Kompendium Gottesdienst: Der evangelische Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart 9783825236304, 3825236307

Das Kompendium bietet in sechzehn Beiträgen von Fachexperten einen Überblick über biblische, historische und praktisch-t

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Table of contents :
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Impressum
Geleitwort
Vorwort der Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Der Gottesdienst in Israel. Grundfragen, Textbeispiele, Themenfelder -Bernd Janowski
1. Homo ritualis – zur Einführung
2. Textbeispiele und Themenfelder
2.1. Das Altargesetz – zur Ätiologie des Opfers
2.2. Schlachten, Essen, Feiern – zu den Grundelementen des Opfers
2.2.1. Opferterminologie und Opfertiere
2.2.2. Kultgeschichte und Kultkritik
2.3. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt – zu den Festen Israels
2.3.1. Die Freude des Festes (Deuteronomium)
2.3.2. Das Geschenk der Versöhnung (Priesterschrift)
Gottesdienst im Neuen Testament - Hans-Joachim Eckstein
1. Das Zusammenkommen in der Gemeinde
2. Die christlichen Gottesdienste und der Synagogengottesdienst
3. Bezeugt durch das Gesetz und die Propheten
4. Am Tag des Herrn
5. Die den Namen des Herrn Jesus anrufen
6. Wenn du mit deinem Munde bekennst …
7. Verkündigung in Gestalt von Briefen
8. Mit einem Wort des Herrn
9. Zusammenkommen, um das Mahl des Herrn zu feiern
10. Mahlgemeinschaft als Teilhabe an Christus
11. Solches tut zu meinem Gedenken!
12. Gottesdienstgemeinde, Gemeinden, Kirche
Gottesdienst in der Alten Kirche - Volker Henning Drecoll
1. Vorbemerkung
2. Nachrichten über den Gottesdienst im 2. und 3. Jh.
3. Der Gottesdienst im 4. und 5. Jh.
Gottesdienst im Mittelalter - Arnold Angenendt
1. Das Gebet
2. Die ›verbuchte‹ Liturgie
3. Die Taufe
4. Die Eucharistie
5. Die neue Rolle des Priesters
6. Die Buße
7. Die Mönchsliturgie
8. Heilige und Reliquien
9. Die Wiederfindung des Christentums
10. Neue Frömmigkeit im Spätmittelalter
11. Fazit
Luthers Theologie des Gottesdienstes - Christopher Spehr
1. Gottesdienstliche und theologische Aspekte
2. Der Gottesdienstbegriff
3. Der Gottesdienst als Werk Gottes: Wort und Gabe
4. Der Gottesdienst als Dienst des Menschen
4.1. Der Gottesdienst als Ausdruck des Glaubens
4.2. Der Gottesdienst als Ausdruck des christlichen Lebens
5. Der Gottesdienst als liturgisches Geschehen
5.1. Der Gottesdienst als reformatorischer Streitfall
5.2. Der Gottesdienst als Wortgeschehen
5.3. Der Gottesdienst als freiheitliches Handlungsgeschehen
5.4. Der Gottesdienst als gemeinschaftliche Glaubensübung
6. Der Gottesdienst als Dialog
Die katholische Messfeier. Theologische Akzente der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils und ihre Umsetzung in der Reform eucharistischer Liturgie - Andreas Odenthal
1. Einleitung und Fragestellung
2. Das »Pascha-Mysterium«: Zum Gehalt der liturgischen Feier
3. Christus – ­Kirche – Gemeinde: Zum Subjekt des Gottesdienstes
4. Rituelle Versammlung: Zu Form und Struktur der Feier
4.1. Die Eröffnungsriten
4.2. Der Wortgottesdienst als erster Hauptteil
4.3. Die Eucharistiefeier als zweiter Hauptteil
4.4. Die Schlussriten
5. Ergebnis
Die Zukunft des württembergischen Predigtgottesdienstes - Jürgen Kampmann
1. Das ›Landeskind‹ Predigtgottesdienst
2. Wertungen und Weichenstellungen in der Reformation
3. Veränderungen und Alternativen in Geschichte und Gegenwart
4. Erwägungen zu einzelnen gottesdienstlichen Elementen
4.1. ›Strukturelle Offenheit‹ – auch ein Problem
4.2. Erforderliche Konstanten
4.3. Gemeinsames Bekennen
4.4. Grenzen der ›Ökumenefähigkeit‹ des Gottesdienstes
4.5. Des Herren Wort mit des Herren Mahl
5. Überwundene und noch zu überwindende Hürden
Was ist ein Gottesdienst? Theologische Kriterien zur Angemessenheit der gottesdienstlichen Feier - Christoph Schwöbel
1. Gottesdienst als Mittelpunkt des kirchlichen Lebens und Identitätszentrum des Christentums
2. Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen
3. Gottesdienst als Beziehungsgeschehen
4. Gottesdienst als Gemeinschaftsbildung, Bildungsprozess und ökumenische Einladung
Der Gottesdienst als Ritual - Birgit Weyel
1. Der Gottesdienst als Liturgie
2. Neue Gottesdienstformen
3. Gottesdienst und Theater
4. Die Performativität des Gottesdienstes
5. Liturgischer Blickwechsel: Der Gottesdienst als Inszenierung
5.1. Der Gottesdienst als Ereignis
5.2. Der Gottesdienst als transitorischer Ritus
5.3. Der Gottesdienst und die Idee der Inszenierung
6. Überlegungen zur Gottesdienstgestaltung
Gottesdienst und Öffentlichkeit - Peter Cornehl
1. Christlicher Gottesdienst ist öffentlich
2. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit geht weiter
3. Konsequenzen für den Gottesdienst
3.1. Politischer Gottesdienst – zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution: Kairos und Normalität
3.2. Öffentliche Trauer: Das Gedächtnis der Opfer von Katastrophen und Gewalt als Aufgabe öffentlicher Gottesdienste
3.3. Die spezifisch christliche Öffentlichkeit des Gottesdienstes an den großen Festen des Kirchenjahres – Beispiel: Weihnachten
Reden im Kontext. Zur Predigt als Element des Gottesdienstes - Manuel Stetter
1. Einführung: Kontextanalyse
2. Kontinuitätsaspekte
2.1. Interdependenzzusammenhang
2.1.1. Bedeutungszusammenhang
2.1.2. Funktionszusammenhang
2.1.3. Gestaltungszusammenhang
2.2. Eigenschaftszusammenhang
2.2.1. Öffentlichkeit
2.2.2. Performance-Charakter
2.2.3. Liminalität
3. Spezifitätsaspekte
3.1. Rhetorizität
3.2. Konsequenzen der Rhetorizität
3.2.1. Explizierung der Interferenz von ›Tradition‹ und ›Situation‹
3.2.2. Intensivierung der Personalität
3.2.3. Rhetorik als homiletische Reflexionsperspektive
4. Resümee: Aptumprinzip
Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst - Jochen Arnold
0. Hinführung: Musik als Herzensmacht
1. Musik als Gottesdienst – Schöpfungstheologische Annährung
1.1. Musik als Gottesgabe und Weltenklang
1.2. Musik als kulturelle Aufgabe und Dienst am Menschen
1.3. Singen als elementare Lebensäußerung
1.4. Singen als ästhetisch-theologischer Glücksfall
2. Musik im Gottesdienst – Kirchenmusik als klingendes Wort Christi
2.1. Kirchenmusik als Verkündigung
2.2. Kirchenmusik als Lob und Klage
2.3. Kirchenmusik als österliches Ereignis
3. Kirchenmusik als Dienst des Heiligen Geistes an ­Kirche und Gesellschaft
3.1. Das gemeindebildend-integrative Potenzial der Musik
3.2. Das therapeutisch-seelsorgliche Potenzial der Kirchenmusik
3.3. Das kulturell-bildende Potenzial der Kirchenmusik
3.4. Das prophetisch-visionäre Potenzial der Musik
3.5. Das sinnlich-ekstatische Potenzial der Musik
3.6. Das vielstimmige und grenzüberschreitende Potenzial der Musik
4. Musik im Gottesdienst – eine Skizze
4.1. Das Lied der Gemeinde
4.2. Solo- und Chorgesang
4.3. Instrumentalmusik
4.4. Kriterien zum liturgischen Gebrauch von Musik
5. Summa mit Paul Gerhardt
Gottesdienst und Segen - Ulrich Heckel
1. Biblische Grundlagen
1.1. Der aaronitische Segen
1.2. Die Segensverheißung an Abraham
1.3. Die Wunschform der Segensworte
1.4. Segensgesten
2. Liturgische Konsequenzen
3. Kasualien als Segenshandlungen
Gottesdienst und Gemeindeentwicklung - Christian Grethlein
1. Gemeinde
1.1. Ekklesia im Neuen Testament
1.2. Heutiges Verständnis
2. Gottesdienst auf den verschiedenen Ebenen von Gemeinde
2.1. Gottesdienst und multilokale Mehrgenerationenfamilie
2.2. Gottesdienst und Kirchengemeinde
2.3. Gottesdienst und Ökumene
3. Gottesdienst und Gemeindeentwicklung in verschiedenen Modellen
3.1. Begriff Gemeindentwicklung
3.2. Evangelikal-missionarischer Gemeindeaufbau
3.3. Organisationsentwicklung
3.4. Kirchliche Orte
4. Gottesdienst und Gemeindeentwicklung: ein Ausblick
4.1. Defizite der Konzepte
4.2. Horizonterweiterung
4.3. Probleme
Gottesdienst auf dem Prüfstand. Empirische Befunde – offene Fragen – Herausforderungen für die Zukunft - Friedrich Schweitzer
1. Wahrnehmungs- und Zugangsweisen im Blick auf den Gottesdienst
2. Wer kommt zum Gottesdienst?
3. Erwartungen und Erfahrungen
4. Gottesdienstsozialisation – eine vernachlässigte Frage
5. Ausblick und praktische Konsequenzen
Autorinnen und Autoren
Stellenregister
Personenregister
Sachregister
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Kompendium Gottesdienst: Der evangelische Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart
 9783825236304, 3825236307

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I

UTB 3630

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh Verlag · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Oakville vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

III

Kompendium Gottesdienst Der evangelische Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart herausgegeben von Hans-Joachim Eckstein, Ulrich Heckel und Birgit Weyel

Mohr Siebeck

IV

ISBN  978-3-8252-3630-4 (UTB Band 3630) Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www. utb-shop.de Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Na­tionalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im In­ ternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011  Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.

V

Geleitwort »Jahr des Gottesdienstes« 2012 in der württembergischen Landeskirche Martin Luther hat die Bedeutung des Gottesdienstes so treffend zusammengefasst, dass seine Worte zum »immer währenden« Zitat werden: Bei der Einweihung der Schlosskirche in Torgau im Herbst 1544 beginnt seine Predigt mit dem Gedanken, »dass nichts anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.«1 In Gottesdiensten spricht Gott mit uns. Das Wort Gottes, das der Mensch sich nicht selber sagen kann, wird ihm hier zugesprochen. Aufgabe derer, die einen Gottesdienst »halten«, ist es, die Gottesdienst feiernde Gemeinde in diese Form der Gottesbegegnung hineinzuführen. Genau das ist das Besondere des Gottesdienstes: Menschen kommen in Kontakt mit ihrem Schöpfer, ihrem Erlöser. Ihr menschlicher Alltag erscheint im Licht des Evangeliums. Dadurch unterscheidet sich der Gottesdienst von anderen Veranstaltungen. Das Bewusstsein für dieses ganz besondere und zugleich unverzichtbare gottesdienstliche Geschehen spiegelt sich in zahlreichen Attributen wider: Der Gottesdienst gilt als »Mitte« der christlichen Gemeinde, als »Herzschlag des Gemeindelebens«, als »geistlicher Mittelpunkt«. »Hier ist der Ort der Glaubensvergewisserung und der Ort der Begegnung und Heimat.« »Gottesdienst ist der Mittelpunkt unseres Gemeindelebens – und das kann er nur sein, weil in ihm Gott als gegenwärtig erfahren wird.« So beschreiben Pfarrerinnen und Pfarrer wie auch Gemeindeglieder aktuell das Wesen des Gottesdienstes. 1 

WA 49, 588, 15 ff.

VI

Geleitwort

Diese Zuschreibungen haben bereits im Blick, dass sich das gottesdienstliche Leben aufgefächert hat. Längst ist der Sonntagvormittag nicht mehr der einzige Zeitpunkt, zu dem sich die christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. An manchen Orten sind die Gottesdienstgemeinden kleiner geworden. Eine veränderte Wochenendgestaltung und viele weitere Faktoren haben dazu geführt, dass zahlreiche Gottesdienste am Sonntagabend gefeiert werden. Neben dem Sonntagmorgengottesdienst in der Form der Evangelischen Messe oder des Predigtgottesdienstes sind andere Formen getreten, die liturgisch, musikalisch, dramaturgisch oder kreativ neue Wege einschlagen. Die Orientierung der Gottesdienstgestaltung an bestimmten Zielgruppen oder die Feier des Gottesdienstes an Orten wie Bahnhöfen oder Fabrikhallen sind keine Seltenheit mehr. Neue Kasualien wie die Einschulung ziehen regelmäßig ganze Großfamilien in die Kirche. Der Besuch eines Gottesdienstes ist im Zeitalter der Moderne für viele eine Option geworden, für die man sich anlassbezogen entscheidet. Wer sich heute mit dem Gottesdienst beschäftigt, wird mit dieser Spannung zwischen sonntäglicher Verlässlichkeit und individuellen Bedürfnissen der Kirchenmitglieder produktiv umzugehen wissen. In vielen Fällen haben Formen aus so genannten Zweitgottesdiensten bereits ihren regelmäßigen Ort am Sonntagmorgen gefunden. Dieses Nachdenken über gottesdienstliche Herausforderungen geschieht in dem zuversichtlichen Wissen, dass auch diejenigen, die eher selten einen Gottesdienst besuchen, seine Feier dennoch für wichtig halten und sich in die Fürbitte und den Segen der Gemeinde eingeschlossen wissen. Diese Beobachtungen deuten vielfältig darauf hin: Im Gottesdienst die Mitte der Gemeinde zu sehen, meint, hier die »›Quelle‹ christlichen Lebens« zu erkennen und keine normativ einzulösende, zahlenmäßig-empirische Mitte. »Eine Quelle liegt manchmal in einer entlegenen Region, auf jeden Fall nicht mitten im Gewässer. Sie liegt naturgemäß etwas höher und aus ihr sprudeln auch keine Wassermassen heraus. Aber stetig kommt frisches Wasser und das wächst sich dann aus bis hin zu Flüssen und Seen in den Kulturlandschaften unseres Lebens. Die Quelle

Geleitwort

VII

selbst mag klein sein; es reicht, dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht versiegt.«2 Diese Quelle ist zu pflegen. Das neue Nachdenken über den Gottesdienst in geschichtlicher wie in gegenwärtiger Perspektive begrüße ich daher sehr. Ihm ist ganz besonders das »Jahr des Gottesdienstes« gewidmet, das wir in der württembergischen Landeskirche im Jahr 2012 begehen und das durch die hier vorgelegten Beiträge theologisch begleitet wird. Wir brauchen dieses Nachdenken, um Vergangenheit und Gegenwart unserer Gottesdienste besser zu verstehen. Die württembergische Landessynode, die dieses »Jahr des Gottesdienstes« initiiert hat, verbindet damit den Wunsch, die Freude am gottesdienstlichen Leben in den Gemeinden zu fördern. Erfahrungen über eine einladende Gestaltung von Gottesdiensten sollen vernetzt und kommuniziert werden. Der Gottesdienst soll neu ins Gespräch kommen. Dem schließe ich mich an. In diesem Sinne wünsche ich unseren Gottesdiensten auch in Zukunft »Gottes-Rede«, Begegnungsgemeinschaft, evangelische Gestaltungskraft und Leidenschaft für den »weiten Raum, auf den Gott unsere Füße stellt« (Psalm 31,9). Stuttgart, 1. Sonntag im Advent 2011

Landesbischof Dr. h.c. Frank Otfried July

2  Kristian Fechtner, Der »gewöhnliche« Sonntagsgottesdienst. Herausforderungen und Perspektiven, in: DtPfrBl 110 (2010), 464–467, hier 466.

VIII

IX

Vorwort der Herausgeber Der evangelische Gottesdienst ist von zentraler Bedeutung für Kirche und Gesellschaft. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem das Evangelium öffentlich »für alle Welt« (Mt 28) verkündigt wird. Er ist die zentrale Funktion der evangelischen Kirche, an dem diese ihr Organisationshandeln auszurichten hat. Zugleich ist der evangelische Gottesdienst aber auch für die kulturelle Präsenz des christlichen Glaubens in unserer Gesellschaft zentral. Er ist ein Ort, an dem Menschen an den symbolischen Formen des christlichen Glaubens teilhaben, Deutungsangebote für ihr Leben in Erfahrung bringen und eine Form der Gemeinschaft erleben können, die soziale Grenzen überschreitet. Jahr für Jahr werden allein am Sonntagmorgen in Deutschland rund eine Million evangelische Gottesdienste gefeiert, dazu kommen 300.000 Kinder- und Jugendgottesdienste. Gottesdienste aus Anlass von Taufe, Trauung und Bestattung, die außerhalb des Gottesdienstes am Sonntagmorgen stattfinden, sind noch nicht mitgerechnet. Sonntag für Sonntag nehmen im Durchschnitt eine Million Menschen am Gottesdienst in ihrer Kirche vor Ort teil. Eine weitere Million feiert die Übertragung eines Fernsehgottesdienstes zu Hause mit. Allerdings gibt es auch krisenhafte Tendenzen, die nach der Zukunft des Gottesdienstes fragen lassen. Eine große Zahl evangelischer Christen geht nur an wenigen, ausgewählten Sonntagen in den Gottesdienst. Der Protestantismus hat seit dem 19. Jh. ein individualisiertes Teilnahmeverhalten gezeigt, indem betont wurde, dass man – mit den Worten Richard Rothes – »auch an frischer Luft fromm und frei sein könne«. In manchen Regionen, die besonders durch Traditionsabbrüche und Entvölkerung gekennzeichnet sind, wird es heute schwierig, ein regelmäßiges gottesdienstliches Leben aufrecht zu erhalten.

X

Vorwort der Herausgeber

Wie kann auch in Zukunft der evangelische Gottesdienst im religiösen und kulturellen Leben präsent gehalten werden? Wie kann der Gottesdienst so gestaltet werden, dass er im besten Sinne attraktiv für viele ist? Das Kompendium Gottesdienst setzt nicht bei den Krisenphänomenen ein. Es versteht sich auch nicht primär als eine Gestaltungshilfe für den Gottesdienst. Das Kompendium will vielmehr dazu anregen, grundsätzlich über den evangelischen Gottesdienst nachzudenken: seine biblischen Wurzeln zu vergegenwärtigen, die Entstehungsgeschichte des christlichen Gottesdienstes in der Alten Kirche und seine weiteren Entwicklungen im Mittelalter zu rekonstruieren, die zentralen Einsichten des reformatorisch geprägten Gottesdienstes zu erinnern, das Eucharistieverständnis der katholischen Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil wahrzunehmen und sich schließlich den gegenwärtigen Reflexionsperspektiven des Gottesdienstes zu widmen. Dazu gehören die Frage nach der Öffentlichkeit des Gottesdienstes, der Funktion des Gottesdienstes für die Gemeindeentwicklung und nach den Erkenntnissen der empirischen Forschung, d.h. der Wahrnehmung des Gottesdienstes durch die Gemeinde und in liturgischer Perspektive ein Verständnis vom Gottesdienst als ganzen. Hinzu kommt die systematische Betrachtung zentraler Gestaltungselemente des Gottesdienstes in theologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht: der Musik, des Segens und der Predigt. Indem Beiträge aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen zusammengetragen werden, ergibt sich nicht nur eine Übersicht über zentrale Themen und Gegenstände des evangelischen Gottesdienstes, sondern auch in groben Zügen ein Gesamtbild relevanter Reflexionsperspektiven. Solange der Gottesdienst nur innerhalb der Grenzen eines Faches betrachtet wird, will sich dieses so recht nicht einstellen. In der Zusammenschau der Beiträge aus den vielfältigen theologischen Disziplinen und der katholischen Liturgiewissenschaft liegt das innovative Potential dieses Buches und darin ist auch sein Beitrag zur gegenwärtigen Frage nach dem Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe zu sehen. Wie man auf krisenhafte Tendenzen reagiert, aber auch wie man Sonntag für Sonntag routiniert und doch ohne Ermüdungen Gottesdienst

Vorwort der Herausgeber

XI

feiert, wird man für sich und im Gespräch mit anderen nur entwickeln können, wenn sich eine wissenschaftliche Tiefenschärfe in die Diskussionen um den Gottesdienst bringen lässt. Dazu möchte dieses Buch einen Beitrag leisten. Dass dieser Beitrag in der Gestalt eines Kompendiums erscheint, ist ambivalent. Ein Kompendium verlangt Prägnanz und eine Konzentration auf Wesentliches. Dies wird sicher vielen Leserinnen und Lesern entgegenkommen. Das Kompendium ist dazu geeignet, Studierenden der Theologie, Vikarinnen und Vikaren, Pfarrerinnen und Pfarrern mithilfe nur eines Buches von begrenztem Umfang die Erträge der eigenen Studien rekapitulieren und ergänzen zu helfen. Zugleich sollen auch diejenigen das Buch mit Gewinn lesen können, die sich für die Gestaltung des Gottesdienstes interessieren, ohne Theologie studiert zu haben. Der Gottesdienst wird schließlich »unter Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert«1. Wenn das Buch dazu anregt, auf der Grundlage der vorgelegten Beiträge gemeinsam über den Gottesdienst nachzudenken, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Die Gattung des Kompendiums bringt es mit sich, dass vieles, was wichtig wäre, keinen Eingang in das Buch gefunden hat. Die Gottesdienste anlässlich von Kasualien wurden nicht gesondert berücksichtigt. Den Kindergottesdiensten ist kein eigenes Kapitel gewidmet. Der Fernsehgottesdienst kommt nicht vor. Der Kirchenraum wird nicht eigens thematisiert. Den Leserinnen und Lesern werden sicher noch sehr viel mehr Leerstellen auffallen. Manches, was man im Inhaltsverzeichnis vermisst, wird im Rahmen der Beiträge zumindest angesprochen. Mit der Konzentration auf den ‚normalen‘ Gottesdienst am Sonntagmorgen und der Entscheidung für ein überschaubares Buchformat ist keine Marginalisierung anderer Gottesdienstformen und liturgischer Themen verbunden. Die blinden Flecken sind schlicht dem Genus 1  Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hgg. v. der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-­ Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Berlin 1999, 15.

XII

Vorwort der Herausgeber

des Buches geschuldet, für das sich die Herausgeber entschieden haben, weil sie überzeugt sind, dass sich von diesem aus auch der Zugang zu weiteren liturgischen Feldern leichter erschließen lässt. Unser Dank gilt dem Württembergischen Landesbischof Dr. h.c. Frank Otfried July für sein Geleitwort, das dem Buch aus Anlass des ›Jahres des Gottesdienstes‹ in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg voran steht. Dankbar sind wir dem Verlag Mohr Siebeck und namentlich Herrn Dr. Henning Ziebritzki für die anregende Beratung des Konzepts und die zuvorkommende und verlässliche Begleitung der Herstellung. Ein herzlicher Dank geht an unsere Mitarbeiter Herrn Daniel Hoffmann, Frau Judith Kühl, Herrn Jan Rüggemeier, Herrn Manuel Stetter und Herrn Julius Trugenberger für die sorgfältige Vereinheitlichung der Beiträge, die Korrekturen und die Erstellung der Register. Schließlich gilt unser herzlicher Dank den Autoren, die uns ihre Beiträge überlassen haben. Tübingen, im Juni 2011

Hans-Joachim Eckstein Ulrich Heckel Birgit Weyel

XIII

Inhaltsverzeichnis Geleitwort des Landesbischofs Dr. h.c. Frank Otfried July . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    V Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    IX Bernd Janowski Der Gottesdienst in Israel. Grundfragen, Textbeispiele, Themenfelder . . . . . . . . . . . . . .     1 Hans-Joachim Eckstein Gottesdienst im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    22 Volker Henning Drecoll Gottesdienst in der Alten Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    42 Arnold Angenendt Gottesdienst im Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    62 Christopher Spehr Luthers Theologie des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . .    84 Andreas Odenthal Die katholische Messfeier. Theologische Akzente der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils und ihre Umsetzung in der Reform eucharistischer Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . .   104 Jürgen Kampmann Die Zukunft des württembergischen Predigtgottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   124

XIV

Inhaltsverzeichnis

Christoph Schwöbel Was ist ein Gottesdienst? Theologische Kriterien zur Angemessenheit der gottesdienstlichen Feier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   145 Birgit Weyel Der Gottesdienst als Ritual. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   166 Peter Cornehl Gottesdienst und Öffentlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   185 Manuel Stetter Reden im Kontext. Zur Predigt als Element des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . .   204 Jochen Arnold Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst. . . . . . . .   224 Ulrich Heckel Gottesdienst und Segen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   245 Christian Grethlein Gottesdienst und Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . .   265 Friedrich Schweitzer Gottesdienst auf dem Prüfstand. Empirische Befunde – offene Fragen – Herausforderungen für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   285 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   307 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   309 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   313 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   315

1

Der Gottesdienst in Israel. Grundfragen, Textbeispiele, Themenfelder Bernd Janowski

1. Homo ritualis – zur Einführung Das Opfer gehört zu den elementaren und zugleich archaischen Phänomenen der menschlichen Kultur, mit denen der Mensch versucht, in Kontakt zur Welt der Götter zu treten, um deren Einwirkung auf seine Lebenswelt zu stimulieren bzw. zu regulieren. Der Opfernde, der den Göttern Erntefrüchte, Wild- oder Haustiere, Schmuck oder Waffen als Gabe darbringt, bewegt sich im Kontext bestimmter Handlungsabläufe (Ritus, Ritual)1, die als performative Akte die Bewältigung kritischer sozialer und emotionaler Situationen ermöglichen und damit Orientierung für das individuelle und soziale Leben geben. 2 »Abgesehen von unserer Gesellschaft«, so der französische Soziologe Alain Caillé, »praktizieren in der einen oder anderen Form alle menschlichen Gesellschaften das Opfer.« Damit schaffen sie einen symbolischen Austausch zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter, demzufolge sich die Dinge nicht aus einem Spiel von gleichwertigen Ursachen entwickeln, sondern »aus ihrem Widerstreit oder Gegenteil – wie das Leben aus dem Tod, das Sein aus dem Haben,

1  Mit Bernhard Lang, Art. Ritual / Ritus, HrwG 4, 442–458 kann ›Ritual‹ als Oberbegriff für religiöse Handlungen und ›Ritus‹ als die besondere Art ihrer Ausführung bezeichnet werden. Die folgenden Ausführungen nehmen Überlegungen von Bernd Janowski, Homo ritualis. Opfer und Kult im alten Israel, in: BiKi 64 (2009), 134–140 auf und führen sie weiter. 2  Zur neueren Ritualforschung vgl. Claus Ambos / Stephan Hotz / ­Gerald Schwedler / Stefan Weinfurter (Hg.), Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, Darmstadt 22006.

2

Bernd Janowski

das Haben aus dem Verlust und die definierte Identität aus dem unbestimmten Chaos.«3 Das Opfer ist nur eine, wenn auch bedeutsame kulturelle Ausdrucksform, die charakteristisch ist für die Religionen des antiken Mittelmeerraums und der vorderorientalischen Antike.4 Das deutsche Wort »Opfer« ist allerdings ambivalent, weil es sowohl den Vollzug der Handlung (lat. sacrificium < sacrum facere, »das Heilige vollziehen«, vgl. engl. / frz. sacrifice) als auch ihr Objekt (lat. victima, vgl. engl. victim / frz. victime)5 bezeichnen kann. Auch wenn man diese in manchen Sprachen nicht vorhandene Unterscheidung beiseite lässt, ist der deutsche Begriff »Opfer« im Sinn von (rituellem) Vollzug nicht eindeutig, weil er auf lat. operari (»[mit rituellen Handlungen] beschäftigt sein, handeln«) zurückgeht und ein Generalbegriff für den Vollzug des Rituals bzw. dessen Ergebnis ist. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich in mehreren Disziplinen ein lebendiges Interesse am »Opfer« entwickelt, das 3  Alain Caillé, Anthropologie der Gabe, Frankfurt a.M. 2008, 125f., vgl. dazu jetzt auch Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009, 241ff. 4  Vgl. dazu Bernd Janowski / Michael Welker (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte (stw 1454), Frankfurt a.M. 2000 und Stella Georgoudi u.a. (éd.), La cuisine et l’autel. Les sacrifices en questions dans les sociétés de la méditerranée ancienne, Turnhout 2005. Zum Opfer und zum Gottesdienst im Alten Testament vgl. Ina Willi-Plein, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse (SBS 153), Stuttgart 1993; Christian A. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament. Die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten im kultischen Rahmen (WMANT 94), Neukirchen-Vluyn 2002; ­Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 102007, 169ff., ferner Horst Seebass, Art. Opfer II, TRE 25, 258–267; Bernd ­Janowski, Art. Opfer I, NBL 3, 36–40.43; Alfred Marx, Art. Opfer II/1, RGG4 6, 572–576 und aus praktisch-theologischer Sicht Peter Cornehl, Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit, Bd.1, Stuttgart 2006, 79ff. 5  Vgl. dazu Hildegard Cancik-Lindemaier, Opfer. Religionswissenschaftliche Bemerkungen zur Nutzbarkeit eines religiösen Ausdrucks, in: Hans-Joachim Althaus u.a. (Hg.), Der Krieg in den Köpfen, Tübingen 1988, 109–120 und Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (RM 15), Stuttgart 22011, 93ff.

Der Gottesdienst in Israel

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eine gewisse Zäsur in der wissenschaftlichen Diskussion signalisiert. So entdeckten die Altertumswissenschaften die archaischen Elemente des Opfers unter Rückgriff auf anthropologische, soziologische und biologische Kategorien.6 In der Religions- und Kulturwissenschaft wurde die ›Logik des Opfers‹ kulturspezifisch und kulturübergreifend neu bestimmt.7 In der Theologie, besonders in der biblischen Exegese, wurde das Verhältnis von Opfer und Sühne neu analysiert und diskutiert.8 Neuerdings finden auch die zahlreichen Opfer im altisraelitischen Alltag Beachtung.9 Allerdings: So elementar und vielfältig das Phänomen »Opfer« dabei in Erscheinung tritt, es bleibt für viele fremd und anstößig, weil es materiell vollzieht – im Fall des Tieropfers: die Tötung des Tieres –, was spirituell wirken soll, nämlich die Begegnung mit dem heiligen Gott. Widerspricht das eine nicht dem anderen? Um diesen Widerspruch aufzulösen, ist es nötig, grundsätzlicher nach der Bedeutung des kultischen Geschehens zu fragen. Ich gehe dafür von einem Text aus, der so etwas wie eine Ätiologie des alttestamentlichen Opfers darstellt.

6  Vgl. dazu bes. Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen (RGVV 32), Berlin / New York 1972; Ders., Anthropologie des religiösen Opfers (1986), in: Ders., Kleine Schriften V: Mythica, Ritualia, Religiosa 2, Göttingen 2010, 3–22 und Ders., Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998. Zur Diskussion des Ansatzes von Burkert vgl. jetzt Anton Bierl / Wolfgang Braungart (Hg.), Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert (MythosEikonPoiesis 2), Berlin / New York 2010. 7  Vgl. dazu Hubert Seiwert, Art. Opfer, HrwG 4, 268–284 und Axel Michaels, Art. Opfer, in: Christoph Auffarth u.a. (Hg.), Wörterbuch der Religionen, Stuttgart 2006, 382f. 8  Vgl. dazu Bernd Janowski, Art. Sühne II/1, RGG 4 7, 1843f.; Alfred Marx, Tuer, donner, manger dans le culte sacrificiel de l’Ancien Testament, in: Georgoudi u.a. (éd.), La cuisine (s. Anm. 4), 3–13 sowie die Beiträge in Hans Jürgen Luibl / Sabine Scheuter (Hg.), Opfer. Verschenktes Leben, Zürich 2001 und Werner H. Ritter (Hg.), Erlösung ohne Opfer?, Göttingen 2003. 9  Vgl. dazu Thomas Staubli, Räuchern, libieren, spenden. Opfer im alt­ israelitischen Alltag, in: BiKi 64 (2009), 152–157.

