frage nach Bedeutung und korrektem Vollzug von Ritualen ist auch die Erwähnung des Begriffs bei George W. Gilmore 1914, der den Begriff auf den veränderten Umgang mit Texten bezieht, insofern sie religiös rezipiert und in religiöse Handlungen integriert werden.137 Hier geht es nun nicht mehr nur um das Entstehen gänzlich neuer Handlungen, sondern 134 Vgl. Harriet C.B. Alexander: Medical Folklore of Childhood, in: Medicine. A Monthly Record of the World’s Progress in Medicine and Surgery 19 (1904), 281–284, 281. Alexanders verwendet den Begriff jedoch nur negative (»unritualized«) und versteht ihn als Begriff für den gesellschaftlichen Initiationsprozess speziell eines Kindes. Ein »unritualisiertes« Kind hat damit (noch) keine Aufnahme in die Gesellschaft erfahren. 135 Vgl. John R. Swanton: Some Practical Aspects of the Study of Myths, in: The Journal of American Folk-Lore 28 (1910), 1–7, 6: »›Ritualization of myths‹ takes place when an attempt is made to weave together the sacred legends into a consistent tribal, clan, or society story, the telling of which is frequently accompanied by external ceremonies.« 136 Vgl. Alexander F. Chamberlain: The Child. A Study in the Evolution of Man, London 1900, 46. 137 In seiner 1914 veröffentlichten Abhandlung über die Entstehung vedischer Texte beschreibt Gilmore, wie die Entstehung von Religion überhaupt mit ›ritualization‹ zusammenhängt. Er versteht darunter die Tatsache, dass Texte, deren Verwendung bestimmten Regeln unterstellt werden – Beschränkung des Zugangs auf bestimmte Personenkreise, Rezitation nur im unmittelbaren Umfeld der zentralen Opferhandlung, genaue Beachtung der korrekten Wiedergabe des Textes etc. –, die Genese weiterer Texte hervorrufen, in denen jene wiederum Aufnahme finden. Dadurch erfährt sich nicht nur der Status des Ausgangstextes eine starke Aufwertung. In einem veränderten textlichen Umfeld modifiziert sich auch seine Bedeutung (vgl. George W. Gilmore: Ethnic Scriptures. III. India, Vedas and Brahmanas [From Nature to Pantheism], in: The Homiletic review. An International Magazine of Religion, Theology, and Philosophy 67 [1914], 449–454, 451).
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um die Veränderung der Qualität einer ursprünglich alltäglichen Handlung im Kontext religiöser Praxis. Vor diesem Hintergrund ist die mitunter geäußerte Ansicht zu korrigieren, der Begriff sei auf Julian S. Huxley zurückzuführen, den Gründungsvater der Ethologie.138 An der rasch wachsenden Popularität des Begriffs hat er gleichwohl großen Anteil. Ausgangspunkt ist ein Aufsatz aus dem Jahr 1914 über das Balzverhalten von Haubentauchern. Darin beschreibt Huxley den Prozess der Überführung einer ursprünglich unmittelbar zweckbezogenen Handlung in ein Ritual.139 Neben zweckbezogenen Handlungen und Ritualen unterscheidet Huxley noch »symbolische Handlungen«. Diese sind zwar nicht unmittelbar funktional, aber dennoch bedeutungsvoll und stellen für ihn eine Zwischenstufe bei der Herausbildung von Ritualen dar. Bei Ritualen schließlich handele es sich nur noch um »lediglich angenehme Selbsterschöpfungsprozesse«140 ohne jede Bedeutung. Huxley wollte den zunächst innerhalb der Evolutionsbiologie angesiedelten Ritualisierungsprozess auf die Verhaltensbiologie generell anwenden und suchte daher nach Möglichkeiten einer (Rück-) Übertragung auf das Verhalten des Menschen.141 Auch der mit Huxley befreundete und von ihm geförderte Konrad Lorenz arbeitete intensiv an einem ethologischen Ritualisierungsprozess.142 Für Lorenz fallen ritualisierte Handlungen wie Balz- oder Drohgebärden durch ihre Stilisierung wie durch eine für sie »typische Intensität« auf, mit der sie ausgeführt werden. Diese formalen Merkmale sollen die Übermittlung von Informationen unter Vermeidung von Ambiguitäten ermöglichen, wie dies etwa in Gefahrensituationen notwendig 138 Vgl. etwa Werlen: Ritual und Sprache, 70–72; Dorothea Baudy: Ethology, in: Kreinath/ Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 345–359. Auch Erik H. Erikson (Die Ontogenese der Ritualisierung, in: Psyche 7 [1968], 481–501, 481) bezieht sich auf Huxley. 139 »I mean the gradual change of a useful action into a symbol and then into a ritual: or, in other words, the change by which the same act which first subserved a definite purpose directly comes later to subserve it only indirectly (symbolically), and then not at all« (Julian S. Huxley: The Courtship-habits of the Great Crested Grebe [Podiceps cristatus]; with an addition to the Theory of Sexual Selection, in: Proceedings of the Zoological Society of London 1914, 491–562, 506). 140 Freilich spricht Huxley von diesem »merely pleasurable self-exhausting processes« (aaO., 507) im Kontext des Balzverhaltens von Haubentauchern, weshalb eine schlichte Gleichsetzung mit seinem Ritualisierungsverständnis beim Menschen kaum naheliegt. Es ist außerdem wichtig festzuhalten, dass der Begriff Ritualisierung hier noch nicht explizit auftaucht und zudem innerhalb der Theorie Huxleys zahlreiche Veränderungen erfahren hat. 141 Vgl. Ders.: A Discussion on Ritualization of Behaviour in Animals and Man. Discussion held 10 to 12 June 1965, London 1966. Noch im hohen Alter von 80 Jahren organisierte Huxley 1967 dazu eine interdisziplinäre Konferenz unter dem Titel »Le comportement rituel chez l’homme et l’animal«, die dem Konzept der ›ritualisation‹ gewidmet war (publiziert in vgl. Ders.: Le comportement rituel chez l’homme et l’animal, Paris 1971, erschienen mit dem englischen Untertitel »Ritualization of behaviour in animals and man«). Zu den Merkmalen ritualisierter Verhaltensweisen vgl. Jean-Pierre Deconchy: Rez. zu Le Comportement rituel chez l’homme et l’animal by Julian Huxley, in: ASRel 17 (1972), 254–256. 142 Vgl. etwa; Ders.: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963, besonders 89–127.
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ist. Dennoch scheinen die Handlungen auf spezifische Weise zugleich ›dysfunktional‹ sein, da die Stilisierung die Möglichkeiten der situativen Adaption einschränkt. Insgesamt hebt der verhaltensbiologische Ritualisierungsbegriff stark auf den ›Signalcharakter‹ einer Handlung ab, der durch Adaptions- und Selektionsvorgänge und damit der Herauslösung einer Handlung aus ihrem ursprünglichen Kontext entsteht.143 Eine wichtige Rolle spielte der Ritualisierungsbegriff ferner auf dem Gebiet der Psychologie. Jean Piaget verwendete den Begriff 1932 in seiner später vielfach neu aufgelegten Untersuchung über die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit des Kindes. Am Beispiel des frühkindlichen Murmelspiels weist Piaget nach, dass Kinder sich beim Spielen selbst Regeln auferlegen, denen sie folgen. Da Kinder jedoch generell in einer von Regeln dominierten Umgebung aufwachsen, sei die Fähigkeit zur Ritualisierung sowohl als menschliches Vermögen zu verstehen, zugleich aber als Reaktion auf die in der sozialen Welt vorgegebenen Ordnungsstrukturen.144 Auch Erik Erikson beschrieb die psychologische Frühentwicklung mithilfe des Ritualisierungsbegriffs und stellte dabei besonders seine soziale Dimension heraus. Für Erikson bezeichnet Ritualisierung ein Verhalten, das »aus einem in gegenseitigem Einverständnis stattfindenden Wechselspiel zwischen wenigstens zwei Personen besteht und von diesen in sinnvollen Intervallen und wiederkehrenden Kontexten wiederholt wird; und ferner, dass dieses Wechselspiel für das Ich beider Partner einen Anpassungswert besitzt.«145 Als Beispiel führt er die morgendliche Begrüßung zwischen einer Mutter und ihrem Säugling an. Er grenzt dabei ›Ritualisierung‹ doppelt ab. Erstens von einer sogenannten »anthropologischen« Verwendung, die eher dem entspricht, was als ausgebildetes Ritual zu bezeichnen wäre. Zum anderen von einem »klinischen« Ritualbegriff im Sinne Freuds mit Bezug auf Zwangsneurosen. Unter Rückgriff auf ethologische Erkenntnisse (Huxley, Lorenz) entfaltet Erikson einen ambivalenten Ritualisierungsbegriff, der den Erwerb notwendiger sozialer Fähigkeiten, vor allem dem Bindungsverhalten beschreibt. Umgekehrt sieht er die Fähigkeit zu rituellem Verhalten in der frühsten Stufe der Entwicklung angelegt. Erikson plädiert zugleich für eine restringierte Verwendung des Ritualisierungsbegriffs, die diesen auf phylogenetische Zusammenhänge begrenzt und nicht generell auf Routinen erweitert. Die Besonderheit des Rituals besteht für ihn darin, die einerseits »hochgradig individuell«, persönlich und spielerisch zu sein, andererseits eine Form von stereotypem Verhalten darzustellen, insofern kulturelle und milieubedingte Vorgaben beachtet werden.146 In Toys and Reasons von 1977 entwickelt Erikson den Ritualisie143 144 145 146
Vgl. Wolfgang Wickler: Art. Ritualisierung, in: HWP Bd. 8 (1992), 1050f. Vgl. Jean Piaget: Le jugement moral chez l’enfant, Paris 1932, 31–34. Erikson: Die Ontogenese, 482. Erikson unterscheidet hier neuere Ritualisierungsformen, die »durch die neuen Kommunikationsmittel diktiert« (aaO., 499) sind, von einer »echten Ritualisierung«, »die ontogenetisch
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rungsbegriff weiter als formalisiertes Spielvermögen (»formalizes human playfulness«147), das im Unterschied zu den besonderen Ritualen den Alltag durchzieht. Der Fähigkeit zur Ritualisierung wird dabei psychohygienische Funktion zugeschrieben: »[It] represents a creative formalization which helps to avoid both impulsive excess and compulsive self-restriction.«148 Die drei Hauptfelder, auf denen sich der Begriff der Ritualisierung herausbildete, fügen sich zu keinem einheitlichen Bild, lassen aber grundsätzliche Dimensionen erkennen, die im Rahmen der neueren Ritualtheorie aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.149 Im Rahmen der Ritus-Mythos-Debatte wurde unter Ritualisierung der Prozess einer Übertragung oder Übersetzung mythischer Erzählungen, Vorstellungen und Begriffe verstanden, die auch als Dramatisierung beschrieben werden könnte. Sie stellt aber zugleich eine Abkehr vom Ursprünglichen dar. Auf dem Bereich der Ethologie konnte zunächst eine ähnliche, degenerative Verwendung beobachtet werden. Huxley war zunächst davon ausgegangen, dass Ritualisierung vor allem einen Verlust an Pragmatik bedeutet. Zugleich rückt die Handlung hier in die Nähe des selbstzweckhaften Spiels. Lorenz erarbeitete wesentliche Kennzeichen des Ritualisierungsprozesses und lenkte die Aufmerksamkeit auf Formalisierung und Stilisierung, die zumindest im Tierreich wesentlich der eindeutigen Kommunikationsvermittlung dient. Damit wurde deutlich, dass Ritualisierung und damit die Beschränkung der Handlungsfreiheit zugunsten ihrer Stilisierung zugleich einen funktionalen Gewinn darstellt. Parallel dazu etablierte sich die verbreitete Annahme, auch hinter den Ritualen des Menschen sei eine versteckte und insofern entschlüsselbare Botschaft zu vermuten. Die psychologische Wortverwendung hatte schließlich das Merkmal der Regelgebundenheit der Handlung aufgegriffen, das die Ritualtheorie von Beginn beschäftigt (s. o. 7) und dieses in Verbindung mit den sozialen Fähigkeiten des Menschen verknüpft (Piaget). Erikson hatte schließlich darauf hingewiesen, dass Ritualisierung als Verbindung von Formalisierung und Gestaltungzu verstehen ist, die soziale Einbindung ebenso ermöglich wie Individualität und auf diese Weise sozialen Bindungen die notwendige Wechselseitigkeit verschafft. Eriksons Verdienst besteht weiterhin darin, ›Ritualisierung‹ mit Bezug verwurzelt und doch von überraschender Spontaneität« (aaO., 501) ist, die »das Gefühl bestärkt, jemandem anzugehören und jemand zu sein« (aaO., 485). Obgleich damit eine wenngleich für Erikson nicht hoffnungslose Verfallsgeschichte impliziert wird, verdeutlicht dies die Einzeichnung des Ritualisierungsprozesses in den jeweiligen Zeitkontext und löst ihn aus einer rein evolutionär-phylogenetischen Vorstellung. 147 Ders.: Toys and Reasons. Stages in the Ritualization of Experience, New York 1977, 78. 148 AaO., 82. 149 Eine andere historische Systematisierung entwirft Bell: Ritual Theory, 88f., die zwei Wurzeln ausmacht: Zum einen Huxleys etologischer Begriff, zum anderen Max Gluckmanns Gegenüberstellung Erweiterung religiöser Rituale (»ritualism«) auf andere soziale Phänomene (»ritualization«).
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zum Spiel und damit in den Kontext kreativer Handlungen zu verschieben, diese vor allem im Alltag zu verorten und von Schwellenritualen abzugrenzen. Ritualisierung meint somit die Formalisierung einer Alltagshandlung mit den Mitteln der spielerischen Inszenierung und Ästhetisierung, bei gleichzeitigem zurücktreten der Pragmatik (›Stereotypisierung‹). Innerhalb der deutschsprachigen Ritualforschung taucht der Begriff lange Zeit nicht auf. Generell fand man die Übertragung ethologischer Ergebnisse auf menschliches Verhalten als wenig aussagekräftig für moderne Kulturen. Iwar Werlen etwa, der sich als Sprachwissenschaftler in die Ritualdebatte evangelischer Liturgik eingebracht hatte,150 befürchtete in der Übernahme der Ritualisierungstheorie einen Rückfall in längst überwundene »evolutionistische Theorien«.151 Ihm zufolge verdanken sich Rituale vorerst einem bewussten Gestaltungsprozess und einer institutionellen Normierung und nicht allmählichen, unbewussten Herausbildung aus alltäglichen Verrichtungen. Insgesamt beurteilt Werlen die Möglichkeit der Analogie zwischen tierischem und menschlichem Verhalten äußerst skeptisch, sodass ihm der »ethologische Ritualisierungsbegriff […] für eine Beschreibung menschlicher, kulturell bestimmter Riten wenig herzugeben« scheint.152 Ronald Grimes hingegen gelang es hingegen, die ethologischen Vorarbeiten zum Ritualisierungsbegriff für die Ritualtheorie aufzugreifen und durch eine Vermittlung mit kulturellen Gestaltungsprozessen zu erweitern und zu vertiefen. ›Ritualisierung‹ wird bei ihm, ähnlich wie bei Huxley, zum programmatischen und wissenschaftsorganisatorischen Begriff.
8.2 Die Erweiterung des Ritualbegriffs in den Ritual Studies (R. Grimes) 8.2.1 »getting beyond Victor Turner« – Die Neukonzeption der Ritualtheorie unter dem Paradigma der Ritualisierung Die bereits häufig erwähnten Ritual Studies bezeichnen eine interdisziplinäre, interkulturell orientierte Forschungsrichtung, deren gemeinsamer Gegenstand die Ritualtheorie ist. Bereits zwischen 1966 und 1968 legten Autoren wie Mary Douglas, Clifford Geertz, die erwähnten Julian S. Huxley und Konrad Lorenz, Edmund Leach, Richard Schechner, Erving Goffmann, Victor W. Turner, Roy A. Rappaport und Stanley J. Tambiah wichtige Arbeiten vor, welche die ritualtheoretische Forschung im englischsprachigen Kontext lange Zeit prägten. Allerdings griffen diese Autoren nicht auf institutionalisierte Netzwerke zurück. Deren Anfänge liegen Mitte der 1970er Jahre. 150 S. o. 3.2.3. 151 Werlen: Ritual und Sprache, 72. 152 Ebd. Auch der Annahme, Ritualen sei eine reduzierte Handlungsintensität eigen, widerspricht Werlen. Diese stehe vielmehr in Korrelation Grad der Feierlichkeit einer Handlung.
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1977 wurden die Ritual Studies erstmals Thema einer eigenen Konsultation auf der Jahrestagung der American Academy of Religion. Der Schwerpunkt auf der englischsprachigen Forschung ist bis heute erhalten geblieben, wobei wichtige Forschungen in den Niederlanden stattgefunden haben.153 Forscher aus zahlreichen Human- und Sozialwissenschaften, aber auch LiturgiewissenschaftlerInnen hatten die Ritualtheorie als gemeinsames Interessensfeld entdeckt. Die Gründung des Journal of Ritual Studies 1987 eröffnete der mittlerweile institutionell vielfach verankerten Disziplin eine kontinuierliche Plattform.154 Ronald L. Grimes (*1943) zählt zu den Begründern der modernen Ritual Studies.155 Seine Verdienste liegen sowohl auf dem Gebiet der Methodik der Ritualtheorie samt einer grundlegend veränderten Sicht auf die Aktualität ritueller Vollzüge in modernen Gesellschaften, wie auch in seiner intensiven Auseinandersetzung mit forschungsorganisatorischen Fragen. Grimes setzte sich nicht nur als erster mit der Geschichte der neueren Ritualtheorie auseinander und unternahm verschiedentliche Versuche einer Systematisierung und Taxonomie des Gegenstandsbereichs. Er stellte zudem schon früh Überlegungen zur Gestaltung von Master- und Doktorandenprogrammen sowie zur Didaktik der Ritualtheorie an.156 In einem Lexikoneintrag benennt Grimes zunächst das Neue dieser Forschungsrichtung hinsichtlich ihrer Organisation und ihrer interdisziplinären Felder. The study of ritual is not new. Theologians and anthropologists, as well as phenomenologists and historians of religion, have included it as one their concerns. What is new about Ritual Studies is the deliberate attempt to consolidate a field of inquiry reaching across disciplinary boundaries and coordinating the normative interests of theology and liturgics, the descriptive ones of the history and phenomenology of religion, and the analytical ones of anthropology. As a result of his goal, the discipline of Ritual Studies is less a method one applies than a field one cultivates.157 153 Einen Überblick bietet Tollie Swinkels/Paul Post: Beginnings in Ritual Studies according to Ronald Grimes, in: Jaarboed voor liturgie-onderzoek 19 (2003), 215–238, 215. 154 Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, xvii bestimmen die »Wasserscheide« der Ritualtheorie aufgrund der wichtigen Theoriebeiträge auf die Jahre 1966–68. Demgegenüber sehen Paul Post und Benedikt Kranemann den Beginn der »Modernen Ritual Studies« Mitte der 70er Jahre, als insbesondere Grimes für ein verändertes, dynamisches Ritualverständnis war und diese Zugang ein neues Forschungsnetzwerk hervorrief (vgl. Benedikt Kranemann: Einführung: Die modernen Ritual Studies als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft, in: Kranemann/Post [Hg.]: Die modernen Ritual Studies, 9–31, 16–18). 155 So die Terminonologie von Kranemann und Post (s. o. Anm. 154). 156 Für die folgende Darstellung werden insbesondere folgende Aufsatzbände herangezogen: Beginnings in Ritual Studies (1982, 21995); Ritual Criticism (1990, 22010); Reading, Writing, and Ritualizing (1993). 157 Ronald L. Grimes: Art. Ritual Studies, in: EncRel (E) Bd. 12 (1987), 422–425, 422.
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Grimes ist sich bewusst, dass Interdisziplinarität nur dann funktioniert, wenn die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Disziplinen zueinander in Beziehung gesetzt werden, was zunächst heißt, sie transparent zu machen, ohne sie zugleich in ihrer Bedeutung zu werten.158 Theologie und insbesondere die Liturgiewissenschaft sollten von Beginn an integriert sein und wirkten mit bei der Etablierung der Ritual Studies.159 Grimes Neukonzeption der ritualtheoretischen Methodologie waren das Resultat einer »Methodenkrise«, die er während seiner eigenen Feldforschungen zur jährlich stattfindenden Fiesta in Santa Fe, New Mexiko erlebte. Zum einen wurde er aufmerksam auf den Einfluss, den die Beobachtung eines Rituals auf dessen Vollzug ausübte: »I discovered that modifications were occurring in both ritual and dramatic performances as a result of my asking what various fiesta symbols meant.«160 Zum anderen wurde ihm deutlich, inwiefern Theoriekonstruktionen selbst die Ritualpraxis beeinflussten. Nicht nur erschienen die Forscher durch ihre Theorien die zu den Ritualen gehörigen »Mythen« erst zu erschaffen, etwa dadurch, dass sie mehrere klar voneinander unterschiedene Stufen eines Ritualvollzugs abgrenzen und diese als allgemeine Muster bestimmen. Insbesondere bei der Erforschung von Ritualen in modernen, selbstreflexiven Kulturen mit hohem Bildungsgrad greifen die Ritualakteure, so Grimes weitere Beobachtung, zur Begründung ihrer Handlung selbst auf Ritualtheorien zurück und legitimieren ihre Handlungen etwa mit Verweis auf die positiven psychologischen Wirkungen von Ritualen.161 Grimes benennt damit für das Gebiet der Ritualtheorie jene aus der Quantenmechanik bekannte Problematik der Auflösung einer eindeutigen Trennlinie von Subjekt und Objekt der Beobachtung, von Teilnehmer und Beobachter, von empirischen Daten und theoretischen Vorüberlegungen: 158 Wissenschaftstheorisch war das Anliegen einer akademischen Institutionalisierung der Disziplin keineswegs unproblematisch. Der fächerübergreifende Ansatz der Ritual Studies stellt den Versuch dar, der ›Balkanisierung‹ der Sozial- und Humanwissenschaften entgegenzutreten, nicht zuletzt um Synergien zu erzeugen. Die Gründung eines eigenen universitären Faches stellt dafür zwar die benötigten Ressourcen zur Verfügung. Zugleich tritt die Disziplin damit unweigerlich in Konkurrenz zu den Einzelwissenschaften, welche zu verbinden ihr ursprüngliches Anliegen war. Das Modell der Forschergruppen scheint hierfür besser geeignet und hat in Deutschland u. a. 2002 zur Gründung des DFG-finanzierten SFB 619 an der Universität Heidelberg geführt. Dort arbeiteten bis 2013 mehr als 140 WissenschaftlerInnen in 31 verschiedenen Teilprojekten (vgl. http://www.ritualdynamik.de). 159 Davon zeugen auch die Publikationen von Ritual Studies-Forschern in liturgischen Zeitschriften wie Worship und Studia Liturgica sowie Vorträge in der North American Academy of Liturgy oder auf den Tagungen der Societas Liturgica. Im 1. Heft des Journal of Ritual Studies findet sich der programmatische Aufsatz von Theodore W. Jennings: Ritual Studies and Liturgical Theology. An Invitation to Dialogue, in: Journal of Ritual Studies 1 (1987), 35–56. 160 Ronald L. Grimes: Beginnings in Ritual Studies, Columbia 21995, 11. 161 Grimes thematisiert damit vielfach gemachte Beobachtung, dass das Wort ›Ritual‹ in hohem Maße Eingang in die Alltagssprache gefunden hat und damit zugleich eine bestimmte, häufig populärwissenschaftliche angeeignete Ritualtheorie einhergeht.
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»Whether I wished it or not, I [sc. als eigentlich außenstehender Beobachter] […] was an agent of change and acculturation« jener Rituale, die es zu beobachten galt.162 Die Rolle des Forschers wird ferner dadurch problematisiert, dass es dem modernen, westlich geprägten Menschen und somit auch dem Ritualtheoretiker schwerfällt, Rituale überhaupt wahrzunehmen, da er mit dieser Handlungsform wenig vertraut ist und seine Wahrnehmung zudem stark von Vorannahmen über Rituale bestimmt ist. Es fehle ein »sense of ritual«163. Der Ritualtheoretiker sollte, Grimes zufolge, seine Aufmerksamkeit daher nicht nur auf seine individuellen Voraussetzungen richten, sondern auch auf seinen kulturellen Hintergrund, die darin vorhandenen rituellen Praktiken sowie die Haltung, welche die Akteure dazu einnehmen. Schließlich bezieht Grimes auch den Aspekt der Körperlichkeit von Ritualen auf den Forscher und fordert seinen »Standpunkt« im wörtlichen Sinn, d. h. seinen Ort der Beobachtung, seine Distanz oder Nähe zum Geschehen einzubeziehen. Der bisherigen Ritualtheorie sei nicht gelungen, zwischen ethologischen und anthropologischen Ansätzen, zwischen Alltagsritualen und komplexen politischen oder religiösen Zeremonien sowie zwischen Ritualtexten und Ritualperformance zu vermitteln. Damit korrespondiert die Einsicht, dass auch das bisherige Bild dessen, was Rituale sind und welche Anliegen und Ziele mit ihnen assoziiert werden, keineswegs ausreichend ist, um Ritualität im Ganzen zu erfassen. Einer der zentralen Figuren, mit denen sich Grimes auseinandersetzt, ist Victor Turner, mit dem er selbst lange in Kontakt stand. In seiner berühmten Definition hatte Turner Rituale bestimmt als »formal behavior prescribed for occasions not given over to technological routine that have reference to beliefs in mystical beings or powers«164. Diese Definition zeige paradigmatisch die Beschränkung des Blickwinkels bisherige Ritualtheorie. Sie kann bewusste Formen von Deformalisierung im Rahmen von Ritualen ebenso wenig erfassen wie die Tatsache, dass gerade magische Praktiken sich durchaus technischer Routinen bedienen. Sie pauschalisiert den Bezug auf transzendente Wesen oder Kräfte, der sich etwa in die Zeremonien des Zen-Buddhismus nicht finden lasse. Sie unterschlägt, dass auch technologische Routinen eigene Formen von Ritualität entwickeln können.165 Und schließlich widerspricht die Behauptung einer intrinsischen Verbindung von Ritualhandlung und Glaube der tatsächlichen Möglichkeit, auch ein »Glaube« an das Ritual nicht vorausgesetzt werden kann.166 Exemplarisch zeigt sich für Grimes hier einerseits, 162 AaO., 13. 163 AaO., 14. 164 Victor W. Turner/Edith Turner: Image and Pilgrimage in Christian Culture. Anthropological Perspectives, Oxford 1978, 243. 165 Vgl. Ronald L. Grimes: Defining Nascent Ritual, in: Ders.: Beginnings in Ritual Studies, 58–74, 59. 166 Vgl. Ders.: Practical and Cultural Contexts, 12.
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wie Rituale einseitig mit hochgradig formalisierten, zumeist religiösen Handlungen verbunden werden, die auf besondere Anlässe beschränkt sind und deren Dichotomien (technisch/nicht-technisch) der Komplexität der Wirklichkeit kaum gerecht werden. Andererseits impliziert gerade der als konstitutiv angesehene Glaubensbezug die spezifisch westliche Sichtweise, die von der Priorität einer bestimmten Glaubensüberzeugung gegenüber der rituellen Handlung ausgeht, die letztlich nur einen Ausdruck dieses internen Glaubens darstellt. Grimes Schlussfolgerung lautet daher: »This academic generation’s intellectual task seems to be that of getting beyond Victor Turner.« Zur Lösung der damit formulierten Aufgabe konnte jedoch zunächst nicht auf alternative und zugleich konsensfähige Theoriekonzepte zurückgegriffen werden. Stattdessen galt es, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und eigene Konzepte zu erarbeiten.167 Grimes tat dies unter dem Leitbegriff der Ritualisierung, die Rituale als dynamische Prozesse kennzeichnen: »Ritualization is a process which occurs continually, and it may or may not result in stable structures that a culture deems as rites.«168 Damit wird der Blick zunächst allgemein auf das Entstehen (»merging ritual«, »nascent ritual«) und Vergehen von Ritualen gelenkt (»What are the symptoms of a ›sick‹ ritual?« und »How do rites ›die‹ or ›degenerate‹?«169). Zugleich bedeutet dies die Grundierung dieser Prozesse im Kontext nichtritualisierter, alltäglicher Handlungen. Als Prozesse können Rituale gelingen oder scheitern. Die ihnen zugeschriebene Funktion ist damit keineswegs allein durch den Vollzug schon eingelöst. Grimes war es sowohl wichtig, Rituale weder – wie eben bei Turner – auf religiöse Vollzüge zu beschränken, noch auf hochkulturelle Phänomene. Stattdessen soll verstärkte Aufmerksamkeit auf kulturelle und gesellschaftliche Ränder (»margins«) gelegt werden, an denen rituelle Entwicklungen meist weniger stark durch übergreifende institutionelle Interessen beeinflusst werden als im Bereich etablierter Liturgien. Wenn also Subkulturen und rituelle Experimente zum Forschungsgegenstand werden, wird damit ein Wandel mitvollzogen, der in der Geschichtswissenschaft mit der Hinwendung zur pluralen Lebenswirklichkeit im Alltag einherging, in deren Folge etwa der gelebten Frömmigkeit mehr Bedeutung beigemessen wurde als etwa der Selbstinszenierung politischer oder klerikaler Machthaber. Auch im Hinblick auf die für die Ritual Studies relevanten Forschungsbereiche geht es Grimes um die angrenzenden Ränder und ihre Schnittmengen, also um die Bestim-
167 Vgl. Ders.: Reading, Writing, and Ritualizing. Ritual in Fictive, Liturgical, and Public Places, Washington, DC 1993, 7: »Is Ritual Necessarily Traditional? […] Is Ritual Necessarily Collective? […] Are Ritualists Necessarily Pre-critical? […] Is Ritual Necessarily Meaningful?« 168 Ders.: Defining Nascent Ritual, 61. 169 Ders.: Beginnings, xxiii.
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Das Ritual als Handlung
mung des Verhältnisses etwa zu Therapie, Theologie, Theater- und Politikwissenschaft. Auch die Festlegung von Ritualen auf traditionelle und konservative Vollzüge (»conservative fallacy«170) gilt es für Grimes zu überwinden. Ritualen werde so von vornherein ein innovatives Potenzial abgesprochen und Formen von Improvisation bleiben unbeachtet. Ähnlich verhält es sich mit der Ritualen durchweg zugeschriebenen Fixierung und Starre. Überwunden werden könnr dieses Bild, indem die vermeintlichen Kennzeichen vielmehr als stilistisches Mittel ritueller Strategien und somit als Konstruktionen einsichtig würden. Das Wissen um den konstruierten Charakter, um die historische Fiktion des immer-schon-so-Gewesenen und das Anerkennen von Ritualen als kulturell bedingten menschlichen Handlungen bedeute aber nicht das Ende des Rituals oder seiner Fiktion.171 Zugleich könnten so die tatsächlich vollzogenen Rituale im Hinblick auf Revisionen und Adaptionen ihrer Form hin untersucht werden, von denen sie als Formen kultureller Praxis nicht ausgenommen seien. Schließlich bringt Grimes Ansatz auch die gemeinhin als Gegensätze verhandelten Begriffe wie Ritual und Kreativität, Ritual und Kritik zusammen. Dies wird im Folgenden noch näher dazustellen sein. Immer wieder macht Grimes deutlich, dass mit dem Begriff der Ritual Studies nicht eine einheitliche Methode bezeichnet wird, sondern einen Forschungsbereich, der mit unterschiedlichen Zugängen bearbeitet werden soll Zugleich legt er selbst mehrfach dar, in welche Richtung sich die Methoden der Ritualtheorie erweitern müssen, um eine lebendige Ritualkultur zu erfassen. Diese Aufgabe stellt sich auch für lediglich schriftlich dokumentierte oder historische Rituale (»precipitate a sense of the living quality of ritual«172). Notwendig ist dafür grundsätzlich eine detaillierte Beschreibung ritueller Ereignisse, die sich weder auf die zugrundeliegenden Skripte noch auf Zusammenfassungen beschränken dürfen, sondern möglichst detaillierte, konkrete, d. h. nicht typisierte, multimediale Daten beinhalten sollten.173 Daher bleibt Feldforschung im Modus teilnehmender Beobachtung als Teil der Prägung der Ritual Studies durch die Ethnologie ein zentraler Bestandteil. Konkret benennt Grimes sechs Dimensionen, die es als Voraussetzung jeder
170 Ders.: Defining Nascent Ritual, 61. 171 Vgl. Ders.: Reading, Writing, and Ritualizing, 17. 172 Ders.: Mapping the Field of Ritual, in: Ders.: Beginnings in Ritual Studies, 24–39, 25. Zur Anwendung dieses Ansatzes am Beispiel der Reformation s. u. 12. 173 »Ritual action is so easily typified because so much of it is repetitive and stylizes. In fact, some would define ritual as precisely that kind of action which is deliberately employed as a barrier against change. […] Heraclitus’ insight is as true as it is of revolutions: You cannot step in the same river twice even when you try. […] When we typify anything, we tune out local, idiosyncratic variations for the sake of concentrating on invariant structures. In other words, when rites appear static or eternal it is because someone has an investment in presenting them as such« (Ders.: Ritual Criticism of a Catholic Liturgical Evaluation, 36).
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strukturellen, funktionalen oder symboltheoretischen Ritualanalyse zu erforschen gilt:174 (1) Fragen zum rituellen Raum beziehen sich nicht nur auf seine Form, sondern auch die Besitzverhältnisse, auf intendierte Blickachsen und fiktive Räume. Dabei wäre etwa im Bereich des orthodoxen Sakralbaus an den durch die Ikonostase abgegrenzten Raum zu denken, der als Abbild der himmlischen Kirche gedeutet wird. (2) Welche Objekte werden im Ritual verwendet? Auch hier geht es wiederum nicht nur um die materiellen Qualitäten, sondern um den sozialen und kulturellen Hintergrund. Etwa um die Frage, durch welche Handlungen die Objekte für die Verwendung im Ritual zugelassen werden (Weihehandlungen) oder ob sie verkäuflich sind, im Besitz Einzelner oder einer Gruppe. Dabei können sich freilich Spannungen zwischen der theologisch zugeschriebenen Bedeutung und der ästhetischen Formensprache ergeben. In die Kategorie der ›Objekte‹ fällt zudem die Frage nach der Medialität von Ritualen, ihrer medialen Funktion ebenso wie die von ihnen genutzten Medien. (3) Auch die Zeit ist nicht als Dauer und Taktung von Interesse, sondern in ihrem Verhältnis zu anderen, das Leben strukturierenden Rhythmen. Auch die Frage, ob das Ritual mit einem bestimmten Konzept von Zeit operiert, etwa als Ruhepunkt oder als Kontakt zu Vergangenheit oder Zukunft, ist hier von Bedeutung. Weiterhin ist auch zu fragen, ob die Zeitlichkeit des Rituals und seiner Formen thematisiert werden oder vom chronologischen Verlauf ausgenommen wird. (4) Auch die Frage nach der Verwendung von nichtlinguistischen Klängen und Sprache gilt es zu beachten. Dabei stellt sich die Frage sowohl nach der Herkunft der Klänge, ihrer Verbindung zur Alltagssprache und wie diese erzeugt und auch erlernt werden, etwa ob das Ritual einen bestimmten Grad an Bildung und (Fremd-)Sprachkenntnissen voraussetzt; ob mündliche oder schriftliche Texte den Vollzug dominieren. Damit ist wiederum die Frage nach den Objekten verknüpft, die für sprachliche Äußerungen zu Hilfe genommen werden. (5) Die Frage nach der rituellen Identität lenkt den Blick auf rituelle Rollen und die jeweiligen Voraussetzungen, um diese einzunehmen, ihre Folgen (Veränderungen von Status, Name oder Titel) sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft. Dabei gilt es, traditionelle Dichotomien von Experten versus Laien, oder individuellen und kollektiven Vollzügen gleichermaßen zurückzulassen. (6) Das Feld der rituellen Handlungen schließlich umfasst sämtlich Gesten und Bewegungsformen, performative Äußerungen ebenso wie die Frage, welchen Handlungen explizit eine Bedeutung zugeschrieben wird, welche spontan, welche in Folge bestimmter Vorbereitungen vollzogen werden. Ins174 Vgl. Ders.: Mapping the Field, 26.
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gesamt wird hier nach der Rolle des Körpers gefragt, nach der Hervorhebung bestimmter Körperteile und -funktionen und ob die Handlungen nach außen oder nach innen orientiert sind. Die Aufzählung dient dazu, den grundsätzlich veränderten Blick auf die Gegenwart ritueller Praxis zu erschließen. Douglas und Turner sahen die Ritualität in der Moderne vorrangig als im Niedergang begriffen an. Dies impliziert nicht nur Turners Begriff des Liminoiden, auch in der Kritik beider am II. Vaticanum wird dies deutlich.175 Grimes hingegen ist stärker daran interessiert, die Ritualkultur in ihrer Lebendigkeit zu erfassen, um ihr kulturelles und soziales Gestaltungspotenzial freizulegen.176 Hierbei zeigt sich zugleich ein bedeutender Unterschied zur Tendenz innerhalb der liturgischen Debatte, der es zunächst darum ging, die rituelle Dimension evangelischer Liturgie gegenüber konfessioneller Abwehr hervorzuheben und später darum, diese zu bewahren und zu schützen angesichts eines Liturgieverständnisses, welches liturgische Traditionen als kreative Verfügungsmasse verstand. Die Trennlinie zwischen konservativen und progressiven Formen war häufig deckungsgleich mit jener zwischen freien liturgischen Formen und dem agendarischen Ritual. Grimes Neuansatz schlägt sich nieder in seinen Begriffsdefinitionen. Er unterscheidet zwischen ›Ritus‹, ›Ritual‹, ›Ritualisieren‹ und ›Ritualisierung‹. Unter einem ›Ritus‹ (»rite«) fasst Grimes mit einem spezifischen Namen versehene Ritualhandlung an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit, die von Ritualakteuren (»ritualists«) ausgeführt und von »Ritologen« (»ritologists«) beobachtet werden. Zumeist sind die einzelnen Riten Teil einer umfassenderen rituellen Tradition. »Ritual« hingegen bezeichnet die übergeordnete Idee, die sich in einzelnen Riten instanziiert: »As such, ritual does not ›exist,‹ even though it is what we must try to define; ritual is an idea scholars formulate. […] Ritual is what one defines in formal definitions and characterizations; rites are what people enact.«177 »Ritualisieren« (»ritualizing«) bezeichnet den Prozess der Entstehung von Riten, jene Transformationen, die dazu führen, dass alltägliche Handlungen formalisiert, stilisiert und inszeniert werden, denn »[b]efore a rite becomes a rite, it is not literally something or somewhere else.« Dass Beobachten dieser Prozesse hilft, die Verbindung von alltäglichen und rituellen Handlungen zu verstehen. Parallel zur Unterscheidung zwischen Ritual und Ritus benennt »Ritualisierung« (»ritualization«) schließlich die diesem emergenten Prozess zugeordnete Beobachterperspektive: »Ritualization is to a rite as a forest is to a house. Nothing makes a forest appear to be lumber except a carpenters’s eye.« 175 Vgl. Victor W. Turner: Ritual, Tribal and Catholic, in: Worship 50 (1976), 504–526. 176 Zu seiner, gleichwohl weniger kulturkritischen, Auseinandersetzung mit der katholischen Liturgiereform s. u. Anm. 193. 177 Grimes: Practical and Cultural Contexts, 10; hier auch die folgenden Zitate.
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Die Unterscheidung der englischen Begriffe »ritualizing« und »ritualization« lässt sich weder befriedigend ins Deutsche übersetzen noch hat sie sich in der Ritualtheorie durchsetzen können. Daher wird hier vorgeschlagen, unter dem Ritualisierungsbegriff zwar zunächst die Ebene der Handlungstransformation zu benennen, den Begriff aber zugleich auf die allgemeine Beobachtungs- wie auch die wissenschaftliche Perspektive zu beziehen und damit den Wandel innerhalb der Ritualtheorie zu bezeichnen: Ritualisierung als Fokus der modernen Ritual Studies.178 Bereits der Begriff der »Studies« bringt – nicht zuletzt als Gegensatz zu einem festen »Science«-Begriff – zum Ausdruck, dass die Hermetik weniger ausgerichtet ist auf einen festumgrenzten Gegenstandsbereich und Methodenkanon, sondern als Annäherung an ein Feld vergleichbarer Handlungsphänomene. Es ist daher nur folgerichtig, dass die eingeführten unterschiedlichen Dimensionen ritueller Praxis und Theoriebildung nicht in eine feste Definition münden,179 sondern stattdessen ein Katalog von Handlungsqualitäten benannt wird, die bei gehäuftem gleichzeitigem Auftreten auf Ritualisierungsphänomene und Rituale schließen lassen.180 Die Neukonstitution der Ritualtheorie in den Ritual Studies ordnet Grimes schließlich epochengeschichtlich ein in den gesamtgesellschaftlichen Wandel von der Moderne zur Postmoderne.181 Die bereits geäußerte Beobachtung, dass Ritualtheorie stets auch als Zeitanalyse verstanden werden muss (s. o. 7.4), wird bei Grimes explizit gemacht. Als wesentliche Kennzeichen der Postmoderne benennt er die Bevorzugung von Prozessen gegenüber Produkten und von Ritualen gegenüber Narrativen. Obwohl Ritualen und auch dem Religiösen in der Postmoderne größere Bedeutung zukommt, bedeutet dies keine Retribalisierung, sondern eine veränderte Ritualkultur. Während 178 Vgl. auch Burckhard D cker: Ritualisierung, in: Christiane Brosius/Axel Michaels/ Paula Schrode (Hg.): Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen, Göttingen 2013, 151–158. 179 Zwar hat Grimes (Modes of Ritual Sensibility, in: Ders.: Beginnings in Ritual Studies, 40–57, 55) eine Definition von »Ritualizing« formuliert, diese aber später nicht weiter als Grundlage herangezogen. 180 Ders.: Practical and Cultural Contexts, 11 f. benennt folgende »Qualities of Ritual«: »performed, embodied, enacted, gestural (not merely thought or said); formalized, elevated, stylized, differentiated (not ordinary, unadorned, or undifferentiated); repetitive, redundant, rhythmic (not singular or once-for-all); collective, institutionalized, consensual (not personal or private); patterned, invariant, standardized, stereotyped, ordered, rehearsed (not improvised, idiosyncratic, or spontaneous); traditional, archaic, primordial (not invented or recent); valued highly or ultimately, deeply felt, sentiment-laden, meaningful, serious (not trivial or shallow); condensed, multilayered (not obvious; requiring interpretation); symbolic, referential (not merely technological or primarily means-end oriented); perfected, idealized, pure, ideal (not conflictual or subject to criticism and failure); dramatic, ludic [i. e., play-like] (not primarily discursive or explanatory; not without special framing or boundaries); paradigmatic (not ineffectual in modeling either other rites or non-ritualized action); mystical, transcendent, religious, cosmic (not secular or merely empirical); adaptive, functional (not obsessional, neurotic, dysfunctional); conscious, deliberate (not unconscious or preconscious)«. 181 Vgl. aaO., 19–25.
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die Moderne die Wahrheit in der Verifizierbarkeit gesucht habe, bedeutet Wahrheit im Zeitalter der Postmoderne Vitalität.182 Diesen Wandel gelte es auch im Bereich der Liturgie zu entsprechen: »The craving for ritual may seem to create a favorable market for synagogues and churches, but it may – even more than the modern ›crisis of belief‹ – leave them in the lurch. Longing for ritual is an exceedingly dangerous motive. It is dangerous if it leads to either reactionary rites or the vandalizing of other traditions. Ritual aspirations are notoriously easy prey for political, economic, and media exploitation.«183 Auf ganz andere Weise, als dies in der liturgischen Diskussion der Fall war, beschreibt Grimes damit die Ambivalenz ritueller Phänomene wie auch das Interesse von Ritualanbietern, einer erhöhten Nachfrage nach Ritualen zu entsprechen. Vor diesem Hintergrund wäre die neuere protestantische Kritik am Ritualbegriff (s. o. 4.3) als Ausdruck einer skeptischen Haltung gegenüber der Ritualhausse zu verstehen, die aber zugleich nicht zu einer neuen Form von Ritualität findet, sondern – im Anschluss an Grimes – den Rückzug in das kritische, analytische und reflexive Zeitalter der Moderne sucht.
8.2.2 Rituale als kritische Handlungen Einer der zentralen Vorbehalte älterer wie neuerer protestantischer Liturgik gegenüber Ritualen war die Behauptung, diese besäßen ausschließlich affirmativen Charakter und ließen der vom biblischen Zeugnis gegenüber zeremoniellem Handeln gebotene Kritik keinen Raum. Die Verbindung von ›Ritual‹ und ›Kritik‹ in Grimes 1990 erschienenen Werk Ritual Criticism scheint daher zunächst wie ein Kategorienfehler. Grimes zufolge stellt jedoch Ritualkritik im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen rituellen Tradition innerhalb des Rituals nicht die Ausnahme, sondern die Regel dar: »The practice of ritual criticism depends on the basic humanistic premise that rites, though they may be revealed by the gods, are also constructed by human beings and therefore imperfect and subject to political manipulation.«184 Vor diesem Hintergrund erweist sich Ritualkritik als Gegenstück zur ebenfalls von Grimes behaupteten Kreativität und Dynamik ritueller Handlungen.
182 Vgl. aaO., 24. 183 Ders.: Ritual Criticism of a Catholic Liturgical Evaluation, 24 f. 184 Ders.: Practical and Cultural Contexts, 7.
›Ritualisierung‹ als Forschungsparadigma und ritualtheoretischer Ansatz 351
8.2.2.1 Diskursive Ritualkritik Grimes unterscheidet zunächst zwei Formen von Kritik: »acted out critique and verbal, expository critique«185. Letztere im Sinne einer zunächst neutralen, positiven wie negativen Beurteilung und Bewertung des Rituals stellt eine gängige, sämtliche Ritual begleitende Praxis dar. Der Ausgangspunkt dieser Kritik ist häufig der Vergleich entweder mit anderen Aufführungen oder einem idealisierten Ritusvollzug. Häufiger Anlass für derartige Vergleiche und damit für Ritualkritik ist die Veränderung von Ritualen sowie ihres Kontextes. Ritualkritik ist zumeist verbunden ist mit einer bestimmten normativen Vorstellung, d. h. mit Wertvorstellungen und spezifischem rituellen Wissen.186 Dieses gilt es transparent zu machen, ohne in einen allgemeinen Relativismus zu verfallen: »At its best it is reflexive, that is, self-critical.«187 Die Verbindung eines neuen hermeneutischen Zugangs und eines veränderten Ritualbegriffs, wie dies im Blick auf den Ritualisierungsbegriff bereits dargelegt wurde, setzt Grimes auf dem Gebiet der Ritualkritik fort: Rituale tragen eine kritische Dimension und zugleich ist Ritualkritik Teil ritualtheoretischer Forschungspraxis, d. h. Aufgabe von Ritualforschern. In einem weiteren Schritt unterscheidet Grimes zwischen externer Ritualkritik und der bereits erwähnten, häufigeren traditionsinternen Kritik. Diese Unterscheidung ist vergleichbar mit jener zwischen »formeller« Kritik, die unter den Mitwirkenden und Kritikern im engeren Sinn wie etwa Ritualforschern ausgetauscht wird, und »informeller« Kritik, die Ritualakteure untereinander äußern. Beide Formen können sich wiederum entweder auf das Ritual als Ganzes beziehen, etwa, weil dies in Konflikt zum weiteren Traditionsund Glaubenskontext oder auch zu allgemeinen kulturellen Wertvorstellungen zu stehen scheint. Insbesondere diese Form externer Kritik kann in eine Kritik an ritueller Praxis generell münden und zur Religionskritik anwachsen.188 Bezieht sich die Kritik bei grundsätzlicher Zustimmung zum Ritualvollzug lediglich auf Differenzen im Blick auf die Organisation und Ausführung, werden häufig Fragen der Verbindlichkeit ritueller Vorschriften thematisiert, dogmatische Überzeugen, denen das Ritual Ausdruck verleihen soll, weiterhin kann das Verhältnis von ritueller Rolle und Persönlichkeit kritisiert werden oder schlicht die zeitliche Ausdehnung eines Rituals. Insofern ist Ritualkritik Ausdruck der Identifikation mit einem bestimmten Ritus und ist zumeist mit
185 Ders.: Reading, Writing, and Ritualizing, 17, hier mit Bezug zur Aufgabe, die Grimes dem von ihm gegründeten und geleiteten »Ritual Studies Lab« zuweist. 186 Wobei falsches Wissen und unangemessene Kritik nicht ausgeschlossen sein sollen. 187 Grimes: Practical and Cultural Contexts, 14. 188 Vgl. Ronald L. Grimes/Ute H sken: Ritualkritik, in: Brosius/Michaels/Schrode (Hg.): Ritual und Ritualdynamik, 159–164.
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innerem Engagement und Beteiligung verbunden. Zugleich kommt dem Vollzug der Kritik identitäts- wie auch Gemeinschaft stiftende Funktion zu.189 In seiner Funktion als Ritualforscher widmet sich Grimes zum einen einer Form von Ritualkritik, die der Theaterkritik oder Literaturkritik vergleichbar ist und aus externer Perspektive formuliert ist. Für diese Form der Kritik hat Grimes Bedingungen formuliert, unter denen sie überhaupt legitim und gültig sein kann. Zum einen muss Ritualkritik Aufmerksamkeit und Verständnis sowohl für die Akteure, als auch für ihre Beobachter entwickeln. Sie bedient sich dabei auch der Methode der teilnehmenden Beobachtung.190 Sie setzt damit nicht bei einem übergeordneten, prävalenten Standard an, sondern entwickelt ihre Kriterien aus der Handlung selbst. Zugleich bedeutet Ritualkritik auch »Re-Kontextualisierung«, d. h. Rituale anhand von Kriterien zu untersuchen, die sich nicht unmittelbar aus dem Selbstverständnis der Akteure ergeben, etwa, wenn religiöse Rituale unter dem Gesichtspunkt ihrer Ästhetik untersucht, oder wenn die einzelnen Sequenzen komplexer Riten aus ihrem unmittelbaren Kontext gelöst werden. Ritualkritik als besonders interessiert an den Handlungen und Gesten, die Grimes mit dem für die Ritual Studies zentralen Begriff des »embodiment« erfasst, fragt nach der Verbindung, aber auch den Spannungen zwischen verbalen und sinnlichen Kommunikationsformen. Für seine Theorie konnte Grimes auf eigene Feldforschungen zurückgreifen, insbesondere auf seine Auseinandersetzung mit der katholischen Messe. Hier wertete Grimes unterschiedliches empirisches Datenmaterial aus und war explizit dazu eingeladen, seine kritische Sicht auf die liturgische Praxis zu formulieren.191 Dabei erfuhr Grimes die zuvor erwähnte Überschneidung von Subjekt und Objekt der Beobachtung nun auf dem Gebiet der Ritualkritik: Sobald Gruppen, deren Rituale er beobachtete, davon erfuhren, Objekt ritualtheoretischer Untersuchungen zu sein, wurden sie selbst in erhöhten Maße sensibel für ihre eigene Praxis und forderten eben den Forscher auf, seine kritischen – positiven wie negativen – Beobachtungen mitzuteilen: Ritualkritik, so seine erste Einschätzung, »evokes considerable self-consciousness.«192 Grimes selbst fungierte auf Anfrage als Ritualkritiker der katholischen Messe. In seiner Auswertung wies er unter anderem auf das sinnliche Missverhältnis hin, das eine deutliche Überprivilegierung optischer und akustischer Reize zeige und dem Konzept des »embodiment« nicht gerecht
189 Vgl. aaO., 162. 190 Vgl. Auch Swinkels/Post: Beginnings in Ritual Studies, 226–229. 191 Diese auch seither für die Liturgie kaum genutzte Möglichkeit, externe Rückmeldung einzuholen, wurde auf anderen Gebieten kirchlichen Handelns etwa durch Unternehmensberatungen durchaus akzeptiert. 192 Ronald L. Grimes: Ritual Criticism. Case Studies in Its Practice, Essays on Its Theory, Waterloo 22010, 3.
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wird: »[S]o much is aimed at eye and ear and so little at belly and foot.«193 Eine solche von außen geäußerte Kritik ist freilich selten. Ritualkritik als Kritik an Ritualen in verbaler oder besonders textlicher Form ist vielmehr eines der zentralen Anliegen liturgiewissenschaftlicher Forschung. Weil Ritualkritik aber – anders als Theater- und Literaturkritik – keineswegs auf professionelle Akteure beschränkt ist, sondern zunächst stets unter den Teilnehmern betrieben wird, bezeichnet Grimes Ritualkritik als »practice, not a profession«194. 8.2.2.2 Performative Ritualkritik Den zweiten Schwerpunkt der Erörterung über Formen und Methoden der Ritualkritik bei Grimes bildet die »acted out critique«. Kritik also, die nicht auf verbalen Äußerungen, sondern auf Handlungen beruht. Man mag dabei zunächst an die Ritualverweigerung denken, die eine, aber keineswegs die wirksamste Form dieser Kritik darstellt. Im Gegensatz zum eben erörterten »criticism of rites« geht es nun um »criticism by rites« und somit um Formen von Ritualkritik, deren Mittel wiederum selbst Rituale sind. Zwei Grundformen dieser Kritik können unterschieden werden: Während »etische« Kritik sich nach außen wendet, richtet sich »emische« Kritik kritisch auf ihr eigenes Bezugssystem. Die erste Form findet sich vielfach im Rahmen politischer Liturgien, aber auch in ritualisierten Protestformen wie Lichterketten im Rahmen von Friedensdemonstrationen. Emische Kritik ist zum einen Teil ritueller Normalität und ereignet sich überall dort, wo Rituale bereits in der Vorbereitung ihres Vollzugs kulturell adaptiert und modifiziert werden. Zugleich kann emische Kritik die Form eines Wettstreits (»contest«) annehmen, etwa, wenn Gegenpäpste gewählt werden oder homosexuelle Paare eine kirchliche Trauung entgegen geltenden kirchlichen Rechts erhalten. Derartige Handlungsformen der Kritik bleiben wiederum nur selten ohne parallel dazu geäußerte verbale Kritik. In der Handlung selbst aber geht es weniger auf Abwägung und Reflexion, sondern es wird mitunter geradezu provoziert. Nicht immer führt dies in gewünschter Weise zum Wandel der Ritualpraxis, in jedem Fall aber stellt diese Pluralisierung selbst einen Wandel dar: »In many respects the most effective ritual criticism is the development of an alternative rite.«195 Schließlich zählt Grimes auch Formen von rituellem Eklektizismus zu dieser Art der Ritualkritik. Er führt dazu, dass Riten unterschiedlicher Tra193 Ders.: Ritual Criticism of a Catholic Liturgical Evaluation, 55. Wiederum als Kritik an den Liturgiereformen des 2. Vaticanums: »Always erect, never on the floor, seldom in the dark, never truly hungry, never really sated, how does a people develop a physiology capable of being in the presence of a God who shakes no hands and speaks only in conundrums or in flesh« (ebd.)? 194 Ders.: Practical and Cultural Contexts, 16. 195 AaO., 17.
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Das Ritual als Handlung
ditionen den eigenen Bedürfnissen gemäß ausgewählt, neu kompiliert und damit auch einer gegenseitigen Neuinterpretation ausgesetzt werden. Im Zuge seiner Ritualkritik der katholischen Messe, die zuvor vor allem über Fragebögen von mehreren Gemeinden analysiert worden war, stößt Grimes auf die Tatsache, dass insbesondere für emische Formen von Kritik gilt: »much ritual knowledge, and thus much ritual criticism, is tacit: it exists in the doing and is not explicitly articulated.«196 Genau diese Form der Kritik ist für die Frage nach dem evangelischen Gottesdienst als Ritual von besonderer Bedeutung, da sie den bisherigen Fokus von seiner durchgehenden Wortzentrierung und somit von expliziter, verbaler Kritik verschiebt. Denn revolutionäre Umwälzungen der rituellen Praxis finden sich nur selten. In den meisten Fällen bringen die Ritualakteure Kritik in Form modifizierter Praxis zum Ausdruck:197 Pfarrer verändern geprägte Formeln, stellen Sequenzen moderierende Einleitungen voran, streichen oder ergänzen Sequenzen, verdoppeln sie oder delegieren sie an andere Akteure. Auch auf Seiten der Gemeinde ist das Spektrum kritischer Handlungen durchaus weitgefächert: Formen werden nicht mitgesprochen; verbale Äußerungen durchbrechen die vorgesehen Ordnung; Aufforderungen zum Aufstehen wird nicht Folge geleistet oder die Gemeinde steht auch ohne vorherige Aufforderung auf; der Einladung zum Abendmahl wird nicht entsprochen; der Kirchenraum vor dem Segen verlassen. Vieles Weitere ist denkbar und dient hier zunächst nur der Veranschaulichung. Eine eingehende Ritualanalyse des Gottesdienstes in der Reformationszeit wird auch den ritualkritischen Aspekt einbeziehen.198 Von unterschiedlichen Autoren wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Reformation als Ganze zahlreiche Momente ritualisierter Institutionenkritik aufweist: »one could view the new religious rituals arising from Protestantism as examples of the reforming character of rituals«199. Auf diese Weise soll nicht zuletzt deutlich werden, inwiefern Ritualkritik sich konstruktiv entfaltet und für die Dynamik und stetige Adaption und Entwicklung religiöser Praxis unverzichtbar ist. Da Ritualkritik stets Ausdruck unterschiedlicher Sichtweisen auf Rituale ist, ist eine kritiklose Ritualpraxis innerhalb pluraler Religionsgemeinschaften nicht möglich. Der Liturgiewissenschaft kommt dabei die Aufgabe zu, Formen und Techniken von Ritualkritik aufzudecken, die damit verbundenen Vor196 Ders.: Ritual Criticism of a Catholic Liturgical Evaluation, 33. 197 Grimes Mess-Analyse bietet zahlreiche konkrete Anhaltspunkte, das rituelle Verhalten der Akteure zu untersuchen. Dabei weist er u. a. auf das Ungenügen von Kurzzeitstudien hin; auf den Mangel an tiefgehenden Interviewanalysen; auf die ausschließliche Fokussierung auf diskrete Bedeutungen einzelner Symbole statt auf den »Sinn des Rituals«; auf die problematische Konzentration auf auditive und visuelle Sinneseindrücke, die kinesthetische, gestische und haltungsspezifische Dimensionen vernachlässigt (vgl. aaO., 49). Zu methodologischen Überlegungen für die Liturgiewissenschaft vgl. u. 9.1.1. 198 S. u. 11. 199 Wulf: Praxis, 406.
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stellungen, Absichten und Ideale transparent zu machen und die zugrundeliegenden religiösen, politischen, künstlerischen, pädagogischen oder sozialen Wertvorstellungen im Verhältnis zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu bedenken. Das beinhaltet auch die Frage, mit welchen Risiken und Chancen ritualkritische Handlungen verbunden sind. Die von Grimes getroffenen Unterscheidungen zwischen handlungsförmiger und verbaler Kritik, zwischen fundamentaler oder partieller, zwischen interner und externer, emischer und etischer Kritik sind zur Orientierung hilfreich, wenngleich sich in der Praxis immer wieder Überschneidungen zeigen. Das Froschauer Wurstessen 1522 in Zürich etwa kann sowohl als fundamentale Kritik an der Fastenpraxis gedeutet werden, als auch als Kritik an der Verbindlichkeit eines im Ganzen akzeptierten Rituals; als Adressaten dieser Form der Ritualkritik können sowohl kirchliche Autoritäten angesehen werden im Sinne einer externen Kritik des Bürgertums, wie auch die anderen Gemeindeglieder, welche sich zu streng durch kirchliche Vorschriften binden lassen. Hier von einer rituellen Handlung zu sprechen legt nicht zuletzt die Tatsache nahe, dass man nicht einfach und ›irgendwie‹ Wurst aß, sondern jeweils eine Wurst demonstrativ der Fastensuppe beigefügt wurde.200 Schließlich dient der Gedanke der Verbindung von Ritual und Kritik der Schärfung der Wahrnehmung, dass gottesdienstliche rituelle Handlungen immer wieder auch mit einem etischen Anspruch verbunden sind und diejenigen, die sie vollziehen zu einer neuen Sichtweise herausfordern, sei es durch das Einnehmen einer ungewohnten Haltung (Knien) oder etwa durch das Erproben einer neuen Form von Gemeinschaft wie im Abendmahl. Ob im Beerdigungsritual Gott als »Schöpfer des Himmels und der Erde« bekannt wird, oder im Sonntagsgottesdienst entgegen allem scheinbarem Realismus davon gesungen wird, »nun ist groß Fried’ ohn’ Unterlass«, wird doch gerade dort deutlich, wie sich die rituellen Akteure qua Ritual der herkömmlichen Wirklichkeitsauffassung gegenüberstellen und damit Kritik an ihr üben. Die »gesellschaftliche Verantwortung der Kirche«, die Josuttis darin sieht, »sich mit dem Angebot des Beerdigungsrituals nicht zufriedenzugeben, sondern bei der Beseitigung gesellschaftlicher Todesursachen mitzuhelfen«, beginnt eben nicht erst nach dem (Trauer-)Ritual. Die »Integration von Leiden und Elendswirklichkeit in das Ritual«201 ist in einem Gottesdienst, der mit dem Zeichen des Kreuzes, des sich Bekreuzigens beginnt, bereits erfolgt und muss nicht erst diskursiv eingebracht werden.
200 Vgl. Georg Plasger: Grundkurs Reformierte Geschichte und Theologie. Lektion 2 Die Reformation (2003), http://www.reformiert-online.net/t/de/bildung/grundkurs/gesch/lek2/lek2. pdf (29. 03. 2019). 201 Josuttis: Der Vollzug der Beerdigung, 204.
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8.3 Ritualisierungsprozesse in Ritualtheorie und Ritualpraxis (C. Bell) In der Encyclopedia Britannica von 1911 findet sich unter dem Stichwort ›Ritual‹ folgende Bemerkung: »Even in the highest religions, where orthodoxy is the main requirement, and ritual is held merely to symbolize dogma, there is a remarkable rigidity about the dogma that is doubtless in large part due to its association with ritual forms«.202 Der Autor knüpft dabei an die These von Robertson Smith an, der zufolge der Ritus den Mythos hervorbringt und zugleich bekräftigt. Er zieht eine Verbindung zwischen dogmatischer Unnachgiebigkeit und der streng an den Vorschriften orientierten Ausführung religiöser Rituale. Aus der Durchsetzung und Einschärfung kirchlich-dogmatischer Wahrheiten, wie sie die Kirchengeschichte durchzieht, lässt sich erahnen, dass auch der Theoriebildung eine eigene rituelle Qualität zukommt. Genau diese Frage bildet den Ausgangspunkt in Catherine Bells umfangreich rezipiertem Werk Ritual Theory, Ritual Practice von 1992. Bell zielt darin nicht auf die Erstellung einer neuen Ritualtheorie, vielmehr soll die Theoriebildung des Konzepts ›Ritual‹ analysiert und mit dem Begriff der ›Ritualisierung‹ (ritualization) eine veränderte Theoriepraxis angeregt werden.