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2. Textbeispiele und Themenfelder 2.1. Das Altargesetz – zur Ätiologie des Opfers In den Religionen des antiken Mittelmeerraums und der vorder­ orientalischen Antike ist das Opfer die heilige Handlung schlechthin. Der Ort, an dem diese Handlung vollzogen wird, ist der Altar, nach dem Alten Testament der »Ort, an dem geschlachtet wird« (hebr. mizbe ach). Dessen Bedeutung lässt sich etwa dem »Altargesetz« Ex 20,24–26 entnehmen, das zusammen mit dem Prolog Ex 20,22f. feierlich das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) einleitet: 22 23 24 25 26

JHWH sprach zu Mose: »So sollst du zu den Israeliten sprechen: Ihr habt gesehen, dass ich vom Himmel mit euch geredet habe. Ihr sollt nichts neben mir machen: silberne und goldene Götter sollt ihr euch nicht machen. Einen Altar aus Erde sollst du mir machen und du sollst auf ihm schlachten deine Brandopfer und deine Heilsopfer, dein Kleinvieh und deine Rinder. An jedem Ort, an dem ich meines Namens gedenken lassen werde, werde ich zu dir kommen und dich segnen. Wenn du mir aber einen Altar aus Steinen machst, so sollst du sie nicht bauen als Behauenes, denn du würdest deinen Meißel über ihm schwingen und es dadurch entweihen. Und du sollst nicht auf Stufen auf meinen Altar hinaufsteigen, damit deine Blöße nicht auf ihm enthüllt wird.«

Auf den ersten Blick bekommt man den Eindruck eines Durcheinanders von verschiedenen Ritualvorschriften. Sieht man aber genauer hin, so ergibt sich eine konzentrische Struktur mit V. 24b als theologischer Sachmitte, wonach der Schwerpunkt auf JHWH und seiner Reaktion auf das Opfer Israels liegt:

Der Gottesdienst in Israel 22 23 24a b 25f 25 26

JHWH-Rede vom Himmel her: keine Herstellung von silbernen + goldenen Göttern Altar aus Erde Brandopfer + Heilsopfer Kleinvieh + Großvieh An jedem Ort Gedenken lassen seines Namens Kommen + Segnen JHWHs Altar aus Steinen nichts Behauenes (Entweihung) keine Stufen (Entblößung)

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JHWH Israel (vgl. Ex 20,4–6) Israel (»Du sollst …«)

 JHWH (»Ich werde …«)

Israel (»Du sollst nicht …«)

Mit Alfred Marx lassen sich diesem Text drei für die Theologie des Opfers wichtige Hinweise entnehmen: 1. Der Altar ist der Ort des Kommens Gottes. Beim Opfer entsteht »dieses ganz Erstaunliche und Unerwartete, dass Gott, von dem es einige Verse vorher hieß, dass er vom Himmel her zu seinem Volke gesprochen hatte, und der so seine Transzendenz bekundete, jetzt seine Bereitschaft ankündigt, auf die Erde hinabzusteigen, um zu seinem Volk zu kommen, und dies jedes Mal, wenn es ihn darum bittet, indem es ein Opfer darbringt«10. 2. Das Feuer, das vom Opfernden angezündet wird und die bereitgelegten Opferstücke verzehrt, ist die sichtbare Seite Gottes. Was im Opfer geschieht, ist eine rituelle Nachahmung dessen, was in der Theophanie am Sinai (vgl. Ex 19,9) geschieht: »In demselben Moment, an dem Gott Israel als sein Volk erklärt und sich ihm in Blitz und Donner offenbart, erklärt er ihm auch seine Bereitschaft, zu ihm zu kommen, jedesmal wenn es ihn darum durch ein Opfer bittet.«11 3. Das Opfer ist das Zeichen der Gastfreundschaft gegenüber Gott. Die Tiere, die ihm als Opfer dargebracht werden, werden bei außergewöhnlichen Anlässen wie einem Fest (1 Sam 25,2–11 u.a.) oder Gastmahl (Gen 18,1–8 u.a.) geschlachtet und verzehrt. Gott werden die Opfergaben nicht in rohem Zustand vorgelegt, 10  Alfred Marx, Opferlogik im alten Israel, in: Janowski / Welker (Hg.), Opfer (s. Anm. 4), 133, vgl. Ders., Opfer (s. Anm. 4), 574. 11  Ders., Opferlogik (s. Anm. 10), 133.

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sondern sie werden für ein Mahl zubereitet, d.h. enthäutet, gebraten und gekocht (Lev 1,5–9; 2,13 u.a.) oder – beim vegetabilischen Opfer – gemahlen, gebacken und gekeltert. »Wenn also Gott anlässlich eines Opfers kommt, so um die Gastfreundschaft seines Volkes anzunehmen.«12 Für das Verständnis des Opfers im alten Israel erweist sich das Altargesetz somit als grundlegend: Wenn Gott anlässlich eines Opfers kommt, dann nicht in Feindseligkeit, so dass man ihn – wie immer wieder behauptet wird – gnädig stimmen müsste, sondern um die Gastfreundschaft seines Volkes anzunehmen und um es zu segnen (Ex 20,24b). Im Opfer erweist sich JHWH nicht als der zornige, sondern als der segnende – und wie die priesterliche Sühnetheologie pointiert: als der vergebende – Gott.13 »Jede Opfertheorie, die nicht im Segen das zentrale Anliegen des Opfers sieht, muss als unbiblisch eingeschätzt werden.«14

2.2. Schlachten, Essen, Feiern – zu den Grundelementen des Opfers 2.2.1. Opferterminologie und Opfertiere Es gehört zur Eigenart des altisraelitischen Opferkults, dass das Hebräische keinen zusammenfassenden Ausdruck für »Opfer« besitzt.15 Eine gewisse Ausnahme bilden die Termini minchah »Gabe« (Gen 4,3ff., vgl. 1 Sam 26,19; Ps 96,8), und qorban »Darbringung« (Lev 1,2, vgl. Ez 20,28; 40,43). Die übrigen Ausdrücke bezeichnen jeweils eine bestimmte, nach der Art der Darbringung (Schlachten, Verbrennen), des Anlasses (Dank, Freiwilligkeit, Gelübde), des Zwecks (Schuld, Sünde), des Termins (morgens, abends) oder der Materie (tierisch, vegetabilisch) unterschiedene Opferart. In den späten Opferbestimmungen von Lev 1–7 wer12 

AaO., 136. Vgl. dazu unten 2.3.2. 14  Marx, Opferlogik (s. Anm. 10), 138. Ganz analog sieht Cornehl, Gottesdienst (s. Anm. 4), 79ff. die Bedeutung des alttestamentlichen Gottesdienstes in der »Begegnung mit Gott in konkreten Lebenszusammenhängen«. 15  Vgl. dazu Willi-Plein, Opfer (s. Anm. 4), 25ff.71ff. 13 

Der Gottesdienst in Israel

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den darüber hinaus die Tieropfer nach Anlass und Zweck genau klassifiziert: Brandopfer, Heilsmahlopfer, Sündopfer und Schuldopfer.16 Während das Brandopfertier durch einen Schnitt in die Halsschlagader getötet (»geschächtet«), zerteilt und vollständig verbrannt wurde (Lev 1; 6,2–6, ältere Belege in Ri 6,26 u.a.), wurde das Heilsmahlopfer, für das ein Blutsprengungsritus charakteristisch ist, ursprünglich nach dem Brandopfer dargebracht (Ex 20,24 u.a.) und erst später mit dem Schlachtopfer verbunden (Lev 3, vgl. 7,11ff.). Beim Sündopfer (Lev 4,1–5,13, vgl. 6,18ff.) und beim Schuldopfer (Lev 5,14ff., vgl. 7,1ff.) hatte das Blut eine zentrale, weil sühnende Funktion.17 Das Zentrum des Tieropfers ist die rituelle Schlachtung und Verbrennung. Sie weist nach der »Hinzubringung« des fehlerlosen Opfertiers (vgl. Lev 1,2f.; 3,1 u.a.) im wesentlichen die Elemente Fesselung (vgl. Gen 22,9) und Schlachten des Tiers, Blutsprengung (an den Altar bzw. den Vorhang des Allerheiligsten), Zerteilen mit den Einzelelementen Herausnehmen der Eingeweide und Herauslösen der Schenkel sowie vollständige Verbrennung der Opferteile mit Ausnahme der Haut auf. Die nicht dargebrachten Opferstücke dienten dem Unterhalt der Priester, die oft in den Genuss der besonders geschätzten rechten Keule kamen (Lev 7,32ff.; 9,21; 10,14 u.a.). Als Opfertiere wurden weder Gazelle, Esel, Pferd, Kamel, Schwein (?) und Hund noch Wildtiere, sondern ausnahmslos Haus- und Arbeitstiere wie Rinder, Ziegen und Schafe verwendet, die für die bäuerliche Existenz von elementarer Bedeutung waren. In besonderen Armutsfällen konnten auch Haus- und Turteltauben geopfert werden. Das Opfertier musste makellos, männlich 16  Vgl. dazu Thomas Hieke, Der Kult ist für den Menschen da. Auf Spurensuche in den Opfervorschriften von Levitikus 1–10, in: BiKi 64 (2009), 141–147. 17  Zur Rolle des Bluts vgl. Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 22000, 198ff.; Eberhart, Bedeutung der Opfer (s. Anm. 4), 222ff. und zuletzt Friedhelm Hartenstein, Zur symbolischen Bedeutung des Blutes im Alten Testament, in: Jörg Frey / Jens Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005, 119–137.

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und mindestens sieben Tage alt sein (Lev 1,3; Dtn 15,21 u.a.). Was als »Makel« galt, war im sog. Heiligkeitsgesetz geregelt: Ein blindes, lahmes, verstümmeltes, verunstaltetes, räudiges oder grindiges Tier dürft ihr nicht zu JHWH bringen. Von solchen Tieren dürft ihr keins JHWH auf den Altar legen. (Lev 22,22)

Die Anlässe für die Tieropfer waren zahlreich: neben Privatopfern anlässlich eines Gelübdes (1 Sam 1,3), einer Weihe (1 Sam 16,3) oder der Reinerklärung eines Aussätzigen (Lev 14) waren die öffentlichen Opfer anlässlich der drei großen Jahresfeste (Ex 23; 34, Dtn 16; Lev 23), des Großen Versöhnungstags (Lev 16) oder der Darbringung der Erstgeburt (Ex 13 u.a.) von eminenter Bedeutung. Anlass zum Opfer waren schließlich auch geschichtliche Ereignisse wie der Beginn einer Schlacht (1 Sam 13,8ff.), die Einweihung des Tempels (1 Kön 8,62ff.) und Königsproklamationen (2 Sam 15,10ff.).

2.2.2. Kultgeschichte und Kultkritik Eine den Ergebnissen der neueren Religionsgeschichte Palästinas / Israels entsprechende Sozial- und Kultgeschichte des Opfers ist ein Desiderat der Forschung. Schon die Frage nach dem Opfer der Frühisraeliten (»Patriarchenzeit«) berührt wegen der Spätdatierung der meisten Texte dabei Grundprobleme der Forschung. Einigermaßen sicher ist jedoch, dass die Opfer des Gideon (Ri 6,18–21) und des Manoach (Ri 13,15–20) familiäre Gesellschaftsstrukturen widerspiegeln, die für die frühe Eisenzeit (E I: 1200– 1000 v.Chr.) typisch sind. Wie eng die Geschichte des Opfer mit der Entwicklung der Gesellschafts- und Gottesvorstellung verbunden ist, zeigt auch die Opfer- und Kultkritik der Propheten (Am 5,21–23; Hos 6,6; Jes 1,10–17 u.ö.), die in ihrer Radikalität eine Funktion der prophetischen Gerichtsbotschaft darstellt. Wieder eine andere Vorstellung vertritt die deuteronomische Opfertheorie, die in Dtn 12,13–19 zwischen Opfer (nur in Jerusalem) und Profanschlachtung (an jedem Ort) unterscheidet und das Opfer unter den Gedanken der Freude und des Segens stellt.18 18 

Vgl. dazu unten 2.3.1.

Der Gottesdienst in Israel

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Einen theologisch entscheidenden Schritt vollzieht dann im 6. Jahrhundert v.Chr. die Priesterschrift mit ihrer Betonung des Sündopfers und der sühnetheologischen Ausrichtung des Opferzwecks. Entgegen dem eingefleischten Vorurteil, dass die Opfervorschriften von Lev 1–10 auf den ersten Blick wie »ein Zeugnis von Engstirnigkeit, Detailversessenheit, Skrupulantentum«19 wirken, propagieren sie die Botschaft vom versöhnungswilligen Gott, der Israel die Gabe kultischer Versöhnung geschenkt hat. 20 Im Blick auf die Opfervorschriften des Leviticusbuchs stellt sich allerdings immer noch große Verlegenheit ein. Um diese zu kompensieren, ist man – in vermeintlicher Übereinstimmung mit der prophetischen Opfer- und Kultkritik – schnell bereit, von der »Überwindung« oder dem »Ende« des Opfers zu sprechen. Hält man sich aber an die Texte, so kommen andere Aspekte zum Vorschein. Als klassisches Beispiel sei Am 5,21–24.27 (ohne die Fortschreibungen v. 22aa.25f.) zitiert: I. Schuldaufweis 21 Ich hasse, ich verwerfe eure Feste, und kann eure Festversammlungen nicht riechen. Ablehnung von Festen 22 Es sei denn, ihr brächtet mir Brandopfer //Opfern: dar. Eure Speisopfer will ich nicht annehmen • Gabeopfer und das Mahlopfer eures Mastviehs • Mahlopfer nicht ansehen. 23 Fort von mir den Lärm deiner Lieder, Entfernung von Liedern und dein Harfenspiel will ich nicht hören,  //Instrumentalmusik 24 auf dass sich Recht wie Wasser Fliessen von Recht einherwälze und Gerechtigkeit wie ein reissender //Gerechtigkeit Bach. 21

19 

Hieke, Kult (s. Anm. 16), 141. Vgl. dazu unten 2.3.2. 21  Zur Übersetzung von nachal }etan mit »reissender Bach« vgl. Jan Dietrich, Kollektive Schuld und Haftung. Religions- und rechtsgeschichtliche Studien zum Sündenkuhritus des Deuteronomiums und zu verwandten Texten (ORA 4), Tübingen 2010, 257ff. 20 

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II. Unheilsankündigung 27 So werde ich euch in die Verbannung führen, über Damaskus hinaus, hat JHWH gesprochen, Gott der Heerscharen ist sein Name.

Deportation Israels Botenspruchformel

Seit der Zeit der Aufklärung, besonders aber in der Liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts hat man diesen Text neben Hos 6,6; Jes 1,10–17; Mi 6,6–8 u.a. gern als Kronzeugen für die radikale Opfer- und Kultkritik der Propheten aufgerufen und diese Auffassung in die Formel »Recht statt Gottesdienst / Kult« gefasst. 22 Für ein sachgemäßes Textverständnis ist demgegenüber die Beobachtung wichtig, dass »die Abweisung Gottes sachlich beim Umfassenden, den Festen (V. 22), einsetzt und erst danach Opfer (V. 22) und Musik (V. 23) genannt werden«23. Im Übrigen fällt auf, dass nicht Kritik an inhaltlichen Einzelheiten des Kults geübt, sondern – wie die Wendungen »eure Festversammlungen«, »eure Speisopfer«, »das Mahlopfer eures Mastviehs«, »der Lärm deiner Lieder«, »dein Harfenspiel« zeigen – »einem schuldigen Israel … gesagt [wird], dass sein Gottesdienst Gott nicht mehr erreicht und insofern zum ›Dienst an sich selber‹ pervertiert ist«24. So feiert Israel seinen Gott, als ob sein Gottesverhältnis intakt wäre, und »merkt nicht, dass er bei der Feier gar nicht anwesend ist«25, sondern sich längst abgewendet hat (nicht riechen / nicht annehmen / nicht ansehen / nicht hören V. *21f.). Insofern ist Am 5,*21–24.27 ein Gegentext zu Ex 20,24–26 und dessen Grundmotiv vom Kommen und Segnen JHWHs anlässlich des Opfers. Noch in spätnachexilischer Zeit geht es um ähnliche Fragen, wenn Mal 2,1–9 eine drastische Gerichtsankündigung gegen die Priester und ihre Nachlässigkeit im Opferwesen formuliert:26 22  Vgl. dazu besonders Thomas Krüger, Erwägungen zur prophetischen Kultkritik, in: Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie, FS Meinhold (ABG 23), hgg. v. Rüdiger Lux / Ernst-Joachim Waschke, Leipzig 2006, 37–55. 23  Jörg Jeremias, Der Prophet Amos (ATD 24/2), Göttingen 1995, 77. 24  AaO., 79. 25  Ebd. 26  Vgl. dazu Thomas Hieke, Kult und Ethos. Die Verschmelzung von

Der Gottesdienst in Israel 3

Und siehe: Ich bedrohe euch – die Nachkommenschaft, und ich werde Mageninhalt (von Opfertieren) über euer Gesicht streuen, (den) Mageninhalt (der Opfertiere) eurer Feste und man schafft euch zu ihm hinaus.

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vgl. Lev 4,11; 8,17; 16,27

vgl. Am 5,21 (»eure Feste«)

Das Gegenbild zum Versagen der Priester zeichnen die anschließenden Verse Mal 2,5–8, die bis zur Wurzel des Priestertums bei Levi zurückgehen. Die eigentliche Aufgabe des Priestertums definieren V. 6f dabei folgendermaßen: 6 7

Eine Weisung von Wahrheit war in seinem (sc. Levis) Mund, und kein Unrecht fand sich auf seinen Lippen, in Frieden und Aufrichtigkeit ging er mit mir, vgl. Mi 6,8 und viele veranlasste er zur Umkehr von Schuld. Denn die Lippen eines Priesters bewahren Erkenntnis und Weisung sucht man von seinem Mund. Denn Bote von JHWH Zebaoth ist er.

Beim wahren Priestertum geht es nicht nur um die Unterscheidung von rein und unrein, sondern auch um die Unterweisung von Wahrheit, Frieden, Aufrichtigkeit und um die Abkehr von Schuld. Damit ist der Text unmerklich »von Fragen des Kultes, des rechten Gottesdienstes, zum ›Ethos‹ im Sinne eines gerechten Handelns«27 übergegangen. Beide Verhaltens- und Handlungsweisen, Kult und Ethos, entsprechen einander und qualifizieren den homo ritualis als den homo ethicus.

2.3. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt – zu den Festen Israels Wie das Opfer so ist auch das Fest in den antiken Kulturen ein religiöser Kontrapunkt zur Alltagswelt, der dem Leben Sinn und Ziel durch die Unterbrechung der Alltagsroutine und die Eröffrechtem Gottesdienst und gerechtem Handeln im Lesevorgang der Maleachischrift (SBS 208), Stuttgart 2006, 29ff. 27  AaO., 40.

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nung übergreifender Perspektiven verleiht. Das Fest, so definiert Jan Assmann, ist »der Ort des Anderen«28, und zwar des Anderen als Inbegriff all dessen, was eine Kultur im Interesse ihres alltäglichen Funktionierens ausblenden muss: »Die dem Menschen im Alltag auferlegten Handlungszwänge bedingen eine Konzentration aufs nächstliegende und damit Horizontverengung, die offenbar unerträglich ist. Die Feste müssen hier einen Ausgleich schaffen und Orte bereitstellen, in denen sich das im Alltag ausgeblendete ›Andere‹ ereignen kann. Dieses Andere ereignet sich aber nicht von selbst, es muss inszeniert werden.«29

Mit dem Begriff der Inszenierung ist das Moment des Geformten und Festgelegten, also ein Handeln gemeint, das sich »nicht an der Erreichung bestimmter Zwecke, sondern am ›Wie‹ der Ausführung, am Stil«30 orientiert.

2.3.1. Die Freude des Festes (Deuteronomium) Die Kategorie der Form oder der »rituellen Kohärenz«31 ist auch für die Feste Israels grundlegend.32 Nehmen wir als Beispiel das Motiv, dass »Israel an seinem Zentralheiligtum als ganzes bei festlichem Opfermahl zur reinen Freude vor seinem Gott gelangen [soll]. Das scheint für das Deuteronomium das Wesen des Opfers 28  Jan Assmann, Der zweidimensionale Mensch: das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: Ders. (Hg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, Gütersloh 1991, 13–30, hier 13, vgl. dazu bereits Bernd Janowski / Erich Zenger, Jenseits des Alttags. Fest und Opfer als religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt im alten Israel, in: Bernd Janowski, Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 39–78. 29  Assmann, Mensch (s. Anm. 28), 15. 30  Ebd. 31  Zu diesem Ausdruck s. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 17f. 32  Zu den Festen im alten Israel s. den Überblick bei Schmidt, Alttestamentlicher Glaube (s. Anm. 4), 175ff.; Eckart Otto, Art. Feste / Feiern II, RGG4 3, 87–89; Ilse Müllner / Peter Dschulnigg, Jüdische und christliche Feste (NEB.Themen 9), Würzburg 2002, 7ff. und Alfred Marx, Feste und Wallfahrten im antiken Israel, in: Fritz Lienhard (Hg.), Feste in Bibel und kirchlicher Praxis, Berlin 2010, 11–23.

Der Gottesdienst in Israel

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zu sein«33. Das bringen besonders diejenigen Texte zum Ausdruck, die Norbert Lohfink unter dem Stichwort »Wallfahrtsschema«34 zusammengefasst hat. Zu ihnen gehört auch die großartige Passa / Mazzot-Verordnung von Dtn 16,1–835 innerhalb des Festkalenders in Dtn 16,1–17: Chronologischer Rahmen 1a Achte auf den Monat Abib und feiere JHWH, deinem Gott, das Passa,

Passarahmen (Zeit, Opfermaterie, Ort) 1b denn im Monat Abib hat JHWH, dein Gott, dich aus Ägypten ­herausgeführt in der Nacht. 2 Als Passa sollst du JHWH, deinem Gott, Kleinvieh und Rinder schlachten an der Stätte, die JHWH erwählen wird, um dort seinen Namen wohnen zu lassen. Passa / Mazzot-Bestimmung (3–4a: Mazzot, 4b-6: Passa) 3

Du sollst nichts Gesäuertes dazu essen. Sieben Tage lang sollst du ungesäuertes Brot dazu essen, die Speise der Bedrängnis, denn in Hast bist du aus dem Land Ägypten ausgezogen, damit du dein ganzes Leben lang des Tages deines Auszugs aus Ägypten gedenkst. 4a In deinem ganzen Gebiet soll sieben Tage lang kein Sauerteig zu finden sein, ------------------------------------------------------------------4b und von dem Fleisch, das du am Abend des ersten Tages schlachtest, darf über Nacht bis zum Morgen nichts übrigbleiben. 5 Du darfst das Passa nicht in einem deiner Tore schlachten, die JHWH, dein Gott, dir geben wird, 33  Norbert Lohfink, Opferzentralisation, Säkularisierungsthese und mimetische Theorie (1992/1995), in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur 3 (SBAB 20), Stuttgart 1995, 219–260, hier 239. Die »Freude« und das »Sich Freuen« (Dtn 12,7.12.18; 14,26; 16,11.14; 26,11 u.ö.) sind die Leitbegriffe der deuteronomischen Festtheorie, s. dazu Georg Braulik, Die Freude des Festes. Das Kultverständnis des Deuteronomium – die älteste biblische Festtheorie (1970), in: Ders., Studien zur Theologie des Deuteronomiums (SBAB 2), Stuttgart 1988, 16–218, hier 171ff. 34  Vgl. dazu Lohfink, Opferzentralisation (s. Anm. 33), 232ff. 35  Zu diesem Text s. Georg Braulik, Deuteronomium 1: 1,1–16,17 (NEB.AT 15), Würzburg 1986, 116ff.; Jan Christian Gertz, Die PassaMassot-Ordnung im deuteronomistischen Festkalender, in: Timo Veijola (Hg.), Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen (SFEG 62), Helsinki / Göttingen 1996, 56–80 u.a.

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sondern an der Stätte, die JHWH, dein Gott erwählt, indem er dort seinen Namen wohnen lässt. Dort sollst du das Passa schlachten, am Abend bei Sonnenuntergang, zur Zeit deines Auszugs aus Ägypten.

Passarahmen (Ritus, Ort, Zeit) 7

Du sollst es kochen und essen an der Stätte, die JHWH, dein Gott, erwählt, und am Morgen sollst du dich aufmachen und zu deinen Zelten zurückkehren.

Chronologischer Rahmen 8

Sechs Tage lang sollst du ungesäuertes Brot essen, und am siebten Tag ist eine Festversammlung für JHWH, deinen Gott; da sollst du keine Arbeit tun.

Hier werden Passa und Mazzot miteinander verschmolzen und auf den Neumond des Monats Abib (14. Nisan) festgelegt, so dass das Passa jetzt lediglich den Anfang der ganzen Feier in Jerusalem (mit der nächtlichen Exodus-Memoria) bildet. Am folgenden Tag geht man wieder nach Hause (»zu deinen Zelten« V. 7b), wo das Essen der ungesäuerten Brote sich noch sieben Tage lang hinzieht. Zentral für das deuteronomische Kultverständnis ist nicht nur das Essen der Mazzen – der, wie die wohl späte Bearbeitung präzisiert, an den Ur-Exodus erinnernden »Speise der Bedrängnis« (V. 3a) –, sondern auch das gemeinsame Essen des Passatieres, das die Einheit des Volkes und die communio mit seinem Gott stiftet: »Es lässt zugleich jeden Israeliten persönlich erleben, dass auch er in die beim Auszug erfahrene Befreiung einbezogen ist. Wer so den Exodus liturgisch vollzieht, kann seiner dann auch im Alltag gedenken, das heißt, diese Rettungstat Gottes im eigenen Leben bestimmend werden lassen.«36

Heiligkeit bedeutet Gottesnähe. Diese vollzieht sich für das Deuteronomium in seinen Festen. Das heißt aber nicht, dass immer mehr Lebensbereiche aus der Nähe Gottes ausgegrenzt werden, sondern umgekehrt, dass »alle Lebensbereiche Israels in diese Nähe Gottes«37 hineingeholt werden. Erfahrbar wird diese Gottesnähe, wie am Ende des Festkalenders Dtn 16,1–17 resümierend 36  37 

Braulik, Deuteronomium (s. Anm. 35), 117. Lohfink, Opferzentralisation (s. Anm. 33), 252.

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festgestellt wird, in der Gabe des »Segens« (berakah), der seinerseits die religiöse Wurzel der Festfreude ist: (16b) Man soll nicht mit leeren Händen hineingehen, um das Gesicht JHWHs (zu) ‹sehen›, (17) sondern jeder mit seiner Gabe, entsprechend dem Segen JHWHs, deines Gottes, den er dir gegeben hat. (Dtn 16,16b-17)

Dass etwas glückt und man sich gemeinsam über dieses Glück freuen kann, ist nicht selbstverständlich.38 Wenn es aber eintrifft, ist Dankbarkeit die angemessene Haltung gegenüber Glück. Die Freude, die das Deuteronomium verlangt (»du sollst fröhlich sein …«)39, ist Ausdruck solcher Dankbarkeit, und zwar für den von JHWH geschenkten Segen. Dieser Dank für den erfahrenen Segen unterscheidet das deuteronomische Festverständnis von der priesterlichen Kulttheologie, die mit ihrer rituellen Konstituierung der Gegenwelt zur Welt der Unreinheit und Verfehlung anderen Parametern folgt.

2.3.2. Das Geschenk der Versöhnung (Priesterschrift) Aus dem Alltag herausgenommen, in eine besondere Zeit und an einen besonderen Ort hineingestellt und in der Aura der Festlichkeit sich vollziehend: Diese für Dtn 16,1–8 charakteristischen Aspekte des Festes gelten ausnahmslos auch für Lev 16,1–34, die Überlieferung vom Großen Versöhnungstag. Zusammen mit Lev 17 stellt Lev 16 die kompositorische und konzeptionelle Mitte des Leviticusbuchs dar und propagiert »die Botschaft vom versöhnungswilligen Gott, der ganz Israel die Gabe bzw. die Gnade kultischer Versöhnung geschenkt hat«40. In Lev 16, dem »›Schlussstein‹ des priesterlichen Systems der Sündenvergebung«41, sind mehrere Rituale miteinander verbun38 

Vgl. Braulik, Freude (s. Anm. 33), 186. Zur deuteronomischen »Mahnung zur Freude« vgl. aaO., 179ff. 40  Erich Zenger, Das Buch Levitikus als Teiltext der Tora / des Pentateuch, in: Heinz-Josef Fabry / Hans-Winfried Jüngling (Hg.), Levitikus als Buch (BBB 119), Berlin / Bodenheim 1999, 47–83, hier 71. 41  Theodor Seidl, Levitikus 16 – »Schlussstein des priesterlichen ­Systems der Sündenvergebung«, in: Fabry / Jüngling (Hg.), Levitikus (s. Anm. 40), 219–248, vgl. zum Folgenden auch Bernd Janowski, Das Ge39 

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den und im jetzigen Text zu einer Handlungseinheit verschmolzen: – Aaron bringt für sich und sein Haus einen Sündopferstier (V. 3) und für Israel einen Sündopferbock (V. 5) dar, wobei er vom Blut der beiden Tiere nimmt, es ins Allerheiligste trägt und dort an die kapporæt sprengt (V. 14). Der Blutritus hat für Aaron und Israel sühnende Wirkung (V. 16). – Mit dem Blut des Sündopferstiers und des Sündopferbocks wird auch der Brandopferaltar im Vorhof besprengt und auf diese Weise von den Unreinheiten Israels gereinigt und geheiligt (V. 18f.). – Aaron legt einem zweiten Sündopferbock (V. 5), dem sog. »Sündenbock« (V. 10), seine beiden Hände auf, bekennt dabei alle Verschuldungen und Übertretungen der Israeliten und lässt ihn mit Hilfe eines Begleiters in die Wüste laufen (V. 20–22).

Liest man Lev 16,2–28.34b als synchronen Text, d.h. unbeschadet der redaktionellen Erweiterungen,42 so lässt sich dessen Struktur – ohne den narrativen Anfang V. 1 ( Zwischenfall mit Nadab und Abihu Lev 9,1–10,20) und ohne den paränetischen Schluß V. 29–34a (R Festkalender Lev 23,26–32; Num 29,7–11) – wie folgt gliedern:43 1 Narrative Einleitung

( Lev 9,1–10:20)

2–28 Ritual des Großen Versöhnungstages A Beginn des Rituals (2–5) Rede JHWHs zu Mose (2) Vorbereitungshandlungen Aarons (3–5) B Losritus (6–10) C Sündopferriten Ritus an der kapporæt (11–17) Ritus am Brandopferaltar (18–19)

B‘ »Sündenbock«-Ritus (20–22)

schenk der Versöhnung. Leviticus 16 als Schlussstein der priesterlichen Kulttheologie, in: Thomas Hieke / Tobias Nicklas (ed.), The Day of Atonement – der große Versöhnungstag, Leiden 2011 (im Druck). 42  Vgl. dazu im einzelnen Seidl, Levitikus (s. Anm. 41), 221ff.228ff. und Christophe Nihan, From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus (FAT II/25), Tübingen 2007, 362ff. 43  Zur Textgliederung s. Seidl, Levitikus (s. Anm. 41), 228ff.; Benedikt Jürgens, Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext (HBS 28), Freiburg/Basel/Wien 2001, 57ff. und Nihan, Priestly Torah (s. Anm. 42), 340ff.

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A‘ Abschluß des Rituals (23–28) Kleiderwechsel, Darbringung des Brandopfers (23–25) Reinigungsriten, Beseitigung der Kadaver (26–28) 29–34a Paränetischer Schluß (R Lev 23,26–32)

34b

Ausführungsbericht

Wie die übrigen JHWH-Reden des Leviticusbuchs will auch Lev 16 eine Antwort auf die Frage geben, wie Israel seine Sünden und Unreinheiten überwinden und so in der Nähe seines heiligen Gottes leben kann. Aus diesem Grund wird im Leviticusbuch »ein System verschiedener Rituale eingeführt […], mit denen das Heiligtum immer wieder in den Zustand versetzt werden kann, den es ursprünglich, unmittelbar nach seiner Weihe durch Mose in der Wüste Sinai [sc. in Lev 8–9], besessen hat. Die verschiedenen Sühneriten, die chatta’t, der ’ašam und natürlich das in Lev 16 beschriebene Ritual haben die Funktion, die Heiligkeit des Heiligtums nach einer Sünde wiederherzustellen und damit die Möglichkeit der Begegnung zwischen JHWH und seinem Volk zu sichern. Auf diese Weise wird es möglich, dass nach einer Sünde die Versöhnung zwischen den beiden Partnern rituell im Opfergottesdienst gefeiert wird – sei es in der Darbringung eines zœbach šelamîm, bei dem das Opfertier zwischen JHWH und dem sacrifiant geteilt wird und die Menschen anschließend vor JHWH Mahl halten, sei es in der vollkommenen Hingabe eines ganzen Opfertieres an JHWH bei einer ‘olah«44.