8.3.1 Die Ritualität der Ritualtheorie: Zum Verhältnis von Ritualtheorie und Ritualpraxis Auf der Suche, was dazu führt, ein Objekt als ›Ritual‹ zu bezeichnen, identifiziert Bell eine tiefgreifende Zirkularität, die den ritualtheoretischen Diskurs seit seinen Anfängen durchzieht. Sie verdankt sich vor allem einer fundamentalen Dichotomie: »I will show theoretical discourse on ritual to be highly structured by the differentiation and subsequent reintegration of two particular categories of human experience: thought and action.«203 Die Trennung der beiden Kategorien ›Denken‹ und ›Handeln‹, die sich bereits in Durkheims Unterscheidung zwischen Glaubensüberzeugungen und Praktiken spiegelt, sieht Bell auf drei unterschiedlichen Ebenen bestätigt. Auf der ersten Ebene dient die Unterscheidung dem Herausgreifen des Rituals im Gegenüber von ideellen Konzepten, Vorstellungen, Überzeugungen und Symbolen. Wenngleich zwischen beiden Aspekten insofern eine Beziehung besteht, dass Rituale jene Konzepte darstellen, wie dies insbesondere in 202 EBrit11, Vol. XXIII, 371. 203 Bell: Ritual Theory, 16. Die folgenden Seitenzahlen im Text entsprechen dieser Ausgabe. Eine Übersetzung ins Deutsche dieses mittlerweile zum Klassiker avancierten Werkes liegt noch nicht vor. Ein Auszug ist publiziert in Andr a Belliger/David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 52013, 37–47. Bell (1953–2009) war bis zu ihrem frühen Tod Inhaberin eines Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der kalifornischen Santa Clara University.
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expressiven Theorien betont wird, so ist in der Unterscheidung zugleich eine Hierarchisierung zugunsten des Denkens verbunden: »Ritual is then described as particularly thoughtless action – routinized, habitual, obsessive, or mimetic« (19).204 Auf der zweiten Ebene lässt sich ein paralleles Argumentationsmuster beobachten, demzufolge Rituale gerade eine integrative oder synthetische Funktion erfüllen, indem sie Denken und Handeln verbinden: »Der wissenschaftliche Ritualbegriff schafft also Gegensätze, um einen Gegenstand zu identifizieren, der diese Gegensätze selbst aufhebt.«205 Damit findet eine Verdopplung der bereits auf der ersten Ebene eingeführten Unterscheidung statt, welche die Opposition, die sie zu überwinden versucht, gerade noch verschärft. Während die erste Ebene expliziter Bestandteil der Ritualtheorie ist, wirkt die zweite und auch die dritte Ebene stärker als unbewusster Faktor: Sie verlagert die Unterscheidung von Denken und Handeln auf die Beziehung zwischen dem scheinbar ausschließlich rezipierenden Beobachter und dem agierenden Ritualakteur. Während der Theoretiker also lediglich mit konzeptionellen Kategorien arbeitet, vollzieht der Ritualteilnehmer jene Form von Handeln, die gemäß der zweiten Ebene als Integration von Denken und Handeln, von konzeptionellem Rahmen und Handlungsdisposition (»dispositional imperative«) identifiziert wurde. Dieses Handeln erkennt der Theoretiker für den Handelnden als sinnstiftend, scheint aber selbst von der Integration ausgeschlossen: »That is, ritual participants act, whereas those observing them think« (28). Auf der Metaebene findet die Integration schließlich auch für den Theoretiker statt, indem er sein Konzept mit dem Handeln der Ritualakteure verbindet: »the fusion of thought and action described within ritual is homologized to a fusion of the theoretical project and its object, ritual activity. Both generate meaning – the first for the ritual actor and the second for the theorist« (ebd.). Ritualtheorie als eigene Form von Ritualpraxis kompensiert damit den Verlust von unmittelbarer Ritualpraxis. Wird Ritualtheorie auf diese Weise zur eigenen sinnstiftenden kulturellen (Ritual-)Praxis, lässt sich mit Frederic Jameson fragen, ob das primäre Objekt der Ritualtheorie nicht vielmehr das theoretische Konzept ›Ritual‹ ist, als Rituale selbst.206 Bell zeigt also, dass die für weite Teile der Ritualtheorie grundlegende Opposition von Denken und Handeln, die sich in den Entgegensetzungen von Glaube und Ritual, Theorie und Praxis spiegeln, erst das Forschungsobjekt hervorbringen, welche zu analysieren sie sich als Aufgabe gestellt haben. Problematisch ist dies sowohl in wissenschaftstheoretischer Hinsicht, wie auch im Blick auf die ritualtheoretischen Ergebnisse. Die Unterscheidung von Denken 204 Die extremste Formulierung einer solche Theorie findet sich bei Frits Staal (s. o. 7.3). 205 Andr a Belliger/David J. Krieger: Einführung, in: dies. (Hg.): Ritualtheorien, 7–34, 28. 206 »To what extend is the object of the study the thought pattern of the theorist rather than the supposed object, ritual?« (zitiert bei Bell: Ritual Theory, 31).
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und Handeln unterläuft nicht nur den kognitiven Gehalt körperlicher Handlungen, indem sie in ihrer zugespitzten Variante »a ›thinking‹ subject from a ›nonthinking‹ object« (47) unterscheidet, wie dies bei etwa Staal tendenziell der Fall ist. Die Unterscheidung unterschlägt auch den performativen Charakter theoretischer Forschung. Genau deshalb wählt Bell mit der Ritualtheorie nur ein besonders anschauliches Beispiel für grundsätzliche Muster kultureller Forschung: »The theoretical construction of ritual becomes a reflection of the theorist’s method and the motor of a discourse in which the concerns of theorist [sic!] take center stage« (54). Bell legt damit einen ähnlichen Fokus wie Grimes, der sich ebenfalls für die Überwindung einer starren Trennung zwischen kritischen Beobachtern und unkritischen »Ritualisten«, jenen Menschen also, die rituelle Handlungen durchführen, ausspricht.207 Schließlich perpetuiert die Dichotomie die Unterordnung des Handelns unter das Denken (vgl. 49), das als gleichermaßen kulturtheoretisch problematisch wie prägend für die westliche Gesellschaft angesehen werden muss. Ähnliche und gleichermaßen prägende Oppositionen sieht Bell in jenen von Tradition und Transformation, Ordnung und Chaos, Natur und Kultur und letztlich in der von Körper und Geist. Das Fazit dieser Erkenntnisse kann für Bell nur die Konzeption eines neuen, die breit belegte Dichotomie überwindende Ritualtheorie sein. Diese findet sie im Konzept der Ritualisierung. Bereits mehrfach wurde darauf hingewiesen, inwiefern Ritualtheorien Ausdruck zeitdiagnostischer Überlegungen sind. ›Ritual‹, so zeigt sich auch auf dem Gebiet der Ritualtheorie, tritt als Konzept in seine Existenz, wenn die Ritualpraxis selbst nicht nur fraglich geworden ist, sondern auch zunehmend weniger verfügbar. Galt dies für Robertson Smith und Durkheim im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt, so kann dies auch auf die emotional wie intellektuell nicht zufrieden stellenden neueren Ritualformen seit Ende der 60er Jahre bezogen werden. Innerhalb des liturgischen Ritualdiskurses bietet die Position von Werner Jetter hier ein gutes Anschauungsbeispiel, da Jetter seine »Mittelposition« sowohl mit dem Verlust des Zugangs zu den alten Ritualen begründet wie auch mit seiner Unzufriedenheit mit den neuen Formen.208 Genau diese Spannung kann mit Bell als Motivationsfaktor für ritualtheoretische Überlegungen identifiziert werden. Bells Ergebnisse erweisen sich für liturgiewissenschaftliche Fragen auch dadurch als relevant, weil sich das von ihr erkannte Muster innerhalb des liturgischen Ritualdiskurses häufig nachweisen lässt. So spricht wiederum Werner Jetter davon, dass dort, »[w]o das Symbolische ins Spiel gebracht wird, da findet man alsbald Theorie und Praxis miteinander verschränkt.«209 Auch bei anderen Ansätzen zeigt sich das Integrationsmuster der Verbindung von Denken und Handeln in der Ritual207 Grimes: Reading, Writing, and Ritualizing, 16. 208 S. o. S. 129. 209 Jetter: Symbol und Ritual, 86.
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theorie, etwa wenn psychoanalytische Konzepte rituelle Vollzüge plastisch als »Durcharbeiten« beschreiben. Besonders anfällig scheinen dafür jene Konzepte zu sein, die ein Idealbild eines Rituals entwerfen, das zumeist am zugrundeliegenden Skript entworfen wird. Schließlich stellt Bells Theorie eine Anfrage an expressive Ritualtheorien dar, die innerhalb der Liturgik – zumeist im Anschluss an Cornehl – zahlreich vertreten sind. Eine Reduktion dieser Expressivität auf einen spezifischen, dekonstruierbaren Gehalt lässt sich nur dann vermeiden, wenn die Expressivität der Person als Ganzer gilt. 8.3.2 Ritualisierung als Erzeugung »privilegierter Oppositionen« und Aushandlung von Macht Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, dass den bisherigen, dichotomisch-organisierten Theoriekonstruktionen ein eigenes Verständnis von Ritualen und Ritualisierung entgegengestellt habe. Wie Grimes so sieht auch Bell den Ritualbegriff mit zahlreichen problematischen Implikationen besetzt. Ausgangspunkt ist wiederum eine Dichotomie. Der geläufigen Verwendung entsprechend werden Rituale als symbolisch-expressive Form des Handelns pragmatisch-instrumentellem Handeln gegenübergestellt und eine mögliche Verbindung von vornherein ausgeschlossen. Daran knüpfen sich weitere Unterscheidungen an wie jene zwischen rationalem und nichtrationalem Handeln. Nicht nur der Inhalt dieser Unterscheidung ist problematisch, auch der dahinterliegende Ansatz, dem stärker daran liegt, die Handlungsform des Rituals in bestimmte Kategorien einzuordnen, als das Handeln selbst und seine Strategien zu verfolgen. Hier greift Bell einen Gedanken auf, der am Beginn des ritualtheoretischen Diskurses noch selbstverständlich war, nämlich die Annahme, Rituale stellten eine selbstständige, nicht reduzierbare Form des Handelns dar. Im Zuge der Einordnung von Ritualen in die Gattung der symbolischen Ausdrucksformen ging diese Eigenständigkeit weitgehend verloren. Die Aufgabe besteht somit darin, die Spezifik des Rituals herauszuarbeiten, dieses jedoch nicht erneut aus dem Kontext kultureller Handlungen zu lösen, wie dies in der älteren Forschung unter dem Paradigma der Trennung von Denken und Handeln der Fall war. Zur Lösung dieser Frage bedient sich auch Bell des Begriffs der ›Ritualisierung‹ (»ritualization«). In einem ersten Schritt beschreibt sie dieses Handeln als »a way of acting that differentiates some acts from others«210. Gänzlich unabhängig von den weithin üblichen Bestandteilen von Ritualdefinitionen wird der Begriff zunächst rein formal als Selbstunterscheidung einer Handlung von ihrem unmittelbaren Kontext gefasst. In einem zweiten Schritt erfolgt die Näherbestimmung von ›Ritualisierung« als »strategic way of acting« (141). Die damit benannte Verbindung von zielorientierter Motivation (»strategic«) 210 Bell: Ritual Theory, 15.
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Das Ritual als Handlung
und körperlicher Bewegung (»acting«) fasst Bell im Begriff der ›Praxis‹ (practice). Während ›Handlung‹ immer im Gegensatz zum ›Denken‹ konzipiert ist, stellt der Begriff der ›Praxis‹ zudem das individuelle Bewusstsein in die soziale Existenz des Akteurs.211 ›Praxis‹ bezieht sich ferner stets auf Handlungen, die ebenso situationsbezogen wie situationsflexibel sind. In einem dritten Schritt definiert Bell ›Ritualisierung‹ noch einmal genauer als »way of acting that specifically establishes a privileged contrast, differentiating itself as more important or powerful« (90). Der bereits benannte Demarkationsprozess, der die Handlung aus einer nicht speziell markierten Umgebung heraushebt, ist Bell zufolge orientiert an einem »Prinzip der privilegierten Kontraste«. Mit der Abgrenzung ist somit zugleich eine Wertung verbunden: Ritualisierte Handlungen stellen sich als privilegiert im Sinn einer erhöhten Bedeutung vor. Mit dieser Bestimmung liefert Bell zunächst einen wichtigen Hinweis darauf, was rituelles Handeln von bloßen Routinen unterscheidet: Routinen verzichten sowohl aus Sicht der Akteure wie auch der Beobachter gerade darauf, ihre eigene Bedeutsamkeit hervorzuheben. Ferner lässt sich anhand des Begriffes plausibel machen, was es heißt, dass Handlungen mehr oder weniger ritualisiert sein können, insofern sie diese Differenz mehr oder weniger stark betonen. Grundsätzlich sind Strategien der Ritualisierung damit kulturspezifisch und keiner Verallgemeinerung zugänglich. Damit nimmt Bell sämtlichen bisher als essenziell geltenden Erkennungszeichen ritueller Handlungen ihre Notwendigkeit, um eine Handlung als ›Ritual‹ zu qualifizieren. Formalisierung, Fixierung und Wiederholung können zwar ebenso als Mittel zur Anwendung kommen wie Exklusivität und Einmaligkeit, aber »[they] are not intrinsic qualities of ritual so much as they are a frequent, but not universal strategy for producing ritualized acts« (92). Die Wahl der jeweiligen Strategie entscheidet sich danach, was in der jeweiligen Kultur den privilegierten Status der Handlung deutlicher anzeigt. Die Unterscheidung kann in expliziter Weise erfolgen, etwa durch Begrenzung der Teilnehmerschaft und spezifische Zugangsvoraussetzungen, aber auch indirekt, etwa durch eine spezielle Bezeichnung der Handlung im Sinne einer Fachsprache. Auch wenn sie keine Notwendigkeit beanspruchen können, weisen die genannten Beispiele darauf hin, dass es dennoch möglich ist, Kriterien aufzulisten, die sich typischerweise und in mehreren Kulturen als wirksam im Sinne der Ritualisierung erwiesen haben.212 211 Bell bezieht sich hier ausführlich auf Pierre Bourdieus 1972 erstellten Entwurf einer Theorie der Praxis. 212 Bell (Ritual, 138) nennt sechs zentrale Formen: Formalismus, Traditionalismus (»The attempt to make a set of activities appear to be identical to or thoroughly consistent with older cultural precedents«, aaO., 145), Invarianz, Regelbestimmtheit (»rule-governance«), sakraler Symbolismus sowie Performativität. Aber auch die Anrufung einer Gottheit stellt eine solche Strategie dar (vgl. aaO., 166). Andere könnten hinzugefügt werden, wie etwa Redundanz oder Rahmungen (framing), aber Vollständigkeit kann Bells Theorie zufolge weder Ziel noch Aufgabe von Ritualtheorie sein.
›Ritualisierung‹ als Forschungsparadigma und ritualtheoretischer Ansatz 361
Ein weiterer Schritt in Bells Theorie der Ritualisierung ist die Hinwendung zu den Akteuren dieser Handlungen: Das Ziel der Ritualisierung sind »ritualisierte Akteure«: »The ultimate purpose of ritualization […] is nothing other than the production of ritualized agents, persons who have an instinctive knowledge of these schemes embedded in their bodies, in their sense of reality, and in their understanding of how to act in ways that both maintain and qualify the complex microrelations of power. […] It is a mastery that experiences itself as relatively empowered, not as conditioned or molded« (221).
Das Zitat verbindet zwei zentrale Anliegen Bells. Zum einen wird die Bedeutung des Körpers hervorgehoben, da sämtliche Ritualisierungsstrategien körperlich verfasst sind in Form von Bewegungen, Gesten oder Lauten. Bell spricht daher in Bezug auf die »ritualisierten Akteure« von einem »ritualisierten Körper«. Dieser unterliegt einem zirkulären Prozess: »Essential to ritualization is the circular production of a ritualized body which in turn produces ritualized practices« (93). Der Körper erzeugt das Ritual im Sinne eines Raumes, der sich durch »privilegierte Opposition« zur anderen Handlungen auszeichnet. Gleichzeitig wird der Raum des Rituals so wahrgenommen, als lasse er nur diese bestimmten körperlichen Handlungen zu. Dies zeigt sich besonders an den Qualitäten der Regelbindung in Invarianz, die zugleich Voraussetzung wie Folge einer konkreten Handlung sind. Als Raum, der ein bestimmtes Handeln vorschreibt, erlangt die Handlung eine überindividuelle Qualität.213 Die Fähigkeit zum rituellen Handeln wird sodann als »rituelles Können« (ritual mastery) bezeichnet.214 Mit dem Verweis auf den körperlichen Aspekt des Rituals will Bell zumindest einen Anhaltspunkt für die Beantwortung der Frage liefern, wie das Ritual das tut, was es tut: Ritualisierte Handlungen erzeugen ein Wechselverhältnis von strukturierter Umgebung, die durch körperliches Handeln entsteht und zugleich diese Struktur auf jene überträgt, die am Ritualvollzug teilnehmen. Zum anderen will Bell mit dem Verweis auf rituelle Machtverhältnisse erläutern, warum und in welchen Fällen Ritualisierung als die passende Handlungsstrategie gewählt wird. In Ritualen werden ihr zufolge Machtverhältnisse nicht einfach gesetzt oder gar abschließend festgeschrieben, sondern in einem wechselseitigen Prozess ausgehandelt. Damit modifiziert und erweitert Bell erneut weithin geteilte Ansichten bisheriger ritualtheoretischer Forschung. Bezüglich ritueller Machtverhältnisse benennt sie insgesamt vier Fragen: 1. Wodurch bemächtigt Ritualisierung jene, die über Rituale bestimmen? 213 In diesem Sinne beschreibt Bell an anderer Stelle auch als Kern der Ritualisierung »the bodily construction of a social self« (Dies.: Embodiment, in: Kreinath/Snoek/Stausberg [Hg.]: Theorizing Rituals, 533–543, 541). 214 »This mastery is an internalization of schemes with which they are capable of reinterpreting reality« (Dies.: Ritual Theory, 141). Der Aspekt der Rückwirkung von Ritualen auf den Kontext, von dem sie sich differenzieren, ist bei Bell nicht weiter ausgeführt.
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Das Ritual als Handlung
2. Inwiefern ist deren Macht zugleich begrenzt? 3. Wie beherrscht Ritualisierung jene, die am Ritual teilnehmen? 4. Inwiefern beinhaltet diese Beherrschung eine verhandelte Teilnahme und bemächtigt damit zugleich jene, die zunächst durch das Ritual allein als Objekte von Macht erscheinen? Antworten auf die Fragen 1 und 3 finden sich reichlich in der Geschichte der Ritualtheorie. Rituelle Ermächtigung wurde besonders unter den Stichworten Initiation und Weihe verhandelt. Konsens bestand unter vielen Autoren auch darüber, dass Rituale Macht- und Herrschaftsverhältnisse stabilisieren und legitimieren, indem sie sozialen Zusammenhalt stiften (Durkheims Efferveszenz-Erfahrung) und Konflikte kanalisieren oder sublimieren (Turners communitas). Bell weist nun zum einen darauf hin, dass die Übertragung von Macht zugleich auch ihre Limitierung bedeutet, indem diese auch im Anschluss an die Initiation an das Amt und nicht an die Person gebunden bleibt (vgl. 212). Zum anderen zeigt sie, dass Traditionalismus215 zwar als Mittel der Herrschaftslegitimation dient, damit aber zugleich eine starke Einschränkung der Fähigkeit verbunden ist, aktuelle Konflikte zu bearbeiten. Dadurch wächst bei jenen, die einer Institution mittels Ritual zunächst ihre Traditionalität gesichert hatten, das Bedürfnis nach anderen Institutionen der Problemlösung zu suchen. Und schließlich hatte Michel Foucault darauf hingewiesen, dass die Voraussetzung für Macht die Freiheit der Akteure beinhalte. Rituale können somit zwar Mechanismen beinhalten, Widerspruch deutlich zu begrenzen. Sie müssen aber zugleich unterschiedliche Grade individueller Aneignung erlauben, die sowohl eine Wahl implizieren wie auch die Möglichkeit für Widerstand und Verweigerung zumindest teilweise offenhalten. Ist dies nicht der Fall, schlägt Macht in Zwang und Gewalt um. Aufgrund dieses Abhängigkeitsverhältnisses erscheint das Machtpotenzial der zunächst als Objekte von Macht gedeuteten Akteure in neuem Licht. Unabhängig von den zahlreichen neuen Perspektiven, die Bells Theorie für die Ritualanalyse eröffnet, bleiben einige Fragen ungeklärt.216 Bell äußert sich kritisch gegenüber allen Versuchen, Rituale als Form der Kommunikation zu analysieren. Dabei betont sie den Gegensatz zwischen Kommunikation und Performance, zwischen ›Aussagen‹ und ›Bewirken‹ (vgl. 111). Was die Akteure Ritualen jedoch selbst an Bedeutung und Funktion zuschreiben, wird dadurch kaum bedacht, ebenso wenig die Tatsache, dass Handeln nicht nur eine kognitive Auseinandersetzung voraussetzt, sondern erst hervorruft. Ausgehend von der Zirkularität des Entstehens »ritualisierter Körper« wäre dies freilich möglich. Weiterhin besitzt die starke Betonung ritueller Handlungen als bewusste Handlungsstrategie die Tendenz, den Charakter der Gegebenheit von Ritualen und des Anspruchs der Akteure, durch ihr Handeln die Wiederholung 215 S. o. Anm. 212. 216 Dies ist freilich auch der Tatsache geschuldet, dass Bell ohnehin nicht darauf abzielt, eine vollständige Ritualtheorie vorzulegen, sie wie mehrfach betont: »The preceding analyses do not add up to a new theory of ritual. This is deliberate« (218).
›Ritualisierung‹ als Forschungsparadigma und ritualtheoretischer Ansatz 363
einer Ursprungshandlung vorzunehmen, zu unterlaufen – nicht zuletzt die ätiologischen Bemühungen innerhalb von Religionen insbesondere für religiöse Praktiken weisen darauf hin. Insofern Bell an anderer Stelle von der Ritualen eigenen Anmutung der »Natürlichkeit« (naturalness) spricht, zeigt sich zum einen die Schwierigkeit, dass der Beobachter nicht zu unterscheiden vermag zwischen dem Handeln, welches der Handelnde als ihm vorgegeben ausführt und einer bewussten Verwendung von Ritualisierungsstrategien, um das eigene Handeln bedeutsamer und machtvoller zu inszenieren. Zum anderen lässt mit dieser Theorie, die das strategische Handeln der Akteure besonders stark macht, nicht erklären, wieso Rituale in vielen Fällen als etwas empfunden werden, das die Akteure nicht selbst erzeugt haben, sondern ihnen zur Ausführung bereitliegt. Wird diesem Handeln zugesprochen, eine »strategische Handlungsform« zu sein, lässt dies weiter nach dem Autor dieses Handelns fragen und die Zirkularität ist nicht zu überwinden. Mit Bells ritualtheoretischem Neuansatz verändert sich auch grundlegende Aufgabenstellung ritualtheoretischer Forschung. Ritualtheorie wird als Untersuchung von Ritualisierungsstrategien im Sinne der Selbstdifferenzierung ritueller Handlungen von ihrem Kontext bestimmt. Waren bisherige Ritualtheorien stets darum bemüht, bestimmte Kennzeichen ritueller Handlungen herauszuarbeiten, wird diese Suche nun einer höheren formalen Ebene untergeordnet, die nach dem »Prinzip differenzierter Kontraste« organisiert ist. Interessant ist diese Aufgabe nicht zuletzt deshalb, weil trotz ihrer strategischen Ausrichtung die Mittel der Ritualisierung im Ritual nicht benannt werden: »ritualization is a particularly ›mute‹ form of activity« (93).217 Die Frage nach ritualisierten Kontrastierungen und Differenzierungen beinhaltet die Untersuchung allgemeiner Formen sozialen Handelns innerhalb einer jeweiligen Kultur. Die von Grimes betonte bleibende Bedeutung der Feldforschung wird auch hier bestätigt. Dadurch richtet sich der Blick verstärkt auf die Spezifik von Handlungen und Ereignissen: »these people, at this place, during this time, with these historical understandings.«218 Ausgehend von Bells Ansatz kann der Ritualtheorie auch eine kritische Rolle zugewiesen werden, insofern sie jene Strategien transparent macht, die ritualisierte Akteure und Körper hervorbringt, wenngleich dies im Ritual (»›mute‹ form of activity«) nicht anzeigt wird. Darüber hinaus eröffnet die These von der Selbstunterscheidung im Sinne einer privilegierten Opposition ein hilfreiches Mittel, um die Gewichtung einzelner Sequenzen zu bewerten und diese mit seiner Deutung zu vergleichen. 217 Aus der Perspektive des christlichen Gottesdienstes, der seinen Anlass nicht nur immer wieder selbst thematisiert, sondern auch der Ritualdeutung im Ritual einen Platz zuweist, wird diese These zumindest teilweise zu relativieren sein. Zugleich fällt hierdurch ein interessantes Licht auf die innertheologisch wichtige Unterscheidung zwischen Sakramenten und anderen Ritualen (Sakramentalien), für die die Frage der »Einsetzung« einer zentralen Rolle spielt. 218 Bell: Embodiment, 538, H. RG.
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Das Ritual als Handlung
In ihrem 1997 erschienen Überblickswerk Ritual. Perspectives and Dimensions stellt Bell infolge der Relativierung der Suche nach allgemeinen Kennzeichen ritualisierter Handlungen der Darstellung etablierter Rituale eine Untersuchung »ritualartiger« (ritual-like219) Aktivitäten oder Verhaltensformen an die Seite. Damit soll deutlich werden, dass sich die Ritualisierungsstrategien besser noch als in den etablierten Ritualen dort aufweisen lassen, wo Ritualisierung und De-Ritualisierung sich in der Gegenwart ereignen und Ritualtheorie in der Folge ihren Blick insbesondere auf diese »emerging rituals« zu richten hat. 8.4 Zusammenfassung Mit dem Begriff der ›Ritualisierung‹ verbindet sich ein fundamentaler Wandel der Ritualtheorie seit den 1980er Jahren, der in den Ritual Studies seinen Niederschlag gefunden hat. Dabei wurde der Begriff aus seiner ursprünglichen Verbindung mit ethologisch-psychologischen Entwicklungstheorien gelöst. Nicht mehr ›Rituale‹ im Sinne feststehender ›Objekte‹ (›Riten‹) oder als Name einer bestimmten Gruppe von Handlungen stehen im Fokus der Ritualtheorie, sondern eine bestimmte, d. h. ritualisierte Art und Weise des Handelns. Wenn Catherine Bell Ritualisierung zunächst als »a way of acting that differentiates some acts from others«220 beschreibt, wird deutlich, dass das, was ›Rituale‹ sind, immer wieder neu bestimmt werden muss. Weder werden hier die Ritualen üblicherweise zugeschriebenen funktionalen Leistungen einfach fortgeschrieben, noch formale Kennzeichen kulturübergreifend als notwendig erachtet. Ritualtheorie soll von dem Anspruch befreit werden, als kulturkonstituierende Gesamttheorie konzipiert zu werden. Mit dem Begriff der ›Ritualisierung‹ wird ferner angezeigt, dass es nicht um ein Produkt geht, sondern um ein Tun und zugleich um einen Prozess, der auf einem Zusammenspiel aus Produktion und Rezeption beruht. Handlungen können also unterschiedlich stark ritualisiert sein und umso stärker dies der Fall ist, werden die dem Alltagskontext entstammenden Handlungen transformiert.221 In gleicher Weise wie der Ritualbegriff damit an fester Substanz verliert, gewinnt er an Dynamik und Komplexität. Insbesondere drei wichtige Folgen für die Ritualtheorie seien hier benannt: (1) Ritualtheorie bezieht die Forscher selbst in das Theoriekonzept ein, sei es im Sinne der Beeinflussung ritueller Praxis durch Beobachtung und Kritik (Grimes), oder durch die Einsicht in die Verfasstheit von Ritualtheorie als Mittel der Überbrückung von Ritualtheorie und mangelnder Ritualpraxis. (2) Mit dem Ritualisierungsbegriff ist eine Ausweitung des Forschungsbe219 Vgl. Dies.: Ritual, 139. 220 Dies.: Ritual Theory, 15. 221 Das Essen eines kleinen Stücks einer Waffel ist eben nicht per se ein Ritual, kann aber ein solches darstellen und wird dann als Kommunion bezeichnet.
›Ritualisierung‹ als Forschungsparadigma und ritualtheoretischer Ansatz 365
reiches verbunden. Sowohl Alltagshandlungen werden einbezogen wie auch kulturelle Ränder (margins), also jene Subkulturen, in denen sich Rituale immer wieder neu ausbilden und verschwinden. Auf diesem Weg soll die Ritualtheorie von ihrer Engführung auf religiöse Praxis befreit werden. Ronald Grimes fasst diese Aufgabe unter dem Stichwort »getting beyond Victor Turner« zusammen. Auch Catherine Bell betont, dass sich gerade dort, wo Rituale nicht im Schutz großer Institutionen stehen und sich freier entfalten können, die Strategien der Ritualisierung als Prozesse der »privilegierten Unterscheidung« häufig besser nachvollziehen lassen. Klassische Riten lassen u. a. nicht deutlich werden, dass es sich hier um einen zirkulären Prozess handelt, bei dem der Handlungsraum nicht nur dem Handeln vorausliegt und eine bestimmte Handlungsform erfordert, sondern dieser Handlungsraum durch das Handeln selbst erst generiert wird.222 Als Konsequenz könnte man Bells Ansatz so verstehen, dass die bisherige Beschäftigung mit Ritualen unter der ausschließlichen Fokussierung auf besonders stark ritualisierte Handlungsformen leidet, da diese die an ihnen wirksamen Ritualisierungsstrategien kaum noch erkennen lassen. Die Ritualtheorie sollte sich daher stärker auf Handlungen konzentrieren, deren Ritualisierung noch nicht völlig abgeschlossen ist. Erst mit den dabei zu beobachtenden Strategien können in einem zweiten Schritt die klassischen Rituale untersucht werden. (3) In diesem Sinn führt der Ritualisierungsansatz dazu, klassische Zuschreibungen wie Traditionalität und Affirmation zu überwinden. Für Bell sind beides mögliche, aber keineswegs notwendige Strategien der Ritualisierung. Grimes konnte mit seinen Forschungen zeigen, dass Rituale auch kreative und innovative Momente enthalten, sowie Formen von Kritik beinhalten. Diese kann sich sowohl auf ihr eigenes Bezugssystem richten als auch auf ihre Umwelt und die darin geltenden Werte und ausgeübten Praktiken. Dieser Ansatz hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt. Dies belegt anschaulich das gegenwärtige Standardwerk der Ritualtheorie Theorizing Ritual, das 2006/2007 von Jens Kreinath, Jan Snoek und Michael Stausberg herausgegeben wurde. In einer Weiterführung des Ritualisierungsbegriffs ist nun nicht mehr von einer ›Ritualtheorie‹ die Rede, sondern vom ›Theoretisieren‹. Damit soll auf ein Theoriedefizit hingewiesen werden. Der Wechsel innerhalb westlicher Gesellschaften hin zu einer positiven Bewertung von Ritualen hat zwar eine Flut von Publikationen hervorgerufen, in denen geradezu ritualartig Werte und Leistungen von Ritualen betont und aufgelistet wurden. Die Ritualtheorie selbst wurde dabei zumeist vernachlässig. Damit blieben auch die
222 »The complex reciprocal interaction of the body and its environment is harder to see in those classic examples of ritual where the emphasis on tradition and the enactment of codified or standardized actions lead us to take so much for granted about the way people actually do things when they are acting ritually« (Bell: Ritual, 139).
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Das Ritual als Handlung
Fragen unbeantwortet, was ein Ritual zu einem solchen macht und wie Rituale bewirken, was sie bewirken. Der Begriff des ›Theoretisierens‹ macht auf eine Entwicklung innerhalb der Theoriebildung aufmerksam, welche die Autoren parallel auch beim Religionsbegriff beobachten: Es ist nicht mehr möglich, eine »Theorie des Rituals« zu entwickeln (»the age of ›grand theories‹ […] is over«223). Aussagekräftiger erweisen sich »Theorien von Ritualen«, die auf den Anspruch verzichten, sämtliche Perspektiven auszuleuchten. So können bestimmten theoretischen Rahmen wie Ästhetik oder Semiotik angewendet werden oder paradigmatische Konzeption und Strategien wie ›Verkörperung‹ oder ›Rahmung‹ innerhalb von Ritualen aufgezeigt werden. »In summary: theorizing requires the refinement of single theories, as well as their mutual critique and competition. It works in, with, and between theories.«224 Mit der Pluralität an Theorien ist jedoch nicht der wissenschaftliche Anspruch relativiert. Ritualtheorien müssen stets empirisch gestützt und überprüfbar sein und Vorhersagen über Handlungen und ihre Folgen ermöglichen. Auch Bells Überlegungen zur Unmöglichkeit, feste Kennzeichen ritualisierter Handlungen kulturübergreifend zu bestimmen, findet in dem Sammelband Eingang in die Behandlung der Frage nach einer Definition von Ritualen. Jan Snoek schlägt eine Kombination aus einer »verschwommenen Reihe« (fuzzy set), deren Mitglieder die Eigenschaften der Reihe jeweils unterschiedlich stark erfüllen, und einer polythetischen Klasse vor, die sich aus den Eigenschaften sämtlicher Mitglieder zusammensetzt, wobei kein Mitglied weder alle noch keines der Eigenschaften teilt.225 Als Vorteil einer solchen Herangehensweise wertet Snoek die Tatsache, dass das Ziehen fester Grenzen meist entweder willkürlich oder unmöglich ist. Offene Definitionen erweisen sich besonders hilfreich, wenn man nicht den Kern, sondern die Peripherie einer Klasse untersuchen will oder Überschneidungen mit anderen Klassen, wie etwa Ritual und Spiel. Es geht also nicht mehr darum, die wenigen wesentlichen, sondern eine möglichst große Zahl von Eigenschaften zu finden, die für die meisten Rituale zutreffen. Auf dieser Grundlage lassen sich erste Schlussfolgerungen für die hier unternommenen Überlegungen zu einer Neukonzeption des Ritualbegriffs evangelischer Liturgik formulieren: Anschließend an die Überlegungen von Ronald Grimes gilt es, die unterschiedlichen Formen von Kritik in rituellem Handeln ausfindig zu machen und als Form von ritueller Kreativität und Aneignung zu 223 Jens Kreinath/Jan Snoek/Michael Stausberg: Ritual Studies, Ritual Theory, Theorizing Rituals – An Introductory Essay, in: dies. (Hg.): Theorizing Rituals, xiii–xxv, 21. 224 AaO., 22. »Consistency is an important aim of theory, but theorizing must find a different way of coping with heterogeneity and with the complexity and emergent quality of scholarly discourse« (aaO., 25). 225 Vgl. Jan Snoek: Defining ›Rituals‹, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 3–14, bes. 4–7.
›Ritualisierung‹ als Forschungsparadigma und ritualtheoretischer Ansatz 367
begreifen. Die von Catherine Bell vertiefte Sicht auf die durch die Ritualisierung einer Handlung sowie im Ritualvollzug ausgehandelten Formen von Macht gilt es in ihrer Wechselseitigkeit zwischen den Ritualleitenden und den Teilnehmern weiter zu verfolgen. Sowohl der Aspekt der Kritik wie auch die Frage der Macht wurden zwar bei Hans-Günter Heimbrock ansatzweise erörtert,226 doch ist das Projekt sowohl auf theoretischer wie empirischer Ebene seither nicht vorangekommen. Ritualanalyse, die sich dem Ritualisierungsparadigma verpflichtet weiß, basiert auf einer genauen Analyse konkreter Handlungsvollzüge sowie der dabei sichtbaren Prozesse der Ritualisierung und Deritualisierung. Wenngleich mit Bell sämtliche Kriterien ritueller Handlungen zu hinterfragen sind, die einen universellen Anspruch erheben, weil dies zu einer Verengung des Blickwinkels führt, kann auf einen solchen Katalog zugunsten der Analyse nicht verzichtet werden. Was unter den bisher genannten Ansätzen unbefriedigend bearbeitet blieb, war die Perspektive der Akteure selbst. Auch sämtliche von Bell genannten Kriterien verbleiben auf der Ebene äußerlicher Beobachtungen. Eine umfassende Beantwortung der Frage, welche Handlungen im Sinne Bells als herausgehoben empfunden werden, kann nicht auf die Deutung der Ritualakteure verzichten.227 Eine Bestimmung, der über das Kriterium der Selbstunterscheidung hinausgeht, dient schließlich dazu, rituelle Phänomene sinnvoll abgrenzen zu können. Denn genau darin bestand und besteht ein berechtigter Kritikpunkt der Ritualkritik.228 Als Desiderat der hier behandelten Ansätze muss die offene Frage nach der theoretischen Integration der Bedeutungszuschreibungen gelten, die mit Ritualen häufig – und explizit auch im christlichen Gottesdienst – verbunden ist. Eine Weiterführung der konzeptionellen Überlegungen findet sich im Anschluss an Kapitel 9, das der Ritualtheorie von Humphrey und Laidlaw gewidmet ist. In Kapitel 11 werden darauf aufbauend Thesen formuliert, welche Einsichten und Perspektiven eine ritualtheoretische Beschreibung des Gottesdienstes über die bisher verfolgten Ansätze hinaus verfolgen muss. Bereits jetzt ist deutlich geworden, dass eine Ritualtheorie, die auf Dichotomien aufbaut und dabei Ritual und Reflexion, Ritual und Kritik, Emotion und Diskursivität von einander trennt, nicht nur theoretisch unbefriedigend bleibt. Eine solche Theorie hat den Schritt vom kategorialen Denken zur tatsächlichen Handlungsanalyse noch nicht vollzogen.
226 S. o. 3.5.2. 227 Dies betont unabhängig von Bell bereits Fritz Stolz: »Die religionswissenschaftliche Konstruktion eines Symbolsystems besteht also zu einem Teil aus den Beiträgen derer, welche die Religion von innen her erleben und das entsprechende Symbolsystem in einem geringeren oder höheren Maße selbst explizieren, möglicherweise angeregt durch Impulse, die von außen kommen; und zum andern Teil aus Beiträgen des Religionswissenschaftlers, der die Konstruktion von seiner Fragestellung her abrundet« (Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, 117f.). 228 S. o. 4.2.1 sowie auch unter 2.
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Das Ritual als Handlung
9 Die rituelle Haltung als Grundlage rituellen Handelns (C. Humphrey/J. Laidlaw) 1994 legten Caroline Humphrey und James Laidlaw mit The Archetypal Actions of Ritual. A Theory of Ritual Illustrated by the Jain Rite of Worship eine Ritualtheorie vor, die ausgehend von einer ethnografischen Einzelstudie das verbindende Kennzeichen von Ritualen in einem eigenständigen Handlungsmodus sieht, dem »ritual mode of action«.229 Durch dieses Kriterium soll es möglich werden, ritualisierte Handlungen von Routinen oder theatralen Aufführungen unterscheiden. Ziel ihrer Theorie ist ausdrücklich der Versuch, Ritualität nicht nur für den ursprünglichen, jainistischen Kontext, sondern generell zu beschreiben. Weil darin der Deutung bzw. der Bedeutungszuschreibung und damit der Reflexivität ein besonderer Stellenwert zukommt, liegt die Frage nach der Übertragbarkeit auf den protestantischen Kontext besonders nahe. Der Forschungsansatz der Studie ist dem Ritualisierungsansatz verpflichtet, wie er im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurde. Inhaltlich knüpft die Theorie zunächst an Frits Staal an.230 Die Autoren folgen Staal in der Annahme der intrinsischen Bedeutungslosigkeit von Ritualen. Zugleich werten sie aber die Prozesse der Bedeutungszuschreibung als integralen und wesentlichen Bestanteil ritueller Praxis. Ferner greifen sie Überlegungen zu den charakteristischen Kennzeichen ritualisierter Handlungen aus dem Kontext ethologischer Forschung auf (8.1). Die Ritualtheorie der beiden in Cambridge lehrenden Anthropologen Humphrey und Laidlaw wurde anhand des Puja-Rituals der Jainas erarbeitet und innerhalb der anthropologischen Forschung bereits umfangreich rezipiert.231 Eine Anwendung auf den Gottesdienst durch die Liturgik fehlt jedoch bisher. 9.1 Theoretischer Hintergrund und methodischer Ansatz Eine Ritualtheorie, die ihren Ausgang von der rituellen Praxis eines weit entfernten Kulturkreises nimmt, kann ihre Relevanz und Gültigkeit für moderne, westliche Formen von Ritualität nicht ohne Weiteres voraussetzen – nicht zuletzt angesichts der bereits skizzierten Kritik derartiger Übertra229 Caroline Humphrey/James Laidlaw: The Archetypal Actions of Ritual. A Theory of Ritual Illustrated by the Jain Rite of Worship, Oxford 1994. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Eine Übersetzung ins Deutsche liegt bisher nur von Kap. 4 vor in Belliger/ Krieger (Hg.): Ritualtheorien, 133–154. 230 S. o. 7.3. 231 Rezensionen finden sich u. a. in JR 76 (1996), 673 f.; HR 36 (1996), 166–168; Journal of Ritual Studies 10 (1996), 135–138; JRAI 3 (1997), 631 f.; CA 40 (1999), 243–248. Keine Erwähnung findet die Theorie in der Zusammenschau bei Bell: Ritual.
Die rituelle Haltung als Grundlage rituellen Handelns
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gungen, wie sie in der evangelischen Liturgik mehrfach begegnet sind.232 Kurze Ausführungen zum Jainismus und sowie Überlegungen zur Forschungsmethode müssen deshalb hier am Anfang stehen. Humphrey und Laidlaw gründen ihre Theorie auf Feldforschungen zum jainistischen Puja-Ritual am Dadabari-Jain-Tempel in Jaipur, Westindien. Der Jainismus, entstanden in Indien im 5./4. Jahrhundert v. Chr., besitzt weltweit etwas mehr als 4 Millionen Anhänger, vorwiegend in Indien. In Europa wird ihm nur selten Aufmerksamkeit zuteil.233 Wie auch in anderen indischen Religionen besteht sein Ziel in der Überwindung eines Kreislaufs von Geburten und Wiedergeburten, der die Einzelseele so lange gefangen hält, bis es ihr gelingt, sich von schlechtem Karma gänzlich zu reinigen und auf diese Weise Befreiung zu erfahren. Erst dann, so der Glaube der Jainas, entfaltet die Seele ihre immer schon eigene Allwissenheit, ihre freudvolle Natur, kurz: ihre ganze Energie. Der Weg zur Befreiung ist ein asketisches Leben unter Beobachtung strenger ethischer Richtlinien und mit dem Ziel ständiger Achtsamkeit. Vor allem das strikte Gebot der Gewaltlosigkeit (ahimsa¯) ist ein prägendes Kennzeichen des Jainismus, da es geradezu rigorose˙ Anwendung findet auf ausnahmslos alle Lebewesen. Auch Fliegen und Würmern wird eine Seele zuerkannt. Sie zu verletzen bedeutet gleichermaßen die Ansammlung negativen Karmas. Diese Sichtweise hat dazu geführt, dass die Anhänger der Religion sich streng vegetarisch ernähren, Eingriffe in die Natur weitgehend vermeiden und infolge dessen akademische Berufe handwerklichen oder landwirtschaftlichen Arbeiten vorziehen. Die Ausrichtung auf vorrangig geistige Tätigkeiten resultiert zum einen in einem konstant überdurchschnittlichen Bildungsgrad unter den Gläubigen, der wiederum einen überproportionalen Einfluss in Verwaltung und Wirtschaft sowie einen überdurchschnittlichen Wohlstand zur Folge hat.234 Zum anderen geht damit ein intellektueller Grundzug der Religion einher.235 Obwohl der Ritualismus zu den öffentlichen wie privaten Grundzügen dieser Religion gehört, begegnen Jainas Ritualen dennoch mit gewissem Vorbehalt bis hin zu ritualkritischen Positionen.236 Äußerliches Handeln führt ihrem Verständnis nach zwangsläufig zur An232 S. o. 4.2.2. 233 Gelegentlich wird auf Mahatma Gandhis Beeinflussung von jainistischer Lehre hingewiesen. Bis vor kurzem trug ein CEO einer großen deutschen Bank diese Religion in seinem Nachnamen. 234 Diese Angaben beziehen sich vor allem auf Indien selbst, wo Jainas mit einer Alphabetisierungsrate von 94,1 % nicht nur den Landesdurchschnitt, sondern auch diese Quote innerhalb anderer Religionen weit übertreffen (vgl. Gurinder Kaur/Divjot Kaur: Literacy of Major Religious Groups in India. A Geographical Perspective, in: Abstracts of Sikh Studies XIV [2012], 40–58). 235 Vgl. etwa die anpreisende Beschreibung des Jainismus durch C.R. Jain als »the Science of Salvation itself« (Champat R. Jain: Jainism, Christianity and Science, Alahabad 1930, 3) oder »the science of liberation par excellence« (Ders.: What is Jainism?, Arrah 21917, 13). 236 Humphrey und Laidlaw schildern exemplarisch die Bekehrungsgeschichten des Banarsidas
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sammlung von negativem Karma. Skeptische Äußerungen reichen vom Hinweis auf die Notwendigkeit, das äußerliche, rituelle Handeln lediglich als Mittel zur Verbesserung des Zustands der Seele zu verstehen, bis hin zu generellen Aussagen über die Bedeutungslosigkeit von Ritualen. Insgesamt gelten Rituale nicht um ihrer selbst willen als hilfreich auf den Weg zur Erlösung.237 Die hochrituelle Glaubenspraxis und die korrespondierende Lehre stehen damit in gewisser Spannung – nicht nur aus Sicht des unbeteiligten Beobachters. Hierin zeigt sich ein weiterer Grundzug jainistischer Religion: Ihre Lehre will kein logisch konsistentes Gebäude darstellen, vielmehr sind Widersprüche und permanente Reibungen seit Beginn integraler Bestandteil. Dies zeigt sich auch an den zahlreichen Gruppierungen, die sich, ähnlich der Unterscheidung in Konfessionen und Denominationen, innerhalb des Jainismus herausgebildet haben und sich jeweils verschiedenen Prinzipien besonders verpflichtet fühlen. Die von Humphrey und Laidlaw untersuchte Gruppe von Jainas folgt den Lehren und Traditionen der Kharatara Gaccha, einer der zahlreichen Sekten des S´veta¯mbara-Jainismus.238 Die Sekte hat ihren Ursprung in einer Reformbewegung im 11. Jahrhundert, die unter Berufung auf jainistische Urtexte den vorherrschenden starren Ritualismus aufbrachen und die Beteiligung von Laien stärkten. Dies führte zu einer Reform der rituellen Praxis, welche vermehrt selbstverantwortete – teilweise das Ritual (Archetypal Actions, 51–56), eines Jainas aus dem 17. Jh., der ursprünglich der ritualfreundlichen Khartar-Gacchi entstammte. Als er sich aber der Gefahren bewusstwurde, welche der mechanistische Vollzug von Konventionen und Ritualen für die eigene spirituelle Verfassung bedeutete, schloss er sich einer ritualfeindlichen Gruppierung innerhalb des Digambars an. Doch die rigorose Ablehnung aller Rituale stürzte ihn gleichermaßen in Verzweiflung. Wiederum durch die Lektüre alter Schriften kam er zur neuen Einsicht in die zwar relative, aber doch grundlegende Bedeutung von Ritualen für den spirituellen Weg es Menschen: »[Rituals] fell into place as significant and purposeful within the total spiritual journey. Rituals were necessary in the early stages of a man’s spiritual progress because they helped formulate his quest and give it the right direction. Later, when the spiritually advanced seeker had transcended them, he could in the light of his perfected knowledge, realise their relative importance with fuller understanding, recognizing and synthesizing them as an essential part of an indispensable scheme« (Mukund Lath, zitiert aaO., 54). Aus der Verweigerung des Rituals folgte für ihn auch die Zurückweisung einer ethischen Lebensweise. Die Impulse Banarsidas, die Digambars wie Shvetambars (s. u. Anm. 238) gleichermaßen erreichten, vermochten den Jainismus nicht langfristig zusammenzuhalten. Doch die Mischung zwischen Ritualismus einerseits und Ritualkritik und -relativierung andererseits ist ein bleibendes Kennzeichen der Religion. Rituelle Vollzüge sind nicht einmal notwendiger Bestandteil der Religion: »All Jains are aware that religion can be consucted in non-ritual ways« (aaO., 57). 237 Nach Michael Amaladoss besitzen Jainas »ein säkulares Ideal, das zu einer Relativierung religiöser Rituale zugunsten ethischer Handlungen führt« (Art. Jinismus II. Religionswissenschaftlich, in: RGG 4 [2001], 508f., 509). 238 Innerhalb der S´veta¯mbara, der neben den Digambara zweiten existierenden Hauptströmung des Jainismus, gehört die Kharatara Gaccha-Schule zur Gruppe derjenigen Jainas, welche Götterbilder und Statuen in ihren Tempeln aufstellen und verehren (vgl. Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 19). Zur Kharatar Gaccha vgl. Paul Dundas: The Jains, London/New York 2 2002, 140–142.
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relativierende – Formen religiöser Praxis wie Meditation einbezog. Der von der Kharatara Gaccha unterhaltene Dadabari-Tempel zieht jedoch auch Gläubige anderer Jain-Gruppen an, was sich positiv auf die Repräsentativität der Untersuchung auswirkt. Eine der zentralen Riten des Jainismus ist die bereits erwähnte Puja. Hierbei handelt es sich um eine Form eines meist individuell vollzogenen Gottesdienstes, der vorwiegend am frühen Morgen oder abends im Tempel abgehalten wird. Er besteht hauptsächlich aus Pflegehandlungen an einer oder mehreren anthropomorphen Götterstatuen.239 Während des Ritus werden immer wieder Gebete gesprochen oder Lieder gesungen. Auch ein gezieltes Anblicken der Statue sowie Anrufungen der Götter sind Teil der Puja. Sie soll zu einer Erfahrung der Intimität mit dem Verehrten führen. Deshalb ist die Puja ausdrücklich ein Ritual der Laien. Gerade sie waren im Austausch mit den Forschern – entsprechend ihres Bildungsstandes – umfangreich in der Lage, Auskunft über die Bedeutungen zu geben, die sie den einzelnen Elementen des Rituals zuschreiben. Handlungen und Teilsequenzen der Puja sind in Bezug auf ihren Umfang wie auch ihre Anordnung nicht streng festgelegt, sondern werden je nach individuellen Kenntnissen und Voraussetzungen ausgeführt. Sie können gekürzt, ausgedehnt oder wiederholt werden. Den Abschluss des Rituals bildet die sogenannte bhav-Puja, eine Zeit der Meditation oder des Gebets, in der keinerlei Gegenstände herangezogen werden. Neben individuellen können auch kollektiv vollzogene Pujas stattfinden. Dazu bedarf es meist eines Sponsors, der Musiker und Vorbeter engagiert. Gerade bei dieser Form zeigt sich, dass die Puja nicht als streng diszipliniertes und autoritäres Zeremoniell zu verstehen ist, sondern unterschiedliche Formen von Partizipation möglich sind.240
9.1.1 Die Methode der Teilnehmenden Beobachtung Die modernen Ritual Studies waren von Beginn an interdisziplinär geprägt. Dadurch kommt der Reflexion über die jeweils zugrundeliegende Forschungsmethode umso größere Bedeutung zu und soll auch hier Gegenstand 239 Die Statue wird gewaschen, bekleidet, gesalbt (etwa durch Einstreichen mit Sandelholzpaste) und dekoriert. Schließlich werden Gaben dargebracht, vor allem Reis, Blumen, Weihrauch und Geld. Der Reis wird dabei in Form einer Swastika angeordnet, einem der wichtigsten Symbole des Jainismus, die übrigen Gegenstände darum verteilt. Statuen existieren sowohl von sogenannten Jinas (auch Tı¯rthamkara genannt, ein Ehrentitel für Sieger im Kampf gegen Leidenschaften und körperliche Freuden), jainistischen Heiligen sowie zahlreichen Schutzgottheiten. 240 »And although these rituals are conducted or orchestrated, they are surprisingly undisciplined affairs. As at morning puja, people come and go as they please […]. Occasionally one or more of the gathering will get up and begin dancing, perhaps waving a camar [Fliegenwedel] before the idol. This prompts others to give small notes and coins as offerings to the idol« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 207).
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der Reflexion sein. Zumal im Rahmen einer theologischen Studie Kenntnis und Bewertung der Methodik anderer Disziplinen angemessen erscheint. Die Ritualtheorie der beiden Anthropologen Caroline Humphrey und James Laidlaw ist vor allem Ergebnis ausführlicher Feldforschung und verdankt sich im Wesentlichen der ethnologischen Standardmethode, der teilnehmenden Beobachtung. Diese klassische, auf Bronislaw Malinowski zurückgehende Methode, war und ist innerhalb der modernen Ethnologie nicht unumstritten. Die Kritik richtete sich auf die mangelnde Überprüfbarkeit wie auch Repräsentativität der Beobachtungsresultate meist einzelner Forscher, auf die fehlende Weiterentwicklung der Methodik, aber auch auf die mangelnde theoretische Fundierung und nicht zuletzt auf die forschungsökonomischen Defizite, also deren Ineffizienz.241 Es bedarf also eines genaueren Blicks auf den Methodenkanon, dessen sich Humphrey und Laidlaw bedienen – angefangen von der Wahl der Forschungsdauer und des Ortes, über die Auswahl der Gesprächspartner bis hin zur eigenen Methodenreflexion. Nur so kann deutlich werden, inwiefern die lokal gewonnenen Ergebnisse für eine generelle Ritualtheorie tauglich und womöglich auch gültig sein können. The Archetypal Actions of Ritual beruht auf mehrjährigen Forschungsaufenthalten beider Forscher in Indien und ist das Resultat einer ursprünglich allein auf die symbolischen Bedeutungen der Puja abzielenden Studie. Erst die vor Ort gesammelten Daten und deren Unvereinbarkeit mit bisherigen Ritualtheorien ließen die Forscher den ursprünglich geplanten kurzen Forschungszeitraum ausweiten und schließlich eine eigene Theorie entwickeln. Eine ethnographische Einzelstudie mithilfe teilnehmender Beobachtung zur Grundlage einer Ritualtheorie zu machen, findet sich in zahlreichen klassischen wie auch neueren Untersuchungen.242 Die Feldforschung konzentrierte sich auf den Dadabari Tempel in Jaipur, Indien, den beide bereits zuvor besucht hatten. Teile der ›Gemeinde‹ waren ihnen somit schon bekannt. Das Erfassen des Puja-Rituals erfolgte multiperspektivisch. Ausgangspunkt war die klassische Beobachtung, die durch eine indische Assistentin vor allem sprachlich unterstützt wurde und die sich ferner auf das Erfassen der sozialen Strukturen am Tempel und die spezifische Ritualpraxis bezog. Die Auswahl genau dieses Rituals erklären Humphrey und Laidlaw mit dessen fester Integration im Alltagsleben vieler Jainas. Dadurch ist es zum einen weitgehend von den Teilnehmern verinnerlicht, zum anderen werden im Rahmen von Diskussionen über den Vollzug dieses Rituals nicht selten grundsätzliche Glaubensüberzeugungen der Religion verhandelt. Ein zweites Element waren offene Interviews mit den Gläubigen, die meist unmittelbar nach Vollzug der Puja geführt wurden. Die Forscher hatten sich 241 Vgl. Gerd Spittler: Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme, in: ZE 126 (2001), 1–25, 3–5. 242 Ronald Grimes spricht in Bezug auf die Ritual Studies von einem »fundamental commitment to field study and participant-observation« (Practical and Cultural Contexts, 9).