Der Höhe- und Schlußpunkt der priesterlichen Sühneriten ist der Große Versöhnungstag (Lev 16, vgl. Lev 23,27f.; Num 25,9), an dem der Hohepriester Aaron die zentralen Sündopferriten an der kapporæt »Sühneort, Sühnmal« und am Brandopferaltar durchführt (V. 11–19) und damit dem sündigen Israel Versöhnung mit dem heiligen Gott ermöglicht:45 11 Und Aaron bringt den Sündopferstier dar, der für ihn ist, und schafft Sühne für sich und sein Haus. Und er schlachtet den Sündopferstier, der für ihn ist. 12 Und er nimmt eine Feuerpfanne voll von glühender Kohle vom Altar vor JHWH und beide Hände voll von wohlriechendem feinem Räucherwerk und bringt es hinter den Vorhang. 13 Und er gibt das Räucherwerk auf das Feuer vor JHWH. Und die Wolke des Räucherwerks bedeckt die 44 

Jürgens, Heiligkeit (s. Anm. 43), 425. Vgl. dazu Janowski, Sühne als Heilsgeschehen (s. Anm. 17), 183ff. 423ff. (Lit.), vgl. Ders., Art. Sühne 1, EKL3 4, 552–555. Zur kapporæt vgl. Ders., Sühne als Heilsgeschehen (s. Anm. 17), 277ff.443f. (Lit.). 45 

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kapporæt, die auf dem Zeugnis ist, damit er nicht stirbt. 14 Und er nimmt vom Blut des Stiers und sprengt (es) mit seinem Finger vorn auf die kapporæt ostwärts.46 Und vor die kapporæt sprengt er siebenmal vom Blut mit seinem Finger. 15 Und er schlachtet den Sündopferbock, der für das Volk ist. Und er bringt sein Blut hinter den Vorhang und verfährt mit seinem Blut, wie er mit dem Blut des Stiers verfahren ist. Und er sprengt es auf die kapporæt und vor die kapporæt. 16 Und er schafft dem Heiligtum Sühne wegen der Unreinheiten der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen hinsichtlich aller ihrer Sünden. Und so verfährt er mit dem Begegnungszelt, das bei ihnen wohnt inmitten ihrer Unreinheit. 17 Und niemand soll im Begegnungszelt sein, wenn er hineingeht, um Sühne im Heiligtum zu schaffen, bis er heraus­ kommt. Und er schafft Sühne für sich und sein Haus und für die ganze Versammlung Israels.

Wenn man die Riten an der kapporæt innerhalb des Vorhangs (Lev 16,11–17) mit den vor dem Allerheiligsten und dem Vorhang vollzogenen Sühneriten von Lev 4f. und Lev 9 vergleicht, dann wird das sündige Israel nach der Komposition des Leviticusbuchs »schrittweise an das Heilige Jahwes angenähert«47 und auf diese Weise in die unmittelbare Nähe Gottes gebracht. Dem entspricht gleichsam spiegelbildlich, dass der mit den Verschuldungen Israels beladene Sündenbock von einem dafür Bereitstehenden aus dem Heiligtumsbereich in die Wüste geführt wird (V. 20–22): 20 Und er vollendet, das Heiligtum, das Begegnungszelt und den Altar zu sühnen. Und er bringt den lebenden Bock dar. 21 Und Aaron stemmt seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks. Und er bekennt auf ihm alle Verschuldungen der Israeliten und alle ihre Übertretungen hinsichtlich aller ihrer Sünden. Und er gibt sie auf den Kopf des Bocks. Und er schickt ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste. 22 Und der Bock trägt auf sich alle ihre Verschuldungen in ein abgeschnittenes Land. Und er schickt den Bock in die Wüste.

So wird das Ritual des Großen Versöhnungstages »zwischen den beiden äußersten Polen der den Texten der Bücher Exodus bis Numeri zugrunde liegenden konzentrischen Heiligtumskonzeption vollzogen: dem Allerheiligsten im Innersten des Begegnungszeltes auf der einen und der Wüste (midbar Lev 16,10a.12.21d.22b) bzw. dem ›abgeschnittenen 46  Wörtlich: »auf die Vorderseite der kapporæt nach Osten/ostwärts«, d.h. auf die Ostseite der kapporæt. 47  Seidl, Levitikus (s. Anm. 41), 239.

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Land‹ (’æræ3 g ezerah Lev 16,22a) auf der anderen Seite. Alle zwischen diesen beiden extremen Punkten liegenden Orte werden im Lauf des Rituals berührt«48.

Beide Orte, das Allerheiligste im Innersten des Begegnungszeltes und die Wüste außerhalb von Heiligtum und Lager, verhalten sich als Kontrastelemente der religiösen Topographie komplementär zueinander. Dieser Text ist deshalb so zentral, weil in Lev 16 mehrere Riten zu einer »Art ›Groß-chatta(’)t‹ zur Entsündigung von Priestern, Volk und Heiligtum«49 verschmolzen sind. Während der »Sündenbock« die Verschuldungen Israels aus dem Heiligtum in die Wüste hinausträgt und damit buchstäblich »entsorgt«, erwirkt der Hohepriester Versöhnung für Israel, indem er das Blut eines anderen Bocks an das »Sühnmal« (sog. kapporæt) im Innern des Allerheiligsten sprengt und damit in die unmittelbare Nähe Gottes bringt. Beide Riten – der Sündenbock wird nach außen in die Wüste geführt und das Sündopferblut wird nach innen an die kapporæt gebracht – verhalten sich komplementär zueinander und propagieren zusammen die Botschaft vom versöhnungswilligen Gott, der seinem Volk die Gabe kultischer Versöhnung schenkt. Dass diese Aufhebung der Distanz zwischen dem heiligen Gott und seinem unreinen Volk durch den Blutritus an der kapporæt auf der einen und den Sündenbockritus auf der anderen Seite geschieht, ist der bleibende Anstoß, den das Ritual des Großen Versöhnungstages dem Verstehen bis heute bietet.

3. Überholter Opferkult? – Schlussbemerkungen Ziehen wir ein Fazit: Am Anfang meiner Überlegungen, die nur einen kleinen Ausschnitt aus der komplexen Thematik bieten konnten, stand die Beobachtung, dass Opfer und Kult für den modernen Menschen offenbar etwas Peinliches haben, weil sie materiell vollziehen, was spirituell wirken soll. Die Kultkritik der Propheten »im Sinne einer Überwindung kultischen Denkens, 48  49 

Jürgens, Heiligkeit (s. Anm. 43), 75. Seidl, Levitikus (s. Anm. 41), 239.

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was auch immer man sich darunter im einzelnen vorstellen mag, gilt überwiegend als ausgemacht. Die daraus abgeleitete Parole vom ›überholten Opferkult‹ liefert rasche Antworten in theologischen Examina und hurtig spiritualisierenden Predigten«50. Diese Klage ist nur allzu berechtigt und betrifft vor allem die protestantische Theologie und ihr liberales Erbe. Es ist schon so, dass, wie Norbert Lohfink urteilt, die alttestamentlichen Ritual- und Kultüberlieferungen »zu dem in der Bibel (gehören), was die Christen und Theologen am deutlichsten kalt lässt und ihnen als absolut überflüssig, ja eher störend erscheint. Diese Einstellung schwappt selbst auf viele Alttestamentler über. Und doch bin ich überzeugt, dass man auch alles andere im Alten Testament nicht versteht, wenn man nicht eine geistige Perspektive besitzt, in der gerade diese Dokumentationen des Kultes Israels einen echten und positiven Platz einnehmen«51.

Sicher, weder im Judentum noch im Christentum gibt es tierische Opfer oder kultische Manipulationen mit Blut. Aber die Rede vom »Ende des Opfers« ist, weil sie ausschließlich auf das historische Resultat fixiert ist, wenig geeignet, komplexe (religions-)geschichtliche Prozesse verständlich zu machen. Statt vom »Ende« ist eher von der »Transformation des Opfers« zu sprechen. Diese hat aber nicht erst in der Spätantike52, sondern bereits zur Zeit des Alten Testaments eingesetzt und ist auch für das Neue Testament charakteristisch. Inzwischen gibt es auch andere Stimmen, die betonen, dass es im Opferkult Israels um etwas ›Geistiges‹ – die Begegnung von Gott und Mensch –, aber in den Gegebenheiten von Raum und Zeit geht53, und die sogar vom »Zauber der Rituale« sprechen.54 Die Frage, worin dieser »Zauber« besteht, hat Gerd Theissen 50 

Willi-Plein, Opfer (s. Anm. 4), 7. Norbert Lohfink, Alttestamentliche Exegese und Liturgiewissenschaft, in: TThZ 108 (1999), 313–318, hier 313. 52  Vgl. dazu Guy G. Stroumsa, La fin du sacrifice, Paris 2005. 53  Zu Wesen und Funktion des Kults im alten Israel s. auch Cornehl, Gottesdienst (s. Anm. 4), 132ff. 54  Vgl. dazu Gerd Theissen, Vom Zauber der Rituale. Ist eine protestantische Ritualkultur möglich?, in: Lienhard (Hg.), Feste (s. Anm. 32), 43–60. 51 

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jüngst unter Hinweis auf das anthropologische Potential beantwortet, das die Rituale besitzen und immer wieder freisetzen. Dazu gehören die Aufwallung der Gefühle (Ergriffenheit), die Vergewisserung der Gemeinschaft (Integration) und das Erlebnis der Fülle (Sinn). Alle drei Aspekte sind auch für den Gottesdienst in Israel konstitutiv und machen ihn zum »Ort des Anderen«, d.h. zu einem religiösen Kontrapunkt zur Alltagswelt.55 Darüber hinaus wäre es, wie Theissen zu Recht schreibt, »unehrlich […], sich nicht einzugestehen, dass unser rituelles Verhalten eine archaische Vorgeschichte hat«56. Um diese Vorgeschichte, die zur Vorgeschichte des christlichen Gottesdienstes gehört, geht es, wenn wir nach dem Gottesdienst im alten Israel fragen.

55  56 

Vgl. dazu oben 2.3. Theissen, Zauber (s. Anm. 54), 60.

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Nachdem Paulus der römischen Gemeinde das Evangelium von dem in Jesus Christus offenbarten Heil Gottes eingehend entfaltet hat (Röm 1–11), ermuntert und bittet er sie zu Beginn seiner ethischen Weisungen dringend, sich selbst Gott leibhaftig als »lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen«, und bezeichnet dies als den »vernünftigen« – d.h. »geistigen« und »wahren« – Gottesdienst der Gläubigen (logik« latre6a Röm 12,1). Dementsprechend kann er auch seinen eigenen, hingebungsvollen apostolischen Dienst mit Begriffen bezeichnen, die die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta (LXX), für den kultischen priesterlichen Dienst verwendet (latre0w Röm 1,9; leitourg8V Röm 15,16; vgl. leitourg6a Phil 2,17). Indem der Apostel die traditionellen Begriffe für Gottesdienst und Gottesverehrung, leiturgía (leitourg6a) bzw. latreía (latre6a)1, auf die in Gedanken, Worten und Taten gelebte Hingabe an Gott und seinen Willen bezieht2, will er das alttestamentliche liturgische Bekenntnis zu dem einen Gott und das Liebesgebot – das täglich bekannte Schema Jisrael, Dtn 6,4 ff. – nicht etwa auflösen, sondern zur Erfüllung bringen. Es geht ihm bei seiner 1 

Vgl. Walter Günther / Horst Seebass, Art. latre0w ktl, TBLNT, 551–553; Klaus Heß / Hans Bietenhard, Art. leitourg4w ktl, TBLNT, 925f. 2  Auch der alternativ zu ›Gottesdienst‹ gebrauchte Begriff ›Kultus‹ threskeía (qrhske6a) wird in Jak 1,26f. metaphorisch zur Bezeichnung eines ethisch verantwortlichen Lebens verwendet. Und wenn im Zusammenhang des Gottesdienstes einmal von ›Opfer‹ die Rede ist, dann bezieht es sich in Aufnahme von Ps 50,23 auf das ›Lobopfer‹ derer, die Gott bekennen (Hebr 13,15).

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Übertragung des priesterlichen Dienens im Jerusalemer Tempel auf das ganzheitliche Leben der Gläubigen nicht um eine Profanisierung des Heiligen, sondern um eine Heiligung des Alltags, nicht um eine Aufhebung der Einsicht in die Notwendigkeit von Sühne und Versöhnung, sondern um die Erkenntnis einer »ein für allemal« (Röm 6,10; vgl. Hebr 9,26–28; 10,10) und universal vollzogenen Sühnung und Versöhnung der Welt durch Gott selbst. Der hat seine Gerechtigkeit nämlich darin offenbart, dass er nun seinen Sohn, Jesus Christus, in dessen Lebenshingabe (d.h. »in seinem Blut«) und Auferstehung als »Sühneort« und »Gnadenthron« (&last•rion) hingestellt hat, um seine Feinde zu versöhnen und sie im Glauben zu rechtfertigen und zu heiligen (Röm 3,24– 26; 5,8–10; vgl 2Kor 5,17–21). Fortan sind Gottesbegegnung, Gottesrede, Vergebung und Heiligung (Ex 25,22; Lev 16,2) endgültig von dem in seinem Wort und Geist gegenwärtigen Gekreuzigten und Auferstandenen zu erwarten.

1. Das Zusammenkommen in der Gemeinde Fragen wir nach den Gottesdienstfeiern zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments3, also in der Zeit bis 100 n.Chr., so finden sich – unabhängig von den oben bezeichneten Begriffen und ohne einen spezifischen terminus technicus – eine Fülle von Hinweisen sowohl in der Briefliteratur (speziell 1Kor 8–14) als auch in der Darstellung der frühen Gemeinden in der Apostelgeschichte des Lukas sowie – oft indirekt und reflexiv – in den, für christliche Gemeinden und ihre Praxis verfassten, Evangelien. Um auf das Wort des Herrn zu hören und um zu beten, »versammelt« sich die Gemeinde (sun2gesqai Apg 4,31; 13,44; 14,27; 20,7 f.) »im Namen des Herrn Jesus« (1Kor 5,4) und »kommt« in der Gemeinde 3  Vgl. zum Ganzen Ferdinand Hahn, Art. Gottesdienst 3, TRE 14, 28–39 (vgl. aaO., 38f. zur Literatur); Luke T. Johnson, Art. Gottesdienst 4, RGG 4 3, 1181f.; Jürgen Roloff, Der Gottesdienst im Urchristentum, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael MeyerBlanck / Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 22003, 45–71.

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und als Gemeinde »zusammen« (sun4rcesqai), um das »Mahl des Herrn« zu feiern (1Kor 11,17 f.20.33 f.), um je nach Begabung durch den Geist »Psalmen«, »Lehre«, »Offenbarung«, »Zungenrede« und »Deutung« (1Kor 14,23.26) sowie »Gebete« und »prophetische Rede« (1Kor 11,4 f.) beizutragen. Dabei sind nach Paulus die Glauben gründende, die konkret anwendende bzw. ermahnende und die lehrhafte Verkündigung der »Apostel«, »Propheten« und »Lehrer« an erster Stelle zu nennen (1Kor 12,28). Als Pars pro toto können für die Feier des Herrenmahls auch die einzelnen Elemente des »Brotbrechens« (kl2siV toæ =rtou / kl¶n t7n =rton Apg 2,42.46; 20,7.11; vgl. 1Kor 10,16b) oder des »Segnens des Kelches« (eßlogeçn t7 pot•rion 1Kor 10,16a) genannt werden.

2. Die christlichen Gottesdienste und der Synagogengottesdienst Da sowohl alle Apostel einschließlich Paulus und Barnabas als auch fast alle Verfasser der neutestamentlichen Schriften – wie Jesus selbst – als geborene Juden in der alttestamentlich-jüdischen Tradition sowie Gottesdienst- und Kultpraxis aufgewachsen waren, kann es nicht verwundern, dass die Struktur und die Elemente der frühen christlichen Gottesdienste entscheidend durch die Form der jüdischen Synagogengottesdienste geprägt sind.4 Ob es um die Tradition der Lesung und Auslegung der Schrift geht oder um die aktive Teilnahme der Mitglieder an der Gottesdienstgestaltung, ob um das Bekenntnis zu dem einen Gott oder um das gemeinsame Beten, ob um das gottesdienstliche Singen oder das Rezitieren von Psalmen – der frühchristliche Gottesdienst kann sich in Grundstruktur und Formen, in Traditionen und li4  Dass der Tempel in Jerusalem mit seinem Opferkult nicht in gleich unmittelbarer Weise den frühchristlichen Gottesdienst bestimmte, ist nicht erst seiner Zerstörung 70 n.Chr. zuzuschreiben, sondern weit vorher schon der Einsicht der Erfüllung, Transformation und Ablösung des Kultes durch die universale und endgültige versöhnende und sühnende Wirkung des Christusgeschehens (vgl. Mk 11,15–19 parr.; 14,58 parr.; Apg 6,13f.; 7,48ff.; Röm 3,24–26; Hebr 2,5–18; 5,1–10; 7,1–10,18).

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turgischen Elementen weitgehend an dem Synagogengottesdienst orientieren; und dies gilt sowohl für die aramäisch sprechende Urgemeinde wie für die griechisch sprechenden, auch für Heidenchristen offenen Diasporagemeinden. Wie der Synagogengottesdienst nicht an ein bestimmtes heiliges Gebäude gebunden ist, sondern durch die »Versammlung« – d.h. die »Synagoge« (sunagwg•) – der Mitglieder des Gottesvolkes zu Lesung, Bekenntnis und Gebet konstituiert wird, so der christliche Gottesdienst als »Versammlung« – d.h. »Ekklesia« (§kklhs6a) – schon der kleinsten Schar der an Christus Gläubigen in seinem Namen (vgl. Mt 18,20). Weder hier noch dort ist der Gottesdienst von priesterlicher Vermittlung oder kultischem Ritual mit Opferdarbringung abhängig, sondern von der Gemeindeversammlung derer, die auf die Schrift und ihre Auslegung hören, die gemeinsam bekennen, beten und singen. Ausdrücklich halten die Evangelien fest, dass Jesus »nach seiner Gewohnheit« (Lk 4,16) mit seinen Jüngern am Sabbat in die Synagogen ging und von seinem Recht des Verlesens und der anschließenden Auslegung der Schrift Gebrauch machte, wie es von Lukas eindrücklich im Zusammenhang der »Antrittspredigt« Jesu in Nazareth entfaltet wird (Lk 4,16 ff.; vgl. 4,15.31; 6,6; 13,10). Von Paulus berichtet Lukas, dass er seine Erstkontakte und seine Wirksamkeit bei seinen Missionsreisen jeweils im Kontext von Synagogen aufnahm, was der jüdischen Diasporasituation durchaus entsprach (Apg 9,20; 13,14 ff.; 14,1; 17,1 ff.17; 18,4 ff.26; 19,8; vgl. 16,13).

3. Bezeugt durch das Gesetz und die Propheten Der neutestamentliche Befund zu der Praxis der Schriftlesung in den Synagogen ist tatsächlich schon historisch gesehen äußerst beachtenswert: So finden wir bereits für das 1. Jahrhundert n.Chr. Zeugnisse für die regelmäßige Toralesung im Synagogengottesdienst – so z.B. Apg 15,21: »Denn Mose hat von alten Zeiten her in allen Städten solche, die ihn predigen, und wird alle Sabbattage in den Synagogen gelesen (§n taçV sunagwgaçV kat1 p¶n s2bbaton

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!naginwsk8menoV)«.5 Wie wir wissen, geschah dies in fortlaufender Lesung, in lectio continua, in 3 ½-jährigem (Palästina) bzw. einjährigem Zyklus (Babylonien; Einteilung der Tora in 54 Verlesungsabschnitte, d.h. Paraschen).6 Zugleich finden sich aber auch bereits für die neutestamentliche Zeit Belege für die synagogale Lesung der Propheten (Haftara; einschließlich der »vorderen Propheten«) so z.B. Lk 4,17: »Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht …« (Jes 61,1 f.). Die Prophetenlesung erfolgte nicht in fortlaufender Lesung und noch nicht in fester Zuordnung (erst um 300 n.Chr.), wie auch die Auswahl von Jes 61,1 f. durch Jesus selbst nach Lk 4,17 bestätigt. Ein eindrücklicher Beleg für die doppelte Lesung ist auch in Apg 13,15 zu erkennen: »Nach der Lesung des Gesetzes und der Propheten (met1 d3 t«n !n2gnwsin toæ n8mou ka5 t>n profht>n) aber schickten die Vorsteher der Synagoge zu ihnen und ließen ihnen sagen: Ihr Brüder, wenn ihr ein Wort der Ermahnung (d.h. eine Predigt, l8goV parakl•sewV) an das Volk habt, so redet!« Die selbstverständliche Verlesung der – der Synagoge und der christlichen Gemeinde gemeinsamen – »Heiligen Schrift« im frühchristlichen Gottesdienst spiegelt sich nicht nur in der ausdrücklichen Aufforderung zur Schriftverlesung in 1Tim 4,13 (!n2gnwsiV, vgl. 2Tim 3,15 f.) wider, sondern auch in den im Neuen Testament überlieferten Streitgesprächen, Predigten und Briefen, die größtenteils auch in gemischten Gemeinden eine detaillierte und fundierte Kenntnis der Schrift vorausset5  Vgl. schon Neh 8,1–12 mit der Toraverlesung durch Esra; vgl. Philo, De somniis II § 127; Josephus, Contra Apionem II § 175. 6  Vgl. im Einzelnen vor allem Günter Stemberger, Art. Schriftlesung 2. Judentum, TRE 30, 558–563 (vgl. aaO., 563 zur Literatur); (Hermann L. Strack /) Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 4/1, München 71978, 153–188; Hans-Joachim Eckstein, Geschrieben steht. Biblisch-theologische und exegetische Gesichtspunkte für eine Reform der Lese- und Predigtperikopen, in: Auf dem Weg zur Perikopenrevision, hgg. v. Kirchenamt der EKD u.a., Hannover 2010, 45–76.

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zen – man denke nur an Römer- und Galaterbrief 7 oder an den als »Wort der Ermahnung«, d.h. Predigt (l8goV parakl•sewV), gekennzeichneten Hebräerbrief (Hebr 13,22). Nach Lukas hat kein geringerer als der Auferstandene selbst die Praxis der christusbezogenen Schriftauslegung am allerersten »Tag des Herrn« inmitten seiner Jünger begründet: »Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war« (Lk 24,27). »Es muß alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen. Da öffnete er ihnen das Verständnis, so dass sie die Schrift verstanden« (Lk 24,44).

4. Am Tag des Herrn Sosehr von den missionierenden Judenchristen überliefert wird, dass sie, wie Jesus selbst, die Synagogengottesdienste am Sabbat zum Zeugnis von dem Angebrochensein der Königsherrschaft Gottes und von dem Gekommensein des Christus nutzten, so feierte die christliche Gemeinde ihre eigenen Gottesdienste seit den erkennbaren Anfängen an dem Wochentag, an dem ihr Herr nach dem einhelligen Zeugnis aller neutestamentlichen Quellen8 vom Tode auferstanden ist – »am ersten Tag der Woche« (§n d3 t* mi_˝ t>n sabb2twn Apg 20,7; kat1 m6an sabb2tou 1Kor 16,2), d.h. am Sonntag. Denn der Tag der Auferstehung (vgl. Barn 15,9) galt als der »Tag des Herrn« (kuriak« ⁄m4ra Apk 1,10; vgl. pleonastisch Did 14,1: kat1 kuriak«n kur6ou). Als Tageszeit kam für die gesamte Gemeinde am ehesten der Abend in Frage (Apg 20,7), 7  Das Evangelium gilt als in Gesetz und Propheten bereits bezeugt (vgl. Röm 1,2; 3,21.31; Gal 3,8). 8  Die Evangelien weichen wohl in der Angabe des Datums der Kreuzigung Jesu ab – ob am 14. Nisan (s. Joh 18,28; 19,14) oder am 15. Nisan nach der Feier des Passamahls (s. Mk 14,12ff. parr.; vgl. Ex 12,6; Num 9,2f.) –, nicht aber hinsichtlich des Wochentags; alle Quellen setzen die Kreuzigung an einem Freitag (paraskeu« ¸ §stin pros2bbaton Mk 15,42) und die Entdeckung des leeren Grabes sowie die Ersterscheinung des Auferstandenen am darauffolgenden Sonntag, dem »ersten Tag der Woche« (t* mi_˝ t>n sabb2twn Mk 16,1.2; Joh 20,1), voraus.

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was auch der Verbindung mit dem gemeinsamen Mahl entsprach (1Kor 11,21f.). Zusätzlich gab es wohl weitere Zusammentreffen zum Gebet (Apg 2,46 f.), zum Schriftstudium (Apg 17,11) und zu Verkündigung und Unterweisung unter der Woche – nach Lukas sogar täglich (kaq} ⁄m4ran Apg 19,9).

5. Die den Namen des Herrn Jesus anrufen Fragt man nach dem grundlegenden Unterschied zwischen Synagogen- und christlichem Gemeindegottesdienst, so ist dieser nicht primär in Formen und verwendeten Traditionen zu suchen, sondern vor allem in der für das jüdische Bekenntnis kaum nachvollziehbaren Hochschätzung Jesu Christi als des Herrn der Kirche. Während in der Synagoge mit dem dreigliedrigen Bekenntnis des Schema Jisrael aus Dtn 6,4–9; 11,13–21 und Num 15,37–41 Jahwe allein als Gott und Herr anerkannt wird, kann die christliche Gemeinde dieses selbe Bekenntnis mit Paulus »binitarisch« entfalten und in Christus den »einen Kyrios« erkennen, durch den Gott die Welt erschaffen und die ihn Anrufenden erlöst und neu geschaffen hat (1Kor 8,6).9 Traditionell wird der eine und einzige Gott, der Vater, als Ursprung von allem (§x oª) und Ziel (e%V aßt8n) der ihn Anerkennenden bekannt: »so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm.« Jüdisch gesehen völlig unkonventionell wird dieses Bekenntnis zu dem einen »Gott aller Götter und Herrn über alle Herren« (Dtn 10,17) aber dann hinsichtlich des Wirkens Gottes (di} oª) zugleich christologisch auf die Schöpfungsmittlerschaft und Erlösungsmittlerschaft Jesu Christi hin expliziert; durch den »einen Herrn, Jesus Christus«, ist – nach der festen Überzeugung der Bekennenden – alles geschaffen worden, und durch ihn sind sie selbst geworden – »freigekauft« (1Kor 6,20), von Sünden »abgewaschen«, »geheiligt« und »gerechtfertigt« (1Kor 6,11). 9  Vgl. zum Folgenden Hans-Joachim Eckstein, So haben wir doch nur einen Herrn. Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: Ders., Kyrios Jesus. Perspektiven einer christologischen Theologie, Neukirchen-Vluyn 22011, 2–22.

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Beeindruckend ist die Eindeutigkeit und Kühnheit, in der bereits die erste Generation der christlichen – d.h. judenchristlichen – Gemeinde das biblische Bekenntnis zur Einzigkeit und Einheit Gottes mit ihrer analogielosen Christuserkenntnis zu verbinden vermochte. Der auferstandene Christus wird in den Gottesdiensten der frühen Gemeinden als Kyrios, als »Herr«, bekannt (»Herr ist Jesus Christus« / k0rioV }IhsoæV [Crist8V] 1Kor 12,3; Röm 10,9 f.; Phil 2,9–11) und in Akklamation und Gebet angerufen (1Kor 1,2; 16,22; 2Kor 12,8)10. Die »berufenen Heiligen« der Ekklesia Gottes können an jedem Ort gerade dadurch identifiziert werden, dass sie »den Namen unseres Herrn Jesus anrufen« (1Kor 1,2; vgl. Apg 9,14.21; 22,16). Ihm gilt der von der aramäisch sprechenden Urgemeinde übernommene Gebetsruf »Maranatha«, »Unser Herr, komm!« (1Kor 16,22).11 Mit hebr. adon (mkta6) / aram. mare (aq8g9) / griech. kýrios / (() k0rioV12 haben offensichtlich bereits die aramäisch sprechenden wie die griechisch sprechenden Judenchristen der ersten Generation den von Gott auferweckten Gekreuzigten13 mit dem Titel benannt, der in den christlichen LXX-Handschriften und in den neutestamentlichen Schriften in 10  2Kor 12,8 spricht Paulus von der Anrufung des Herrn im Gebet mit Bezug auf Christus in der Antwort (V. 9.10). Von »unserem Herrn Jesus« erwartet er wie von »Gott, unserem Vater« die Erhörung seiner Gebete (1Thess 3,10f.). 11  Der Ruf »Maranatha« / maranaq2 ist mit Rücksicht auf Apk 22,20 (»Amen, ja komm, Herr Jesus«) wohl im Sinne von aram. mara˘n(a’) ’ æta’ als Bitte: »Unser Herr, komm!« zu deuten. Vgl. Hans Peter Rüger, Art. Aramäisch 2, TRE 3 (1978), 602–610, hier 607; Joseph A. Fitzmyer, Art. k0rioV ktl, EWNT 2 (1981), 811–820, hier 816f. 12  Zu absolut gebrauchtem und determiniertem »der Herr« (( k0rioV) zur Bezeichnung Jesu Christi vgl. z.B. 1Kor 4,5; 7,10.12; 9,14; 16,7; 2Kor 10,8; 13,10; Phil 4,5; 1Thess 3,12; 4,16. 13  Zum Kyrios-Titel in den formelhaften Auferweckungsaussagen, die zum ältesten Bestand des neutestamentlichen Auferstehungszeugnisses gehören, vgl. Röm 4,24; 10,9b; 1Kor 6,14; und 2Kor 4,14; vgl. Hebr 13,20, als Auferstehungsformel Lk 24,34: »Der Herr ist wirklich auferstanden und dem Simon erschienen«. Vgl. zum Ganzen Hans-Joachim Eckstein, Die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu. Lukas 24,34 als Beispiel früher formelhafter Zeugnisse, in: Ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben. Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments (BVB 5), Münster 2003, 152–176 und 232–235, hier 160–163.

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Umschreibung des Gottesnamens Jahwe für Gott, den Vater, gebraucht wurde. Die eschatologische Huldigung gegenüber dem Kyrios, dem »sich alle Knie beugen« und den »alle Zungen bekennen sollen«, bezieht sich nach Jes 45,23 f. ausdrücklich auf Jahwe selbst, während sie nach dem Philipperhymnus »zur Ehre Gottes, des Vaters« demjenigen gilt, dem Gott den Kyrios-Namen als »Namen über alle Namen« gegeben hat – dem erhöhten Jesus Christus (Phil 2,10 f.). Nach Joel 3,5 soll derjenige am »Tag des Herrn« errettet werden, der den Namen Jahwes / des Kyrios anrufen wird. Dieses rettende Anrufen des »Herrn« konkretisiert sich nach Röm 10,8– 17 darin, dass jemand mit seinem Munde bekennt: »Herr ist Jesus« (k0rioV }IhsoæV), und in seinem Herzen glaubt, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat. So wird die Akklamation »Herr ist Jesus« mit der im Prophetenzitat angesprochenen Anrufung Gottes identifiziert, und die Gottesbezeichnung »Herr aller« erscheint in eindeutig christologischem Kontext (Röm 10,12).