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dafür innerhalb des Tempelbezirks positioniert, was es ihnen ermöglichte, auch mit zufälligen Passanten Kontakt aufzunehmen. Dabei versuchten sie den natürlichen Redefluss der Gesprächspartner nicht durch Verständnisrückfragen zu unterbrechen, sondern diese erst im Rahmen der Transkription intern zu beantworten. Zusätzlich zu diesen Interviews wurden zuvor vereinbarte Gespräche mit Jainas geführt, einige davon in deren Häusern.243 Die Gläubigen erwiesen sich dabei als außerordentlich auskunftsfreudig und -fähig über die Form und die Bedeutung ihrer Rituale. Humphrey und Laidlaw konzentrierten sich dabei weniger auf Ritualexperten als auf Laien. Die bereits erwähnte Ambiguität des Rituals im Jainismus, die in diesen Gesprächen immer wieder thematisiert wurde, begründete die Hoffnung, gerade dadurch einen modernen Ritualbegriff zu entwickeln, der ein komplexeres Bild bietet als die bislang übliche Betonung der affirmativen Kraft des Rituals. Ein letzter Schritt war schließlich die aktive Teilnahme an Veranstaltungen am Tempel (gemeinschaftliche Pujas, Predigten) und speziell das angeleitete Erlernen der Durchführung einer eigenen Puja.244 Die Kombination lässt erkennen, dass Humphrey und Laidlaw sich den Grundideen der teilnehmenden Beobachtung verpflichtet wissen. Für Malinowski war die physische Nähe zur erforschten Gemeinschaft in ihrer authentischen Umgebung zentral. Anders als seine Vorgänger wollte er »die Veranda des Plantagenbesitzers« verlassen, wozu er das Erlernen der Umgangssprache als wichtigen Bestandteil wertete. Erst dadurch wird eine direkte, nicht durch Quellen gefilterte Beobachtung des Alltagslebens möglich, das Malinowski letztlich auf Praxen der Sinnstiftung hin befragen wollte.245 Die teilnehmende Beobachtung ist also ursprünglich ausschließlich an aktueller Praxis und ihren funktionalen Zusammenhängen interessiert. Die Konzentration auf ausgewählte Themen, soll die Komplexität einer Gesellschaft reduzieren helfen, um existierende Theorien mittels Beobachtung und Dokumentation überprüfen zu können.246 243 Die Unterhaltungen fanden sowohl in Hindi als auch in Englisch statt. Besonders Geschäftsleute waren in der Lage, ihre Zugänge zum Puja-Ritual auch in dieser Sprache auszudrücken. 244 Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 113 f. bietet die ausführliche Darstellung dieser Einweisung. Humphrey und Laidlaw weisen darauf hin, dass eine von Erklärungen durchzogene Puja zwar nicht unmittelbar einer üblichen oder »natürlichen« Situation entspricht, aber auch nicht gänzlich untypisch oder fremd ist: Kommen Menschen aufgrund bestimmter Anliegen zum Tempel, engagieren sie ebenfalls einen Experten, der ihnen beim korrekten Vollzug einer ausführlichen Puja behilflich ist. Durch das zum Ausdruck gebrachte Interesse an der Religionspraxis wurden die Forscher als religiös Suchende wahrgenommen und von einer Person sogar als Teil der Familie angesprochen. 245 Vgl. Bruno Illius: Feldforschung, in: Bettina Beer/Hans Fischer (Hg.): Ethnologie. Einführung und Überblick, Berlin 72012, 75–100, 75. 246 Es geht also nicht um einen holistischen Ansatz, der das Gesamte einer Kultur erfassen will, sondern um eine fokussierte Methode, die bevorzugt innerhalb kleiner sozialer Gruppen betrieben wird, um Einzelphänomenen leichter als in hochkomplexen Gesellschaften nachgehen zu können. Darin zeigt sich die Modifikation eines Grundgedankens, der bereits bei
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Der Blick auf die grundlegende Methodik der teilnehmenden Beobachtung zeigt zugleich, an welcher Stelle Humphrey und Laidlaw diese verändern und erweitern. Als großer methodischer Vorteil erweist sich zunächst die lange Forschungsdauer. Sie ermöglichte ausgedehnte Beobachtungen, die nicht nur spezifische, geplante Ereignisse erfassen, sondern auch überraschende Situationen.247 Das dadurch erworbene umfangreiche Wissen über die Strukturen innerhalb der Jaina-Gruppierung, ihre Kultur und Geschichte entspricht der Forderung nach einer notwendigen Kontextualisierung des ethnografischen Datenmaterials, die allein durch teilnehmende Beobachtung nicht zu leisten ist. Die enge Verknüpfung von ritueller Praxis mit dem kulturellen Hintergrund tritt in der Beschreibung der Vor- und Nachbereitung des Rituals in den der Puja unmittelbar folgenden Interviews besonders deutlich hervor.248 Dass dabei die Aussagen der Befragten als gültige Selbstbeschreibung der Gemeinschaft gewürdigt werden, kann als eine der Stärken der Studien gelten. Positiv für die Erhebung und Auswertung der Daten wirkte sich weiterhin die Tatsache aus, dass sich darin die Sichtweisen zweier Forscher widerspiegeln. Eine solche Kooperation mindert auch den durch Isolation aufgrund langer Feldforschungen erzeugten sozialen Druck, dem häufig durch totale Immersion in die zu erforschende Gemeinschaft versucht wird zu entgehen.249 Statt als »lonely wolf« im Rahmen der oft als Initiationserfahrung beschriebenen Feldstudien im Zuge ethnologischer Qualifizierungsschriften250 be-
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Durkheim deutlich wurde, dass sich Wesentliches am besten an Phänomenen mit geringerer Komplexität zeigen lässt. Der Grund für Dorfstudien liegt also nicht in der Besonderheit der Phänomene, sondern diese verdanken sich forschungsökonomischen Überlegungen. Clifford Geertz betont: »[Anthropologists] don’t study villages (tribes, towns, neighborhoods …); they study in villages« (Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture, in: Ders.: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, 3–30, 22). Eine verlängerte Forschungsdauer fordern u. a. Spittler: Teilnehmende Beobachtung; Illius: Feldforschung; Maurice Bloch: Language, Anthropology and Cognitive Science, in: Man 26 (1991), 183–198. Im Gegensatz dazu plädiert Hubert Knoblauch: Fokussierte Ethnographie. Soziologie, Ethnologie und die neue Welle der Ethnographie, in: Sozialer Sinn 1 (2001), 123–141, für eine stärker theorieorientierte und zeitlich begrenzte Feldforschung. Kontextualisierung muss sowohl auf der kulturellen Makroebene (politischer Kontext; sozialer und familiärer Status, Bildung, Gesundheit des Einzelnen) als auch auf der Mikroebene im unmittelbaren – noch nicht ritualisierten – zeitlichen und lokalen Umfeld der rituellen Praxis erfolgen. Die erwähnte Aufnahme der Forscher in den Kreis einer Familie zeigt die doppelte Dynamik dieser Bewegung: Nicht nur strebt der Forscher danach, möglichst umfangreich in die Gemeinschaft einzutauchen, um Denken und Handeln der Menschen zu verstehen und vor allem »natürliche Situationen« des Alltags zu erleben. Häufig besteht auch von Seiten der untersuchten Gruppen ein Interesse, die Forscher zu integrieren, um sie in gemeinschaftliche Aktivitäten einzubeziehen mit spezifischem Wissen und Fertigkeiten auszustatten. Vgl. dazu auch Janet Carsten: Fieldwork Since the 1980s. Total Immersion and its Discontents, in: Fardon u. a. (Hg.): The SAGE Handbook of Social Anthropology, 7–20. Vgl. Andre Gingrich: Methodology, in: James G. Carrier/Deborah B. Gewertz (Hg.): The
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gegneten die Forscher den Menschen auf der Basis bereits bestehender sozialer Verbindungen. Dass beide unterschiedlichen Geschlechts sind, genügt darüber hinaus auch den Standards einer mittlerweile für die Gender-Frage sensiblen ethnologischen Forschung. Kennzeichen der Modernität der Studie ist zudem das urbane Umfeld und die Fokussierung auf eine Minderheiten-Gruppierung. Dass es sich im Fall der Jainas um eine in hohem Maß gebildete Gemeinschaft handelt, marginalisiert auch die im Rahmen teilnehmender Beobachtung nichtwestlicher Zivilisationen häufig begegnende Gefahr des sogenannten »studying-down«.251 Besteht eine gravierende intellektuelle Überlegenheit des Forschers, kommt es zu stark asymmetrischen Kommunikationssituationen, die eine Begegnung auf Augenhöhe mit dem Ziel gegenseitigen Gebens und Nehmens von vornherein ausschließt. Dorf-Studien werden oft dafür kritisiert, lediglich einen Schauplatz (single-site) im Blick zu haben und damit eine für moderne, mobile Gesellschaften untypische Situation. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass Humphrey und Laidlaw ihre Studien partiell auf einen anderen JainaTempel erweitern. Darin werden die Anfänge einer »multi-sited-ethnography« erkennbar.252 Die dritte Seite des »ethnologischen Dreiecks« (B. Illius) neben teilnehmender Beobachtung und Kontextualisierung bildet die komparative Methode. Sie soll zum einen die Übertragbarkeit der lokalen Ergebnisse in einen größeren Kontext überprüfen. Zum anderen ist damit die Hoffnung verbunden, mithilfe von Beobachtungen aus einem ganz und gar unvertrauten Umfeld das in der eigenen Kultur Selbstverständliche zu hinterfragen. Beides stellt sich immer wieder als hochproblematisch heraus. Das Fremde droht auf dem Wege der Subsumption in vertraute Kategorien seine Eigenständigkeit zu verlieren. Die Engländer Humphrey und Laidlaw ziehen gelegentlich Vergleiche zum protestantischen Ritual- und Gottesdienstverständnis im Allgemeinen, zu historischen Entwicklungen der Reformationszeit sowie zu aktuellen liturgischen Praktiken des Anglikanismus. Neben gelegentlichen liturgischen Ungenauigkeiten,253 zeigt sich die Tendenz, die rituelle Lage im Heimatkontext in einer Verfallsperspektive zu zeichnen. Eine solche Kritik wird dann problematisch, wenn sich darin vornehmlich das Meinungsbild der Autoren, weniger tatsächliche Forschungsergebnisse niederschlagen.254
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Handbook of Sociocultural Anthropology, London/New York 2013, 107–124, 113 und Spittler: Teilnehmende Beobachtung, 3. Gingrich: Methodology, 121. Vgl. Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 186 sowie grundlegend George E. Marcus: Ethnography in/of the World System. The Emergence of Multi-Sited Ethnography, in: Annual Review of Anthropology 24 (1995), 95–117. Vgl. die Kommentare zur Verschiebung des Sanctus in Luthers liturgischen Ordnungen bei Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 177f. So sehen Humphrey und Laidlaw im Protestantismus den Glauben an die Wirksamkeit von Ritualen untergraben, sodass die Kirchen den Grad der Ritualisierung ihrer Gottesdienste
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Drei methodische Bausteine – Beobachtung, Interviewverfahren und Textanalyse – sollen noch eigens hervorgehoben werden. Sie erscheinen zentral für eine Ritualtheorie, die ihre Entstehung theoretischen Vorüberlegungen auf der einen und empirischen Beobachtungen auf der anderen Seite verdankt und dabei innerhalb eines hermeneutisch zirkulären Verfahrens operiert. Einen solchen Zirkel impliziert bereits der Begriff der teilnehmenden Beobachtung: Auch Beobachtung ist, wenngleich mit großer Offenheit konzipiert, doch wesentlich theoriegeleitet und für eine bewusste Auswahl der Beobachtungsgegenstände unerlässlich. Die untersuchte Praxis mag diese Auswahl freilich immer wieder revisionsbedürftig werden lassen. Die Teilnahme hingegen, das Einlassen auf neue, unbekannte Erfahrungen, richtet sich stärker auf das unmittelbare Erleben. Weil es also nie um ›bloßes‹ Beobachten oder ›bloße‹ Teilnahme gehen kann, werden dem umfangreichen Sammeln ethnografischer Daten Momente der Selbsterfahrung zur Seite gestellt, die beide aufeinander Einfluss nehmen. Die auch für Humphrey und Laidlaw zentrale Methode der Beobachtung richtet den Fokus vornehmlich auf das Handeln der Menschen und damit primär auf nicht-linguistisches Wissen. Um dessen Organisation verstehen zu können, bedarf es des Rückgriffs auf Einsichten anderer Wissenschaften. Maurice Bloch etwa fordert die Ritualwissenschaft wie auch die Ethnologie generell auf zur Rezeption psychologischer, neurophysiologischer, linguistischer, philosophischer und besonders der Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften.255 In den meisten Fällen, so Bloch, setzt gerade praktisches Expertentum eine nicht-linguistische Wissensorganisation voraus. Gleiches gilt für praktische Lernprozesse. Diese jedoch zu analysieren, macht Formen teilnehmender Beobachtung unerlässlich. Den Schwerpunkt also auf theoriegestützte Beobachtung zu legen, trägt zum einen der Erkenntnis Rechnung, dass die Verlässlichkeit ethnografischer Daten und Methoden nicht auf der Empathie der Forscher beruht.256 Zum anderen wird eine Unterscheidung beliebig festlegen könnten. Damit einher ginge die Vorstellung, das Ritual sei Kommunikation oder Ausdruck von Überzeugungen: »With this has come the triumph of the idea that this changeable ritual is, or should be, only a way of communicating or expressing the religious beliefs and moral ideas of the participants. So pervasive is this idea that ritual on its own, without subjective convictions, comes, for many, to seem mere mumbo-jumbo« (aaO., 8). Die Ethnologie ist zumeist um ein klares Bewusstsein der jeweiligen Vorannahmen bemüht. Dazu wäre hilfreich zu erfahren, wie die Autoren die anglikanische Tradition und die gegenwärtige religiöse Situation ihrer Heimat einschätzen. 255 Bloch: Language, 183. Humphrey und Laidlaw folgen dieser Empfehlung etwa in der Aufnahme der Forschungen von John Gatewood zur Arbeitsorganisation auf dem Gebiet der Hochseefischerei (s. u. 9.6.2). 256 Ursprung dieser Erkenntnis war u. a. die Veröffentlichung der privaten Tagebücher Malinowskis 1967. Darin wurde für mit teilweise erschreckender Deutlichkeit einerseits das geistige Verhaftetsein Malinowskis in seinen sozialen Beziehungen in der Heimat während der gesamten Forschungsdauer offenbar, zum anderen seine oftmals rassistisch gefärbten Ansichten sowie seine innere Distanz gegenüber der von ihm untersuchten Volksgruppe (vgl. Clifford
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möglich zwischen dem beobachteten Handeln und den mithilfe von Interviews erhobenen Aussagen bzw. linguistischen Wissensbeständen, die dieses Handeln aus Sicht der Teilnehmer beschreiben und deuten. Humphrey und Laidlaw entsprechen dieser Doppelung, indem sie einerseits nach der Funktionsweise von Ritualen als Handlungen fragen, andererseits den Konzeptualisierungen durch die Handelnden selbst einen eigenen Ort innerhalb ihrer Theorie einzuräumen. Dennoch stellen Beobachtung und Interview keine sich ausschließenden Alternativen dar. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der Einsicht, dass das Interview gleichermaßen wie die Beobachtung ein methodisch und inhaltlich im Verhältnis zum Ganzen der Lebenswelt selektierendes Verfahren darstellt. Neben gelegentlicher Verwendung quantitativer Methoden wie der Kartografierung und Fotografie, die eher der Veranschaulichung dienen, liegt der qualitative Schwerpunkt in der Studie von Humphrey und Laidlaw auf den erwähnten Interviewformen. Hier fällt z. B. der starke Kontrast auf zwischen den Beschreibungen der Ritualabläufe, welche die Beteiligten als verbindlich erachten, und den tatsächlich von ihnen vollzogenen Ritualen. Bereits hiermit werden die Grenzen sprachlicher Phänomenbeschreibungen für Handlungsanalysen im Allgemeinen und speziell für Ritualhandlungen mit ihrer emotionalen, persönlichen Komponente im Besonderen deutlich. Auch Bloch sieht die entscheidende Differenz nicht zwischen dem Erleben eines Rituals und den diesbezüglichen Aufzeichnungen durch den Forscher, sondern mehr noch zwischen dem eigentlichen Tun und den post-hoc-Rationalisierungen der Teilnehmer.257 Die Wertschätzung der Selbstbeschreibungen durch die Ritualteilnehmer gilt auch im Rahmen der Wahrnehmung innerhalb des Rituals verwendeter Texte sowie religiöser Textdeutungen und Ritualanleitungen. Was als Text – d. h. zunächst einmal als vom gewöhnlichen Sprachfluss abgegrenzte Äußerung – verstanden wird, ist wesentlich durch den kulturellen wie sozialen Kontext bestimmt. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt der teilnehmenden Beobachtung eine wichtige Rolle zu. Es gilt die Voraussetzung zu erfassen, unter denen Texte in spezifischen Gesellschaften überhaupt entstehen.258 Texte sind also nicht nur Produkte eines Schreib-, sondern ganz wesentlich eines Rezeptionsprozesses. Insofern bleiben Texte auch nur dann Texte, wenn dieser Prozess kontinuierlich erfolgt. Auf dieser Grundlage lässt sich ein performatives Textverständnis etablieren, das geeignet ist, Rituale als Geertz: Under the Mosquito Net. Review of A Diary in the Strict Sense of the Term by Bronislaw Malinowski, in: The New York Review of Books 9 (4/1967), 12 f.). 257 »[W]hen our informants honestly say ›this is why we do such things‹, or ›this is what this means‹, or ›this is how we do such things‹, instead of being pleased we should be suspicious and ask what kind of peculiar knowledge is this which can take such an explicit, linguistic form?« (Bloch: Language, 193 f.). 258 Vgl. Barber: Interpreting Texts, 78. Barber spricht parallel zum Ritualisierungsbegriff von »Textualization«.
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soziale Handlungen der Textgenerierung zu verstehen. Die rituell Handelnden sind dann ebenfalls keineswegs lediglich Konsumenten vorgegebener Texte, sondern Produzenten ihrer Texte. Wiederum zeigt sich die Stärke eines Ansatzes, der Rituale aus der Teilnehmerperspektive untersucht und diese nicht lediglich als ›Nutzer‹ von Texten versteht, deren vermeintliche Autoren die Ritualexperten sind. Im Fall der Puja zeigten sich zwei textbezogene Phänomene, die nach Humphrey und Laidlaw in unterschiedlicher Ausprägung für Rituale generell gelten können. Zum einen sind Texte in Rituale einbezogen, ohne dass eine Übereinkunft über deren Bedeutung notwendige Voraussetzung ist. Bedeutungen werden individuell vergeben und münden nicht in ein dogmatisches System, sondern stellen vielmehr ein »feast of ›meanings‹« (vii) dar. Zum anderen finden zahlreiche Texte auch dann Verwendung, wenn deren Bedeutung nicht verstanden wird.259 Bleibt eine semantische Bedeutungsanalyse im Fall von Texten verwehrt, wendet sich die Aufmerksamkeit auf die Performance-Analyse sowie die Befragung von Handelnden und Experten. Am Ende dieses Prozesses entsteht nach Karin Barber ein vielschichtiges Bild: »What results at the end of this process is never ,pure‘, authentic indigenous data, but a co-production between ethnographers, assistants, performers and exegets.«260 Die Frage nach Bedeutung und Funktion von Texten im Rahmen ritueller Performances muss also stets im Blick auf diese Vielzahl unterschiedlicher Akteure beantwortet werden. Innerhalb der Ethnologie und der mit ihr verbundenen Ritualforschung wurde die von Clifford Geertz 1973 geforderte »dichte Beschreibung« neben ihrer grundsätzlichen kulturhermeneutischen Bedeutung auch als Form der Weiterentwicklung der klassischen Methode der teilnehmenden Beobachtung vielfach rezipiert. Im gleichnamigen Aufsatz (Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture) kritisiert Geertz die vermehrte Zurückhaltung in Bezug auf die Interpretation ethnografischer Daten. Statt einer ›dünnen‹ Beschreibung, die sich auf die bloße Wiedergabe dieser Daten beschränkt, gilt es konzeptionelle Strukturen ebenso wie kulturelle Bedeutungen zu untersuchen, um schließlich zu einer Interpretation und damit zu einer Erklärung fremder Fakten zu gelangen, die einen Sinnzusammenhang herstellen. Dazu müssen auch Kommentare und Interpretationen (kulturelle Sinnsysteme) sowie Interpretationen dieser Kommentare einbezogen werden. Erst dann werden die situative Charakteristik und die dynamischen Momente von Ereignissen deutlich sowie individuelle und kollektive Sinnzuschreibungsprozesse verständlich. Nur genaue Beobachtung und das Anerkennen kultureller 259 »[W]hile the texts which are recited during it [sc. Puja] certainly have meanings, almost no one understands them and this does not invalidate their performance of it« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 41). 260 Barber: Interpreting Texts, 79.
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Pluralität schützen den Forscher davor, das Konkrete, den Einzelfall nur als Exempel vorgefasster Theorien zu verstehen. Ein allgemeiner kultureller Code bleibt die Voraussetzung für jede Form von Bedeutung, doch geht das Konkrete darin nicht auf.261 Wichtiges Anliegen für Geertz ist immer wieder die Überwindung reduktionistischer und funktionaler Kultur- und Religionstheorien, die häufig nicht in der Lage sind, Symbole und Rituale zu deuten und ihre sinnstiftende Orientierungskraft herauszustellen.262 Geertz bringt mit diesem Ansatz die Unumgänglichkeit interpretativer Vorannahmen innerhalb empirischer Forschung zum Ausdruck, welche vor einer unbewussten Ausblendung des wahrnehmenden Subjekts schützt. Bereits die Erfassung der Daten verdankt sich eines Vorverständnisses, dessen Offenlegung zugleich Legitimation der erwünschten weiterführenden schriftlichen Interpretation ist. Eine Vertiefung der Forderungen von Geertz für die Methode der teilnehmenden Beobachtung findet sich im Konzept der Dichten Teilnahme von Gerd Spittler.263 Spittler bindet die Möglichkeit zur dichten Beschreibung an eine Intensivierung der Teilnahme. Damit will er die soziale Komponente der ethnologischen Forschung ebenso gestärkt sehen wie das Einbeziehen der Sinne in den Forschungsprozess: Der Forscher »muss wieder riechen und tasten lernen. Insgesamt gilt es für ihn, seinen ganzen Körper, seinen Verstand, sein Auge, sein Ohr und seine Stimme einzusetzen. Er soll körperlich arbeiten und tanzen, aber auch leiden.«264 Die von Geertz geforderte Interpretation ethnografischer Daten auf Sinnzusammenhänge hin wird bei Humphrey und Laidlaw nur bedingt erfüllt. Wer sich lediglich einer genauen Beschreibung der Handlung zuwendet, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, bloße Logbucheinträge zu publizieren und eben keine ›dichte‹, interpretierende Beschreibung zu liefern. Grund dafür ist die Vermutung, dass gerade in der Ritualforschung der funktionale Aspekt tendenziell überbetont ist. Ansätze zu einer so beschriebenen Form von ›dichter Teilnahme‹ finden sich bei Humphrey und Laidlaw dennoch. Zum einen dort, wo besondere soziale Nähe entsteht, etwa bei Einladungen in die 261 Vgl. auch Helga Kelle: Die Komplexität der Wirklichkeit als Problem qualitativer Forschung, in: Barbara Friebertsh user/Antje Langer/Annedore Prengel (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim/ München 32010, 101–118, 108. 262 Vgl. Wilhelm Gr b: Clifford Geertz. Religion dicht beschreiben, in: Volker Drehsen/ Wilhelm Gr b/Birgit Weyel (Hg.): Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 204–215, 211. 263 Gerd Spittler: Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme, in: ZE 126 (2001), 1–25. 264 AaO., 20. Spittlers Forderung findet sich ähnlich bereits bei Bloch: Language, 193, der das Einbeziehen der Sinne als Schutz betrachtet, Realität und wissenschaftliche Beschreibung zu identifizieren: »Perhaps we should make much more use of description of the way things look, sound, feel, smell, taste and so on – drawing on the realm of bodily experience – simply for heuristic purposes, to remind readers that most of our material is taken from the world of nonexplicit expert practice and does not only come from linear, linguistic thought.«
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Häuser der Interviewpartner, oder wo privilegierte Zugänge gewährt werden zu Vollzügen, die sonst Anhängern der Religion vorbehalten bleiben. Zum anderen dort, wo sich die Forscher selbst dem Ritual aussetzen, an ihm teilnehmen und zu Handelnden innerhalb ihres Forschungsgebietes werden. Immer wieder fällt in der Darstellung die Sensibilität für sinnlich erfahrbare Elemente des Ritualvollzugs auf.265 Die Betonung der Teilnahme- und Einfühlungskomponenten konfrontiert mit einer geradezu klassischen religionswissenschaftlichen Frage, ob das Eintauchen in ein religiöses Phänomen Voraussetzung seiner Analyse ist. Humphrey und Laidlaw beziehen ihre eigenen Erfahrungen jedoch nicht unmittelbar in die Analyse rituellen Handelns aus der Innenperspektive ein. Diese stehen im Kontext der Bewertung ritueller Handlungen durch Zuschauer oder Mitakteure, im Zusammenhang der Frage also, ob ein Ritual korrekt vollzogen wurde und damit ›gültig‹ ist. Die Fokussierung auf die rituelle Praxis und das Einbeziehen ethnografischer Forschungsergebnisse auf Grundlage der Methode der teilnehmenden Beobachtung stellt eine Wende innerhalb der Religionsforschung dar, die von ihrem Ursprung her Textwissenschaft war. Dadurch konnte lange Zeit kaum vermieden werden, lediglich die Meinungen schreibender Eliten zu analysieren und sich folglich zu eigen zu machen. Mit der performativen Wende ist dieses Verhältnis lange ins Gegenteil gekippt und textliche Bestandteile ritueller Phänomene gerieten weitgehend aus dem Blick. Humphrey und Laidlaw versuchen mit ihrem Ansatz nun, anthropologisch-ethnologische und klassisch religionswissenschaftliche Konzepte wieder zu verbinden und auch den Gebrauch von Texten einzubeziehen, sowohl hinsichtlich ihrer Verwendung beim Ritualvollzug selbst als auch dann, wenn diese bei der Deutung der Praxis konsultiert werden.266 Die von Geertz geforderte enge Verbindung von Erklärung und Interpretation wird im Jainismus besonders durch den intellektuellen Zuschnitt der Religion unterstützt. Für die Untersuchung anderer Religionen und speziell des Christentums müsste das Verhältnis jedoch im Blick auf die Bedeutung von Texten als Grundlage von Ritualen noch einmal neu ausgelotet werden. Das Christentum als Schriftreligion und somit der christliche Gottesdienst als Feier des ›Wortes‹ sind noch einmal wesentlich stärker von textbezogenen Ritualen und Praktiken geprägt. Die Entwicklung einer Ritualtheorie ausgehend von einer ethnografischen Einzelstudie kann für die Praktische Theologie in mehreren Hinsichten aufschlussreich sein. Das Eintauchen in die liturgische Welt scheint hier noch immer dem Wunsch nach objektiver Qualitätsanalyse entgegen zu stehen. Ein 265 »Although responses to our questions inevitably took the form of linguistic statements, it is possible, to judge from the frequency with which they referred to visual, olfactory, auditory, and taste sensations, that a central feature of attitudes to ritual acts is non-linguistic« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 160). 266 Vgl. die erwähnten Forderungen von Ronald Grimes zur Frage der Verbindung textlicher und nicht-textlicher Ritualbestandteile (s. o. 8.2).
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weiteres Hindernis stellt die weit verbreitete Überzeugung dar, dass ein Nebeneinander von Beobachtung und Teilnahme sich gerade beim Ritual ausschließe, seine Erforschung von einer neutralen Beobachterposition aus aber gleichermaßen unmöglich sei.267 Noch immer sind in praktisch-theologischen Studien die Methoden der Soziologie, wie etwa das leitfadenorientierte Interview, vorherrschend.268 Dabei gelingt es zwar, Auskünfte über die Rolles des Gottesdienstes im Leben zu erlangen, weitaus seltener aber über das liturgische Erleben.269 Stets soll die Distanz zwischen Forscher und Praktizierenden in hohem Maße aufrechterhalten werden. Die nachdrückliche Betonung der Bedeutung der teilnehmenden Beobachtung in neueren anthropologischen und ethnologischen Methodologien stellt zumindest eine Anfrage an den Methodenkanon der Praktischen Theologie dar. Sie lässt nach der notwendigen Dauer gottesdienstlicher Studien fragen, um so Aufschluss geben zu können über Bezüge und Einflüsse regelmäßiger Ritualteilnahme auf den Alltag. In erster Linie jedoch ruft sie die schlichte, aber gleichwohl fundamentale Tatsache in Erinnerung, dass jeder Untersuchung ritueller Praxis eine genaue Beobachtung des Verhaltens aller Ritualakteure im Sinne einer »Ritualmorphologie« (Klingbeil) vorausgeht. Nur dann kann es gelingen, liturgische Erfahrung im Rahmen ritueller Handlungen jenseits diskreter Bedeutungen zu ergründen.270 Obgleich sich empirische Methoden in der Liturgiewissenschaft also erst allmählich durchsetzen, hat eine Hinwendung zu qualitativen Methoden begonnen – nicht zuletzt im Rahmen der verstärkten »Qualitätsbemühungen« um den Gottesdienst.271 Damit einher geht eine Relativierung von quantitativen, vor allem Umfragen-basierten Zugängen, wie sie in den ersten Gottesdienststudien verfolgt wurden.272 Auch die vornehmlich textbasierte Erforschung christlicher Riten mit Schwerpunkt auf Agenden, liturgietheologischen Entwürfen oder dogmatischen Grundsatzüberlegungen bezieht zunehmend den jeweiligen Entstehungs- wie Durchführungskontext mit ein. 267 AaO., 73. Dieses »Paradox« hatte Iwar Werlen im Rahmen seiner linguistischen Studien bereits beschrieben (s. o. 3.2.3). 268 Vgl. die Zusammenstellung bei Christian Grethlein: Evangelische Liturgik – wie geht es weiter?, in: ThR 78 (2013), 1–39. Ein alternativer Ansatz mit der Methode des REACTOSCOPES wurde jüngst im Zusammenhang mit der »Qualitätsforschung« am Gottesdienst versucht (vgl. Helmut Schwier/Sieghard Gall: Predigt hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption, Berlin 2008). 269 Vgl. die Kritik bei Deeg: Das äußere Wort, 455. Einen neuen Ansatz verkörpert die vom Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur (IrG) der Universität Bayreuth im Auftrag der Evang.-luth. Kirche in Bayern durchgeführte Studie, die sich explizit den »subjektiven Bedeutungszuschreibungen« zuwendet und »die soziale Wirklichkeit in erster Linie aus der Perspektive der Handelnden selbst« untersucht (Martin: Mensch – Alltag – Gottesdienst, 25). 270 Zu weiteren Anregungen für eine Analyse liturgischer Formen vgl. Grimes: Ritual Criticism of a Catholic Liturgical Evaluation, 49. 271 Greifbar im EDK-»Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst« in Hildesheim. Vgl. auch das Themenheft von Liturgie und Kultur 2 (2001), Heft 1. 272 S. o. 2.3–2.5.
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Dabei kommen jüngst auch die Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der Anspruch einer »dichten« Beschreibung in den Blick.273 Wichtige Impulse in diese Richtung lassen sich auch dort finden, wo Milieustudien als Hintergrund liturgischer Analysen fruchtbar gemacht werden.
9.2 Ritualtheoretische Abgrenzungen: Eine formale Handlungstheorie »liturgie-zentrierter Rituale« Im Voraus der Entfaltung ihrer eigenen Ritualtheorie reflektieren Humphrey und Laidlaw die generelle Frage nach möglichen Formen ritualtheoretischer Theoriebildung, wie dies im Rahmen der Ritual Studies immer wieder thematisiert wird. Dabei wird zunächst grundlegend unterschieden zwischen einer Ritualtheorie im engeren Sinn und einer Theorie der Ritualisierung. Anschließend wird deutliche Kritik an (bedeutungs-)kommunikativen und funktionalen Ritualtheorien formuliert. Humphrey und Laidlaw stellen diesen Ansätzen eine Theorie des Rituals als Handlung (»action«) entgegen, die sich vor allem auf die formalen Merkmale konzentriert. Ihr Handlungsbegriff orientiert sich am aristotelischen Begriff der ›Praxis‹ und steht somit im Gegenüber zum rein zweckrational orientierten Herstellen (›Poiesis‹). Handeln ist also eine Tätigkeit, die ihr Ziel vorwiegend in sich selbst besitzt.274 Eine »Theorie der Ritualisierung« richtet sich, wie bereits bei anderen Autoren ähnlich formuliert, nicht auf eine Gruppe festgelegter, isolierbarer Handlungen, die in einer Klasse mit bestimmten Eigenschaften zusammengefasst werden können, sondern nimmt ihren Ausgangspunkt von der Annahme, dass Rituale keine eigenen Handlungen darstellen. Unter Ritualen werden vielmehr Handlungen erfasst, die – und hier liegt das Spezifikum der Theorie von Humphrey und Laidlaw – sich durch einen eigenen Handlungsmodus auszeichnen, der alltägliche Handlungen in Rituale transformiert 273 Darauf bezieht sich explizit Knecht: Erlebnis Gottesdienst, 65. Die besondere Stärke der Methoden besteht ihm zufolge darin, »die Ergebnisse von phänomenologisch orientierten, teilnehmenden Beobachtungen in den verschiedenen Wirklichkeitsfeldern, mit denen sich Praktische Theologie befasst, so wiederzugeben, dass deren Darstellung nicht wieder hinter den phänomenologischen Zugang zur Wirklichkeit zurückfällt.« (aaO., 110) Knecht benennt auch die Probleme die mit dieser methodisch erwünschten Aufgabe reiner Objektivität verbunden sind, u. a. mangelnde Vergleichbarkeit aufgrund des unumstößlichen fiktionalen Charakters der Interpretationen (als »Interpretation von Interpretationen«). Ebenfalls mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung arbeitet Christoph M ller: Taufe als Lebensperspektive. Empirisch-theologische Erkundungen eines Schlüsselrituals, Stuttgart 2010. Müller verbindet teilnehmende Beobachtung mit Interviews und möchte auf diese Weise u. a. die Bedeutung des rituellen Aspekts der Taufe untersuchen. Recht pauschal nimmt die methodische Ausweitung Hermelink: Gottesdienst aus Sicht der Leute, 6 in Anspruch. 274 Diese Unterscheidung steht quer zu Bells Unterscheidung von ›Handeln‹ und ›Denken‹. Vgl. auch Dietrich Harth/Axel Michaels: Ritualdynamik, in: Brosius/Michaels/Schrode (Hg.): Ritual und Ritualdynamik, 123–128, 126.
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(»ritual mode of action«). Einer solchen Theorie zufolge gelten grundsätzlich alle Handlungen als ritualisierbar. Das Forschungsinteresse kann für Humphrey und Laidlaw demzufolge nicht darin bestehen, alle möglichen Handlungen aufzusuchen und zu untersuchen, die innerhalb von Ritualvollzügen vorkommen können. Auch geht es nicht darum, mögliche Leistungen von Ritualen etwa unter politischem, genderspezifischem oder kulturellem Aspekt aufzulisten. Vielmehr stellt sich auch für sie die grundsätzliche Frage, was ritualisierte Handlungen von nicht-ritualisierten Handlungen unterscheidet.275 Diese Frage beantworten Humphrey und Laidlaw vordringlich aus Sicht der Handelnden. Die für die ihre Untersuchung leitenden Frage lautet daher: »What happens when you perform an act as a ritual?«276 Indem die Mehrheit der Ritualtheorien das Spezifikum ritueller Handlungen mit Verweises auf die Funktionen herausarbeiten, die Rituale erfüllen (Funktionsparadigma), oder auf den symbolischen Gehalt, der sich in ihnen ausdrückt (Kommunikationsparadigma), löst sich der Charakter und die Funktion von Ritualen auf in einer funktionalen und semantischen Interpretation von Religion überhaupt.277 Folglich steht ein unspezifischer und damit heuristisch wertloser Ritualbegriff Seite an Seite mit einer Bestimmung der Leistungen von Ritualen, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann – wie dies etwa auf jene Theorien zutrifft, die religiöse Bezüge als wesentliche Kennzeichen verstehen.278 Das Nebeneinander von Funktions- und Kommunikationsparadigma schlägt sich auch auf dem Gebiet der empirischen Datenerhebung und Feldforschung nieder. Humphrey und Laidlaw reflektieren als Anthropologen dabei vor allem auf das Verhältnis von Subjekten und Objekten der Forschung. Unter funktionalem Blickwinkel wird der Forscher zu einem dem praktischen bzw. praktizierenden Ritualexperten noch einmal überlegenen theoretischen Ritualexperten, der die sozialen Funktionen des Handelns jenseits dessen ermittelt, was den Teilnehmern selbst in Bezug auf ihre Handlungsmotivation bewusst ist.279 Der Forscher gerät in Versuchung, den Akteuren sagen zu 275 »A theory of ritual does not have to account for all the facts about rebellions and all the facts about hair and hair-cutting; it has to explain what underlies these two differences: the difference between a ritualized and an unritualized rebellion and the difference between a ritualized and unritualized act of haircutting.« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 264) 276 AaO., 72, H.i.O. 277 Bei Humphrey und Laidlaw liegt der Schwerpunkt primär auf dem erklärenden, analytischen Moment einer Ritualtheorie, während der Großteil von Ritualtheorien für einen stark interpretativen Zugang stehen – und dabei das Verständnis dessen, was genau eine Handlung als Ritual kennzeichnet, vernachlässigen. Für eine Überwindung der Gegenüberstellung beider Ansätze plädieren E. Thomas Lawson/Robert N. McCauley: Rethinking Religion. Connecting Cognition and Culture, Cambridge/New York 1990. 278 Beispielhaft die berühmte Definition Victor Turners (s. o. Anm. 164). 279 »Anthropologists have thus behaved like theatre critics; but without paying attention to whether the conditions exist that would make ›criticism‹ a valid endeavor.« (Humphrey/ Laidlaw: Archetypal Actions, 263) Humphrey und Laidlaw distanzieren sich damit von einer
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wollen, warum sie tun, was sie tun. Der kommunikationstheoretische Ansatz besagt, dass dem Ritual eine intrinsische Bedeutung in Form eines propositionalen Gehaltes eignet, der im Ritualvollzug kommuniziert wird. Dabei wird jedoch fälschlicherweise das Ritual als eine Form von Sprache verstanden und als Medium der Übermittlung verborgener Botschaften, vor allem hinsichtlich gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine Theorie, welche die Funktion von Ritualen vor allem in ihrer kommunikativen Leistung bestimmt, müsste im Stande sein zu erklären, – warum gerade die Form des Rituals als Kommunikationsmittel gewählt wird; – warum bei vielen Ritualen, anstatt die Bedeutung explizit zu machen, die Form häufig den Gehalt zu verdunkeln scheint – etwa indem Texte in fremden, den Handelnden meist unverständlichen Sprachen rezitiert werden; – warum diese Form der Kommunikation der für Rituale typischen Wiederholung bedarf; – wer Adressat der Kommunikation ist: Handelt es sich um interne Gruppenkommunikation? Adressiert der Handelnde die propositionalen Gehalte an sich selbst? Wird auf eine Kommunikation nach außen abgezielt?;280 – wieso die individuelle Zuschreibung eines propositionalen Gehaltes, einer Bedeutung oder einer Handlungsabsicht notwendig mit einer kommunikativen Absicht verknüpft sein muss.281 Diese Erklärungen könnten allein aus der Beobachtung und Analyse der Handlung selbst nicht hinreichend gewonnen werden und laufen Gefahr, durch Übertragung aus Einsichten in andere Handlungsmodi generiert zu werden.282 Unbestritten bleibt, dass mittels rituellen Handelns kommuniziert werden kann und Formen ritualisierter Kommunikation existieren. Doch der Orientierung der Ritualtheorie am Theater, nicht zuletzt weil von Zuschauern im Sinn des Theaters nicht die Rede sein könne. 280 Bei der Frage, ob es sich bei Ritualen um eine Kommunikation mit Gott handelt, verweisen Humphrey und Laidlaw darauf, dass es hierbei weniger um den wechselseitigen Austausch und die Übertragung von Inhalten geht, sondern um das Kreieren eines Raumes für Erfahrungen mit dem Transzendenten. Aus theologischer Sicht könnte an dieser Stelle auch auf die Klassifizierung von Gebeten als Dank-, Lob-, Bitt- oder Klagegebet verweisen, die eben in ritualisierter Form nicht ein spontanes Handeln Gottes unmittelbar erwarten. Gerade solche Phänomene gilt es im Folgenden im Blick zu behalten, bei denen die Form der Handlung einer gemeinhin unterstellten Bedeutung/Absicht zu widersprechen scheint. 281 Diese Unterscheidung hebt bereits John R. Searle: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge/New York 1983, 165 hervor. 282 So ist es etwa denkbar, dass im Verlauf einer rituellen Handlung sich der Handelnde der Tatsache bewusstwird, dass sein Handeln von anderen beobachtet und von den Beobachtern mit einer Deutung verbunden wird, über die er nicht verfügen kann; der Handelnde könnte daraufhin das Ritual unterbrechen oder auf bestimmte Weise ›vorführen‹ und würde damit in einen anderen Handlungsmodus wechseln.
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Inhalt dieser Kommunikation ist eben nicht ›die‹ Bedeutung des Rituals.283 Dasselbe gilt für sprachliche Äußerungen innerhalb eines Rituals: Natürlich können diese auf ihre Bedeutung hin befragt und erklärt werden. Aber die mit der Handlung verbundene Kommunikation einer Bedeutung ist nicht Resultat der Ritualisierung, sondern des ihr zugrundeliegenden Sprechaktes. Humphrey und Laidlaw formulieren in Abgrenzung von den bisher genannten Zugängen eine formale Ritualtheorie. Diese soll soziale wie kulturelle Bedeutungen und Funktionen von Ritualen integrieren ohne der Notwendigkeit zu unterliegen, derartige Funktionen – die Rituale auch und in besonderer Weise erfüllen – in allen Ritualen nachweisen zu müssen.284 Die Hinwendung zu einer formalen Ritualtheorie in Aufnahme der Erkenntnisse Staals verbinden sie jedoch mit einer Untersuchung der Bedeutungszuschreibungen aus Sicht der Ritualteilnehmer. Deren Interpretationen und nicht diejenigen der Forscher bilden den zentralen Fokus. Auch deshalb stehen Laien stärker im Fokus als Ritualexperten. Die typische Hierarchie der Deutungshoheit soll dadurch unterbrochen werden. Auch muss die Tatsache, dass Menschen den Ritualen, die sie vollziehen, keine diskursiven Bedeutungen zuschreiben, nicht als Mangel gewertet werden. Humphrey und Laidlaw interessiert also weniger das Was, als das Wie der Zuschreibungen und folglich steht am Ende der Untersuchung der Puja auch keine Zusammenfassung ihrer Bedeutung, sondern eine allgemeine Theorie der Ritualisierung im Ausgang vom jainistischen Puja-Ritual. Die Abkehr von ritualtheoretischen Ansätzen, die vor allem die Funktion und Bedeutungen von Ritualen ins Zentrum stellen, führt bei Humphrey und 283 Auch die Übertragung der metakommunikativen Theorie des ›framing‹ auf Rituale, wie sie Gregory Bateson vertreten hat (vgl. A Theory of Play and Fantasy, in: Ders.: Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology, Northvale, NJ 1987 [1972], 183–198 sowie die Kritik und Weiterführung bei Don Handelman: Framing, in: Kreinath/Snoek/Stausberg [Hg.]: Theorizing Rituals, 571–582), weisen Humphrey und Laidlaw als nicht hinreichend zurück (Archetypal Actions, 75 f.). Bateson zufolge werden Handlungen ›gerahmt‹, um damit für die Handlungen innerhalb des Rahmens ein Deutungsmuster vorzugeben. Bateson erarbeitet das Konzept vor allem an dem Satz »This is play« (vgl. Bateson: A Theory of Play, 195). In der Analyse des Phänomens Ritual hatte sich für Humphrey und Laidlaw gezeigt, dass viele Rituale zwar Formen von Rahmungen aufweisen, aber 1. die Grenzziehungen selbst wieder ritualisiert sind; 2. sie diese Grenzziehung nicht automatisch vornehmen, d. h. auch in nicht ritualisierter Form als Handlungen existieren (das Abnehmen eines Hutes); 3. nicht alle Rituale auf diese Markierungen angewiesen sind (Bsp. Tischgebet); und 4. über die Handlungen innerhalb des Rahmens dann wiederum nur allgemein ausgesagt werden könne, diese seien ›irgendwie‹ alle selbst Rituale. Dieses Konzept kann den Anforderungen an eine Analyse ritualisierter Handlungsformen nicht genügen. Dennoch kommt den Rahmenmarkierungen (›boundary-marking acts‹) eine wichtige Funktion für die Sequenzierung ritueller Handlungen zu (s. u. 9.5). 284 »Action can be relaxed, ecstatic, communicative, or repetitive, quite independently of whether it is also ritual. […] Ritual action can also be religious or not; […] ›express the social order‹ or not« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 71).
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Laidlaw zur Konzentration auf sogenannten »liturgie-zentrierten« Rituale (»liturgy-centred ritual«). Diese werden weder durch unmittelbar existenzielle Anlässe motiviert, noch wird durch die Performance ein unmittelbares Resultat erwartet. Häufig handelt es sich um Rituale, die in einer höheren regelmäßigen Frequenz wiederholt werden und nicht an biografische Passagen gekoppelt sind.285 Das Zentrum liturgie-zentrierter Rituale bildet die Ausführung einer vorgegebenen Handlung selbst. Die Gültigkeit dieser Handlung hängt, wie noch ausführlich gezeigt werden wird, vor allem an der Beachtung der Vorgaben. Den liturgie-zentrierten Ritualen werden die sogenannten »performancezentrierten« Rituale entgegengestellt, die in der ethnologischen Forschung lange als Paradigmen angeführt wurden.286 Sie finden sich vor allem in schamanistischen oder priesterzentrierten Formen religiöser Performance, wobei der Priester/Schamane als Medium supranaturaler Kräfte fungiert. Bei Exorzismen, Heilungen, der Beinfluss von Wetter und Natur, aber auch bei Initiationshandlungen zielen diese Rituale auf faktische Veränderungen innerhalb der realen Welt. Ihr Gelingen oder Scheitern hängt unmittelbar mit diesen Veränderungen zusammen. Für den Protagonisten kommt es daher weniger darauf an, das Ritual den Vorgaben gemäß auszuführen, als vielmehr darauf, die Teilnehmer von seiner Legitimität und Authentizität als Medium zu überzeugen. In weit größerem Maß als liturgie-zentrierte Rituale sind sie auf einen solchen Protagonisten ausgerichtet. Treten andere als die von den Teilnehmenden erwartete Folgen des Rituals ein, kann er diese und die von ihm gebotenen nachträglichen Erklärungen einzig durch seine Authentizität legitimieren.287 Das Gelingen dieser Überzeugungshandlung ist identisch mit 285 Die Hinwendung zu dieser Gattung von Ritualen entspricht dem auch hier zugrundeliegenden Interesse, besonders jenem rituellen Verhalten auf die Spur zu kommen, das im Rahmen des Gottesdienstbesuches an oft nur bedingt ereignisreichen Sonntagen zu finden ist. 286 Die Terminologie, die auf Jane M. Atkinson: The Art and Politics of Wana Shamanship, Berkeley 1989, 14 zurückgeht, ist freilich alles andere als unproblematisch. Zum einen gerät sie leicht in den Verdacht, liturgischen Handlungen eine performative Wirkung absprechen zu wollen. ›Performativ‹ wird bei Humphrey und Laidlaw jedoch im Blick auf das Bestreben verwendet, mithilfe eines Rituals ein gewünschtes Ergebnis, eine angestrebte Veränderung hervorzurufen. Wenngleich auch liturgie-zentrierte Rituale Wirkungen hervorrufen, so stehen diese eben nicht im Fokus der Motivation zur Handlung. Die besondere Betonung liegt also auf dem jeweiligen Zentrum. Außerdem konstruieren Humphrey und Laidlaw ihren Ansatz von der jeweiligen Handlungsmotivation her, (s. u. 2.1.3.2). Zum anderen könnte der Verdacht entstehen, hier werde die von Durkheim und seinen Schülern vertretene Unterscheidung zwischen einer öffentlichen, auf das Soziale ausgerichteten religiösen Praxis auf der einen und einer privaten, allein individuellen Interessen dienenden magischen Praxis fortgesetzt. Während diese Unterscheidung zwischen Magie und Religion mit deutlichen Werturteilen verbunden ist, stehen beide Ritualformen bei Humphrey und Laidlaw gleichberechtigt nebeneinander, wenngleich die Bedeutung der beiden Formen in unterschiedlichen Gesellschaften stark variiert. 287 »As a performance-centred ritual, a mabolong [shamanic seance] cannot be described or analyzed as a preordained progression of delineated steps to which ritual practitioners and
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dem Gelingen des Rituals insgesamt. Insofern der Protagonist als Medium glaubwürdig ist, werden die Folgen des Rituals akzeptiert und zugleich das Ansehen des Priesters/Schamanen und damit die ihm zugeschriebene Kraft verstärkt. Diese Art von Ergebnis kennt das liturgie-zentrierte Ritual zunächst nicht. Humphrey und Laidlaw fassen die Unterscheidung beider Formen mithilfe der Zuordnung einer jeweils spezifischen Frage zusammen: Während der Erfolg performance-zentrierter Rituale an der Beantwortung der Frage hängt: »Has it worked?«, lautet die Frage bei liturgie-zentrierten Ritualen: »Have we got it right?« (11; 126). Liturgie-zentrierte Rituale enthalten in geringerem Maße dramatische Elemente und werden meist weniger beachtet. Dennoch halten Humphrey und Laidlaw sie innerhalb der großen Religionen für zentral288 und schreiben ihnen zudem einen höheren Grad an Ritualisierung zu. Nicht zuletzt deshalb erscheinen sie besonders geeignet, um nach dem Kern der rituellen Handlungsweise zu suchen.289 Die Unterscheidung zwischen performance- und liturgie-zentrierten Ritualen wendet sich gegen ein unmittelbar instrumentelles Ritualverständnis, unterscheidet sich aber von expressiven Ansätzen darin, dass für den Vollzug der Handlung keine auf irgendeine Art dahinterliegenden Motive angenommen werden, zumindest nicht im Sinne eines einfachen Kausalzusammenhangs.290
9.3 Rituelles Handeln unter dem Vorzeichen der Nicht-Intentionalität 9.3.1 Intentionalität in Alltag und Ritual Das grundlegendste Merkmal ritueller Handlungen ist nach Humphrey und Laidlaw das Vorhandensein einer sogenannten »rituellen Einstellung« in den Akteuren. Diese stellt eine spezifische Form von Intentionalität dar, mit der die Akteure das Ritual ausführen. Humphrey und Laidlaw sprechen in diesem Fall congregants collectively conform. It is rather a repertoire of ritual actions available to performers acting independently in the ritual arena« (aaO., 15, zitiert bei Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 10). 288 Vgl. aaO., 280, wo die Autoren besonders auf Studien zum rituellen Gebet im Islam (sala¯t) hinweisen. 289 Die Unterscheidung unterschiedlicher Grade ritueller Durchdringung einer Handlung war bereits im Verständnis von ›Ritualisierung‹ als prozesshaftem Geschehen impliziert. In ihrem Aufsatz Action (2006) wird diese Unterscheidung korrigiert: »[P]erformance-centred rites may differ from the liturgical not in being less ritualized but in ritualization applying at a more inclusive and higher-order level, to larger and more encompassing actions« (James Laidlaw/ Caroline Humphrey: Action, in: Kreinath/Snoek/Stausberg [Hg.]: Theorizing Rituals, 265–283, 280f.). Ritualisierung tritt also bei liturgie-zentrierten Ritualen bereits auf der Ebene kleinster ritueller Sequenzen auf (s. u. 8.5). 290 Beispiele symbolisch-expressiver Ritualtheorien finden sich unter 3.2.3 sowie 2.3.3.
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von Nicht-Intentionalität. Darunter ist die Tatsache zu verstehen, dass Rituale ihre Form nicht unmittelbar der Intention des Handelnden verdanken. Was darunter genauer zu verstehen ist, wird deutlich durch einen Blick auf jene Form von Intentionalität, welche die alltägliche Handlungsweise prägt. Wer nach der Bedeutung einer Handlung fragt, fragt nach ihrem Grund oder ihrer beabsichtigten Wirkung. Handlungen, die uns von außen zunächst als körperliche Bewegungen im Raum entgegentreten, haben mit Ausnahmen von Signalen keine selbstverständlich ausweisbare, indexikalische Bedeutung.291 Handlungen funktionieren also nicht wie einzelne Worte, deren Bedeutung mithilfe der Suche in einem Wörterbuch ermittelt werden könnte. Erst die dem Handelnden unterstellte Intention erschließt die Bedeutung einer Handlung und macht sie von ›bloßer Bewegung‹ unterscheidbar. Zudem ermöglicht die Unterstellung einer Intention, diskrete Handlungen innerhalb des kontinuierlichen Bewegungsflusses zu unterscheiden. Die Verbindung von Bewegung und Intention markiert die Identität einer Handlung. Das gilt ebenso für das Verhältnis von sprachlichen Äußerungen und Sprachhandlungen.292 Diese unmittelbare Verbindung von Handlungsform und Intention ist für nicht-rituelles Handeln konstitutiv.293 Die grundlegende These Humphreys und Laidlaws lautet nun: Im Ritual ist die Verbindung zwischen Handlung und Intention auf solche Weise durchtrennt, dass von einem nicht-intentionalen Akt gesprochen werden muss. Nicht-Intentionalität bedeutet, dass im Fall ritualisierter Handlungsakte die vorhandene Intention nicht mehr konstitutiv ist für die Identität der einzelnen Handlung.294 Diese Identität einer rituellen Handlung als einer solchen ergibt 291 Anders als Rappaport: Obvious Aspects, 179, der mit Bezug auf den bei Humphrey und Laidlaw abgelehnten intrinsischen kommunikativen Aspekt von Ritualen von einer indexikalischen Übermittlung des Status der Ritualteilnehmer spricht. Bei Rappaport lässt sich genau erkennen, wie eine kommunikativ angelegte Ritualtheorie dem Ritual intrinsische Bedeutung in Form von Werten oder Weltbildern zuschreibt – unabhängig vom jeweiligen Subjekt, welches das Ritual vollzieht. Indexikalische Bedeutung kann jedoch auch rituellen Handlungen von Tieren zugeschrieben werden, die im Unterschied zu menschlichen Ritualen keinen Symbolgehalt aufweisen. 292 Die notwendige Unterscheidung zwischen der vom Beobachter bzw. Adressaten der Handlung dem Handelnden unterstellten Intention und derjenigen Intention, die den Handelnden selbst motiviert, kann hier zunächst unberücksichtigt bleiben. Eine absolute Deckungsgleichheit zwischen dem Gehalt dieser beiden Intentionen unterliegt ohnehin dem Vorbehalt der prinzipiellen Unzugänglichkeit der eigenen Intention. Dennoch führt erst die unterstellte Intention zur Beobachtung der Handlung (soweit sie dem Beobachter als relevant erscheint) und im Anschluss daran zum Versuch ihrer Deutung. Vgl. auch George Wilson/Samuel Shpall: Action, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2012 Edition). 293 Ähnlich wie bei den performance-zentrierten Ritualen (s. o.) lautet die Frage nach dem Erfolg einer solchen Handlung: »Has it worked?«, also: Sind die Laute ihrer Intention nach verstanden worden und habe die gewünschte Wirkung erzielt? 294 »When we attempt to understand what another’s action is, to succeed in this we must grasp his or her intention in acting. It is one of our central claims in this book that when an action is ritualized, this is not the case« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 94).
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sich folglich aus zwei Bestandteilen: einer stipulierten Handlungsform (s. u.) sowie einer spezifischen Vollzugsweise, eben der »rituellen Einstellung« (›ritual commitment‹ oder ›ritual stance‹).295 Anders als bei zweckrationalem, alltäglichem – auch routinierten – Handeln bewirkt bei rituellem Handeln die zugrundeliegende Intention keine entsprechend angepasste Form der Ausführung der Handlung.296 Vielmehr wird das Ausführen der Handlung selbst zum Gegenstand der Intention. Nicht-intentional bedeutet somit keineswegs un-intentional. Intentionalität bleibt auch bei Ritualen wesentlicher Bestandteil der Handlung.297 Vielmehr ist darunter zu verstehen, dass Rituale sowohl ohne explizit benennbare Intention als auch mit völlig unterschiedlichen Intentionen – Pflicht, geistliches Wachstum, Gottesbegegnung, spirituelle Reinigung etc. – vollzogen werden. Welche Intention zugrunde liegt, spiegelt sich aber nicht in der Form der Handlung selbst wider und bleibt für die Art und Weise der Ausführung zunächst folgenlos. Rituelles Handeln ist insofern intentional, als dass nur absichtsvolles Handeln rituell sein kann, d. h. man kann nicht ›aus Versehen‹ oder irrtümlicherweise ein Ritual vollziehen.298 Wird die Bedeutung einer Handlung aus der Intention erschlossen, folgt aus der Nicht-Intentionalität das Verständnis ritueller Handlungen als bedeutungsoffen bzw. als bedeutungslos. Davon unbeeinträchtigt bleibt jedoch die Tatsache, dass Bedeutungszuschreibungen zentrales Charakteristikum rituellen Verhaltens sind, wie noch zu zeigen sein wird. Zusammenfassend lässt sich das Ritual als Ritual also dadurch identifizieren, dass es im rituellen Handlungsmodus vollzogen wird, der sich durch eine ›rituelle Einstellung‹ auszeichnet. Diese besteht in der Akzeptanz der stipulierten Form und der für die Ausführung geltenden Regeln.299 Diese Akzeptanz bezieht sich zwar nicht auf eine selbstgegebene Ordnung, stellt aber dennoch einen Akt der Selbstverpflichtung gegenüber dieser Ordnung dar, ist also in vollem Sinn als 295 Die Übersetzung folgt Belliger/Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Allerdings impliziert ›commitment‹ einen stärker normativen Charakter, als eine bloße ›Einstellung‹. Es geht sowohl um eine Haltung, welche das Denken hinsichtlich der rituellen Handlungen verändert, als auch um eine Selbstverpflichtung in Bezug auf die Einhaltung der rituellen Form. Vgl. Anm. 337. 296 Ähnlich spricht Jack Goody im Hinblick auf den durchbrochenen Zusammenhang zwischen der Handlung und ihrem Resultat von Nicht-Rationalität: »In conclusion then, by ritual we refer to a category of standardized behaviour (custom) in which the relationship between the means and the end is not ›intrinsic‹, i. e. is either irrational or non-rational« (Religion and Ritual, 159). 297 Zu den nötigen Unterscheidungen von Handlungsintentionen s. u. 9.3.2. 298 »Acting ritually is not a mistake or a consequence of inattention. The person performing ritual ›aims‹ at the realization of a preexisting ritual act« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 89). 299 Rituelles Handeln als Handeln nach vorgeschriebenen Regeln unter Modifikation des intentionalen Charakters einer Handlung steht in Nähe zum Handeln unter Befehlen, dem Spielen eines Spiels, Kochen oder der Aufführung eines Theaterstücks und ist daher kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal. Die Abgrenzungen zu diesen Handlungsformen werden in der Zusammenfassung unter 9.9 deutlich werden.
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Handeln eines Akteurs zu werten.300 Insofern diese Einstellung eine Veränderung im Individuum ist, kann sie als Weiterentwicklung von Konzepten einer spezifischen rituellen Empfindung verstanden werden, die bereits bei Robertson Smith und Durkheim begegneten und ohne dass diese Begriffe dort näher ausgeführt wurden.
9.3.2 Die Intentionalitätstheorie John Searles Um näher zu verstehen, welchen Intentionalitätsbegriff Humphrey und Laidlaw im Zusammenhang ihrer These von der Nicht-Intentionalität ritueller Handlungen annehmen, bedarf es eines Rückgriffs auf die Intentionalitätstheorie von John Searle. Obgleich der explizite Verweis auf Searle nur gelegentlich erfolgt, vertieft dieser Seitenblick auch den philosophischen Hintergrund des Handlungs- wie auch Bedeutungsbegriffs und dessen Auswirkungen auf die Ritualtheorie von Humphrey und Laidlaw. A. Grundlegend setzt sich John Searle mit Intentionalität in seinem 1983 veröffentlichten Werk Intentionality auseinander. Darin erweitert und reformuliert er seine 1969 in Speech Acts formulierte Theorie der Sprechhandlungen auf das Gebiet der allgemeinen Handlungstheorie. Diese steht bei Searle in Zusammenhang mit der Philosophie des Geistes – so auch der Untertitel An Essay in the Philosophy of Mind –, und damit wiederum im weiteren Kontext einer Fundamentalontologie.301 Innerhalb dieses Rahmens bestimmt er Intentionalität allgemein als Form der Bezugnahme auf die Welt, 300 Humphrey und Laidlaw verweisen hierbei auf Obvious Aspects, der die Zustimmung (»conform«/»accept«) zur ›liturgischen Ordnung‹ als jeder rituellen Performance zugrundeliegend beschreibt (aaO., 192). Rappaport präzisiert diese Akzeptanz indem er sie a) als nicht notwendig tiefgehend-ernsthafte Entscheidung (»grave matter«) und b) als unabhängig von einem bestimmten subjektiven inneren Glauben beschreibt, handelt es sich doch zunächst c) um einen öffentlichen Akt der Anerkennung der sozialen Ordnung sowie sozialer Wertmaßstäbe, der damit d) einen »fundamental sozialen Akt« darstellt, der die Grundlage sozialer Ordnung bildet (aaO., 194–197). Humphrey und Laidlaw übernehmen jedoch nur den Begriff der ›Akzeptanz‹, nicht die von Rappaport damit verbundenen sozialen Implikationen. Insofern für Rappaport die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und moralischer Werte durch das Rituale auch dann gelingt, wenn das Ritual mit betrügerischer Absicht oder unaufrichtig vollzogen wird, müsste mit Humphrey und Laidlaw hier von einer schwachen Form der Ritualisierung gesprochen werden. Diese steht in größerer Nähe zum theatralen Handeln wie auch zu performance-orientierten Ritualen, scheint es doch auszureichen, die Akzeptanz und Konformität vorzuspielen. In diesem Fall wäre das Ritual wiederum als intentionales und zweckrationales Handeln zu beschreiben. 301 So beschreibt Searle am Ende des Buches Intentionalität als »biological phenomenon [… which] is part of the natural world like any other biological phenomenon« (Intentionality, 230). Searles biologischer Naturalismus ist dabei nicht reduktionistisch zu verstehen. Höherstufige Phänomene wie Bewusstsein und Intentionalität sind eben nicht noch einmal auf basale biologische Phänomene zurückführbar, wenngleich sie darauf aufbauend erklärt werden wollen.
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die auf mentaler Repräsentation beruht. Darunter ist die grundlegende Fähigkeit zu verstehen, semantisch gehaltvolle, also auf die Wirklichkeit der Welt bezogene, geistige Zustände zu erzeugen. Das Spezifikum von Intentionalität als Repräsentationsphänomen besteht darin, dass die mentalen Repräsentationen mit Erfüllungsbedingungen (conditions of satisfaction) versehen werden. Klassische Formen hierfür sind Wünsche oder Überzeugungen, deren Erfüllungsbedingungen im Wahrwerden bzw. Wahrsein liegen. Tritt eine derart bestimmte Form von Intentionalität in Verbindung mit physischen Akten, spricht man von einer Handlung. Searle unterscheidet »intentions-in-action«, welche dem unmittelbaren Handlungsverlauf unterliegen sowie »prior intentions«, welche die Einzelhandlungen veranlassen und plausibilisieren. Dabei stellt sich die Frage, wie diese Verbindung genau zustande kommt, wie also die Übertragung geistiger intentionaler Zustände auf physische, intrinsisch nicht-intentionale Bewegungen funktioniert: »How […] do we get from the physics to the semantics?« (27) Searle zufolge geschieht das genau dadurch, dass auch der physische Akt mit Erfüllungsbedingungen versehen wird. D. h. der Handelnde ist in der Lage festzustellen, wann die Intention erfolgreich war und die Handlung ihr Ziel erreicht hat. Eine Sonderform von Intentionalität ist das Phänomen der Bedeutung. Während andere Formen des intentionalen Weltbezugs auch bei Tieren anzutreffen sind, ist die in der Sprache sich ausdrückende Form der Intentionalität, die als Bedeutung bezeichnet wird, dem Menschen vorbehalten. Die Voraussetzung von Bedeutung ist die Fähigkeit, die Welt mithilfe eines mentalen Zustands zu repräsentieren. Mentale Repräsentation geht der in sprachlichen Ausdrücken enthaltenen Repräsentationen voraus.302 Die Erfüllungsbedingungen des intentionalen Zustands, der sich in der Handlung des Sprechakts ausdrückt, entsprechen Searle zufolge aber genau denen des zugrundeliegenden mentalen Zustands: »[T]he key to the problem of meaning is to see that in the performance of the speech act the mind intentionally imposes the same conditions of satisfaction on the physical expression of the expressed mental state, as the mental state has itself.« (164) Damit tritt Searle in Übereinstimmung mit einem in Speech Acts noch abgelehnten semantischen Verständnis von Sprache. Dieses eingehender zu erörtern stellt den Schlüssel bereit um zu verstehen, wie Handlungen möglich sind, die keine unmittelbare Bedeutung besitzen. In Speech Acts war Searle der von Paul Grice vertretenen Ansicht gefolgt, ein Sprechakt und dessen Bedeutung sind von der illokutiven Absicht bestimmt zu kommunizieren. Darin unterscheidet sich eine Äußerung mit Bedeutung von anderen Sprechakten, dass neben die ›intention-in-action‹, einen Laut mit bestimmten Erfüllungsbedingungen zu erzeugen, und die phonetische Äußerung jene illokutionäre 302 »[L]anguage represents the world as an extension and realization of the way the mind represents the world […] [T]he essence of statement making is representing something as being the case, not communicating one’s representations to one’s hearers« (aaO., 166).
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Intention hinzutritt. Kommunikation ist somit das Bestreben, im Hörer einen Effekt hervorzurufen. Folglich werden Sprechakte auch unterschieden je nach Effekt, den sie beim Hörer verursachen wollen, vor allem das Erzeugen von Verstehen. Dem angestrebten Effekt entspricht dieser Auffassung nach auch die Bedeutung eines Sprechaktes. Wird also Bedeutung vom Sprechakt als Ganzem her verstanden, spielen Sätze oder Wörter nur eine untergeordnete Rolle. Grice und Searle unterscheiden sich jedoch darin, ob neben dem Verstehen nicht auch ein perlokutiver Effekt wesentlicher Bestandteil eines jeden Sprechaktes ist, sodass dadurch nicht nur ein Verstehen, sondern eine Veränderung in der Welt hervorgerufen werden soll – etwa das Ausführen eines Befehls oder die Annahme jener Überzeugung, welche der Sprecher im Sprechakt geäußert hat. In Searles Terminologie wäre also nach den genauen Erfüllungsbedingungen eines Sprechaktes zu fragen.303 Anders als Grice hält Searle daran fest, dass die Intention erfüllt ist, wenn ein illokutionärer Effekt erzielt ist. Dazu muss einerseits der Hörer davon überzeugt sein, dass der Sprecher kommunizieren will und andererseits der Sprecher sich zu diesem Zweck konventioneller Mittel bedienen, also verstehbarer Worte, Gesten etc. An der Trennung von illokutionärer und perlokutionärer Intention hält Searle auch später noch fest. Anders als in Speech Acts leitet Searle in Intentionality Bedeutung nun aber lediglich vom Vermögen her, Erfüllungsbedingungen für eine Repräsentation angeben zu können.304 Damit ist Bedeutung nicht nur von einer perlokutiven Intention unabhängig, also davon im Hörer einen Effekt hervorzurufen. Bedeutung – Searle sprich von einer ›meaning intention‹ – ist sogar zu trennen von der illokutionären Absicht zu kommunizieren, also beim Hörer einen Verstehensprozess auszulösen.305 Damit bleibt Bedeutung zwar notwendige Bedingung für Kommunikation, sie ist aber nicht mehr unmittelbar mit dieser verknüpft und geht ihr voraus: »[I]t now seems to me […] that in at least one sense of ›meaning‹, communication is derived from meaning rather than constitutive of meaning.«306 Dass ein Sprecher mit einer Aussage eine Bedeutung ausdrückt, lässt also nicht zugleich auf seine Kommunikationsabsicht schließen. Kurzgefasst: Semantik und Pragmatik sind nicht nur zu unterscheiden, sondern zunächst einmal auch zu trennen. Weil Searle auf diese Weise Bedeutung vor allem mit dem semantischen Gehalt einer Aussage verbindet, kommt auch den einzelnen Wörtern wieder eine stärkere Rolle zu. Sie haben nicht mehr nur im Rahmen einer Kommunikationssituation eine Bedeutung. Zusammenfassend schreibt Searle: »One 303 Vgl. auch Joshua Rust: John Searle, London/New York 2009, 99. 304 »[R]epresentation, […] I believe is the core of meaning« (Searle: Intentionality, 168). 305 Beispiel eines Sprechaktes ohne perlokutive Absicht wäre das Sprechen auf Befehl. Als Möglichkeit von Bedeutung ohne Kommunikation nennt Searle das Selbstgespräch. 306 John R. Searle: Meaning, Communication, and Representation, in: Richard E. Grandy/ Richard Warner (Hg.): Philosophical Grounds of Rationality. Intentions, Categories, Ends, Oxford 1986, 209–226, 212, zitiert nach Rust: Searle, 106.
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can make a statement without intending to produce conviction or believe in one’s hearers or without intending to get them to believe that the speaker believes what he says or indeed without even indenting to get them to understand it at all.«307 B. Die Verbindung zwischen Searles Intentionalitätstheorie und Humphreys und Laidlaws Ritualtheorie hängt am Begriff der Nicht-Intentionalität. Bereits die Begrifflichkeit macht deutlich, dass Humphrey und Laidlaw über Searle hinausgehen. Mit der Rede von ›nicht-intentionalen‹ Handlungen erfinden sie eine bei Searle nicht vorgesehene Kategorie von Handlungen. Das entspricht nicht zuletzt dem Ansatz zahlreicher Ritualtheorien, Rituale als genuine Handlungsformen mit idiosynkratischen Merkmalen zu beschreiben. Insofern Rituale im vollen Sinn als Handlungen bezeichnet werden sollen, ist Intentionalität ein unverzichtbarer Bestandteil. Einen Zustand, eine Bewegung oder eine Äußerung als intentional zu beschreiben heißt nach Searle, sie mit Erfüllungsbedingungen zu versehen. Genau darauf zielt die nach Humphrey und Laidlaw ritualspezifische Frage: »Have we got it right?«.308 Ohne diese Bestimmung müssten Rituale als unbeabsichtigter Nebeneffekt einer anderen, intentionalen Handlung oder gar als Fehler verstanden werden. Doch ein Ritual »whatever else it is, is not a mistake« (100).309 Aber die für die Entscheidung, ein (liturgie-zentriertes) Ritual überhaupt auszuführen, notwendige ›prior intention‹ ist bei Ritualen häufig nicht prima facie benennbar. Darum wird diese nach Humphrey und Laidlaw als Bündel subjektiver, sozialer wie auch objektiver Motivatoren beschrieben. Nur dadurch wird man den verschiedenen Begründungen gerecht, derer sich die Ritualteilnehmer selbst bedienen, um ihr Handeln zu erklären. Darin eingeschlossen ist die Möglichkeit, keinen spezifischen Grund angeben zu können bzw. um ihrer selbst willen vollzogen zu werden. Im Sinne der intention-in-action können Rituale nicht nur als intentionale Handlungen, sondern auch als Handlungen verstanden werden, die eine intentionale Bedeutung besitzen. Diese richtet sich aber bei Ritualen nicht auf die vorausgehende prior-intention, sondern auf das Verständnis der Handlung während der Handlung: »Intentional meaning is not what someone intended to do before doing it, but what they 307 Searle: Intentionality, 165. Searle geht es hierbei nicht darum zu bestreiten, dass Bedeutung in den allermeisten Fällen mit einer Kommunikationssituation verbunden ist, zumal ja die in der Bedeutung ausgedrückte Repräsentation ihre Form der Gemeinschaft verdankt. Es geht also nicht etwa um die Begründung einer Privatsprache. Rust: Searle, 113–118 kritisiert dennoch die Fokussierung auf theoretische Minimalbedingungen (»Should one build an account of meaning on the basis of outliers?«, aaO., 118), anstatt für Sprechakte typische Merkmale zu beschreiben. 308 Ähnlich formuliert Searle was es heißt, Erfüllungsbedingungen angeben zu können: »[An actor] must have the capacity for recognizing what it would be to get it right« (Searle: Intentionality, 177). 309 Wie bei Handlungen generell sind nicht intendierte Folgen damit nicht ausgeschlossen.
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understood themselves to be doing as they did it, their reflexive understanding of their conduct which is constitutive of the action as action« (93). Der entscheidende Grund, Rituale aber nur eingeschränkt als intentional zu bezeichnen, besteht bei Humphrey und Laidlaw in der bereits erwähnten Tatsache, dass im Gegensatz zu sonstigen Handlungen die Absicht des Handelnden die Form der Handlung nicht erklärt und beide nicht in direkter Wechselbeziehung miteinander stehen.310 Die Erfüllungsbedingungen des (liturgie-zentrierten) Rituals liegen nicht primär auf einem durch das Ritual zu erreichenden Ziel, sondern innerhalb seiner selbst. Im Gegensatz zur Variabilität der individuellen vorausgehenden Intentionen sind im Handlungsverlauf selbst die Erfüllungsbedingungen der Intentionen durch die Regeln des Rituals vorgegeben.311 Gemäß der Selbstreferenzialität von Ritualen besteht die Wirkung einer rituellen Handlung auch darin, dass der Handelnde im Ablauf weiter voranschreiten kann. Daraus erhellt sich ferner die bei Humphrey und Laidlaw getroffene Unterscheidung performance- und liturgie-zentrierter Rituale. Während bei alltäglichen Handlungen die vorläufige Intention diejenigen Intentionen plausibilisiert und verursacht, welche die Einzelhandlung bestimmen,312 ist dieser Zusammenhang beim Ritual durchbrochen: Die Intention im Handeln dient der subjektiven, vorausgehenden Absicht nur mittelbar.313 Die Wahl der ritualisierten Handlungsform entzieht sich daher klassischer Handlungslogik.314 Aus der Trennung von Intention und 310 Vgl. aaO., 172: »In general, we can get at the contend of an intention by asking. ›What is the agent trying to do?‹« Fällt z. B. bei der Beobachtung eines Gabenrituals der besonders vorsichtige Umgang mit den Gaben auf, stünde bei einer nicht-ritualisierten Form stets der zu erzielende Effekt im Zentrum, etwa der Schutz der Opfergabe, während bei ritualisierten Formen der sorgsame Umgang als Erfüllung vorgegebener Anweisungen selbst das Ziel des Handelns ist. 311 Dies wird im Zusammenhang der Beschreibung von Ritualen als stipulierten Handlungen noch deutlicher werden. S. u. 9.5. 312 AaO., 92: »[T]he prior intention causes the intention in action. By transitivity of intentional causation, the prior intention represents and causes the entire action, but the intention in action presents and causes only the bodily movement.« 313 Gleichwohl bestehen zwei grundsätzliche Möglichkeiten, worin die vorausgehende Intention bestehen könnte: a) ›Ich möchte Ritual X vollziehen.‹ oder b) ›Ich möchte Y erreichen, indem ich das Ritual X ausführe.‹ Im Fall von a) handelt es sich um eine normale Handlung im Sinne Searles. Im zweiten Fall liegt ein Sonderfall vor: Hier bewirtk die Handlung X, welche durch die Intention Yausgelöst wird, eine Intention beim Handeln, welche nicht unmittelbar die gleichen Erfüllungsbedingungen hat, wie die ganze Handlung, da ein gelungenes Ritual zunächst eines ist, welches korrekt ausgeführt wurde. Damit ist die grundsätzliche Frage nach dem Begehren gestellt, Rituale überhaupt auszuführen und Ziele durch rituelles Handeln – und eben nicht anders – zu erreichen. Die Tatsache rituellen Handelns verbindet alle Kulturen und ist doch jeweils unterschiedlich nicht nur sozial, sondern auch individuell begründet. 314 Ein Beispiel wäre der besonders vorsichtige Umgang mit den Dankgaben innerhalb eines Rituals. Bei nicht-ritualisierten Handlungen wäre nach dem zu erzielenden Effekt zu fragen (sollen die Gaben geschützt werden? Werden die Gaben als etwas Heiliges verstanden? etc.). Die ritualisierte Form, welche den sorgsamen Umgang zunächst als Erfüllung vorgegebener Anweisungen versteht, erlaubt keine eindeutige Antwort auf diese Frage.
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Handlung folgt, dass ihre Wirkung nicht ohne Weiteres angegeben werden kann. Die Erfüllungsbedingungen sind einerseits nicht von außen, objektiv zu erörtern, zugleich kann ein Ritual ohne konkret benennbaren Anlass (prior intention) dennoch korrekt, im Sinne der notwendigen »intention-in-action‹« ausgeführt werden. Dass Searle Bedeutung unabhängig von Kommunikationssituationen bestimmt und sie dafür umso enger mit Repräsentationen verbunden ist, schlägt sich ebenfalls in Humphreys und Laidlaws Theorie nieder. Genau darin besteht die Spezifik ritueller Handlungen, dass die Zuschreibung von Erfüllungsbedingungen an Repräsentationen – und damit Bedeutung – unabhängig ist von einer Kommunikationsintention gegenüber möglichen Zuschauern oder Mitakteuren. Deshalb müssen sich die Akteure auch nicht konventioneller Mittel bedienen (bekannter Wörter, verständlicher Grammatik, erkennbarer Gesten etc.). Die Möglichkeit der Bedeutungszuschreibung ist davon abhängig, ob sie für den Handelnden etwas repräsentiert. Weil aber Bedeutungszuschreibung ein für Rituale wesentliches Element ist, muss das Ziel sein, diese Bedeutungszuschreibung – das Repräsentieren – zu ermöglichen, insofern dies überhaupt gesteuert werden kann. Rituale enthalten zwar häufig Sprechakte, sind aber nicht selbst als solche zu deuten. Auch die Tatsache, dass die Bedeutungszuschreibungen nicht nur individuell, sondern zeitlich und lokal bei gleichbleibender Form stark variieren, widerspricht einem rein kommunikativen Ansatz. Auf dem Hintergrund eines semantischen Bedeutungsverständnisses wird auch verständlich, dass nicht mehr das Gesamtritual Zentrum der Bedeutung ist, sondern die einzelnen Sequenzen. Neben der Möglichkeit, Bedeutung auszudrücken, ohne eine Kommunikationsabsicht zu besitzen, behandelt Searle auch die Möglichkeit, eine Bedeutung auszudrücken, ohne eine damit kongruierende innere Überzeugungen: »[W]hat is the difference between saying something and meaning it and saying it without meaning it?«315 Damit ist nicht nur auf den klassischen Fall der Lüge abgezielt, sondern auch auf Aussagen, die aufgrund eines Befehls erfolgen. Searle spricht von einer Wahrhaftigkeitsbedingung (»sincerity condition«), die zu einer Aussage hinzutreten muss, damit ein Versprechen mit der Absicht ausgesprochen wird, es zu halten, oder ein Befehl, in der tatsächlichen Erwartung formuliert wird, dass er ausgeführt werden wird. Die damit verbundenen Erfüllungsbedingungen sind in diesen Fällen wiederum an die Handlungsintention des Handelnden geknüpft: Ein Befehl gilt nur dann als ausgeführt, wenn die Handlung aufgrund des Befehls und nicht anderer Motive wegen ausgeführt wurde. In der Übertragung auf Rituale ist damit zweierlei ausgesagt: Rituelles Handeln erfolgt nur qua ritueller Einstellung, sich den Regeln gemäß zu verhalten. Regelkonformes Verhalten allein stellt noch kein ritualisiertes Verhalten dar. Zum anderen tritt in der Theorie von Humphrey und Laidlaw explizit der Anspruch auf, rituelles Handeln als 315 AaO., 169.
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Handeln nach innerer Überzeugung auszuführen. Was die Handelnden tun, soll von ihnen auch ›gemeint‹ sein. Damit ist eine Form von innerer Überzeugung gemeint, die eine Verbindung darstellt zwischen vorrangig kognitiv erfasster Bedeutung und emotionaler Aneignung im Sinne der Wahrhaftigkeit. Searles Intentionalitätsbegriff dient Humphrey und Laidlaw somit auch zur Zurückweisung eines kommunikationstheoretischen Ritualverständnisses. Ausgehend von Searles Einsicht, dass es Handlungen gibt, die zwar repräsentieren, aber ohne illokutionäre Absicht ausgeführt werden, können auch Ritualhandlungen mit einer Bedeutung versehen werden, ohne dadurch notwendigerweise anderen etwas mitteilen wollen. Dass Searle zufolge auch eine perlokutive Absicht nicht notwendig mit einer Handlung verbunden sein muss, schlägt sich in Humphreys und Laidlaws Unterscheidung zwischen performance- und liturgie-orientierten Ritualen nieder.
9.4 Die Spezifik ritueller Handlungen 9.4.1 Kennzeichen ritueller Handlungen Humphrey und Laidlaw folgen modernen Ritual Studies darin, dass sie keine abschließende Definition von Ritualen liefern. Dennoch benennen sie vier grundsätzliche Merkmale ritueller Handlungen, die helfen den Transformationsprozess der Ritualisierung zu beschreiben. Sie sollen hier zunächst im Überblick vorstellt werden.316 (1) Rituale sind stipulierte Handlungen.317 Sie gründen auf einem vorausgegangenen sozialen Prozess der Institutionalisierung. Dadurch ist für die jeweilige Handlung ein Handlungsrahmen vorgegeben, der auch die für die Ausführung der Handlung geltenden Regeln enthält. Insofern die Form der Handlung durch diese Vereinbarung bestimmt ist, tritt die Intention des Einzelnen mit ihrer funktionalen Bedeutung für Alltagshandlungen zurück. (2) Rituelle Handlungen können als archetypische Handlungsformen verstanden werden. ›Archetypisch‹ soll dabei nicht im Jungianischen Sinn als transzendentale Organisationsstrukturen des Unbewussten verstanden werden. Gemeint ist vielmehr die Tatsache, dass die Form ritueller Handlungen im 316 Dem formalen Ansatz ist es geschuldet, dass kulturspezifische Begriffe wie der Begriff ›Symbol‹ darin nicht auftauchen. Humphrey und Laidlaw knüpfen damit an ähnliche Vorgehensweisen an, etwa bei Roy Rappaport, der rituelle Formen oder Strukturen 1974 definiert als »performance of more or less invariant sequences of formal acts and utterances not encoded by the performers« (Obvious Aspects, 179). Später spricht er nur noch von »not entirely encoded by the performers« (Ritual and Religion in the Making of Humanity, Cambridge 1999, 24). 317 »Action is ritualized if the acts of which it is composed are constituted not by the intentions which the actor has in performing them, but by prior stipulation« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 97).
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Verhältnis zur jeweiligen Ausführung ontologisch und chronologisch primär erscheint und im Bewusstsein der rituellen Akteure den ›Archetypus‹ einer Handlungsform darstellt. Diese gilt es möglichst genau nachzuahmen.318 Humphrey und Laidlaw wollen damit keine metaphysischen Aussagen treffen, sondern lediglich die rituelle Kognition beschreiben. Gleiches gilt, wenn der Umgang mit diesen, als archetypische Handlungen begriffenen Ritualen verglichen wird mit dem Umgang mit natürlichen Arten. Deren Existenz hängt weder ab von einem Wissen um ihre Existenz, noch hängt ihr ›Wesen‹ ab vom Verständnis desselben. Stipulation wie archetypische Form erwecken beim Handelnden den Eindruck, dass das Ritual als Handlung für ihn bereit liegt, bzw. eine überindividuelle Existenz besitzt, die unabhängig vom tatsächlichen Ritualvollzug ist.319 (3) Rituelle Handlungen sind sequenzierte Handlungen. In ihrem Ablauf lassen sich einzelne, meist namentlich gekennzeichnete Sequenzen klar unterteilen, welche die Gesamthandlung strukturieren. Die dadurch entstehende Ordnung bietet zwar zugleich eine Möglichkeit der Orientierung, verdankt sich aber wiederum nicht der mit dem Ritual verbundenen Intention, sondern ist Resultat reiner Stipulation. Verbunden mit der Sequenzierung ist ein Wandel im Verhältnis zu Raum und Zeit, denn die einzelnen Handlungssequenzen folgen nicht mehr aufgrund kausaler Verknüpfungen aufeinander, sondern können wiederholt, in ihrer Reihenfolge verkehrt, ausgelassen, erweitert oder reduziert werden. (4) Schließlich zeichnen sich Rituale dadurch aus, dass sie apprehensibel sind, d. h. einen Prozess der Aneignung nicht nur ermöglichen, sondern häufig hervorrufen.320 Unter Apprehension verstehen Humphrey und Laidlaw die Möglichkeit, Ritualen Bedeutungen zuzuschreiben. Diese Zuschreibung, die nicht auf propositionale Gehalte beschränkt ist, stellt eine – wenn auch institutionell, kulturell oder sozial vermittelte – individuelle Leistung des rituellen Akteurs dar. Sie erklärt die Vieldeutigkeit bzw. Bedeutungsoffenheit. von Ritualen. Die Apprehensibilität resultiert aus der Tatsache, dass die vom Handelnden vorgefundenen, bereitliegende Handlung ihm ›äußerlich‹ ist, also nicht in vollem Umfang als ›seine Handlung‹ gilt. Rituelle Akteure handeln mit eingeschränkter Autorenschaft.
318 »[R]itualization has the effect of turning action into mimesis« (aaO., 104). 319 Humphrey und Laidlaw sprechen daher auch von »ontological stipulation« (aaO., 96). 320 Das Oxford English Dictionary umschreibt ›apprehensible‹ als »capable of being apprehended or grasped by the senses of intellect, liable to be felt emotionally«, es geht also im Grunde um einen Aneignungsprozess, bei dem Humphrey und Laidlaw zunächst die intellektuelle Komponente betonen.
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9.4.2 Die Gleichzeitigkeit von Autorschaft und Nicht-Autorschaft Bevor der Status der rituellen Handlung als stipulierte Handlung sowie die mit dem Ritualvollzug verbundenen kognitiven Prozesse näher dargestellt werden, muss die für die Selbst- wie Außenwahrnehmung ritueller Akteure zentrale Frage der Autorschaft erläutert werden. Für Humphrey und Laidlaw handelt es sich dabei wiederum um eine zentrale Aussage ihrer Theorie: »In ritual you both are and are not the author of your acts.«321 Bereits die These der Nicht-Intentionalität hatte nach der Autorschaft fragen lassen. Die doppelte Bestimmung ritueller Handlungen als zugleich intentional und nicht-intentional vor dem Hintergrund der Theorie Searles hatte diese Ambivalenz verdeutlicht. Die Frage der Autorschaft nimmt zudem Bezug auf ein geläufiges Vorurteil, demzufolge rituelles Handeln lediglich ein stumpfes Nachvollziehen vorgeschriebener Abläufe darstellt. Ritualakteure sind nicht im eigentlichen Sinne als ›Autoren‹ ihrer Handlungen zu bezeichnen, da rituelle Handlungen den Akteuren bereits vorgegeben sind und vorausgehen. Der Handelnde akzeptiert die vorgegebene, stipulierte Form und eignet sich diese nicht in Form eines kreativen Akts oder durch freies Ausprobieren an, sondern vor allem durch Nachahmung (Mimesis). Veränderungen am Ritual werden daher auch nicht mit Verweis auf individuelle Ansichten, Intentionen oder äußere Umstände vorgenommen, sondern bedürfen typischerweise zu ihrer Legitimation des Verweises auf die als ursprünglich vorgestellte – in der Terminologie von Humphrey und Laidlaw archetypische – Handlungsform. Ritualreformen treten daher stets in Form einer vermeintlichen Wiederherstellung dieser ursprünglichen Form auf. Der für die Veränderungen Verantwortliche präsentiert sich dabei als Vollzugsorgan einer Rückbesinnung auf das Ursprüngliche und eben nicht als Autor von Neuerungen.322 Damit bedeutet eine derartige Betonung des primordialen Charakters von Ritualen keineswegs zugleich ein Festschreiben ihrer Unveränderlichkeit, vielmehr werden die Regeln ritueller Dynamik beschrieben.323 Gleichzeitig aber ist rituelles Handeln anders zu bewerten als das mechanische Ausführen vorgegebener Handlungen durch einen Roboter. Spontane Veränderungen aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen wären dann genauso wenig erklärbar wie die mit dem Ritualvollzug verbundene Emotionalität. Vielmehr handelt der Akteur im Ritual als er selbst und trägt für sein Handeln die Verantwortung. Er entscheidet sich bewusst dafür, im Vollzug des 321 AaO., 99. Vgl. wiederum die Bestimmung bei Rappaport (s. o. Anm. 316). 322 Ein theologiegeschichtlich bekanntes Phänomen: Auch die CA verwahrt sich gegen den Vorwurf, Neuerungen eingeführt zu haben: »Dann das ist öffentlich, das wir mit höchstem vleis geweret haben, das nicht neue unchristliche lar bey uns geleret odder angenomen werden möcht« (BSELK, 222, H. RG). 323 Vgl. die Ausführungen zur Ritualkritik bei Ronald Grimes (s. o. 8.2.2).
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Rituals seine Handlung nicht durch seine primären Intentionen bestimmen zu lassen. Seine Handlung und »das Ritual« verschmelzen im Vollzug.324 Der Begriff der Aneignung bringt diesen Sachverhalt in seiner Dynamik zum Ausdruck: Das Ritual ist zunächst nichts Eigenes, wird aber zu einem solchen, ohne dabei seine ursprüngliche Andersheit zu verlieren. Damit zeigt sich bereits ein wichtiger Unterschied zumindest zum befehlsgehorsamen Handeln. Die Aneignung der rituellen Einstellung kann nur aufgrund eigener Motivation erfolgen. Dies bleibt auch ungeachtet der Tatsache, ob das Ritual in Ausübung einer sozialen Rolle vollzogen wird. Niemand kann gezwungen werden, ein Ritual als Ritual auszuführen, auch wenn dies aus der Beobachterperspektive zunächst nicht zu unterscheiden ist. Dass diese Aneignung dennoch einen nicht immer geradlinigen Prozess beinhaltet, bezeugt etwa das Auslassen bestimmter Teile des Rituals, die einen Bruch der rituellen Einstellung markieren.325 Aneignung umfasst somit Verinnerlichung wie auch individuellen Ausdruck und ist ein Geschehen, dessen Wirkung sich der Teilnehmer im Vollzug nicht vollständig entziehen kann. Die Handlungen liegen für die Handelnden als kulturelle Formen bereit, die sie sich aneignen können. Und zugleich ist diese Form der Aneignung erst möglich, weil bestimmte Handlungsformen, die sich in Ritualen finden, in ihnen bereits präsent sind im Sinne des ›embodiment‹ oder in Form überlieferter Kulturtechniken.326 Gleichwohl können Rituale als vorgegebene Handlungen auch in einem eher theatralen Handlungsmodus ausgeführt werden, der vornehmlich darauf abzielt, Beobachtern eine bestimmte Bedeutung zu kommunizieren, um etwa sich selbst in bestimmter Weise als fromm oder als rechtmäßiger Vertreter einer Gruppe etc. zu präsentieren.327 Die Autorschaft des Akteurs bezieht sich schließlich auch darauf, dass der Handelnde eine eigene Meinung bezüglich der Bedeutung der rituellen Handlung ausbildet. Dieses Nebeneinander von Autorschaft und Nicht-Autorschaft, dessen Balance für die rituelle Einstellung ebenso wichtig wie fragil ist, muss als einer der Gründe dafür gelten, dass nicht nur unter Jainas Rituale als ambivalent 324 Die Identifikation des Handelnden mit der Handlung beschreibt auch Roy Rappaport: Obvious Aspects, 192: »Without performance there is no ritual […] The point to be made here is that this relationship of the act of performance to that which is being performed – that it brings it into being – cannot help but specify as well the relationship of the performer to that which he is performing. […] He is participating in – becoming part of – the order to which his own body and breath give life«. 325 »We have seen this in the case of the Jain puja, where people choose which acts to perform and what meanings to give them. In Christian services we can see this when people who are taking part decide, for example, whether or not to say the words of some prayer with which they disagree« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 106). 326 Fallen also die durch die Kultur vermittelten Techniken und die für Ritualvollzüge nötigen Techniken auseinander, ist die Möglichkeit des Aneignungsprozesses gefährdet. 327 Die Handlungsform kann dabei gemäß der Nicht-Intentionalität aber nur geringfügig moduliert werden.
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empfunden werden. Wird die Autorschaft des jeweiligen Akteurs überbetont, verliert das Ritual seinen Charakter als stipulierte, archetypische Handlung. Dominiert hingegen allein das Moment streng mimetischen Ausführens einer vorgegebenen Handlung, droht die für den religiösen Glauben grundlegende Individualität wie auch die Verbindung von eigenem Handeln und Denken verloren zu gehen. Wie die weitere Darstellung zeigen wird, motivieren rituelle Handlungen qua ihrer Form jedoch genau diejenigen Aneignungsprozesse, die zu einer Vertiefung des Verständnisses des eigenen Glaubens wie auch zu intensiveren Formen der Partizipation führen.328 William Sax hat darauf hingewiesen, dass das die Behandlung ritueller Autorschaft bisher zu stark auf das jeweils handelnde Individuum fokussiert war. Sein entsprechender Einwand lautet daher: »[R]itual agents are often complex rather than individual, ritual agency is often distributed among multiple actors and institutions, and indigenous or ›emic‹ models often attribute ritual agency to non-human beings«329. Während Sax vor allem auch auf kollektive Vollzüge ritueller Handlungen abzielt, kann sein Einwand auch im Sinne der Theorie Humphreys und Laidlaws als Ineinandergreifen verschiedener Agenten (agents) gelesen werden. Dabei wird die Autorschaft (agency) immer wieder realisiert und zugleich aktualisiert. Genau dies beschreibt der Aneignungsprozess, welcher die Autorschaft ritueller Handlungen bei Humphreys und Laidlaw kennzeichnet.
9.5 Rituelle Handlungen als stipulierte, regelgeleitete und sequenzierte Handlungen Unter der Überschrift »Getting it right« stellen Humphrey und Laidlaw im 5. Kapitel eingehender dar, was Rituale als stipulierte Handlungen ausmacht und welcher Art die Regeln sind, die den Handlungsspielraum innerhalb des Rituals (der Puja) festlegen. Die Anweisungen zum Ablauf der Puja machen deutlich, dass es sich dabei um kein autoritatives Ritual handelt. Sowohl der Vollzug wie auch Diskussionen über das Ritual sind kaum von normativen Ansprüchen gekennzeichnet. Die Frage also, was den Ritualvollzug gültig oder korrekt macht, kann nicht mit bloßem Verweis auf autoritative Schriften oder Expertenmeinungen beantwortet werden. Zudem ist die Puja als vorwiegend privates Ritual keine theatrale Performance und ihre Festlegung dient daher weder der Identifikation für Beobachter noch müssen unmittelbar Partizipationsmöglichkeiten verschiedener Akteure bedacht werden. Es gilt also allein am Phänomen selbst nachzuvollziehen, auf welcher Ebene die Festlegung erfolgt. 328 Vgl. dazu besonders die Ausführungen zur rituellen Apprehension (9.9). 329 William S. Sax: Agency, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 473–481, 473.
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Dennoch dienen die Pläne stereotyper Abläufe von Einzelsequenzen in Form von Skripten oder gemäß liturgischer Terminologie Agenden als erster Ansatzpunkt, den stipulierten Charakter von Ritualen zu erfassen. Sie dienen als Grundlage für das Ausführen wie auch das Verstehen von Ritualen, insofern sie den Handlungsablauf und die damit verbundenen Handlungsregeln mehr oder weniger detailliert vorgeben. Dabei müssen diese Skripte nicht in schriftlich fixierter Form vorliegen. Entscheidend ist zunächst, dass alle Akteure grundsätzlich in der Lage sind, nach demselben Konzept oder Plan zu handeln. Dass Rituale im Gegensatz zu Alltagshandlunge skriptenbasierte sind, ist noch kein hinreichendes Kriterium, das Spezifikum der rituellen Vereinbarung zu kennzeichnen. Denn auch zahlreiche nicht-ritualisierte Handlungen basieren auf Skripten – man denke etwa an die Anweisungen zur Justage eines Lasers, denen ein Forscher allmorgendlich im Labor folgt. Zum anderen aber konnten Humphrey und Laidlaw im Fall der Puja feststellen, dass, auch wenn Skripte vorhanden waren und diese von den meisten Akteuren akzeptiert wurden, die tatsächlichen Handlungen gleichwohl voneinander abwichen. Zwischen dem meist sehr umfangreichen Handlungsablauf, wie die Gläubigen ihn auf Anfrage beschrieben, und ihrem eigenen Vollzug herrschten immer wieder große Unterschiede. Weiterhin wurden Pujas an verschiedenen Tempeln, durch verschiedene Gruppierungen, selbst von ein und derselben Person an unterschiedlichen Tagen unterschiedlich ausgeführt. Grundsätzlich lag dabei jeweils dasselbe Skript zugrunde. In keinem Fall jedoch waren die Handelnden oder die Beobachter, die diese Abweichung vom idealtypischen Ritualverlauf bewerten sollten, der Ansicht, damit nicht das Ritual vollzogen zu haben. Abweichungen in der Ordnung sowie die Auswahl lediglich einzelner Teilsequenzen tangieren also nicht die Gültigkeit des Rituals. Liegt die Ebene der Stipulation somit nicht auf der Ebene der Gesamtsequenz, muss ein anderer Weg gewählt werden, wenn die Abweichungen nicht als Defizienzgrade bewertet werden sollen.330
9.5.1 Konstitutive und regulative Regeln im Ritual Zunächst muss die Art der handlungsleitenden Regeln näher bestimmt werden. Humphrey und Laidlaw greifen an dieser Stelle wiederum auf Überlegungen John Searles zurück. Dieser hatte in Speech Acts auch die Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln eingeführt und diese Sprachregeln für das Gelingen von Sprechakten generell als konstitutiv 330 »We need to identify the kind of prescription which is not violated by this everyday variability« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 113). AaO., 130 verweisen die Autoren auf eine generelle Neigung von Ritualen zur Unordnung (»messiness of ritual«, mit Verweis auf Bell: Ritual Theory, 33–35).
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verstanden. Während konstitutive Regeln eine Praxis begründen und willkürlich sind (Spielregeln), begrenzen regulative Regeln die Handlungen innerhalb einer bereits bestehenden Praxis (Verkehrsregeln).331 Auch sprachlich schlägt sich dieser Unterschied nieder: Während regulative Regeln eher synthetischen Urteilen gleichen, die aus der Praxis nicht notwendig folgen, enthalten konstitutive Regeln vornehmlich analytische Wahrheiten, indem sie genau das ausführen, was der Begriff einer Handlung bereits zu implizieren scheint.332 Das Verletzen regulativer Regeln wird sanktioniert, die Praxis aber dennoch als gültig gewertet. Dabei ist es unerheblich, ob der Handelnde die Regeln überhaupt akzeptiert, da diese der bereits bestehenden Praxis nachgeordnet sind. Anders bei konstitutiven Regeln: Hier ist der Wille zum Einhalten der Regeln konstitutiv für die Praxis. Wer etwa das Pferd auf dem Schachbrett nicht mit der Absicht bewegt, dies den Regeln des Spiels gemäß zu tun, von dem wird man schwerlich behaupten können, er spiele überhaupt Schach. Und wer nicht bereit ist, sich bei Äußerungen konventioneller sprachlicher Formen und den mit ihnen verbundenen grammatischen Regeln zu bedienen, der wird nicht in der Lage sein, einen Sprechakt zu vollziehen. Der Wille, die Regeln einzuhalten, setzt die Akzeptanz der Regeln voraus. Ohne diese Akzeptanz fehlt das für den spezifischen Handlungstyp Konstitutive. Searle spricht auch von einer »counts-as-locution«333 um deutlich zu machen, wie die konstitutiven Regeln eine bestimmte Verhaltensweise transformieren, sodass sie von nun an als Handlung innerhalb eines institutionalisierten Rahmens gelten (»count«). Humphrey und Laidlaw verstehen – ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Erlernen der Puja – die im Ritual geltenden konstitutiven Regeln in analoger Weise: Nur ein der Absicht nach regelkonformes Handeln gilt überhaupt als Vollzug des Rituals: »We noticed in our own case that our tutor simply disregarded any action (and a lot of inaction) on our part which did not count as the realization of a constituent puja act. If we did something which was specifically disallowed, he drew this to our attention and showed us again how to get it right, but no remedial action was required. […] It was simply the case that when we had done the right thing we could move on to the 331 »[R]egulative rules regulate antecedently or independently existing forms of behavior; for example, many rules of etiquette […]. But constitutive rules do not merely regulate, they create or define new forms of behavior. The rules of football or chess, for example, […] create the very possibility of playing such games« (John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969, 33). 332 Vgl. aaO., 34. 333 Frank Hindriks: Constitutive Rules, Language, and Ontology, in: Erkenntnis 71 (2009), 253–275, 255. Searle formalisiert regulative Regeln in der Weise ›If Ydo X‹, konstitutive Regeln durch ›X counts as Y in [context] C‹ und verbindet dies mit dem Gedanken von kollektiver Akzeptanz, dass X (eine Tatsache/Handlung/Klänge etc. in der Welt) als Y akzeptiert wird, Y also ein institutionalisierter Fakt ist (aaO., 256). Damit rücken konstitutive Regeln in die Nähe dessen, was Humphrey und Laidlaw mit Rappaport als ›Akzeptanz‹ beschrieben haben (s. o. Anm. 300).
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next part. In a sense then, only when we got it right were we judged as having done anything« (116, H. RG). Die für das Ritual konstitutiven Regeln breiten also den Raum möglicher Handlungen aus und relativieren oder negieren zugleich andere Handlungen, die ihm Rahmen des Rituals stattfinden, in ihrer Relevanz für das Ritual – das Binden der Schnürsenkel während einer Prozession ist eben nicht Bestandteil des Rituals Prozession, nur weil es im Rahmen einer Prozession stattfindet. Die Unterscheidung zwischen rituell relevanten und irrelevanten Handlungen innerhalb eines Ritualganzen trägt zu einer wünschenswerten Vereinfachung von Ritualtheorien bei.334 Ist die Einstellung in Bezug auf die Regeln des Rituals konstitutiv, nämlich der Versuch, diese einzuhalten, können unbeabsichtigte Fehlhandlungen das Ritual nicht gefährden.335 Wird die für ein Ritual vorgeschriebene Handlung nicht unter dem Einfluss der rituellen Einstellung vollzogen, liegt überhaupt kein rituelles Handeln vor – etwa wenn ein Ritual in Form einer Parodie nachgespielt wird. Anders als bei einem auf Regeln basierenden Spiel, das im Blick auf ein zu erreichendes Ziel unternommen wird – grundsätzlich das Gewinnen –, ist das zeitweilige Suspendieren der Regeln zum eigenen Vorteil (= Mogelei) im Ritual keine sinnvolle Option. Rituelle Fehler im eigentlichen Sinn sind nur im Rahmen unwillentlicher Handlungen möglich (ein Gegenstand wird aus Versehen fallen gelassen etc.) oder weil der Handelnde in Unkenntnis bezüglich der Regeln oder unter falschen Annahmen das Ritual vollzieht, etwa Isaak, der dem zweitgeborenen Jakob den Erstgeburtssegen spendet. Ein ritueller Fehler kann also nur unter der Bedingung erfolgen, dass die Absicht besteht, die Regeln einzuhalten. Die genannten Beispiele deuten jedoch bereits an, dass die Unterscheidung der beiden Formen von Regeln einerseits nicht immer trennscharf ist, andererseits im Ritualverlauf häufig beide Formen von Regeln zum Tragen kommen. Auch für das Ritual bestehen regulative Regeln. Diese meist auf grundsätzliche Verhaltensweisen bezogenen Regeln besitzen meist auch außerhalb der Puja allgemein gesellschaftliche oder zumindest gruppenspezifische Geltung. Beispiel sind Reinheitsvorschriften oder Manieren. Aber auch Vorschriften bezüglich der Qualität der innerhalb des Rituals verwendeten Gegenstände fallen darunter. Das Verletzen dieser Regeln stellt den Charakter der Handlung als ritueller Handlung jedoch nicht in Frage. Auch wenn die Unterscheidung zweierlei Arten von Regeln bei Searle zahlreiche Probleme und Fragen aufwirft,336 können für den rituellen Kontext
334 Vgl. E. Thomas Lawson: Cognition, in: Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, 307–319, 310. 335 »Ritual is prescribed action, you have to get it right, and yet sometimes it seems that so long as you try, so long as you accept the ritual commitment, it is almost impossible to get it wrong« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 128). 336 Einen guten Überblick bietet Hindriks: Constitutive Rules, der die Tragfähigkeit der Unterscheidung generell in Frage stellt: »constitutive rules do not capture the essence of institutional
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hier als kurzes Zwischenfazit folgende Erkenntnisse gelten: Das Einnehmen der rituellen Haltung337 bedeutet in Bezug auf die für das Ritual stipulierten Regeln, diese Regeln zu akzeptieren und den Willen zu besitzen, ihnen gemäß zu handeln. Diese Einstellung ist für die Gültigkeit des Rituals wichtiger, als das Befolgen expliziter Formulare. Dies konnte am Beispiel ritueller Fehler verdeutlicht werden.338 Da die Akzeptanz der konstitutiven Regeln sowie ein diesbezüglicher sozialer Konsens das Ritual als soziale Tatsache etabliert, ist diese für das Bestehen des Rituals wichtiger als ein kollektives Verständnis oder eine von unterschiedlichen Akteuren geteilte Bedeutung. Mit dem Verweis auf das Spiel ist ebenfalls deutlich geworden, dass Ritualisierung nur eine Weise darstellt, mittels derer Handlungen innerhalb eines regulierten Rahmens einen veränderten Status erhalten.
9.5.2 Stipulierte Sequenzen als Grundelemente von Ritualen In der oben zitierten Passage erwähnen Humphrey und Laidlaw, dass ihnen nach Vollendung einer Handlung die Erlaubnis erteilt wurde, »[to] move on to the next part«. Damit soll nun die zuvor aufgeworfene Frage nach der Ebene der Stipulation beantwortet werden. Weder kommt dem durch ein Skript vorgegebenen Ablauf eine absolut bindende Kraft zu. Noch ist die permanente, exakte Einhaltung der Regeln Voraussetzung einer gültigen rituellen Handlung. Das »rule-bound universe«, in dem das Ritual seinen Ort hat, erreicht den höchsten Grad der Stipulation auf der Ebene der Einzelsequenzen.339 Rituelle Stipulation verdankt sich im Kern also nicht autoritärer Festlegung, sondern sozialer wie individueller Akzeptanz. Dass Rituale als stipulierte Handlungen beschrieben werden kennzeichnet rituelles als regelgeleitetes Handeln vorrangig im Sinn konstitutiver Regeln, wie Searle sie beschrieben hatte. Diese Regeln beziehen sich primär nicht auf Skripte für Ritualzusammenhänge, sondern auf die einzelnen rituellen Sequenzen. phenomena, that all rules are constitutive, and that the difference between constitutive rules and regulative rules, to which Searle contrasts them, is merely linguistic« (aaO., 254). 337 Ergänzend zur bisherigen Übersetzung der im Text synonym gebrauchten Begriffe »ritual stance« und »ritual commitment« (vgl. Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 88) mit ›ritueller Einstellung‹ muss vor dem Hintergrund des stipulierten Charakters von Ritualen in Verbindung mit dem Einhalten konstitutiver Regeln noch einmal der normative Charakter betont werden. Deutlicher wäre dies noch bei einer Übersetzung von »ritual commitment« mit »ritueller (Selbst)Verpflichtung« (s. o. Anm. 295). 338 Diese Einsicht ist für die Abgrenzung von Ritualen zu magischen Handlungen zentral. Die Gefahr der Verwechslung besteht immer dann, wenn die rigide Einhaltung der Regeln als primär für die Gültigkeit des Rituals betrachtet wird. 339 Vgl. aaO., 116. Im Fall der Puja umfassen solche Sequenzen auch Rezitationen, Prozessionen und Gesänge, sofern diese eine abgeschlossene Einheit bilden.
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Mit der Einsicht in die Sequenzierung von Ritualen lassen sich einige Präzisierungen vornehmen: 1. Es wurde behauptet, Rituale wären in ihrer Form unabhängig von der Intention. Dies trifft weniger stark auf die Gesamtsequenz zu als auf den einzelnen Akt. Besonders festliche Pujas können eine Festgottesdiensten vergleichbare Opulenz und Ausführlichkeit aufweisen. 2. Die sequenzielle Zusammensetzung von Riten aus zunächst eigenständigen Einzelhandlungen macht verständlich, warum rituelle Handlungen unterbrochen werden können, etwa für Diskussionen, Anweisungen oder Moderation, ohne dadurch unmittelbar gefährdet zu werden. Gleichwohl können die einzelnen Sequenzen aufeinander Bezug nehmen. Syntaktische und parataktische Struktur schließen sich also nicht notwendig aus. 3. Diese Sequenzierung ermöglicht es, innerhalb eines Ritualvollzugs ritualisierte und nicht-ritualisierte Teilsequenzen nebeneinander zu stellen, wobei Letztere bei Wiederholung ebenfalls einem Prozess zunehmender Ritualisierung unterworfen sind. 4. Die in sich abgeschlossenen Einzelsequenzen treten häufig als »RitualSchnipsel« (»snippet«, 124) auch außerhalb der rituellen Gesamtsequenz auf, z. B. eingebettet in alltägliche Handlungen. Dabei gelten auch verkürzte Teilvollzüge des Gesamtrituals noch als voll gültige Ritualsequenz. 5. Rituelle Teilsequenzen werden häufig wiederholt, ausgelassen oder umgestellt. Dennoch besteht innerhalb der meisten Rituale eine Grundstruktur, die zumindest Anfang und Ende umfasst und die Umkehrung mancher Sequenzen verbietet. So kann das Baden der Gottheit nicht nach ihrem Bekleiden erfolgen. Grund dafür ist aber nicht unmittelbar die rituelle Stipulation, sondern die Handlungslogik der zugrundeliegenden nicht-ritualisierten Handlung: »Rites of passage have three stages (separation, a liminal period, and reaggregation) not because they are rites of passage, but because they are rites of passage« (125). Als Folge der Ritualisierung wird die Bedeutung der Reihenfolge der Sequenzen relativiert und reduziert, da die Handlung nicht mehr primär nach zweckrationalen Überlegungen strukturiert ist. Die Freiheit, die innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft oder Religion in Bezug auf die Anordnung innerhalb des Rahmens existiert, ist nicht zuletzt abhängig vom Grad der autoritativen Orchestrierung durch eine Priesterkaste oder andere Autoritäten. Humphrey und Laidlaw zeigen dies im Vergleich der jainistischen mit der hinduistischen Puja. 6. Der Zugriff auf Ritualsequenzen erfolgt häufig selektiv, eklektisch und damit kreativ. Neugruppierungen und Neukontextualisierung von Ritualen sind zugleich Beispiele der erörterten Ritualdynamik und werden unter dem Stichwort ›Ritualdesign‹ verhandelt.
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9.6 Rituelle Kognition Im Anschluss an das sechste Kapitel (»Apprehension and Cognition«) soll nun erklärt werden, welche kognitiven Prozesse den Umgang mit dem Ritual bzw. der rituellen Einzelsequenz näherhin kennzeichnen. In einem ersten Schritt wird der Prozess des Erlernens von Ritualen erläutert, der wiederum eingebettet ist in den komplexeren Gesamtprozess der Aneignung. Dabei ist zwischen praktisch-handlungsleitendem und theoretisch-diskursivem Wissen zu unterscheiden. In einem zweiten Schritt ist zu zeigen, wie die Aneignung zu einer komplexen Repräsentation der Rituale bei den Handelnden führt, wie also der Übergang vom mimetischen Handeln zur Orientierung an sogenannten Prototypen vollzogen wird. Auch die Kategorie des Archetyps ist in diesem Zusammenhang näher zu bestimmen.
9.6.1 Rituelles Lernen – Rituelles Wissen Die rituelle Einstellung kann auch als Serie mentaler Operationen beschrieben werden, welche die Wahrnehmung einer Handlung unmittelbar und wirksam verändern, ohne auf bestimmten propositionalen Überzeugungen gegenüber dieser Handlung zu gründen. Es handelt sich also um eine Form von »performativem Denken« (136). Eine dieser Operationen, die Selbstverpflichtung, sich den konstitutiven Regeln gemäß zu verhalten, wurde bereits bei der Behandlung der Stipulation dargestellt. Auch hierbei war die Einsicht zentral, dass es nicht darauf ankommt, die Regeln für ›richtig‹ zu halten, sondern sich faktisch von ihnen leiten zu lassen. Ausgangspunkt dieses performativen Denkens ist also nicht etwa eine theoretische Einsicht, sondern selbst ein Handeln, nämlich die einfache Form der Nachahmung einer vorgegebenen Handlung. Damit rücken der Körper und sein Handlungsvermögen ins Zentrum von Ritual und rituellem Lernen. Marcel Mauss hat den Begriff der ›Körpertechniken‹ eingeführt, um das menschliche Bewegungsrepertoire innerhalb von Gesellschaft zu erfassen.340 Dieses ermöglicht und begrenzt zugleich rituelles Handeln. Die Art und Weise, wie Menschen sich innerhalb eines Rituals bewegen (können), ist also weniger dem Ritual selbst geschuldet, als vielmehr der Kultur in der dieses vollzogen wird. Dies erinnert an die Erörterungen zur Frage der bedingten Autorschaft. 340 »[D]ie Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen« (Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie. Bd. 2 Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person, München 1975, 199, zitiert bei Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 134). Humphrey und Laidlaw sprechen in diesem Zusammenhang davon, was Durkheim ›soziale Gegebenheiten‹ nannte, insofern die Handlungen nicht nur zum individuellen Repertoire gehören, sondern einer Gesellschaft eigen sind.
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Rituale werden als körperliche Handlungen vom Akteur zwar selbst produziert, sind ihm aber zugleich vorgegeben, sie sind seine unmittelbar eigenen Handlungen, denen zugleich eine objektive kulturelle Dimension eingeschrieben ist. Doch auch innerhalb eines spezifischen rituellen Kontextes lassen die Handlungen die jeweiligen Körpertechniken erkennen.341 Die Unmittelbarkeit des körperlichen Vollzugs ist mitverantwortlich für die besondere Form des Engagements und der inneren Beteiligung im Ritual. Resultat dieses ersten, mimetischen Lernschrittes ist die Aufnahme der Handlung in das eigene Handlungsrepertoire.342 Die Handlung liegt für den Einzelnen dann bereit, insofern er in der Lage ist, sie in ihren einzelnen Abschnitten zu reproduzieren. Bei wiederholter Ausführung wird sie so mehr und mehr zu einem ›natürlichen Akt‹. Im Ritual dominiert also zunächst ein praktisches Wissen oder auch ›knowledge-how‹. Das Wissen um die konstitutiven Regeln kann zunächst implizit bleiben. Geht also der körperliche Nachvollzug jedem diskursiven Verständnis voraus, ist damit zugleich behauptet, dass das Sprechen über Rituale und die Fähigkeit, diesbezügliche Bedeutungen kommunizieren zu können, keine Voraussetzung für deren Vollzug sind. Insofern können die Einsichten von Humphrey und Laidlaw auch als später Nachtrag zur Mythos-Ritus-Debatte verstanden werden.343 Deutlicher noch wird dies in Bezug auf die von Gilbert Ryle eingeführte Unterscheidung von ›knowledge-how‹ und ›knowledge-that‹, von praktischem, handlungsleitendem Wissen auf der einen und theoretischem Wissen auf der anderen Seite. Die für den Ritualvollzug notwendigen Voraussetzungen sind zwar praktischer Natur. Indem Humphrey und Laidlaw diese jedoch mit der Kategorie ›knowledge-how‹ versehen, ist zugleich ausgesagt, dass rituelles Handeln immer schon eine kognitive Komponente besitzt und niemals »bloßes Handeln« ist – auch ›knowledge-how‹ stellt eine legitime Form von ›knowledge‹ dar.344 Andererseits vertreten sie damit eine
341 Humphrey und Laidlaw verdeutlichen dies an der Art und Weise, wie Jainas die Blumen auf der Statue verteilen, die sich von einer europäischen Weise etwa in der spezifischen Fingerhaltung unterscheidet. Der Hinweis auf die technischen Voraussetzungen zur Ausführung des Rituals kann als weitere Kritik an der Ritualdefinition Turners verstanden werden, der zufolge rituelle Handlungen sich gerade von »technical routine« unterscheiden (vgl. o. S. 344). 342 »[T]he act to be performed is not just in store for us, it is also in store in us« (aaO., 260, H. RG). 343 »This is why we rejected the idea that discursive models of the puja are in any sense ontologically prior, that they underlie or explain what actually happens« (aaO., 141). 344 Deshalb halten Humphrey und Laidlaw anders als Catherine Bell auch am Handlungsbegriff (action) fest. Bell hatte aufgrund der innerhalb der Ritualtheorie immer noch bestehenden Unterscheidung und Dichotomie von Denken und Handeln und damit der Abwertung des Handlungsbegriffs als vorreflexiv und nonkognitiv diesen zugunsten des Praxis-Begriffs aufgegeben (s. o. 8.3.2). Auch mit der Verbindung von rituellem Handeln und einer diesem stets zugrundeliegenden Intention stellen bei Humphrey und Laidlaw die konstitutive kognitive Dimension im Ritual heraus.
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anti-intellektualistische Position.345 Darunter ist in diesem Zusammenhang die Annahme zu verstehen, dass das ›knowledge-how‹ nicht auf ein ›knowledge-that‹ zurückgeführt werden kann, dass also die Fähigkeit, etwas zu tun, bzw. die Disposition, der zufolge Handlungsversuche grundsätzlich zum Erfolg führen, nicht aufgelöst werden kann in den Besitz von Propositionen über die Welt. Zwar sind Umwandlungsprozesse von nicht-linguistischem, praktischem Wissen in Sprache und umgekehrt möglich, doch verändert das Wissen dabei jedes Mal seinen Charakter, etwa bezüglich der bereits erwähnten Emotionalität.
9.6.2 Mentale Repräsentationen – Namen – Prototypen Humphrey und Laidlaw zufolge wandelt sich rituelles Handeln bei stetig wiederholter Durchführung vom Kopieren der erlernten Handlung zur Mimesis einer als ursprünglich vorgestellten Handlung, die sich mehr und mehr von der anfänglichen Lernsituation und der Verbindung zum Lehrer löst. Gleichzeitig entstehen ein zunehmend komplexeres mentales Bild bzw. eine individuelle Repräsentation der Handlung, ohne deshalb diese bereits mit individueller Bedeutung versehen zu müssen. Diese ist zu unterscheiden von einem narrativen Bericht über Form und Ablauf der rituellen Handlungen, in welchem hauptsächlich kollektive Repräsentationen eine Rolle spielen. Zum Verständnis dieser Unterscheidung greifen Humphrey und Laidlaw auf John Gatewood und dessen Studie zur professionellen Fischerei zurück. Gatewood hatte das Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Repräsentationen für den Fall komplexer körperlicher Tätigkeiten untersucht, die in einer Gruppe ausgeführt werden.346 Dabei konnte er zeigen, dass beide Formen je unterschiedliche Gehalte besitzen. Individuelle kognitive Organisationsformen müssen also nicht nur internalisierte kollektive kognitive Gehalte darstellen. Auch um eine Zusammenarbeit zwischen mehreren Handelnden zu ermöglichen, ist es nicht notwendig, dass beide identisch sind. Vielmehr erfüllen sie je unterschiedliche Funktionen. Individuelle Repräsentationen dienen der individuellen Arbeitseinteilung und der internen Organisation und erfolgen unter Gesichtspunkten wie Effizienz oder Aufmerksamkeitslevel. Sie reflektieren die Arbeitserfahrungen des Einzelnen und resultieren u. a. in der individuellen Unterteilung von Handlungsabläufen in unterschiedliche Phasen. Kollektive Repräsentationen hingegen, die sich etwa in der Bezeichnung einzelner Handlungen mit allgemeinen Fachbegriffen ausdrücken und den kollektiven Ablauf strukturieren, haben ihre Bedeutung vor allem im Rahmen der Kommunikation. 345 Vgl. Jeremy Fantl: Art. Knowledge How, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2014 Edition). 346 Vgl. Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 139–142.
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Worin bestehen nun Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede im Verhältnis zwischen den von Gatewood beschriebenen körperlichen Handlungsformen der Alltagsroutine und ritualisierten Handlungen? Auch im Fall von Ritualen konnte ein großer Teil der Ritualakteure einen narrativen Bericht darüber geben, wie eine Puja zu vollziehen ist. Die Berichte unterschiedlicher Personen glichen sich dabei in erstaunlicher Weise und können als kollektive Repräsentationen verstanden werden. Die tatsächlich vollzogenen Rituale entsprachen diesen Berichten jedoch nur bedingt. Vielmehr präsentierten sie sich als individuelle Zusammensetzung einzelner Segmente in Form von Wiederholungen, Kürzungen und Umstellungen. Diese Möglichkeit war bereits im Zusammenhang der Stipulation erwähnt worden.347 Die einzelnen Segmente haben für die Akteure laut ihren Schilderungen jeweils eine eigene emotionale Färbung. Wichtiger Unterschied im Verhältnis zu nicht-ritualisierten Handlungen ist die Tatsache, dass die Segmentierung bzw. Sequenzierung nicht individuell erfolgt, sondern sozial stipuliert ist. Die einzelnen Sequenzen sind also vorgegeben. Deshalb können die Segmente zwar wiederholt und verschoben, aber nicht einfach ›aufgebrochen‹ und verändert werden. Humphrey und Laidlaw erklären dies mit einem gesteigerten Bewusstsein vom Ganzen eines jeweiligen Handlungssegments, das sich auch in einer Art sinnlichem und kognitivem Filter äußert, der alles, was nicht zur rituellen Handlung gehört, nicht nur ignoriert, sondern ihm auch entgegengewirkt und es unterdrückt. Die von Gatewoods eingeführte Unterscheidung zeigt hinsichtlich des Ritualvollzugs auch, dass individuelle Repräsentationen für den Vollzug grundlegender sind als kollektive, man also das Ritual nicht erklären können muss, um es selbst zu vollziehen. Grundlage des Bewusstseins diskreter Handlungssequenzen und zugleich die erste Form der Verbindung von praktischem mit theoretischem Wissen ist der spezifische Name oder Begriff einer Handlungssequenz. Dieser wird häufig mit der Vermittlung der körperlichen Handlung tradiert. Die Namensgebung wie die Verwendung der Namen als Begriffe dienen dabei wiederum einer doppelten Funktion: Der Name ermöglicht eine Abgrenzung der einzelnen Handlungen innerhalb des Rituals und hat damit eine Orientierungsfunktion. Sodann generiert die Ausbildung spezifischer Namen für Handlungen und Dinge im Sinne einer Fachsprache die Unterscheidung einer rituellen Handlung gegenüber der ihr zugrundeliegenden nicht-ritualisierten Handlung. Das Reinigen einer Statue mag nicht unmittelbar nicht als hygienische, sondern als rituelle Handlung lesbar sein, doch die Bezeichnung mit einem eigenen Namen kommuniziert das ›Mehr‹ und ›Andere‹ des Rituals nach außen sowie die Regeln für den Vollzug der Handlung nach innen.
347 »Actual puja sequences were not defective forms of the narrated model, but more like a reshuffling of the pack of ritual acts« (aaO., 140).
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Die Bezeichnung einer Handlung mit einem bestimmten Namen oder Begriff kann ferner auch Teil des Prozesses sein, der über die Mimesis einer als ursprünglich vorgestellten Handlung zur Ausbildung eines mentalen, handlungsleitenden Konzepts führt, welches Humphrey und Laidlaw als Prototyp bezeichnen. Dieser Begriff ist zunächst durch seine Opposition zum Begriff der Definition bestimmt. Definitionen arbeiten mit einem festen Bestandteil von notwendigen und hinreichenden Eigenschaften, die eine Sache als solche erkennbar und bestimmbar machen. Prototypen hingegen gleichen vielmehr repräsentativen Mustern oder typischen Vorkommnissen, die mit bestimmten Standardwerten versehen sind, die im Sinne erwartbarer Eigenschaften funktionieren. Mit »X ist Y, genau dann wenn …« lassen sich Prototypen eher formalisieren als durch den Satz »X ist Y, wenn typischerweise die Eigenschaften a und b auf sie zutreffen«. Die Eigenschaften werden also nicht nur aufgelistet, sondern auch in Bezug auf ihre Erwartbarkeit und Bedeutung hierarchisiert. Die Rede von Prototypen als Form mentaler Repräsentationen ermöglicht es, auch die vom (vollständigen) Skript abweichenden Ritualvollzüge als gültiges Ritual zu deuten. Die damit verbundene Unschärfe der Begriffsbestimmung trifft generell auf Phänomene der Alltagskultur zu, aber auch auf verwandte Begriffe, wie etwa den der Religion.348 Bis zu diesem Punkt gleichen sich ritualisierte und nicht ritualisierte Handlungen. Der entscheidende Unterschied von Prototypen ritualisierter Handlungen liegt nun darin, dass die Zuordnung einer Handlung zu einem Prototyp bei Alltagshandlungen aufgrund von Erfahrungsurteilen erfolgt, die den aktuellen Kontext in Verbindung mit vorangegangenen Realisierungen bringen. Dies ist beim Ritual, so die These von Humphrey und Laidlaw, nicht möglich: »the prototype does not, as is the case with everyday acts, enable people to confidently categorize observed actions by matching them against the range of prototypes they know« (144). Während im Alltag die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand noch als Tisch zählt, aufgrund der Verwendbarkeit entschieden wird, lassen sich derartige Fragen gerade im Fall sogenannter liturgie-zentrierter Rituale nicht entscheiden. Pragmatik ist hier kein Argument bei der Frage, ob etwas als Puja, Confiteor oder Fürbitte zählt. Ob eine Handlung noch als Token dieses Prototyps gilt, kann nicht letztgültig entschieden werden.349 Auch der Kontext oder der Anlass für ein Ritual hilft kaum 348 Roland Mischung: Religionsethnologie, in: Beer/Fischer (Hg.): Ethnologie, 213–236, 216 spricht von einem »unausgesprochenen Konsens«, dass Fachtermini aufgrund ihrer offenen Bestimmung nach der Logik der Prototypen funktionieren. Er verweist dabei Benson Saler, der gar von einem »prototype approach« innerhalb der Religionswissenschaften spricht. 349 Zusammenfassend: »So while ritual acts cannot be defined in terms of necessary and sufficient conditions, neither does the idea of a prototype quite capture all the characteristics of the cognition of ritual acts« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 150). Humphrey und Laidlaw beziehen sich dabei auf eine spezielle Form von Puja, die sich von anderen Formen stark unterscheidet und ohne entsprechendes Wissen nicht für eine Puja gehalten wird. Im christlichen Kontext könnte man hier an den Wandel bzw. die verschiedenen Formen der Taufe
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weiter, dass diese auf die Form nicht unmittelbar Einfluss haben. Humphrey und Laidlaw sprechen von einem »decontextualizing context« (145). Um das Verständnis ritueller Kognition in Bezug auf die Kategorie des Prototyps zu plausibilisieren, greifen Humphrey und Laidlaw auf die Unterscheidung zwischen Prototypen natürlicher Arten und Prototypen von Artefakten zurück. Letztere verdanken sich in erster Linie Funktion, Gebrauch und Zweck eines Gegenstandes. Für Prototypen natürlicher Arten hingegen gilt, »[they] do not refer to use or function (we would scarcely worry about ›fool’s gold‹ if they did) but to more or less superficial observable features. They are designed to pick out a ›stuff‹ the true nature of which, although not securely known at least to most of us, is presumed to be an objective fact« (152). Prototypen natürlicher Arten wie Gold oder Wasser greifen also ein Objekt der Welt heraus, das mehr oder weniger genau beobachtbare Charakteristika aufweist. Die genaue Natur bzw. das Wesen der Sache lässt sich aber nicht mit Sicherheit bestimmen. Trotz der Unsicherheit bezüglich der wesentlichen Eigenschaften ist es möglich, erfolgreich auf den Gegenstand – und wirklich auf ihn, nicht auf ein bestimmtes Bild von diesem Gegenstand – zu referieren, denn es ist nicht die Beschreibung, welche die Sache definiert. ›An sich‹ steht also a priori fest, was eine Puja ist, doch die Akteure können sich dem Prototyp nur annähern. Wiederum ist ein Seitenblick auf das dahinterstehende philosophische Konzept sinnvoll. Saul Kripke und Hilary Putnam bei Eigennamen und natürlichen Arten von Prototypen.350 Putnam hatte in Bezug auf Eigennamen eine sogenannte kausale Referenztheorie entwickelt, der zufolge Bedeutungen von Eigennamen nicht einfach »im Kopf« sind, sondern auf einen Gegenstand in der Welt referieren. Ursprung dieser Referenz ist ein sogenannter Taufakt, der ein für alle Mal festlegt, welches Objekt (Gold) mithilfe des Eigennamens (›Gold‹) aus der Welt herausgegriffen wird. Spätere Verwendungen des Namens stehen in einer Kausalkette mit diesem ursprünglichen Taufakt. In diesem Sinne bezeichnet Kripke Eigennamen als rigide Designatoren. Über die Eigenschaften einer Person kann man sich also täuschen und dennoch mit der Verwendung des Namens exakt auf diese Person referieren. Bezeichnungen für natürliche Arten funktionieren nach Kripke und Putnam nun genau wie Eigennamen, insofern sie unabhängig von der Erkenntnis der sie betreffenden Eigenschaften jeweils denselben Stoff herausgreifen – und zwar in allen möglichen Welten. Welche Eigenschaften auf den mit einer Artbedenken: Wer Flusstaufen Erwachsener beobachtet, würde nicht ohne Weiteres das bloße Bestreichen des Kopfes eines Säuglings mit einer angefeuchteten Hand für ein Ritual mit derselben Bezeichnung halten. 350 Vgl. Saul A. Kripke: Naming and Necessity, Oxford 1981; Hilary Putnam: The meaning of ›meaning‹, in: Ders.: Mind, Language and Reality. Philosophical Papers, Vol. 2, Cambridge u. a. 1975, 215–271.
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zeichnung gekennzeichneten Stoff in Wahrheit zutreffen, kann nur empirisch, also a posteriori herausgefunden werden – und doch notwendig wahr sein, wie Putnam gegen Kant betont, der Notwendigkeit nur apriorischen Wahrheiten zuschreibt. Nicht eine Definition, sondern ›die Welt‹ legt fest, welche Eigenschaften eine natürliche Art auszeichnen. Die Einsichten Kripkes und Putnams sind auf dem Schnittfeld von Metaphysik und Sprachphilosophie angesiedelt und genau dort wollen Humphrey und Laidlaw dem Verhalten und den Kognitionen gegenüber Ritualen auf die Spur kommen. In ihrer Theorie geht es aber nicht, wie noch einmal betont werden muss, um metaphysische Aussagen über das ›Wesen‹ von Ritualen, sondern um eine geeignete Form, den Umgang mit Ritualen in Bezug auf den ihnen zugrundeliegenden Handlungstypus analytisch zu erfassen. Obwohl Rituale sich sozialer Stipulation verdanken und damit als Artefakte gelten, ist der Umgang mit ihnen jedoch vergleichbar dem mit Prototypen natürlicher Arten. Rituale werden somit als Handlungen verstanden, deren spezifischer Name auf den Prototyp einer Handlung referiert, sodass der Handlung eine objekthafte Qualität zuzukommen scheint. Worin die essentiellen Eigenschaften dieser Handlung genau bestehen und welche Handlungsmomente zum unverzichtbaren Kern gehören, verdankt sich sozialer Stipulation, aber auch der Aushandlung, und kann daher nicht abschließend bestimmt werden. Rituelle Formen wandeln sich. Daraus resultieren immer wieder Konflikte über die korrekte Ausführung des Rituals, die ihren Ausgang häufig von der Frage nehmen, ob eine bestimmte Ausführungsform noch mit dem spezifischen rituellen Namen oder Begriff bezeichnet werden darf. Grund für diese Verhandlungen bzw. Legitimationsstrategien ist die von Humphrey und Laidlaw beschriebene Tatsache, dass Namen keine Definition, sondern einen Prototyp vertreten, dessen inhaltliche Festlegung nicht mit abschließender Gewissheit erfolgen kann. Auch die Frage: »Have we got it right?« nimmt jeweils auf die Zuordnung zu einem bestimmten, namentlich bezeichneten Ritual Bezug. Häufig wird die Beantwortung dieser Fragen Ritualexperten überlassen.351 Das genaue Wissen, welche Kennzeichen für die Handlung wesentlich sind, ist jedoch nicht notwendig, um auf die Handlung zu referieren oder sie auszuführen. Typisch für den Umgang mit natürlichen Arten wie auch mit den von Humphrey und Laidlaw bestimmten Prototypen ist eine Form von ›Arbeitsteilung‹, welche es (Ritual-)Experten überlässt, dieses Wissen zu erwerben und zu verwalten. Um zu wissen, was Gold ist, muss man nicht die mo351 Am Beispiel der Jainas wird anschaulich, dass rituelles Handeln nicht per se und unmittelbar autoritär geleitetes bzw. Autoritäten verpflichtetes Handeln sein muss und gleichzeitig religiöse Eliten und Experten anerkannt werden können. Dieses Nebeneinander der Akzeptanz vorgeschriebener Handlung und der Unabhängigkeit gegenüber offiziellen Deutungen zeigt ferner, dass Rituale auch dann vollzogen werden, wenn für den Handelnden nicht unmittelbar einsichtig ist, was zum Kern einer rituellen Handlung gehört und worin ihre Bedeutung besteht, wenn also der Prozess der Apprehension noch nicht vertiefend stattgefunden hat.
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lekularen Strukturen verstanden haben. Sollten jene Experten zur Entscheidung kommen, Veränderungen an der Ritualform durchzuführen, ist dies vergleichbar mit einer Korrektur der einer natürlichen Art zukommenden Eigenschaften. In diesem Fall tritt der stipulierte Charakter dieser bisherigen Bestimmungen zurück und die aktualisierte Form kann als notwendige Wahrheiten (a posteriori) angesehen werden, d. h. als der ›eigentlich‹ korrekte Vollzug. Gleichwohl ist Ritualen als sozialen Institutionen eigen, dass es zur Durchsetzung dieser Ansprüche einer sie vermittelnden Instanz bedarf. Darin sind jedoch soziale Tatsachen kaum von wissenschaftlichen Erkenntnissen unterschieden. Den objekthaften Charakter ritueller Handlungen beschreiben Humphrey und Laidlaw auch als »eigentümliche Faktizität« und »einigermaßen mysteriösen Charakter«. Damit soll die im Letzten bestehende Unzugänglichkeit wie auch die Unabhängigkeit der Handlung von den Gedanken und Intentionen der Handelnden ausgedrückt werden. Für die Charakterisierung des ›rituellen Stands‹ folgt daraus: Unter ritueller Einstellung Handeln bedeutet, mit einer Handlung wie mit einer natürlichen Art umgehen, sie also gegenüber dem eigenen Handeln ontologisch wie chronologisch als primär zu betrachten.