6. Wenn du mit deinem Munde bekennst … Fragen wir nach den im christlichen Gottesdienst gesprochenen Bekenntnisformeln, Bekenntnissen und Akklamationen sowie nach »Psalmen, Hymnen und Oden«, zu denen Kol 3,16; Eph 5,19 auffordern (vgl. 1Kor 14,26; Jak 5,13), ist der neutestamentliche Befund durchaus reich. Neben dem bezeichneten Grundbekenntnis »Herr ist Jesus Christus« (k0rioV }IhsoæV [Crist8V] 1Kor 12,3; Röm 10,9 f.; Phil 2,9–11) und dem von der Urgemeinde übernommenen Gebetsruf »Maranatha«, »Unser Herr, komm!« (1Kor 16,22; vgl. Apk 22,20), lassen sich an Einleitung, Begrifflichkeit oder paralleler Struktur schon für die Frühzeit eine Fülle von ein bis viergliedrigen Traditionen, Formeln und Bekenntnissen erkennen. So finden sich geprägte Sterbe- und Hingabeformeln (z.B. Röm 5,8; 2Kor 5,14 f.; Gal 1,4; 2,20; 1Thess 5,10) sowie soteriologische Formeln (z.B. Röm 3,25 f.; Gal 1,4) und Missionsformeln (z.B. 1Thess 1,9 f.). Dementsprechend gibt es auch zahlreiche christozentrische Auferstehungs- (z.B. Röm 4,25; 6,4.9 f.; 7,4; 8,34;

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14,9) und theozentrische Auferweckungsaussagen (z.B. Röm 10,9; 1Kor 6,14; 1Kor 15,15; 2Kor 4,14; Gal 1,1). Als zweigliedrige Formeln können sie von Jesu Sterben bzw. Tod und von seiner Auferweckung bzw. Auferstehung sprechen – wie z.B. Röm 4,25: »Der dahingegeben wurde um unserer Übertretungen willen und auferweckt wurde um unserer Rechtfertigung willen«. Als zwei- und mehrgliedrige Formeln können sie aber auch Jesu Auferstehung und sein Erscheinen vor den Zeugen bekennen – wie Lk 24,34: »Der Herr ist wirklich auferstanden und Simon erschienen!«14 Unübertroffen ist das vorpaulinische viergliedrige Bekenntnis von 1Kor 15,3–5, in dem Jesu Sterben »für unsere Sünden« und sein Begrabenwerden, seine Auferstehung am dritten Tage und sein Erscheinen vor den Zeugen als der Schrift entsprechend und verbindlich überliefert bezeugt wird. Die prägnanteste Zusammenfassung des für die christliche Identität konstitutiven Glaubens und Bekennens mag man in der Verbindung von Glaubensund Auferweckungsformel in Röm 10,9 finden: »Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist ((mologoæn k0rion }Ihsoæn), und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat (piste0ein ¸ti ( qe7V aßt7n øgeiren §k nekr>n), so wirst du gerettet.« Bereits in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts sind auch Christusbekenntnisse wie die Gottessohnformel in Röm 1,3 f. oder der große Philipperhymnus in Phil 2,6–11 zu verorten. Daneben lassen sich Texte wie Joh 1,1–18; Kol 1,15–20; 1Tim 3,16; 1Petr 2,21–24 oder Hebr 1,3 f. als weitere, hochreflektierte und kunstvoll ausgeführte Christushymnen bestimmen. Aber auch die Spuren frühchristlicher Gebete und Psalmen finden sich einerseits in den, auf den himmlischen Gottesdienst bezogenen, Abschnitten der Apokalypse des Johannes (Apk 4,8.11; 5,9; 14,3) oder in den liturgisch wirkungsvoll gewordenen Hymnen der lukanischen Vorgeschichte – Magnificat (Lk 1,46–55), Benedictus (1,68–79) und Nunc dimittis (2,29–32). Hinsichtlich des gottesdienstlichen Betens ist neben dem auf Jesus selbst zurückgeführten »Vaterunser« (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4) 14 

Vgl. im Einzelnen Eckstein, Wirklichkeit (s. Anm. 13), 232–235.

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und der mit Berufung auf Jesus übernommenen Gottesanrede mit »Abba, lieber Vater!« (Mk 14,36; Gal 4,6; Röm 8,15) vor allem auf die ausführlichen Briefeingänge zu verweisen. Hier finden sich Bezugnahmen auf Lob-, Dank- und Fürbittgebete in ausgeführten Proömien (z.B. Röm 1,8–12; Phil 1,3–11; Eph 1,15–23; vgl. 3,14–21) und Eulogien (2Kor 1,3–7; Eph 1,3–14; 1Petr 1,3–9), die die Anknüpfung an die alttestamentlich-jüdische Gebets-, Lobpreis- und Segenssprache besonders eindrücklich veranschaulichen. So ist auch die christliche Gemeinde nachdrücklich zu »Bitten, Gebeten, Fürbitten und Danksagungen« in ihren Gottesdiensten aufgerufen (1Tim 2,1; vgl. Apg 2,42; Röm 12,12; Phil 4,6; 1Thess 5,17; 1Tim 2,1).

7. Verkündigung in Gestalt von Briefen Im Hinblick auf die im Gottesdienst entfaltete Verkündigung des Evangeliums, kommen die neutestamentlichen Briefe in doppelter Perspektive in den Blick. Einerseits ist davon auszugehen, dass zahlreiche Briefe – wie der Hebräerbrief und der Jakobusbrief, der Epheser-, der 1. Petrus- und der 1. Johannes-Brief – Elemente gottesdienstlicher Verkündigung, Ermahnung und Lehre als topische Elemente aufgenommen und somit verschriftlicht haben. Auch die Predigten und Reden der Apostelgeschichte15 oder die dialogisch-argumentative Entfaltung samt Schriftbeweisen in den Paulusbriefen lassen auf Inhalte, Argumente und Stil der frühchristlichen Predigten zurückschließen. Andererseits ist aber auch davon auszugehen, dass neutestamentliche Briefe – zumal die des Paulus – den abwesenden Apostel im Gottesdienst der von ihm gegründeten Gemeinden vertreten sollten (1Kor 5,4; 2Kor 7,8; Gal 4,20) und deshalb in der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde verlesen wurden. So beschwört Paulus die Gemeinde der Thessalonicher in 1Thess 5,27 ausdrücklich, den vorliegenden 15  Vgl. als Missionsreden an Juden: Apg 2,14; 3,12–26; 4,8–12; 5,30–32; 10,34–43; 13,16–41; als Missionsreden an Heiden: 14,15–17; 17,22–31 (vgl. 1Thess 1,9f.; Hebr 6,1f.).

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Brief »vor allen Brüdern«, d.h. vor der ganzen Gemeinde, verlesen zu lassen (vgl. auch Kol 4,16). Dieser Erwartung entspricht es auch, wenn Paulus z.B. in 1Kor 16 nach Schlussermahnung und Grüßen und vor dem abschließenden Segenswunsch Elemente aufführt, die wir mit der Liturgie des frühchristlichen Gottesdienstes verbinden – z.B. die Aufforderung zum »heiligen Kuss« (1Kor 16,20; vgl. Röm 16,16; 2Kor 13,12; 1Thess 5,26), den urgemeindlichen Ruf um das Kommen des Herrn der Gemeinde, »Maranatha« (1Kor 16,22b), aber auch den ansonsten vielleicht unvermittelt wirkenden Ausschluss der Ungläubigen in der geprägten »Fluchformel« von 1Kor 16,22a, der sich am leichtesten durch das sich anschließende, nur für Gläubige zugängliche »Herrenmahl« erklärt.

8. Mit einem Wort des Herrn Während man aus der späteren Tradition – bis hin zu den gegenwärtigen Gottesdienst- und Perikopenordnungen – neben der Epistellesung unwillkürlich auch die perikopenweise oder zusammenhängende Verlesung der Evangelien in den frühchristlichen Gottesdiensten erwarten mag, muss man sich die chronologischen Verhältnisse des Entstehens und der »Kanonisierung« der vier Evangelienbücher bewusst machen. Bis Mitte der Sechziger Jahre des 1. Jahrhunderts wurden »Worte des Herrn« wohl vor allem mündlich tradiert und als höchstverbindlich angeführt;16 es gab aber wohl vor dem »Evangelium nach Markus« noch keine schriftliche Gesamtdarstellung, sondern eher thematisch geordnete Logien-, Gleichnis- und Zeichensammlungen sowie Erzählzyklen und dann zusammenhängende Passionserzählungen, die das in den bezeichneten Traditionsformeln Bekannte in Gestalt der Erzählung vermittelten. Noch in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n.Chr. werden nicht die Evangelien als Bücher an sich, 16  Vgl. auch die Aufnahmen von Jesustraditionen in Röm 12,14 (Mt 5,44; Lk 6,28); Röm 12,17.19 (Mt 5,39; Lk 6,29f.); Röm 13,8–10; Gal 5,14 (Mk 12,31; Mt 22,39f.).

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sondern die in ihnen überlieferten »Herrenworte« als autoritativ zitiert. So wird schon bei Paulus neben den als Überlieferung / Paradosis17 gekennzeichneten Einsetzungsworten zum Herrenmahl 1Kor 11,23–25 verschiedentlich auf ein Wort des irdischen bzw. auch des auferstandenen Herrn hingewiesen oder in Weisungen auf eine Jesustradition angespielt: 1Thess 4,15 (»mit einem Wort des Herrn« / §n l8gˆ kur6ou); 1Kor 7,10 (Mk 10,11f. par.); 1Kor 9,14 (»der Herr hat geboten« / ( k0rioV di4taxen, vgl. Lk 10,7 par.).18 Am Anfang stand die mündliche Überlieferung in kleinen sprachlichen Einheiten, die in der Verkündigung als »Paradigmen« – d.h. Predigtbeispiele – und »Apophthegmata« – d.h. Aussprüche mit erzählendem Rahmen – sowie als ethische Weisungen gedient haben mögen. Und die ersten Überlieferungsträger waren nicht die schriftlichen Evangelien oder ihre Verfasser, sondern die »anfänglichen Augenzeugen« des irdischen und auferstandenen Jesus (o& !p} !rcΩV aßt8ptai), die als solche »Diener des Wortes« (´phr4tai toæ l8gou) gewesen sind (Lk 1,2). Was sie bezeugten und verkündigten war das eine Evangelium von dem Anbruch der Königsherrschaft Gottes und der Übernahme der heilvollen eschatologischen Herrschaft durch den gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Dieses Evangelium Gottes war ihnen durch die Erscheinungen des Auferstandenen selbst in Tischgemeinschaft, in Belehrung und Beauftragung erschlossen worden – quasi als Grundlage aller folgenden Gottesdienste am Tag des Herrn. So hatte schon Paulus zuvor das eine Evangelium als die vorgegebene Botschaft von Gottes heilvoller Selbsterschließung im Christusgeschehen verstanden, das er wie alle Apostel in Mission und Gemeindegottesdienst 17 

1Kor 11,23 findet sich die ausführliche Paradosisformel: »Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe, dass …« (§gÁ g1r par4labon !p7 toæ kur6ou, ¸ ka5 par4dwka ´mçn, ¸ti …«); vgl. zur Überlieferung eines Bekenntnisses 1Kor 15,3 (par4dwka … » ka5 par4labon, ¸ti …). 18  S. 2Kor 12,9 eindeutig als Wort des auferstandenen Kyrios zu Paulus (»und er hat zu mir gesagt / ka5 e√rhk4n moi). Mit 2Kor 12,8.9 findet sich zugleich einer der frühen Belege für das direkt an Christus, den Herrn, gerichtete Gebet der frühen Christen.

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in der Verkündigung auf der Basis von Schrift und christlichem Bekenntnis zu entfalten hatte (Röm 1,1.9.16; 15,16.19; Gal 1,6– 12).19 Den paulinischen Gemeinden war das »Evangelium« zunächst also vor allem in Gestalt der »Epistellesung« zugänglich. Dementsprechend gehen auch die frühen Evangelienüberschriften im Anschluss an Mk 1,1 von dem vorgegebenen einen Evangelium von Jesus Christus aus, dessen »Anfang« und »Beginn« (!rc•) in den vier Berichten der Evangelisten dann schriftlich bezeugt und entfaltet worden ist: Das Evangelium nach Markus (eßagg4lion kat1 M2rkon) usw. Mit »Evangelium« wird somit der Inhalt – noch nicht die Gattung oder das Einzelexemplar des Buches bezeichnet: Es ist das Evangelium Gottes (Mk 1,14: eßagg4lion toæ qeoæ, Genitivus subiectivus resp. auctoris), das Jesus Christus nicht nur zum Bringer und Verkündiger (1,14 f.), sondern zum zentralen Inhalt hat (Mk 1,1: eßagg4lion }Ihsoæ Cristoæ , Genitivus obiectivus).

9. Zusammenkommen, um das Mahl des Herrn zu feiern Seit den Anfängen in Jerusalem gehört es zu den Charakteristika des christlichen Gottesdienstes, dass neben Verkündigung und Lehre, neben Gebet und Gotteslob vor allem die Gemeinschaft, die Koinonía (koinwn6a) beim »Brotbrechen« (kl2siV toæ =rtou / kl¶n t7n =rton Apg 2,42.46; 20,7.11; vgl. 1Kor 10,16) gefeiert wird. Dies geschah auch nach Lukas vor allem am Sonntag: »Am ersten Tag der Woche aber, als wir versammelt waren, das Brot zu brechen (sunhgm4nwn ⁄m>n kl2sai =rton), predigte ihnen Paulus« (Apg 20,7). Nach Apg 2,46 könnte Lukas sogar an einen noch häufigeren Vollzug der Mahlgemeinschaft gedacht haben: »Und sie waren täglich (kaq} ⁄m4ran) einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern …«

19  Vgl. im Einzelnen Hans-Joachim Eckstein, Das Evangelium Jesu Christi. Die implizite Kanonhermeneutik des Neuen Testaments, in: Ders., Kyrios (s. Anm. 9), 35–58.

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Apg 20,7–12 spiegelt wohl auch die plausible Abfolge von »Verkündigungsteil« und »Mahlfeier« wider. 20 In neutestamentlicher Zeit wurde das »Herrenmahl« noch als einheitliches Sättigungsmahl gefeiert 21, das im Gedenken an die letzte Mahlzeit Jesu mit seinen Jüngern vor seiner Kreuzigung (1Kor 11,23 f.) mit dem »Brotbrechen« eröffnet wurde: »Der Herr Jesus, in der Nacht, da er dahingegeben wurde, nahm er das Brot, dankte und brach’s und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedenken«. In gleicher Weise (ósa0twV) nahm Jesus bei diesem letzten Mahl den »Segensbecher« (1Kor 10,16: t7 pot•rion tΩV eßlog6aV ¸ eßlogoæmen) ausdrücklich »nach dem Mahl« (met1 t7 deipnΩsai, adverbial bezogen) mit dem Tischdankgebet auf und sprach: »Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedenken« (1Kor 11,25). Damit gab es also noch keine Trennung in Sättigungsmahl und Herrenmahl, in Agape-Mahl und Eucharistie, sondern der eucharistische Brotritus, das »Brotbrechen«, und der eucharistische Kelchritus, der »Segenskelch«, umschlossen das Gemeinschaftsmahl mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der damit als Gastgeber, Gemeinschaft gewährend und das Heil vergegenwärtigend, bei seiner Gemeinde war. Das Problem der unangemessenen Feier des Herrenmahls in der korinthischen Gemeinde (1Kor 11,17–34) bestand also nicht darin, dass die Wohlhabenderen schon mit einem Sättigungsmahl begonnen hätten, bevor die Bedürftigeren überhaupt zum eucharistischen Mahl hinzustoßen konnten; gegen eine vorgezogene Stillung des Hungers zuhause hätte Paulus gar nichts einzuwen20  Wie wir sahen, lässt sich die Häufung liturgischer Elemente in 1Kor 16,20–24; 2Kor 13,12f. und Apk 22,17–20 als Indizien für eine Überleitung zur Mahlfeier verstehen. Während Paulus im Anrufungs- und Verkündigungsteil des Gottesdienstes offensichtlich mit der Anwesenheit von »Unkundigen oder Ungläubigen« rechnen kann (1Kor 14,23–25), werden diese mit der Formel von 1Kor 16,22 offensichtlich von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen. 21  Vgl. zum Folgenden mit detaillierter Begründung Otfried Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b–25, Paulusstudien I (WUNT 51), Tübingen 21994, 203–240.

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den gehabt (1Kor 11,22.34). Vielmehr haben die Vermögenden ihr eigenes Mahl während der mit der eucharistischen Brothandlung bereits eröffneten Feier des Herrenmahls zu sich genommen und die anderen hungern und dürsten lassen: »Denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl zu sich 22 ({kastoV g1r t7 √dion deçpnon prolamb2nei §n t< fageçn), und der eine ist hungrig, der andere ist betrunken« (1Kor 11,21). Dieses die Gemeinde Gottes verachtende und die Schwächeren beschämende Verhalten während der eucharistischen Mahlgemeinschaft musste als völlig unwürdig und verurteilenswert erscheinen (1Kor 11,22.27 ff.).

10. Mahlgemeinschaft als Teilhabe an Christus Um das Geheimnis des Herrenmahls zu verstehen, haben sich die frühen Christen nicht auf die Fragen der »Substanz« oder der »Materie« von Brot und Wein konzentriert, sondern auf die Realität der Teilhabe gewährenden Koinonía (koinwn6a) mit dem beim Mahl präsenten Herrn, der sich leibhaftig für die Seinen dahingegeben (»mein Leib für euch« / t7 s>ma t7 ´p3r ´m>n 1Kor 11,24) und sie in der Hingabe seines Lebens (»in meinem Blut« / §n t< §m< a¥mati 1Kor 11,25) versöhnt und erlöst hat. Dass die Teilnahme am Mahl selbst unter die Herrschaft und den Einflussbereich des Tischherrn stellt, vergegenwärtigt Paulus den Korinthern in seiner Ablehnung jeder alternativen kultischen Teilnahme am Götzendienst: »Der Kelch des Segens, den wir segnen, ist er nicht Gemeinschaft mit dem Blute Christi (oßc5 koinwn6a §st5n toæ a¥matoV toæ Cristoæ )? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht Gemeinschaft mit dem Leibe Christi (oßc5 koinwn6a toæ ­sÒmatoV toæ Cristoæ §stin)?« (1Kor 10,16.17). Mit seiner Teilnahme am Tisch des gegenwärtigen Herrn befindet sich der Gläubige in dessen Herrschafts- und Heilsbereich und hat an ihm und seinem Leben teil: »Ihr könnt nicht zugleich den Kelch des Herrn trinken 22  Das Verb prolambánein / prolamb2nein in 1Kor 11,21 ist also mit »einnehmen«, »zu sich nehmen«, nicht mit »vorwegnehmen« zu übersetzen. Vgl. im Einzelnen Hofius, Herrenmahl (s. Anm. 21), 216ff.

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und den Kelch der Dämonen; ihr könnt nicht zugleich am Tisch des Herrn teilhaben (trap4zhV kur6ou met4cein) und am Tisch der Dämonen« (1Kor 10,21).

11. Solches tut zu meinem Gedenken! In der ältesten literarisch bezeugten Form der Einsetzungsworte – der ausdrücklich als vorpaulinisch gekennzeichneten Überlieferung von 1Kor 11,23–25 – findet sich bei beiden Gabeworten der Auftrag des Kyrios: »Dies tut zu meinem Gedenken!« (toæto poieçte […] e%V t«n §m«n !n2mnhsin 11,24.25). Das vergegenwärtigende Gedenken der hingebungsvollen Liebe Gottes (Röm 5,8; 8,31 f.; vgl. Eph 2,4 ff.) und der liebevollen Hingabe des Sohnes Gottes für die Seinen (Gal 2,20; vgl. Eph 5,2.25b) bezieht sich von Einleitung und Gabeworten her vor allem auf das Versöhnungsgeschehen in Passion, Kreuzigung und Auferstehung Jesu. So kann Paulus 1Kor 11,26 auch erklärend ergänzen: »Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn (t7n q2naton toæ kur6ou katagg4llete), bis er kommt.« Damit erübrigen sich die Diskussionen um eine einseitige traditionsgeschichtliche bzw. überlieferungsgeschichtliche Zuordnung des »Herrenmahls«. Fraglos setzen alle vier neutestamentlichen Überlieferungen voraus, dass Jesus diese Gabeworte bei seiner letzten Mahlfeier mit den Jüngern in der Nacht vor seiner Kreuzigung sprach. Fraglos auch handelte es sich nach den Sy­ noptikern bei dieser Feier um das letzte Passamahl, das der irdische Jesus mit seinen Jüngern gehalten hat (Mk 14,12–26 parr.; vgl. Lk 22,15), wobei für die Evangelien wie für Paulus nicht die Passatradition die christliche Deutung des Kreuzesgeschehens begrenzen könnte oder sollte. Vielmehr erhellt umgekehrt die Erfüllung des in der Schrift verheißenen »Neuen Bundes« in Christus den tiefen Sinn der alttestamentlichen Heils- und Rettungserfahrungen. Dass das Johannesevangelium Jesus selbst als das Passalamm beschreibt, widerlegt diese Verbindung von Lebenshingabe Jesu und Passafest nicht, sondern vertieft sie sogar (Joh 1,29.36; 18,28; 19,14.33–36; vgl. 1Kor 5,7).

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Niemand hat im Neuen Testament eindrücklicher als Lukas vor Augen gestellt, dass eben dieses letzte Mahl Jesu vor seiner Kreuzigung zugleich auch in einer Linie zu sehen ist mit den vielfältigen Mahlfeiern Jesu mit seinen Jüngern, die ihrerseits als Gewährung der eschatologischen Gottesgemeinschaft und als Vorwegnahme des verheißenen endzeitlichen Gottesmahls verstanden werden durften (Lk 5,27–32 [par. Mk 2,13–17]; 7,34; 15,1 f.; 19,1–10; vgl. 13,28–30; 14,15–24; 22,29 f.; 24,29–35). Diese eschatologisch gültige Mahlgemeinschaft hat nach Lukas auch der Auferstandene nach seinem Leiden seinen Jüngern neu gewährt und ihnen damit das Geheimnis seiner Person und seines Weges beim »Brotbrechen« erschlossen (Lk 24,13–35; Apg 10,41; vgl. 1,3 f.; V. 4: »beim gemeinsamen Mahl« / sunaliz8menoV). Ob nun in den lukanischen Gemeinden oder in denen des Paulus – das Mahl des Herrn wird im Gedenken an Wirken, Leiden und Auferstehen des Herrn gefeiert und in der freudigen Erwartung der endgültigen und uneingeschränkten himmlischen Gemeinschaft mit ihm, wenn er kommt (1Kor 11,26; Lk 22,16; Apg 1,11). Die das Herrenmahl feiernde Gemeinde lebt also in einer erfüllten Gegenwart, die sowohl an den Heilsereignissen der Vergangenheit partizipiert als auch die schon eröffnete Vollendung in der Zukunft antizipiert – und erfüllt so den Auftrag des »Gedenkens« ihres Herrn, bis er kommt. 23

12. Gottesdienstgemeinde, Gemeinden, Kirche24 Wenden wir uns abschließend der Gottesdienstgemeinde selbst zu. Das Neue Testament unterscheidet noch nicht zwischen »Kirche« und »Gemeinde«, es kennt nur einen Begriff: Ekkle­ 23  Im Unterschied zum Herrenmahl lassen sich die im Neuen Testament vorausgesetzten Taufen nicht so klar dem regelmäßigen sonntäglichen Gottesdienst zuordnen (vgl. zur Taufe: Mt 28,16–20; Mk 16,16; Apg 1,5 [vgl. Lk 24,47]; 2,38; 8,12.36.38; 9,18; 10,44ff.; Röm 6,1–11; 1Kor 1,13ff.; 10,2; 12,13; Gal 3,27–29; Eph 4,5; 5,26; Kol 2,12; Tit 3,5; 1Petr 3,18–22). 24  Vgl. zum Ganzen Hans-Joachim Eckstein, Ein Herr, ein Leib – doch viele Kirchen? Einheit und Vielfalt der ­K irche aus neutestamentlicher Sicht, in: Ders., Kyrios (s. Anm. 9), 103–118.

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sía (§kklhs6a). Ekklesia kann sowohl ­K irche im übergreifenden, überregionalen Sinn 25 bedeuten als auch die Gemeinde vor Ort 26, die sich – fraktioniert in verschiedene Teilgemeinden – zu den Gottesdiensten als Hausgemeinden in Privathäusern 27 versammeln kann. Schon bei Paulus wird die ­Kirche bereits in ihrer vielfältigen Gestalt (1.) als die gesamte ­Kirche Jesu Christi, (2.) als die zusammengefassten Kirchen einer Provinz oder Landschaft, (3.) als die sich aus allen Christen zusammensetzende Kirche / Gemeinde eines Ortes und (4.) als die sich in einem Privathaus zum Gottesdienst versammelnde kleinste Gestalt der ­Kirche in Form einer Hausgemeinde bezeichnet. Die eine ­Kirche Jesu Christi besteht grundsätzlich in der Vielfalt der sich in seinem Namen zum Gottesdienst versammelnden Kirchen und Gemeinden. Schon die kleinste Hausgemeinde ist ­K irche Jesu Christi – und die ­K irche Jesu Christi im umfassenden Sinne ist nicht weniger als die weltweite Einheit aller Berufenen und Heiligen, die den Namen des Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort. Weder wird die eine ­Kirche Jesu Christi erst und ausschließlich durch die Vielzahl der Einzelgemeinden konstituiert, noch ist die kleinste Zelle einer Hausgemeinde unter anderen im Verbund der Ortsgemeinde eine mindere oder untergeordnete Gestalt von Kirche, sondern Ekklesia Christi im Vollsinn des Wortes. Für unsere Themenstellung mag es schon verfremdend – oder auch erhellend – erscheinen, dass sich die frühe ­K irche von Anfang an wohl grundsätzlich vor Ort aus verschiedenen »Hausgemeinden« in Privathäusern (Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2) oder in angemieteten Wohnungen, Räumen oder Häusern zusammensetzte. 28 Hauskirchen – als gesonderte sakrale Räume innerhalb von Privathäusern – oder spezielle Kirchenge25  Vgl. zu ­K irche im überregionalen Sinne: 1Kor 6,4; 12,28; Eph 1,22; 3,10.21; 5,23–32; Kol 1,18.24; vgl. Mt 16,18. 26  Vgl. zu Gemeinde vor Ort: Röm 16,16; 1Kor 1,2; 4,17; 2Kor 1,1; Phil 4,15; 1Thess 1,1. 27  Vgl. zu Hausgemeinden in Privathäusern: Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2. 28  Vgl. Apg 2,46; 5,42; 12,12 und Apg 19,9 den Lehrsaal eines Rhetors Tyrannos.

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bäude als Versammlungsort einer gesamten Ortskirche sind der neutestamentlichen und frühkirchlichen Zeit der beiden ersten Jahrhunderte noch unbekannt. So zählen wir allein für die ­Kirche in Rom gemäß der ausführlichen und namentlichen Grußliste in Röm 16 wohl mehr als sieben Einzelgemeinden29, die als »Geliebte Gottes« und »berufene Heilige« gemeinsam als Ortsgemeinde angesprochen werden (Röm 16,5.10.11.14.15). Nach Mt 18,20 ist die Verheißung Jesu Christi an seine Jünger, dass nicht nur die Gesamtkirche oder die Provinzkirche oder die ­K irche eines gesamten Ortes sich der Gegenwart ihres auferstandenen Herrn in ihrer Mitte gewiss sein darf (§keçve%mi §n m4sˆ aßt>n), sondern schon die kleinste gottesdienstliche Versammlung von »zwei oder drei« Gläubigen, die um Christi willen zusammenkommen. Damit wird vorausgesetzt, dass der als Immanuel – »Gott mit uns« – Verheißene (Mt 1,23: meq} ⁄m>n ( qe8V) und der als Weltenherrscher eingesetzte Auferstandene (Mt 28,18–20: §gÁ meq ´m>n e%mi) schon die kleinste denkbare gottesdienstliche Versammlung in seinem Namen als seine Ekklesia bestimmt (vgl. Mt 16,18; 18,17). Schon und gerade ihr gilt der ermutigende Zuspruch des Christus praesens – des in ihr gegenwärtigen Christus.

29  Vgl. im Einzelnen Peter Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte (WUNT II, 18), Tübingen 1987, 300ff.

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1. Vorbemerkung Wie die Räume aussahen, in denen man Gottesdienst feierte, ist für die ersten drei Jahrhunderte schlicht unbekannt. Das gilt auch für Zentren wie Rom, Alexandria, Antiochia und Karthago1. Der in der Sekundärliteratur regelmäßig herangezogene Fund einer Hauskirche in Dura-Europos kann nicht als repräsentativ gelten. Es handelt sich um einen Einzelfall in einem Gebiet, das nur zeitweise zum Römischen Reich gehörte. Archäologisch lässt sich für das 3. Jh. zwar die Märtyrerverehrung nachweisen, etwa die Verehrung von Petrus in Rom (sowohl im Vatikan als auch in den Katakomben von San Sebastiano), doch gottesdienstliche Räume sind aus der Zeit vor 300 nicht greifbar. Dass es Gottesdiensträume ab dem 3. Jh. gegeben hat, steht allerdings außer Frage. Das zeigen nicht nur die literarischen Zeugnisse, sondern auch die Tatsache, dass Diokletian bei der letzten großen Christenverfolgung gezielt auch die Zerstörung der Kirchen anordnete2. Konstantin hat nach 312 (im Westen) bzw. 324 (im Osten) eine weitgehende Restitution der Kirchengüter angeordnet3, doch ist unklar, inwiefern hierbei wirklich ältere Baustrukturen wiederhergestellt wurden. Auch das gottesdienstliche Geschehen der ersten drei Jahrhunderte ist nur dürftig bezeugt. Es gibt nur wenige, verstreute Hinweise bei Autoren dieser Zeit sowie Überlieferungstraditionen 1  Für einzelne römische Kirchen lässt sich ein Vorgängerbau aus der Zeit vor 300 diskutieren, vgl. Hugo Brandenburg, Die frühchristlichen Kirchen Roms vom 4. bis zum 7. Jh., Regensburg 22005, 13–15. 2  So jedenfalls berichtet es Euseb, Historia ecclesiastica VIII 2,4. 3  Vgl. etwa Eusebius, Vita Constantini II 39f.; 46,3.

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ab dem 4. Jh., in denen älteres Material enthalten sein dürfte. Zu einem geschlossenen Bild lassen sich diese Informationen nicht zusammenfügen. Ab dem 4. Jh. fließt der Strom archäologischer Kenntnisse und literarisch detaillierter Beschreibungen der Gottesdienste wesentlich breiter. Im Laufe des 4. Jhs. wurden auch Predigten zunehmend schriftlich fixiert. Während von Athanasius noch keine Predigten überliefert sind, ist dies für eine Reihe von Theologen Ende des 4. Jhs. bereits anders, manche Autoren wie Gregor von Nazianz oder Johannes Chrysostomus haben vorwiegend als Prediger gewirkt. Im 5. Jh. hat sich eine breite, liturgisch wie homiletisch ausdifferenzierte Gottesdienstpraxis entwickelt, die in das Mittelalter ausstrahlte und deren Grundstruktur Gottesdienste bis heute prägt.

2. Nachrichten über den Gottesdienst im 2. und 3. Jh. Einer der frühesten Texte, die über gottesdienstliche Handlungen Auskunft geben, ist die Didache (um 100 n.Chr.?). Im Hinblick auf die Taufe ist der Text der früheste Beleg dafür, dass Mt 28,19 liturgisch umgesetzt wurde, indem »auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« getauft wurde (Did 7,1). Als Gebet ist das Vaterunser (schon mit der Doxologie »Denn Dein ist [das Reich und] die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit«) vorgesehen, das dreimal am Tag gebetet werden soll (Did 8,2). Für die Eucharistie4 enthält die Didache ein Dankgebet über dem Becher, eines über dem Brot und eines nach der Sättigung (Did 10,2–6). Hieran schließt ein kurzes Gebet zum Salböl an (Did 10,8), wobei die Verwendung des Salböls unklar ist (vielleicht wurde es für Krankensalbungen benutzt). Die Anweisung, den Propheten im Anschluss an das Dankgebet nach der Sättigung ein freies und 4  Griech.: eßcarist6a / eucharistía, wörtlich. Danksagung, im Neuen Testa­ment noch untechnisch, doch auch im Zusammenhang mit dem Herrenmahl gebraucht, vgl. Jens Schröter, Das Abendmahl (SBS 210), Stuttgart 2006, 64.

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beliebig langes Dankgebet einzuräumen (Did 10,7), lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass der Gottesdienst charismatische und improvisierte Elemente enthielt. Die Gebete aus Did 9 f. stehen jüdischer Gebetssprache nahe5 und setzen zwei inhaltliche Akzente: Zum einen ist die (sonntägliche) Mahlfeier der Dank für die durch Jesus Christus geschenkten Gaben der Erkenntnis, des Glaubens und der Unsterblichkeit (vgl. Did 10,2); Jesus Christus ist dabei als paçV qeoæ (pais theu, Kind Gottes, d.h. Knecht Gottes) derjenige, in dem sich die messianischen Verheißungen erfüllt haben. Zum anderen ist die Gemeinde die Gemeinschaft derer, die Gott von allen Enden der Welt zusammensammelt als sein eschatologisches Reich (vgl. Did 9,4; 10,5); dies meint die Getauften, auf die die Teilnahme an diesem Mahl ausdrücklich eingeschränkt ist (vgl. Did 9,5, vgl. Justin, Apologia I 66,1). Inwiefern die an anderer Stelle genannten Ämter der »Bischöfe und Diakonen«6 auch gottesdienstliche Funktionen hatten, ist ebenso unklar wie die Frage, ob es Schriftlesungen gegeben hat. Beides ist dann bei Justin belegt (vor 168 n.Chr.): bei ihm wird die Mahlfeier von einem Vorsteher (proestÁV / proestos) geleitet, im Gottesdienst spielen Schriftlesungen eine zentrale Rolle7. Justin lässt erkennen, dass die Taufe als eigener Gottesdienst gestaltet und auf den Namen des trinitarischen Gottes vollzogen wurde (Apologia I 61,3.10.13). Im Anschluss an die Taufe wurde der Getaufte in die Gemeinde, zu den »Brüdern« geführt, wo Gebete folgten und man sich anschließend mit dem Kuss grüßte (Apologia I 65,1 f.). Dann wurden dem Vorsteher Brot und zwei Kelche (mit Wasser und Wein) gereicht, worüber dieser ein Gebet sprach, das aus einem trinitarischen Lobpreis und der Danksagung (eßcarist6a / eucharistía) bestand. Die Gemeinde antwortete mit »Amen«, woraufhin die Diakone Brot und Wein austeilten. Justin belegt ausdrücklich, dass diese Handlung insgesamt 5  Vgl. Christoph Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen, Tübingen 2007, 163f. 6  Griech.: §p6skopoi ka5 di2konoi / epískopoi kai diákonoi, »Aufseher und Diener« Did 15,1; Bischof meint hier noch dasselbe wie »Ältester«, setzt also ein mehrköpfiges Leitungsgremium voraus. 7  Vgl. Markschies, Theologie (s. Anm. 5), 166–168.