9.6.3 Archetypische Handlungen und Formalisierung In der bereits zitierten Passage vergleichen Humphrey und Laidlaw Rituale mit natürlichen Stoffen wie Gold. In diesem Zusammenhang verwenden sie auch den Begriff des ›Elementaren‹, um die rituelle Kognition zu beschreiben. Rituale, genauer: rituelle Einzelhandlungen, lassen sich demzufolge in der Kognition der Akteure nicht auf andere, auch nicht die ihnen zugrundeliegenden alltäglichen Handlungen zurückführen. Sie bilden eine eigene, klar abgrenzbare und von anderen selbst sich unterscheidende Handlungsform. Synonym zur Rede vom Elementaren sprechen Humphrey und Laidlaw von Ritualen auch als von ›archetypischen‹ Handlungen. Damit greifen sie auf einen Begriff zurück, der bereits bei Ronald Grimes auftaucht. Grimes spricht gleichermaßen von »archetypal«, »fundamental«, »paradigmatic« und »formative«, um den idiosynkratischen Charakter der für ihn im Prozess der Ritualisierung zentralen Gebärden zu beschreiben. Dieser Begriff des Archetypischen, der bereits im Titel auftaucht, soll nun erörtert werden. Zunächst ist mit dieser Bezeichnung noch einmal die grundsätzliche Trennung zwischen alltäglichen und ritualisierten Handlungen verdeutlicht.352 Ritualisierung entzieht eine Handlung zweckrationalen Zusammenhängen, was auch die Kennzeichnung durch einen eigenen Namen verdeutlicht. Auch hier geht es darum, die Kognition in Bezug auf ein Ritual zu veranschaulichen. 352 »Ritualization creates a different form of knowledge: a different way of thinking about, and a different way of organizing acts« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 150).
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Jungs Bestimmung des Begriffs des Archetypischen als einer Grundstruktur des kollektiven Unbewussten spielt hier keine Rolle. Die metaphorische Redeweise, in der Humphrey und Laidlaw den Begriff verwenden, steht nichtsdestoweniger in der Gefahr, missverstanden zu werden, da der Eindruck entstehen könnte, es handle sich um eine ontologische oder ontologisierende Redeweise, welche die historische Bedingtheit von Ritualen ausblendet. Gleichwohl liegt Humphrey und Laidlaw zufolge genau hierin die eigentümliche Kraft von Ritualen, nämlich »the sense that in doing it one is doing more than one seems« (101). Die Bezeichnung ritueller Handlungen als ›archetypisch‹ ist bezogen auf das Bewusstsein der Handelnden. Diese verstehen die Einzelhandlung nicht isoliert, sondern als Token eines bestimmten Handlungstyps, nämlich des Arche-Typs der Handlung. Dieser kann zwar einen historischen Ursprung besitzen und mit einer Begründungserzählung oder einem Mythos verbunden sein, die Rückführung auf eine historische Grundlegung ist aber nur bedingt möglich. Im historischen Rückblick begegnet vielmehr ein Sprung zwischen der ursprünglichen, nicht-ritualisierten Praxis und ihrer späteren ritualisierten Gestalt.353 Für den Umgang mit Ritualen spielt die Einsicht in historische Veränderungen der rituellen Form und ihre zeitliche Bedingtheit nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wird die Bezeichnung als unmittelbar auf immer denselben Handlungstypus referierend vorgestellt, der eine »geheiligte Tradition« (12) darstellt, die ihren Ursprung im Unbestimmten, Präexistenzen hat.354 Die Präsenz oder Dringlichkeit der Frage nach dem Ursprung ist damit jedoch nicht geleugnet. Sie ist ebenfalls typisch für den Umgang mit Ritualen, gilt es doch, sich der archetypischen Handlungsform mehr und mehr anzunähern. Hieraus ergibt sich eine Spannung, die für rituelle Handlungen charakteristisch ist: Angestrebt wird ein Rückgriff auf die ursprüngliche Praxis, die streng historisch jedoch rekonstruiert werden kann, weil der Übergang zwischen nicht-ritueller Praxis und ritualisierter Handlung kein isolierbares historisches Datum darstellt. Rituale als archetypische Handlungsformen zu beschreiben bedeutet nicht, eine Variabilität der Handlung auszuschließen. Vielmehr resultiert gerade aus der Form der Tradierung, die ihren Ausgang von mimetischen Handlungen 353 Damit übernehmen Humphrey und Laidlaw zumindest den Aspekt der Geschichtslosigkeit der Archetypen von Jung. Die Autoren verweisen auch hier auf die Genese der Eucharistiefeier, die nicht nur schon an ihrem Ursprung, dem letzten Mahl Jesu, auf bereits ritualisierte jüdische Handlungsformen zurückgreift. Auch die eucharistische Theologie des Paulus wurde als Deutung eines bereits bestehenden Rituals verstanden – unabhängig davon, ob diese Praxis erst mit Paulus eine verstärkte Ritualisierung erfuhr (vgl. aaO., 155 f.). 354 Zusammenfassend beschreiben Humphrey und Laidlaw mit dieser Handlungsqualität »the fact that to those who perform them these actions can seem not to be the outcome of what they do so much as a pre-existing, indeed often eternal and archetypal entity, which they somehow aim at replicating, or achieving, or entering into« (Laidlaw/Humphrey: Action, 278).
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nimmt, dass innerhalb einer Familie oder Gruppe eine große Variationsbreite entsteht. Gleichwohl ist jeder Akteur der Ansicht, sich in der richtigen Weise auf denselben archetypischen Akt zu beziehen und diesen zu vollziehen. Damit kann auch die im Zusammenhang mit der Frage nach ritueller Autorschaft erwähnte Rede von der Externalität ritueller Handlungen, ihr Voraus- und Bereitliegen, um einen weiteren Aspekt ergänzt werden: die Handlungen als Instanziierung eines archetypischen Handlungstyps werden als ontologisch wie auch historisch primär gegenüber der jeweiligen Ritualaufführung verstanden und sind damit einem absoluten Zugriff entzogen. Diese Entzogenheit und Abgrenzung gegenüber freien Handlungsformen resultieren nicht zuletzt in der Formalisierung und Stilisierung von Ritualen. Diese in zahlreichen Ritualtheorien zentralen Begriffe thematisieren ebenfalls den Kontrast, in welchem Rituale gegenüber informellem, spontanem oder routiniertem Handeln im Alltag stehen. Die Formalisierung ist Ausdruck des ambivalenten Verhältnisses von Autor- und Nicht-Autorschaft. Einerseits ist die Ausdrucksmöglichkeit beim Handeln begrenzt, andererseits kommt der Wahl einer bestimmten Form eine größere Bedeutung zu.355 Die Minderung an individueller Gestalt wie auch die Lösung aus dem ursprünglichen Handlungszusammenhang beschreiben Humphrey und Laidlaw auch als »distancing effect«. Dadurch verliert die Handlung ihre unmittelbare Lesbarkeit von außen: Das Benetzen einer Statue mit kleinen Mengen von Wasser kann nicht ohne Weiteres als ein Reinigungsakt verstanden werden, dessen stilisierte Form dabei vorliegt. Für Humphrey und Laidlaw eröffnet diese Distanzierung der Handlung aus dem zweckrationalen Kontext die Möglichkeit zur Reflexion – einer Möglichkeit wohlgemerkt, die nicht wahrgenommen werden muss. Menschen verfolgen unterschiedlichste Ziele durch Rituale, sie können nicht einfach als ›unpraktisch‹ bezeichnet werden. Aber erst die Tatsache, dass im Ritual keine unmittelbare Zweckrelation mehr vorliegt, schafft den für Deutungsmöglichkeiten nötigen Raum, der alltäglichem Handeln fehlt: »The possibility of reflection is not a monopoly of ritual action, of course, but we would argue that in everyday life, in the flurry of purposive activity, it is often in abeyance, whereas the ritual commitment, which requires that acts be seen as ›given‹, and which eliminates unreflective intention, may well provoke it« (103).356 355 »But of course these formalizations are not just limitations, for they introduce new elements, like metre, melody, and various devices of rhetoric, which are absent or weak in everyday speech« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 84). 356 Damit wenden sich Humphrey und Laidlaw auch gegen die von Bell im Rückgriff auf Maurice Bloch vertretene Ansicht, Formalisierung begünstige das Als-gegeben-Hinnehmen einer Handlung, was zugleich ein umso wirkungsvolleres Verinnerlichen und Akzeptieren der mit der Handlung verbundenen Werte bedeute (»formalized speech appears to induce acceptance, compliance, or at least forbearance with regard to any overt challenge«, Bell: Ritual, 140). Während Bell selbst zeigt, dass Rituale auch eine umgekehrte, subversive Funktion besitzen
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Maurice Bloch hatte im Rahmen seiner Ritualkritik festgestellt, dass Formalisierung eines der Mittel ist, wie durch Rituale Herrschaftsstabilisierung ausgeübt wird. Formelles Handeln erzeuge eine Atmosphäre, die Widerspruch unterdrücke. Humphrey und Laidlaw ergänzen diese Sichtweise um den Blick auf das Potenzial zur Vertiefung und Elaboration einzelner Handlungen, die erst durch ihre Formalisierung ermöglicht werden. Die damit verbundenen ästhetischen Qualitäten und subtilen Vollzüge rücken Rituale so in die Nähe von Kunstwerken, deren Ausführung eines hohen Maßes an Kunstfertigkeit bedarf. Genau diese ästhetische Dimension unterscheidet formalisierte Handlungen auch von rein mechanischem oder routiniertem Handeln. Der Körper und seine Umwelt stehen dabei in einem reziproken Verhältnis, insofern nicht erst die Umwelt ein bestimmtes Verhalten hervorruft, sondern ritualisiertes und formalisiertes Verhalten auch umgekehrt Räume erschafft und Zeiten markiert.357 Was in diesem Abschnitt unter ritueller mentaler Kognition beschrieben wurde, stellt sowohl verschiedene Formen der Aneignung wie auch des kognitiven Umgangs mit Ritualen dar. Dabei handelt es sich nicht um eine notwendige Abfolge von Stufen, die schließlich ihr Ziel in einer sowohl diskursiven wie emotionalen Aneignung finden soll (2.1.9). Rituelles Handeln liegt bereits in mimetischen Formen vor. Dennoch ist im Sinne des von Grimes formulierten Konzepts der Ritualkritik eine solche Zielvorstellung legitim. Die Ausführungen über rituelle Kognition dienten auch der Frage, welche Kennzeichen rituelles Handeln beschreiben und damit den Begriff eines Rituals auf der formalen Eben zu schärfen vermögen.
9.7 Rituelle Deutungsrahmen: Das Verhältnis von Ritual und Text Dies bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass das Erlernen ritueller Handlungen auf der Ebene mimetischer Vorgänge beginnt. Verschriftlichungen der Abläufe und Sprechakte sind ebenso wenig notwendige Voraussetzungen wie die Zuschreibung individueller und persönlicher diskursiver Bedeutungen. Gleichwohl entstehen in vielen Kulturen Texte, welche diese Rituale beschreiben und deuten. Im Fall der Puja lassen sich nach Humphrey und Laidlaw Prozesse der ›Textualisierung‹, der Verschriftlichung von rituellen Abläufen und Sprechakten, vor allem Gebeten und Liedern, können, schreiben Humphrey und Laidlaw die Möglichkeiten von Annahme wie auch Distanzierung von der rituellen Handlung dem mit Stilisierung und Formalisierung gegebenem Charakter von Ritualen unmittelbar zu. 357 Vgl. dazu die Bestimmung von ›embodiment‹ und ›ritualized bodies‹ durch Bell (aaO., 139–144 sowie o. 8.3.2).
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vielfach nachweisen.358 Welche Rolle spielen diese Texte aber für den Vollzug wie auch für die individuelle Aneignung eines Rituals durch die Akteure? Im Fall der Puja bilden die Texte keine entscheidende Norm. Sie fungieren vielmehr als Hilfsmittel, die bei Bedarf konsultiert werden. Die Weitergabe durch Demonstration bzw. das Erlernen durch Beobachtung und Nachvollzug besitzen hierbei Priorität. Darüber hinaus existieren auch im Jainismus religiöse Bücher, welche inhaltliche Deutungen ritueller Handlungen enthalten und einen theologischen Anspruch vertreten. Eine generelle Bedeutung der Puja, die als Konsens erkennbar wäre, lässt sich jenseits immer wieder auftauchender Grundthemen daraus nicht gewinnen. Ihr Beitrag liegt stärker in der Schöpfung, Neuschöpfung und Reformulierung möglicher Interpretationen und somit der Pluralisierung von Deutungsmöglichkeiten. Dass es dennoch einige sozial weitgehend akzeptierte Bedeutungen bestimmter Rituale gibt, ist auf das Vorhandensein von Institutionen zurückzuführen, die diese vertreten. Starke Institutionen haben größere Möglichkeiten, auf Vollzug und Deutung von Ritualen einzuwirken. Die individuelle Aneignung von Bedeutungen bestimmter, an sich bedeutungsloser Rituale geschieht weitgehend unter Akzeptanz einer Wissenshierarchie. Theologischen Schriften von Ritualexperten oder Asketen am jeweiligen Tempel und mehr noch von in der Geschichte bedeutsamen Jainagelehrten räumen die Gläubigen einen höheren Stellenwert ein als der eigenen Meinung. Dennoch kommt es dabei selten zu einer unmittelbaren Übernahme der propagierten Bedeutungen, vielmehr ist ein kreativer Akt des Verstehens zu beobachten. Die Aneignung erfolgt somit zwar individuell, aber nicht privat. Je stärker die religiöse Identität gesichert werden muss und Abgrenzung nach außen nötig ist, desto stärker ist nicht nur der institutionelle Wunsch, die Bedeutung zu regulieren, sondern auch die Bereitschaft unter den Akteuren. Bei allen Deutungen gilt es Humphrey und Laidlaw zufolge zu vermeiden, diese mit der Bedeutung des Rituals gleichzusetzen. Wie aber verhält es sich im Fall gemeinschaftlicher vollzogener Pujas? Dort wird wesentlich stärker auf vorgegebene Texte zurückgegriffen zugunsten von Koordinations- und Partizipationsmöglichkeiten. Zugleich ist in diesen Texten eine thematische Ausrichtung stärker präsent. Dennoch tritt auch hier die Bedeutung bzw. die Vermittlung der Bedeutung in den Hintergrund: »A straight reading or singing of the text would much more clearly and unambiguously ›have‹ that meaning than such a reading does when it is enacted in a ritualized context« (207). Damit zeigt sich, dass Texte innerhalb von Ritualen denselben Prozessen der Ritualisierung unterliegen wie Handlungen, 358 Der Begriff wurde – mit anderer Bedeutung – von Bell eingeführt und beschreibt, wie durch Texte Rituale standardisiert und ihre soziale Interaktion neu strukturiert wird. Parallel dazu findet ein Prozess der ›Ritualisierung‹ von Texten statt, also der Übernahme und Vereinnahmung von Texten in den Vollzug des Rituals (vgl. Ritualization of Texts and Textualization of Ritual in the Codification of Taoist Liturgy, in: HR 27 [1988], 366–392).
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wobei ihre formalen Aspekte gegenüber inhaltlichen in den Vordergrund rücken. Darauf hatte bereits Staal hingewiesen. Dadurch steht die Rezitation von Texten wiederum zuerst unter dem Gesichtspunkt des korrekten Nachvollzugs. Entgegen der Annahme Staals kann daraus aber nicht auf die Sinnund Bedeutungslosigkeit des Rituals geschlossen werden. Vielmehr verdeutlicht dies das Ritualen inhärente Charakteristikum der Interpretationsoffenheit wie auch -bedürftigkeit. Wie bereits eingangs erwähnt, versuchen Humphrey und Laidlaw die intrinsische Bedeutungslosigkeit von Ritualen mit der Auslegungstradition und -praxis innerhalb der Religion zu verbinden. Dabei müssen die gelebte Religion in Gestalt ihrer spezifisch rituellen Religionspraxis, theologische Deutungen religiöser Experten sowie die individuelle Aneignung und Bedeutungszuschreibung der rituell Handelnden in Verbindung gebracht werden. Der rituellen Praxis, genauer: den physischen Vollzügen kommt dabei die Priorität zu, insofern die Deutungen von der Handlung ausgehen, während die Veränderung der Praxis aufgrund bestimmter Deutungen wesentlich seltener stattfindet. Gleichzeitig erfüllen theologische – wenn auch im Fall des Jainismus nicht unbedingt wissenschaftlich-theologische – Einsichten und Texte eine wichtige Funktion für den Fundus, auf den Laien in ihren Deutungszuschreibungen zurückgreifen. Mündliche Traditionen sowie die mit dem Prozess der Ritualvermittlung verbundenen Prägungen werden dadurch jedoch keineswegs gleichgültig. Entscheidend ist nach Humphrey und Laidlaw, dass die individuellen Aneignungsprozesse nicht nur auf Formen der Übernahme vorgeprägter Bedeutungen begrenzt werden dürfen. In diesem Fall erläge man wieder einer Vorstellung des Rituals als Sprache. Aneignung ist in jedem Fall als kreativer Prozess zu deuten. Propositionale Bedeutungen sind dabei nur eine Form der Zuschreibung bzw. Aneignung, wie noch zu zeigen sein wird. Damit kommt dem reflexiven Moment innerhalb der Religionspraxis neben seiner rituellen Gestalt eine unverzichtbare Stellung zu. Hier wäre dann auch die in der Ritualpraxis angelegte Tendenz des Entstehens von Theologie anzusiedeln. 9.8 Rituelle Handlungsmotive Die Trennung von Handlungsmotivation, Intention und Handlungsform führt immer wieder auf die grundlegende Frage, warum Menschen Handlungen ausführen, die nicht unmittelbar zweckbezogen sind und als deren Autoren sie nur eingeschränkt bezeichnet werden können. Warum also überhaupt rituell handeln? Um diese Frage noch einmal zu verstärken und damit auf diese Weise die Grenzen funktionaler Erklärungen zu verdeutlichen, zeigen Humphrey und Laidlaw in Kapitel 7 ihres Werkes, überschrieben »The Disconnection between Purpose and Form«, warum weder individuelle noch soziale bzw. sozial-religiöse Zwecke und Ziele die rituelle Form des Handelns zu begründen vermögen: »[I]ndividual worshippers’ purposes in performing the puja
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cannot explain what is ritualized about either its occurrence or its form; and we shall suggest that the same is true of ›social purposes‹« (168). Das Resultat dieser Analyse ist aber keineswegs nur negativ. Im Gegenteil eröffnet die Trennung zwischen »Zweck und Form« Möglichkeiten für die »Selbst-Auslegung« der Handelnden, deren Untersuchung das sich anschließende Kapitel widmet. Dass diese Analyse nicht schon im Rahmen der Darstellung der Nicht-Intentionalität erfolgte, hat seinen Grund darin, dass erst die Behandlung von Autorschaft, Stipulation und ritueller Kognition die Grundlage hierfür bilden mussten. Wiederum setzen die Autoren für die Frage nach der Bedeutung individueller Intentionen und ihrem Verhältnis zur rituellen Form nicht bei theologischen Deutungen innerhalb religiöser Schriften oder offizieller Aussagen professioneller Ritualexperten an, sondern bei den Selbstaussagen der Ritualakteure. Dabei zeigt sich zunächst, dass die nun in einem ersten Schritt zu untersuchenden individuellen Handlungsmotive auch für ein einziges Ritual wie eben die Puja in einer großen Bandbreite vorliegen. Diese Motive können aber auch gänzlich fehlen, d. h. die Handelnden sind nicht in der Lage, diese anzugeben – ausgenommen die Absicht, das Ritual selbst zu vollziehen. Sollten die Motive öffentlich, innerhalb wie außerhalb des Rituals kommuniziert werden, erfolgt dies nicht selten wiederum in ritualisierter bzw. textualisierter Form, etwa als Bekenntnis zur Gültigkeit und Bedeutung des Rituals selbst.359 Dadurch sind sie noch einmal zu unterscheiden von inneren, persönlichen Motiven der Handelnden. Die verschiedenen Gründe liegen dabei auf unterschiedlichen Ebenen: Eine erste Gruppe von Gründen kann als vorwiegend religiös-spirituell orientiert beschrieben werden: innere Reinigung; Erkenntnis der Wahrheit; das Ritual als religiöse Pflicht; der Ritualvollzug als Entsprechung zum Selbstverständnis als religiösem Menschen. Eine andere Gruppe orientiert sich stärker an innerweltlichen Motiven: Reichtum, Gesundheit, Erfolg. Die Aussagen der Praktizierenden zeigen freilich, dass derartige Motive sich überschneiden und vermischen können und davon auszugehen ist, dass der Handelnde selbst keinen Anspruch erheben wird, die Gesamtheit seiner Motive zu durchdringen. Für diese Aussagen gilt also: »[they] express both more and less than their purposes and motives« (169). Ein weiterer möglicher Anknüpfungspunkt, nach konkreten Verbindungspunkten zwischen Motivation und Form zu suchen, wären die konkreten Entscheidungen, die in Zusammenhang mit dem Ritualvollzug getroffenen werden. Die Möglichkeit, eine bestimmte Form der Puja oder die in ihr enthaltenen Sequenzen wählen zu können, bedingt zugleich die Möglichkeit – nicht aber die Notwendigkeit –, dass für diese Wahl Handlungsgründe vorliegen. Kalendarische oder lebensgeschichtliche Gründe oder auch 359 S. o. 8.1.7.
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die Frage öffentlichen Ansehens können ausschlaggebend sein. Dabei wirken sich die Anlässe auf die konkrete Form der Handlung jedoch kaum aus und umgekehrt lässt die gewählte Form keinen unmittelbaren Rückschluss auf den Anlass und damit auf die Motivation zu. Zwar wird innerhalb des Jainismus starke Kritik vor allem an weltlichen Motiven für den Vollzug der Puja geübt, die jeweiligen Formen des Rituals bleiben für den Beobachter aber ununterscheidbar.360 Der Grund dafür, dass die Verbindung zwischen Intention und Form mehr oder weniger ›willkürlich‹ ist, liegt an der Trennung von Intention und Form. Insbesondere liturgie-zentrierte Rituale kennen keine erfolgsbezogene Rückmeldung (regulatory feed-back). Eine Aussage darüber, ob ein Ritual den gewünschten Zweck erfüllt hat, also ›erfolgreich‹ war, kann immer nur der Einzelne beantworten, da objektiv-empirische Resultate nicht unmittelbar hervorgebracht werden. Dies wirkt sich sowohl auf die Deutungsmöglichkeiten wie auch auf den Aufbau eines Rituals hinsichtlich seiner Einzelsequenzen aus: »Thus ritualization, in two distinct ways, obscures the relation between action and the goals people might wish to achieve by it: first, the acts can be made symbolic, metaphorical, and so forth, because there is no need for them to conform to practical requirements; and second, ritualized acts need have no sequential rationality one in relation to another. They are, in respect of any particular purpose, apparently randomly repeated and inverted, lengthened or contracted, since there is no practical feedback from any of them« (175).361 Rituelle Handlungen fordern symbolische Deutungen also gerade heraus, weil sie zweckrationalen Zugängen entzogen sind. Diese Tatsache begünstigt die bereits im Kontext der Sequenzialisierung benannte Möglichkeit, einzelne Sequenzen unter veränderten theologischen Vorzeichen in verschiedenen rituellen Kontexten einzubetten. Die Frage nach der Verbindung zwischen Intention und Form stellt sich insbesondere dann, wenn die Absicht im Ritual selbst kommuniziert wird – etwa in Form von erklärenden, zunächst nicht ritualisierten Einschüben. Häufig handelt es sich dabei jedoch um Eingriffe religiöser Autoritäten, die hierdurch die Bandbreite möglicher Bedeutungen zu kanalisieren versuchen. Doch es zeigt sich, dass gerade jene Sprechakte die größte rituelle Stabilität aufweisen, die gerade nicht darauf abzielen, eine Absicht in möglichst eindeutiger Weise zu kommunizieren, sondern einer Vielzahl von ethischen oder religiösen Deutungen Raum zu geben.362
360 Jainas pflegen genuin hinduistische rituelle Formen, obgleich die hinduistische Lehre weitgehend abgelehnt wird (vgl. Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 201). 361 Vgl. auch den syntaktisch-grammatischen Ansatz von Staal (7.3). 362 Die Puja kennt solche erklärenden Einschübe nicht, weshalb Humphrey und Laidlaw auf Einsichten aus dem anglikanischen Umfeld zurückgreifen.
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In einem zweiten Schritt stellen Humphrey und Laidlaw die Frage, ob nicht soziale Handlungsabsichten bzw. soziale Zwecke die ritualisierte Form der Handlung begründen. »Soziale Absichten« (»social purposes«363) werden jedoch, so zeigt die Beobachtung, hauptsächlich von Personen in herausgehobenen Rollen (Asketen, Priestern, Experten) thematisiert, reflektiert und überhaupt aktiv im Bewusstsein gehalten. Viele Ritualtheorien nehmen dennoch hier ihren Ausgang, um das in allen Kulturen und Religionen vorhandene Auftreten ritueller Handlungsformen zu erklären. Wie aber sind diese sozialen Zwecke überhaupt bestimmbar? Selbst im Blick auf Handlungen mit vermeintlich eindeutigen Zielen wie der Eheschließung erweist sich die Ritualisierung eher als hinderlich zur Kommunikation dieser Zwecke. Teilnehmer eines solchen Rituals sind zu deren Verständnis in größerem Umfang auf kulturelles Hintergrundwissen angewiesen. Damit könnte sich zwar die Frage nach der Bestimmbarkeit sozialer Zwecke allein als hermeneutisches Problem des externen Forschers erweisen, der im Gegensatz zu den Mitgliedern einer Gemeinschaft nicht in der Lage ist, die sozialen Zwecke zu erkennen. Im Rahmen einer Theorie der Ritualisierung ist es zudem nicht grundsätzlich auszuschließen, dass Rituale einen von allen geteilten Fokus besitzen, der dem sozialen Zweck des Rituals entspricht. Doch zum einen kann dies kaum als grundsätzliches Kennzeichen sozialer Ritualisierung verstanden werden, zum anderen ist das Wissen um den Inhalt der bei allen Teilnehmenden möglichen persönlichen Intentionen nur begrenzt verfügbar. Immer wieder wurde versucht, das Verhältnis von sozialen und persönlichen Zwecken als Verbindung von sozial geteilter Grundintention mit individuellen Anhängen zu beschreiben. Für Humphrey und Laidlaw stellt sich dabei jedoch die Frage, welches Recht diese Hierarchisierung beanspruchen kann, sind doch die unterstellten sozialen Absichten meist eher vage als grundlegend.364 Schließlich ist noch zu fragen, welchen Einfluss soziale Zwecke auf die Kognition im Ritualvollzug ausüben. Dabei ist wiederum zu unterscheiden zwischen der Bedeutung und Relevanz, die Gläubige den sozial-
363 Diese »sozialen Absichten« können die mithilfe des Konzepts der »cultural models« nach Dorothy Holland und Naomi Quinn als Muster von Ideen, Werten und Praktiken verstanden werden, die innerhalb einer Gruppe einen Konsens bilden und im alltäglichen Handeln meist stillschweigend instanziiert werden. Sie verleihen alltäglichen Handlungen Struktur und Bedeutung und stellen Grundwissen und Richtlinien dar, die sozial akzeptiertes Verhalten und Kommunizieren ermöglichen. Vgl. Dorothy C. Holland/Naomi Quinn: Introduction, in: Dies. (Hg.): Cultural Models in Language and Thought, Cambridge/New York 1987, 3–40 sowie Stephanie Fryberg/Raji Rhys: Cultural Models, www.arizona.edu/sites/default/files/cultural_models.pdf (02. 12. 2014). 364 Häufig beobachtet werden kann jedoch das, was Humphrey und Laidlaw als »bad liturgical practise« beschreiben, wenn den Feiernden schlicht der soziale Zweck mitgeteilt wird – etwa, wenn es als Erklärung zum Vaterunser heißt »Wir beten das Vaterunser, das [weil es] all unsere Anliegen und Hoffnungen zusammenfasst.«
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religiösen Zwecken365 generell für ihre Lebensführung zuschreiben und der Bedeutung, die sie denjenigen Ritualen zuschreiben, die vor allem der Ausführung dieser Zwecken dienen sollen. Gerade religiös erfahrene Menschen, die sich mit den sozialen Zwecken der Religion weithin identifizieren, berichteten davon, dass sie Mühe haben, diese mit Ritualen in Verbindung zu bringen. Ein Grund dafür ist das Habituelle des Rituals, welches immer wieder zum Abschweifen der Gedanken führt – gerade, weil die Intention sich nicht in der Ausführungsform der Handlung niederschlägt. Menschen beschreiben ein Hin- und Herspringen des Geistes während des Rituals zwischen den religiösen Zielen, die sie glauben im Ritual in Form intentionaler Bewusstseinsgehalte annehmen zu müssen und subjektiven Motiven, die sich, ihrer Kontrolle entzogen, einstellen. Das permanente Präsenthalten der sozialen Zwecke und ein grundlegendes Verständnis von Ritualen als auf soziale Zwecke ausgerichtete Handlungsform ist den Untersuchungen Humphreys und Laidlaws zufolge nur bei religiösen Experten festzustellen. Sie haben ein besonderes Interesse daran, diese Zwecke fest mit bestimmten Ritualen zu verknüpfen. Bei den meisten Gläubigen ist dies nicht der Fall, zumal die Vielzahl der mit dem Ritual assoziierten sozialen Zwecke nicht selten zur Verwirrung führt. Die Einschätzung, ob das Erreichen der Ziele sich der erfolgreichen Ausführung des Rituals verdankt, muss wiederum dem Einzelnen vorbehalten bleiben. Es hat sich somit gezeigt, dass die Handlungsabsichten nur sehr begrenzt Einfluss auf die Form ritueller Handlungen ausüben. Dennoch sind Rituale Mittel, mit denen Menschen Handlungsabsichten – Ziele – anstreben und auch erreichen. Die Verbindung zwischen Nicht-Intentionalität und Pragmatik fassen Humphrey und Laidlaw im folgenden Zitat zusammen: »Purposes may have an effect on the available repertoire of ritual acts, such as when new rituals are invented, but they bear only a very attenuated relation, if they bear any at all, to expertise or to the way a rite is physically performed. However, though purposes do not account for what people do in rituals, it is nevertheless through performing these acts that purposes are achieved. People are therefore always likely, just because they do engage in selfinterpretation, to attribute meaning to the rites they act out« (187, H. RG). Damit öffnet sich der Horizont für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Ausführung des Rituals und verschiedenen Formen der Bedeutungszuschreibung. Dies soll nun in einem abschließenden Abschnitt als Ziel der Ritualtheorie Humphreys und Laidlaws dargestellt werden.
365 Insofern Humphrey und Laidlaw unter »sozialen Zwecken« das auf die Religion übertragene Konzept der »cultural models« verstehen, unterscheiden sie nicht zwischen genuin sozialen, auf die menschliche Gemeinschaft bezogenen Zwecken (wie Identität, Zusammenhalt, die Pflege einer bestimmten Ritualkultur etc.) und unmittelbar religiösen Zwecken, wie spirituelles Wachstum, Gottesverehrung etc. Insbesondere bei religiösen Ritualen ist zwischen beiden Kategorien nur schwer zu unterscheiden, zumal bei stark ethisch orientierten Religionen wie dem Jainismus.
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9.9 »Meaning to mean it« als Ziel ritueller Apperzeption In den vorangegangenen Kapiteln wurden ausgehend vom mimetischen Nachvollzug verschiedene Formen der Aneignung des Rituals beschrieben. Die Betonung des korrekten Vollzugs der Handlung galt nicht nur als charakteristisches Merkmal ritueller Vollzüge, sondern auch als Grundlage vielfältiger Bedeutungszuschreibung. Wie verhälten sich diese Überzeugungen zur eingangs erwähnten ritualkritischen Haltung innerhalb des Jainismus, welche die Bedeutung von Ritualen für die Religion – genauer: für Erlösung und Befreiung der Seele aus dem karmischen Kreislauf als Ziel der Religion – stark relativiert? Im Kern ist damit die Frage berührt, ob die Wirksamkeit (»efficacy«) von Ritualen von der Einstellung des Handelnden abhängig ist, oder ob diese selbstwirksam sind. Der Ausdruck ›meaning to mean‹, der im Folgenden im Zentrum steht, soll zeigen, inwiefern das Ziel der Religion in der Vorstellung vom idealtypischen Ritualvollzugs bzw. der Aneignung des Rituals im Jainismus enthalten ist. »›Meaning to mean‹« ist nach Humphrey und Laidlaw die höchste Form der Aneignung von Ritualen, »the culmination (in a religious sense) of a series of possible ways of responding to the apprehensibility of ritual acts« (213).366 Verschiedene Stufen der Aneignung gehen ihr voraus, die in ihrer Abfolge jeweils eine Steigerung der inneren Auseinandersetzung und persönlichen Anteilnahme am Ritualvollzug aufweisen. a) Den Ausgangspunkt bildet die schlichte Nachahmung der rituellen Handlung. Für das Erlernen des Ritualvollzugs ist dieser Schritt entscheidend. Er ist Grundlage aller weiteren Formen der Aneignung. Belässt es der Handelnde beim bloßen Kopieren, tritt das ein, was häufig mit dem Ausdruck ›leeres Ritual‹ verbunden wird: routiniertes bis gleichgültiges Handeln ohne innere Beteiligung, häufig gepaart mit innerer Zerstreuung. Der Ausführung haftet etwas stark Mechanisches an. b) Als zweite mögliche Weise der Aneignung benennen Humphrey und Laidlaw eine spontane mentale und physische Identifikation mit der Handlung. Dabei entstehen unmittelbar durch die körperliche Verrichtung der Handlung selbst besondere psychologische Effekte. Man kann sich ›in der Handlung verlieren‹ bis hin zu Formen von Ekstase, die häufig in Zusammenhang mit repetitiven Bewegungen, etwa in Tänzen auftreten.367 Diskursive Bedeutungen müssen diesen rituellen Handlungen nicht unterliegen. Vielmehr können sich Einheitserfahrungen zwischen dem Subjekt und dem Objekt der im Ritual 366 Der Ausdruck wird im Folgenden in Übernahme der Verwendung bei Humphrey und Laidlaw stets in einfachen Klammern gesetzt. 367 Veränderte Bewusstseinszustände stellen zwar eine gewisse Nähe zu den sogenannten performance-orientierten Ritualen her (zur Problematik dieser Bezeichnung vgl. o. Anm. 286), doch handelt es sich in diesem Fall meist nur um einzelne rituelle Akte innerhalb der Puja.
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ausgedrückten Verehrung ereignen. Propositionale Bedeutungen treten zugunsten emotionaler Bilder und Erfahrungen zurück. c) Die dritte Form der Aneignung betont den Charakter des Rituals als mimetischer Handlung, die in diesem Fall vor allem als Token oder als symbolisches Zeichen einer Handlung vorgestellt und dargestellt wird (»re-enactment«). Das kann in der Form des Gedenkens (»memorial«) oder der Wiederholung des Ursprungsaktes erfolgen. In diesem Fall stehen wiederum nicht propositionale Inhalte im Vordergrund, sondern die unter dem Begriff der archetypischen Handlung erläuterten Eigenschaften rituellen Handelns. d) Als weitere Stufe bezeichnen Humphrey und Laidlaw die Zuschreibung propositionaler Bedeutungen, die Verbindung also der Handlung mit religiösen oder theologischen Aussagen. Diese müssen nicht auf eigenen Erfahrungen begründet sein, sondern können übernommen worden sein und werden daher häufig in standardisierten Formen geäußert. e) ›meaning to mean‹. Auf der letzten Stufe findet die bisher fehlende Verbindung propositionaler Bedeutungen mit eigenen Erfahrungen statt. Sowohl die Form der Ausführung als auch die mit der Handlung verbundenen Bedeutungen werden mit großer Ernsthaftigkeit und emotionaler Betroffenheit erfahren. Kognition und Emotion bilden eine Einheit. Humphrey und Laidlaw umschreiben diese Erfahrung als ›meaning to mean‹. Der Begriff soll im Zentrum der abschließenden Überlegungen stehen. Was also verstehen Humphrey und Laidlaw genau unter ›meaning to mean‹? Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst nach einer adäquaten deutschen Übersetzung dieses doppelstufigen englischen Ausdrucks gesucht werden. Dieser stellt selbst eine Umschreibung des Phänomens dar, welches im Jainismus mit dem vielschichtigen Wort ›bhav‹ ausgedrückt wird. Das Verb ›to mean‹ drückt zum einen eine Absicht aus oder ein Vorhaben. Die substantivierte Form ›meaning‹ wird verwendet in der Bedeutung von ›Absicht‹ oder ›Zweck‹, aber auch als ›Sinn‹ oder ›Bedeutung‹. Charakteristisch ist jeweils der finale Aspekt des Verbs, der für die erste Verbform ausschlaggebend ist. Zweitens wird ›to mean‹ im Sinne von ›meinen‹, ›sagen wollen› oder ›bedeuten‹ verwendet, wobei zugleich eine ernsthafte Absicht konnotiert ist. Auf diese Weise muss die zweite Verbform verstanden werden. ›meaning to mean‹ könnte also übersetzt werden als ›beabsichtigen, etwas (ernsthaft) auszudrücken‹. Das in der Überschrift hinzugefügte »it« deutet dabei auf die inhaltliche Unbestimmtheit, die Humphrey und Laidlaw mit dem Ausdruck verbinden. Es geht also nicht um konkrete propositionale Wahrheiten, die auf eine bestimmte Weise ausgedrückt werden sollen. Weil sich eine ernsthafte Absicht (to mean) – der korrekte Ritualvollzug – mit Formen der Bedeutungszuschreibung (to mean) verbinden, fällt dem Beobachter von Ritualen zum einen der disziplinierte und akribische Vollzug auf, zum anderen aber die Kreativität und Freiheit in Bezug auf Bedeutung und Sinngebung in den Aussagen der Handelnden, wie sie bereits mehrfach beschrieben wurden.
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Bereits der indische Begriff ›bhav‹ ist geprägt von einer nicht aufzulösenden Grundspannung, die vereinfacht als Spannung zwischen Intention und Emotion beschrieben werden kann. Damit ist das Aufeinandertreffen einer stärker aktiven (Absicht) und eine eher passive Komponente (Ereignis) bereits angelegt. Zunächst kann ›bhav‹ als ›mental medium‹ beschrieben werden, als ein geistiger Zustand, der als Mittel zur Apprehension ritueller Akte fungiert. Er tritt vor allem dann ein, wenn »one means to mean it«. Eine der Interviewten vergleicht diesen Zustand damit, wenn »we think about it with our heart«. Es geht also um die Fokussierung und Ausrichtung des Geistes und damit um eine Form von Konzentration, die sich auf die Formen und Materialien des Rituals selbst ausrichtet. Das Abschweifen des Geistes soll dadurch zu Ruhe kommen und letztlich auch das Anstreben rein weltlicher Vorteile durch den Ritualvollzug überwunden werden. Vor diesem Hintergrund bestimmen Humphrey und Laidlaw ›meaning to mean‹ als »act of intending«. Als solcher scheint er der bereits mehrfach betonten Nicht-Intentionalität entgegenzustehen, die als grundlegend für den Ritualvollzug bestimmt wurde. Zum einen jedoch wird diese Handlung (›act‹) stärker mit einem emotionalen Zustand verbunden, der sich auf den Handlungsvollzug selbst richtet – und nicht etwa auf ein durch die Handlung bewirktes Ziel im Sinne klassischer Intentionalität. Zum anderen sprechen Humphrey und Laidlaw davon, dass diese Form der Intentionalität die Nicht-Intentionalität überlagert (»superimposed«), sich also erst auf Basis einer nicht-intentionalen Handlungsweise ausbildet. Insofern ist verständlich, warum ›meaning to mean‹ innerhalb der Gespräche mit Jainas immer wieder als Forderung und Anspruch an den Ritualvollzug begegnet. Die intentionale Komponente ist mit einem inhaltlichen Anspruch versehen. Es gilt, dem Ritual eine mit der eigenen Person bezeugte Bedeutung zuzulegen (»to make a ritual meaningful«). Zugleich aber wird deutlich, dass die mit einem normativen Anspruch versehene innere Ausrichtung sich nicht allein dem eigenen Willensakt verdankt, sondern sich im Verlauf des Rituals einstellt. Hierbei spielt der Umgang mit materiellen Gegenständen eine wichtige Rolle, auf die bzw. anhand derer sich der Geist ausrichten kann. Auch wenn es sich also bei ›bhav‹ um eine Intention handelt, verdankt sich diese nur teilweise absichtsvollem Planen und trägt zugleich einen Ereignis- oder Widerfarnischarakter. Die Beschreibung als innere Einstellung bedeutet eine starke Nähe zum Gefühl, der zweiten wichtigen Komponente des bhav-Begriffs. Neben der intentionalen Komponente beschreiben Humphrey und Laidlaw ›bhav‹ auch als »a definite, self-perceptible, religious feeling«. Die exklusive Möglichkeit der Selbstwahrnehmung impliziert zum einen die Subjektivität dieses Gefühls, zum anderen den passiven Charakter, der für diese Verwandlung (»transformation«) auf mentaler und emotionaler Ebene charakteristisch ist. Es kann nur individuell und introspektiv erfahren werden, ob ›meaning to mean‹ stattfindet. Weil ›bhav‹ nicht der Verfügbarkeit unterliegt, wird der Zustand im Jainismus auch als heilig betrachtet. An diesem Punkt, so
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Humphrey und Laidlaw, »the idea of ›enlightenment‹ enters ritual«. Die Ritualkritik schlägt in eine Wertschätzung des Rituals um. Durch ›bhav‹, so die Vorstellung, gelangt der Einzelne zu wahren Einsichten und damit zu unmittelbaren Gotteserfahrungen.368 Schließlich muss noch einmal die Funktion des Ritualvollzugs für den religiösen Weg in der Spannung von Handlung und Nicht-Handlung erwähnt werden. Handlung, so die im Jainismus weit verbreitete Meinung, ist unabdingbar mit der Ansammlung von schlechtem Karma (›Sünde‹) verbunden. Rituale als Handlungen können höchstens dazu beitragen, in einen Zustand des Nicht-Handelns zu kommen, etwa durch die bereits erwähnte Unterbrechung des Gedankenflusses mithilfe der Konzentration auf einen konkreten Gegenstand.369 Durch ›bhav‹ werden die Bedeutungszuschreibungen zum Zeugnis religiöser Einsichten, die herkömmliche intellektuelle Wahrheit übersteigen, und somit zu »tiny steps on the road to enlightenment.« Was also ist, um die eingangs gestellte Frage wieder aufzugreifen, mit dem Ausdruck ›meaning to mean‹ gemeint? Es handelt sich um einen intentionalen Zustand, der jedoch nicht allein der Verfügung des Individuums unterliegt, sondern sich im Verlauf des Ritualvollzugs einstellen kann. Innerhalb des Jainismus ist umstritten, ob Rituale eine Selbstwirksamkeit besitzen oder die Wirksamkeit abhängig ist von der Einstellung des Handelnden zur Handlung. Dadurch wird entweder die passive Komponente betont, der zufolge der Vollzug des Rituals den Zustand selbst hervorruft bzw. ermöglicht, oder die aktive Komponente, welche die Wirksamkeit des Rituals an Intention und Bewusstseinszustände des Handelnden bindet. Der erreichte, emotional wahrnehmbare Zustand bewirkt in jedem Fall die persönliche Identifikation mit einer dem rituellen Akt zugeschriebenen Bedeutung, sodass diese durch die Handlung ausgedrückt werden soll. Dieser Bedeutung eignet eine stärker subjektive Komponente, als dies in der zuvor beschriebenen Stufe der Fall war. Der Praktizierende schreibt dem Ritual eine eigene Bedeutung zu und suspendiert damit die oben beschriebene Arbeitsteilung, der zufolge der Laie sich auf das Wissen und das Urteil von Experten verlässt. Die Relativierung der einzelnen Bedeutungen des Rituals im Jainismus führt somit dazu, dem Vollzug mit ›bhav‹ die höchste Stelle einzuräumen und damit der individuellen Aneignung die höchste Bedeutung zuzuschreiben. Zu dieser eigenen Bedeutung hinzu tritt schließlich das Motiv der Ernsthaftigkeit des Ausdrucks: »[A] feeling both that you know what a term means and that you mean 368 Auch wenn es sich um ein unmittelbar wahrnehmbares (»definite«) Gefühl handelt, darf dies nicht verwechselt werden mit einer konkreten Emotion. Dahinter steht theologisch die Vorstellung, dass Emotionen als Anhaften an der Welt verstanden werden und damit als Ursache von Leid. 369 »Having the correct bhav is therefore the ordinary lay Jain’s way of realizing the principle of religious ’non-action’ which supersedes action« (Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 221).
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it.« Damit ist eine Form von innerlicher Identifikation zwischen Handlung, Bedeutung und der eigenen Individualität ausgedrückt, die sowohl kognitiv als auch emotional erfahren wird und von Humphrey und Laidlaw deshalb als »religious feeling of knowing by the self« bezeichnet wird. Das Selbst, die individuelle personale Identität des Akteurs wird jedoch nicht nur thematisiert, sondern transformiert. Das im Modus des ›meaning to mean‹ vollzogene Ritual stellt den Weg dar, über die äußerliche rituelle Handlung das Innere unter verändertem Blickwinkel zu betrachten und zu verwandeln.370 Rituelles Handeln als Ausführung bereitliegender archetypischer Handlungsformen bedeutet also gerade nicht das Vernachlässigen und Verdrängen des Selbst, sondern setzt ein Bewusstsein des Selbst vielmehr voraus. Rituale dienen nach Humphrey und Laidlaw dem »self-interpreting self« insofern Ritualvollzug und -auslegung zugleich Selbstauslegung bedeuten. Das Selbst wird im Ritual seiner ansichtig und zugleich werden alternative Formen des Selbst als Möglichkeiten erkennbar und realisierbar.371
9.10 Zusammenfassung In ihrer 1994 erschienenen Ritualtheorie The Archetypal Actions of Ritual untersuchen Humphrey und Laidlaw rituelles Handeln als eigenen Handlungsmodus (»ritual mode of action«). Ihre Erkenntnisse beruhen auf Forschungen unter Jainas in Indien. Trotz gegebener kultureller wie inhaltlicher Differenzen372 zeigen sich in dieser stark von rituellen Vollzügen gekennzeichnete Religionsgemeinschaft in ihrer Haltung gegenüber Ritualen deutliche Parallelen zu protestantischen Haltungen und Überzeugungen, insbesondere in der Verbindung von Intellektualität, dogmatischer Pluralität, 370 »… transforming ›external‹ ritual action into an ›internal‹ generation of power in the self« (aaO., 251). 371 »[A]gents’ encounters with the acts which are ready to be performed can change how they think of themselves« (aaO., 249). Im Ritual wird das Individuum sich seiner selbst bewusst und wird in die Lage versetzt, das Selbstbild zu verändern: »Performing ritualized acts impels people to perceive themselves as doing something, and this opens the way for alternative interpretations of what the self can be« (aaO., 258). 372 Als Hauptunterschiede seien genannt: 1. Das Selbstverständnis als Jaina hat Auswirkungen auf die gesamte Lebensführung und das Selbstverständnis. 2. Im Jainismus sieht sich jeder Gläubige aufgefordert, auf seine Erlösung hinzuarbeiten. 3. Humanistische, symbolische Ideen wie im Christentum (etwa die klassische Trias von Glaube, Liebe Hoffnung) treten hinter Metaphysik und (Zahlen)Kosmologie zurück. 4. Innerhalb der zwei großen Schulen des Jainismus, Digambara und S´ve¯ta¯mbara, existiert keine etablierte und für eine größere Schicht bedeutsame dogmatische Tradition, vielmehr kommt einzelnen Lehrergestalten erhebliche Bedeutung zu. 5. Gemeinschaftliche Pujas werden nur in Ausnahmen gefeiert. 6. Die Puja war nie zentral für die dogmatische Tradition dieser Religion. 7. Der Jainismus ist keine Buch- oder Schriftreligion. 8. Worte und Gebete sind zwar Teil der Puja, entscheidender aber noch sind die Handlungen.
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Betonung der Subjektivität und einer ritualkritischen Grundhaltung, die eine Offenheit und Wandelbarkeit ritueller Formen ermöglicht. Im Blick auf mögliche Anknüpfungspunkte für eine Ritualtheorie des Gottesdienstes wurde zunächst die der Studie zugrundeliegende Methode der teilnehmenden Beobachtung in Verbindung mit einer »dichten Beschreibung« (C. Geertz) reflektiert. Nicht nur die sinnlichen Qualitäten fließen dabei stärker ein als bei einer Beschränkung auf Interviews etc. Auch die Verwendung von Texten und die Deutungen – bzw. Deutungen von Deutungen – durch die Akteure kommen so stärker in den Blick. Gemäß dem Ritualisierungsparadigma, das Rituale nicht als eigenständige Klasse spezifischer Handlungen betrachtet, sondern von einer Transformation alltäglichen Handelns ausgeht, benennen Humphrey und Laidlaw als Grundzug der Ritualisierung eine rituelle Einstellung (ritual commitment/ritual stance) der Akteure. Diese unterliegt den Handlungen und bewirkt mittels kognitiver Zuschreibungen an die Handlungen, dass die vorgeschriebenen Handlungssequenzen in bestimmter Weise ausgeführt und angeeignet werden.373 Insofern bezeichnet sie auch eine innere Akzeptanz der Handlungsform. Folge einer solchen Bestimmung ritueller Handlungen auf der Grundlage innerer und damit subjektiver Bewusstseinszustände der Akteure ist, dass sich für den Beobachter nicht zweifelsfrei erkennen lässt, ob ein Ritual vollzogen wird – oder lediglich vorgegebene Handlungen ausgeführt werden. Der Begriff der ›rituellen Einstellung‹ kann zurückgeführt werden bis auf mile Durkheim, der ebenfalls von einer »attitude rituelle« gesprochen hatte und darunter eine Verbindung von spezifischer Handlungsweise und innerer Haltung verstand. Auch Spiele finden unter einer veränderten Einstellung statt, die ihren Status festlegt, von einem unbeteiligten Beobachter jedoch nicht unmittelbar erkennbar ist. Vergleichbare Bestimmungen ritueller Handlungen finden sich gelegentlich aber auch innerhalb des liturgiewissenschaftlichen Diskurses. So spricht Heimbrock von einem »spezifischen Handlungsmodus«374. Daiber umschreibt die für den Ritualvollzug notwendige Akzeptanz als Prozess, »sich auf den Gottesdienst als Gesamtablauf einzulassen«375. Ähnlich sprechen Gülich und Paul von der »Identifikation des rituellen Subjekts«376 als Voraussetzung für das Ausführen ritueller Handlungen. Mit der Theorie der rituellen Einstellung gehen Humphrey und Laidlaw über den formalen Ansatz von Bell hinaus, die mit der »privilegierten Differenzierung« ein kulturrelatives, unabhängig von funktionalen Bestim373 Der Ansatz von Humphrey und Laidlaw lässt sich damit einordnen in kognitive Ritualtheorien, zu denen etwa die Arbeiten von Lawson/McCauley: Rethinking Religion oder Jensine Andresen: Introduction. Towards a Cognitive Science of Religion, in: Dies. (Hg.): Religion in Mind. Cognitive Perspectives on Religious Belief, Ritual, and Experience, Cambridge 2001, 1–44 zu zählen sind. 374 Heimbrock: Gottesdienst, 42. 375 Daiber: Gottesdienst als Ritual, 22. 376 G lich/Ingwer: Gottesdienst, 127.
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mungen geltendes Kriterium ritueller Handlungen formuliert hatte. Humphrey und Laidlaw verlagern dieses Kennzeichen noch einmal stärker auf die Akteure selbst und betrachten die Voraussetzungen rituellen Handelns damit als unabhängig von einem sozialen Konsens, wie Bell ihn als notwendig erachtet, um diese Differenzierung überhaupt herstellen zu können bzw. erkennbar zu machen.377 Näher bestimmt wird die rituelle Einstellung eine besondere Form der Intentionalität, die sogenannte »Nicht-Intentionalität«. Während Alltagshandlungen vollständig intentional bestimmt und aus ihrer Intention heraus bestimmbar sind, trifft dies auf Ritualhandlungen nicht zu. Im Ritual kann weder ausgehend von der konkreten Handlung auf die zugrundeliegende Intention geschlossen werden, noch verdankt sich ihre Form einer bestimmten individuellen oder kollektiven Handlungsabsicht. Dennoch ist rituelles Handeln insofern als intentional zu beschreiben, dass Rituale nicht aus Versehen oder unbewusst ausgeführt werden können. Während die der Handlung vorausliegende Motivation (›prior intention‹) individuell begründet ist, richtet sich die ›intention-in-action‹ (Searle) im Ritual ganz auf den Vollzug selbst aus, ohne dessen Form den Zielen anzupassen, welche der vorausgehenden Handlungsmotivation zugrunde liegen. Für den Fall kollektiv vollzogener Rituale bleibt die äußere Form identisch, auch wenn die Intentionen und Motive der Akteure individuell höchst verschieden sind. Der Begriff der ›Nicht-Intentionalität‹ kann erklären, woran funktionale Ritualtheorien letztlich scheitern, nämlich die Tatsache, warum Rituale auf bestmögliche Anpassung in Bezug auf die ihnen zugeschriebene Funktion, sei dies Gemeinschaftsstiftung, Problemlösung oder die theologische Bestimmung als »Bundeserneuerung« (Daiber) verzichten. Aufgrund der Ritualisierung und somit der rituellen Einstellung werden den rituellen Handlungen sodann vier charakteristische Eigenschaften zugeschrieben, die ihren Status verändern: (1) Rituelle Handlungen sind stipulierte Handlungen. Handlungen also, deren Form durch konstitutive Regeln (im Sinne Searles) festgelegt und institutionalisiert ist. Ein Ritual zu vollziehen heißt, diese stipulierten Regeln zu akzeptieren.378 Hier zeigt sich die größte Nähe von Ritualen zum Spiel. Die genannte »intention-in-action« entspricht dabei der Selbstverpflichtung, die Handlung in ihrer stipulierten Form korrekt auszuführen – und nicht etwa entsprechend den aktuellen Bedürfnissen. Die Frage, ob ein Ritual erfolgreich ausgeführt wurde, lautet daher nicht: »Hat es gewirkt?«, sondern »Haben wir 377 Zur Auseinandersetzung mit Bell vgl. Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 83. 378 Die nähere Einsicht in die genaue Art der Regeln präzisiert eine Fragestellung, die bereits in der protestantischen Diskussion immer wieder aufkam (2.4.4): Nur wenn rituelle Regeln als gänzlich heteronome Ordnung verstanden werden, der man unterworfen ist, entsteht eine Nähe zu zwangsneurotischen Handlungen. Es bedarf daher der Akzeptanz der Regeln als einem autonomen Akt.
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es richtiggemacht, d. h. haben wir die Regeln eingehalten?« Humphrey und Laidlaw sprechen im Fall dieser starken Entkoppelung der Handlung von einer beabsichtigen Wirkung von »liturgie-zentrierten« Ritualen. (2) Rituelle Handlungen (Riten) bestehen aus rituellen Sequenzen. Daher bezieht sich auch die Stipulation weniger auf den Gesamtablauf, als auf diese weithin autonomen Bestandteile. Innerhalb eines Ritus können diese Sequenzen wiederholt oder umgestellt werden. Ein Blick in die Entwicklungsgeschichte des Gottesdienstes bietet hierfür zahlreiche Beispiele, die dies bestätigen.379 Ihre letztliche Abfolge orientiert sich an der zugrundeliegenden Alltagshandlung: »Rites of passage have three stages (separation, a liminal period, and reaggregation) not because they are rites of passage, but because they are rites of passage« (125). Die explizite Auseinandersetzung mit der sequenziellen Ordnung erweitert das Bild der Verknüpfung von Alltag und Ritual, insofern nicht nur alltägliche Handlungen ritualisiert werden können, sondern auch ritualisierte Handlungen aus einem festen rituellen Kontext in den Alltag auswandern. Für eine sequenzierte Betrachtung von Ritualen finden sich auch in der Liturgiewissenschaft Belege.380 Insbesondere in sprachwissenschaftlichen Ansätzen sind diese Begriffe immer wieder zu finden.381 (3) Rituale sind, drittens, als archetypische Handlungsformen zu verstehen. Darunter ist die Tatsache zu verstehen, dass die rituelle Sequenz wie ein Objekt erscheint mit einem eigenen Charakter, das im Verhältnis zur jeweiligen Ausführung chronologisch und ontologisch primär ist und im Bewusstsein der rituellen Akteure den »Archetypus« einer Handlung darstellt. Diesen gilt es zunächst möglichst genau nachzuahmen. Stipulation wie archetypische Form erwecken beim Handelnden den Eindruck, dass das Ritual als Handlung für ihn bereit liegt, bzw. eine überindividuelle Existenz besitzt, die unabhängig vom tatsächlichen Ritualvollzug ist.382 Der Seitenblick auf den Diskurs innerhalb der Liturgik relativiert die Missverständlichkeit der gewählten Terminologie. In analoger Weise versteht Volp Rituale als Rückgriff auf eine 379 Zum äußerst freien Umgang mit rituellen Sequenzen am Beispiel der preußischen Agendenreform durch Friedrich Wilhelm IV. vgl. Anselm Schubert: Liturgie der Heiligen Allianz. Die liturgischen und politischen Hintergründe der Preußischen Agende (1821/22), in: ZThK 110 (2013), 291–315. Die Agende von 1821/22 bringt die vermeintlich unlogische Abfolge: Confiteor – Gnadenzusage – Kyrie – Gloria in eine vermeintlich verständliche Abfolge: Confiteor – Kyrie – Gnadenzusage – Gloria. Dabei wird zwar die rituelle Eigenlogik gerade nicht verstanden, dennoch kann die Einzelsequenz nach der Umstellung immer noch funktionieren, d. h. als Ritual angenommen werden. 380 Bereits Martin Luther spricht in der Beschreibung der Abfolge des Gottesdienstes von »sequentiae« (vgl. WA 12, 210). 381 So bezeichnet etwa Iwar Werlen das Gesamtritual Gottesdienst als ein »Syntagma von Einheiten« (Die „Logik“, 47, vgl. auch o. 3.2.3). An anderer Stelle geht Werlen davon aus, dass die Abfolge der katholischen Messe zwar »vorgeschrieben ist und zwar von außen her, [aber] nicht aus innerer Logik« (Ritual und Sprache, 82). 382 Humphrey und Laidlaw sprechen daher auch von »ontological stipulation« (Humphrey/ Laidlaw: Archetypal Actions, 96).
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»Ursprungssituation«383 und auch Jetter zufolge erzeugt die Inszenierung von Ritualen den Eindruck, dass diese »nahezu unwiderruflich erscheinen«384. Insgesamt ist mit der Begriff »archetypisch« der Gedanke beschrieben, dass der Ritualvollzug an eine idealtypische Vorstellung gekoppelt ist, mit der eine möglichst große Ähnlichkeit erreicht werden soll und die zugleich neu in Kraft gesetzt wird im Sinne eines Re-enactments.385 Erneut begegnet man vergleichbaren Überlegungen im Rahmen von Begründungsmusters für Sakramente, insofern auch dort der Ursprungsbezug als konstitutives Merkmal verstanden wird. (4) Schließlich, viertens, zeichnen sich rituelle Handlungen dadurch aus, dass sie als apprehensibel verstanden werden. D. h. sie stellen ein Angebot zur Aneignung oder zum individuellen Erfassen dar und rufen dieses geradezu hervor. Unter Apprehension verstehen Humphrey und Laidlaw also die Möglichkeit, Ritualen Bedeutungen zuzuschreiben oder diese für die Akteure bedeutsam werden zu lassen. Formalisierung der Handlung und ihr Entzug aus unmittelbar zweckrationalen Vollzügen sind die dabei zu beobachtenden Strategien. Resultat dieser Zuschreibungen müssen nicht propositionale Gehalte, etwa theologische Aussagen sein. Sie kann sich auch in emotionalen Reaktionen äußern. War mit dem Ausführen archetypischer Handlungsformen eine Einschränkung der Autorschaft verbunden, tritt diese hier wieder hervor, ist doch der jeweils individuelle Vollzug entscheidend. In Verbindung mit der trotz der Stipulation immer wieder nötigen Adaption an die gegebenen Umstände entsteht das nach Humphrey und Laidlaw eigentümliche Paradox, sodass gilt: »In ritual you both are and are not the author of your acts.«386 Der Gedanken der Aneignungsfähigkeit von Ritualen lässt sich auch in anderen Ritualtheorien ansatzweise immer wieder erkennen.387 Das Modell der Bedeutungszuschreibung als Aneignungsprozess, der auch diskursive 383 »[D]as Ritual [ist] die öffentliche Darstellung des Zeichenaustauschs im Interesse von Ursprungssituationen« (Rainer Volp: Situation als Weltsegment und Sinnmarge, in: Ders. [Hg.]: Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, München 1982, 146–168, 158). Auch Volp stellt diesen Rückgriff in einen Zusammenhang mit Handlungsregeln, die sich aus der Ursprungssituation für das Gelingen der Erinnerung ergeben (vgl. aaO., 159) und die dazu helfen, die »Nähe von Ursprungssituationen« zu spüren. Darin sieht er das Ziel ritueller Vollzüge, die ein »Optimum an Kommunikationsaustausch« (aaO., 167) bieten. 384 Jetter: Symbol und Ritual, 97. 385 Diese Form der Ritualisierung ließe sich gut zeigen an der Entwicklung des Vaterunsers von einer zunächst inhaltlich orientierenden Gebetsvorlage zum Gebetstext selbst (vgl. Achim Budde: Gemeinsame Tagzeiten. Motivation – Organisation – Gestaltung, Stuttgart 2013, 105). 386 Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 99. Diese Doppelung findet sich auch häufig in den Beschreibungen des Gebetes. 387 Als Hypothese formuliert dies bereits Theodore W. Jennings: On Ritual Knowledge, in: JR 62 (1982), 111–127, 127: »our attempt to gain a reflective-critical knowledge of ritual is complementary to the noetic dimension of ritual itself.« Auch im Zusammenhang mit dem Kommunikationsaspekt von Ritualen hatte Iwar Werlen beobachtet, dass die Gottesdienstteilnehmer im Fall einer undurchsichtigen Abfolge das Ritual nicht einfach als sinnlos bewerten, sondern selbständig Sinnzuschreibungen vornehmen (vgl. Die „Logik“, 42).
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Bedeutungen beinhaltet, stellt ein Alternative zu solchen Modellen dar, die Reflexivität als Folge nur dann annehmen, wenn Konflikte und Krisen eintreten und eine Rationalisierung nötig machen.388 Der Kern der rituellen Einstellung besteht also darin, bestimmte Handlungssequenzen als stipuliert und daher zur Ausführung bereitliegend zu betrachten. Diese Form wird als archetypisch verstanden und besitzt somit normative Geltung. Er eröffnet Möglichkeiten zur kollektiven, vor allem aber zur individuellen Apprehension. Die rituelle Einstellung kann auch als Serie mentaler Operationen beschrieben werden, welche die Wahrnehmung einer Handlung unmittelbar und wirksam verändern, ohne auf bestimmten propositionalen Überzeugungen gegenüber dieser Handlung zu gründen. Es handelt sich also um eine Form von »performativem Denken«389, das sich wesentlich in der Handlung selbst, in ihrer Verkörperung äußert. Das Konzept der Ritualen zugeschriebenen Apprehensibilität vermag nicht nur Bedeutungslosigkeit und Bedeutungszuschreibung innerhalb einer Ritualtheorie zu integrieren. Es enthält darüber hinaus wichtige Implikationen für eine Theorie der Ritualdidaktik. Humphrey und Laidlaw gehen dabei von einer Stufung der Apprehension aus. Diese beginnt bei der schlichten Nachahmung der Handlung. Für das Erlernen des Ritualvollzugs ist dieser Schritt entscheidend und er stellt die grundlegende Voraussetzung aller weiteren Formen der Aneignung dar. Das Erreichen dieser Stufe kann als Regelerlernen beschrieben werden. Belässt man es allerdings beim bloßen Kopieren, tritt das ein, was häufig mit dem Begriff eines »leeren Rituals« verbunden wird: reine Routine ohne innere Beteiligung. Zugleich wird deutlich, dass bei rituellen Vollzügen eine Priorität der Handlungs- vor der Erklärungs- und Bedeutungskompetenz besteht. Eine weitere Stufe ist die physische Identifikation mit der Handlung, sodass die körperliche Verrichtung eine psychologische oder emotionale Wirkung entfaltet und der Handelnde sich ›in der Handlung verliert‹. Besonders treten diese Formen bei stark repetitiven Elementen etwa mit litaneiartigem Charakter auf. Rituellen Handlungen müssen also nicht notwendig diskursive Bedeutungen unterliegen. Die letzte und zugleich höchste Stufe der Aneignung bezeichnen Humphrey und Laidlaw mit der Wendung »meaning to mean«. Hierbei findet eine Verbindung statt zwischen der Zuschreibung eigener oder übernommener propositionaler Bedeutungen auf der einen Seite und individueller emotionaler Erfahrungen auf der anderen Seite. Sowohl die Form der Ausführung als auch die mit der Handlung verbundenen Bedeutungen werden in einer Form von Ernsthaftigkeit und emotionaler Betroffenheit erlebt. Theologisch gedeutet wird hier der Sprung vollzogen vom reinen Führwahrhalten religiöser Wahrheit (assensus/fides) 388 Vgl. Wulf: Praxis, 408. 389 Humphrey/Laidlaw: Archetypal Actions, 136.