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als Eucharistie bezeichnet wurde und man Brot und Wein nicht als gewöhnliche Nahrungsmittel verstand. Justin gibt eine interessante theologische Deutung: Genauso wie Christus durch das Gotteswort (l8goV qeoæ / lógos theu) Fleisch und Blut geworden ist, genauso wurde durch das Gebetswort die Speise (die ja durch die Verdauung zu Fleisch und Blut wird) Fleisch und Blut Christi. Justin denkt wohl daran, dass die Verwandlung von eucharistischem Brot und Wein nicht einfach nur zu normalem Fleisch und Blut führt, sondern – gleichsam als Wirkung des Gebetswortes – zu Fleisch und Blut Christi, was gleichsam die Einverleibung in die ­Kirche als den Leib Christi bewirkt8. Da Justin unmittelbar anschließend eine kurze Fassung der Einsetzungsworte gibt (Apologia I 66,3), lassen sich unter dem Gebetswort durchaus die Einsetzungsworte verstehen9. Diese Nachrichten über den Taufgottesdienst lassen sich mit den Informationen, die Justin zum Sonntagsgottesdienst gibt, gut verbinden. Für die sonntägliche Zusammenkunft (so die Bezeichnung des Gottesdienstes, griech. sun4leusiV / synéleusis) belegt Justin die Lesung aus den Apostelschriften (laut Apologia I 66,3 sind das die Evangelien, wohl auch andere Teile des Neuen Testaments) und den Propheten (womit wohl auch die Schriften des Mose, also der Pentateuch, und von David und Salomo, also die Weisheitschriften und Psalmen, gemeint sein dürften). Anschließend erfolgte die Predigt durch den Vorsteher, für die Justin eine paränetische Ausrichtung benennt (Apologia I 67,3 f.). Es folgen Gebete, zu denen alle aufstehen, und dann die Eucharistie, die genauso erfolgt, wie bereits bei dem Taufgottesdienst beschrieben (Apologia I 67,4 f.). Anschließend erfolgt eine Kollekte, die für alle eingesetzt wird, die in Not sind (Apologia I 67,6 f.). Der Bericht Justins zeigt für den Sonntagsgottesdienst die klare Abfolge von Wortteil und Eucharistie. Die Verbreitung dieser Struktur und die genauere Ausgestaltung in der Zeit um 200 ist ungewiss. Immerhin spricht aber auch Tertullian vom Gottesdienst als »Zusammenkunft und Ver8  9 

Vgl. aaO., 168f. Vgl. aaO., 169, vgl. aber Schröter, Abendmahl (s. Anm. 4), 85.

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sammlung« (coetus et congregatio) und nennt Gebete und Lesungen aus den »göttlichen Schriften« (Tertullian, Apologeticum 39,2f.). Tertullian hebt hervor, dass im gottesdienstlichen Gebet u.a. auch für die Kaiser, für die Ämter, für den Zustand der Welt gebetet werde und nennt im Zusammenhang der Lesungen auch Ermunterungen und Zurechtweisungen (ebd. 39,2–4). Ebenso nennt Tertullian auch die »Älteren« (seniores), die der Gemeinde vorstehen, und eine Kollekte, die für Bedürftige eingesetzt wird (ebd. 39,5–6)10. Er betont den gesitteten und maßvollen Charakter des Sättigungsmahles, das als Agape bezeichnet wird (ebd. 39,16). Dem Mahl gehen nicht nur Gebete voran, sondern Gebete, Schriftlesungen und freie Auslegungen unterbrechen die Mahlzeit auch, was ausschweifende Exzesse von vornherein gar nicht zulasse (ebd. 39,16–19). Nicht ganz deutlich ist, ob die Zusammenkunft mit Gebeten und Schriftlesungen mit der Mahlfeier am Sonntagabend identisch ist. Daneben gab es jedenfalls auch eigene Taufgottesdienste, die bereits deutlich ausdifferenziert waren. Ihnen gingen Fasten und besondere Nachtgebete (De baptismo 20,1) voran und sie umfassten die trinitarische Taufhandlung, die Salbung und die den Geist verleihende Handauflegung und Segnung (ebd. 6,2–8,1). Leider sind die Informationen über den Gottesdienst im 3. Jh. fast noch spärlicher und unsicherer als die für das 2. Jh. So sind insbesondere zwei Fragen schwer zu beantworten, nämlich a) ob der christliche Gottesdienst in einigen Hinsichten an Rituale der nichtchristlichen Umwelt angepasst wurde, und b) welche Rolle die Gestaltung von Gottesdiensten in der Identitätsfindung und Abgrenzung des Christentums gespielt hat. Für die erstere Frage könnte man etwa auf die Auffassung der Eucharistie als »Opfer« verweisen und hierin eine Übernahme nichtchristlicher Ritualvorstellungen sehen wollen. So spricht etwa Cyprian davon, dass der Kelch »dargebracht« (offerre / darbringen) wird, die Deutung als »Gedächtnis« (commemoratio) verbindet sich mit einer Deutung als »Opfer« (ep. 63,2). Entspre10  Vgl. Henrike Maria Zilling, Tertullian. Untertan Gottes und des Kaisers, Paderborn 2004, 130–132.

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chend kann Cyprian die Eucharistie als Tun deuten, das dem Tun Christi entspricht: Musste Christus seine Darbringung am Abend vollbringen (weil damit der Abend der Welt gemeint ist), so bringen die Christen das Opfer am Morgen dar, weil sie die Auferstehung feiern. Der Begriff »Opfer« (sacrificium) wird dabei wie selbstverständlich gebraucht (ep. 63,16 f.). Doch könnte Cyprian hiermit auch nur die Deutungslinie aufgegriffen haben, die in Eph 5,2 angelegt und in Hebr 10,1–14 entwickelt ist, ohne dass man hierin ein Stück »Inkulturation« des Christentums zu sehen hätte11. Für die zweite Frage kann man sich gut vorstellen, dass der Gottesdienst ein wesentliches Moment der Festigung christlicher Gruppen »nach innen« darstellte, durch den zugleich die Abgrenzung gegen andere Gruppen deutlich wurde. Zum einen grenzten sich die Getauften, die allein zur Eucharistiefeier zugelassen waren, durch ihre Teilnahme an Gottesdiensten von allen Nichtgetauften ab, zum anderen dürfte der Gottesdienst aber auch als Abgrenzung gegen Gruppen fungiert haben, die ebenfalls beanspruchten, das wahre Christentum zu sein, etwa Markioniten, Gnostiker oder Montanisten. Kirchengemeinschaft wurde als gottesdienstliche Gemeinschaft etabliert, Trennung zwischen verschiedenen Formen des Christentums wurde als Trennung der Gottesdienstgemeinschaften vollzogen. Es liegt nahe zu vermuten, dass diese Identitätsfindung und -abgrenzung auch die Liturgie beeinflusst hat und hierbei eine Entwicklung »von der Freiheit zum Formular« begünstigt hat. Allerdings muss es angesichts des dürftigen Quellenbefundes bei Vermutungen bleiben. Natürlich wird man sich für die Gemeinden, die sich auf Markion beriefen, eine eigene Form der Schriftlesungen vorstellen müssen, für die montanistischen Gemeinden eine Integration charismatisch-prophetischer Elemente vorstellen können, doch welche Veränderungen sich im einzelnen etwa für Taufe oder die Feier der Eucharistie ergaben und, ob es eventuell noch zusätzliche Rituale gegeben hat, liegt im Dunkeln. Für die Gnosis lässt sich diskutieren, ob sich in einem der Nag Hammadi-Codices nicht Teile einer valen11 

Vgl. Markschies, Theologie (s. Anm. 5), 172f.

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tinianischen Liturgie finden12. Allerdings zeigen die Stücke aus Nag Hammadi Codex XI,2 dann nur eine besondere Akzentuierung, nämlich den Gedanken, dass die Teilhabe an der Eucharistie Vollkommenheit und Reinheit voraussetzt. Nachrichten über spezifisch valentinianische Sakramente und Rituale sind umstritten. Insofern bleibt vor allem undeutlich, wie sich parallele Entwicklungen, etwa die Entwicklung des kirchlichen Amts (hier insbesondere der Führung der Ortsgemeinde durch einen Bischof im Monepiskopat) genau zu der Entwicklung der Liturgie verhalten hat. Es ist nicht unwahrscheinlich anzunehmen, dass das bei Justin erwähnte Amt eines Vorstehers in der Liturgie (gleichsam eines Sprechers für das kollegiale Leitungsteam der Ältesten) hier die wesentliche Weichenstellung war, aus der sich der Monepiskopat entwickelt hat. Insofern ist es vielleicht auch kein Zufall, dass in dem Material, das man als Traditio apostolica (Apostolische Überlieferung) bezeichnet, die Bischofsweihe ausgerechnet damit verbunden ist, dass der neue Bischof als erster Eucharistie feiert. Die ältere communis opinio, wonach die Traditio apostolica in das frühe 3. Jh. und nach Rom gehört, ist überholt. Es handelt sich um voneinander erheblich abweichende Texte in lateinischer, koptischer, arabischer und äthiopischer Sprache, denen eine ältere griechische Tradition zugrunde gelegen haben dürfte, die später rezipiert worden ist, etwa in den sogenannten Apostolischen Konstitutionen Buch VIII13. Die Verbindung dieses Materials mit Hippolyt († 235) beruht auf einer Liste der Werke Hippolyts, in der u.a. der Titel Äar2dosiV !postolik• (Paradosis apostolike / Apostolische Überlieferung = lat. Traditio apostolica) aufgeführt wird, was man mit der angenommenen Urform des späteren Materials identifiziert hat14. Selbst wenn diese Identifikation zutreffend sein sollte, ist unsicher, ob und ggf. wie

12  Vgl. Einar Thomassen, The Spiritual Seed (NHMS 60), Leiden 2006, 333–394 (zu NHC XI bes. 355–360), 13  Vgl. die Zusammenstellung des Materials (leider nur in engl. Übersetzung) in Paul F. Bradshaw / Maxwell E. Johnson / L. Edward Philipps, The Apostolic Tradition (Hermeneia), Minneapolis 2002. 14  Immerhin heißt aber einer der späteren Ordnungstexte »Canones Hip-

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sehr das später tradierte Material gegenüber der Urform verändert ist. Allerdings ist deutlich, dass einige Grundstrukturen durchaus in das 3. Jh. zurückreichen könnten, weil sie sich mit anderen Texten (etwa der Barcelona-Anaphora oder dem Euchologium des Serapion) vergleichen lassen. Für die Eucharistie, die der Bischof nach seiner Weihe feiern soll, gibt die lateinische Fassung der sogenannten Traditio apostolica die folgende Struktur vor. Einleitungsdialog Hochgebet, bestehend aus: –  Danksagung incl. Anamnese und Einsetzungsworten –  Darbringung –  Epiklese –  Doxologie

Die zentrale Stellung des Hochgebets und damit des Zelebranten sticht ebenso klar hervor wie die zentrale Struktur von Anamnese (der erinnernden Vergegenwärtigung der Heilstatsachen) und Epiklese (der Bitte um Herabsendung des Heiligen Geistes auf die Gaben)15. Beeindruckend ist, dass bereits in diesem Text der Einleitungsdialog auftaucht, der in West und Ost die meisten Abendmahlsliturgien eröffnet und sich bis in die Meßliturgie der Gegenwart erhalten hat: Dominusvobiscum.

Der Herr sei mit Euch.

Et cum spiritu tuo. Sursum corda. Habemus ad dominum. Gratias agamus domino. Dignum et iustum est.

Und mit deinem Geist. Die Herzen in die Höhe. Wir erheben sie zum Herren. Lasst uns danksagen dem Herrn. Das ist würdig und recht.

polyti«, vgl. Bradshaw / Johnson / Philipps, Tradition (s. Anm. 13), 2; Alan Brent, Hippolytus and the Roman Church in the Third Century (SVigChr 31), Leiden 1995. 15  Vgl. Markschies, Theologie (s. Anm. 5), 181.

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Die Art und Weise, wie dieser Eingangsdialog16 etabliert worden ist, bleibt im Dunkeln, doch zeigt der Text, dass es schon früh einige Elemente der Feier des Herrenmahls gegeben hat, die neben der regionalen Ausformung überregional verbreitet war. Dies passt zu dem Anspruch des Christentums, die eine universale Gottesdienstgemeinschaft zu sein. Ähnlich verbreitete Elemente sind etwa das Halleluja, aber auch schlichtweg das Amen. Die Traditio apostolica sieht auffälligerweise kein Sanctus (Heilig) vor. Damit ist eine zentrale Frage der Liturgiegeschichte angesprochen, nämlich, wann das Sanctus in die Eucharistieliturgie eingeführt wurde (vgl. dazu unten). Für die Geschichte der Predigt im 2. und 3. Jh. sind wir auf wenige Texte angewiesen. Aus dem 2. Jh. ist neben dem sogenannten Zweiten Clemensbrief, der zur Verlesung als Predigt gedacht war, besonders die Passahhomilie des Melito von Sardes zu nennen. In beiden Fällen handelt es sich um thematisch orientierte Predigten. Demgegenüber scheint sich im 3. Jh. die textbezogene Auslegung entwickelt zu haben. Dies gilt schon für wenige Predigten, die unter dem Namen Hippolyts überliefert sind, eventuell liegen auch seinen Kommentaren zum Danielbuch und zum Hohelied bereits Predigten zugrunde, die homilienartig am Text entlang gingen. Deutlich greifbar ist dann die Predigttätigkeit des Origenes in Caesarea17. Seine Predigten wurden durch Tachygraphen (Schnellschreiber) mitgeschrieben und danach überarbeitet. Im griechischen Original sind allerdings nur wenige Homilien erhalten (zum Jeremiabuch), da Origenes im 6. Jh. verurteilt und seine Werke danach nur selten abgeschrieben wurden. Immerhin sind für den Großteil der Homilien lateinische Übersetzungen erhalten. Origenes hat als Presbyter im Auftrag des Bischofs gepredigt, was im griechischen Osten wohl allgemein üblich, im lateinischen Westen im 3. und 4. Jh. jedoch unüblich war (erst Augustin sollte dies wieder ändern). Ein erst 1941 gefundenes Fragment aus Tura 16  Er begegnet bei Cyprian, Augustin, aber auch in den östlichen Liturgien, so bei Kyrill von Jerusalem, Theodor von Mopsuestia etc. 17  Vgl. Manlio Simonetti, Origene esegeta a la sua tradizione, Brescia 2004, 71–80.

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in Ägypten belegt, dass der Bischof erst während des Gottesdienstes den Gegenstand der Predigt bestimmte. Daneben gab es aber auch Reihenpredigten, die sich an ganzen biblischen Büchern abarbeiteten. Dies setzt auch die Einführung von Gottesdiensten an Wochentagen voraus, mindestens am Mittwoch und Freitag. Eine festgelegte Perikopenordnung scheint es in dieser Zeit noch nicht gegeben zu haben18. Da die Bildung des neutestamentlichen Kanons in dieser Zeit noch nicht abgeschlossen war, ist außerdem damit zu rechnen, dass an verschiedenen Orten neben Schriften aus dem Neuen Testament hin und wieder auch weitere Schriften, etwa apokryphe Evangelien und Apostelakten, Texte wie der Barnabasbrief oder der Hirt des Hermas, gelesen worden sein mögen. Hinzu kamen insbesondere noch Märtyrerpassionen. Für den lateinischen Westen ist etwa der gottesdienstliche Gebrauch der Passio Perpetuae et Felicitatis (Leidensbericht der Perpetua und Felicitas) wahrscheinlich. In dieser Hinsicht wird man mit einer relativ großen Bandbreite und regionalen Ausprägungen rechnen müssen, die erst im 4. Jh. nach und nach vereinheitlicht wurde.

3. Der Gottesdienst im 4. und 5. Jh. Im 4. Jh. änderten sich die Rahmenbedingungen christlicher Gottesdienste erheblich. Zwar bedeutete die sogenannte Konstantinische Wende zunächst nur die Begünstigung des Christentums neben anderen Religionen. Konstantin († 337) wollte längere Zeit die Verehrung des Sol Invictus (Unbesiegbaren Sonnengottes) als eine Art übergreifenden Einheitskult etablieren19. Jedenfalls blieb die alte römische Religion bis weit in das 5. Jh. hinein eine wichtige Größe im Römischen Reich. Ab Theodosius I. wurde die offizielle Haltung des Kaiserhofes eindeutiger. Dies wirkte sich ab dem 5. Jh. je länger, desto stärker aus und traf im West18  Vgl. Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen (WUNT II/59), Tübingen 1994, 430–438. 19  Vgl. Martin Wallraff, Christus verus Sol (JAC.E 32), Münster 2001, 127–137.

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teil und im Ostteil des Römischen Reiches auf ganz verschiedene Bedingungen. Im Westen zerbrachen in dieser Zeit die Strukturen des Römischen Reiches und wurden durch die sogenannten gentilen Reiche ersetzt, in denen germanische gentes (Sippen, Gruppen bzw. Stämme) angesiedelt wurden (bis dann um 476 die letzten weströmischen Kaiser abgesetzt wurden; das Konzept einer »Völkerwanderung« entspricht nicht mehr dem heutigen Forschungsstand). Im Osten ergab sich eine eigene Entwicklung, die man mit guten Gründen als byzantinische Kultur verstehen kann. Sie erreichte im 6. Jh. unter den Kaisern Anastasius und Justinian einen Höhepunkt. Die Christianisierung der Städte ist ein Ergebnis des 5. und insbesondere des 6. Jh. Im 4. Jh. dürfte das Christentum zunächst durch vereinzelte Kirchenbauten punktuell in Erscheinung getreten sein. Einige bedeutende Städte wie Rom, Mailand oder Karthago entwickelten im Laufe des 4. Jhs. eine ausgeprägte Kirchenlandschaft20. In Rom wurden an fast allen großen Ausfallstraßen größere Kirchen gebaut, innerhalb der Stadt ist besonders der vom Kaiser extra einberaumte Laterankomplex zu nennen, sonst blieb es innerhalb der Stadtmauern bei kleinen Ortskirchen (den sogenannten tituli, von denen für das 4. Jh. immerhin ca. 25 belegt sind)21. Im Fall Mailands wurden die Kirchenbauten sogar so angelegt, dass Ambrosius sie theologisch als Kreuz deuten konnte. Eine besondere Präsenz konnte das Christentum auch in Karthago entwickeln, wo innerhalb wie außerhalb der Stadtmauern ein breites Spek­ trum an Kirchenbauten entstand. Neben den architektonischen Bedingungen des Gottesdienstes ist die Zeitrhythmisierung zu nennen. Schon unabhängig vom Christentum hatte sich im Römischen Reich im 2. Jh. n.Chr. die Sieben-Tage-Woche gegen die Acht-Tage-Woche durchgesetzt. Das Sonntagsgesetz Kaiser Konstantins war noch nicht ausdrücklich christlich, kam aber dem Christentum, das traditio20  Vgl. zu Rom und Mailand Martin Wallraff, Rom und Mailand in den Jahren 383–388, in: Volker Henning Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 27–36, zu Karthago vgl. Miriam Jetter, Karthago zur Zeit Augustins, in: AaO., 44–47. 21  Vgl. Brandenburg, Kirchen (s. Anm. 1), 20–113.

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nell am Sonntag den zentralen Gemeindegottesdienst hielt, sehr gelegen 22. Hinzu kamen die Kaiserfeste, jetzt besonders die Gedenktage an Konstantin und seine Söhne, das Neujahrsfest (die sogenannten Kalenden) und diverse regionale Volksfeste. Diese Jahresrhythmisierung wurde kirchlicherseits durch zwei Elemente bereichert: a) Der Osterzyklus mit dem jeweils neu festzusetzenden Ostertermin strukturierte weite Teile des Frühjahrs (während sich Weihnachten erst gegen Ende des 4. Jh. entwickelte, wohl weitgehend unabhängig von dem Sonnenwendfest am 25. Dezember). b) Es entwickelten sich regionale Gedenktage, besonders an Märtyrer und verstorbene Bischöfe. Damit steht die Grundstruktur des Kirchenjahres fest und wird mehr und mehr auch zu einem öffentlichen Zeitrhythmus23. Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Gottesdienste sind enorm. Das 4. Jh. bringt eine Fülle von Liturgien hervor. Eine gemeinsame Urliturgie hat es nie gegeben, sehr wohl aber einige weit verbreitete Grundelemente. Für die Entwicklung der Liturgiestämme ist besonders 1. der von Antiochien ausgehende (oder auch westsyrische) Stamm prägend geworden, der a) die Jerusalemer Liturgie beeinflusst hat, wie sie sich in den Katechesen des Kyrill von Jerusalem findet und sich später zur Jakobusliturgie weiterentwickelt hat, b) verschiedene Liturgien in Ägypten beeinflusst hat (so besonders die Basiliusliturgie) und c) die Grundlage der späteren byzantinischen Liturgie wurde, aus der sich dann die Chrysostomusliturgie entwickelt hat. Davon zu unterscheiden ist 2. der alexandrinische Liturgiestamm, der sich dann später als Markus- bzw. Kyrillusliturgie weiterentwickelt hat. Hinzu kommen 3. die ostsyrischen Liturgien mit ihrer ganz eigenen Entwicklung24. 22 

Vgl. Wallraff, Christus (s. Anm. 19), 96–109. Vgl. Volker Henning Drecoll, Römischer Militärkalender und christlicher Heiligenkalender, in: Andreas Holzem (Hg.), Krieg und Christentum (Krieg in der Geschichte 50), Paderborn 2009, 212–233. 24  Einen Überblick über die wichtigsten Texte gibt Anton Hänggi / Irmgard Pahl (Hg.), Prex Eucharistica (Spicilegium Friburgense 12), Fribourg 31998, zu vergleichen ist sodann insbesondere die Zusammenstellung von Frank Edward Brightman, Liturgies. Eastern and Western. Vol. 1. Eastern Liturgies, Oxford 1896 [Nachdruck 1965, nicht mehr erschienen]. 23 

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Die ersten beiden Liturgiestämme weisen einige Gemeinsamkeiten auf, so dass ihr Unterschied in der Ausgestaltung der Gebete, insbesondere aber in der Reihenfolge der Grundelemente besteht. Als Übereinstimmung ist etwa der bereits erwähnte Eingangsdialog zu nennen. Besondere Bedeutung hat dann für die Binnengliederung der Hochgebete das Sanctus. Dabei ist in der Forschung heftig umstritten, ob es eher auf den antiochenischen oder eher auf den alexandrinischen Stamm zurückzuführen ist. Je nach dem, wie man sich in dieser Frage entscheidet, wird man in einigen Zeugen des jeweils anderen Stamms das Sanctus erst als spätere Einfügung bzw. Anpassung auffassen. Das Sanctus hat deswegen besondere Bedeutung, da es das Hochgebet deutlich strukturiert. Für den Vergleich der Liturgien ist z.B. die Frage wichtig, ob die Fürbitten im Ante-Sanctus auftauchen, ganz am Anfang des eucharistischen Hochgebets (so besonders einige Texte des alexandrinischen Stamms) oder erst im Post-Sanctus, genauer: nach der Epiklese und unmittelbar vor der Doxologie (so in Liturgien aus dem antiochenischen Stamm). Allerdings ist die Unterscheidung der drei Liturgiestämme für das 4. Jh. mit erheblichen methodischen und historischen Pro­ blemen belastet, weil man sich auf kürzere, teilweise schlecht datierbare Texte und Fragmente beziehen muss. Besonders Ägypten scheint ein Schmelztiegel unterschiedlichster liturgischer Traditionen gewesen zu sein. Hier finden sich neben den frühen Formen der Markus- bzw. Kyrillus-Liturgie, die schon in Papyrusfragmenten greifbar sind25, also Belegen für den alexandrinischen Stamm, auch Texte wie die Basiliusliturgie oder das Euchologium des Serapion, die eher dem antiochenischen Stamm zuzurechnen sind. Die Basiliusliturgie ist das Paradebeispiel für eine Wechselwirkung zwischen den Liturgiestämmen, denn sie existiert in diversen Sprachen und Versionen 26, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen, a) die sogenannte »ägyptische Rezension«, und b) 25  Vgl. Jürgen Hammerstaedt, Griechische Anaphorenfragmente aus Ägypten und Nubien (Papyrologica Coloniensia 28), Opladen 1999. 26  Vgl. bes. Gabriele Winkler, Die Basilius-Anaphora (Anapho­rae orientales 2), Rom 2005, 1–37 (bes. 13: Übersicht für Engberdings Hypothese). Mit einem hohen Anteil flexibler Ausgestaltung der Liturgie im

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eine Gruppe weiterer Rezensionen, zu der die ältere armenische Rezension ebenso zu rechnen ist wie die gemeinsame Wurzel für die syrische und die byzantinische Rezension. Ausgerechnet diese wichtige Liturgie des antiochenischen Stammes ist also nicht ohne die ägyptische Bezeugung untersuchbar, und schlimmer noch: diese scheint an der einen oder anderen Stelle durchaus auch ägyptische Regionaltraditionen integriert zu haben. Die älteren Texte, die zum alexandrinischen Liturgiestamm gehören, sind auch deswegen interessant, weil es einige auffällige Berührungen zur römischen Tradition gibt. So ist das Euchologium des Serapion ägyptischer Herkunft, doch fragt sich, ob das hier auftauchende Sanctus ursprünglich ist und wieso die Fürbitten nach der Epiklese angeordnet sind (in beiden Hinsichten könnte eine nachträgliche Adaption von Traditionen aus dem antiochenischen Stamm vorliegen)27, zugleich wird die Epiklese auf den Logos, nicht – wie sonst – auf den Geist bezogen 28, was wiederum auch in Zeugen für die römische Liturgie begegnet. Auch hier ist der Befund nicht eindeutig. Insofern ist die Rekonstruktion von distinkten Liturgiestämmen eher eine historiographische Konstruktion, um das vielfältige Material zu ordnen und zu vergleichen. Im Einzelnen wird man die Verzahnung der Entwicklungen und den hohen Veränderungsgrad der Texte beachten müssen. Als Beispiel für eine Liturgie des antiochenischen Stammes sei hier die genannt, die Kyrill von Jerusalem erläutert29. Für die Liturgie des Herrenmahls setzt er folgenden Ablauf voraus30: 4. Jh. rechnet Achim Budde, Die ägyptische Basilios-Anaphora (JThF 7), Münster 2004.­ 27  Vgl. Markschies, Theologie (s. Anm. 5), 155.196f. Vgl. Maxwell E. Johnson, The Prayers of Sarapion of Thmuis (OCA 249), Rom 1995, der eine Urfassung zu rekonstruieren versucht. 28  Vgl. Johnson, Prayers (s. Anm. 27), 233–253. 29  Damit ließe sich der Ablauf der Markusliturgie vergleichen, vgl. dazu Hänggi / Pahl, Prex Eucharistica (s. Anm. 24), 101–127, vgl. Hammer­ staedt, Anaphorenfragmente (s. Anm. 25), 12f.; Brightman, Liturgies (s. Anm. 24), 135–140. 30  Vgl. Georg Röwekamp, Einleitung, in: Cyril von Jerusalem. Mystagogicae Catecheses. Mystagogische Katechesen (Fontes Christiani 7), Freiburg 1992, 1–91, hier 44–47.

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Bischof und Priester waschen die Hände Friedenskuss Hochgebet: – – – – –

Eingangsdialog (Die Herzen in die Höhe …) Praefatio mit Anamnese Sanctus Epiklese Fürbitten

Communio: – Vaterunser – Einladung: t1 ¢gia toçV ág6oiV e≈V ¢gioV, e≈V k0rioV }IhsoæV Crist8V Ge0sasqe ka5 √dete ¸ti crhst7V ( K0rioV. (Ps 33,9 LXX)

Ta hágia tois hagíois.

Das Heilige den Heiligen.

Heis hágios, heis Kýrios Einer ist heilig, einer ist Jesus Christós. Herr: Jesus Christus. Geúsaste kai ídete hóti chrestòs ho Kýrios.

Schmeckt und seht, dass freundlich ist der Herr (Ps 34,9)

– Austeilung (Die Linke hält die Rechte, die das Brot empfängt und »Amen« sagt, der Kelch wird mit »Amen« empfangen, ohne angefasst zu werden.)

Auffällig ist das Fehlen der Einsetzungsworte, zumal sie in der 4. Mystagogischen Katechese ausführlich erläutert werden. Das hat zu gegensätzlichen Vermutungen geführt: Entweder sind die Einsetzungsworte einfach Teil eines Gebetes gewesen (etwa der Epiklese), die ja nicht in ihrem Wortlaut mitgeteilt werden, oder sie fehlten tatsächlich, und die 4. Mystagogische Katechese ist hinzugefügt worden, um (nachträglich?) den theologischen Sinn der Eucharistie noch genauer zu erläutern. Für die westliche Liturgie ist die Quellensituation deutlich schlechter, für die Entstehung der römischen Messliturgie schlicht katastrophal. Neben Hinweisen bei Innozenz I. und im Liber pontificalis31 ist der Ablauf der römischen Messliturgie erst 31  Vgl. Bryan D. Spinks, The Roman Canon Missae, in: Albert ­Gerhards / Heinzgerd Brakmann / Martin Klöckener (Hg.), Prex

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im frühen Mittelalter greifbar, so besonders in den sogenannten Sacramentarien, die für einzelne Stücke der Messliturgie tagesspezifische Ausformungen enthalten. Das älteste Sacramentarium ist das sogenannte Sacramentarium Leonianum aus dem 6. Jh., das ältere Gebetstexte enthält. Leider bezeugt aber dieses älteste Sacramentarium keinen geschlossenen liturgischen Ablauf einer Messe. Dies ist leider auch für Karthago32 und Mailand nicht anders. Zwar erwähnt Ambrosius in De sacramentis (Über die Sakramente) die Einsetzungsworte33 und greift wenig später Gebetstexte auf, die Teilen des später bezeugten Hochgebets nahestehen (dem Unde et memores und dem Supra quae), doch lässt sich hieraus kein Ablauf einer mailändischen Messliturgie ableiten34. Das ändert sich auch durch die zusätzliche Berücksichtigung weiterer Hinweise nicht. So belegt etwa ein Fragment (homöischer Provenienz) einen Präfationstext, der mit Dignum et iustum est (Das ist würdig und recht) beginnt35. Ein pseudambrosianischer Text belegt, dass das Sanctus im Westen erst allmählich eingeführt wurde36 (bei Augustin fehlt es durchgängig). Für die Einordnung solcher Hinweise erweist es sich als fatal, dass weitgehend unklar ist, wie stark fixiert die einzelnen Gebetstexte im Westen im 4. Jh. noch waren. Aus Nordafrika sind erst ab dem Konzil von Hippo 393 (can. 21) Regelungen bekannt, die eine Festlegung auf die approbierten Gebetstexte verlangen37. Eucha­r istica. Volumen III. Studia (Spicilegium Friburgense 42), Fribourg 2005, 129–143, hier 135f. 32  Vgl. Martin Klöckener, Das eucharistische Hochgebet in der nordafrikanischen Liturgie der christlichen Spätantike, in: Gerhards / Brakmann / Klöckener, Prexeucha­ristica (s. Anm. 31), 43–128. 33  Ambrosius, De sacramentis 4,21–27, vgl. Josef Schmitz, Einleitung, in: Ambrosius. De sacramentis. De mysteriis. Über die Sakramente. Über die Mysterien, übersetzt und eingeleitet von Josef Schmitz (Fontes ­Christiani 3), Freiburg 1990, 7–68, hier 55–57. 34  Die sogenannte ambrosianische Liturgie ist in ihrer Datierung umstritten, geht aber jedenfalls nicht auf Ambrosius oder die altkirchliche Zeit zurück. 35  Vgl. Hänggi / Pahl, Prex Eucha­r istica (s. Anm. 24), 422. 36  Vgl. Spinks, Roman Canon Missae (s. Anm. 31), 135. 37  Vgl. Martin Klöckener, Liturgiereform in der nordafrikanischen ­K irche des 4./5. Jh., in: Ders. / Benedikt Kranemann (Hg.), Liturgiere-

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Augustin dürfte an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt gewesen sein. Doch ist nicht deutlich, ob damit ein bereits vollzogener Wandel fixiert wird oder einem zunehmenden Wildwuchs gewehrt werden soll. Speziell für Rom kommt das Problem der Liturgiesprache hinzu, da unklar ist, ab wann in Rom eine lateinische Messe gefeiert wurde (frühestens um 250, evtl. eher um 300?). Erst mit dem Sacramentarium Gregorianum (im 9. Jh. bezeugt, vermutlich auf das 7. Jh. zurückgehend und in drei Grundtypen überliefert) und dem Sacramentarium Gelasianum (älteste Form belegt im 8. Jh., vermutlich auf das 7. Jh. zurückgehend) ist die römische Messliturgie wirklich greifbar38. Insofern fällt auch die Bezeichnung der Abfolge von Gebeten nach dem Sanctus39 als canon (Regel / Richtschnur) nicht mehr in altkirchliche Zeit. Das bedeutet: Die römische Messe ist nicht in der Alten ­K irche entstanden, sondern ein Produkt des Frühmittelalters, in das ältere Traditionen eingeflossen sind. Bildet der eucharistische Teil denjenigen Teil des Gottesdienstes, der liturgisch am stärksten ausgebaut wurde, so ist doch der dem eucharistischen Teil vorangehende Wortteil besonders wegen der Lesungen und der Predigt ein zunehmend wichtiger Bestandteil des Gottesdienstes. Die Predigten konnten dabei entweder auf die Lesungstexte Bezug nehmen oder thematisch orientiert sein. Auch Reihen, etwa über größere biblische Zusammenhänge, sind belegt, so etwa die Auslegungen der Psalmen oder des Johannesformen (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 88), Münster 2002, 121–168, hier 140–146. 38  Vgl. Jean Deshusses, Le Sacramentaire Grégorien (Spicilegium Friburgense 16), Fribourg 1992, 50–60. 39  Im Sacramentarium Gregorianum ist die folgende Abfolge greifbar (Die Gebete heißen jeweils nach ihren Anfangsworten, vgl. aaO., 86–91): Sursumcorda (Eingangsdialog) – VereDignum (Präfation) – Sanctus incl. Benedictus – Te igitur – Memento Domine (vermutlich erst später hinzugefügt) – Communicantes (Anrufung der Heiligen) – Hanc igitur – Quam oblationem – Qui pridie (Einsetzungsbericht) – Unde et memores – Supra quae – Supplices te – Memento etiam (vermutlich später eingefügt) – Nobis quoque – Per quem. Es folgt das Vaterunser und ein zum Agnus dei und der Austeilung überleitendes Gebet. Damit ist die Grundstruktur der mittelalterlichen römischen Messe gegeben. Bisweilen wird auch der gesamte Text vom Eingangsdialog an als canon bezeichnet.