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zum Glauben im Sinne des Sich-darauf-verlassen-Könnens (fiducia). Kognition und Emotion bilden eine Einheit und werden als körperlich erfahrbare Fokussierung von Leib und Geist empfunden. Äußerliche Handlung wird zu innerer Erfahrung und umgekehrt. Als Ziel ritueller Aneignung stellt sich dieser Zustand erst im Vollzug der Handlung ein, ohne unmittelbar erzeugt werden zu können. Eine in vielem vergleichbare Zielvorstellung rituell-liturgischen Verhaltens im Gottesdienst ließe sich formulieren, wenn die von Jetter beschriebene Spannung von »Darstellung und Durchdringung« zu einer Einheit findet.390
390 Jetter: Symbol und Ritual, 100.
III Der evangelische Gottesdienst als Ritual 10 Zur liturgiewissenschaftlichen Rezeption der Ritual Studies Die erste Einladung zum Dialog zwischen Liturgik und moderner Ritualtheorie findet sich bereits in der ersten Ausgabe des »Journal of Ritual Studies« 1987. Der methodistische Theologe Theodor W. Jennings erhoffte damit zugleich eine Erneuerung der protestantischen Theologie ausgehend von der Liturgie (liturgical theology). Von Beginn an waren und sind LiturgiewissenschaftlerInnen Teil der Ritual Studies-Bewegung, die generell ein hohes Interesse an christlichen Ritualen und Liturgien aufweist (s. o. 8.2.1). Dabei lässt sich allerdings eine starke Einseitigkeit bezüglich des römisch-katholischen Messgottesdienstes feststellen – sei dies in Abgrenzung von den liturgischen Reformen bei Douglas und Turner, oder in neutraler Weise bei Grimes und Bell.1 Humphrey und Laidlaw bilden daher nicht nur aufgrund ihres anglikanischen Hintergrunds, sondern auch durch ihre mehrfache Bezugnahme auf liturgische Vollzüge des Protestantismus eine Ausnahme.2
10.1 Katholische Rezeption Nicht nur die Rezeption der Ritual Studies, überhaupt der Diskurs um die Ritualität der Liturgie im Sinne einer anthropologischen Kategorie setzte innerhalb der katholischen Liturgiewissenschaft im Verhältnis zum evangelischen Diskurs auffallend spät ein. Davon zeugt eine der ersten umfangreicheren Publikationen, die von dem niederländischen Liturgiewissenschaftler Gerhard Lukken aus dem Jahr 1999 stammt.3 Dass man sich gerade in den Niederlanden mit dieser Thematik befasste, hat seine Ursache nicht zuletzt in einem starken gesellschaftlichen Wandel im Blick auf rituellen Praxis. Während der Abbruch kirchlicher Strukturen und damit auch der Ritualkultur seit den 1960er Jahren um einiges potenzierter verlief als in Deutschland, setzte in den 90er Jahre 1 Der Index von Ritual Theory, Ritual Practice listet zwar »Catholicism«, aber eben nicht »Protestantism«. 2 Hinzuweisen wäre noch auf den Theologen Tom F. Driver, dessen Ritualtheorie die Bedeutung von Ritualen für die Gesellschaft der Moderne im Allgemeinen herausstellen will und deshalb auch für eine veränderte Liturgiepraxis der Kirche wirbt (Liberating Rites. Understanding the Transformative Power of Ritual, Boulder, CO 21998). 3 Vgl. Gerard Lukken: Rituals in Abundance. Critical Reflections on the Place, Form, and Identity of Christian Ritual in our Culture, Leuven 2005 [1999].
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sodann eine ebenfalls besonders deutlich spürbare Hinwendung zu Ritualen ein. Von der Ritualkrise sprang man direkt zu den »Rituals in Abundance«. Lukkens Arbeit zielt darauf ab, inmitten der Notwendigkeit einer neuen Inkulturation der liturgischen Tradition in eine weitgehend säkularisierte Gesellschaft nach den Grenzen dieser Inkulturation und somit nach der Eigenständigkeit christlicher Rituale angesichts der Ritualfülle zu fragen. Noch ganz im Diktum der Selbstvergewisserung der Liturgiewissenschaft wird die Liturgie etwa im Hinblick auf ihre Partizipationsformen vom Theater deutlich abgetrennt: Die Liturgie kenne keine Zuschauer, nur Teilnehmer. Eine Ritualtheorie der Liturgik soll somit auf der Grundlage theologischer Bestimmungen ein kritisches Gegenüber zur allgemeinen Ritualtheorie darstellen. Wie dieser Gegensatz jenseits idealtypischer Vorstellungen empirisch verifiziert werden kann, spielt für die Argumentation noch keine Rolle. Lukkens umfangreiches Werk, das zu großen Teilen eine Auflistung verschiedener ritueller Perspektiven bietet, kann auf keine Vorläufer eines ritualtheoretischen Diskurses zurückgreifen, auch die Autoren der Ritual Studies sind noch nicht im Blick. Dies sich ändert unmittelbar nach der Jahrtausendwende. 2003 bietet ein weiterer Niederländer, Paul Post, im deutschsprachigen »Archiv für Liturgiewissenschaft« eine »Einführung und Ortsbestimmung« zu den Ritual Studies.4 Dabei werden nicht nur Turner und Douglas, sondern auch Grimes, Bell und Rappaport rezipiert. Post, seit 1994 Professor für Liturgische Studien in Tilburg, steht jedoch nicht nur für die Rezeption der englischsprachigen Ritualtheorie in Westeuropa, sondern auch für die Institutionalisierung dieser Disziplin, insbesondere als Leiter des »Institute for Ritual and Liturgical Studies (IRiLiS)«.5 Zur wichtigen Stimme in der Ritualforschung ist Benedikt Kranemann geworden, Professor für Liturgie an der Universität Erfurt. Der lokale Hintergrund ist auch hier relevant, sind doch Kirche und Theologie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ebenfalls massiv mit einer gesellschaftsweiten Säkularisierung befasst. Seine Frage nach Riten und Rituale[n] in der Postmoderne geht zunächst ähnlich wie Lukken von einer veränderten Rolle von Religion in der Moderne aus und untersucht die Folgen für die Bedeutung von Ritualen innerhalb der Religion.6 Kranemann unterscheidet hier zwischen »älterer« und »moderner« Ritualforschung, die auf die Omnipräsenz 4 Vgl. Paul Post: Ritual Studies. Einführung und Ortsbestimmung im Hinblick auf die Liturgiewissenschaft, in: ALW 45 (2003), 21–45. 5 Bereits 2003 begründete er die Reihe »Netherlands Studies in Ritual and Liturgy«. 2009 wurde das von ihm geleitete interuniversitäre Liturgische Institut umbenannt zum »Institute for Liturgical and Ritual Studies«, ab 2012 lautet der Titel »Institute for Ritual and Liturgical Studies (IRiLiS)«. Parallel dazu trägt auch das »Jaarboek voor liturgie-onderzoek« seit 2009 den englischen Untertitel »Yearbook for Ritual and Liturgical Studies«. 6 Benedikt Kranemann: Riten und Rituale der Postmoderne (2007), https://www.uni-erfurt.de/ fileadmin/user-docs/Liturgiewissenschaft/KranemannRitenRitualePostmoderne.pdf (25. 03. 2019).
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von Ritualen in sämtlichen Gesellschaftsbereichen hinweist und dabei die dynamische Entwicklung der Felder rituellen Handelns in den Blick nimmt. In seiner Einleitung zum Dokumentationsband des Treffens der Arbeitsgemeinschaft katholischer Liturgiewissenschaftler 2006, das unter dem Thema Die modernen Ritual Studies als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft stand, betont Kranemann anhand einer Zusammenstellung der in den Ritual Studies gewonnenen Erkenntnisse für die Liturgiewissenschaft, dass deren Rezeption vor allem eine Perspektivenerweiterung der Liturgiewissenschaft bedeutet.7 Aber auch umgekehrt könnten sich Synergieeffekte einstellen. Dies gilt zum einen methodisch mit Blick auf die Interdisziplinarität der Ritual Studies, deren kulturwissenschaftliche Herkunft einen grundlegenden empirischen Bezug beinhaltet. Die Ausweitung der Perspektive bezieht sich zum anderen für Kranemann vor allem auf die wahrzunehmenden Phänomene. Überschreitet man die kirchliche Binnenperspektive mit ihrer primären Fokussierung auf die »kirchliche Kernliturgie«, wird man der Tatsache gewahr, dass sich christliche Rituale auf einem »Markt der Rituale« behaupten müssen, auf dem die Kirche keine Monopolstellung mehr beanspruchen kann. Zugleich werden der Kirche noch immer hohe rituelle Kompetenzen zugeschrieben, die auf dem Gebiet der Zivilreligion, etwa im Umgang mit Katastrophen oder im interreligiösen Dialog angefragt werden. Die Pluralisierung ritueller Praxis führt sodann zur Entstehung neuer Rituale im Rahmen von »Ritualdesign« jenseits der Kirche. Aber auch innerhalb der Kirche bilden sich jenseits der traditionellen Formen Rituale anlässlich bestimmter Lebenssituationen und vor allem Lebenskrisen heraus. Fragt man nach den Auswirkungen für den Messgottesdienst, bedeutet dies zum einen das Auswahlverhalten der Kirchenmitglieder, ihre selektiven und pluralen Formen ritueller Partizipation wahrzunehmen und wertzuschätzen.8 Zum anderen kann gerade an den neuen Ritualen die Bedeutung körperlich-sinnlichen Handelns und Erlebens beobachtet werden. Das Anliegen der Perspektiverweiterung kann sich ebenso auf Ronald Grimes berufen, der sich für die Hinwendung zu den »rituellen Rändern« ausgesprochen hatte, wie die Erarbeitung eines Repertoires an Kriterien, das eine Kritik von Ritualen erlaubt. Einerseits soll es um eine kritische Begleitung der neuen Rituale gehen, die sich in der Kirche entwickelt, welche nicht nur nach ihrem Verhältnis zu den kirchlichen Kernliturgien fragt, sondern auch nach dem Verhältnis von Inkulturation und Konterkulturalität. Nathan Mitchell fügt hier das Kriterium der Interkulturalität hinzu, um darauf hinzuweisen, dass innerhalb der Ritual Studies Ritual und Kultur in einem per7 Vgl. Ders.: Einführung. 8 Nathan D. Mitchell betont, dass die Gleichung »to belong to the church is to belong to its liturgy« keine Geltung mehr beanspruchen kann (The Significance of Ritual Studies for Liturgical Research, in: Kranemann/Post [Hg.]: Die modernen Ritual Studies als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft, 63–85, 79).
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manenten Wechselverhältnis stehen. Für die Kirche verbindet sich damit die Herausforderung, sich innerhalb der rituellen Landschaft der Postmoderne zu verorten und nach den sozialen oder individuellen Bedürfnissen zu fragen, die primär im Zentrum stehen sollen. Gerade in ihrer Rolle als Beobachter muss sich die Liturgiewissenschaft hier selbstkritisch der Tatsache der Beeinfluss der Beobachtung durch den Beobachter stellen.9 Andererseits sollen ritologische Kriterien der Kritik an den kirchlichen Kernliturgien und ihren Defiziten helfen. Hier erwähnt Kranemann insbesondere die unterschiedlichen Möglichkeiten der Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf ein spezifisches Ritual, die es zunächst einmal wahrzunehmen gelte. Darin spiegelt sich das vor allem aus katholischer Sicht wichtige Bemühen um eine stärker deskriptive und empirische Liturgiewissenschaft. Die Frage nach pastoraltheologischen Strategien soll vorerst im Hintergrund bleiben, auch wenn die interdisziplinäre und vor allem interreligiöse wie interkulturelle Perspektive die Möglichkeiten erhöht, durch Vergleiche u. a. in der Frage nach dem Umgang mit dem Verlust bzw. dem Erwerb von Ritualkompetenz. Zusammenfassend zeigt bereits dieser knappe Blick auf ausgewählte Publikationen die Grundlinien des katholischen Rezeptionsinteresses der Ritual Studies. Es geht darum, die »Kraft der Rituale« innerhalb der Kirche zu erhalten, dem rituellen Kompetenzverlust zu begegnen sowie dem religiösen Pluralismus der Gegenwart Bewährtes entgegenzustellen. Der von Post und Kranemann vertretene Ansatz beinhaltet die Tendenz, die Liturgiewissenschaft mithilfe des Dialogs mit den Ritual Studies stärker auf rituelle Phänomene jenseits der »Hochformen des Gottesdienstes« auszurichten, auf die neuen Rituale ebenso wie auf Devotion und Frömmigkeit, die über Jahrhunderte hinweg den Alltag durchzogen. Erst allmählich deuten sich dabei Möglichkeiten an, Folgerungen für die Gestaltung und Bewertung liturgischen Handelns in der Messe zu ziehen. In dem zusammen mit Post herausgegebenen Tagungsband wird geradezu mit Erstaunen die weitgehende Kontaktlosigkeit zwischen Ritualtheorie und Liturgik festgestellt. Kranemann sieht für die Theologie darin die Folgen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen: »Riten- und Autoritätskritik sind Phänomene, die sich mit den 1960er und 1970er Jahren verbinden.«10 Diese Bewertung muss vor dem Hintergrund der im Laufe der vorliegenden Studie gewonnenen Einsichten revidiert werden. Zum einen geht eine pauschale Beschreibung »der siebziger Jahre« unter dem Stichwort der Ritualkritik am gesellschaftlichen und liturgischen Wandel vorbei, der spätestens Mitte der siebziger Jahre einsetzte und ausgehend von empirischen Einsichten vielfach die Bedeutung von Ritualen reflektierte. Zum anderen wird deutlich, dass der 9 S. o. 8.2.1 sowie Bells Überlegungen zur Ritualität der Ritualforschung in 8.3.1. 10 AaO., 15.
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intensive ritualtheoretische Diskurs innerhalb der evangelischen Liturgik – bis auf knappe Erwähnungen Jetters – keinerlei Beachtung findet. Nur so ist der Eindruck zu erklären, dass »zumindest im deutschen Sprachgebiet Ritualforschung und Liturgiewissenschaft seit Jahren nebeneinander betrieben werden und […] bislang kaum Kontakt zueinander gefunden haben.«11
10.2 Evangelische Rezeption Eine vergleichbare Rezeption der Ritual Studies wie in der katholischen Liturgie hat innerhalb der evangelischen Praktischen Theologie bis jetzt nicht stattgefunden. In der Darstellung der Ritualtheorie Hans-Günter Heimbrocks war auch auf das wissenschaftliche Umfeld der Groninger Arbeitsgruppe »Zur Praxis von Ritualen« zu Beginn der 1990er Jahre hingewiesen worden. Die in diesem Kontext erfolgte breite Rezeption angelsächsischer Autoren ist seither die Ausnahme geblieben. Dabei hatte bereits 1998 Petra Bahr ein Panoptikum von Einsichten der modernen Ritual Studies geboten. Der im Zusammenhang einer religionsphilosophischen Studie zum Darstellungsbegriff12 entstandene Beitrag in der Praktischen Theologie bleibt dabei ganz auf der begrifflichen Ebene und enthält sich liturgischer Konkretionen. Ausgehend von Victor Turner werden Rituale zwischen den Polen von ›Liminalität‹ und ›Theatralität‹ bestimmt als »prekäre Inszenierungen. Sie sind paradoxal strukturiert und oszillieren zwischen Freiheit und Norm, Unbestimmtheit und Form, Darstellung und Darstellungsentzug, Machtförmigkeit und Subversion.«13 Bahrs Mitvollzug der mit dem Ritualisierungsbegriff vollzogenen Wende, die stärker nach Bestimmungen des Rituals selbst als nach Beschreibungen seiner Leistung fragt und auf eine dynamische Wahrnehmung ritueller Phänomene abzielt, drückt sich bereits im Kreisen um den Begriff des »Zwischen« aus. Dabei geht es um Vorarbeiten zur Erstellung »ritologischer Kriterien«, die eine Kritik des Rituals unter den Aspekten »der Angemessenheit, der ›Werkstreue‹ und der Qualität der Inszenierung«14 ermöglichen. Dabei erweitert sich auch das Bild mimentischer Vollzüge. Als gleichermaßen »Modell von etwas und Modell für etwas« stehen Rituale »zwischen Imitation und Imagination.«15 Ebenfalls unter Rezeption einschlägiger Autoren der Ritual Studies geht 2002 Andrea Bieler der Frage nach, welche Themen die Praktische Theologie und speziell eine »kritische Liturgiewissenschaft« im 21. Jahrhundert be11 Kranemann/Post (Hg.): Die modernen Ritual Studies, 1. 12 Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant, Univ.-Diss. Basel 2003, Tübingen 2004. 13 Dies.: Ritual und Ritualisation. Elemente zu einer Theorie des Rituals im Anschluss an Victor Turner, in: PrTh 33 (1998), 143–158, 145. 14 AaO., 153. 15 AaO., 154.
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schäftigen werden. Auch hier spielt der lokale Hintergrund eine wichtige Rolle: Bieler unterrichtete zu dieser Zeit im Fach Liturgik an der Pacific School of Religion in Berkeley und bezieht daher auch ihre Überlegungen auf einen multikulturellen Kontext. Wie bereits bei Bahr so könnte auch hier einer der Gründe, warum die Überlegungen nicht weiter aufgegriffen wurden, in der Enthaltung jeder Konkretion liegen. Insgesamt werden innerhalb der Liturgik stattdessen ältere Ansätze zumeist fortgeschrieben. Exemplarisch lässt sich dies anhand Hans Martin Dobers Studie über Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual zeigen. Obgleich Dober die neueren Ansätze der Ritual Studies an früheren Texten durchaus rezipiert,16 wird die Funktion von Ritualen nun erneut festgeschrieben als »wohlverdient erscheinende Ruhepunkte«17, deren Entlastungfunktion nur dann gefährdet ist, wenn Rituale erstarren. Ausdruck eines Rezeptionsdefizits ist auch die Tatsache, dass sich die ritualtheoretischen Überlegungen noch immer größtenteils anhand der Ausführungen von Manfred Josuttis zum Gottesdienst als Ritual von 1982 orientieren. Somit übernimmt Dober auch die Problematik, die mit einer Theorie des Gottesdienstes verbundenen ist, deren Grundlage anhand nur sehr bedingt vergleichbarer Phänomene erstellt wurde. Dies trifft sowohl Goffmans Überlegungen zu Alltagsroutinen wie auch van Genneps und Turners Theorien der Schwellenrituale. Dabei wird der Gottesdienst als »Schwellenphase« beschrieben und die kirchlichen Kasualhandlungen als Paradigmen verstanden, die auch den Gottesdienst normieren.18 Die Theorierezeption dient im Zirkelschluss vorwiegend dazu, die »unverzichtbare Funktion« von Ritualen – und damit des Gottesdienstes – zu belegen. Dober sieht kaum eine Notwendigkeit, die Spezifik des Rituals begrifflich herauszustellen: Frühstück und Geburtstagsfeier, der Urlaub oder »de[r] Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin«19 können ohne Rückbindung an konkrete körperliche Vollzüge als »Schwellenübergänge« verstanden daher unter den Begriff ›Ritual‹ subsumiert werden. Die Funktion des Rituals ›Gottesdienst‹ wird unabhängig von den tatsächlichen Rezeptionsvollzügen ausschließlich theologisch formuliert – wie etwa die These, das Abendmahl ermögliche eine »communitas« Erfahrung im Sinne Turners.20 Entgegen des in der vorliegenden Studie vertretenen Ansatzes verliert der Begriff damit seinen Status als humanwissenschaftliche und somit
16 Vgl. Hans M. Dober: Das Vaterunser als Ritual. Ein praktisch-theologischer Versuch über das gemeinsame Gebet im Gottesdienst, in: DtPfrBl 102 (2002), 225. 17 Ders.: Die Zeit ins Gebet nehmen. Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual, Göttingen 2009, 81. 18 Vgl. aaO., 90. Dass er diese »Schwellenphase« im Gottesdienst dann »entweder in der individuellen Meditation erblicken kann oder im Hören auf die (ebenfalls individuelle) Rede des Predigers« (aaO., 91), zeigt eine theoretische Unklarheit. 19 AaO., 90. 20 AaO., 92.
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primär deskriptive Kategorie, die auf der Grundlage selbstkritischer empirischer Erhebungen zu füllen ist. Auch auf dem Gebiet der Kasulatheorie findet die Entwicklung der Ritualtheorie jenseits der Arbeiten Victor Turners nur langsam ihren Niederschlag.21 Eine Ausnahme bilden Ulrike Wagner-Raus Überlegungen zur Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft. Sie geht von der These aus, dass sich rituelle Vollzüge »relativiert […,] pluralisiert […,] individualisiert und privatisiert«22 haben. Die Rezeption der Ritual Studies konzentriert sich zum einen auf die späteren Arbeiten Turners und dessen Unterscheidung von liminalen und liminoiden Formen des rituellen Handelns in einer modernen und pluralen Gesellschaft. Doch trotz voranschreitender »Enttraditionalisierung«, kommt es nicht zu einer Entritualisierung, weil das Bedürfnis, das Unsichtbare sichtbar, erlebbar zu machen und körperlich zu inszenieren ungebrochen ist. Daraus folgend greift Wagner-Rau zum anderen auf das Performance-Konzept von Ronald Grimes zurück, das mit der Ritualisierungsthese verbunden ist. Kasualrituale führen nicht mehr etwas Gegebenes auf, sondern schaffen Wirklichkeit im Vollzug. Die Frage danach, wie dies geschieht, ordnet WagnerRau den Ritual Studies zu. Für die Ritual-»Experten« bedeutet dies eine erhöhte Anforderung an eine »praktische Expertise des Vollziehens.«23 WagnerRaus Versuch, das Bild der rituellen Begehung von Schwellen im Licht der Ritual Studies zu modifizieren zeigt beiläufig, dass der ausschließlich englischsprachige Bereich der Ritual Studies auch durch die Sprachdifferenz weniger umfangreich rezipiert wird. Interessant ist im Gegenüber zur begrenzten Rezeption innerhalb der praktischen Theologie ist die seit einigen Jahren intensive Auseinandersetzung im Bereich der Exegese. Bereits 1999 setzte sich Christian Strecker im Zusammenhang seiner Dissertation zur paulinischen Tauftheologie intensiv mit Victor Turner auseinander. Er äußert die Überzeugung, »daß die neutestamentliche Exegese von einer intensiveren Besinnung auf kulturanthropologische Theorien und Konzepte letztlich nur profitieren kann«24. Seither sind zahlreiche Arbeite im Bereich des Alten wie auch des Neuen Testaments entstanden.25 Dabei fällt zum einen auf, dass die Konzentration auf Turner auch hier nur langsam aufbricht.26 Zum anderen besteht auf dem Feld der 21 Vgl. Albrecht: Kasualtheorie, 161. Ein echter Neuerungswert wird den mit dem Ritualisierungsbegriff verbundenen Überlegungen dabei jedoch nicht zuerkannt. 22 Ulrike Wagner-Rau: Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 2 2008, 115. 23 AaO., 126. 24 Strecker: Die liminale Theologie des Paulus, 6. Vgl. das Themenheft »Ritual« der Zeitschrift für Neues Testament 35 (2015). 25 Vgl. auch die exemplarische Zusammenstellung bei Ders.: Anstöße der Ritualforschung. Das Ritual als Forschungsfeld der neutestamentlichen Exegese, in: ZNT 18 (35/2015), 3–14, 10–12. 26 Vgl. etwa Gerhard Karner, der mithilfe der kognitiven Ritualtheorie von Thomas E. Lawson
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exegetischen Forschungen bereits seit längerer Zeit eine wesentlich stärkere internationale Vernetzung, da die jeweiligen Forschungsfragen sich auf ein Praxisfeld beziehen, dass in geringem Maße vom aktuellen kulturellen und kirchlichen Kontext geprägt ist. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass für den Bereich der Liturgik der konfessionelle Vergleich gezeigt hat, dass die gegenwärtige Nähe katholischer Forschung zu den modernen Ritual Studies umgekehrt eine größere Nähe der Ritualtheorie zum Katholizismus entspricht. Eine ähnlich intensive Debatte um den Ritualbegriff, wie sie in der evangelischen Liturgik bis Anfang der 1990er Jahre geführt wurde, findet auf katholischer Seite keine Entsprechung. Gegenwärtige ritualtheoretische Überlegungen zum Gottesdienst verzichten dabei auch auf die in diesen Debatten gewonnenen Erkenntnisse, wie sie im ersten Teil der vorliegenden Studie erarbeitet wurden. Dass die Rezeption dieser Theorien noch ganz am Anfang steht, lässt sich mithin daran ablesen, dass nahezu alle Publikationen, die sich den in den Ritual Studies verhandelten Fragen zuwenden, mit einer Einführung in die Genese und zentralen Anliegen dieser Disziplin einsetzen – die vorliegende Studie reiht sich hier ein.
und Robert N. McCauley die rituellen Vollzüge in den Elija-Elischa-Erzählungen untersucht (Elemente ritueller Handlungen in den Elija-Elischa-Erzählungen. Untersuchungen zur literarischen Umsetzung ritueller Handlungselemente im Vergleich zur mesopotamischen keilschriftlichen Tradition, Univ.-Diss. Wien 2009, http://othes.univie.ac.at/9620/1/2009-12-30_ 9601453.pdf [30. 01. 2016]).
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11 Ritualanalyse des Gottesdienstes Der Darstellung der Entdeckung des Ritualbegriffs in der evangelischen Liturgik samt ritualkritischer Anfragen vor wie nach der Ritualbegeisterung ab den 1970er Jahren im ersten Teil der Arbeit schließt sich nun im dritten Teil ein Beitrag zur Neukonzeption des Ritualbegriffs evangelischer Liturgik an. Die anhand der Theorien von Ronald Grimes, Catherine Bell sowie Caroline Humphrey und James Laidlaw gewonnenen Erkenntnisse sollen für eine Theorie spezifisch protestantischer Ritualität im Gottesdienst in sieben Thesen präsentiert werden. Sie wollen zeigen, wie eine Ritualanalyse des Gottesdienstes ausgehend von mimetischen, kritischen und aneignenden Momenten im konkreten Ritualvollzug zu betreiben wäre. 1. Ritualtheorie orientiert sich an konkreten Gottesdiensten. Ausgehend vom Begriff der ›Ritualisierung‹ besteht das Ziel ritualtheoretischer Forschung nicht darin, eine feststehende Definition weder des Rituals noch des evangelischen Gottesdienstes zu entwerfen. Als Ausgangspunkt einer ritualtheoretischen Analyse sind stattdessen konkrete Praxisphänomene zu wählen – evangelische Gottesdienste, wie sie gegenwärtig in lokal und regional unterschiedlicher Ausprägung gefeiert werden. Der Prozess der Überführung von Handlungen aus dem Alltagskontext in rituelle Formen erfolgt graduell und ist reversibel. Aufgabe der Ritualtheorie ist vor alle die Beobachtung und Analyse solche Prozesse der Ritualisierung. Insofern ist evangelische Ritualtheorie eine empirische Disziplin, die unter anderem die methodischen Einsichten der Teilnehmenden Beobachtung berücksichtigt, die insbesondere die Zugangsmöglichkeiten zum rituellen Erleben steigert. Das konfessionelle Profil gottesdienstlicher Ritualität müsste sich ebenfalls auf dieser Ebene erweisen, doch tritt diese Frage vor dem Hintergrund sich auflösender konfessioneller liturgischer Identitäten aus soziologischen wie individuellen Adaptionsbedürfnissen zunehmend zurück. Überhaupt ist die Kopplung ritualtheoretischer Forschung an die konkreten Handlungsvollzüge geeignet, das Bedürfnis nach konfessioneller Abgrenzung zu reduzieren, da Unterschiede im Liturgieund Ritualverständnis nicht mehr programmatisch und a priori festgeschrieben werden müssen, sondern sich anhand der empirischen Daten von selbst einstellen – oder eben ach nicht. Weil es sich zunächst um eine anthropologische Kategorie handelt, stellen Übereinstimmungen zwischen den Konfessionen kein grundlegendes Problem dar. Unterschiede können dennoch in der theologischen Bewertung auftreten, also innerhalb liturgiewissenschaftlicher Ritualkritik. 2. Ritualtheorie ist ausgehend von Ritualisierungsprozessen zu konzipieren, die zunächst formal zu analysieren sind. Eine empiriebasierte Ritualanalyse zielt sodann weniger auf die Bestimmung der Funktionen, die das Ritual ›Gottes-
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dienst‹ allgemein erfüllt, sondern auf formale Kennzeichen von Ritualisierungsprozessen. Während funktionale Beschreibungen dazu neigen, innerhalb der Gesamtfunktion von Religion und Frömmigkeit aufzugehen, richten sich formale Fragen auf konkretes Handeln und seine Wahrnehmung. Ob eine Handlung als Ritual gilt, lässt sich mit Humphrey und Laidlaw zunächst lediglich am Vorhandensein einer rituellen Einstellung bestimmen. Diese schlägt sich darin nieder, dass die Form der Handlung von den Akteuren als gegeben vorausgesetzt und somit zur Ausführung bereitliegend verstanden wird. Einen Hinweis darauf bietet die spezfische namentliche Bezeichnung der Handlung. Die so gegebene Handlung wird dann zum Ausgangspunkt von Bedeutungszuschreibungen. Das Vorliegen einer rituellen Einstellung zur Voraussetzung zu machen bedeutet, Rituale vorwiegend als Rezeptionskategorie zu verstehen, deren Existenz am konkreten Vollzug hängt. Rituale sind somit Handlungen, die von den Akteuren als Rituale behandelt werden. Sichtbar wird dies am Umgang der Liturgen mit Ritualbüchern und Handlungsvorlagen, ebenso anhand unterschiedlicher Formen der Akzeptanz, aber auch der Verweigerung von Partizipation sowie an individueller Wertschätzung. 3. Rituale sind von ihren rituellen Einzelsequenzen her zu analysieren. Gottesdiensttheorien gehen häufig von einem undifferenzierten Begriff des »Gesamtrituals« (Jetter) aus, wobei die Bedeutung des Ritus von einem übergeordneten Schema (Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten) oder theologischen Bestimmungen (Bundeserneuerung; Gottesbegegnung) her erschlossen wird. Unter ritualtheoretischem Blickwinkel sind stattdessen zuerst die einzelnen Sequenzen in ihrer Selbstständigkeit in den Blick zu nehmen. Nicht nur ist dies eine Folge aus dem an der konkreten Handlung orientierten Ritualisierungsansatz. Die Einsicht beruht zudem auf Catherine Bells Kriterium der »privilegierten Unterscheidung«, demzufolge Rituale sich von ihrem jeweiligen Kontext abgrenzen. Dies lässt sich eben nicht nur an Beginn und Ende eines Gottesdienstes nachvollziehen (Gruß – Segen), sondern auch innerhalb des Gesamtrituals. Die namentliche Bezeichnung der Sequenzen verstärkt diese Selbstunterscheidung. Insbesondere die sprachwissenschaftlichen Analysen27 haben gezeigt, inwiefern der evangelische Gottesdienst in den allermeisten Fällen aus einer Verbindung von ritualisierten und nichtritualisierten Sequenzen besteht. Ritualtheoretisch gewinnen damit die jeweiligen Rahmungen der rituellen Handlung (›framing‹) an Bedeutung, die einen Wechsel zur rituellen Einstellung erfordern. Die Fokussierung auf rituelle Sequenzen kann unter anderem näher beleuchten wie Veränderungen und Reformen der Liturgie durchgeführt werden. Häufig kommt es zu Umstellungen festgelegter ritueller Sequenzen. Ein sequenzielles Ritualverständnis macht darüber hinaus die Ausgliede27 S. o. 3.2.4.
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rung einzelner Sequenzen wie etwa des Vaterunsers aus einem größeren Ritenkomplex in Alltagskontexte verständlich. Es regt an zu fragen, wie sich das im rituellen Handeln enthaltene Handlungswissen samt seiner Bedeutungszuschreibungen dort niederschlagen. Aus liturgischer Sicht wäre allerdings noch einmal zu fragen, inwiefern das Erleben des Gesamtablaufs eines Ritus ebenfalls rituelle Qualität besitzen kann, bzw. wie die Fokussierung auf die einzelnen Elemente mit dem Handlungsfluss, der erst durch die Kombination und das Aneinanderreihen verschiedener Sequenzen entsteht, vermittelt werden kann.28 4. Rituale sind als bewusst gewählte Handlungsstrategien zu analysieren. Das Verständnis ritueller Handlungen als Strategien folgt aus dem hier vertretenen Ansatz, Rituale als Handlungen ernst zu nehmen. Handlungen liegt eine vorausliegende Intention der Handelnden zugrunde, die zumeist jedoch nicht vollständig explizierbar ist. Eine Deutung von Ritualen als bloßer Routine oder »mechanischer, konventionalisierter Handlung« (Goffman29) wird damit ausgeschlossen. Rituale bewirken, dass sich die Konzentration unmittelbar auf den Handlungsvollzug richtet. Die bewusste Wahl eines Rituals hat jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Form und Gestaltung des Rituals. Humphrey und Laidlaw sprechen daher von »nicht-intentionalem« Handeln. Wie bereits in den Gottesdienstumfragen der 1970er Jahre deutlich wurde, wählen Menschen das Ritual Gottesdienst aus sehr unterschiedlichen Gründen, auch dann, wenn sie offiziellen Bedeutungszuschreibungen nicht zustimmen. Denn Gottesdienstbesuch als bewusste Wahl oder Strategie zu bezeichnen, widerspricht der nicht selten geäußerten These, Tradition, Brauch oder schlicht Routine seinen die entscheidenden Handlungsmotive. Diese Ansicht war bereits in den 70er Jahren kaum noch plausibel. Dem strategischen Verständnis entspricht auch die durchgehende Verwendung des Begriffs der ›Akteure‹ im Gegenüber zu bloßen ›Teilnehmern‹. 5. Die Handlungsstrategie der Ritualisierung steht in Verbindung mit unterschiedlichen Formen von Ritualkritik. Im Zentrum der überwiegenden Mehrheit liturgiewissenschaftlicher Ausführungen zum Ritualcharakter des Gottesdienstes steht die Betonung seines stabilisierenden, ordnungs- und gewissheitsstiftenden Charakters. Diese Ansicht verdankt sich zumeist der Adaption der Theorie der Schwellenrituale nach Arnold van Gennep und Victor Turner. Mit Ronald Grimes lassen sich hingegen zwei grundlegende Formen von Ritualkritik benennen, die diesen einheitlichen Charakter stets durchbrechen, die zum Wesen von Ritualität gehören und ihre Anschlussfähigkeit für die Moderne stärken. Zum einen rufen rituelle Vollzüge nicht selten Kritik von Seiten profes28 Vgl. Wannenwetsch: Ökonomie des Gottesdienstes, 54 f. 29 Zitiert bei Josuttis: Der Gottesdienst als Ritual, 47. Vgl. auch die Kritik unter 3.4.
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sioneller Beobachter hervorrufen (Kritikerkritik). Die Liturgiewissenschaft sollte eine Instanz dieser Art von Kritik für den christlichen Glauben sein. Dabei ist nicht nur das Scheitern von Ritualen in den Blick zu nehmen, vielmehr soll nach den Bedingungen des Gelingens ritueller Interaktionen geforscht werden.30 Der Blick auf die ältere Ritualkritik (4.1) hat gezeigt, dass selbst ausgehend von einer generell kritischen Haltung gegenüber rituellen liturgischen Formen Ritualkritik eine konstruktive Funktion für die Aktualisierung und Entwicklung der liturgischen Abläufe erfüllen kann. Die zweite Form von Ritualkritik wird im rituellen Handeln selbst ausgedrückt. Dabei kann es sich einerseits um Kritik gegenüber allgemeinen kulturellen Werten oder gegenüber außerrituellen Macht- und Herrschaftsansprüchen handeln (emische Kritik). Zu denken wäre an Protest- oder überhaupt an gesellschaftskritische Rituale. Andererseits können Rituale zu Mitteln der Kritik an spezifischen institutionell sanktionierten Bedeutungszuschreibungen werden oder Kritik anderer Rituale dienen (etische Kritik). Der Blick auf das kritische Potenzial von Ritualen kann helfen zu erkennen, dass die Liturgie einem Stabilisierungsbedürfnis auf Seiten der Beteiligten gerade entgegenstehen kann und Handlungen zugemutet werden, die in deutlichem Kontrast zu alltäglichen Handlungsvollzügen stehen. Rituale wollen nicht nur »Heimat« bieten, sie können auch verstören und sind auf Seiten der Akteure mit Risiken verbunden. Für den Sonntagsgottesdienst ist diese Dimension bisher noch nicht bearbeitet, wenngleich in der evangelischen Liturgik bereits in den 1980er Jahren etwa von Gert Otto zur Wahrnehmung dieser kritischen Dimension aufgerufen wurde.31 6. Ritualisierung dient der Aushandlung von Machtverhältnissen. Wie Catherine Bell gezeigt hat, beziehen sich diese Aushandlungsprozesse auf soziale Strukturen und Hierarchien, ebenso aber im Hinblick auf Deutungsprozesse und Bedeutungszuschreibungen ritueller Handlungen. Lange Zeit wurden Rituale lediglich als Instrumente der Ausübung klerikaler Macht und Vormundschaft gedeutet. Dieses Urteil gilt es nicht zuletzt auf Grund der kulturwie kommunikationstheoretischen Einsicht zu reformulieren, dass Macht wie auch Kompetenz als Resultat eines Interaktionsprozesses zu verstehen sind und auf Wechselseitigkeit beruhen. Wo es zu einem starken Ungleichgewicht im Hinblick auf die Durchsetzung der eigenen Interessen zwischen rituellen Akteuren kommt, wächst im Fall des Gottesdienstes der Liturgiewissenschaft die Aufgabe zu, diese transparent zu machen. Dabei sind nicht nur Rituale der 30 Vgl. Grimes/H sken: Ritualkritik, 161 f. 31 Gert Otto: Grundlegung der praktischen Theologie (Praktische Theologie Bd. 1), München 1986, 239: »Der Ritus und seine Funktion für die Beteiligten ist theologisch ernst zu nehmen; er ist, auch in der Dimension der Rituskritik, das Medium der Verkündigung. Jede abwertende Rede, daß hier die Kirche oder der Pfarrer für ›bloße Zeremonien‹ mißbraucht werden, erweist sich angesichts der Realität nicht nur als ahnungslos, sondern sie ist ein Stück Menschenverachtung.«
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unmittelbaren Interaktion zu bedenken, sondern auch die architektonische Organisation der rituellen Räume. Dadurch kann der Blick auch auf jene Aushandlungsprozesse fallen, die nicht zwischen Institution und Individuum, Liturg und Gemeinde erfolgen, sondern auch innerhalb der Gemeinde. 7. Rituale lassen Raum für unterschiedliche Modi der Aneignung und rufen diese zugleich hervor. Die Bedeutung eines Rituals beruht auf Zuschreibungsprozessen durch die Akteure. Das Fehlen intrinsischer Bedeutung bedeutet zugleich eine Deutungsoffenheit, welche die Integration der rituellen Sequenzen in unterschiedliche Kontexte ermöglicht, d. h. sich immer wieder neu als bedeutsam erweisen kann. Die Stabilität ritueller Formen steht im Wechselverhältnis zur Deutungsoffenheit und damit zu dem für Rituale typischen Verzicht auf »Bedeutungskontrollmechanismen« (Thomas). In Bezug auf die These der ›Nicht-Intentionalität‹ wäre dennoch zu prüfen, wie sich veränderte Bedeutungszuschreibungen auf die konkrete Ausführung der vorgegebenen rituellen Formen auswirkt und wie umgekehrt ein mit der Zeit veränderte Ausführung die Bedeutungszuschreibung beeinflusst. Bedeutungszuschreibungen im Sinne diskursiver Gehalte stellt jedoch nur eine mögliche Form der Aneignung dar. Innerhalb eines gestuften Aneignungsprozesses (Humphrey und Laidlaw), der mit mimetischen Vollzügen einsetzt, stellt die emotionale Identifikation mit der Handlung einen wichtigen Schritt dar. Eine weitere Stufe stellt die individuelle Konzeptionierung und Rationalisierung der Handlung dar, die mit einem eigenen Verständnis ihrer Sequenzen und ihrer Ausführungsregeln verbunden sind. Hier wird deutlich, inwiefern Rituale Reflexionsprozesse evozieren und dabei von der konkreten und wiederholten körperlichen Handlung ausgehen. Der Fokus der Ritualanalyse ist darüber hinaus vor allem auf die expliziten Reflexionsformen zu richten, die sich im Umfeld ritueller Vollzüge einstellen und auf diese Bezug nehmen. Nähere Einblicke dazu sind nur mittel empirischer Erhebungen zum Verhalten und Deuten der tatsächlichen Akteure zu erlangen. Insgesamt ist die Reflexion ritueller Vollzüge keine spezifische protestantische Form des Umgangs mit Ritualen, die erst von außen an die Rituale herangetragen werden müsste.32 Vielmehr gilt es, diese Reflexionen im Umfeld von Ritualen künftig stärker wahrzunehmen und für die Ritualgestaltung zu nutzen. Als Zielpunkt ritueller Praxis kann die Verbindung von Kognition und Emotion, von Konzentration auf die Handlung und Bedeutungszuschreibung gelten, die Werner Jetter als Einheit von »Darstellung und Durchdringung« bezeichnete. Humphrey und Laidlaw fassen dies im Begriff des »meaning to mean«, der die im Ritualvollzug gegebene Absicht beschreibt, die Handlung als Ausagieren von Bedeutung zu begreifen, ohne dass die Handlung darin 32 Eine solche Ansicht könnte Michael Meyer-Blancks Formulierung von den Protestanten als »Ritualisten in der 1. Ableitung« implizieren (s. o. 3.1.2).
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aufgeht. Dies unterscheidet sich von einem expressiven Ansatz, insofern bereits die Aneignung und Zuschreibung einer Bedeutung als Folge rituellen Handelns gewertet wird und beide keine notwendige Voraussetzung darstellen für einen gültigen Ritualvollzug. Die unterschiedlichen Formen der Aneignung sind weder notwendige Folgen des Rituals, noch lassen sie sich in einer externen Analyse überprüfen. Jan Hermelink ist daher zuzustimmen: Der »rituell[e] Rhythmus [des Gottesdienstes impliziert] die Freiheit, ihn je nach subjektiver Situation überhaupt in Anspruch zu nehmen und sich, wenn man selber teilnimmt, auf den äußeren Vollzug zu beschränken.«33 Die mit der Aneignung verbundene innere Transformation bleibt nicht auf die klassischen Schwellenrituale beschränkt. Auch die Ritualdeutung und Aneignung in Gestalt der Predigt vertritt einen transformierenden Anspruch.
33 Jan Hermelink: Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Gestaltung kirchlicher Beteiligung, Göttingen 2000, 356. Zugleich unterscheidet sie sich von der dort getroffenen Festlegung auf die »schützend, entlastende, schützende und befreiende Wirkung des religiösen Rituals« (ebd.), weil sie den Gottesdienst nicht nur auf das volkskirchlich dominierende Bedürfnis der Stabilisierung festlegen will, sondern gerade das kritische Potenzial der Liturgie versucht auszuloten, das insbesondere unter protestantischen Bedingungen in der Herausforderung durch die Handlungsdimension – Bewegungen, Gesten, Haltungen – des Rituals liegt.
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12 Exemplarische Anwendung: Rituelle Transformationen in der Reformationszeit Es mag zunächst verwundern, dass eine Arbeit, die sich nahezu ausschließlich mit neueren und neusten ritualtheoretischen Konzeptionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt, sich abschließend der Zeit der Reformation und ihrer liturgischen Transformationen zuwendet. Damit soll keineswegs einer normativen Gültigkeit der liturgischen Entscheidungen und Entwicklungen der Anfangszeit des Protestantismus für die Gegenwart das Wort geredet werden. Der exemplarische Rückgang in diese Epoche bietet sich vielmehr methodisch wie auch inhaltlich an. Im vorangegangenen Kapitel wurden Thesen formuliert, die zu einer Neukonzeption des Ritualbegriffs evangelischer Liturgik beitragen sollen. Darin wurde auch auf die grundlegende Notwendigkeit empirischer Studien hingewiesen, um zu erfassen, wie Akteure den Gottesdienst wahrnehmen, ihn sich auf unterschiedlichen Ebenen aneignen und den rituellen Handlungen Bedeutungen zuschreiben. Das kann für die vorliegende Arbeit nicht geleistet werden. Stattdessen sollen die genannten Prozesse am Beispiel einer besonders umfangreich dokumentierten Liturgiereform aus der Geschichte aufgezeigt werden. Dabei ist auf Agenden ebenso zurückzugreifen wie auf Erlebnisberichte und programmatische Schriften. Auch Zeugnisse aus dem Gebiet von Kunst und Kunstgewerbe, Architektur und Musik müssen herangezogen werden, um soweit wie möglich jenen lebendigen Eindruck der Ritualpraxis dieser Zeit zu gewinnen, wie ihn Ronald Grimes als Grundlage ritualtheoretischer Theorien gefordert hat.34 Anhand der liturgischen Transformationen, lässt sich, so die These, eindrücklich nachvollziehen, wie Rituale als Strategien eingesetzt wurden. Dabei geht es nicht zuerst um eine manipulative Praxis, sondern um das Bedürfnis, die theoretisch-theologischen Einsichten mit praktischen Vollzügen zu verknüpfen und zu füllen. Darüber hinaus zeigt der Blick auf die Reformationszeit, inwiefern gerade die aktive und lebendige Ritualpraxis, die konkreten liturgischen Vollzüge jene Widersprüche nicht nur in der kirchlichen Lehre, sondern in der kirchlichen Praxis ausgelöst und ins Bewusstsein gehoben hatten. Nicht nur bei Martin Luther selbst ist anzunehmen, dass die Erkenntnis dieser Widersprüche nicht einseitig aus seiner theoretisch-wissenschaftlichen Arbeit oder allein aus seiner privaten Bibellektüre entsprang, sondern dass die Praxis selbst, die tägliche Messfeier ebenso wie das Stundengebet, Einsichten freisetzten, deren Begründung Luther auf wissenschaftlichem Weg nachvollzogen hat. Die Darstellung bietet Anlass, das bis in die Gegenwart hinein geäußerte Urteil zu korrigieren, die ritualkritische Grundhaltung der Reformation sei als 34 S. o. 8.2.1.
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Überwindung einer rituell konstituierten Religion zugunsten des ›Wortes‹ zu verstehen (12.1) Im Anschluss an die Überlegungen von Ronald Grimes35 werden daher unterschiedliche Formen von Ritualkritik aufgezeigt, die sich sowohl auf der Ebene der theologischen Konzeptionen, bei der Neugestaltung der Agenden wie auch im Ritualverhalten der Gemeinde nachweisen lassen (12.2). Die Auseinandersetzungen um die Durchsetzung der liturgischen Veränderungen veranschaulichen an einem historischen Beispiel Catherine Bells These, dass Rituale nicht nur Mittel der Durchsetzung und Legitimation von Machtansprüchen sind, sondern Orte ihrer Aushandlung. Obgleich mit zunehmendem Verlauf der Reformation das politische Interesse stieg, die protestantische Konfession rituell zu vereinheitlichen, boten gerade Rituale häufig subtile Möglichkeiten zum Widerstand.
12.1 Neuzeitliche Bewertung der Reformationszeit Für das rituelle Gefüge des westlichen Christentums war die Reformation mit tiefgreifenden und grundlegenden Veränderungen verbunden. Die Frage danach, welche Einstellung die Reformation gegenüber der reichhaltigen und überaus lebendigen rituellen Praxis ihrer Zeit36 jedoch genauer auszeichnet, bedarf einer erneuten Klärung. Neben den Veränderungen der rituellen Praxis ist dazu auch die Frage nach dem Verständnis und der theologischen Bewertung ritueller Vollzüge insgesamt von Interesse. Dazu sollen zunächst neuzeitliche Beurteilungen des Verhältnisses von Reformation und Ritual in den Blick genommen werden. Zwei Richtungen, den vermeintlich eindeutig ritualkritischen Zuschnitt der Reformation zu deuten, lassen sich dabei unterscheiden. Beide befassen sich mit der Auf- und Ablösung der Riten durch die Reformatoren und sehen darin eine Fundamentalkritik am rituellen Charakter des Christentums. Die wohl primär von protestantischer Seite geäußerte Einschätzung versteht die reformatorische Grundlegung von Theologie und Glaubenspraxis von ihrer Zentrierung auf das ›Wort‹ her. Diese zeigt sich im Gottesdienst konkret in der Umkehr der Gewichtung von Predigt und Liturgie37 und bedeutet darüber hinaus eine Betonung intellektueller Verstehensprozesse sowie einer entsprechend daraufhin ausgerichteten Pädagogik. Die primäre Ausrichtung auf die Predigt bedeutet zugleich eine generelle und durchweg positiv 35 S. o. 8.2.2. 36 Vgl. dazu besonders die neueren Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation, dokumentiert in Hartmut K hne/Enno B nz/Thomas T. M ller: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung »Umsonst ist der Tod«, Petersberg 2013. 37 Dass diese Gegenüberstellung freilich selbst ein ritualtheoretisches Konstrukt ist, wird noch näher darzustellen sein. In jedem Fall zeugt gerade die seit der Reformation geläufige Betonung der Notwendigkeit der Predigt auch von ihrer Ritualisierung.
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bewertete Absage an die Bedeutung ritueller Formen für den christlichen Glauben. Dem Urteil Hellmut Zschochs zufolge dokumentiert »Luthers Thorgauer Kirchweihpredigt […] die konsequente reformatorische Ablösung des Ritus durch das Wort.«38 Damit mag wenig über die liturgische wie ekklesiologische Wirklichkeit der Reformationszeit und Luthers Anliegen ausgesagt sein. Doch kommt hier ein klassisch protestantisches Verständnis des Ritual/Ritus-Begriffs zum Ausdruck, dessen Ursachen und Verbindung mit den reformatorischen Grundlagen gezeigt werden sollen. Eine Spannung zwischen liturgischer Wirklichkeit und dogmatisch-theologischer Setzung ist gleichwohl typisch für die negative Konnotation, die das Wort einseitig dem Ritus gegenüberstellt. Ein Festhalten an der Bedeutung von Ritualen für den Glauben gliche dieser Ansicht nach dem Rückfall ins Katholische. Ähnliche generalisierende Bewertungen der Reformation als Grund für den negativen Klang des Wortes ›Ritual‹ und ritueller Handlungen finden sich auch in aktuellen religionswissenschaftlichen Publikationen.39 Der Wandel in der Bewertung ritueller Vollzüge, wie er zunächst in der Praktischen Theologie seit den 1970er Jahren stattgefunden hat, und der damit verbundene umfangreiche Diskurs wird von Seiten der kirchengeschichtlichen Forschung nur wenig rezipiert.40 Auf der anderen Seite steht eine hauptsächlich von katholischer Seite vertretene Beurteilung der reformatorischen Ritualkritik, welche in der Reformation die Ursache der Zerstörung der Ritualfähigkeit des modernen Menschen sieht. In ihrem 1970 erschienen Werk Natural Symbols untersucht Mary Douglas die Frage nach dem Grund nicht nur für den zunehmenden Verlust ritueller Praktiken in der modernen Gesellschaft, sondern für den herrschenden »Anti-Ritualismus«.41 Bereits auf der ersten Seite des Buches zieht sie eine Verbindung zwischen reformatorischer Ritualkritik und Gegenwart: »Shades of Luther! Shades of the Reformation«.42 ›Ritualisten‹, wie Douglas jene nennt, deren Glaubenspraxis sich der traditionellen Rituale bedient, 38 Hellmut Zschoch: Predigten, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2 2010, 315–321, 320. 39 Vgl. Jeffrey J. Kripal: Comparing Religions. Coming to Terms, hg. von Ata Anzali, Andrea R. Jain und Erin Prophet, Chichester 2014, 117: »… the Protestant Reformation, […] repudiated and condemned Roman Catholic ritual in the sixteenth century as something dead, superstitious, repetitive, meaningless, pagan, decadently ornate, and so on.« 40 Dass auch aus praktisch-theologischer Sicht die Reformation als »Umstellung von Kult auf Kommunikation« verstanden werden kann, wurde bereits eingehender dargestellt und kritisiert (s. o. 4.2.2). 41 Eine Auseinandersetzung mit der These vom »Antiritualismus« der Gegenwart findet sich bei Hans-Georg Soeffner: Rituale des Antiritualismus – Materialien für Außeralltägliches, in: Ders.: Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt a. Main 1992, 102–130, der stattdessen von einem »undurchschauten Ritualismus« spricht, der sich einerseits als »ritualisierter Antiritualismus« äußert, andererseits als »Veränderung eines überkommenen Ritus durch naiven, inflatorischen Ritualismus« (aaO., 103). 42 Douglas: Natural Symbols, 1.
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sehen sich im Umfeld der 68er Jahre dem Vorwurf ausgesetzt, äußerliche Handlungen zu vollziehen, welche die Zustimmung zu bestimmten Werten implizieren, ohne dass sie selbst innerlich diese Zustimmung nachvollziehen würden. Denselben Vorwurf sieht Douglas bereits von den Reformatoren des 16. Jahrhunderts erhoben gegenüber allen ›äußerlichen Handlungen‹.43 In der reformatorischen Ritualkritik nicht nur einen Angriff auf die christliche Tradition und ihre Ausdrucksformen, sowie ein generell ritual- wie sinnesfeindliches Ansinnen am Werk zu sehen, ist ein verbreiteter Topos. Häufig taucht er auf bei Kritikern der Liturgiereform des 2. Vaticanums. Sie verorten die im Hintergrund dieser Reformen wirksamen Motive in der Reformationszeit und sprechen daher von einer ›Protestantisierung‹ des Katholizismus.44 Die generelle Kritik an Riten und der negative Klang des Ritualbegriffs, der spätestens seit dem 18. Jahrhundert einen Gemeinplatz darstellte (»… ›ritual‹ had become a dirty word«45), darf jedoch nicht vorschnell mit der Reformationszeit gleichgesetzt werden. In seiner Untersuchung der städtischen Kultur der Renaissance in Italien beschreibt Peter Burke das 16. Jahrhundert als Übergang von einer »Theaterkultur« zu einer »Aufrichtigkeitskultur«, die auf allen Gebieten der Kultur immer stärker am Wesen als an der Erscheinung, am Buchstaben anstatt des Geistes, am Kern statt an der Schale interessiert war. Die dabei vollzogenen Aushandlungsprozesse lassen die reformatorische Bewegung »unter anderem [als] eine große Debatte, […] über die Bedeutung des Rituals, seine Funktionen, die ihm angemessenen Formen« verstehen, die in verschiedensten Bereichen sozialer Interaktion hineinspielte.46 Gerungen 43 Douglas’ Analyse des Anti-Ritualismus ihrer Zeit, der im Laufe dieser Abhandlung noch wiederholt Beachtung finden wird, bedient sich immer wieder des Verweises auf Tendenzen und Haltungen, die ihr zufolge in der Reformation ihren Ursprung besitzen. Dabei werden Protestantismus und politisch linke Ansätze parallelisiert: »In Europe Manicheeism, Protestantism and now the revolt of the New Left, historically they all affirm the value of the follower’s inside and of the insides of all his fellow members, together with the badness of everything external to the movement« (aaO., 54). Den Verlust von Ritualität und Ritualfähigkeit hatte sie bereits zuvor in Purity and Danger (1966) auf den Protestantismus zurückgeführt: »The Evangelical movement has left us with a tendency to suppose that any ritual is empty form, that any codifying of conduct is alien to natural movements of sympathy, and that any external religion betrays true interior religion. From this it is a short step to assuming something about primitive religions« (Dies.: Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo, London/New York 1991 [1966], 62). 44 Ähnlich urteilen auch Lorenzer: Das Konzil der Buchhalter; David Torevell: Losing the Sacred. Ritual, Modernity and Liturgical Reform, Edinburgh 2000 sowie der Schriftsteller Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, Wien/ Leipzig 2002. Vgl. auch den bereits erwähnten Aufsatz von Turner: Ritual, Tribal and Catholic. 45 Edward Muir: Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 22005, 294. 46 Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Eine historische Anthropologie, Frankfurt a. Main 1996 [1987], 189. Über den religiösen Rahmen im engeren Sinne hinaus wurden auch akademische, monarchische oder Höflichkeitsrituale hinterfragt. Vgl. dazu auch Jçrg J. Berns: Luthers Papstkritik als Zeremonialkritik. Zur Bedeutung des päpstlichen Zeremoniells für das fürstliche Hofzeremoniell der Frühen Neuzeit, in: Jçrg J.
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wurde um die Frage von Schlichtheit versus Überfluss, Einheitlichkeit versus Freiheit der Glaubenspraxis und schließlich auch um die (Selbst-)Wirksamkeit von Ritualen in ihrem Verhältnis zur rituellen Haltung der Akteure. Diese Diskussion war keineswegs auf die reformatorischen Kirchen beschränkt, auch das Trienter Konzil muss als Bestandteil dieser »großen Debatte« gelten. Überhaupt fiel die Reformation in eine Zeit gesteigerter Aufmerksamkeit für zeremonielle Belange. Erstmals im 15. Jahrhundert systematisierte und veröffentlichte die römische Kurie ihr Zeremoniell und brachte damit sowohl die Sorge um mögliche Gefährdungen zum Ausdruck wie sie sich zugleich die neuen Möglichkeiten zur Vereinheitlichung desselben zunutze machte.47 Anschließend an die bisherigen Beobachtungen, die das Verhältnisse von Ritual und Protestantismus auf begrifflicher wie auf empirischer Ebene vorwiegend negativ beurteilten, stellen sich zwei grundlegende Fragen: Erstens, worin liegt die Ursache für diese kritische bis negative Haltung gegenüber Ritualen innerhalb des Protestantismus? Zweitens, worin liegt die Ursache für die kritische bis negative Haltung gegenüber der protestantischen Ritualkultur, wie sie insbesondere von den genannten Befürwortern einer Verstärkung des rituellen Charakters des Gottesdienstes bzw. der katholischen Messe und folglich der christlichen Religion generell geäußert wurde? Als Antwort auf die erste Frage soll der Umgang Luthers mit dem Ritual der Messe untersucht werden. Dabei wird es zum einen darum gehen, unterschiedliche Formen von Ritualkritik zu differenzieren, zum anderen den theoretischen Hintergrund dieser Kritik und die Leitprinzipien der Umsetzung in die liturgische Praxis zu beleuchten. Als Antwort auf die zweite Frage sollen verschiedene Transformationen der Ritualkultur dargestellt werden, wie sie durch die Reformation veranlasst wurden. Dabei wird auch die Spannung zwischen den theologischen Vorgaben und der Umsetzung in den Gemeinden eine Rolle spielen.
12.2 Ritualkritik bei Luther: Destruktion und Konstruktion der rituellen Gestalt des Gottesdienstes 12.2.1 Vorbemerkungen »Externi enim ritus, etsi iis carere non possumus, sicut nec cibo et potu, non tamen nos deo commendant […]. Ita nec ritus ullus est regnum dei, sed fides intra vos etc.«48
Berns/Thomas Rahn (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995, 157–173. 47 Vgl. aaO., 157f. 48 WA 12, 214 unter Anspielung auf Lk 17,20f.
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Das Zitat aus Martin Luthers Formula Missae von 1523 enthält bereits die Grundspannung, unter der Luthers gesamte Beurteilung der rituellen Gestalt des christlichen Glaubens stand. Innerhalb seiner liturgischen Schriften finden sich zahlreiche Belege sowohl für die Notwendigkeit und den funktionalen Nutzen liturgischer Ordnungen und leiblicher Vollzüge des Glaubens, die ganz grundlegend mit der Leiblichkeit des Menschen selbst in Verbindung gebracht werden. Zugleich betont Luther immer wieder die Relativität, Vorläufigkeit und Unwesentlichkeit äußerer Vollzüge und Ordnungen, da der Glauben als Kern der christlichen Religion ein im Inneren des Menschen grundgelegter und verwirklichter Gottes-, Selbst- und Weltbezug ist. Wenn im Folgenden vom Umgang Luthers mit dem Ritus der Messe die Rede ist sowie von seiner Haltung zu anderen Riten, welche die christlichen Praxis seiner Zeit prägten, wird nicht nur auf den Begriff ritus, sondern auch auf jene von Luther als Zeremonien/ceremoniae, Bräuche/mores oder Traditionen/traditiones bezeichneten Handlungen zurückgegriffen. Weiterhin ist anzumerken, dass unter rituellem Gesichtspunkt zwischen Sakramenten und anderen Riten (Glockenläuten, Kerzen, Gewänder, Gebärden etc.49) kein prinzipieller Unterschied besteht. Dieser ergibt sich erst infolge theologischer Überlegungen.50 Die Unterscheidung, ob eine rituelle Handlung unmittelbar auf göttliche Einsetzung oder Stiftung zurückgeht und ein biblisches Gebot darstellt, oder ob es sich im Gegensatz dazu um ›bloße‹ menschliche Einrichtungen handelt, ist für die Reformatoren dennoch fundamental. Eine Betrachtung des Gottesdienstes als rituelles Geschehen generell wie auch die Bedeutung, welche die Gemeinde als Ritualakteur einzelnen rituellen Sequenzen zusprach, muss diese Unterscheidung zwar berücksichtigen, ohne sie sich zu eigen zu machen. Darin zeigt sich aber bereits eine für die Reformation prägende Vorordnung theologischer Lehrbestimmungen vor der liturgischen Praxis. Diese lässt die Überschneidungen unberücksichtigt, die eine Trennung von cultus divinus und traditiones humanae bedeutet. Bei genauerem Hinsehen finden sich innerhalb der Sakramente zahlreiche Gestaltungselemente von teilweise hoher Symbolkraft, die auf keiner unmittelbaren Schriftgrundlage beruhen. Im Zusammenhang mit der Lehre von den Adiaphora wird dies noch näher zu problematisieren sein.
49 Die Bandbreite illustrieren etwa folgende Zitate aus der Schrift Vom Abendmahl Christ. Bekenntnis sowie der Deutschen Messe: »Bilder, glocken, Messegewand, kirchenschmueck, allter liecht und der gleichen halt ich frey, Wer da wil, der mags lassen, Wie wol bilder aus der schrifft und von guten Historien ich fast nuetzlich, doch frey und wilkoerig halte, …« (WA 26, 509). »… Kleid, Klang, Gesang, Zierde, Gebet, Tragen, Heben, Legen oder was geschehen mag in der Messe« (WA 6, 355). 50 Vgl. auch ApolCA XIII, wo in Bezug auf die Sakramente von »res et ceremoniae in scripturis institutae« (BSELK, 511) gesprochen wird. Explizit wird hier auch von Riten gesprochen, welche auf Gottes Gebot beruhen (»Si Sacramenta vocamus ritus, qui habent mandatum Dei«, aaO., 513).