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evangeliums durch Augustin, aber auch die Auslegung des Lukasevangeliums und von Psalm 119 (118 LXX) durch Ambrosius. Für die Schriftlesungen hat sich im 4. Jh. mehr und mehr eine Ordnung von Lesungen für die einzelnen Tage herausgebildet. Dies berichtet schon die Pilgerin Egeria in ihrem Reisebericht über die ­Kirche in Jerusalem (also für die Zeit kurz nach 381)40, es deckt sich aber auch mit Beobachtungen etwa bei Augustin (wenn auch die einzelnen Texte in Jerusalem und Karthago nicht immer gleich sind). Zugleich zeigt sich aber, dass im 4. und 5. Jh. noch mit einer recht hohen Flexibilität zu rechnen ist. Der Prediger hatte wohl noch lange die Möglichkeit, auch die Lesungen zu variieren. Zugleich zeigt sich, dass sich berühmte Prediger wie Augustin durchaus an den vorgegebenen Lesungstexten abarbeiteten, also keineswegs immer von sich aus die Lesungen vorgaben. Eigentliche Lektionare sind erst im 8./9. Jh. greifbar, so besonders das Capitulare Evangeliorum, das die sogenannte altkirchliche Perikopenordnung für die Evangelienlesungen im 7. Jh. belegt und in der folgenden fränkischen und karolingischen Zeit weiter ausgestaltet wurde41. Für die Abfolge der Lesungen belegt Augustin drei lectiones (Lesungen), zuerst eine aus dem Alten Testament oder aus den Episteln (oder auch der Apostelgeschichte), dann ein Psalm, der responsorisch gesungen (eventuell hat Augustin diesen Brauch aus Mailand importiert) und als eigene lectio aufgefasst wurde, schließlich die Lesung des Evangeliums. Nicht selten verbindet Augustin in seinen Predigten die Themen aller drei Lesungen miteinander42. Neben den Sonntagsgottesdienst haben sich im 4. Jh. die Wochentagsgottesdienste weiterentwickelt, die oftmals reine Wortgottesdienste gewesen sein dürften. Der Reisebericht der Egeria 40  Vgl. Rolf Zerfass, Die Schriftlesung im Kathedraloffizium Jerusalems (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 48), Münster 1968, 6–20. 41  Vgl. Theodor Klauser, Das römische Capitulare Evangeliorum (Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen 28), Münster 1935, XI– XXVIII. 42  Vgl. Michael Magoni-Kögler, Art. Lectio, in: Cornelius ­P etrus Mayer (Hg.): Augustinus-Lexikon 3, 5/6, Basel 2008, 914–922.

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belegt zudem, dass es nach 381 in Jerusalem ein breites Spektrum an Stundengebeten gegeben hat. Die Stundengebete sind auch für das Mönchtum im 4. Jh. belegt. Im Ablauf des Kirchenjahres dürfte Ostern der herausstechende Punkt gewesen sein, an vielen Orten auch der zentrale Tauftermin43. Den Taufgottesdiensten gingen Unterweisungen der Taufbewerber voran, die Katechesen, in denen der Bischof den Taufbewerbern zunächst das lokal modifizierte Glaubensbekenntnis übergab (sogenannte traditio symboli / Übergabe des Bekenntnisses) und erläuterte, dann nach der Taufe in den Sinn der must•ria (mysteria, lat. sacramenta, Geheimnisse, d.h. Sakramente) einführte. Das Glaubensbekenntnis wurde vor der Taufe von den Taufbewerbern öffentlich aufgesagt (redditio symboli / Rückerstattung des Bekenntnisses), war aber in der Alten ­Kirche kein regulärer Bestandteil des Gottesdienstes. Entsprechend hatten die Bischöfe noch lange die Möglichkeit, das in der eigenen Gemeinde übliche Taufbekenntnis leicht abzuändern. Solche Taufbekenntnisse sind eigentlich erst im 4. Jh. greifbar, im Osten hat dann nach 360 das Urnizänum von 325 eine gewisse Verbreitung gefunden. Davon zu unterscheiden ist die erst in den Akten von Chalkedon 451 belegte Fassung des Nizänums, das Nizäno-Konstantinopolitanum, das nach 451 auch im Westen rezipiert worden ist (wobei hier die vor 451 entstandene augustinische Theologie das Hervorgehen des Geistes nicht nur auf den Vater, sondern auch auf den Sohn bezog und daher entsprechend »filioque« ergänzte, modernisierte Version = EG 687). Im Westen hat in der zweiten Hälfte des 4. Jh. das römische Bekenntnis rasch an Bedeutung gewonnen. Rufin grenzt sich in seiner Expositio symboli (Auslegung des Bekenntnisses) gegen Änderungen des Textes ab, doch wurde der Text gleichwohl weiter verändert und hat sich im 6./7. Jh. zum Apostolischen Glaubensbekenntnis weiterentwickelt44. Das Apostolische Glaubens43  Vgl. hierzu Röwekamp, Einleitung (s. Anm. 30), 21–43; Schmitz, Einleitung (s. Anm. 33), 24–51. 44  Vgl. zum Nizänum Holger Strutwolf, Die Trinitätstheologie und Christologie des Euseb von Caesarea (FKDG 72), Göttingen 1999, 47–60; zum Nizäno-Konstantinopolitanum vgl. die Literaturangaben bei Volker Henning Drecoll, Art. Nicaeno-Constantinopolitanum., RGG4 6, 281–

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bekenntnis (modernisierte Version = EG 686) ist also ein Partikularbekenntnis der lateinischen Tradition bzw. Westkirche. Damit ging die westliche Tradition wie auch in der weiteren Liturgiegeschichte eigene Wege. Haben die östlichen Liturgietraditionen die im 4. Jh. erkennbaren Strukturen der Liturgie stärker bewahrt und ausgebaut, so sind die Veränderungen im Westen tiefgreifender gewesen. Der Zusammenbruch des Imperium Romanum und die Ersetzung durch gentile Reiche hat zu einer eigenen Liturgietradition geführt, die besonders durch die Wechselwirkungen zwischen Rom, iro-schottischer Mission und der Entwicklung im Frankenreich geprägt wurde und erst durch die Karo­lingische Renaissance im 9. Jh. eine gewisse Standardisierung erreicht hatte. Ähnlich wie bei der Etablierung des Vulgatatextes ist die lateinische Tradition also in vielfacher Weise erst ein Ergebnis der Karolingischen Renaissance. Gottesdienst in der Alten ­K irche – das bedeutet insgesamt eine besondere Betonung des Abendmahlsteils in der Messe. Die weitgehende Beibehaltung der Messe in der lutherischen Tradition erweist sich dementsprechend nicht nur im Hinblick auf die Ökumene der Gegenwart als wichtige Brücke, sondern zeigt auch, dass die lutherischen Kirchen keine Neugründung oder Abspaltung sind, sondern sich selbst als kontinuierliche Fortsetzung und Ausformung der einen christlichen ­Kirche in der lateinischen Tradition verstehen.

283. Das dritte sogenannte altkirchliche Bekenntnis, das sogenannte Athanasianum bzw. Symbolum Quicumque, gehört eindeutig in den Westen, vgl. Volker Henning Drecoll, Das Symbolum Quicumque als Kompilation augustinischer Tradition, in: ZAC 11 (2007), 30–56.

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Gottesdienst im Mittelalter Arnold Angenendt Wenn Menschen Gott/Göttern dienen1, hoffen sie auf deren höhere Macht, hoffen dank ihres Dienstes auf höhere Gegengaben, dass nämlich die Übermächtigen all das gewähren, was die Menschen selbst nur unzureichend oder gar nicht zu bewerkstelligen vermögen: Wohlergehen, Gesundheit, Erntesegen, Zukunftssicherung, insgesamt Lebenssteigerung, sogar noch über den Tod hinaus ins Ewige Leben. Dafür dienen die Menschen Gott/Göttern. Sie tun das nach göttlicherseits vorgegebenen Regeln, die eine Art Gebrauchsanweisung fürs Leben geben und zugleich eine Regieanweisung für den Gottesdienst enthalten: Die Irdischen sollen wissen, wie sie zu leben haben und wie sie die Himmlischen zu Gnaden veranlassen können. Tatsächlich sind solcherart Kultformen religionsgeschichtlich »über historische und kulturelle Grenzen hinweg erstaunlich konstant«2. Gleichwohl ist Gottesdienst nicht über alle Religionen und Epochen hinweg gleichartig. So kann sich nicht nur der Anteil der Himmlischen und Irdischen verschieben, sondern auch die Gewichtigkeit verändern; wobei der Anteil der Himmlischen insofern immer dominant bleibt, als der Mensch nie von sich aus über den Tod hinauskommt. Dennoch kann der menschliche Anteil modifiziert und gesteigert werden. Eine der tiefgreifendsten Veränderungen geschieht religionsgeschichtlich darin, dass Gott/Götter ethisch werden und vom Menschen ein 1  Nähere Einzelheiten und Literatur finden sich in: Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009, 849– 939 sowie Ders., Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag, hgg. v. Thomas Flammer / Daniel Meyer (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35), Münster 22005. 2  Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, 14.

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dementsprechend ethisches Handeln verlangen. Karl Jaspers hat dafür den Begriff ›Achsenzeit‹ geprägt. Veränderungen mehrfacher Art lassen sich auch für den Übergang von der Antike zum Mittelalter feststellen. Gegenüber der ›Aufklärung‹ der Antike mit ihrer teilweisen Säkularisierung wurde Religion nun wieder ein totales Phänomen, was man als »religiöse […] Revolution der Spätantike«, als »Desäkularisation«3 bezeichnet hat. Es kam eine veränderte Denklogik auf: mehr additiv als subordinativ, mehr situativ als logisch, mehr auf den Einzelfall als auf Verallgemeinerung bezogen; das abstrakte Urteilsvermögen minderte sich und damit auch das Begründen nach ›Ursache und Wirkung‹. Dadurch geschah ein Kulturbruch, der auch religiöse Folgen hatte: Ein »sich zu den Höhen geistiger Abstraktionen und subtiler Begrifflichkeit aufschwingendes Denken«4 hörte auf. Das reduzierte einerseits die Theologie, so dass man für die Zeit von 500 bis 1100 von einem geradezu theologielosen Zeitalter hat sprechen können. Das vergrößerte andererseits die Anzahl der Gottesdienste, so dass man von einem ›Zeitalter der Liturgisierung‹ gesprochen hat. Nicht ohne Grund war es Josef Andreas Jungmann († 1975), der wegweisende Erforscher der Messliturgie, welcher von einem gravierenden Umbruch gesprochen hat: »Es ist in den zwei Jahrtausenden der Kirchengeschichte an keiner Stelle ein größerer Umbruch sowohl im religiösen Denken wie in den entsprechenden Einrichtungen erfolgt, als es in den fünf Jahrhunderten zwischen dem Ausgang der Patristik und dem Beginn der Scholastik der Fall ist«5. Viele der im Frühmittelalter entstandenen Verschiebungen und Veränderungen bildeten den Zündstoff für die folgende Scholastik wie noch für die Reformation.

3  Robert Austin Markus, Christianity and the Secular, Notre Dame 2006, 8. 4  Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Taschenbuch), Berlin 1998, 177.120. 5  Josef Andreas Jungmann, Die Abwehr des germanischen Arianismus und der Umbruch der religiösen Kultur im frühen Mittelalter, in: ZKT 69 (1947), 36–99, hier 36.

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Zur Erläuterung zwei Kurzbeispiele: An die Stelle des juristischen Gerichtsprozesses konnte das liturgische Gottesurteil, das Ordal, treten, etwa als Feuerprobe in der Kirche, wobei der Beschuldigte mit einer glühenden Pflugschar vom Altar bis zum Taufbrunnen laufen musste und dann die Eiterung oder Heilung über Schuld und Unschuld entschied. Oder noch ein Weiteres: Hatten die Kirchenväter durchaus positiv von der medizinischen Wissenschaft gesprochen6 , so herrschte im Mittelalter das ›Gesundbeten‹ vor, dass nämlich Heiligenfürbitte und Reliquienberührung aller ärztlichen Kunst überlegen waren.

1. Das Gebet Christliches Beten gründet sich auf die Bibel, auf das Hören des Wortes Gottes. Der Mensch soll im Gebet das vernommene Gotteswort beherzigen und dann mit Dank und Bitte antworten. Gemäß diesem Schema ordnete sich das private wie auch das gemeindliche Beten: vorweg Vorbereitung, dann Lesungen aus der Bibel, daraufhin Auslegung und zuletzt das eigene Gebet als Antwort an Gott. Christwerden begann überhaupt mit dem Hören des Gotteswortes. Die Taufbewerber konnten als ›Hörer‹ bereits am Wortgottesdienst teilnehmen, nicht aber an der Eucharistie. Zum Wortgottesdienst, wie er auch mit jeder Eucharistiefeier verbunden war, gehörte die Predigt. Im frühen Mittelalter war sie kaum mehr als die Ermahnung, Gutes zu tun und Böses zu unterlassen. Im Hochmittelalter entwickelten sich die Mitglieder der Bettelorden zu Predigern. Erst im Spätmittelalter gab es einen theologisch hinreichend gebildeten Klerus, der auch zu predigen verstand. Das mönchische Stundengebet war in gleicher Weise aufgebaut, wiederum als Hören und Antworten. Die Psalmen-Rezitation diente der Vorbereitung, dann folgten Lesungen und zuletzt 6  Vgl. Michael Dörnemann, Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter (Studien und Texte zu Antike und Christentum 20), Tübingen 2003, 293.

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das antwortende Beten. Zu den Veränderungen des Frühmittelalters gehört, dass das Gebet mehr und mehr zu einer Leistung wurde: Gemäß der Anzahl der Gebete hoffte man auf die Erfüllung der Bitten.

2. Die ›verbuchte‹ Liturgie Aller Kult hat die Tendenz zur Verstetigung. Das Heilige ist, wie Max Weber schreibt, »das spezifisch Unveränderliche«7. Demgegenüber war zunächst die christliche Liturgie zwar strukturiert, aber nicht Wort für Wort fixiert. Eine strikte Ritualisierung setzte in der Spätantike ein und führte zur Verschriftlichung, zunächst mit ausgearbeiteten Liturgie-Formularen für Taufe und Eucharistie, sodann zu Liturgie-Büchern für die Erfordernisse des ganzen Jahres, zu den Sakramentaren. Maßgeblich wurden das ›Gelasianum‹, das Buch der stadtrömischen Pfarrei-Liturgie, dann das ›Gregorianum‹, das Buch für die päpstliche Liturgie. Diese ›Verbuchung‹ hat man als Prozess ›von der Freiheit zur Formel‹ beschrieben8. Die karolingische Liturgie-Reform, die sich nach der Liturgie des heiligen Petrus ausrichtete, machte die römische Liturgie zur abendlandweiten Norm und beseitigte die gallikanische, die zuvor in Gallien, Spanien, Norditalien und Irland verbreitet gewesen war.9 Die liturgische Vereinheitlichung wirkte maßgeblich mit am gemein-abendländischen Religions-Bewusstsein.

7 

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (Studienausgabe), hgg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51976, 249. 8  Vgl. Allan Bouley, From Freedom to Formula. The Evolution of the Eucharistic Prayer from Oral Improvisation to Written Texts (The Catholic University of American Studies in Christian Antiquity 21), Washington 1981, 37–87. 9  Vgl. Matthieu Smyth, La liturgie oubliée. La prière eucharistique en Gaule antique et dans l’Occident non romain, Paris 2003, 470–474.

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3. Die Taufe Gravierend sind die Veränderungen in den zentralen Sakramentsriten. Die Taufe, die grundsätzlich das ›Sakrament des Glaubens‹ sein wollte, erforderte das Katechumenat, die Belehrung im Glauben, wie noch die Einübung ins christliche Leben, zumal in Sozialtätigkeit. Für den seit alters her erforderlichen Unterricht im Glauben, konkret für die Kenntnis des Glaubensbekenntnisses wie des Vaterunsers, geschah in den außerlateinischen Sprachregionen jetzt ein folgenreicher Schritt: beide Grundtexte wurden in die Volkssprachen übersetzt. Das Vaterunser und Glaubensbekenntnis bildeten fortan den ›Katechismus‹, und damit begann der volkssprachliche Religionsunterricht. Aber »eine Revolution der ganzen germanischen Vorstellungswelt war erforderlich, damit das ›Vaterunser‹ überhaupt nur verstanden werden konnte«10. Die karolingische Kirchenreform hat hier bedeutende Anstrengungen unternommen. Bei der Missionierung der Sachsen, als wieder Erwachsene getauft wurden, sind die Tauffragen, die Absage an den Teufel mitsamt der Absage an die germanisch-sächsischen Götter Wodan, Donar und Saxnot sowie die Zusage an den dreifaltigen Gott übersetzt worden. Nicht aber wurde die Liturgie als Ganze übersetzt, nicht einmal die dabei vorgelesenen Bibeltexte. Die Taufe war und blieb Eingliederung in die Heilssphäre der Kirche. Ungetauft zu bleiben, musste ganz widersinnig und sogar gefährlich erscheinen, blieb man dadurch doch ein dämonischer Unheilsträger. Tatsächlich wandelte sich die Taufe zum ›Lebenslaufritual‹, zum ersten ›Übergangsritus‹ (rite de passage): Ein Segen sollte sie sein fürs Leben und die Zugehörigkeit zur christ­ lichen Gemeinschaft herstellen. Ethnologisch erhält das neugeborene Kind sein Lebensrecht erst durch das ›Ritual der Aufnahme‹, das der leibliche Vater an ihm vollzieht und das im Aufheben von der Erde mit gleichzeitiger Namensgebung besteht; dadurch wird die Eingliederung in die (sakrale) Gemeinde bewirkt. Solche Vor10  Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, Bd. 1, Das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche (Rowohlts Deutsche Enzyklopädie), Reinbek 1963, 197.

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stellungen wirkten nun auch auf die Taufe ein. In der mittelalterlichen Adelsgesellschaft wandelte sie sich überdies zum familiären Erbsegen; zu ihrer Spendung rief man möglichst segensmächtige Gottesmenschen herbei, deren Wirkmacht als besonders lebensförderlich galt und so die Fortexistenz des Geschlechts garantierte.

4. Die Eucharistie Seit altkirchlicher Zeit verstand sich die ganze Gemeinde als ›opfernd‹. Die Priester wie die Getauften, sie alle beschritten gemeinsam den im Hochgebet verkündeten Heilsweg: Dank an Gottvater für Jesus Christus, der sich in der Gemeinde vergegenwärtigt; daraufhin wird der Auftrag des Abendmahls, »Tut dies zu meinem Gedächtnis«, wiederholt; getreu dieser Aufforderung werden Brot und Wein genommen, darüber der verwandelnde Segen erbeten, um in der Teilhabe daran durch den Tod zur Auferstehung zu gelangen. Alle vollzogen dieses ›geistige Opfer‹, den Durchgang mit Jesus Christus durch den Tod zum Leben. Gravierend waren die Veränderungen, die im Frühmittelalter eintraten: Die Eucharistie wandelte sich zur Messe, abgeleitet von dem ›missa‹ geheißenen Schlusssegen. Inhaltlich bedeutete das die Konzentration auf Gebetsbitte in jeglicher Lebensnot und auf Sühnemittel für die Sünden. Hatte man in der Antike die Eucharistie zunächst nur sonntags, aber zuletzt auch schon täglich gefeiert, so jetzt möglichst oft: Die Messe war die heilbringende Liturgie schlechthin, förderlich für jeden und für alles. Hingegen trat die Kommunion zurück, die zuletzt wenigstens einmal im Jahr für Ostern vorgeschrieben werden musste. Wegen des Segensverlangens verstärkte sich der Opfergedanke: Wer darbringt, der empfängt. Überdies wandelte sich die Auffassung von Leib und Blut Jesu Christi, wobei die altkirchliche Bezeichnung als ›unblutiges Opfer‹ verschwand. Stattdessen zeigten sich vom 8. Jahrhundert an die Hostien-Wunder, dass nämlich unter der Hülle von Brot und Wein das reale Fleisch und Blut Jesu verborgen seien. Die scholastische Transsubstantiationslehre beabsichtigte eine

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Korrektur: Jesus habe drei Leiber: zuerst den irdischen und gekreuzigten, sodann den auferstandenen und verherrlichten, zuletzt den sakramentalen auf dem Altar, der folglich nicht mehr der realistisch-irdische war, sondern der verklärte sei und nicht mehr reales Fleisch und Blut. Neu war im Frühmittelalter die allegorische Messerklärung, die Amalar von Trier/Metz († um 850) als erster entwickelt hatte. Nachdem die Liturgie in der Nachantike ihre unmittelbare Verständlichkeit eingebüßt hatte, musste sie erklärt werden, und das geschah mit Hilfe der Allegorese, die einen göttlicherseits eingestifteten Hintersinn voraussetzte, den es menschlicherseits zu erheben galt. Im Ablauf der Messe etwa sah man den Lebensweg Jesu Christi widergespiegelt, wobei der Eingangsgesang die Ankündigung durch die Propheten, das Hochgebet die Passion und schließlich der Schlusssegen die Segnung der Jünger bei der Himmelfahrt bedeutete. Die Scholastik war solcher Allegorese allerdings abgeneigt; doch fehlte es ihr an theologischer Kraft, den Ritus neu und verständlich umzugestalten. Die Liturgie blieb, weil weiterhin als göttliches Heilshandeln angesehen, ein ehrfürchtiges Gebilde von Heilsriten, deren gültiger Vollzug kanonistisch festgeschrieben wurde.11 Neben der Allegorie-feindlichen Scholastik und der fixierenden Kanonistik setzte sich indes die geistliche Auslegung weiter fort, nun zuweilen noch in gesteigerter Emotionalität, denn weiterhin verlangte das heilige Geschehen zuerst eine fromme und nicht eine dogmatische Ausdeutung.

5. Die neue Rolle des Priesters Mit dem Übergang von der Eucharistie zur Messe wurde der Priester zum vornehmlichen Opferer; nicht nur ›Vorsprecher‹ war er in und mit der Gemeinde, sondern zusätzlich ›Konsekrator‹ und dadurch auch Opferer. Zwar ging der alte Gedanke, dass sich 11  Vgl. Arnold Angenendt, Liturgik und Historik. Gab es eine organische Liturgie-Entwicklung? (Quaestiones Disputatae 189), Freiburg u.a. 22001, 142–149.

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alle dem Opfer Jesu Christi anschließen und dabei selbst darzubringen hatten, nicht verloren. Dennoch trat der konsekrierende Priester auch als Opferpriester so sehr hervor, dass die Laien sich ihm nun anzuschließen hatten. Auf das Bild des segenwirkenden und opfernden Priesters wirkte zusätzlich die Gestalt des ›Gottesmenschen‹ ein. Zur religiösen Revolution der Spätantike zählte die Hoffnung auf außer­gewöhnliche Menschen, auf solche, »die die ›Göttliche Macht‹ auf Erden repräsentieren«, »die den Übernatürlichen näher sind als andere«, die als »Experten ›göttlicher Macht‹« wirken.12 Dieses Konzept färbte sowohl das Priester- wie Mönchtum ein und führte zuletzt beide Gruppen zusammen: Heilswirkung durch Gott geschieht weniger aufgrund geistiger theologischer Ausbildung, als vielmehr durch Askese, welche eine göttliche Kraft erwirkt und sich im Gottesmenschen wie in einem heiligen Gefäß speichert, so er die ihm mitgeteilte Gotteskraft austeilen kann und dadurch Wunder zu wirken vermag. Martin von Tours († 397) steht als Leitbild für diesen Typ des Gottesmenschen, der sich im ganzen Mittelalter fortsetzte. Ebenso können Frauen in derselben Weise göttliche Gefäße werden und Wunder erwirken. Frauen wurden allerdings nicht zum liturgischen Dienst zugelassen. Dies resultiert aus dem tief in das Liturgie- wie Amtsverständnis eingedrungenen Postulat der kultischen Reinheit. Gemeint ist jene Vorstellung, die religionsweit anzutreffen ist und besagt, dass das Berühren von Toten, das Essen bestimmter Nahrung und vor allem die ›Befleckung‹ durch Sexualstoffe kultunfähig machen. Jesus und die frühe Christenheit hatten solche Verunreinigungen abgelehnt. Die für den Kult erforderlichen ›reinen Hände‹ wurden ›ethisch‹ gedeutet, als Unbeflecktheit des Gewissens. Aber seit der Spätantike hatten sich die dinglichen Reinheitsvorstellungen reaktiviert: Wer an den Altar trete, dürfe nicht sexuell befleckt sein. Die Konsequenz war die Forderung nach zölibatären Altardienern, weiter auch, dass Laien mit ihren allzeit 12  Vgl. Peter Brown, Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte der Spätantike (Fischer Taschenbücher, Allgemeine Reihe 12287), Frankfurt a.M. 1995, 42.44–46.

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befleckten Händen weder die Gaben auf den Altar legen noch die Kommunion entgegennehmen durften, was die Praxis der Mundkommunion zur Folge hatte. Das Zweite Lateran-Konzil (1139) erhob den Zölibat zum Kirchengesetz. Im Allgemeinempfinden blieben die Heilshandlungen befleckter, also nicht zölibatär lebender Altardiener, einfachhin nichtig.13

6. Die Buße Die altkirchlich geübte Buße, die sich auf die ›Haupt-Sünden‹ bezogen hatte, erhielt im Frühmittelalter eine eigene Liturgie: Zu Beginn der vorösterlichen Bußzeit, am sogenannten Aschermittwoch, schloss der Bischof die Büßer von der Gemeinde aus, bestreute sie mit Asche, bekleidete sie mit einem Bußgewand und vertrieb sie rituell aus der Kirche, um sie dann am Gründonnerstag wieder zu versöhnen und erneut in die Gemeinschaft aufzunehmen. Das war der Ritus der Exkommunikation und der Rekonziliation. Zur gleichen Zeit verbreitete sich die in Irland aufgekommene ›geheime Einzelbuße‹. Dabei bekannte der Büßer vor einem Priester seine Sünden und erhielt eine Buße auferlegt, ohne noch dem öffentlichen Bußverfahren unterworfen zu werden. Dennoch erhielt sich das öffentliche Bußverfahren, denn öffentliche Sünden sollten auch öffentlich gebüßt werden, sogar mit einem gesteigert dramatisierten Verfahren des Ausschlusses wie auch der Versöhnung. Im Verweigerungsfall konnte der ›weltliche Arm‹ öffentliche Sünder zur Buße zwingen, so dass die Staatsmacht, welche in Erstaufgabe Verbrecher vor ihr weltliches Gericht zog, nun auch Sünder vor das kirchliche Gericht brachte. Dabei verflossen die Rituale: Die ursprünglichen kirchlichen Bußformen des Barfußgehens, des Bußgewandtragens und der Aschebestreuung finden sich ebenso in politischen Verfahren, so bei Unterwerfung unter den Herrscher oder bei Übergabe einer belagerten Burg bzw. Stadt. Ähnlich zog umgekehrt die formelle Exkommuni13  Vgl. Arnold Angenendt, Pollutio. Die ›kultische Reinheit‹ in Religion und Liturgie, in: ALW 20 (2011), 56 Seiten [in Druck].

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kation auch weltliche Konsequenzen nach sich. Nicht nur, dass der Herrscher die Kirchenbuße erzwingen konnte; der Bußverweigerer verlor die Gunst des Herrschers und damit den Zutritt zu ihm, wie überhaupt jedem öffentlich Exkommunizierten der allgemein-gesellschaftliche Kontakt versagt war. Somit machte die große Exkommunikation kirchlich wie weltlich tot.

7. Die Mönchsliturgie Anfangs waren die Einsiedler und Mönchsgemeinschaften aske­ tische Laiengruppen gewesen, zuweilen mit bewusster Spitze gegen die Großkirche. Als ihre Liturgie praktizierten sie das persönliche wie das gemeinschaftliche Gebet, verstanden als »siebenmal am Tag Lob zu singen« (vgl. Ps 119,164). Ihr Gebet ordnete sich nach den Tagzeiten: am Morgen die ›Matutin‹ (später ›Laudes‹), zur ersten Stunde die ›Prim‹, zur dritten die ›Terz‹, zur sechsten die ›Sext‹, zur neunten die ›Non‹, am Abend die ›Vesper‹ und zum Tagesabschluss die ›Komplet‹; hinzu kam das Nachtgebet, die ›Nocturn‹. Hatte ursprünglich das ganze Klosterleben Dienst (officium) vor Gott sein wollen, so konzentrierte sich dieser Begriff auf das gemeinsame Beten, das dadurch in spezieller Weise ›offiziell‹ wurde. Es hieß darum auch ›Offizium‹ und wurde ebenso den Weltklerikern abverlangt: das täglich je nach Festcharakter modifizierte Breviergebet. Zur Eucharistie gingen die Mönche zunächst in den sonntäglichen Gemeinde-Gottesdienst, verstanden sich insofern als Teil der eucharistischen Gemeinschaft. Das Ganze änderte sich im Frühmittelalter, als die Klöster zu Priestergemeinschaften wurden und sich zu Stätten gehäufter Messzelebrationen wandelten. Denn die Bekrönung des Mönchseins bildete fortan die Priesterweihe mit möglichst täglicher Messzelebration. Im Kloster führte das zu einer Dopplung: neben der gemeinschaftlichen Konventsmesse jetzt zusätzlich die Einzelmessen der Priestermönche. Die karolingische Klosterreform zementierte dieses System. Benedikt von Aniane († 821), der im Auftrag Ludwig des Frommen ein reichseinheitliches Mönchtum herbei-

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zuführen unternahm, schuf dabei die Grundlage von täglichem Gebet und täglichen Messfeiern: jeden Tag 137 Psalmen und jeden Tag gleich zwei Konventsmessen, dazu die Privatmessen. Diese in der Karolingerzeit gegenüber dem frühen Mönchtum bereits stark regulierte Klosterliturgie steigerte sich weiter noch durch neue Zusätze, so durch zusätzliche Psalmen und ganze Offizien, vor allem das Marien- und Toten-Offizium. Das cluniazensische Mönchtum feierte täglich zwei Konventsmessen und sang 200 Psalmen; hinzu kam die Privatmesse der Priestermönche. Die Mönche verstanden ihre Liturgie zuerst als Dienst an Gott, dann aber auch als Dienst an der Welt: Mit ihrem Gebet wollten sie die Sünden der Welt aufwiegen und überdies den Seelen im Fegefeuer Erleichterung verschaffen. Denn was auf Erden nicht abgebüßt worden war, musste an den jenseitigen Läuterungsorten abgegolten werden und dafür konnte man von Erden her sozusagen Bußwerke nachreichen. Es entstanden Gebetsverbrüderungen, die sowohl liturgische wie karitative Leistungen umfassten, also Psalmengebet, Messfeiern wie noch Armenspeisungen. Cluny versorgte jährlich mehr Arme als die Bewohnerzahl damaliger Großstädte. Gebetsverbrüderungen unter geistlichen Gemeinschaften verstanden sich als Austausch in Liebe, bei Laien aber als eine Anteilgabe, die mit Stiftungen von Land und später mit Renten zu entgelten war. Für Cluny machte das Wort die Runde: Das Kloster sei sowohl reich an Besitz wie reich an geistlichem Verdienst.