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12.2.2 Missbrauch der Messe und die Funktion der »eusserlichen ordnunge[n]« (Ritualkritik 1) Luthers Grundanliegen bei der Reform des Gottesdienstes bestand darin, ihn »wider ynn rechten schwang tzu bringen«. Dazu bedurfte es zunächst einer theologischen Kritik der Messe selbst wie auch der zahlreichen liturgischen Bräuche, die sich in und um die Messe herum angesammelt hatten. Allem voran die Messopferlehre hatte die Botschaft des Evangeliums verdunkelt und Luthers Ansicht zufolge die Messe in eine »babylonische Gefangenschaft« geführt. Weil die Messe als von Menschen dargebrachtes Opfer verstanden wurde, galt ihre Feier als vor Gott verdienstvolles Werk. Umso mehr belastete dies die Gewissen, als die Messe samt ihrer rituellen Gestalt und Ordnung gemäß dem ius liturgicum als notwendig zur Seligkeit erachtet wurde.51 Luthers Kritik an der Messtheologie wie am liturgischen Recht stand somit ganz im Dienst seiner generellen Kritik an der Werkgerechtigkeit. Diese verkehrte Auffassung vom Opfer der Messe konzentrierte sich für Luther im sogenannten Messkanon, dem eucharistischen Hochgebet. Aber auch die Praxis der Messstipendien, der Winkel- und Stillmessen waren ihm allesamt ein ›Greuel‹.52 Im Hinblick auf diese von ihm vorgefundenen Praktiken mündete seine Ritualkritik schlichtweg in ihrer Abschaffung. Luthers Kritik am Verdienstcharakter der Werke war freilich eingebettet in seine Rechtfertigungslehre. Allem Zwang und vorgeblicher Heilsnotwendigkeit setzte Luther daher die stetig wiederholte Betonung der christlichen Freiheit entgegen. Freiheit in liturgischen Dingen ist bei Luther ganz im Sinne der Freiheit eines Christenmenschen als eine doppelte bestimmt: sie ist Abwesenheit von äußerer Nötigung und Zwang und zugleich Möglichkeit zum Gebrauch, sie befähigt auf überlieferte Formen zu verzichten wie auch auf diese zurückzugreifen. Die rituelle Gestalt bzw. die liturgische Ausformung der Messe war nach Luther weder von Gott verordnet noch in irgendeiner Form heilsrelevant. Oder umgekehrt: der Raum liturgischer Ordnung beginnt erst dort, wo jener unveräußerliche Bereich der christlichen Wahrheit endet, der unmittelbar mit Gottes Offenbarung und seinem Heilswillen verknüpft ist. 51 Die ›Papisten‹ halten die äußeren Ordnungen »als yhn selbst nutz und noettig zur selickeyt« (WA 18, 73). Dazu benennt Luther folgende Missstände: »Drey grosse mißbreuch sind ynn den gottis dienst gefallen. Der erst, das man gottis wort geschwygen hat, und alleyne geleßen und gesungen ynn den kirchen, das ist der ergiste mißbrauch. Der ander, da Gottis wort geschwygen gewesen ist, sind neben eyn komen so viel unchristlicher fabeln und lugen, beyde ynn legenden, gesange und predigen, das greulich ist tzu sehen. Der dritte, das man solchen gottis dienst als eyn werck than hatt, da mit gottis gnade und selickeyt zur werben, da ist der glaub untergangen, und hatt ydermann zu kirchen geben, stifften, pfaff, munch du nonnen werden wollen« (WA 12, 35). Eine ähnliche Kritik an der Verbindung ritueller Glaubenspraxis mit der Frage nach dem Heil findet sich in CA XXVIII (De potestate ecclesiastica). 52 So Luthers gleichnamige Schrift von 1525 (»Vom Greul der Stillmesse«, WA 18, 22–36).
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Rituale gehören theologisch nicht mehr zum Kernbestand des Glaubens: »Ob nu wol die eusserlichen ordnunge ynn Gottis diensten als messen, singen, lesen, teuffen, nichts thun zur selickeyt, so ist doch das unchristlich, das man druber euneynig ist und das arme volck da mit yrre macht und nicht mehr achtet die besserung der leutte«.53 Dieses Zitat zeigt bereits die Hauptmotive, die Luther dazu veranlassen, neben jener negativen Freiheit gegenüber liturgischen Ritualen, die »nichts thun zu selickeyt«, zugleich auch die positive Freiheit und damit liturgischrituelle Gestalt des Gottesdienstes einzufordern. Rituelle Vollzüge besitzen gemäß ihrer neuen theologischen Einordnung keine Dignität mehr in sich selbst, sondern verdanken sich der Bestimmung auf eine Funktion hin und erhalten von dieser ihre Berechtigung. So versteht Luther liturgische Ordnungen als wichtige Zeichen christlicher Einigkeit, als Weg zur Herstellung der nötigen Ordnung, die niemanden »yrre mach«; und schließlich als Mittel der Unterweisung, die in eine veränderte Lebensführung münden soll und der »besserung der leutte« dient. Die Notwendigkeit der Riten zur Ordnung des Glaubens begründete nach Luther aber nicht das Recht Universalformulare einzuführen, wie die römische Kirche sie in dieser Zeit verstärkt versuchte durchzusetzen – und mit den tridentinischen Beschlüssen auch tat.54 Solche Formulare konnten lokale Eigenheiten und Traditionen ebenso wenig berücksichtigen wie sie in der Lage sind, auf notwendige Veränderungen zu reagieren.55 Luther hält es für ausreichend, lokal begrenzte Ordnungen einzuführen, welche einen Flickenteppich verhinderten, der der Einheit der einen christlichen Kirche widerspräche. Hinter Luthers Ansatz stand wohl auch die Einsicht, dass rituelle Ordnungen zwar durch Verbindlichkeit gekennzeichnet sind, aber eben auch von einer Akzeptanz leben, die verloren geht, rücken jene, welche das Ritual vollziehen und die es fixieren zu weit auseinander. Einheitliche Riten sind aber weder zweckdienlich noch begründen sie die Einheit der Kirche. Diese Position wurde auch von CA festgeschrieben: »Nec necesse est ubique esse similes traditiones humanas seu ritus aut ceremonias ab hominibus institutas« (CA VII). Die »besserung der leutte« kann als Ausdruck des theologisch- wie sittlichpädagogischen Ansatzes Luthers verstanden werden. Seine Umsetzung als 53 WA 18, 418f. Hierin ist bereits eine Haltung impliziert, wie sie sich später im Begriff der Adiaphora niederschlägt, auch wenn Luther selbst die Existenz solcher ›Mitteldinge‹ ablehnte (vgl. Scheidhauer: Recht der Liturgie, 189–194). 54 In jüngster Zeit wird bei der Frage nach der absoluten Einheitlichkeit und Universalität der römischen Liturgie auf die historische Sonderstellung dieses im Missale Romanum von 1570 formulierten Anspruchs verwiesen. Der Prozess, der darin jedoch seinen Abschluss fand, hatte seine Ursprünge bereits in der gregorianischen Reform des 11. Jahrhunderts und wurde zur Zeit Luthers als Lehre der Kirche verstanden, anders wäre Luthers Zurückweisung dieses Anspruchs nicht verständlich. 55 Vgl. WA 19, 73; WA 18, 419.
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Katechese über die ›Hauptstücke‹ des christlichen Glaubens und speziell das Abendmahl als Kern der Messe, wie sie sich exemplarisch im Kleinen Katechismus finden, sollte nicht nur außerhalb in gesonderten Unterrichtseinheiten in Schule und Heim, sondern vor allem innerhalb des Gottesdienstes erfolgen. Ritualkritik begegnet hier in der Gestalt der intellektuellen Auseinandersetzung mit den verworfenen Lehren und Praktiken der ›Altgläubigen‹ sowie als Bemühen um veränderte Bedeutungszuschreibung der christlichen Grundvollzüge wie Taufe, Abendmahl, Vaterunsergebet und Glaubensbekenntnis. Der Gottesdienst sollte als Ort der Belehrung über die Grundlagen der reformatorischen Lehre geprägt werden. Davon zeugen nicht nur die explizit erläuternden und reflektierenden Passagen der Liturgie, wie eine umfängliche Abendmahlsvermahnung.56 Neben Luthers Forderung, einen eigenen Katechismus für die Messe zu entwerfen57 und insbesondere der Ausrichtung der Werktagsgottesdienste auf katechetische Themen unter gleichzeitigem Verzicht auf die Eucharistiefeier, tritt ein grundsätzlicher Anspruch hervor: die Gottesdienstgestaltung soll zuerst denen diesen, die noch nicht oder noch nicht fest genug im christlichen Glauben verankert sind.58 Dabei hat Luther vor allem die »jugent« und die »eynfeltigen« vor Augen.59 Ihretwillen ist es notwendig, die grundsätzliche Freiheit an manchen Stellen zugunsten fester Ordnungen zeitweilig zu suspendieren. Eine solche grundlegende pädagogische Motivation für den Gottesdienst konstatiert auch CA XXIV: »Nam ad hoc unum opus est cerimoniis, ut doceant imperitos.«60 Freilich gehört zu dieser Unterweisung auch die Belehrung darüber, dass die äußerlichen Ordnungen keine Gebote Gottes sind. Im Allgemeinen begegnet man hier jedoch einem am intellektuellen Verstehen orientierten Konzept. In der Forderung, dass in jedem Gottesdienst gepredigt werden müsse, kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck.61 56 Nach der Predigt folgt bei Luther eine Vaterunser-Paraphrase und eine ausführliche Abendmahlsvermahnung (37 Zeilen), bei der es Luther freistellt, ob man dafür noch auf der Kanzel bleibt, oder vor den Altar tritt. Dieser Text soll einheitlich und immer gleich sein und nicht »eyn iglicher seyne kunst beweyse[n]« (WA 19, 97). 57 In der Einleitung zu Deutschen Messe dringt Luther auf die Erstellung eines Katechismus speziell für die Messe (»Ist auffs erste ym deudschen Gottis dienst eyn grober, schlechter, eynfeltiger guter Catechismus von noeten.«, aaO., 76). Eine solche explizite Ritualdidaktik in Schriftform ist so wohl nie erschienen, doch fungierte Luthers Schrift selbst als eine solche. Das belegt der Umstand, dass kurze Abschnitte bzw. gekürzte Versionen der Einleitung in die Deutsche Messe schon bald in Sonderdrucken oder im Gesangbuch mit dezidiert pädagogischer Absicht erschienen (vgl. aaO., 52 f., z. B. die 1527 erstmals erschienene Unterrichtung D. M. Luther’s, wie man die Kinder möge führen zu Gottes Wort und Dienst, welches die Eltern u. Verweser zu thun schuldig sind.). 58 Der Formula Missae zufolge sind die Ordnungen geschaffen »propter imbecilles in fide animos« (WA 12, 205). In der Deutschen Messe heißt es: »Aber umb der willen mus man solche ordnunge haben, die noch Christen sollen werden odder stercker werden« (WA 19, 73). 59 Ebd. 60 BSELK, 141. 61 »Darnach soll der prediger odder welchem es befolhen wirt, er fur tretten und die selb lection
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Auf diese pädagogisch-didaktische Ausrichtung der Liturgie wurde schon vielfach hingewiesen, doch bleibt dabei ein gegenläufiger Aspekt meist unbeachtet: Ein rein funktionalisierendes Verständnis der liturgischen Ordnung im Dienst der Katechese unterschlägt die Tatsache, dass der Inhalt der katechetischen Unterweisung, wie sie sich im Kleinen Katechismus findet, mit Glaubensbekenntnis, Vaterunser und den Sakramenten vor allem selbst liturgische Sequenzen zum Gegenstand hat. Anhand von Deutungen liturgischer und in höchstem Maße ritualisierter Vollzüge, die nicht der Gestaltungshoheit einzelner Theologen im Dienste einer bestimmten Absicht unterliegen, führt Luther den Schülern den Rechtfertigungsglauben vor Augen. Im Mittel des Bildes verdeutlichen diese Verbindung auch eindrücklich die Bekenntnisgemälde des 16. Jahrhunderts, die eine eigene Form der Katechese bildeten und allesamt die rituellen Vollzüge von Abendmahl, Taufe und Beichte ins Zentrum stellen. Die Grenze einer derart funktional bestimmten Ordnung ritueller Vollzüge ist dort zu ziehen, wo die bisherige Praxis im Gegensatz zum Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben steht. Positiv hingegen ist diese Praxis darauf ausgerichtet, dass sie den »Schwachen im Glauben« keinen Anstoß und Ärgernis bietet. Mehr noch: Die positive Bestimmung der Möglichkeit liturgischer Ordnung wird unter dem Vorzeichen der christlichen Liebe geradezu zur Notwendigkeit um des Nächsten willen – aber eben nicht coram Deo.62 Als Verträglichkeit mit dem gemeindlichen Frieden sowie Adäquatheit in Bezug auf Zeit, Ort und Sache (»wi, wu, wenn und wie lange es die sachen schicken und foddern«) erscheint die Grundlage liturgischer Ordnung zunächst im Gewand schlichter Pragmatik.63 Ihr unmittelbares Fundament liegt jedoch in der Rechtfertigungslehre. Ob des Geschenks der Gerechtigkeit vor Gott weiß sich der Mensch zum Liebesdienst am Nächsten befreit und verpflichtet, die eben auch in verbindlichen, Orientierung und Sicherheit verleihenden Gottesdienstordnungen besteht.64 Darin liegt die vornehmliche Begründung für eyn stuck aus legen, das die andern alle verstehen, lernen und ermanet werden. […] Und wo dies nicht geschicht, so ist die gemeyne der lectio nichts gebessert, wie bis her ynn klostern und stifften geschehen da sie nur die wende haben angeblehet« (WA 12, 35 f.). 62 Deutlich stärker als bei Luther selbst wird die theologische Bedeutung der Sakramente in ihrer liturgischen Gestalt anhand der auf den Rechtfertigungsartikel CA IV folgenden Bestimmung der Kirche durch das Nebeneinander von Predigt und Sakramentsverwaltung als liturgischrituellen Vollzügen. Damit erhält die Rechtfertigungslehre geradezu eine vornehmliche liturgische Gestalt (vgl. Scheidhauer: Recht der Liturgie, 80). 63 Der Abschnitt aus der Einleitung zur Deutschen Messe ist paradigmatisch: »Vor allen Dingen will ich gar freundlich gebeten haben, auch umb Gottis willen, alle die ienigen, so diese unser ordnunge ym Gottis dienst sehen odder nach folgen wollen, das sie ja keyn noetig gesetz daraus machen noch yemands gewissen damit verstricken oder sahen, sondern der Christlichen freyheyt nach yhres gefallens brauchen, wi, wu, wenn und wie lange es die sachen schicken und foddern« (WA 19, 72). Dass es sich dabei keinesfalls um liturgische Beliebigkeit handeln sollte, zeigt die Argumentation von den ›sachen‹ her. 64 Die Übertragung von Luthers Prinzip der ›Freiheit eines Christenmenschen‹ auf die Liturgie
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liturgische Ordnungen als Bestandteil der lex caritatis und die Notwendigkeit ihrer Gültigkeit und Akzeptanz. Die nun als »traditiones humanae« (CA VII) bestimmten Ordnungen bleiben aber wesentlich durch ihre Veränderbarkeit bestimmt. Mit der theologischen Relativierung der Ordnungen ist zugleich die Grundlage gelegt, nicht nur Gottesdienste in weniger fester Gestalt und nach tradierter Form zu feiern (Luthers ›dritte weyse‹), sondern diesen auch die Dignität eines Gottesdienstes im vollen Umfang zuzusprechen. Wenn Luther aber den Mittelpunkt der Religion als den »fides intra [nos]« benennt, wird darin seine darüber hinaus gehende Tendenz zur Spiritualisierung kenntlich. Ein bekanntes Beispiel dieser Haltung findet sich in Luthers Torgauer Kirchweihpredigt. Darin erklärt Luther das Hören auf Gottes Wort und das Gebet zu »wahrem Chrisam und Weihrauch«, die ihm zufolge gern in »der Papisten Kirchen« bleiben könnten.65 Diese Form der Spiritualisierung verdankt sich bei Luther insbesondere den Einflüssen der Mystik.66 Deutlich wird dies etwa, wo Luther mit Verweis auf Augustinus auch die leiblichen Elemente der Eucharistie auf den Glauben hin relativiert: »Glaub nur, szo hastu das sacrament schon genossen«.67 Die Notwendigkeit ritueller Formen als ›äußerlicher‹ Vollzüge stand somit für ihn unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit auf dem Weg, der letztlich zu Joh 4,24 führt, der wahren Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit.68 Ein Entwurf gemäß der »dritten weyse«, die für jene bestimmt ist, die im Glauben weit fortgeschritten sind, sei ihm zufolge schnell gemacht. Das lässt erahnen, dass es sich dabei kaum um eine stark ritualisierte Form handeln sollte.69 Als prägender Hintergrund dieser Tendenz
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zeigt sich exemplarisch in Luthers Sendschreiben an die Christen in Livland: »ob wol die eusserlichen weysen frey sind und dem glawben nach zu rechen, mit gutem gewissen mugen an allen orten, zu aller stunde, durch alle personen geendert werden, so seyt yhr doch der liebe nach zu rechen nicht frey, solche freyheyt zu volzihen, sondern schuldig, acht darauff zu haben, wie es dem armen volck leydlich und besserlich sey« (WA 18, 419). WA 49, 588. Zweimal betätigte sich Luthers als Herausgeber der Theologia Deutsch (vgl. die Vorrede zur 2. Auflage von 1518 in WA 1, 378f.). Einen Überblick über den Einfluss der Mystik auf Luther bietet Volker Leppin: Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in: Berndt Hamm/Volker Leppin (Hg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007, 165–185. WA 2, 742. Bewusst ist hier die Rede von Tendenzen, da es gerade zur Stärke von Luthers Kritik an der Fixierung auf das Äußerliche gehört, Äußeres und Inneres nicht auseinanderreißen zu lassen. WA 11, 443 f. Aus Luthers Formulierung wird deutlich, dass er sich – anders als bei Frieder Schulz: Luthers liturgische Reformen. Kontinuität und Innovation, in: ALW 25 (1983), 249–275, 260 dargestellt – selbst zu diesem Kreis zählte: »Aber ich kan und mag noch nicht eyne solche gemeyne odder versamlunge orden odder anrichten. Denn ich habe noch nicht leute und personen dazu;« (WA 19, 75). Diese Deutung korreliert auch mit Luthers hohem prophetischen Selbstverständnis (vgl. Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, Mün-
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und seiner ritualkritischen und -skeptischen Haltung müssen nicht zuletzt Luthers negative Erfahrungen mit ritualisierten und vorgegebenen Gebetsordnungen in seiner Zeit als Augustinermönch und Priester herangezogen werden. Die erste Form der Ritualkritik, wie sie hier beschrieben wurde, ist zunächst negativ bestimmt. In distanzierter Haltung gegenüber den Bräuchen der »Papstkirche« plädiert Luther für eine Relativierung ihres Heilsstatus und immer wieder auch für das Zurückschneiden und teilweise Abschaffen ritueller Vollzüge. Folge der Relativierung liturgischer Traditionen und verbindlicher ritueller Formen im Sinne einer wortwörtlichen Bezugnahme auf den von Luther neu bestimmten Sinn der rituellen Praxis ist aber nun nicht eine pauschale Abschaffung der Messe. Vielmehr unternimmt er eine differenzierte Auseinandersetzung mit den einzelnen Sequenzen. Das Ziel ist die »Reinigung« (repurgare) der Messe, da diese sich im Kern als Feier der Eucharistie göttlicher Stiftung und göttlichem Gebot verdankt.
12.2.3 Rituale und Ritualdeutung als Mittel zur Reform des Rituals (Ritualkritik 2) Luther hatte zunächst gehofft, dass die Abschaffung der Missbräuche und die Betonung der evangelischen Freiheit in den ›äußerlichen‹ Dingen des Gottesdienstes unmittelbare agendarische Vorgaben seinerseits nicht erforderlich machen würden. Doch die eingeforderte negative Freiheit stand rasch in der Gefahr, in eine neue Form der Gesetzlichkeit zu führen. Nämlich dann, wenn die Abschaffung von Riten zur protestantischen Pflicht erhoben wurde und so wiederum die Gewissen belastete. Derartige Entwicklungen wie sie in Wittenberg während Luthers Abwesenheit auf der Wartburg, aber auch in Zwickau eingetreten waren, galt es zu verhindern: »ne legem ex libertate faciamus«. Doch nicht nur die Angst vor neuen Formen der Gesetzlichkeit, wie sie durch die geradezu gewaltsamen Einführungen neuer Gottesdienstordnungen im Rahmen der Ereignisse in Wittenberg um Andreas Bodenstein von Karlstadt drohten, nötigte Luther schließlich doch zur Erarbeitung einer eigenen Gottesdienstordnung. Dem ersten Entwurf einer lateinischen Messe in der Formula Missae et Communionis vom Dezember 1523, die Luther auf Drängen seines Zwickauer Freundes Nicolaus Hausmann verfasste, folgte zwei Jahre später seine Deutsche Messe. Für letztere waren die Gründe noch einmal vielfältiger. Mit einer deutschen Messordnung zielte Luther darauf, die Leerstelle zu füllen, auf die bereits radikalere Reformatoren Ansprüche erhoben. Bereits 1524 hatte Thomas Müntzer chen 22013, 289f.). Weiterführung zu den Folgen aus dieser spiritualisierenden Tendenz s. u. 12.4.
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einen deutschen Entwurf vorgelegt.70 Aber auch angesichts der Vielfalt und Unübersichtlichkeit der seit 1522 in rascher Folge entstandenen neuen Messrituale in zahlreichen Städten wich Luther von seiner ursprünglichen Haltung ab. Einen Ausschlag gab schließlich auch die Tatsache, dass die bisherigen Entwürfe nicht Luthers Zustimmung fanden, unter anderem in Bezug auf die Verdeutschungen der lateinischen Gesänge. Ohnehin dränge es ihn, auch in den äußerlichen Formen die Rechtfertigungslehre zur Darstellung zu bringen.71 Insgesamt zeigt sich bereits an dieser Stelle, dass Ritualordnungen im Protestantismus von Beginn an auch kirchenpolitische Funktionen erfüllten und der Durchsetzung innerreformatorischer Geltungsansprüche dienten.72 Beide Gottesdienstentwürfe zeichnen sich, wenn auch in unterschiedlichem Maße, letztlich durch dasselbe Charakteristikum aus, ein Nebeneinander von Umbrüchen und Neuerungen auf der einen Seite sowie gleichzeitig starker Kontinuität und Traditionsverbundenheit auf der anderen Seite.73 Von der grundsätzlichen Zustimmung zur Messordnung, wenn auch in verkürzter Gestalt, zeugt nicht zuletzt die Übernahme eben der Bezeichnung als ›Missa‹. Gleiches gilt für zahlreiche einzelne Sequenzen wie Introitus, Kyrie und Gloria. Der genaue Blick auf die liturgischen Modifikationen erlaubt es, weitere Formen von Ritualkritik hinzuzufügen und zu differenzieren. Dadurch verändert sich auch das übliche neuzeitliche Bild, in dem Ritualkritik mit dem Ziel der Überwindung ritueller Formen gleichgesetzt wird. (1) Ritualkritik in ritueller Form. Dass sich Ritualkritik selbst ritueller Formen bediente, zeigt sich zuerst an der Tatsache, dass die Durchsetzung der 70 Wenn Luther von den »ekelhaften Schweinen« sprach, die leichtfertigen Geistern gleichen, die Neuerungen nur um des Neuen willen einführen, worauf doch nur Überdruß folgt (»leves illos et fastidiosos spiritus, qui cen snes immundae sine fide, sine mente irrunnt et sola novitate gandent, atqne statim nt novitas esse desiit, nauseant«, WA 12, 205), waren genau diese radikalen Reformatoren des Gottesdienstes gemeint. 71 »… ut non amplius solum verho doctrinae corda regamus, sed manum quoque apponamns et publica administratione in opus perducamus« (aaO., 206). Scheidhauer spricht hier vom »liturgischen Modus der Rechtfertigungslehre« (Scheidhauer: Recht der Liturgie, 81), die eine kritische Funktion in Bezug auf die Riten ausübt und diese dort beschneidet, a) wo sie soteriologischen Status beansprucht und b) der Rechtfertigungslehre durch den Anschein von Werkgerechtigkeit unterläuft. Der »liturgische Modus der Rechtfertigungslehre« wirkt sich aber auch liturgieerhaltend- und bewahrend aus. Dies wird besonders bei seinem Entwurf der Deutschen Messe sichtbar. 72 In diesem Sinne äußert sich auch Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, Frankfurt a. Main 2009, 382: »Weil den Ritualen selbst Macht innewohnte; war der Kampf um die Macht und das Recht, die Rituale zu gestalten, die Schlüsselfrage der Reformation.« 73 Bereits Schulz: Luthers liturgische Reformen, 250 sprach in Bezug auf die Veränderungen der Messliturgie von »Innovation innerhalb von Kontinuität«. Dass Reformen und Innovationen stets Gewinn und Verlust gleichermaßen bedeuten, soll ebenfalls sichtbar werden. Die Entschlossenheit zur Kontinuität in Bezug auf den Gottesdienst betont bereits CA XXIV: »retinetur enim Missa apud nos et summa reverantia celebratur. Servantur ut usitatae ceremoniae fere omnes.«
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Reformation innerhalb einer Stadt oder eines Gebietes letztlich genau dann erfolgt war, wenn ein Gottesdienst nach der neuen, reformatorischen Ordnung gefeiert worden war. Im engeren Sinne zeigt sich die rituelle Ritualkritik anschaulich bei der Einführung der Kommunion unter beiderlei Gestalt. Luther legitimiert sein Eingreifen mit dem Verweis auf die Schrift und bindet auch die rituellen Vollzüge an die Verba Testamenti: die Kommunion von Brot und Wein soll nun jeweils auf das entsprechende Wort folgen und dies den mimetischen Charakter der rituellen Handlung verstärken. Auch in liturgicis erweist sich für ihn die Schrift nicht nur als Referenzpunkt, sondern auch als norma normans.74 (2) Ritualkritik als Modifikation der Praxis. Sodann sind auch Luthers Eingriffe in das Messformular als Kritik an der bestehenden Ritualpraxis zu deuten. Statt der bisherigen Psalmenausschnitte forderte Luther die Rezitation der ungekürzten biblischen Vorlagen. Implizit sollte das göttliche Wort ungekürzt und möglichst reichlich in Form biblischer Texte Platz finden.75 Dass die Begründung zur Veränderungen der Praxis hier nicht einfach die Rückkehr zum biblischen Ursprung bedeutet, sondern sich je nach liturgischer Sequenz unterschiedlicher Argumentationen bedient, zeigt sich bei der Aufgabe des Brauches, den Abendmahlswein mit Wasser zu vermischen. Unter der Voraussetzung und im Bewusstsein konkurrierender Deutungen ein und desselben Rituals plädiert Luther in diesem Fall für die Abschaffung, um eine andere, dezidiert eigene Sinnkonstruktion zur Darstellung zu bringen.76 Der unvermischte Wein soll nun als Ausdruck des rein gepredigten Evangeliums verstanden werden. (3) Ritualkritik als Deutungskritik. Schließlich bedeutet Ritualkritik bei Luther insbesondere bei der Messe unter Beibehaltung der vorgegebenen Formen eine Veränderung der Deutung. Dies trifft etwa dann zu, wenn Luther einzelnen Sequenzen einen neuen Ort zuweist. So stellt Luther in der Deutschen Messe das Vaterunser, das zuvor als ›Tischgebet‹ auf die Einsetzungsworte folgte unmittelbar nach die Predigt und will das Gebet als Vorbereitung zum Abendmahl im Sinne einer ›Vermahnung‹ verstanden wissen.77 Nach 74 Generell bestand für die Reformatoren die Notwendigkeit, die rituelle Leere zu füllen, die sich durch das theologische Reduktionsprogramm ergab, das in den klassischen sola-Formulierungen ebenso zum Ausdruck kommt wie in dem auf Predigt und Verwaltung der zwei Sakramente reduzierten Kirchenbegriff der Confessio Augustana: »Wenn das Ritual den Reformatoren auch ›leer‹ erschienen sein mag, das Fehlen eines Rituals erzeugte eine noch größere Leere« (Burke: Städtische Kultur, 193). 75 Ähnliches lässt sich beobachten bei Luthers Ersetzung des trinitarischen Segens durch den sogenannten aaronitischen. Auch seine Forderungen, dass sich der Pfarrer bei der Rezitation der Einsetzungsworte zur Gemeinde wendet und die Austeilung der Elemente jeweils nach Brotund Kelchwort erfolgen soll, wird biblisch begründet. 76 Die Rückführung der Mischpraxis auf die aus der Seitenwunde Christi fließenden Elemente von Blut und Wasser (Joh 19,34) findet Luther nicht überzeugend. Zu anderen Deutungen innerhalb der liturgischen Tradition vgl. Messner: Einführung, 224 f. 77 »Nach der predigt sol folgen eyne offentliche paraphrasis des vater unsers und vermanung an die so zum sacrament gehen wollen« (WA 19, 95).
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einem ähnlichen Muster, aber ohne Verschiebung der Sequenz verfährt Luther bei seiner Begründung zur Beibehaltung der Elevation. Dieser seit dem 13. Jahrhundert auftretende Zeigeritus verdankt sich ursprünglich dem Ersetzen der oralen Kommunion durch eine Form der ›visuellen‹ Kommunion als einer Art der eucharistischen Andacht. Sie bildete lange den Höhepunkt der Messe für die Gemeinde. Eine solche Begründung liefe den reformatorischen Anliegen freilich grundsätzlich zuwider. Luther deutet die Elevation aber nicht mehr als Vorzeigen der gewandelten Hostie, sondern als Selbstvergegenwärtigung Christi, der zu seinem Gedächtnis ermahnt: »Das auffheben […] bedeut, das Christus befolhen hat, seyn zugedencken.«78 Luther ist also daran gelegen, die eine neue Bedeutungszuschreibung einer rituellen Handlung festzulegen und der Gemeinde vorzugeben.79 Insofern Luther mit der Beibehaltung der Elevation wohl auch der Frömmigkeit der Gemeinde entgegenkam, spiegelt sich hier zugleich das Widerstandspotenzial des Volkes gegenüber theologisch vermeintlich gebotenen Ritualänderungen sowie ein Beharrungsvermögen ritueller Formen selbst.80
12.3 Der Gottesdienst als Adiaphoron Vor einer Betrachtung des empirischen Wandels der Ritualkultur und der rituellen Partizipation am Gottesdienst muss der Blick auf die weitere theologische Entwicklung der Reformationszeit gerichtet werden. Erst ein vertieftes Verständnis dessen, was in dieser Zeit unter dem Begriff Adiaphoron verstanden wurde, kann Aufschluss geben über einen wesentlichen Faktor für die protestantische Ritualkritik und -skepsis. Luthers Ansatz, die rituellen Handlungen der Sakramente als gegeben vorauszusetzen, alle weiteren liturgischen Bräuche und Riten jedoch dem freien Gebrauch zu überlassen,81 erwies sich angesichts innerlutherischer Konflikte in der Folgezeit als unzureichend. Auf dem Augsburger Reichstag von 1530 noch auf die Frage nach der Kommunion sub una vel utraque bezogen, weitete sich der ursprünglich aus der Morallehre entlehnte Begriff des Adiaphorons zunehmend auf alle Riten und Zeremonien (Gebärden, Gewänder, Fastenzeiten etc.) aus, für die es weder ein ausdrückliches biblisches Genoch Verbot gab. Weil stets die Gefahr bestand, dass »fremde Mächte, sei es die 78 AaO., 99. 79 Ähnlich verhält es sich mit der von Luther in die Messe eingefügten Abendmahlsvermahnung. Sie ist sowohl der Versuch einer Neudeutung des Geschehens und zugleich pädagogisches Mittel. Das Gesamtkonzept hinter Luthers liturgischen Entwürfen lässt vermuten, dass Luther auch hinsichtlich seiner theologischen Deutungen keine Exklusivität einforderte. 80 Weitere Möglichkeiten der Aneignung der Elevationsgeste von einem protestantischen Standpunkt her finden sich jüngst bei Klie: Fremde Heimat Liturgie, 121–134. 81 »Ubi nec candelas neque thurificationem prohibemus, sed nec exigimus, Esto hoc liberum« (WA 12, 211).
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Papstkirche oder die weltliche Obrigkeit unter Berufung auf den theologischen unwesentlichen Status der Adiaphora ihr Recht in Liturgie und Kirche« einforderten,82 musste der Status der Adiaphora innerhalb des ius liturgicums näher bestimmt werden. Dies war spätestens mit den Beschlüssen des Augsburger Interims von 1548 der Fall, die eine weitgehende Wiederherstellung der vorreformatorischen Zeremonien vorsahen. Dies sollte in der Zeit bis zu einem allgemeinen Konzil den Frieden innerhalb der Kirche sichern. Für die Mehrheit der Theologen waren diese Forderungen jedoch untragbar. Der äußere Zwang löste für Matthias Flacius Illyricus den eigentlich neutralen Status auf und erhob die ›Mitteldinge‹ in den status confessionis. Mit dieser Ansicht setzte er sich schließlich gegen die zu weitaus größeren Kompromissen bereiten und an Melanchthon orientierten Theologen durch. Gerhard Scheidhauer unterscheidet in seiner Analyse des Rechts der Liturgie drei Formen, die jeweils mit einer spezifischen Haltung gegenüber den gottesdienstlichen Adiaphora verbunden waren. Luther steht nach Scheidhauer für eine Bestimmung des liturgischen Rechts als dezidiert liturgischer Ordnung, welche die rechtfertigungstheologischen Einsichten als Sachkriterium der liturgischen Gestaltung verstand. Auch die obrigkeitliche Einsetzung dieses Recht dient nur dazu, diesem die nötige Verbindlichkeit zu verleihen. Mit diesem Verständnis des liturgischen Rechts nicht primär als Recht, sondern als Lehre korreliert die über die bloße Integration hinausreichende Erhebung der Predigt zum rituellen Kernvollzug.83 Eine zweite Position versteht das liturgische Recht als adiaphorische Ordnung, die als Ordnung vor allem die Einhaltung von Frieden und Eintracht gewährleisten soll und von da aus die Frage nach der Verbindlichkeit liturgischer Ordnungen regeln sollte. In Bezug auf diese Form ging es für Luther darum, eine Belastung des Gewissens auszuschließen. Schließlich – und diese Position war für den weiteren historischen Verlauf maßgeblich – wurde das liturgische Recht als bekenntnishafte Ordnung verstanden. Dadurch wurde die Gestaltung der Liturgie den Interessen der konfessionellen Bekenntniskirche unterstellt. Die Gestaltungskriterien der Liturgie entstammten folglich nicht mehr dieser Handlungsform selbst, sondern sachfremden Interessen, nämlich »als Identitätsausweis des kirchlichen Bekenntnisses.«84 Maßstab der Beurteilung liturgisch-ritueller Vollzüge ist nicht mehr der Gottdienst, sondern die Freiheit der Kirche und die Wahrheit des Be-
82 Scheidhauer: Recht der Liturgie, 223. 83 Diese Integrationsleistung, welche die Trennung von Liturgie und Predigt überwand, muss geradezu als Proprium des lutherischen Gottesdienstes angesehen werden, die erst mit dem 2. Vaticanum in der römischen Liturgie nachvollzogen wurde. Im tridentinischen Ritus legte der Priester vor dem Besteigen der Kanzel noch die liturgischen Gewänder ab, um eine Unterbrechung des Rituals zu signalisieren. 84 AaO., 316.
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kenntnisses. Die Adiaphora wurden darunter zum Rechtsbegriff im Rahmen der Ausgestaltung der konfessionellen Identität der Reformationskirche.85 Die letzte Position findet sich besonders ausgeprägt in der Konkordienformel, die den Abschluss des Adiaphoristischen Streits (1549–1560) markiert. FC X widmet sich den »Kirchengebreuchen, so man Adiaphora oder Mitteldinge nennt«. Hier wird noch einmal die Frage der »Kombination evangelischer Lehre mit altgläubigen Zeremonien«86 behandelt. Zum einen wird noch einmal dezidiert die Ordnungsfunktion ritueller Zeremonien betont, ihre Veränderbarkeit wie auch die gebotene Ausrichtung an den »schwachgleubigen«.87 Zum anderen kommt er zur folgenschwere Trennung zwischen den bloß äußerlichen Adiaphora und dem eigentlichen Gottesdienst: »[So] glaube, leren und bekennen wir, das solche Ceremonien an inen und vor sich selbst kein Gottesdienst, auch kein teil desselbigen« sind.88 Lehrfragen zum wahren Gottesdienst werden von der liturgischen Praxis abgekoppelt und führen in der Folge zu einem rein intellektuellen Gottesdienstkonzept. Wie sollen liturgische Elemente als nicht zum Gottesdienste gehörig gedacht werden?89 Auch die hier getroffene Unterscheidung zwischen wahren und falschen Adiaphora zeigt, worauf die Trennung abhebt: Es handelt sich dann nicht mehr um ein Adiaphoron, wenn es geeignet ist die konfessionellen Unterschiede zu verwischen oder gar »solche Ceremonien […] den schein fürgeben wollten, als were unsere Religion mit der Papistischen nicht weit voneinander, oder were uns dieselbe ja nicht hoch entgegen«90. Aus der Skepsis gegenüber Verwechselungen der Lager entstand auch im liturgischen Bereich konfessionelles Wachstum, welches sich stark von der Abgrenzung her speiste und mit der Trennung von ius humanum (Adiaphora, Riten, Zeremonien) und ius divinum (Sakramente) kirchliche Rituale zueinander in einen Gegensatz stellt. Scheidhauer konstatiert: »Ein tendenziell zeremoniefreier und gestaltloser cultus divinus als wesentlicher und die adiaphorischen Zeremonien als unwesentlicher Kultus treten sich gegenüber«91. Die Reduktion in der FC auf die Ordnungsfunktion bedeutet für die liturgischen Riten einen immensen Relevanz- und Propriumsverlust. Ordnung war ja auch auf nichtrituellem Wege herstellbar. Die Verortung der Adiaphora in der Sphäre des weltlichen Rechts führte dazu, die Gestaltung der liturgischen Ordnung dem Landesherrn zu übertragen, dessen Verpflichtung zur Ausübung des weltlichen Regiments auch die 85 86 87 88 89
Vgl. aaO., 311. BSELK, 1167. AaO., 1282. AaO., 1550. In CAV sind Liturgie und Lehre in Gestalt von Wortverkündigung und Sakramentenverwaltung noch verbunden. Der Heilige Geist bedient sich ja gerade der äußerlichen Mittel, des verbum externum, in seiner je eigenen, ästhetisch-sinnlich-leiblichen Gestalt. 90 AaO., 1550. 91 Scheidhauer: Recht der Liturgie, 224.
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Gewährleistung von ›Ruhe und Ordnung‹ hinsichtlich der öffentlichen Feier des Gottesdienstes umfasste. Zur Durchsetzung dieser Ansprüche entstand bereits in den frühen Jahren nach Einführung der Reformation ein umfassendes Visitationssystem, aus dem sich später das landesherrliche Kirchenregiment entwickelte.92 Eines deckte diese Auseinandersetzung freilich auf: Die Einheit von Form und Inhalt auf liturgisch-ritueller Ebene schließt die Möglichkeit aus, trotz übereinstimmender Zeremonien gänzlich unterschiedliche theologische Inhalte zu vermitteln – zumindest dann, wenn die theologische Aneignung nicht in das Belieben des einzelnen Ritualakteurs gestellt sein soll. Der Streit um die Frage der Adiaphora war eine nötige, aber doch einseitige und mit deutlichem Verlust der liturgischen Formen verbundene Klärung hinsichtlich der widersprüchlichen Botschaften, welche eine Kontinuität in den Formen und zugleich die Reformation der Lehre aussandten. Folgen und Grenzen dieses Versuchs auf der Ebene der Praxis gilt es nun darzustellen.
12.4 Kulturwandel des Rituals: Ritualkulturelle Transformationen in Bezug auf Sinnlichkeit, Sozialität und rituelle Einstellung Eine ritualtheoretische Betrachtung steht oft in der Gefahr, sich mit Handlungen zu beschäftigen und doch nur die Handlungstheorie in den Blick zu bekommen. Darum soll nun der Blick auf die Folgen für die sinnliche Kommunikation und tatsächlichen Handlungs- und Partizipationsstrukturen gerichtet werden, die mit der Reform des Gottesdienstes verbunden waren: Wie beeinflusste der Protestantismus das Hören und Sehen im Gottesdienst? Wie die Wahrnehmung des Rituals durch den Einzelnen? Und in welcher Weise veränderten sich die sozialen Interaktionen innerhalb des rituellen Rahmens – jenseits dessen, was anhand von Kirchenordnungen und Agenden ersichtlich wird, die zunächst eine Soll-Gestalt formulieren? Eine solche Darstellung sieht sich mit den generellen Problemen konfrontiert, welche bei der historischen Rekonstruktion von Ritualen zu bedenken sind – besonders dann, wenn wie hier die Sicht der Teilnehmenden besondere Berücksichtigung erfährt.93 Bei einem vollzogenen Ritual handelt es sich um ein ephemeres Phänomen, dessen Erlebnis und Wirkung nicht zu trennen sind von den konkreten historischen wie individuellen Vorausset92 Vgl. Christian Peters: Art. Visitation I. Kirchengeschichtlich, in: TRE Bd. 35 (2003), 151–163. 93 Vgl. Muir: Ritual in Early Modern Europe, 6–11. Muir benennt u. a. drei Fallstricke, welche die historische Rekonstruktion von Ritualen des ausgehenden Mittelalters zu einem heiklen Unternehmen machen. Zum einen wurde zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Ritualen unterschieden und auch die Beschreibungen unterliegen dieser Wertung. Zum anderen war der Anlass, überhaupt über Rituale zu schreiben, häufig der Wunsch, diese oder ihre Deutungen zu verändern oder zu manipulieren. Schließlich lässt das Wissen um rituelle Abläufe noch keinen unmittelbaren Rückschluss auf die Wirkung unter den Teilnehmern zu.
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zungen. Beschreibungen sind jeweils von den Erlebnissen selbst zu unterscheiden, handelt es sich hierbei doch um post-hoc-Rationalisierungen, die sich zumeist einer bestimmten Absicht in der Darstellung verdanken. Auch stellen die uns überlieferten Texte eindimensionale Quellen multimedialer Ereignisse dar. Dennoch gibt es gute Gründe, von einer solchen Rekonstruktion Aufschlussreiches zum Ritualvollzug selbst zu erwarten. Zum einen unterliegen Rituale auch im historischen Rückblick nicht derselben Einmaligkeit wie die meisten anderen historischen Ereignisse, da hier eine wiederholte und durch Regeln stabilisierte Handlungsform vorliegt. Zum anderen hinterlassen derart verfestige Formen in der Regel Spuren, etwa in der Architektur, den liturgischen Geräten, aber auch unter den Alltagsgegenständen. Schließlich erlauben Berichte wie Visitationsakten, die sich kritisch mit einer bestehenden Praxis auseinandersetzen, Rückschlüsse auf die Formen gelebter Auseinandersetzung mit den theologischen und agendarischen Vorgaben. Zur Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden eine Konzentration auf drei zentrale Aspekte des reformatorischen Kulturwandels des Rituals erfolgen. Zunächst soll die These geprüft werden, der zufolge die reformatorische Messe durch eine starke Reduktion sinnlicher Momente im Gottesdienst gekennzeichnet ist (12.4.1). Anschließend ist auf die veränderten sozialen Strukturen einzugehen (12.4.2). Im Aufgreifen der bei Humphrey/Laidlaw gewonnenen Einsichten wird nach der rituellen Einstellung und Aneignungsformen gefragt, welche die Reformatoren in Bezug auf den Gottesdienst beabsichtigten und welcher Erfolg diesen Bemühungen in der Praxis beschieden war (12.4.3). Abschließend werden Folgen dieser Veränderungen betrachtet, einschließlich der – nur bedingt erfolgreichen – Bemühungen, die neue Ordnung durchzusetzen (12.4.4). 12.4.1 Sinnlichkeit und Sinn Als klassische Stichworte zur Beschreibung der rituellen Veränderung durch die Reformation ist häufig vom ›Verlust von Sinnlichkeit‹ und ›Intellektualisierung‹ die Rede. Doch sind derartige Urteile zu pauschal und müssen mit konkret nachweisbaren Veränderungen in Beziehung gesetzt werden. Nur so kann deutlich werden, wo Differenzierungen nötig sind und gegenläufigen Impulsen zur Verstärkung sinnlicher Interaktionsformen Beachtung zu schenken ist. Ausgangs- und Vergleichspunkt für den Wandel von Ritual und Ritualkultur ist die vorreformatorisch mittelalterliche Messe. Sie war im Ganzen ein vornehmlich auf sinnliche Erfahrungen abzielendes Geschehen. Damit stand sie einerseits in großer Distanz zu den Erfahrungen des Alltags, andererseits war die Messe eng mit Alltag verknüpft. Der Besuch der Messe hob den Besucher bereits durch die räumliche und architektonische Erfahrung aus sei-
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nem gewohnten Umfeld. Dafür muss nicht, wie dies häufig getan werden, allein an die Erfahrung beim Betreten einer gotischen, mit bunt gefärbtem Licht durchdrungenen Kathedrale gedacht werden. Überhaupt wurde augenfällig, dass man sich an einem ›heiligen Ort‹ befand, in einer anderen Welt mit Zonen, die sichtbar, aber doch unzugänglich waren, mit allerlei Altären und Bildern zur Verehrung der Heiligen und ihrer Überreste. Im Zentrum der Feier stand das Wunder der Verwandlung von Brot und Wein in das wahrhafte Fleisch und Blut Jesu Christi. Allein die Vorstellung davon, die den Umgang mit den Elementen zu einer höchst riskanten Angelegenheit machte, löste starke emotionale Reaktionen aus. Der Protagonist der Messe war somit auch kein gewöhnlicher Mensch, sondern durch seine liturgischen Gewänder kenntlich als jemand, der durch eine Weihe legitimiert und in der Lage war, mit seinem Handeln Himmel und Erde zu verbinden und die irdischen Dinge zu verwandeln. Zugleich waren die Feiern an heiligen Orten und zu besonderen Zeiten eng verknüpft mit Alltag und gesellschaftlichem Leben: kirchliche Feste und Kasualien waren meist der Auftakt zu Volks- und Familienfesten. Auch Gesten und Handlungen wie Knien und Verbeugen, die in der Messe eine große Rolle spielten, waren aus dem Alltag vertraut.94 Obgleich theologisch der Opfergedanke im Vordergrund stand, war für die Gemeinde der soziale Austausch von erheblicher Bedeutung. Er erfolgte mittels liturgischer Rituale wie etwa dem Friedensgruß. Diese Verbindung zum Alltag zeigt sich auch hinsichtlich der Deutungen ritueller Vollzüge, die etwa bei der Eucharistie wesentlich stärker an menschliche Grundvollzüge, an Esskultur und die lebenswichtige Bedeutung der Grundnahrungsmittel anknüpfte, als dies in theologischen Traktaten zur Transsubstantiationslehre erkennbar wird.95 Sowohl bezüglich der Unterscheidung als auch der Verbindung zwischen der Welt der Liturgie und der Welt des Alltags waren es also vor allem sinnlich-körperliche Formen, die diese Relation konstituierten. Einem gemeinsamen Repertoire an Gesten korrespondierte eine in dieser Zeit besonders ausgeprägte »sensitivity to ritual«.96 Angesichts der bereits erwähnten starken Kontinuität bei Gottesdienst- und 94 »For lay people the ritual itself was a rich layering of associations, of social relationships and rituals expressing those relationships. Any congregant present and awake could not have failed to recognize in the gestures accompanying the Gospel reading-standing, hat doffing, salutingelements of seigneurial rites of justice and administration, that is, the peace-keeping functions of the community« (Virginia Reinburg: Liturgy and the Laity in Late Medieval and Reformation France, in: The Sixteenth Century Journal 23 [1992], 526–547, 542). 95 Vgl. Muir: Ritual in Early Modern Europe, 157. 96 AaO., 19. Gelegentlich wird das Verdienst der Durchsetzung der Reformation gerade daran gemessen, dass »ein Gesamtsystem kultischer Heilsvermittlung und Repräsentation außer Kraft gesetzt worden [war], das Alltagsleben, Kultur und Frömmigkeit bis in die ökonomische Basis hinein bestimmt hatte« (Cornehl: Gottesdienst, 54). Dieses System fand sein Zentrum in der Messe, doch war den Reformatoren nicht daran gelegen, ein reformatorisches Äquivalent zu schaffen, vielmehr ging es um die Befreiung und Entflechtung dieser Strukturen.
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Messagenden darf der reformatorische Gottesdienst nicht einseitig unter Kategorien des Verlusts sinnlicher Elemente beschrieben werden. Luthers weit über Wittenberg hinaus rezipierte Entwürfe zeigen nicht das bewusste Setzen sinnlicher Reize, sondern implizieren häufig eine grundsätzlich positive Würdigung leiblicher Vollzüge. Dafür seien einige Beispiel genannt. Eine der wichtigsten Veränderung der Messe betraf die Musik: »Die Deutsche Messe war bis auf Vaterunser-Paraphrase und Abendmahlsvermahnung ein vollständig gesungener Gottesdienst.«97 Hier ging es Luther nicht allein um die Pragmatik, sondern auch um Ästhetik und Emotionalität.98 Anthropologisch verstand Luther die Sonderstellung des Menschen auch von dessen Fähigkeit her, Gott nicht allein durch die Sprache, sondern auch durch den Gesang zu loben.99 Ein weiteres Beispiel ist die Einführung der Kommunion unter beiderlei Gestalt, die nicht nur einen demokratischen und egalisierenden Impuls für die sakramentale Praxis beinhaltete. Sie trug zugleich das Potenzial, die olfaktorische Dimension des Gottesdienstes zu stärken. Auch Luthers Insistieren, der Liturg möge sich während der Rezitation der Verba Testamenti zum Volk hinwenden, veränderte nicht nur die visuelle Beziehung zwischen den liturgischen Akteuren, sondern im wörtlichen wie übertragenen Sinn war mit dieser ›Zuwendung‹ sowohl ein dynamisches Element eingeführt, welches zugleich einen Gewinn an seelsorgerlicher Anteilnahme und damit korrespondierender emotionaler Beteiligung bedeutete. Dies gilt umso mehr, da mit der Beibehaltung der Geste der Elevation eine unmittelbare, d. h. je individuelle und persönliche Begegnung mit dem im Brot gegenwärtigen Christus visuell angebahnt und darauf folgend haptisch vollzogen wurde.100 Deutlich wird Luthers Wissen um die geistliche Bedeutung sinnlicher Handlungsvollzüge auch bei seiner Unterscheidung von ›Beten‹ und ›Anbeten‹. Anbeten ist insofern mehr als Beten, da es nicht nur mit dem Mund erfolgt, sondern Sache des ganzen Körpers ist. Unter dem Vorbehalt und der Voraussetzung der rechten geistlichen Haltung (»Nemlich eyn ehrbietung oder neygen des hertzen«), sind leibliche Formen der Anbetung auf dieselbe Art und Weise Folge des Glaubens wie die guten Werke.101 Explizite Belege, 97 Schulz: Luthers liturgische Reformen, 260. 98 So wurden etwa für die Lektionen von Epistel und Evangelium unterschiedliche Rezitationstöne mit klarem Wiedererkennungswert komponiert. Die durchgängige Einführung der Volkssprache in den Gottesdienst verzögerte Luther aber auch aufgrund fehlender Vertonungen der aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzten Texte. 99 Vgl. die Vorrede zu den Symphonie sacrae, worin Luther davon spricht, dass sich bei (mehrstimmigem) Gesang auf Erden »Himlische Tantzreien« vollziehen (WA 50, 369, zitiert bei Berns: Luthers Papstkritik, 170). 100 » … non secus atque ex ore Christi prolata. Unde vellem eam nunciari verso ad populum vultu, quemadmodum solent Episcopi, quod unicum est vestigium Episcoporum priscorum, in nostris Episcopis« (WA 12, 213). 101 WA 11, 446. Das Anbeten bestimmt Luther als »des gantzen leybs werck, Nemlich: mit dem heubt neygen, sich buecken mit dem leybe auff die knye fallen, auf die erden fallen u. solchs thun tzum tzeychen und bekentnis der uberkeyt und gewalt« (aaO., 445 f.). Anbeten als Form
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denen zufolge Luther den leiblichen Vollzügen im Gottesdienst einen spezifischen Nutzen zuschreibt, wie er dies im Blick auf Predigt und den Gottesdienst insgesamt tut, finden sich jedoch nicht.102 Inwiefern Luther daran gelegen war, die sinnliche Qualität des Gottesdienstes zu stärken, zeigt sich an vielen Stellen eher beiläufig: So spricht er im Zusammenhang mit der Erneuerung der Messe als Ort des Trostes und der Erfahrung der Gnade Gottes davon, dass die Messe die Menschen anders als bisher nicht mehr »kalt« lassen solle.103 Zu diesem Zweck wollte er auch das Verhältnis von Neuerung und Wiederholung in der Messe neu ausgelotet wissen: zu große Häufigkeit entzündet Widerwille (fastidium), ständiger Wechsel aber Überdruss (taedium).104 Besonders umfänglich nahm er daher Kürzungen bei den sich wiederholenden Sequenzen vor, etwa den Kyrierufen. Luther wusste um den Mehrwert leiblich-sinnlicher Vollzüge besonders im Rahmen des christologischen Gedächtnisses des Abendmahls, das in Brot und Wein vollzogen wird: »Nec satis est historiam recordari«.105 Mit Luthers Grundsatz, dass die Predigt künftig unverzichtbarer Bestandteil des Gottesdienstes sein sollte, und den zahlreichen, in den Gottesdienst eingeschobenen homiletischen Ansprachen trat dennoch ein sinnliches Element neu in den Vordergrund, die Sprache bzw. das Sprechen. Die Ausweitung sprachlicher Kommunikation schmälerte den Platz für nichtsprachliche, unmittelbar zeichenhafte Formen der Kommunikation des Evangeliums. Nicht mehr die Gebärden, Klänge, Bilder und Gegenstände, sondern die Predigt wurde zum neuen Ort der Präsenz Gottes im Gottesdienst. Eindrucksvoll belegt dies Lukas Cranachs Bildnis auf der Predella des Hochaltars in der Wittenberger Stadtkirche. Im Geschehen der Predigt tritt das Bild des Gekreuzigten Gemeinde wie Prediger vor Augen – aber eben doch nur fiktiv, nicht sinnlich, sondern als Imagination. Cranach verdeutlicht darüber hinaus die reformatorische Lehre, der zufolge dem Bild des Gekreuzigten seine Autorität ausschließlich vom verkündigten ›Wort des Kreuz‹ her verliehen ist.106 Die Präsenz des Heiligen im Protestantismus wird damit losgelöst von ding-
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der Ehrerweisung kann Menschen als auch Gott zuteilwerden. Das rechte Anbeten setzt den rechten Glauben voraus, eine rein äußerliche Handlung bedeutet für ihn »luegen und heuchley«: »Wo aber das hertzlich anbetten ist, da folget gar feyn auch das euserlich neygen, bucken, knyen und ehrbieten mit dem leybe« (aaO., 446). In Bezug auf den Gottesdienst spricht Luther von ›Trost‹, ›Auferbauung‹ oder ›Erquickung‹. Auch Luthers grundsätzliche Bestimmung des Gottesdienstes, dass das Wort »ym schwang gehe«, impliziert eine emotionale Dynamik (»die seelen ymer auffrichte«). Sie steht im Dienste eines äußeren Ziels, dass die Seelen »nicht lassz werden« (WA 12, 36). »[E]rigat et consoletur pavidam conscientiam« (BSELK, 145). Die Grundstimmung, welche den Gottesdienst beherrschen sollte war jedoch die Ernsthaftigkeit (reverentia, vgl. CA XXIV). »[U]t nec nimia eiusdem assiduitiate fastidium, nec nimia varietate et multitudine cantus et lectionum tedium spiritus generetur« (WA 12, 219). BSELK, 145. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 72011, 522 f.
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lichen Realitäten verstanden, weil nach reformatorischer Auffassung der zentrale Ort des Glaubens eben nicht sichtbar und sinnlich erfahrbar ist, zumindest nicht jenseits von Sprache und Gehör.107 Die rituellen Leerstellen wurden von der Predigt eingenommen, die gleichwohl selbst einer Ritualisierung unterlag. Dies betraf nicht nur die zu predigenden Inhalte, sondern auch Auftreten, Gestus, Sprachwahl des Predigers und nicht zuletzt die Erwartungen an ihre zeitliche Länge.108 Doch blieb dieser Prozess einerseits weitgehend auf den Prediger beschränkt, was eine weitere Professionalisierung zahlreicher liturgischer Vollzüge bedeutete. Andererseits gelang es kaum, der ritualisierten Form des Hörens eine leibliche Gestaltung zu verleihen, die über das Sitzen hinausreichte. Die Reduktion der Handlungsdimension findet sich zunächst im Bereich der Bewegungsabläufe. In der vorreformatorischen Messe war es üblich zu stehen oder sich auf eigens mitgebrachte Schemel an dem Ort niederzulassen, der jeweils im Zentrum der Liturgie stand. Nach der Versammlung um die Kanzel während der Predigt begab man sich für die Wandlung zum Altar. Mit der Reformation kam es zu einer flächendeckenden Errichtung von Kirchengestühl. Das Sitzen wurde zur liturgischen Grundhaltung, was in besonderem Maß der Länge der Predigten geschuldet war. Mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit verlor der Gottesdienst insgesamt an Dynamik und erschwerte eine situativ unterschiedliche Teilnahmeintensivität aus Sicht der Gemeinde. Zugleich schränkten die Bänke die Sicht ein, sodass auch die visueller Ebene geschwächt wurde. Verstärkt wurde diese Einschränkung durch die Vorgabe einer exklusiven Sichtachse in Richtung des Predigers bei gleichzeitiger Abschaffung der – meist mit figurativ bemalten Retabeln versehenen – Seitenaltäre. Beeinträchtigungen der sinnlichen Qualität des Gottesdienstes waren schließlich auch dort zu verzeichnen, wo durch die Reformation neue Impulse gesetzt wurden. Die Möglichkeit der Kommunion unter beiderlei Gestalt führte zu keiner Zunahme der Kommunionshäufigkeit. Im Gegenteil bewirkte gerade die nun noch engere Verknüpfung mit der Beichte sowie oft als Warnung verstandenen Vermahnungen eine weitere Abnahme.109 Muss die mu107 Michael Meyer-Blanck konstatiert: »Für Luther wird man jedoch zunächst sagen müssen: Vor allem anderen kommt es darauf an, dass im Gottesdienst gepredigt wird. Es geht dabei nicht um das Wort als bloße Zeichensorte oder als Medium der Kommunikation zwischen Menschen, sondern als Medium der Beziehung zwischen Gemeinde und Gott.« (Liturgie und Liturgik. Der evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Göttingen 22009, 36f.) Vgl. auch Bent F. Nielsen: Ritualization, the Body and the Church. Reflections on Protestant Mindset and Ritual Process, in: Bent Holm/Bent F. Nielsen/Karen Vedel (Hg.): Religion, Ritual, Theatre, Frankfurt a. Main 2009, 19–45, 19f. 108 Zwar finden sich in den Visitationsprotokollen zumeist Beschränkungen der maximalen Predigtzeit, aber entsprechend lang war das Normalmaß (vgl. Cornehl: Gottesdienst, 58). Was eine ›vollwertige‹ Predigt ist, wird auch heute noch im Urteil der Gemeinde u. a. durch eine bestimmte Länge bestimmt. 109 Johannes Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung sieht bereits den Fall vor, dass es in
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sikalische Erneuerung des Gottesdienstes als Gewinn gewertet werden, waren bezüglich der akustischen Vielfalt auch Verluste zu verzeichnen. Als Beispiel seien nur die Glocken der Wandlung genannt.110 Dass der neue Gottesdienst bedeutend weniger als die vorreformatorische Messe auf emotionale Beteiligung jenseits der Ausrichtung auf den liturgischen Hauptakteur ausgerichtet war, bezeugt vor allem der Wandel in der Kultur des Bildes.111 Das mittelalterliche Andachtsbild mit der Darstellung etwa eines unmittelbar zum Betrachter gewendeten Christus, war ein Ort – nicht notwendig ein Gegenstand – der Anbetung, des Einfühlens in das Schicksal Christi und der Vergewisserung seiner Präsenz. Diese Bildtradition wich in den Kirchen der Reformation, an den Orten, an denen überhaupt Bilder zugelassen waren, schon bald dem Bekenntnisgemälde, welches als Lehrbild vor allem katechetische Funktion besaß und ›gelesen‹ werden wollte.112 Wenngleich also dem ›Verlust der Sinnlichkeit‹ auch neue sinnliche Elemente entgegentraten, zeigt sich auch hier die intellektuelle Grundtendenz, welche das Erklären und Deuten dem unmittelbaren Erleben vorordnete und zuerst auf Lesen und Hören anstatt auf rituelle Vollzüge ausgerichtet war. Mit den genannten Beispielen sind nur zwei Dimension von mehreren beschrieben, deren Interaktion und gegenseitige Interpretation wesentliche Faktoren für die Dichte der rituellen Erfahrung der vorreformatorischen Messe waren. Diese Dichte – mit ihrem Potenzial zur Verwirrung – in Klarheit und Konzentration, aber eben auch eine Reduktion und langfristige Verarmung überführt zu haben, muss als zentrales Ergebnis der reformatorischen Ritualreform benannt werden. An Bewegung und Bild zeigt sich, inwiefern das theologische Programm seinen Niederschlag in der liturgischen Praxis fand, wo es auf Widerstand stieß und wo es scheiterte.113
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der Messfeier keine Kommunikanten gibt, d. h. niemand hat sich zuvor angemeldet. Die weitere Abnahme der Kommunion bedeutet einen doppelten Verlust, ging doch mit der neuen Abendmahlslehre auch die eucharistische Schaufrömmigkeit verloren (EKO VI/1, 442). »[W]o es hulfflich und fodderlich dazu were, wolt ich lasen mit allen glocken dazu leutten und mit allen orgeln pfeyffen und alles klingen lassen, klingen kunde« (WA 19, 73). Dem Sinnlichen räumt Luther eben dann einen Platz ein, wo es dem übergeordneten Ziel des Gottesdienstes dient. Interessant wäre hier auch die Frage, inwiefern das Lateinische als vom Großteil des einfachen Volkes nicht verstandener Sprache gerade dadurch eine eigene sinnliche Qualität zukam. Dieses Argument wird häufig von Gegnern der Messrefom des 2. Vatikanums angeführt. Zugleich ist festzuhalten, dass Latein als Liturgiesprache im 16. Jahrhundert. jedoch eher an Bedeutung gewann. Genau in der Reformationszeit verortet Hans Belting den Übergang von der »Ära des Bildes« zur »Ära der Kunst«, in der das Bild »kein eigentlich religiöses Phänomen« mehr ist (Bild und Kult, 511). Vgl. Wolfgang Br ckner: Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana, Regensburg 2007. Eben in diesem programmatischen und nicht zuerst empirischen Sinn ist Michael MeyerBlancks Urteil zu lesen: »[D]ie Liturgiereform Luthers [war] zuerst eine kerygmatische, homiletische Reform. […] Es ist damit nicht weniger als eine Kulturrevolution in Gang gesetzt.