8. Heilige und Reliquien Ausgangspunkt ist – um nochmals Max Weber zu zitieren – die urtümliche Vorstellung von der Seele, »welche nach dem Tod im Leichnam oder nahe beim Leichnam [haust], so lange noch etwas von ihm übrig ist«14. Im Christentum sollte solches allerdings nicht länger gelten, denn der Leib – so Paulus – zerfalle und

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Weber, Wirtschaft (s. Anm. 7), 247.

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werde neu mit Herrlichkeit überkleidet (vgl. 1Kor 15,35–58). Daraus entwickelte sich die Vorstellung einer Doppelexistenz: Die im Jenseits weilende Seele bleibe mit dem zur Auferstehung berufenen Leib auf Erden in Verbindung. Wer folglich zum Grab eines Heiligen ging und dort dessen Leib berührte, tangierte zugleich die Seele im Himmel. Dadurch entstanden von neuem heilige Orte. Das frühe Christentum hatte sich als Gemeinde »aus lebendigen Steinen« auferbaut gewusst (vgl. 1Petr 2,5) und die Gemeinde sich als »heiliger Tempel Gottes« (vgl. 2Kor 6,16; 1Kor 3,17) verstanden. Im Frühmittelalter wurde der Kirchenbau wieder sakralisiert, nämlich durch Ausgrenzen aus dem Profanen und durch Weihung des Innern. Weil Sakralraum, stand hier der Himmel offen; man war Gott näher und die von dem Altar getätigten Akte erbrachten besondere Gnaden. Beispielhaft wirkte Rom mit dem Petersgrab. Gemäß ausdrücklicher Weisung Gregors des Großen († 604) hielt man es dort zunächst für sakrilegisch, ein Grab zu öffnen und die Gebeine zu erheben. Um aber den Sarg des heiligen Petrus wenigstens berühren zu können, hat der Papst die Ringstollen-Krypta unter dem Chor der Peterskirche anlegen lassen, die einen direkten Zugang zum Grab ermöglichte. Hingegen verfuhr die gallikanische Liturgie anders; hier wurden, sobald am Grab besondere Zeichen und Wunder geschahen, die Beerdigten erhoben und an einen Kirchen-Altar transferiert. Wie nämlich die Seelen der Gerechten am Fuße des himmlischen Altars weilten (vgl. Offb 6,9), so sollten ihre Leiber am Fuße der irdischen Altäre ruhen. Ambrosius von Mailand († 397) hat als erster im Westen solche Translationen vorgenommen. Seit dem 8. und 9. Jahrhundert wurden die Erhobenen in einen goldenen Schrein gelegt und hinter dem Altar erhöht aufgestellt.15

15  Vgl. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 32007.

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9. Die Wiederfindung des Christentums Der große Umbruch kam mit der Wende des Mittelalters im 12. und 13. Jahrhundert, einer Epoche, die man als ›Wiederfindung des Christentums‹ bezeichnen kann. Eine neue Intellektualität brandete auf, ließ die Universitäten entstehen, führte auch zu einer neuen Theologie, die kritisch ansetzte, vieles ausschied und korrigierte, jedenfalls ›rational‹ argumentierte. Als erstes begann man die unübersehbar gewordene Fülle von Riten und Segnungen zu überprüfen und zu reduzieren. Nimmt man alle im Frühmittelalter als ›Sakramente‹ bezeichneten Heilshandlungen zusammen, kommt man auf über 30: Weihwasser, Kirchweihe, Gottesurteil, Exorzismus, Königssalbung und Weiteres mehr. Die neue Theologie führte im 12. Jahrhundert zur Festlegung der Siebenzahl: Taufe, Firmung, Buße, Eucharistie, Priester­ weihe, Ehe und Letzte Ölung.16 Dabei ist umgekehrt ebenso bemerkenswert, welche Heilshandlungen nicht im Rang eines Sakraments blieben: die Königsweihe wegen der im Investiturstreit ausgesprochenen Laisierung des Königs, die Kirchweihe wegen des neu wieder bewusst gewordenen Vorrangs der Personenheiligkeit vor der Ortsheiligkeit, der Exorzismus wegen der gegen den dua­listischen Katharismus gepredigten Überlegenheit Jesu Christi über den Teufel, das Gottesurteil wegen der neu bewusst gewordenen Aufgabe einer rational-argumentativen Urteilsfindung. Hier überall sehen wir einen Prozess der kritischen Abscheidung. Devaluiert wurde ebenso die Kirchweihe. Bernhard von Clairvaux († 1153) zufolge haben die Kirchen »etwas Heiliges, aber in Verbindung mit eurem Leib«. Das ist die Rückkehr zu Paulus: »Wir sind der Tempel des lebendigen Gottes« (2Kor 6,16). Auch der mittelalterlichen Kanonistik blieb der christliche Grundsatz bewusst: »Der Ort heiligt nicht den Menschen, sondern der Mensch den Ort«. In Wirklichkeit blieb es bei der Kirche als geheiligtem Ort. Wie sich die neue Theologie für das Erstsakrament der Taufe auswirkte, zeigt sich bei Hugo von St. Victor († 1141). Bei der Er16  Vgl. Gunther Wenz, Art. Sakramente (I. Kirchengeschichtlich), TRE 29, 663–684, hier 668.

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läuterung der Taufe benennt er die einzelnen Rituselemente, so die Kreuz-Signierung an Stirn, Brust, Augen, Nase, Ohren und Mund, die Salzgabe, die Exsufflation, die Berührung mit Speichel, die Öffnung der Ohren, was ihm jeweils als Heilsritus gilt und wobei die Ohrenöffnung sogar als ›Sakrament der Öffnung‹ (sacramentum apertionis) bezeichnet wird. Eine aus Hugos Schule hervorgegangene theologische Summe sieht denn auch im Taufritus ›viele Sakramente‹, um sich aber sofort zu korrigieren: Die einzelnen Riten seien eigentlich nur Teile des einen Sakramentes der Taufe; dieses selbst bestehe – so wird nun gesagt – in der Wassereintauchung bei Anrufung der Dreifaltigkeit; alles andere diene der Ausschmückung. Die Eucharistie-Theologie beharrte auf der Realität von Leib und Blut Jesu Christi, doch sollte diese Realität mit Hilfe der Transsubstantiationslehre besser erklärt und wieder zum Verständnis des unblutigen Opfers zurückgeführt werden: Selbstverständlich geschehe eine Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Jesu, aber als Verwandlung in »die Substanz des präexistierenden Leibes und Blutes des erhöhten Herrn«, dessen Fleisch nicht mehr blutig zu denken war.17 Thomas von Aquin († 1274) sah in den blutenden Hostien ein von Gott speziell für die Schwachgläubigen zusätzlich bewirktes Wunder, aber keine wirkliche Eucharistie.18 Nikolaus von Kues bestand darauf, dass der auf dem Altar vergegenwärtigte Jesus Christus der Glorifizierte sei, der zwar seine Wunden behalte, aber nicht fleischlich blute. Doch verfestigte sich gleichzeitig das im Frühmittelalter angebahnte Opfer- und Priesterverständnis. Die Diskussion der Früh- und Hochscholastik zeigt ein deutliches Gefälle hin zum 17  Vgl. Hans Jorissen, Art. Transsubstantiation, LThK 10, 177–182, hier 179; Matthias Laarmann, Art. Transsubstantiation, HWPh 10, 1349– 1358. 18  Vgl. Peter Browe, Die scholastische Theorie der eucharistischen Verwandlungswunder, in: Ders., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht (Vergessene Theologen 1), hgg. v. Hubertus Lutterbach / Thomas Flammer, Münster 2003, 251–263.

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Kult, zum Opfer. Für die Scholastik gilt insgesamt: »Anstatt zunächst als ein Dienst an der Gemeinschaft (und in ihr) angesehen zu werden, die zum Leib Christi auferbaut werden sollte, wird das Priestertum als eine Wirklichkeit für sich gesehen, die als die personengebundene Vollmacht […] bestimmt wird, die Eucharistie zu feiern.«19 Die bevollmächtigende Weihe bildete zuletzt sogar noch die Grundlage für die Predigterlaubnis, mit der Folge, dass ein Nichtordinierter nicht zur Predigt berechtigt war. Wiederum ist auch der Klosterliturgie zu gedenken. Alle sich vom 11. bis 13. Jahrhundert bildenden Orden, die Zisterzienser, Prämonstratenser, Kartäuser und Mendikanten, traten im Protest gegen Cluny an und erlagen zuletzt doch wieder der cluniazensischen Liturgie. Die Zisterzienser begründeten ihren Neuansatz damit, fortan keine Stiftungen für Buße, Messen und für arme Seelen mehr annehmen zu wollen, vielmehr zur Liturgie Benedikts mit den täglich 38 Psalmen und der einen Konventsmesse zurückzukehren; das altmonastische Ideal der Handarbeit wollten sie erneuern, um nicht vom Blut geschundener Bauern zu leben. Die Kartäuser feierten gar keine tägliche Messe mehr. Franziskus gebot, im Konvent nur eine tägliche Messe zu feiern, auch bei Anwesenheit mehrerer Priester. Am Ende aber erlagen die neuen Orden doch wieder dem Stiftungsandrang, infolgedessen ihre Priestermönche wieder gestiftete Messen zelebrierten. Eine ganz unerwartete Entwicklung nahm die Totenliturgie. Anfangs waren es der Dank für das Leben des Verstorbenen und die Fürbitten um ein gnädiges Gericht gewesen. In diesem Sinne wurde eine ›Anvertrauung der Seele‹ an Gott (commendatio animae) ausgesprochen. Mit der Idee, dass die Seele eine gefährliche Reise zu bestehen habe, entstand das Viaticum, nämlich die Sterbekommunion als Geleit durch Jesus Christus zum Himmel. Für den Totenkult in der westlichen Kirche setzte die entscheidenden Akzente Papst Gregor der Große († 604): einmal mit der Schilderung des Seelengeleits durch Jesus Christus wie auch 19  Yves M.-J. Congar, Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma (Handbuch der Dogmengeschichte III, 3c), Freiburg u.a. 1971, 109.

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durch Engel und Heilige, sodann mit der Möglichkeit der stellvertretenden Fürbitte für die nicht ganz reinen Seelen im jenseitigen Läuterungsort. In karolingischer Zeit bildete sich ein festes Ritual für Sterben und Fürbitte heraus: Niederlegung des Sterbenden auf eine Bußmatte, dann dessen Beichte, dabei angesichts nicht mehr ableistbarer Buße die Übertragung des ausstehenden Pensums auf die Angehörigen oder auf Klosterleute, darauf die Letzte Ölung (vgl. Jak 5,14 f.), zuletzt die Reichung des Viaticums. Zusätzlich ließ man sich oft ein Mönchsgewand überziehen, um das Verdienst des Ordenslebens auf sich zu ziehen. Zuvor war möglichst ein Testament mit der Stiftung von Caritas-Werken und vor allem von Seelenmessen zu tätigen. Der speziellen Totenmesse, dem ›Requiem‹, folgte die Beerdigung auf dem Kirchhof, um möglichst in der Nähe jener Heiligen zu sein, deren Reliquien im oder am Altar ruhten. Die Fürbitte setzte sich fort mit Gebet und Messen am dritten, siebenten und dreißigsten Tag, vor allem zum Jahrestag des Verstorbenen, dem Anniversar. Wie sehr sich die Totenliturgie im Laufe des Mittelalters steigerte, zeigt sich im Vergleich zwischen Karl dem Großen († 814), für den keinerlei Sondergedenken festzustellen ist, und dem 1493 verstorbenen Kaiser Friedrich III., für den allein nur in der Zeit zwischen der ersten provisorischen und der offiziellen Bestattung an die 10.000 Seelenmessen zelebriert wurden. 20 Die neue Einigkeit, die mit der Scholastik einsetzte, hatte als Parallele eine verinnerlichte Frömmigkeit, die zuletzt zur Mystik führte. Während die neue Theologie die Liturgie in ihren Ritualen und Texten kaum veränderte, durchdrang die mystische Frömmigkeit sie zur Gänze. Schon in karolingischer Zeit, als sich die Liturgie nicht mehr aus sich heraus erklärt hatte, erhielt sie einen speziellen Sinn aufgesetzt, in der Allegorese: In der Messe, im Wochen- und Tagesverlauf, sogar im Kirchenjahr fand man das Leben und zumal die Passion Jesu widergespiegelt. Hierdurch wurde die Passion das Leitthema der Frömmigkeit; mit Jesus die Passion zu 20  Vgl. Arnold Angenendt, Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Totenmemoria, in: Karl Schmid / Joachim Wollasch (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (MMS 48), München 1984, 80–199.

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durchleiden verhieß Erlösung und Rettung. Die konkrete Liturgie bot dafür Anlass und Hilfe, verlor dabei aber ihren Eigencharakter: Sie wurde zur Passionsandacht. Sogar die Kommunion, die im Mittelalter nur selten empfangen wurde, wandelte sich zur geistigen Kommunion, zum beherzigenden Innewerden Jesu Christi. Die Auflösung der Liturgie verstärkte sich weiter in der Mystik. Hatte Cluny die Liturgie bis zur Fingerhaltung hin durchritualisiert, so ließ die Mystik deren Form spirituell zerfließen. Leitsätze kamen auf wie: Besser eine Messe in Andacht als tausend ohne; besser ein Pfennig in Barmherzigkeit für die Armen als tausend ohne. Hatte man zuvor Frömmigkeitsakte gezählt, so sollte jetzt allein die Innerlichkeit gelten. Die Mystik pflegte vor allem die Schau, und so gestaltete sich die Liturgie zum Aufblick ins Jenseits. Hatte seit alters die Liturgie als »Zutritt zum himmlischen Heiligtum« (vgl. Hebr 10,19) gegolten, so erfuhren die Mystiker beim Gottesdienst einen Einblick in den Himmel, was jeweils die konkrete Liturgie vergessen ließ. 21 Der neutestamentliche Grundsatz, der Glaube komme vom Hören, erweiterte sich dabei um das Sehen, so dass – wie auch die Scholastiker betonten – der Glaube nicht nur mit dem Hören des Ohres, sondern auch mit dem Sehen des Auges komme. Darum nun in der Messe das Anschauen der erhobenen Hostie, darum auch die Sichtbarmachung der Reliquien, darum die jetzt überall vordringende Bildkunst.

10. Neue Frömmigkeit im Spätmittelalter Ein neues Kapitel bildet die Liturgie des Spätmittelalters. Lange galt diese Periode als eine solche des Zerfalls und einer subjektivekstatischen Mystik. Selbst der Nestor der deutschen LiturgieForschung, Josef Andreas Jungmann, sah für die Liturgie am Vorabend der Reformation nur Anzeichen des Rückgangs, ja des Verfalls; positiv vermochte er allenfalls Volkstümliches auszumachen, etwa die Feste des Kirchenjahres, die noch am meisten 21  Vgl. Arnold Angenendt, Liturgie bei Heinrich Seuse, in: Ders., Liturgie (s. Anm. 1), 333–353.

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im Gemüt verankert gewesen seien. Im Ganzen war es eben doch Auflösung im innersten Kerngebiet des kirchlichen und liturgischen Lebens. Theodor Klauser († 1988) kennzeichnet in seiner ›Kleinen Liturgiegeschichte‹ das Spätmittelalter gleichfalls als Periode der Auflösung und Wucherungen. Das Spätmittelalter erkannte durchaus die Reformnotwendigkeit, blieb aber gespalten: einerseits eine auflösende Spiritualisierung und andererseits die noch weitere Steigerung der Frömmigkeitsakte, besonders der Messen. Es geschah durchaus ein reformierter Aufbruch, aber kein wirklicher Durchbruch. Die Messe hatte wie die anderen wichtigen Riten längst ihre frühe durchsichtige Gestalt verloren. Es gab verunklärende Überlagerungen und sinnentstellende Verkürzungen, dazu ein Übermaß an Heiligen-Festen und Spezial-Messen. Jeder Orden, jede Diözese, ja oft jede Ortskirche hatte ihre Sonderbräuche. Das Mess-Ordinarium wies zum Teil beträchtliche Unterschiede auf; beim Brevier-Gebet verging oft mehr Zeit damit, die einzelnen Teile aufzusuchen, als sie zu beten. Hier eine Bereinigung und Klärung herbeizuführen, dafür hätte der neue Buchdruck besondere Möglichkeiten geboten; doch gerieten die anfänglichen Reform-Bemühungen in den Strudel der Reformation und wurden katholischerseits eher apologetisch kleingehalten. Weil die neue Frömmigkeit auf Andächtigkeit drängte, kam es zur Übersetzung liturgischer Gebete. Neben direkten Übertragungen entstanden volkssprachliche Begleitgebete, welche die Liturgie ›andächtig‹ machen sollten. Gerade auch an den deutschen Universitäten entstanden dafür im 14. und 15. Jahrhundert Messerklärungen. Hierin finden sich neue reformerische Gedanken, zum Beispiel in einer deutschsprachigen Messerklärung, wo die Messe als Quelle himmlischer Gnaden und Angebot geistlichen Nutzens verstanden wird. Wohl wurde weiterhin der Ritus in lateinischer Sprache gehalten, doch sollten neue volkssprachliche Gebetbücher den verstehenden und inneren Nachvollzug ermöglichen. Das führte zu einer Parallelität von Ritus und Frömmigkeit. Man begleitete die Liturgie mit persönlichem Gebet, nicht aber wurde diese selbst zum Ausdruck von Innerlichkeit umgestaltet: Was im privaten Beten galt, dass das Verstehen die An-

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dacht steigere, wurde in der Liturgie nur indirekt durchgeführt. Theologische Probleme sind in solchen Liturgie-Erklärungen kaum angesprochen, also nichts über Transsubstantiation oder Wirkungsweise der Konsekrationsworte. Intensiviert wurde bei der Messe die Passionsfrömmigkeit. Seitdem Bernhard von Clairvaux († 1153) neben der Brautmystik auch die Vergegenwärtigung des realen Lebens Jesu empfohlen hatte, war damit der schon von Paulus verkündete ›gekreuzigte Christus‹ neu in den Vordergrund gerückt. Frömmigkeit bedeutete im Hoch- und Spätmittelalter gerade auch die Einung mit dem ›Christus passus‹, nämlich das emotionelle Sich-Einfühlen in die einzelnen Akte und Worte seiner Passion. In diese Passionsfrömmigkeit wurde nun auch die Liturgie und besonders die Messe einbezogen. Wegen der Begegnung mit dem leidenden Jesus geschieht eine vorausgehende Gewissenserforschung, selbstverständlich mit Reue und Leid sowie allen nötigen Vorsätzen, sodann die Bestärkung des ganzen Christenlebens im ›Mitleiden‹. Thomas von Kempen († 1471) erneuerte den zentralen Gedanken des Selbstopfers, was die scholastische Theologie in solcher Klarheit kaum erreicht hatte. Die Stimme des Geliebten, der Christus ist, kann sagen: »Was sollte Ich sonst von dir verlangen, als dass du dich aus dem Grunde deines Herzens Mir hinzugeben trachtest? Was du Mir außerhalb dir selbst noch gibst, das kümmert Mich nicht; denn nicht deine Gabe suche Ich, sondern dich selbst. Wie es dir nicht genügte, wenn du alles hättest, nur Mich nicht, so werde auch Ich nicht damit zufrieden sein können, wenn du Mir alles schenkst, dich selbst aber Mir vorenthältst. Weihe dich also Mir und bring dich Gott zur Gabe dar, und dein Opfer wird angenommen werden!«22. So ist diese Kommunionfrömmigkeit nicht schlechtweg privatisierend, nicht allein eine Begegnung Jesu mit der Einzelseele, wie oft eingewendet worden ist. Der Gedanke einer Inkorporation in den Leib der Kirche ist keineswegs gänzlich 22  Thomas von Kempen, De imitatione Christi, hgg. v. Michael Joseph Pohl, Opera omnia 2, Freiburg 1903, 89–138, hier 112; Übersetzung: Hermann Endrös, Nachfolge Christi des Thomas Hemerken aus Kempen genannt Thomas von Kempen, München 1949, 187–227, hier 205.

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vergessen; in den Leib Christi wollte man eingegliedert werden, der die Kirche sei. 23 Lange hat man dem Spätmittelalter eine Schaufrömmigkeit unterstellt und dabei auf das vielbezeugte Anschauen der in der Messe nach der Wandlung erhobenen Hostie wie auch der nun in gläsernen Behältern gezeigten Reliquien verwiesen, was alles ›magisch‹ gewesen sei. Inzwischen wird diese Schaufrömmigkeit umgekehrt als Bemühen um innerliches Anschauen von Bildern und damit von Innerlichkeit überhaupt gedeutet: »Bildandacht und Bildgebet zielten vor allem auf die Erstellung von inneren Schauräumen sowie den Wechsel der Welten. Der äußere Blick auf ein materielles Bild war oftmals nur Anlass zum Erstellen innerer Bilder«24. Das betraf sowohl das private Beten wie auch die Liturgie.

11. Fazit In der frühmittelalterlichen Welt ist das Christentum mehr kultisch und weniger doktrinell oder ethisch verstanden worden. Es hatte vor allem den effektiven Ritus zu bieten. Die Internalisierung der Gebote und das Verstehen des Dogmas blieben der kleinen elitären Schicht von Spiritualen vorbehalten. Selbst auch der Seelsorgeklerus dürfte sich nur wenig hervorgetan haben. Der Liturgie wegen war Lesefähigkeit gefordert, und karolingische Pastoralanweisungen verlangen korrekte Rezitation, zum Beispiel das fehlerlose Aussprechen der Latein-Texte. Die Predigt sollte zumindest in der Ermahnung bestehen, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Faktisch wurde oft nur das Glaubensbekenntnis gesprochen. Dieses aber musste, etwa mit ›gezeugt und nicht geschaffen‹, unverstehbar bleiben. Gleichwohl wurden solche Texte 23  Vgl. Eamon Duffy, The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England 1400–1580, New Haven/London 1992, 91–95. 24  Thomas Lentes, Soweit das Auge reicht. Sehrituale im Spätmittelalter, in: Barbara Welzel / Ders. / Heike Schlie (Hg.), Das ›goldene Wunder‹ in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter, Bielefeld 2003, 249.

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gebetet, nun aber in einem anderen Sinn, nämlich als segensmächtige und unheilabwehrende Formel. Die Liturgie verstand man als heilende und schützende Ritualität. In solcher Weise wurde sie benutzt und dem alltäglichen Leben dienstbar gemacht. Eine Instruktion war dafür kaum nötig. Vielmehr suchte man ihre Wirkung und akzeptierte sie ob ihrer Effektivität. Das Gebet besaß einen Wert in sich und vermittelte denselben beim Vollzug; folglich vergrößerte sich dieser Wert im Maße vermehrter Rezitation: je höher die Anzahl desto effektiver die Wirkung. Cluny hat sein Chorgebet bis zum täglichen Pensum von über zweihundert Psalmen gesteigert. In gleicher Weise vermehrbar hat man auch die Wirkung der Messe gedacht: Je zahlreicher die Messfeiern desto höher der erhoffte Gewinn. Auf diese Weise ergab sich für alle Frömmigkeit ein Zählen, so dass noch der spätmittelalterlichen Frömmigkeit das Zählen geradezu allgegenwärtig war. Gleichwohl darf man sich nicht vorstellen, das mittelalterliche Christenleben sei ohne jede Beteiligung verlaufen. Im Gegenteil, denn allen Getauften legte gerade die Liturgie zahlreiche und völlig neuartige Forderungen auf: die Taufe der Kinder, der sonnund festtägliche Kirchgang, die Beichte, die Beerdigung der Toten auf den Friedhöfen, die Fürsorge für die Seelen der Verstorbenen, obendrein die Errichtung einer Kirche, die Abgabe des Zehnten, der Unterhalt des Klerus. Dies alles erforderte eine Umstellung des ganzen Lebens mitsamt seinen Deutungen und Abläufen. Insofern kann man sagen, dass im Mittelalter die Liturgie den Laien lebensnotwendig war und ihnen viel abverlangt hat. Am Ende des Mittelalters lassen sich zwei Stoßrichtungen beobachten: zum einen die immer noch weiter gesteigerte Zahl der Gebete, Ritualien und Messfeiern mitsamt einem wundersüchtigen Gebrauch der Heilsmaterie, zum anderen der verinnerlichte und andächtige Vollzug, der auf die äußeren Formen ganz verzichten konnte. Weiterhin wurde die sakramentale Dinghaftigkeit, obwohl nun oft genug als ›ungeistlich‹ gescholten, ›realistisch‹ genutzt, indem man das wahre Fleisch und Blut Jesu Christi gerade dort ›wirklich‹ bestätigt fand, wo Blut aus der Hostie tropfte. Zugleich aber wurde die herzlich mitempfindende Com-

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passio gefordert und aller Blutrealismus als äußerlich gescholten und die rein geistige Kommunion empfohlen. So konnten sich im Spätmittelalter Sakramentsrealismus und Sakramentsspiritualismus überlagern, zum Schaden eines Ineinanders von Materie und Geist, von Leibhaftigkeit und Beseeltheit. Ja, bald erschien das Kampfwort vom ›leeren Ritual‹: Was nur rituell vollzogen und ohne innere Frömmigkeit bleibe, das sei eben ›leer‹. Die Humanisten begannen mit dieser Kritik und die Reformatoren realisierten sie in einer neuen Liturgie, der es primär um die Herausstellung des reinen Gotteswortes ging und weniger um den Ritus.

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Luthers Theologie des Gottesdienstes Christopher Spehr

1. Gottesdienstliche und theologische Aspekte Martin Luthers Tagesablauf strukturierten spätestens seit seinem Klostereintritt im Jahr 1505 Gebetszeiten und Messen. Von den klösterlichen Stundengebeten, über die tägliche Konventsmesse, die gestifteten Privatmessen, bis hin zu gottesdienstlichen Feiern reichten Luthers klösterliche Gottesdiensterfahrungen.1 Mit seiner Priesterweihe übernahm der junge Kleriker die Mitwirkung am Altardienst, der als höchster Dienst im Kloster galt. Durch seine Predigttätigkeit im Kloster, seit 1514 zusätzlich in der Wittenberger Stadtkirche sammelte Luther praktische Erfahrungen, nicht zuletzt mit der sonntäglichen Messe, dem gemeindlichen Hauptgottesdienst. 2 Für Luther war der Gottesdienst in seinen verschiedenen Ausformungen frömmigkeitspraktisch prägend und amtstheologisch grundlegend. Im Folgenden gilt es, einen Überblick über Luthers reformatorisches Gottesdienstverständnis zu geben, das er im »Entscheidungsjahr«3 1520 erstmals theologisch profilierte und zwischen 1523 und 1526 liturgisch akzentuierte. Weil seine re1  Zum Kloster- und Gebetsdienst des jungen Luthers vgl. Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981, 70–77; Andreas Odenthal, »… totum psalterium in usu maneat«. Martin Luther und das Stundengebet, in: Dietrich Korsch / Volker Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie (SMHR 53), Tübingen 2010, 69–117. 2  Vgl. Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik (FGLP 1), Tübingen 1942, 14–16; Brecht, Luther Bd. 1 (s. Anm. 1), 150–154. 3  Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a.M. / Leipzig 2009, 266–268.

Luthers Theologie des Gottesdienstes

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formatorischen Erkenntnisse allesamt theologisch fundiert sind, drängt sich die spezifische Beschreibung einer Theologie des Gottesdienstes bei Luther auf. Allerdings ist aufgrund von Luthers Theologieverständnis eine derartige Genitiv-Konstruktion problematisch. Sachgemäßer wäre es, von der einen Theologie Luthers zu sprechen, die sich in den theologischen Gegenstandsbereichen der Heiligen Schrift, der Taufe, des Abendmahls, der Buße, des Gottesdienstes u.a. konkretisiert. Diese reformatorische Theologie enthält immer wiederkehrende Strukturen, die sich durch die Stichworte Schriftauslegung, Unterscheidungslehre und Erfahrungswissenschaft beschreiben lassen und auch beim Thema »Gottesdienst« zur Anwendung kommen.4 Je nach Problem und Thema variieren diese Strukturen, verweisen aber stets auf Luthers Gesamttheologie. Nur von der gesamttheologischen Perspektive her ist es – wenn überhaupt – möglich, von einer Theologie des Gottesdienstes bei Luther zu sprechen.5

2. Der Gottesdienstbegriff Das Wort »Gottesdienst«, das sich seit dem 13. Jahrhundert als deutsche Übersetzung des lateinischen Wortes »cultus« in Form der althochdeutschen Genitivverbindung »gods dienst« verbrei4  Vgl. Albrecht Beutel, Theologie als Schriftauslegung, in: Ders., Luther Handbuch, Tübingen 2005, 444–449; Ders., Theologie als Unterscheidungslehre, in: AaO., 450–454; Ders., Theologie als Erfahrungswissenschaft, in: AaO., 454–459. 5  Zur theologischen Dimension des Gottesdienstes vgl. Vilmos Vajta, Theologie des Gottesdienstes bei Martin Luther (FKDG 1), Göttingen ²1954; Gerhard Ebeling, Die Notwendigkeit des christlichen Gottesdienstes, in: ZThK 67 (1970), 232–249; Manfred Josuttis, Theologie des Gottesdienstes bei Luther, in: Friedrich Wintzer (Hg.), Praktische Theologie, Neukirchen-Vluyn 51997, 32–43; Jochen Arnold, Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Dogmatik (VLH 39), Göttingen 2004, 231–317; Johannes-Friedrich Albrecht, Der Gottesdienst bei Martin Luther, in: Hans-Peter Großhans / Malte D. Krüger (Hg.), In der Gegenwart Gottes. Beiträge zur Theologie des Gottesdienstes, Frankfurt a.M. 2009, 125–137.

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tete, wurde durch Luther und die Reformation nachhaltig geprägt. Als Bezeichnung für die gemeinschaftlich-rituelle Feier avancierte das Wort im Protestantismus zum liturgischen Zen­ tralbegriff und setzte sich gegen den Begriff »Messe« durch.6 Für Luther und seine Zeitgenossen ist der Gottesdienst nie auf die spezifisch liturgische Handlung der Gemeinde beschränkt, sondern er ist vor allem Synonym für die Gottesverehrung im Allgemeinen. Der Gottesdienst bildet einen theologischen Gegenstandsbegriff, den der Reformator beispielsweise anhand der Interpretation der zehn Gebote gewinnt und am ersten Gebot orientiert.7 Weil Luther nach Röm 12,1 das gesamte Christenleben als Gottesdienst bezeichnen kann, wird Gottesdienst zum Inbegriff christlichen Glaubens und Lebens überhaupt. Die Bezeichnung des Gottesdienstes als Gottesverehrung oder Gottesfurcht8 identifiziert aufs Kürzeste die relationale Beziehung zwischen Gott und Mensch und somit das gesamte Gottes- und Menschenverhältnis. Ihren fundamentaltheologischen Ausdruck erfährt die Beziehung im Glauben, ihren ethischen Ausdruck beispielsweise in Luthers Ständelehre und ihren liturgischen Ausdruck in dem gottesdienstlichen Geschehen der feiernden Gemeinde. Von dieser allgemeinen Bezeichnung ausgehend, nimmt Luther den spezifischen Begriff Gottesdienst bzw. »cultus« in den Blick, den er synonym zu den Begriffen »Messe«, »Missa« und »Communio« verwenden oder durch Bezeichnungen wie »Versammlung«, »Amt des Dieners und des Pfarrherrn« oder »das Wort Gottes« interpretieren kann.9 Die liturgische Ordnung des Gottesdienstes beschreibt er durch die Wendung »Ordnung Gottesdienst«. Diese Bezeichnung findet sich im Titel von zwei seiner drei grundlegenden Gottesdienstschriften: »Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeine«10 (1523), »Formula Missae

6  Vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin / New York 2004, 5f.; Patrick Dondelinger, Art. Gottesdienst 1, RGG4 3, 1173. 7  Vgl. z.B. WA 6, 50, 24f.; 59, 26–29 (Sermon von dem Wucher, 1520). 8  WA 19, 215, 24: »Denn Gotts dienst heyssen sie Gotts furcht«. 9  Vgl. Friedrich Kalb, Art. Liturgie 1, TRE 21, 363. 10  WA 12, 35–37.