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Was hier nur ausschnitthaft als Reduktion der sinnlichen wie der Handlungsdimension beschrieben wurde, drängte die Gemeinde zunehmend in eine »strukturelle Passivität« (Peter Cornehl)114, deren Bedeutung durch die anwachsende Länge der Gottesdienste noch gesteigert wurde. Die Aktivität der Gemeinde beschränkte sich weitgehend auf den Choralgesang. 12.4.2 Das Ritual als soziales Geschehen Der Gottesdienst als Ritual ist in eminenter Weise ein soziales Geschehen. Es regelt nicht nur Interaktionsformen unter den Teilnehmern, sondern wird wesentlich geprägt durch den sozialen Kontext, in dem es stattfindet und den es durch seine jeweiligen Ordnungs- und Handlungsformen selbst hervorbringt. Diese beiden Aspekte sollen nun einerseits am Verhältnis zwischen Priestern/Pfarrern und Gemeinde, andererseits anhand der Sozialgestalt des Kirchenraums verdeutlicht werden. Obgleich die Reformation das Wesen der Kirche im Ereignis der Versammlung der Gläubigen bestimmte und damit dem gemeinschaftlichen und kommunikativen Charakter des Christentums stärker Ausdruck verleihen wollte, brachte die vielgerühmte ›Entdeckung des Individuums‹115 hinsichtlich der gottesdienstlichen Gemeinschaft zugleich erhebliche Veränderungen und Einschränkungen mit sich. Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, dass die durch die Reformatoren neu in den Vordergrund gestellte Lehre vom Priestertum aller Gläubigen allen hierarchischen und stratifizierenden Tendenzen innerhalb der Kirche entgegenstand und die Trennung zwischen Priestern und Gemeinde aufgehoben war. Der empirische Befund vermittelt jedoch an vielen Stellen ein anderes Bild. Zwar besaß der römische Priester qua Weihesakrament theologisch eine andere Qualität und Kompetenz, besonders in Bezug auf Weihehandlungen oder das Bußsakrament. Doch verbanden Priester und Gemeinde ein geteiltes Weltbild und damit eine intellektuelle Basis, zumal die Unterschiede im Bildungsstand meist eher gering waren. Dies änderte sich mit der Reformation gravierend. Das Bildungsprogramm der Reformation war unter den Geistlichen wesentlich erfolgreicher als unter den Laien.116 Der Pfarrer avancierte – und dies entsprach durchaus seinem Selbstverständnis – mehr und mehr Vorbild in Sachen Religion und darüber hinaus in den Bereichen Familie (›Hausvater‹), Sitte und nicht zuletzt als Gelehrter. Mit dem Pfarramt entstand eine neue Klasse, die sich weniger Die Kommunikation in Sachen Religion vollzieht sich nicht mehr rituell, sondern diskursiv« (Liturgie und Liturgik, 37). 114 Cornehl: Gottesdienst, 85. 115 Pardigmatisch bei Richard van D lmen: Die Entdeckung des Individuums, 1500–1800, Frankfurt a. Main 1997, 15. 116 Nicht zuletzt deshalb, weil sich Erwachsene weigerten, sich durch die Reformation erneut zu religiösen Schulkindern machen zu lassen.
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mit dem Volk als mit der städtischen Oberschicht und der Bildungselite identifizierte. Gemeinsam mit Richtern, Lehrern und Bürgermeistern setzten sich Pfarrer ein für die Disziplinierung und Einhaltung der Sittlichkeit im Gemeinwesen.117 Theologisch war die Priesterzentrierung beseitigt worden, aber der Pfarrer agierte nun umso mehr als Gottes Sprachrohr, der der Gemeinde die göttlichen Gebote einschärfte. Damit verbunden war auch die Anwendung eines Strafkatalogs in Fällen, wo diese Ordnung übertreten wurde. Die beschriebene Ordnungsfunktion des Rituals erstreckte sich nicht nur auf den liturgischen Rahmen, sondern reglementierte und organisierte auch alle Vollzüge innerhalb des Gottesdienstes. Auch hierfür waren im Wesentlichen die Pfarrer verantwortlich. Beispiele dafür finden sich besonders im Zusammenhang mit dem Empfang der Kommunion: Beichte, Abendmahlsvermahnung, Katechismus- und Glaubensprüfungen wie auch die Festlegung der Kommunionsreihenfolge errichteten hohe Zugangsschranken, die in ihrer Ritualisierung den Stellenwert des Abendmahls unterstrichen, aber letztlich zu einer weiteren Abnahme der Kommunionshäufigkeit führten und den faktischen Sakramentsentzug im Mittelalter nicht zu überwinden vermochten.118 Der Ausschluss vom Abendmahl oder öffentliche, im Gottesdienst vollzogene Bußpredigten waren dabei eine häufige Praxis. Es ist davon auszugehen, dass die erwähnte Verbindung zwischen Alltag und Gottesdienst in diesen Fällen nicht nur eine psychische Belastung des Einzelnen bedeutete, sondern dass die liturgische Exklusion auch in Bezug auf Familie wie sozialen Status gravierende Notsituationen erzeugte. Während die Trennung zwischen Pfarrer und Gemeindegliedern zunehmend lebensweltlichen Bezugs kirchlicher Riten verringerte, sah sich die Gemeinde umso mehr herausgefordert, den religiösen Idealen ihres Pfarrers zu entsprechen. Rituelle Vollzüge standen damit im Dienst der Herstellung gesellschaftlicher Konformität.119 Der bereits 117 Beispielhaft für diesen, sich über einen langen Zeitraum erstreckenden Prozess, ist die Entwicklung der liturgischen Gewänder. Während die Reformatoren zumeist in ihren Gelehrtengewändern dargestellt wurden, konnte Anselm Schubert: Des Königs schwarzer Rock. Der evangelische Pfarrertalar zwischen preußischen Reformen und Neukonfessionalismus, in: ZThK 112 (2015), 62–82 zeigen, dass sich die Amtskleidung des Pfarrers im 17. Jh. an der vom Adel zu Hof getragenen Tracht orientierte, somit an weltlicher Mode und nicht etwa an der Tradition liturgischer Gewänder oder der Universitätsmode des 16. Jahrhunderts. Auch Susan C. Karant-Nunn: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany, London 1997, 192 kommt zu einem kritischen Gesamturteil: »Ritual was hardly a negligible tool, for with unabating regularity it inculcated upon its participant-observers those values of which both God and the state particularly approved: inner devotion to God and to governors, a subdued personal will, and an ordered domestic life in which high morality was both lived out and taught to the next generation. Every ritual we have examined incorporated these messages.« Wesentlicher Faktor für das Entstehen und die Entwicklung eines nicht zuletzt auf Bildung beruhenden Klassen- oder Standesbewusstseins war sicherlich die familiäre Tradierung, die erst die Aufgabe des Zölibats ermöglicht hatte. 118 Vgl. Cornehl: Gottesdienst, 56. 119 »Catholic ritual was embedded in the world of its devotees, but Protestant ritual was less so, or not at all. It attempted to be what ritual in fact cannot become – exclusively a means of making a
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bei Luther grundgelegte Gedanke der guten Ordnung, der lange unter dem Vorzeichen kirchenleitender Disziplinierung stand, wurde in den Kirchenordnungen stets betont und tradiert und es wundert kaum, dass der Gedanke lange Zeit bis in das 20. Jahrhundert hinein für die Bewertung ritueller Vollzüge prägend war.120 Nicht nur die gemeinschaftliche Basis zwischen Pfarrer und Gemeinden, auch die Gemeinschaft innerhalb des Kirchenvolks wurde neu geregelt. Der im Zuge der Reformation forcierte Einbau von Kirchengestühl gibt davon ein Beispiel. Das Sitzen ist freilich zunächst Ausdruck aufmerksamen Hörens und hat daher als liturgische Haltung seine Berechtigung.121 Die damit verbundene Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten und die Änderung der liturgischen Grundhaltung muss aber auch angesichts ihrer Funktion als Mittel der Ordnungsstiftung und Disziplinierung bewertet werden. Denn zum einen ist die Tatsache, dass die Gemeinde nun in erheblich erweitertem Maß Sitzgelegenheit zur Verfügung hatte, nicht in erster Linie, wie häufig behauptet, auf die gesteigerte Bedeutung – und Länge – der Predigt zurückzuführen.122 Auch eine zweite Erklärung, der zufolge die Errichtung von festem Kirchengestühl als Folge der Betonung des Priestertums aller Gläubigen zu werten sei, da nun das zuvor den Priestern vorbehaltene Chorgestühl in das Kirchenschiff wanderte, konnte Reinhold Wex widerlegen. Vielmehr sind Form und Stellung der Sitzgelegenheiten Ausdruck sozialer und damit weltlicher Hierarchien: »Entsprechend der sozialen Gliederung der Gemeinde erhielt jedes Gemeindeglied einen Platz zugewiesen, der entsprechend dieser Gliederung mehr oder weniger günstig im Kirchenraum stand. So wird die ständische Gliederung, wie sie im profanen Bereich üblich war, getreu in die Kirche übertragen und durch das Gestühl widergespiegelt.«123 Der Einbau von Kirchengestühl
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populace over into an image envisioned by those in positions of power. In order to succeed, it must be rooted, too, in the worldviews of its participants« (Karant-Nunn: The Reformation of Ritual, 193). S. o. 4.2. Vgl. Sequeira: Gottesdienst, 32. Bereits mittelalterliche Reformorden wie die Dominikaner hatten einen Schwerpunkt auf die Predigt gelegt, ohne dass es deswegen zum Einbau von Kirchengestühl gekommen wäre (vgl. Reinhold Wex: Der frühneuzeitliche protestantische Kirchenraum in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Policey und Zeremoniell, in: Klaus Raschzok/Reiner Sçrries [Hg.]: Geschichte des protestantischen Kirchenbaues. Festschrift für Peter Poscharsky zum 60. Geburtstag, Erlangen 1994, 47–61, 47). Peter Poscharsky: Die Kanzel. Erscheinungsform im Protestantismus bis zum Ende des Barocks, Gütersloh 1963, 65, zitiert bei Wex: Der frühneuzeitliche protestantische Kirchenraum, 47. Weil nun innerhalb des Kirchenraums private Bereiche beansprucht wurden, hingen Größe und Gestalt wesentlich von den finanziellen Mitteln der Käufer oder Pächter ab. Die Beeinträchtigungen bezüglich Sicht- und Hörbarkeit führten nicht selten zu Konflikten. Zur Umsetzung des Anspruchs auf einen exklusiven Teil des Kirchenraums bedurfte eines gesonderten Rechtssystems, dem Kirchenstuhlrecht. Auch hier zeigt sich, inwiefern individualisierende Tendenzen die Umbrüche in der Ritualkultur begleiteten: »Increasingly in the sixteenth century, with the full consent of Protestant authorities, church interiors were divided up
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gibt ebenfalls Zeugnis von der Desakralisierung des Kirchenraums im Protestantismus. Nicht nur wurden zivile und weltliche Ordnungssysteme innerhalb der Kirche akzeptiert und durch Sitzordnungen legitimiert, der Kirchenraum war nun auch nicht mehr exklusiv gottesdienstlichen Zwecken vorbehalten, sondern Ort gesellschaftlicher Ereignisse und politischer Auseinandersetzungen. Die Korrelation zwischen gesellschaftlicher Stellung und kirchlicher Sitzordnung gab dieser Stratifizierung eine liturgische Anerkennung, nicht zuletzt insofern als sie maßgeblich war für die Ordnung des Kommunionempfangs: Bürgertum und Magistrat folgten jeweils geschlechtergetrennt Handwerker und einfaches Volk. Mit Betonung des individuellen Glaubens, der keine Vermittlung bedurfte, verlor die Gemeinschaft an Bedeutung. So mag es kaum verwundern, dass mit dem Friedensgruß ein wichtiges, die Verbundenheit der Gemeinden förderndes rituelles Element in der Reformationszeit weitgehend verloren ging. Das Beispiel der Etablierung von festem Kirchengestühl wirft einen veränderten Blick auf die rituelle Verhandlung von Machtstrukturen, denn es wird deutlich, dass diese nicht nur zwischen der Institution Kirche, vertreten durch den Priester und der Gemeinde stattfinden, sondern auch innerhalb der Gemeinde.
12.4.3 Der Wandel der rituellen Haltung: Gewissheit, Skepsis, Unsicherheit Die theologischen Vorgaben blieben nicht ohne Wirkung auf den Ritualvollzug und den individuellen Zugang der Ritualakteure zu rituellen Handlungen. Wenngleich freilich hier noch weit größere Vorsicht geboten ist bezüglich der Nachweisbarkeit, sollen zumindest einzelne Passagen aus Texten Luthers angeführt werden, die Aufschluss geben über einen veränderten Zugang zu rituellen Vollzügen. Luther mag dabei exemplarisch für einen neuen Anspruch stehen, der mit Peter Burke im Rahmen der ›Aufrichtigkeitskultur‹ zu verorten ist und der auch auf Luthers Zeitgenossen seine Wirkung entfaltete.124 Zwar konnte sich Luther gelegentlich gegenüber den äußeren Formen geradezu euphorisch äußern,125 in weit größerer Zahl finden sich bei ihm jedoch Aussagen, die das Geistige dem Leiblichen und das Innerliche dem Äußerli-
into rows of pews, which the burghers often personally owned but sometimes leased, and the flowing social body now became the ordered, ranked, gender-separated bodies containing individual souls« (Karant-Nunn: The Reformation of Ritual, 135). 124 S. o. S. 451. 125 Wenngleich fokussiert auf die Person des Pfarrers: »Gott [will an uns] handeln durch erträgliche, freundliche, liebliche Mittel, die von uns selbst nicht besser könnten gewählt werden, wie: daß ein frommer, gütiger Mensch mit uns redet, predigt, die Hände auflegt, Sünde vergibt, tauft, Brot und Wein zu essen und zu trinken gibt. Wer kann sich vor solch lieblichen Formen entsetzen und nicht vielmehr sich von Herzen freuen?« (WA 50, 647).
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chen vorordnen.126 Theologisch stand auch nach ApolCA XXIV fest, dass »im neuen Testament […] der höchst Gottesdienst innwendig im hertzen zu[geht]«. Dies vorausgesetzt und angesichts der Wirkung dieser Botschaft auf die Seele konnte den Zeremonien dann eine wichtige Funktion als Ausdruck des Dankes gegen Gott zugeschrieben werden: »Denn wenn das hertz und gewissen entpfindet, aus was grosser not, angst und schrecken es erlöset ist, so dancket es aus hetzengrunde […] und [lat. Fassung: tum] braucht auch der Ceremonien odder eusserlichen zeichen zu Gottes lobe«127 Im Gegensatz dazu standen äußere Handlungen aber stets im Verdacht, ohne einen ihnen korrespondierenden Glauben vollzogen zu werden und dadurch unmittelbar in die Nähe zur Werkgerechtigkeit zu rücken. Während die innere Regung dazu anleitet, sich auf die unsichtbaren, ewigen Güter auszurichten, unterliegen äußere Vollzüge nach Luther der Gefahr dazu zu verleiten, »yn zeytlich sichtliche guter zu trawen« und eine »falsche sycherheyt« zu erzeugen.128 Statt nach außen soll sich der Blick nach innen wenden: »Wollen wir recht Mess halten und verstehen, so müssen wir alles fahrenlassen, was die Augen und alle Sinne in diesem Handel mögen zeigen und antragen« – wiederum ein Motiv der Mystik.129 Das äußere Handeln ist für ihn letztlich nur eine Verdoppelung dessen, was im Erfassen und Verstehen des göttlichen Wortes bereits gegeben ist: »Drumb hab ich gesagt, es ligt alles an den worten dißes sacraments […] Laß eynen andernn beeten, fasten, beychtenn, sich zur meß und sacrament bereyten wie er will. Thu du desselben gleychen tzo ferne, das du wissest, das allis das lautter narr werg und triegery ist, tzo du nit die wort des testaments fur dich nympst und den glauben und begirde datzu erweckst.«130 Daraus ergibt sich in ritualtheoretischer Betrachtung ein widersprüchlicher Befund: zum einen werden die äußeren Vollzüge in ihrer Bedeutung für den Glauben stark relativiert und geradezu gleichgültig, solange das Wort in rechter Weise ergriffen wird.131 Andererseits beschreibt Luther Rituale als gefährliche und riskante Praktiken. Jeder, der eine solche äußere Handlung 126 Ausgehend von der Kontroverse zwischen Luther und Karlstadt erörtert die Kontrastierung auch Deeg: Das äußere Wort, 77–83. 127 BSELK, 649. 128 WA 2, 754. 129 Besonders das ›Lassen‹ ist ein in der Mystik zentraler Begriff. Luther fährt fort: » … es sei Kleid, Klang, Gesang, Zierde, Gebet, Tragen, Heben, Legen oder was geschehen mag in der Messe, bis daß wir zuvor die Worte Christi fassen und wohl bedenken« (WA 6, 355). 130 AaO., 360f. Ähnlich auch in WA 11, 432: »Darumb weytt mehr an dießen worten gelegen ist denn an dem sacrament selbs«. In seinem frühen Sermon vom hochwürdigen Sakrament wies Luther dem Kommunionsvollzug noch eine wichtige Funktion als spirituelle Übung zu: »Hie sich tzu, das du den glauben ubist und sterckist, […] also zum sacrament gehist oder meß horist, das du begrerest hertzlich diß sacrament und seyner bedeutung« (WA 2, 750). 131 Folge dessen ist etwa, dass trotz des erbitterten theologischen Kampfes um die Realpräsenz die rituellen Vollzüge beim Abendmahl jenseits der Rezitation der Einsetzungsworte und der Kommunion selbst zunehmend nur als Adiaphora verstanden in den Blick kamen, samt der damit verbundenen Konsequenzen der Einordnung in Bekenntnis- und Identitätsstrategie des Protestantismus.
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vollzieht, soll sich selbst prüfen, ob er sich der Heuchelei schuldig macht und damit Luthers Verdikt unterliegt. Für die Ritualakteure resultierte aus dieser theologischen Sichtweise eine generelle Skepsis gegenüber den überlieferten, rituellen Formen. Im Vergleich zur freilich zu Recht von den Reformatoren kritisierten Sicherheit, mit der die römischen Priester ihr Heil austeilten und auch in den Auswüchsen des Ablasshandels verkauften, lag genau in diesem Verlust der rituellen Sicherheit einer der Hauptgründe für den rituellen Kulturwandel. Die Sicherheit, die mit der Vorstellung der ex opus operatum wirksamen Handlung verbunden gewesen war, war verloren und die innere Haltung war zum zentralen Beurteilungskriterium rituellen Handelns geworden. Dies dürften die wesentlichen Antriebskräfte dessen gewesen sein, was als Spiritualisierung des Glaubens und mit Alexander Deeg als »Verinnerlichung der liturgischen Partizipation« bezeichnet werden kann.132 Den rechten Vollzug liturgisch-ritueller Handlungen, der in theologischer Hinsicht als rechte Glaubensdisposition zu bestimmen wäre, fasst Luther anthropologisch in die Forderung, »sie sollten es mit ernst von hertzen meynen«.133 Luther geht es also um eine Kongruenz von Handlung und Gesinnung. Nur sie ist in der Lage, die bei ihm nicht als leer, sondern als heuchlerisch und damit als gefährlich bestimmten Rituale einem positiven Nutzen zuzuführen. Doch die gewiss mitunter diffizile Unterscheidung zwischen Werken, die sich von Gott einen Verdienst erhoffen und solche, die allein als Ausdruck des Dankes zu werten sind, mag das Urteilsvermögen des Einzelnen über sich selbst überfordert haben. Zumal ihm im Zweifelsfall ja nicht zum Ritualvollzug, sondern zur Konzentration auf den rechten, innerlichen Glauben und auf das Wort geraden ward.134 Geradezu als Abschreckung stellte Luther jene vor Augen, die ohne die rechte Haltung rituell agieren. Für sie gilt: »alle spotten sie seyn [sc. Christus] mit dem eusserlichen heuchlisschen anbetten«. Zu dieser Heuchelei neigen nach Luther besonders jene, die viel »knyen, neygen und buecken eusserlich«. Die Gefahr bestand somit darin, nicht nur nutzlose Handlungen zu vollziehen, sondern damit zugleich zu sündigen: »Solche anbetten verwirfft Christus alhie.«135 Dem Trostgewinn, welcher die Lehre von der Rechtfertigung bedeutet und wie er in den Predigten sicher reichlich zum Ausdruck kam, stand auf der Gegenseite ein Trostentzug entgegen. Gewichen waren nicht nur die verlässlichen, wirksamen Rituale, sondern auch die verlässliche Gegenwart Gottes in
132 Deeg: Das äußere Wort, 79. 133 WA 11, 444. 134 »Laß eynen andernn beeten, fasten beychtenn, sich zur meß und sacrament bereyten wie er will. Thu du desselben gleychen tzo ferne, das du wissest, das allis das lautter narr werg und triegery ist, tzo du nit die wort des testaments fur dich nympst und den glauben und begirde datzu erweckst« (WA 6, 360f.). 135 WA 11, 444.
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den Dingen, den Hostien, Reliquien und geweihten Wassern und eben auch in den Handlungen des Neigens, Kniens, Bekreuzigens. Sollte der Ausweis rechter ritueller Handlung doch möglich sein, konnte dies nur im Hinblick auf ihre förderliche Wirkung auf Glauben und Moral erfolgen. Nicht mehr in der Wandlung der Dinge, sondern in der Wandlung des Inneren des Menschen bestand die Wirksamkeit der Rituale, die damit zugleich einem an Nützlichkeit orientierten Denken unterstellt wurden und an Eigenwert verloren. Jene Wertschätzung der leiblich vollzogenen Anbetung, die Luther aufgrund des biblischen Zeugnisses herausgestellt hatte, konnte kaum eine nachhaltige Wirkung entfalten. Stattdessen trat ein anderes Bewusstsein nicht zuletzt durch die Wirkung der Predigt in den Vordergrund, das Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit, der Mangelhaftigkeit wie auch der Bedürftigkeit.136 Die Aufwertung der Beichte, ihre enge Bindung an die Vorbereitung zur Kommunion und die intensive Thematisierung der Sittlichkeit haben den evangelischen Glauben und die Weise, Gottesdienst zu feiern, wesentlich bestimmt.137 Die das Ritual begleitende Einstellung sollte somit nicht mehr auf die konkreten Handlungsvollzüge gerichtet sein, sondern einerseits ganz und gar introspektiv, auf das, was im Herzen ist, andererseits aber über das Ritual hinaus auf die zu verändernde und neu auszurichtende Lebensführung.
12.4.4 Rituelle Widersprüche und Ritualverweigerung (Ritualkritik 3) Die Unsicherheit auf Seiten der Akteure angesichts der riskanten Praxis rituellen Handelns wurde durch einen weiteren Umstand noch verstärkt, der eng mit der Kontinuität der Gottesdienstformen und überlieferter Rituale verbunden ist. So lange es noch um die Reformierung der einen Kirche ging, stand die Betonung der Freiheit gegenüber rituellen Formen im Vordergrund. Ob etwa Weihrauch oder Kerzen verwendet oder abgeschafft werden, sollte Luther zufolge der Entscheidung der Gemeinden überlassen bleiben.138 Das zunehmende Bedürfnis nach Abgrenzung, das theologisch im Begriff des Adiaphorons vollzogen wurde, griff – trotz der benannten Tendenz zur Spiritualisierung und Intellektualisierung innerhalb der Theologie – nicht in derselben Geschwindigkeit auf den Bereich der Liturgie über. Neue Bedeu136 Ein Beispiel dafür sind die im Vergleich mit Luther noch einmal ausführlicheren Exhortationen vor der Kommunion. So bereits in Bugenhagens Braunschweiger Ordnung von 1528 (vgl. EKO VI/1, 443 f.). 137 Der Primat des Beichtsakraments hat seinen Grund freilich nicht in der Reformation, sondern ist die Weiterführung und Modifikation einer bereits bestehenden vorreformatorischen Entwicklungstendenz. Reinhold Meßner bezeichnet das Bußsakrament als das »mittelalterliche Grundsakrament« (Messner: Einführung, 115 f.). 138 »Ubi nec candelas neque thurificationem prohibemus, sed nec exigimus, Esto hoc liberum« (WA 12, 211).
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tungen der gottesdienstlichen Rituale erschienen weiterhin im alten Gewand und waren für die Gemeinde somit nicht ohne Weiteres zu differenzieren.139 Anders als die Reformierten, die beim Abendmahl zu normalem Brot zurückkehrten, behielt die lutherische Reformation Hostien in ihrer typisch mittelalterlichen Form bei. Der theologisch subtile Abschied von der Transsubstantiationslehre unter Beibehaltung der Realpräsenz konnte so nur schwer vermittelt werden und musste für die Ritualakteure als allein theologisch-theoretisches Problem erscheinen. So kam es teilweise zu einer erheblichen Distanz zwischen den vorgegebenen Deutungen und der Aneignung auf Seiten der Gemeinde, die entgegen aller desakralisierenden Tendenzen an der Selbstwirksamkeit ritueller Vollzüge festhielt. In Visitationsberichten ist immer wieder die Klage zu finden, dass auch in protestantischen Gebieten Hostien und Taufwasser aus der Kirche entwendet und in die Häuser gebracht wurden. Der Glaube an die Realpräsenz wollte sich, wie von den Reformatoren gewünscht, nicht auf den unmittelbaren Kontext der Feier begrenzen lassen.140 Die Kirchenleitung unternahm große Anstrengungen, um diese Formen der Verknüpfung von Alltag und Ritual, des Hineintragens des Heiligen in den Bereich des Profanen zu unterbinden141 – und konnte sich gegen die hier als Kritik gedeuteten Widerstände nur eingeschränkt und erst nach längerer Zeit durchsetzen.142 Auch die liturgischen Gewänder, die in manchen Traditionen des Protes139 Damit kann für den Gottesdienst in analoger Weise gelten, was Christian Grethlein für die Reform der Taufpraxis konstatiert hat (vgl. Taufpraxis in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 2014, 61): Die rituelle Umsetzung der theologischen Neupositionierung konnte schwerlich gelingen, da diese bei Fortsetzung zahlreicher liturgischer Traditionen für die Gemeinde kaum erkennbar wurde und folglich die Verbundenheit mit der Tradition überwog. 140 Vgl. Karant-Nunn: The Reformation of Ritual, 186. Waren einige Lutheraner ihren katholischen Mitchristen in dieser Überzeugung besonders nahe, so wird heute häufig davon ausgegangen, dass der lutherischen Betonung der Realpräsenz zum Trotz die Gemeinde leichter Zugang zu einer reformiertem Abendmahlsverständnis findet – die rituelle Form bleibt davon zunächst unberührt. 141 Die Problematik der damit gegebenen starken Voraussetzungshaftigkeit der gottesdienstlichen Interaktionen hat für den modernen Gottesdienst auf dem Hintergrund einer Interaktionsanalyse Yorick Spiegel beschrieben: »[J]e mehr die Anforderungen an Selbstdarstellung und Interaktion für Publikum und Ensemble von denen anläßlich anderer öffentlicher Veranstaltungen abweichen, desto schwieriger wird es für einen Fremden, sich in die ihm unbekannten Verhaltensmodelle hineinzufinden und desto größer wird die Exklusivität« (Gottesdienst, 118). 142 An dieser Stelle deckt sich der Befund mit einer These von Alfred Lorenzer. Aufgrund der persönlichkeitsbildenden und -festigenden Wirkung erzeugt das Ritual eine »Widerstandsschicht gegen die ideologisch-normativen Deutungen und Handlungsanweisungen« (Lorenzer: Das Konzil der Buchhalter, 151). Lorenzer versteht darunter die Tatsache, dass ein ritueller Bezug zu präsentativen, sinnlichen Symbolgegenständen zu einer Eigenständigkeit im Umgang mit diesen führt. Er versucht dies am Beispiel der psychologischen Entwicklung bei Kindern nachzuweisen, bei der erst der selbständige Umgang mit Objekten die »Mutter-KindDyade« zu überwinden vermag. Lorenzer verwendet dabei den auch hier häufig bemühten Begriff der ›Aneignung‹.
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tantismus bis weit ins 18. Jahrhundert hinein erhalten blieben und generell in lutherischen Nischen nie ganz verschwanden,143 verstärken den Eindruck disparater Botschaften. Sowohl die radikale Reformation als auch die Reformierten legten von Beginn an wesentlich stärker Wert auf eine klarere Unterscheidung in rituellem und visuellem Code. Die Möglichkeit der Zuschreibung neuer Bedeutung an tradierte rituelle Formen, wie sie bereits bei der Elevation beschrieben wurde, war unmittelbar mit der Einsicht verbunden, dass diese neuen Bedeutungen ebenso wenig eine notwendige Symbiose mit den Ritualen eingehen, wie dies zuvor der Fall war. Stets bestand die Möglichkeit, dass die Akteure andere Deutungen vornehmen, als sie von den Reformatoren intendiert waren. Daher muss die Kontinuität zur vorausgehenden rituellen liturgischen Tradition zumindest für den Gottesdienst nicht notwendig als Versäumnis oder Mangel an Entschiedenheit bewertet werden. Vielmehr zeigt sich darin einerseits die Beharrungskraft ritueller Vollzüge, andererseits spiegelt sich die nicht zuletzt emotionale Verbundenheit der lutherischen Reformation mit den liturgischen Traditionen. Schließlich zeugt diese Kontinuität auch – der Blick auf Luther hat dies deutlich gezeigt – von der Einsicht in die tiefe innere Verwurzelung dieser Traditionen im Glaubensleben und -bewusstsein der Gemeinden. Neben verschiedenen Ritualen, die abzulegen sich die Bevölkerung wehrte,144 finden sich auch innerhalb des Gottesdienstgeschehens im Handeln der Gemeinde verschiedene Formen von Ritualkritik. Die mangelnde Akzeptanz der neuen rituellen Formen konnte sich bis zur Ritualverweigerung steigern. Dass Gemeinden das Mitsingen unterließen, ist ein häufiger Topos in den Visitationsberichten.145 Zu beklagen waren dort auch weitere Formen der Ritualkritik wie Ritualentzug (vor allem in Form verkürzter Teilnahme) und Ritualstörungen (in Form von Parallelhandlungen wie Sprechen oder Schla143 Vgl. Evelyn Gillmeister-Geisenhof: Der Talar – Medium und Sprache, in: GottesdienstInstitut der Evangelisch-Lutherischen Kirche (Hg.): Evangelisch betucht. Katalog zur Ausstellung mit Gottesdienstgewändern und Amtstracht, Nürnberg 2007, 17–24. 144 Susan Karant-Nunn spricht hier von ›pararituals‹. Darunter sind ritualisierte Sozialformen zu verstehen, die ihre unmittelbare Bedeutung aus der Lebenswelt bezogen und nur sekundär mit kirchlichen Riten verbunden waren. Paradigmatisch dafür ist die Trauung, aber auch Muttersegen und Besuche bei Wunderheilern und Wahrsagern. Die Pflege derartiger ›pararituals‹ fand sich in allen Gesellschaftsschichten. Beim Versuch, diese zu unterbinden zeigten sich auch die Grenzen der Einflussnahme durch die Kirchenleitung (vgl. Karant-Nunn: The Reformation of Ritual, 193). 145 Vgl. Im Hinblick darauf ist wohl auch manche romantisierende Vorstellung von der neuen, vom Singen geprägten gottesdienstlichen Gemeinschaft zu revidieren, wie sie aus der Lektüre von Luthers Schriften und seinem euphorischen Lob des Singens der gottesdienstlichen Gemeinschaft entstehen kann (vgl. etwa WA 49, 593). Vor diesem Hintergrund bekommt das Lob Christoph Dinkels über die »Einführung des obligatorischen Gemeindegesangs im Gottesdienst«, der »alle am Gottesdienst Beteiligten in die Verkündigung mit ein[bezieht]« (Was nützt der Gottesdienst?, 96) einen geradezu bedrohlichen Beigeschmack. Und mancher Liturg will durchaus auch heute die Gemeinde trotz zu erwartender Zurückhaltung gegenüber dem Gesang zu demselben Erziehen.
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fen). Peter Cornehl konstatiert auf diesem Hintergrund eine »tiefgreifende Entfremdung zwischen Gottesdienst und Gemeinde«.146 Aber nicht nur hinsichtlich der liturgischen Formen und der zugeschriebenen Bedeutungen entzog sich die Gemeinde manchen reformatorischen Ansätzen. Dies galt auch in Bezug auf den Katechismusunterricht und die sittlich-moralische Erziehung – Erwachsene verweigerten sich einer gefühlten Degradierung zu Schulkindern durch ihre Pfarrer. Hingegen brachten sie ihre Vorstellungen von der christlichen Religion immer wieder in diese Kontexte ein und prägten damit auf subtilere Weise die gottesdienstliche Entwicklung.147 Eine theologische Anerkennung erfuhr die damit zum Ausdruck gebrachte ›Gemeindetheologie‹ jedoch erst Jahrhunderte später. Angesichts dieser Widerstände wurde schon frühzeitig die Frage nach der Instanz gestellt, die in der Lage ist, die Einhaltung der neuen Ordnungen durchzusetzen.148 Zwei Folgen des gemeindlichen Widerstands sind zu nennen. Zum einen die zunehmende Verrechtlichung von liturgischen Anordnungen und gottesdienstlichen Agenden – dies wurde bereits im Zusammenhang mit der Begriffsgeschichte erörtert.149 Die zunehmende Verbindlichkeit und Fixierung der gottesdienstlichen Handlungen ließ die im Protestantismus angelegte Spannung »zwischen dem Wunsch nach verlässlicher Ordnung und der Sorge um evangelische Freiheit«150 nicht nur im Bereich der Liturgie lange Zeit auf die Seite der Ordnung kippen. Dadurch sollte zugleich als weiteres Ziel die moralische Disziplinierung der Gemeinde verwirklicht werden.151 Eine zweite Reaktion auch auf die liturgische Widerständigkeit war der Ausbau eines umfangreichen Visitationssystems, dessen 146 Cornehl: Gottesdienst, 59. 147 Susan Karant-Nunn setzt die Weigerung zu Singen in Beziehung zu den katechetischen und moralisch-disziplinarischen Bemühungen: »[T]he widespread unwillingness to sing contains a message of resistance to official ritual, with all its disciplinary signals. To sing was to submit to this tool of indoctrination […], to sing was to proclaim the values in the lyrics. To sing was to accept the ritual command of an increasingly supervisory, directive, and judgmental clergyman. Not to sing was a way of affirming the integrity of one’s unregenerated traditions – which included such activities as dancing, sexual display, and excessive drinking – that were central to the extra-ecclesiastical partner-rituals of baptism, churching, engagement and marriage, and funerals« (The Reformation of Ritual, 196). Sie resümiert: »In the setting I have studied, at least, rulers failed to attain their goal of popular docility and submission. As [Catherine] Bell points out, participants in ritual not only make their own contributions to ceremony, but they also interpret for their own purposes what has transpired« (aaO., 192). 148 Vgl. CA XXVIII: »Praeter haec disputatur, utrum Episcopi seu pastores habeant ius instituendi ceremonias in Ecclesia« (BSELK, 197). 149 S. o. 6. 150 Christian Grethlein: Evangelisches Kirchenrecht. Eine Einführung, Leipzig 2015, 30. 151 »The authorities, urban or urbanized men, regarded themselves as God’s instruments in rectifying the disorder that Catholicism had tolerated. Yet, because many of the popular traditions, however gratifying to the bodily senses, were also rooted in socioeconomic necessity, the people would not give them up. They resisted furiously, and often successfully« (Karant-Nunn: The Reformation of Ritual, 200).
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Bedeutung als »Charakteristikum der Zeit« häufig unterschätzt wird: »Weder die Reformation noch auch die Gegenreformation oder das konfessionelle Zeitalter sind ohne sie [sc. die Visitation] zu verstehen.«152 Bis ins Detail war den Visitatoren daran gelegen, die Einhaltung der Ordnung skrupulös zu überwachen, darunter fielen Fragen der musikalischen Gestaltung, des exakt verwendeten Wortlauts, der Gebetsrichtung der Pfarrer etc.153 Dadurch war der Diskurs ›Freiheit‹, der das Denken Luthers in Bezug auf rituelle Ordnungen geprägt hatte, durch außerrituelle Diskurse um ›Ordnung‹, ›Disziplin‹ und ›moralische Besserung‹ institutionell verdrängt. Es ist bezeichnend, dass eben auch die liturgischen Fragen als unmittelbares ius in sacra über das Mittel der Visitation dem Landesherrn bzw. einer von ihm eingesetzten Kommission übertragen wurden. Nicht zuletzt in seinem Interesse lag es, dass die liturgische Ordnung und Einheitlichkeit innerhalb einer politischen Einheit eine theologische Entsprechung fand, sodass die Theologie die Liturgie nahezu ausschließlich von ihrem dogmatischen Ort her bestimmte. Während aber die Einhaltung und Ordnung der Handlungsvollzüge gewährleistet werden konnte, war diese bezüglich der inneren Voraussetzungen kaum möglich. Der theologischen Klarheit hinsichtlich der kausalen Reihenfolge von innerer Glaubenshaltung und äußeren Ritualen widersprach die spezifische Eigenart ritueller Handlungen, der zufolge Handlungsintention und rituelle Form nicht unmittelbar miteinander korrelieren, die unmittelbare Motivation an der Form der Handlung also nicht abzulesen ist.
12.5 Zusammenfassung Der Blick auf Ritualisierungs- und Deritualisierungsprozesse, auf bleibende und veränderte Ritualvollzüge sowie auf die Formen von Ritualkritik zeigen eine umfangreiche rituelle Transformation in der Reformationszeit. Von einer »Umstellung der Religiosität von Ritual auf Kommunikation« (Dinkel 158) durch die Reformation kann keine Rede sein. Auch die reformatorische Kirche identifizierte sich primär über die grundlegenden über ihre rituellen Vollzüge. Nicht zuletzt die Bekenntnisgemälde geben davon Zeugnis. Religiöse Gesten und Haltungen gehörten ebenso dazu wie ritualisierte Kleidung und herausgehobene Orte: »Protestants still experienced the sacred through rituals«154. Die Gründe für die kritische Haltung gegenüber Ritualen im Protestantismus müssen auf der theologischen Ebene gesucht werden. Luther war es zunächst vor allem darum gegangen, seinen Freiheitsbegriff auch auf den Bereich der Liturgie zu übertragen und rituelle Vollzüge von soteriologischen 152 Peters: Visitation I, 153. 153 Vgl. die bei Karant-Nunn: The Reformation of Ritual, 121 f. aufgeführten Beispiel der detaillierter Überwachung liturgischer Praxis durch die Landesherrn. 154 Muir: Ritual in Early Modern Europe, 203.
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Fragen zu entkoppeln. Die darin geäußerte Ritualkritik war keineswegs identisch mit einer Fundamentalkritik am rituellen Charakter und ritueller Formensprache christlichen Glaubens. Vielmehr zeigen sich bei Luther unterschiedliche Gestalten von Ritualkritik, die intellektuelle Auseinandersetzung ebenso umfasste wie die Verwendung von Ritualen als Medien der Kritik. Obgleich Luther an der konkreten Gestaltung der sinnlich-erfahrbaren Dimension durchaus starkes Interesse hatte, wie seine Gottesdienstordnungen belegen, verstand er das Angewiesensein auf leibliche Vermittlungsformen und rituelle Ordnungen doch häufig vor allem als kirchenpolitische Notwendigkeiten und nicht zuletzt als Ausdruck eines Mangels an geistlichem Fortschritt. Der Blick auf die grundsätzliche leib-seelische Verfasstheit des Menschen trat hinter diesen Überlegungen zurück. Rituelle Formen standen seither unter dem Vorzeichen der Vorläufigkeit. Ihre Betonung galt als Ausdruck von Glaubensschwäche und mangelnder religiöser Bildung. Mit den liturgischen, rituellen Veränderungen durch die Reformation entstanden nicht nur neue Ritualformen, sondern insgesamt trat der dynamische, für Veränderungen offene Charakter von Ritualen nun deutlicher hervor. Rituale wurden bewusst als zu Mitteln der Durchsetzung und der Bestätigung der reformatorischen Botschaft verwendet. In diesem Sinne ist rituelles Handeln – entgegen der geläufigen Betonung des stark traditionalen Charakters – als Innovationsstrategie zu verstehen. Die folgende theologische und kirchenpolitische Entwicklung führte immer stärker zur Unterordnung des Gottesdienstes unter die theologische Lehrbildung (Dogmatisierung) und zur Ausklammerung ritueller Vollzüge aus dem Gottesdienstbegriff (FC).155 Gerhard Scheidhauer hatte anhand der Adiaphoronlehre gezeigt, wie über die Theorie vom verus cultus bereits in der FC der »wahre« und »eigentliche« Gottesdienst immer mehr von der als unwesentlich betrachteten Liturgie getrennt wurde, deren Gestaltung in der Folge allein landesherrlicher Jurisdiktion unterworfen war: »Die Adiaphoronlehre von FC X macht die Liturgie zu einem Appendix des Gottesdienstes.«156 Die zunehmende Vernachlässigung der Pflege gottesdienstlicher Ritualkultur, die ihren Ausgang beim achtsamen Vollzug nimmt, führte zu einer Entfremdung der Gemeinde vom Gottesdienst als Kernvollzug gelebten Glaubens. Davon zeugen auch die Veränderungen bei der Ritualvermittlung, die immer mehr in den intellektuell-kognitiven Bereich abwanderte, sodass im 18. Jahrhundert »Verlaufsbeschreibungen« des Gottesdienstes in den Kirchen auslagen, die noch dazu anhand von Texten zum Beten während des Gottesdienstes anleiten wollten.157 Diese Entfremdung war möglich, weil der 155 Florian Ihsen (Eine Kirche in der Liturgie. Zur ekklesiologischen Relevanz ökumenischer Gottesdienstgemeinschaft, Göttingen 2010, 124–126) spricht vom »Übergang vom liturgiegebundenen zum abstrakten Gottesdienst- und Kirchenbegriff«. 156 Scheidhauer: Recht der Liturgie, 311. 157 Vgl. Cornehl: Gottesdienst, 59. Hier wie an vielen Stellen innerhalb der Liturgiegeschichte zeigen sich über das erwartete Maß hinaus deutliche Parallelen zwischen Katholizismus und
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bloßen Einhaltung der Form wenn auch kein theologischer, so doch ein ordnungspolitischer Leitgedanke entsprach, der die liturgische Kreativität sowie die nötige Flexibilität und Kontextualisierung der Liturgie weitgehend zum Erliegen brachte. Die Gemeindeversammlung wurde nicht mehr als Ort der Liturgiebildung verstanden, wie dies bei Luther noch durchaus mitgedacht war. In den folgenden Jahrhunderten war die Ritualpraxis geprägt von rigider Durchsetzung vorgeschriebener Formen (Visitation) und die anfänglich übergroße Pluriformität wich der Uniformität. Es ist vor allem die Unterordnung des Rituals unter andere Zwecke, die Fokussierung auf Belehrung und Besserung (»elevating human kind«, KarantNunn), die Fokussierung auf die Predigt, die auf liturgische Vollzüge kaum noch Bezug nahm, sowie die Trennung von Ritual und Alltag, die für eine negative Sicht auf die Ritualkultur des Protestantismus gesorgt haben. Damit verbunden war die generelle Zurückdrängung der Handlungsdimension des Gottesdienstes, wie am Beispiel der Kirchenbänke zu beobachten war. Die Zuschreibung dieser Entwicklung auf Luther selbst (»Shades of Luther! Shades of Re-formation«) hat sich nicht als zutreffend erwiesen. Gerade Luthers Gottesdienst- und Kasualagenden Auskunft über seine intensive Pflege der Rituale. Die Selbstverständlichkeit des Rituals ging spätestens mit Luther und dessen Ritualreform verloren. Mit der Hinterfragung des Ritualverhaltens einer ganzen Kirche, wurde rituelles Handeln als ambivalent, aber auch als riskant klassifiziert. Damit kamen zuvor weitgehend unbeachtete Aspekte rituellen Handelns zum Vorschein, die es rechtfertigen, von reformatorischen Impulsen zur Ritualkultur zu sprechen, die es neu zu würdigen gilt: Luthers Zurückhaltung gegenüber der Erstellung eigener liturgischer Entwürfe war unter anderem Ausdruck seiner Überzeugung, dass gottesdienstliche Formen einer Gestaltung bedürfen, die den zeit- und kontextspezifischen Anforderungen genügt und aus der Kenntnis um diese Anforderungen heraus entsteht. Damit war zum einen des einfachen Rekurses auf liturgische Traditionen als Autoritäts- und Legitimitätsgrundlage für die Unveränderbarkeit dieser Formen gewehrt. Andererseits wuchs damit die Bedeutung der Ortsgemeinde und ihres Anteils am ius liturgicum. Nur wenn liturgische Ordnungen nicht als von der Kirchenleitung aufoktroyiert empfunden werden, können sie Ausdruck einer Selbstverpflichtung der Gemeinde sein und in diesem Sinne ihrem Charakter als ius gerecht werden. Die Adaptionsfähigkeit der Ordnungen wie ihre Notwendigkeit für die Feiernden enthebt das liturgische Recht aus einem Machtdiskurs, bei dem die Gemeinde passiv bleibt. Auch Luthers Rückgriff auf biblische Vorlagen und darin dokumentierte Protestantismus. Dies konnte bereits beim Blick auf die Begriffsgeschichte beobachtet werden und eben hier wieder: Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte Pius X. unter dem Eindruck der liturgischen Bewegungen die Forderung nach qualifizierter Beteiligung der Gemeinde: Es solle nicht in der Messe, sondern die Messe solle gebetet werden.
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Vollzugsformen zeigt gleichwohl die grundsätzliche Angewiesenheit ritueller Formen und ihrer Akzeptanz auf eine Autoritäts- und Legitimitätsgrundlage. Diese Akzeptanz vorausgesetzt können rituelle Handlungen zu menschlichem Handeln im umfassenderen Sinn werden, welches die Akteure »mit ernst von hertzen meynen« (Luther).158 Der Ritualtheorie Humphreys und Laidlaws zufolge handelt es sich hierbei um einen Zustand, der emotionale Aneignung verknüoft mit diskursiver Bedeutungszuschreibung.159 Damit hat Luther ein Idealbild ritueller Vollzüge benannt, dessen Gültigkeit nichts an Aktualität verloren hat. Die Engführung von Ritualen auf ihre Instruktions-, Ordnungsund Stabilitätsfunktion wurde bereits in Luthers Texten immer wieder deutlich und hat sich zunehmend umfassend durchgesetzt. Sie verhinderte die Wahrnehmung des kritischen Potenzials ritueller Handlungen, dessen Luther sich nicht nur bei der Einführung der Kommunion unter beiderlei Gestalt selbst bediente.
158 S. o. S. 477. 159 S. o. 9.9.
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13 Ausblick: Gottesdienstgestaltung und Ritualkompetenz In der Auseinandersetzung mit Werner Jetters Symbol und Ritual kennzeichnet Jürg Kleemann die Bedürfnisse und Erwartung an eine ritualtheoretische Beschreibung des Gottesdienstes im Blick auf die Gestaltung der Liturgie als die Suche nach einer »Grammatik, aus deren Regeln wir die Kompetenz, die Fähigkeit gewinnen, die schönen Gottesdienste des Herrn mit anderen zu lernen, zu feiern, zu beurteilen.«160 Diesem Votum folgend soll abschließend noch einmal der Frage nachgegangen werden, welche Kriterien ritueller Kompetenz als Teilgebiet liturgischer Kompetenz sich ausgehend von den in dieser Studie gewonnenen Einsichten benennen lassen. Damit ist zugleich noch einmal im Kern das hier verfolgte Anliegen enthalten, die herangezogenen Ansätze der Ritual Studies mit den Ergebnissen des ritualtheoretischen Diskurses evangelischer Liturgik seit den 1970er Jahren zu vermitteln und insbesondere die darin erarbeiteten theologisch-liturgischen Erwägungen zur Frage der Ritualkompetenz wieder aufzugreifen. Rituell-liturgische Kompetenz meint die Verbindung von theoretischem und praktischem Wissen, von Theoriekenntnis und situationsadäquatem Handlungsvermögen. Das Ziel dieser Beobachtungen ist nicht eine Beschreibung der Leistungen des Gottesdienstes im Allgemeinen. Im Fokus steht vielmehr das Verstehen der Wirkmechanismen konkreter ritueller Handlungsvollzüge, ihre Gelingensbedingungen wie auch ihre Gefahren. Die Überlegungen orientieren sich an dem ursprünglich aus der ethischen Urteilsbildung bekannten Dreischritt von Wahrnehmen, Urteilen und Handeln. Das Beherrschen liturgischer Kompetenzen stellt ebenso die Voraussetzung für zukünftige theologisch verantwortete Ritualisierungen wie für das Hinterfragen der bestehenden ritualisierten Praxis dar. In diesem Sinne wird auf einen Beitrag zur Selbstklärung des Liturgen über seine Rolle, seinen »Dienst«, und über die Ritualisierungsprozesse, denen sein eigenes Handeln unterliegt, abgezielt. Auch diese abschließenden Überlegungen verbeiben weitgehend auf der programmatischen Ebene. Sie sind daher lediglich als Ausblick auf eine ritualkompetente Gottesdienstgestaltung angelegt. Eine solche wäre unter verändertem theoretischen Grundgerüst noch zu leisten. Gottesdienstgestaltung, wie sie hier mit Blick auf den Sonntagsgottesdienst verstanden wird, setzt eine grundlegende Bereitschaft voraus, die Ritualität des Gottesdienstes anzuerkennen und dabei das Handeln auf Seiten der Gemeinde und das Handeln der Liturgen gleichermaßen zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen. Der Blick ist dabei über die in Agenden erfassten Vollzüge hinaus zu richten. Die Frage nach möglichen Funktionen oder symbolischen Gehalten kann dabei zunächst zurückgestellt werden. 160 Kleemann: Symbol und Ritual, 105.
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Vielmehr geht es um die »offensichtlichen Aspekte des Rituals«161, seine sinnlich wahrnehmbare Gestalt. Der Blick auf das konkrete Handeln führt dazu, den agendarischen Gottesdienst nicht ausschließlich von einer identischen Grundstruktur und einem im Prinzip gleichen Ablauf her zu erfassen, sondern in seinem jeweiligen sozialen, politischen, zeithistorischen und auch kirchenjahreszeitlichen Kontext. Dabei zeigt sich rasch, dass auf der Detailebene, der aus ritualtheoretischer Sicht die Priorität zukommt, der agendarische Gottesdienst nicht existiert. Gemäß dem Ritualisierungsparadigma erweisen sich rituelle Handlungen am Vorhandensein spezifischer Kennzeichen und sind nicht unabhängig von der konkreten Handlung festzustellen. Grundsätzlich können alle Handlungen, die wiederholt im Gottesdienst stattfinden, einer solchen Ritualisierung unterzogen werden. Mit Catherine Bell lassen sich Rituale mithilfe des Prinzips der »privilegierten Differenzierung«162 herausgreifen. Dabei handelt es sich um bewusst von den Akteuren gewählten Strategien, welche die jeweilige Handlung gegenüber anderen Handlungen in ihrer Bedeutung aufwerten (privilegieren). Das Wahrnehmen von Ritualen im Gottesdienst richtet den Blick daher auf Prozesse der Selbstunterscheidung. Diese zeigen sich etwa in den rituellen Sequenzen, die jeweils durch bestimmte Handlungsvollzüge umrahmt und so in ihrer Stellung verdeutlicht werden. Ein weiteres Kennzeichen ritueller Handlungen ist Caroline Humphrey und James Laidlaw zufolge die Herausbildung einer »rituellen Einstellung«. Diese hat zur Folge, dass sich die Handlungsgestaltung zunehmend weniger an funktionalen und instrumentellen Bedürfnissen und Absichten orientiert und dass stattdessen die Einhaltung der Form ins Zentrum der Intention rückt (Nicht-Intentionalität163). Dadurch wird verstärkt die Möglichkeit eröffnet, einzelnen Handlungen eine Bedeutung zuzuschreiben, sei dies auf emotionaler oder diskursiver Ebene. Als Beispiel könnte die Sequenz des Betretens der Kanzel durch den Prediger genannt werden, die den rituellen Rahmen der Predigt bildet und dieser daher eine herausgehobene Stellung beifügt. Die Sequenz umfasst nicht nur den Kanzelgruß, sondern weitere Handlungen wie ein kurzes Gebet, das mitunter im Knien gesprochen wird, das Aufschlagen der Bibel oder das Ablegen der Uhr. Im Sinne einer Ritualanalyse wäre zu fragen, welche Bedeutungen Prediger und Gemeinde mit diesen Handlungen verbinden, etwa ob sie als notwendige Voraussetzung einer gelingenden oder wirksamen Predigt betrachtet werden. Dies wäre ebenso wenig im Voraus zu beantworten wie die Frage, ob die rituelle Sequenz neben ihrer ordnenden Funktion nicht auch der Legitimation des Predigers dient, sei es vor seiner Gemeinde oder 161 Roy A. Rappaport: Ecology, Adaptation, and the Ills of Functionalism, in: Ders.: Ecology, Meaning, and Religion, 43–95, 174. Vgl. auch Grimes: Ritual Criticism of a Catholic Liturgical Evaluation, 58f.: Ritualbeschreibungen »should ›show‹ us rather than ›tell‹ us; they should be concrete and nonhomiletical, thus evoking, rather than prescribing, interpretations.« 162 S. o. 8.3.2. 163 S. o. 9.3.
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gegenüber dem Ort, an dem vor ihm schon andere, vielleicht berühmte Prediger tätig waren. Es müsste ferner überprüft werden, ob er sich damit von den historischen Ansprüchen separiert und das Gelingen seiner Rede delegieren will, oder ob er sich bewusst in diese Tradition hineinstellt. Was der einzelne Prediger mit der Handlung verbindet, ist nicht prinzipiell zu begrenzen. Es deutet sich jedoch an, inwiefern sich auf der Ebene einzelner Sequenzen auch irritierende und kreative Anliegen rituell äußern und darstellen. Der zweite Schritt fragt nach der Ausbildung ritueller Urteilskompetenz, die auch eine kritische Bewertung von Ritualisierungsprozessen umfasst und zu Änderungen der Praxis führt. Die Kritik äußert sich nicht nur in liturgischen Konferenzen oder bei Diskussionen um die Liturgie in den Gemeinden, sondern im Ritualvollzug selbst. Dabei könnte gefragt werden, ob sich Unterschiede zwischen der ritualisierten Handlung und der ihr zugrundeliegenden nicht-ritualisierten Alltagshandlung erkennen lassen, etwa am Grad ihrer Formalisierung oder insofern Handlungsregeln für ihren Vollzug angegeben werden können. Indem so das Bewusstsein für die rituellen Einheiten gestärkt wird, kann gerade aus der Spannung zwischen stärker und weniger stark ritualisierten Handlungen eine neue Dynamik für den Gottesdienst gewonnen werden. So ließe sich etwa die Auseinandersetzung um die Alternative von Brot oder Hostien beim Abendmahl als Frage danach verstehen, welcher Grad an Formalisierung der Handlung eigen sein soll. Doch auch die Verwendung von Brot könnte als Stilisierung im Sinne der Nachahmung vermeintlicher Essgewohnheit im arabischen Raum gedeutet werden, die auf die Zeit Jesu übertragen werden. Solche Fragen wären dann nicht unabhängig davon zu beantworten, welche Bedingungen für die Mitglieder der jeweiligen Gemeinde gegeben sein müssen, damit das Abendmahl als solches gefeiert und innerlich mitvollzogen werden kann. Gegenstand der Beurteilung könnte auch sein, wie einzelne Sequenzen von den Teilnehmern angenommen werden, ob ihnen die Handlungsregeln bekannt sind und was sie zum Vollzug der Handlung als hinderlich oder hilfreich erleben. Im Rahmen einer Ritualbeurteilung wäre nicht nur nach dem Scheitern und Gelingen zu fragen, sondern auch nach Formen zu suchen, an denen sich Rituale als kritisch gegenüber kirchlich wie theologisch vertretenen Deutungen erweisen. Als Beispiel soll hier der Ascheritus dienen. Diese Bezeichnung mit dem Aschekreuz auf die Stirn am Aschermittwoch soll mit der neuen Agende für Passion und Ostern wieder in der Breite der evangelischen Kirche etabliert werden. Dass dieser Bußritus nicht auf die öffentlichen Büßer beschränkt blieb, kann mit der Solidarität der Gemeinde erklärt werden,164 oder mit der Tatsache, dass sich schon bald keine öffentlichen Büßer 164 Vgl. Passion und Ostern. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. II/1, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Hannover 2011, 16.
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mehr finden lassen wollten. In beiden Fällen könnte das Verhalten als rituelle Form von Ritualkritik gedeutet werden. Die Übernahme des Ascheritus aus Solidarität wäre dann eine Kritik an der Aussonderung Einzelner angesichts der generellen Sündhaftigkeit des Menschen. Resultiert die Übernahme stattdessen aus einem Mangel an öffentlichen Sündern, würde dies darauf hinweisen, dass sich mit dem Ritus Bedeutungszuschreibungen verbanden, die das übersteigen, was aus Sicht der Theologen und Liturgen zunächst impliziert war. Die Menschen wollten also den Ritus beibehalten, auch wenn seine ursprüngliche Bedeutung verloren gegangen war. Der dritte Schritt zielt auf das Erwerben ritueller Handlungskompetenz. Dabei gilt es sich zunächst die grundlegende Tatsache vor Augen zu halten, dass Rituale in ihrem Kern mimetische Handlungen darstellen. Damit rückt die Frage der Ritualdidaktik in den Vordergrund, die dann nicht bei theoretischen Erklärungen, sondern konkreten Handlungsvollzügen ihren Ausgang nimmt.165 Grundlegend geht es um das Erlernen und zunehmende Verinnerlichen der für das Ritual bestimmenden Handlungsregeln. Sind die Regeln bekannt, ist das Abweichen von den Regeln eine Möglichkeit der Kritik, insofern die Handlung sich gerade darin von ihrem Kontext differenziert. Ohne diese Grundlage erscheinen individuelle Gestaltungen als Beliebigkeit. Der Gedanke der Nicht-Intentionalität, der in dieser Arbeit eine ausführliche Darstellung erfuhr, macht die Gestaltung und Verantwortung von Liturgie primär als Dienst an der Gemeinde kenntlich. Die Gemeinde ist nicht selten stärker an der Einhaltung der agendarischen oder auf Gemeindeebene stipulierten Form interessiert, die sie sich selbst aneignen und mit Bedeutung versehen kann, als an den Aneignungen durch den Liturgen. Kommentare und Moderation, das Hinzufügen nicht-stipulierter Elemente oder das Weglassen stark ritualisierter Teile wirkt sich auf diese Aneignungsprozesse oftmals hemmend aus. Hierin besteht für evangelische Liturgen eine besondere Herausforderung, wenn Handlungen unabhängig von persönlicher Identifikation und mitunter auch gegen die zugeschriebenen Bedeutungen stellvertretend für die Gemeinde vollzogen werden sollen. Dazu muss der Handlungsform zunächst ein Vertrauensvorschuss gewährt werden. Ritualisiertes Handeln reduziert den persönlichen Charakter der Handlung, doch kann diese Ebene auch eine bewusst gewählte Strategie darstellen: Eine mit persönlichen Worten vorgetragene Einladung zum Abendmahl wäre weniger leicht auszuschlagen als das ritualisierte Zitieren von Psalm 34,8. Rituelle Handlungskompetenz umfasst darüber hinaus die Aneignung eines Handlungsrepertoires, wobei auf einen Rückgriff auf die liturgischen Traditionen nicht verzichtet werden kann. Dies zeigt sich exemplarisch an der Wiedergewinnung der Osternacht im 20. Jahrhundert, mit der zahlreiche 165 Den Versuch, liturgische Vollzüge in die kindliche Pädagogik einzubeziehen, unternimmt z. B. das Projekt »Church at Play«, das vorwiegend in Skandinavien verbreitet ist.
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Ritualhandlungen neu erschlossen wurden. An den für sie vorgesehenen Vollzügen lässt sich die in dieser Arbeit immer wieder behauptete Tatsache illustrieren, dass Rituale keineswegs immer der Stabilisierung und Identitätssicherung dienen müssen.166 Gerade die Unvertrautheit wird hier zur Chance und rituelles Handeln kann das Moment des Irritierenden für den Gottesdienst fruchtbar machen. Traditionell steht die Osterkerze in der Osterzeit im Altarraum oder an einer anderen exponierten Position. Mit der Lesung von Mk 16 an Christi Himmelfahrt wird sie ausgeblasen. Fortan kann sie am Taufbecken stehen und wird lediglich bei Taufen und Beerdigungen angezündet. Die mittlerweile vielerorts übliche Praxis belässt die Osterkerze ganzjährig im Altarraum und verzichtet auf einen differenzierten Gebrauch. Hier wäre neu nachzudenken über liturgisch-rituelle Zumutung, die mit dem Ritus des Ausblasens verbunden sein kann und die eine innerliche Auseinandersetzung bewusst befördern kann. Für den Erwerb ritueller Handlungskompetenz kommen auch explizite Formate der Auseinandersetzung neu in den Blick. Auf der einen Seite wären die liturgiedidaktischen Möglichkeiten und Bezüge neu zu entdecken. Im Sinne von Luthers Katechismen könnten Inhalte des christlichen Glaubens anhand ritueller Vollzüge wie dem Glaubensbekenntnis oder dem Abendmahl erläutert werden. Ein weiteres Feld wären Bemühungen um eine Rubrizistik. Insofern Agenden ohnehin zunehmend stärker als Arbeitsbücher verwendet werden, können diese Rubriken als Modelle gelungener, in sich stimmiger und erprobter Inszenierungen begriffen werden, die einer Ritualisierung zugänglich sind. Insbesondere rubrizistische Kompetenz lässt sich theoretisch nur schwer erwerben und sollte stärker in die Angebote liturgischer Aus-, Fort- und Weiterbildung Aufnahme finden. Intensiv zu arbeiten wäre dann nicht nur an den einzelnen Formulierungen der Predigt, wie dies aufgrund gewachsener ästhetischer und rhetorischer Ansprüche neuerdings gefordert wird.167 Auch den Gesten und Bewegungen im Gottesdienst sollte dann intensive Aufmerksameit gewidmet werden. Hier könnten zudem die Erkenntnisse über die theatrale Dimension von Ritual und Gottesdienst eine praktische Wirkung entfalten. Die dargestellten Schritte zum Erwerb ritueller Kompetenzen blieben unvollständig, würde dabei nicht deutlich, dass es sich keineswegs um einen linearen Prozess handelt, sondern um einen Kreislauf. In der ethischen Urteilsbildung hat man daher mit Recht den Schritt der Evaluation eingefügt. Damit wird die Handlungsweise erneut zum Gegenstand der Beobachtung und der Prozess von Beobachten, Urteilen und Handeln beginnt erneut. Umso dringender ist ein solcher Schritt der Evaluation, weil das Entstehen neuer 166 Dies wurde freilich bereits an anderer Stelle bemerkt: vgl. u. a. Bahr: Ritual und Ritualisation; Bieritz: Einladung zum Spielen. 167 Vgl. Alexander Deeg/Michael Meyer-Blanck/Christian St blein: Präsent predigen. Eine Streitschrift wider die Ideologisierung der „freien“ Kanzelrede, Göttingen 2011.
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Rituale und Ritualisierungen einer kritischen Begleitung bedarf. Mit der Kritik bleibt auch der Erwerb rituell-liturgischer Kompetenz eine dauerhafte Aufgabe der Kirche. Auf lokaler Ebene könnte es daher sinnvoll sein, wenn neben Finanz- und Bauausschüssen auch liturgische Ausschüsse zur festen Einrichtung würden. Ritualkompetenz lässt sich nur im Dialog zwischen Produzenten und Rezipienten erwerben und einer Kritik zuführen. Wichtige Impulse in diese Richtung wurden mit dem Modell der Liturgischen Präsenz bereits gesetzt.168 Rituelle Kompetenz nimmt ihren Ausgang immer wieder von der genauen Beobachtung konkreten rituellen Handelns und bezieht dabei explizit die Perspektive der Akteure mit ein. Rituelle Kompetenz heißt, um die Kraft der Rituale zu wissen und mit ihnen als gezielten Handlungsstrategien umzugehen.
168 Vgl. Thomas Kabel: Handbuch Liturgische Präsenz. Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, Gütersloh 2002.
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