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et Communionis«11 (1523) und »Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts«12 (1526). Im Folgenden gilt es, den Gottesdienstbegriff in fundamentaltheologischer, ethischer und liturgischer Perspektive zu entfalten. In einem ersten Schritt wird die relationale Dimension von Gott her bestimmt, in einem zweiten auf den Menschen hin orientiert und in einem dritten, die Gottesdienstschriften integrierenden Schritt, auf das Wechselgeschehen zwischen Gott und Mensch im Gottesdienst hin konkretisiert.

3. Der Gottesdienst als Werk Gottes: Wort und Gabe Die spätmittelalterliche Gottesdienstauffassung, mit welcher der junge Luther aufwuchs, verstand die Messe als Opfer (sacrificium). Der zwischen Gott und den Menschen vermittelnde Priester hatte die Opfergabe, die im zu Leib und Blut Christi gewandelten Brot und Wein bestand, Gott am Altar darzubringen. So bildete die Messe eine priesterliche Kulthandlung, die darauf zielte, Gott gnädig und versöhnlich zu stimmen.13 Im Rahmen der Entwicklung seines reformatorischen Gottes- und Menschenverständnisses erfährt die Messe eine fundamentale Neuinterpretation. Es ist das den sakramentalen Kern der Messe prägende Abendmahl, an dem Luther seine rechtfertigungstheologische Entdeckung anschaulich macht. Im »Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe«14 (1520) bestimmt er die relationale Beziehung von Gott her, indem er den jeglicher menschlichen Tätigkeit zuvorkommenden göttlichen Gabecharakter, die Zusage (promissio) durch Gottes Wort, betont:

11 

WA 12, 205–220. WA 19, 70–113. 13  Vgl. Wolfgang Simon, Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption (SMHR 22), Tübingen 2003, 131–164. 14  WA 6, 353–378. 12 

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»Wen der mensch soll mit gott zu werck kummen und von yhm ettwas empfahen, ßo muß es also zugehen, das nit der mensch anheb und den ersten steyn lege, sondern gott allein on alles ersuchen und begeren des menschen muß zuvor kummen und yhm ein zusagung thun. Dasselb wort gottis ist das erst, der grund, der felß, darauff sich [h]ern[a]ch alle werck, wort, gedancken des menschen bawen, wilchs wort der mensch muß danckbarlich auffnehmen und der gotlichen zusagung trewlich gleuben und yhe nit daran zweyffeln, es sey und gescheh also, wie er zusagt«15.

Das Wort Gottes ist Medium und Gegenstand der Offenbarung schlechthin.16 Durch das Wort, das Luther als Gesetz und Evangelium charakterisiert, teilt sich Gott den Menschen mit. Er kommuniziert mit ihnen durch sein biblisches und gepredigtes Wort. Gleichzeitig wird das Wort Gottes als Evangelium selbst zur substanzhaften Zusage, zum in Jesus Christus menschgewordenen Verheißungswort und lebensstiftenden Vergebungswort. Diese zugesagte Heilsgabe, die Gott in Jesus Christus seiner Gemeinde schenkt, ist sein Dienst am Menschen. So wird der Gottesdienst zum Gabegeschehen, in dem seine Wohltat (beneficium) als das Testament Christi dem Menschen im Glauben zugeeignet wird.17 Als theologisches Zentrum der Messe profiliert Luther die als Vermächtnis und Testament Christi interpretierten Einsetzungsworte des Abendmahls.18 In Umkehrung des spätmittelalterlichen Messverständnisses, in dem der Priester als Handelnder Gott das ihn besänftigende Opfer darbringt, ist es nun Gott, der als Akteur durch Wort und Sakrament den Gläubigen das Heil vermittelt und schenkt. Weil dieser Gott nicht der strafende, richtende oder zornige Gott, sondern der den Menschen in Christus zugewandte barmherzige Gott ist, hat dieses von Luther neu erfasste Gottesbild umstür15 

WA 6, 356, 3–10. Vgl. Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), Tübingen 1991, 87–130. 17  Vajta, Theologie (s. Anm. 5), 43, Anm. 1 interpretiert das Gegenüber von »beneficium (testamentum, donum)« und »sacrificium (opus bonum, meritum)« als durchgängige Erscheinung in Luthers Gottesdienstverständnis. 18  WA 6, 359, 13–16. Zur Testamentshandlung vgl. Reinhard Schwarz, Der hermeneutische Angelpunkt in Luthers Meßreform, in: ZThK 89 (1992), 340–364. 16 

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zende Auswirkungen. Das im Evangelium der Messe, d.h. den Einsetzungsworten (verba testamenti), zugesagte Vermächtnis Christi ist »nit beneficium acceptum, sed datum, es nympt nit wolthat von uns, ßondern bringt uns wolthat.«19 Auf dieser Zusage der Vergebung aller Sünden, der Gnade und des ewigen Lebens gründet der gläubige Empfang der Messe: »Alßo auch in der meß geben wir Christo nichts, sondern nehmen nur von yhm«. 20 Aufgrund dieser christologisch-soteriologischen Erkenntnis kann für Luther die Messe nicht länger als tätiges Opfer oder Werk des Menschen bzw. der ­K irche gelten. 21 Weil der Mensch nach seiner anthropologischen Grundbestimmung Sünder ist, ist er zudem überhaupt nicht in der Lage, sein Heil durch gute Werke und Leistungen zu erlangen. Somit wird im Gegenüber zur römischen Heils- und Gnadenlehre die Werkgerechtigkeit stigmatisiert und der Messopfergedanke im Abendmahl destruiert. 22 Die Tiefendimension des promissionalen Mess- bzw. Gottesdienstverständnisses entfaltet Luther in seiner, die reformatorische Sakramentenlehre profilierenden Schrift »De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium«23 (1520).

19 

WA 6, 364, 20f. WA 6, 364, 23. Dorothea Wendebourg, Essen zum Gedächtnis. Der Gedächtnisbefehl in den Abendmahlstheologien der Reformation (BHTh 148), Tübingen 2009, 47 weist darauf hin, dass für Luther das Abendmahl gebendes Handeln Gottes ist, das der Mensch nur »empfangen«, »nehmen« und »genießen« kann. 21  In WA 6, 369, 11–18 formuliert Luther ein Opferverständnis aus evangelischer Sicht, welches das Opfer als die Gott reizende Aktivität des Gläubigen in Loben, Beten und Opfern versteht. Den Empfangscharakter stellt Luther mit diesem Erklärungsversuch aber nicht in Frage. 22  Vgl. WA 6, 365, 23–26. Zur mittelalterlichen Heils- und Gnadenlehre vgl. Berndt Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre (BHTh 54), Tübingen 1977; Volker Leppin, Theologie im Mittelalter (KGE 1,11), Leipzig 2007. 23  WA 6, 497–573. 20 

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4. Der Gottesdienst als Dienst des Menschen Während Luther in seinen sakramentstheologischen Schriften der frühen 1520er Jahre den Dienst Gottes am Menschen von den Einsetzungsworten als testamentarische Heilsgabe bestimmen und somit den Gottesdienst als Werk Gottes definieren kann, spricht er in seinen katechetischen Schriften und Predigten vom Gottesdienst als Dienst des Menschen an Gott.

4.1. Der Gottesdienst als Ausdruck des Glaubens Die erste umfangreiche Ausarbeitung dieser Thematik bietet Luther im »Sermon von den guten Werken«24 (1520). Auf die Frage, was gute Werke sind, antwortet er: Nur das könne als ein gutes Werk bezeichnet werden, was Gottes Willen und Gebot erfüllt. 25 Anhand der zehn Gebote entwickelt Luther die von Gott gebotenen und ihn ehrenden Werke, die er von den menschlichen Werken deutlich abgrenzt. Als erstes und höchstes Werk bestimmt Luther nach Joh 6,28 f. den Glauben an Christus. 26 Allein durch den Glauben wird Gott geehrt, so dass alles, was im Glauben geschieht, Gottesdienst ist. Somit ist seitens des Menschen der Glaube, den Luther als geschenktes, festes Vertrauen auf die göttliche Gnade bestimmt, die angemessene Form der Gottesverehrung und der rechte Gottesdienst, wie er 1521 betont: »Der glawb ist der recht gottis dienst«.27 Und 1530 formuliert er: »denn es ist kein ander Gottesdienst denn allein glauben.«28 Den Glauben und somit den wahren Gottesdienst bestimmt Luther im »Sermon von den guten Werken« vom ersten Gebot (Ex 24 

WA 6, 202–276. WA 6, 204, 13–24. 26  Vgl. WA 6, 204, 25–209, 23. Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 22004, 256–261; Dietrich Korsch, Glaube und Rechtfertigung, in: Beutel (Hg.), Handbuch (s. Anm. 4), 372–381. 27  WA 8, 172, 3. 28  WA 32, 53, 19f. 25 

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20,3) her. Der Glaube als Zuversicht des Herzens ist die Erfüllung des ersten Gebotes: »Du sollst keine anderen Götter haben«. 29 Alle übrigen Werke, die von Luthers Zeitgenossen dem ersten Gebot zugerechnet werden, wie die gottesdienstlichen Tätigkeiten Singen, Lesen, Orgelspielen, Messehalten sind nutzlos, wenn sie nicht im Glauben geschehen.30 Das erste Gebot als höchstes Gebot wird für das Gottesverhältnis prägend und für das Gottesdienstverständnis entscheidend. Denn ohne den Glauben gilt: »auszwendig got geehret, ynwendig sich selb fur einen abgot gesetzt«31. Pointiert und wirkmächtig entfaltet er das erste Gebot im »Großen Katechismus«32 (1529), indem er die Zusammengehörigkeit von Glaube und Gott unterstreicht und Gott durch den Satz profiliert: »Worauf Du nu[n] (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott«33. Setzt das Herz seine Zuversicht allein auf Gott, wird Gott die rechte Ehre und der rechte Gottesdienst gegeben. Vertraut das Herz auf andere Güter und Gaben, so betreibt der Mensch »falschen Gottesdienst und Abgötterei«.34 Die Unterscheidung von rechtem und falschem Gottesdienst, die der Antithetik Glaube und Unglaube, Gott und Abgott folgt, beschreibt Luther im »Großen Katechismus« in zwei Dimen­ sionen. Zum einen weist er auf den allgemeinen oder natürlichen Gottesdienst aller Menschen hin, wenn er betont: »Denn es ist nie kein Volk so [ruchlos] gewesen, das nicht einen Gottesdienst aufgerichtet und gehalten habe«35. Den außerchristlichen Religionen schreibt Luther eigene Formen der Gottesverehrung zu, die er, weil sie nicht dem christlichen Gott dienen, als Götzendienst

29 

Vgl. WA 6, 209, 24–210, 9. Vgl. WA 6, 211, 12–36. 31  WA 6, 211, 28f. 32  WA 30/1, 125–238; BSLK12, 543–733. 33  BSLK12, 560, 22–24. 34  BSLK12, 563, 36f. Zur Thematik vgl. WA 10/1,1, 273, 11–15; 532, 20– 533, 6; WA 12, 148, 15f. 35  BSLK12, 563, 37–40. 30 

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oder falschen Gottesdienst charakterisiert.36 Zum anderen kritisiert er die römisch-päpstliche Gottesverehrung mit ihren auf Verdienst hin ausgerichteten geistlichen Ständen und Werken als falschen Gottesdienst und »hohiste Abgötterei«, die Gottes Gottsein raubt.37 Was ein rechter Gottesdienst ist, formuliert Luther christologisch akzentuiert mit den Worten: »Szo steht nu gottis dienst darynn, das du gott erkennist, ehrist, liebest auß gantzem hertzen, alle deyn traw und tzuvorsicht auff yhn setzist, an seyner gutte nymmer tzwyffelst, widder ynn leben noch sterben, wider ynn sunden noch wolthun, wie das erst gebott leret, tzu wilchem alleyn durch Christus vordienst unnd blutt wyr gelangen mugen, der uns solches hertz erworben hatt und gibt, wenn wyr seyn wort horen und glewben, und die natur mag eyn solch hertz nit haben von yhr selb. Sihe, das ist der hewbtgottisdienst und das hohist stuck, den wyr nennen eynen auffrichtigen, Christlichen glawben und liebe tzu gott durch Christum; alßo wirtt das erst gepott von uns durch Christus blutt erfullet und gott recht grundlich gedienet«38.

4.2. Der Gottesdienst als Ausdruck des christlichen Lebens Den auf Gott ausgerichteten Dienst bestimmt Luther im »Sermon von den guten Werken« zudem vom zweiten und dritten Gebot her. Das Werk des zweiten Gebotes besteht darin, Gottes Ehre und Namen zu loben, zu preisen und zu predigen.39 Das Werk des dritten Gebotes beruht in der Heiligung des Feiertages, der durch die gottesdienstliche Übung der Messe, der Predigt und des Betens Struktur erhält.40 Weil für Luther die Gottesbeziehung den Menschen in seiner gesamten Existenz betrifft, bleibt der Gottesdienst nicht auf die erste Tafel der zehn Gebote beschränkt, sondern umfasst auch die zweite Tafel, wie er seit 1520 zeitlebens betonte:

36 

Vgl. BSLK12, 564, 1–28. Vgl. auch WA 19, 205, 25–209, 14. Vgl. BSLK12, 564, 40–565, 16. 38  WA 10/1,1, 675, 6–15. 39  Vgl. WA 6, 217, 9–11. 40  Vgl. WA 6, 229, 28–30. 37 

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»Wol ists war, das der furnemest und hohest Gottes dienst ist Gottes wort predigen und horen, item Sacrament handlen etc. als die werck der ersten tafeln unter den zehen gepoten, Aber doch heisset alles Gott gedienet, auch was der andern taffeln wercke sind, als Vater und mutter ehren, gedultig, keusch und zuchtig leben, Denn wer also lebet, der dienet und ehret den selbigen Gott«41.

Das gesamte christliche Leben, wenn es im Glauben und in der Liebe geführt wird, wird Luther zum Gottesdienst. Richtet sich der Glaube auf Gott, so die Liebe auf den Nächsten. Folglich gibt es für ihn keinen größeren Gottesdienst, als die christliche Liebe, die dem Bedürftigen hilft und ihm dient. Der Dienst am Nächsten ist Gottesdienst.42 Somit entfaltet Luther ein Gottesdienstverständnis, das jegliches Handeln des Menschen in Gedanken, Worten und Werken als Gottesdienst versteht. Diese ethische Gottesdienstdimension umfasst das Leben des Menschen in allen seinen Lebensbereichen und konkretisiert sich in den verschiedenen Berufen und Ständen und somit im Alltag der Welt. Es gilt: »Gottis dienst ist nit an eynß oder tzwey werck gepunden, auch nit ynn eynen odder tzween stend gefasset, ßondernn ynn alle werck und alle stendt geteyllet«43. Weil die mittelalterliche Unterscheidung von Laien- und Klerikerstand durch Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen aufgehoben ist, und somit alle Gläubigen Priester sind, ist der rechte Gottesdienst jedem Christenmenschen geboten.44 Weil zudem jeder Stand und Beruf durch Gott selbst eingesetzt ist, soll jeder Christ an seinem Ort mit Werken und Taten Gott ehren und ihm dienen, wodurch die Welt erhalten und das Wort Gottes verkündigt wird. Gilt dieser Dienst im Ehestand, »Ackerwerk« oder Handwerk, so auch bezüglich der Obrigkeit, deren 41 

WA 45, 682, 22–27. Vgl. WA 10/1,2, 168, 33–169, 4. 43  WA 10/1,1, 413, 7–9. 44  In seiner Programmschrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« von 1520 (WA 6, 404–469) entfaltet Luther erstmals ausführlich seine Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen, vgl. ebd. 407, 10–408, 35. 42 

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Gewaltausübung sogar als besonderer Gottesdienst charakterisiert wird.45 Der Gottesdienst ist folglich ein ganzheitliches Geschehen, durch welches der Christenmensch Gott innerlich mit dem Herzen und äußerlich mit den Werken ehrt.46 Oder in Anlehnung an den »Kleinen Katechismus« (1529) formuliert: Gottesdienst geschieht immer dann, wenn der Mensch Gott über alle Dinge fürchtet, liebet und vertraut.47

5. Der Gottesdienst als liturgisches Geschehen Nach den fundamentaltheologischen und ethischen Grundierungen, die entsprechend des doppelten Genitivs des Gottesdienstes als Dienst Gottes am Menschen und Dienst des Menschen vor Gott entfaltet wurden, gilt es die liturgische Umsetzung anhand der Entwicklung in Wittenberg und der sie begleitenden Schriften zu skizzieren.48

5.1. Der Gottesdienst als reformatorischer Streitfall Hatte Luther 1520 die Koordinaten für sein reformatorisches Gottesdienstverständnis entworfen, hielt er sich mit Änderungen der Gottesdienstpraxis anfangs auffällig zurück. Stattdessen hoffte er auf Umsetzung durch die Bischöfe oder ein allgemeines Konzil.49 45 

Vgl. WA 11, 257, 32–258, 3 (Von weltlicher Oberkeit, 1523). Vgl. WA 24, 548, 29–34. 47  BSLK12, 507, 42f. Vgl. auch WA 10/1, 675, 6–12. 48  Als liturgiewissenschaftliche Studien seien empfohlen Frieder Schulz, Der Gottesdienst bei Luther, in: Helmar Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, 2 Bde., Göttingen 1983, 297–302.811–825; Alfred Niebergall, Art. Agende, TRE 1, 779–782; TRE 2, 5–10; Rainer Volp, Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern, Bd. 2: Theorien und Gestaltung, Gütersloh 1994, 727– 747; Michael Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik. Der Evange­lische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt (TB 97), Gütersloh 2001, 29–64; Bieritz, Liturgik (s. Anm. 6), 447–474. 49  Z.B. verweist Luther im Zusammenhang der Wiedereinführung des 46 

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Mit dem Ausgang des Wormser Reichstages und der Verhängung der Reichsacht über Luther waren diese Hoffnungen geplatzt. Jetzt betont der auf der Wartburg verborgene Theologieprofessor in seiner Schrift »Vom Mißbrauch der Messe«50 (1521) das stiftungsgemäße Halten der Messe nach Christi Vorbild mit Reduzierung der Messfeier auf den Sonntag. Zudem rät er, den römischen Messkanon mit seiner auf menschlichen Satzungen fußenden Opfervorstellung und die Privatmessen zu unterbinden, empfiehlt aber aus Rücksicht auf die Schwachen ein behutsames Vorgehen.51 Während Luther mit dem geschriebenen Wort um theologische Aufklärung bemüht ist, schreiten der Augustiner-Eremit Gabriel Zwilling und der Theologieprofessor Andreas Bodenstein von Karlstadt in Wittenberg zur gottesdienstlichen Tat. Das Abendmahl wird unter beiderlei Gestalt gereicht und die Privatmessen im Augustiner-Eremitenkloster werden abgeschafft. Entscheidende Wirkung auf das gottesdienstliche Leben der Stadt übt der erste evangelische Gottesdienst aus, den Karlstadt am Weihnachtsfest 1521 in Straßenkleidung und unter Darreichung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt ohne ordnungsgemäße Anmeldung und vorangehende Beichte der Kommunikanten in der Stadtkirche feiert.52 Aus Sorge um seine Gemeinde greift der nach Wittenberg zurückgeeilte Luther im März 1522 mittels einer Predigtreihe, den »Invokavitpredigten«, ins Geschehen ein und verurteilt die Neuerungen.53 Für den Reformator ist nicht die äußere Form der gottesdienstlichen Zeremonien entscheidend, sondern die innere BereitLaienkelches 1519/20 auf ein allgemeines Konzil. Vgl. Christopher Spehr, Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit (BHTh 153), Tübingen 2010, 184–194. 50  WA 8, 482–563. Vgl. auch »De abroganda missa privata« (WA 8, 411– 476). 51  Vgl. WA 8, 537, 22–30; 562, 27–34 u.ö. 52  Vgl. Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 34–53; Kaufmann, Geschichte (s. Anm. 3), 380–392. 53  WA 10/3, 1–64. Vgl. auch WA 10/2, 11–41 (Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen, 1522).

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schaft der Gemeinde, d.h. der Glaube und die Liebe. Daher macht Luther die liturgischen Änderungen wieder rückgängig, gestattet aber außerhalb des sonntäglichen Messgottesdienstes die Austeilung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt, versagt die Privatmesse, wenn Kommunikanten fehlen, und empfiehlt den Priestern, in der Messe alle Messopferaussagen zu unterlassen. Luther selbst verfolgt das Konzept, durch die Predigt eine breite Bewusstseinsbildung im Kirchenvolk zu erzielen und die einfältigen Gewissen vom Zwang der unevangelischen Frömmigkeit zu befreien.54 Dem Reformator erwachsen nun zwei Gegnerschaften: Auf der einen Seite stehen nach wie vor die altgläubigen Gegner, die an der römischen Messopferlehre und Messpraxis festhalten, auf der anderen Seite formieren sich radikale reformatorische Kräfte, die kompromisslos ein urchristliches Gottesdienstverständnis lehren und fordern. Der Gottesdienst, Zentrum kirchlichen und frömmigkeitspraktischen Lebens, wird zum reformatorischen Streitfall. Luther sieht sich jetzt genötigt, seine Theologie in Abgrenzung beider Positionen als mittleren Weg weiterzuentwickeln und sukzessiv in die Praxis umzusetzen.

5.2. Der Gottesdienst als Wortgeschehen Nach einem Jahr intensiver Gemeindeunterrichtung beginnt Luther im Frühjahr 1523 mit konkreten Gestaltungsvorschlägen, die er in dem kleinen Traktat »Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeine« schrifttheologisch begründet.55 In Abgrenzung zur römischen Position betont er, dass sowohl Predigtamt als auch Gottesdienst in der ­Kirche wieder in rechten Gebrauch zu bringen seien. Es gebe drei Missbräuche, die in den bisherigen Gottesdienst eingedrungen seien. Erstens habe man das Wort Gottes zum Schweigen gebracht, zweitens stattdessen unchristliche Fabeln und Lügen in die liturgischen Stücke eingefügt und drittens den Gottesdienst als verdienstliches Werk getrieben.56 54 

Vgl. Reinhard Schwarz, Luther (KiG 3,1), Göttingen 1986, 123f. Zu den ersten Gottesdienstordnungen vgl. Brecht, Luther Bd. 2 (s. Anm. 52), 123–129. 56  Vgl. WA 12, 35, 6–18. 55 

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Unter Bezug auf Ps 102,23 und 1Kor 14,31 wird dagegen als Grund des Gottesdienstes das Wort Gottes betont, welches daselbst »gepredigt und gebet[et]«57 werde. Alle Bestandteile des schriftgemäßen Gottesdienstes basieren auf dem Wort und zielen auf die Verkündigung des Wortes. »Darumb wo nicht gotts wort predigt wirt, ists besser, das man widder singe noch leße, noch zu samen kome«58. Das lebendige und ewige Wort Gottes soll in doppelter Weise im Gottesdienst entfaltet werden. In der Lesung der Heiligen Schrift wird das Wort Gottes der Gemeinde zu Gehör gebracht und in der Auslegung der Gemeinde verständlich gemacht, damit sie es lernt und durch es ermahnt wird. Die Antwort der Gemeinde auf dieses Sprachgeschehen besteht darin, dass sie Gott dankt, lobt und um die Früchte des Wortes bittet. Der reformatorische Gottesdienst ist somit ein Wortgeschehen. »Denn es ist alles zuthun umb gottis wort, das dasselb ym schwang gehe und die seelen ymer auffrichte und erquicke, das sie nicht [lasch] werden«59. Von diesem Grundsatz her entwickelt Luther seine ersten liturgischen Vorschläge für die gemeindlichen Tageszeitund Sonntagsgottesdienste. Unverrückbar gilt: »Es ist alles besser nach gelassen, denn das wort. Und ist nichts besser getrieben denn das wort.«60

5.3. Der Gottesdienst als freiheitliches Handlungsgeschehen Zum reformatorischen Grundprinzip des Wortes tritt für ­Luther der evangelische Zentralgedanke der Freiheit. Wie Luther programmatisch in seinem Traktat »Von der Freiheit eines Christenmenschen«61 (1520) formuliert, gründet in der Rechtfertigung des Menschen durch Gott das christliche Freiheitsverständnis, das sich im Glauben an Gott und in der Liebe zum Mit57 

WA 12, 35, 21. WA 12, 35, 24f. 59  WA 12, 36, 24–26. 60  WA 12, 37, 29f. 61  WA 7, 20–38. 58 

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menschen konkretisiert. Weil der Christenmensch durch Christus vom Zwang aller menschlichen Werke und Gesetze befreit ist, bedarf der Glaube außer dem Wort Gottes keiner zusätzlichen Gebote und Weisungen. Daher ist der Christ auch von der Bevormundung durch die Papstkirche mit ihren, als menschliche Zusätze entlarvten, Gesetzen und Werken, zu denen auch die liturgischen Ordnungen zählen, befreit.62 Der Gedanke der christlichen Freiheit bildet eine Konstante in Luthers Äußerungen zu den gottesdienstlichen Reformvorschlägen. So lehnt er Karlstadts radikale Gottesdienstreformen ab, weil sie für ihn eine erneute Gesetzlichkeit implizieren und die reformatorische Freiheit durch neue Zwangsordnungen verhindern.63 In Frontstellung zur päpstlichen und radikal-reformatorischen Position versteht der Wittenberger Reformator den Gottesdienst als freiheitliches Handlungsgeschehen.64 Alle liturgischen Gestaltungsvorschläge Luthers geschehen stets unter dem Vorzeichen der Freiheit. So betont er in der »Formula Missae« (1523), die eine Neugestaltung des Messgottesdienstes in lateinischer Sprache und seine erste agendarisch ausgeführte Gottesdienstordnung bildet: »In allen diesen Dingen sollte vermieden werden, dass wir aus der Freiheit ein Gesetz machen, oder wir nötigen jene zu sündigen, die entweder etwas anderes tun wollen oder etwas weglassen. […] Denn die Ordnung der Christen, das heißt der Kinder der Freien, die all das willig und aus Überzeugung wahren sollen, müssen geändert werden können, sooft und wie sie wollen. Deshalb ist es nicht [recht], dass irgendwer in dieser Sache irgendeine notwendige Form wie ein Gesetz erbittet oder festlegt, womit er die Gewissen verstrickt und plagt. Denn weder bei den alten Kirchenvätern noch in der frühesten ­K irche finden wir ein Beispiel einer allgemein gültigen Ordnung, außer in der römischen Kirche«65. 62  Zum christlichen Freiheitsverständnis vgl. Hellmut Zschoch, Martin Luther und die ­K irche der Freiheit, in: Werner Zager (Hg.), Martin Luther und die Freiheit, Darmstadt 2010, 25–39. 63  Ausführlich geht Luther auf Karlstadt und die »Schwärmer« 1525 in seiner Schrift »Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament« (WA 18; 62–214) ein. 64  WA 18, 112, 33–113, 4. 65  WA 12, 214, 14–22. Übersetzung nach LDStA 3; 665, 14–25.

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Wenn Luther in der »Formula Missae« konkrete Vorschläge zur Gottesdienstgestaltung – vom Introitus bis zum Schlusssegen – unternimmt, tut er dieses, um den christlichen Gemeinden zu zeigen, wie man in gottesfürchtiger Weise Messe halten und zur Kommunion gehen kann.66 Das Singen geistlicher Gemeindelieder in deutscher Sprache empfiehlt Luther nachdrücklich und komponiert – da 1523 kaum Kirchenlieder vorhanden sind – bekanntlich selbst geistliche Lieder67 (vgl. auch den Beitrag von Jochen Arnold in diesem Band). Die als menschliche Zusätze charakterisierten liturgischen Handlungen sollen von unchristlichen Formulierungen und Gesten gereinigt werden. Liturgische Kleider oder die Gestalt des Gottesdienstraumes hält Luther für nebensächlich. Weil die Heilige Schrift in den äußeren Dingen nichts vorschreibe, solle je nach Beschaffenheit des Ortes, der Zeit und der Personen die Freiheit des Geistes wirken.68

5.4. Der Gottesdienst als gemeinschaftliche Glaubensübung In den Jahren zwischen 1521 und 1525 gewinnt die Reformation an Dynamik und Gestalt. Neben der evangelischen Predigt wird die Messe in deutscher Sprache, später auch das Verbot der römischen Messe, zum Kennzeichen der Reformation. Fragen des Aufbaus evangelischer Gemeinden und der Gestaltung reformatorischer Gottesdienste treten in den Vordergrund. Seit Herbst 1521 experimentieren an verschiedenen Orten reformatorisch gesinnte Prediger mit neuen Gottesdienstformen. 1522 erscheint in Nördlingen als erste erhaltene protestantische Gottesdienstordnung die »Evangelisch Meß« in deutscher Sprache, der u.a. in Nürnberg, Straßburg und Allstedt bis 1525 weitere Gottesdienstordnungen folgen.69 Luther reiht sich mit seiner »Formula Mis66 

Vgl. WA 12, 206, 8f. WA 12, 218, 15–32. Vgl. Martin Luther, Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Bd. 35 der WA, bearbeitet von Markus Jenny (AWA 4), Köln u.a. 1985. 68  Vgl. WA 12, 218, 36–219, 7. 69  Zur Entwicklung des evangelischen Gottesdienstes in den 1520er Jahren vgl. Niebergall, Agende (s. Anm. 48), 1–15. 67 

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sae« in diese Ordnungsvorschläge ein, ohne einen agendarischen Absolutheitsanspruch zu erheben. Statt doktrinärer Durchsetzung geht es ihm um das gemeinsame, evangelische Anliegen.70 Da für Luther die Ordnung des Gottesdienstes nicht entscheidend ist, kann er, wie er 1525 in Ablehnung der radikalreformatorischen Kräfte hervorhebt, den Gottesdienst in seinem Kloster in anderer Form als in der Stadtkirche feiern.71 Die Folge des bis dahin freiheitlichen Umgangs mit den liturgischen Ordnungen ist allerdings eine unübersichtlich werdende Pluralität und Verwirrung des Gemeindevolkes. Deshalb mahnt Luther jetzt Pfarrer und Prediger trotz Erhaltung der liturgischen Vielfalt zur regionalen Einheitlichkeit.72 Erst am 29. Oktober 1525, kurz vor dem achten Jahrestag der Thesenpublikation, beginnt Luther den von ihm weiterhin als Messe bezeichneten Sonntagsgottesdienst in der Stadtkirche in deutscher Sprache zu halten.73 Weihnachten 1525 – vier Jahre nach Karlstadts Gottesdienstfeier – wird die deutsche Messe in Wittenberg endgültig eingeführt.74 Gleichzeitig setzt sich Luther an die Abfassung der Schrift »Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts«. Das Bemühen um regionale Einheitlichkeit, welches auch in Kursachsen Thema ist, die gemeindlichen Anfragen nach autoritativer Orientierung, Probleme mit der musikalischen Gestaltung eines deutschsprachigen Gottesdienstes und die reformfreudige Haltung des seit 1525 regierenden sächsischen Kurfürsten Johann motivieren Luther zu dieser wirkmächtigen Gottesdienstschrift.75 Mit der Anfang 1526 erscheinenden Ordnung, welche durch Notenbeispiele bereichert zum sonntäglichen Gebrauch in den Gemeinden bestimmt ist, gelangt für Luther der 70 

Vgl. WA 12, 206, 12–14. Vgl. WA 18, 113, 4–8. 72  Vgl. z.B. 1525 in »Luthers Sendschreiben an die Christen in Livland« (WA 18, 418, 38–419, 6). 73  WA 17/1, 459, 15–33 (Predigt vom 29.10.1525). Dort nennt Luther die Messe als »furnemest eusserlich ampt«. 74  Vgl. Brecht, Luther Bd. 2 (s. Anm. 52), 246–253. 75  Zu den Hintergründen und der Wirkungsgeschichte vgl. WA 19, 44– 69; Schulz, Gottesdienst (s. Anm. 48), 299–302. 71 

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Einführungsprozess der Messe in deutscher Sprache zum Abschluss. Die theologischen Grundpositionen des gottesdienstlichen Handlungsgeschehens werden in der Vorrede wiederholt, der Freiheitsgedanke aber nun – nicht zuletzt nach den katastrophalen Erfahrungen des Bauernkrieges – auf den Dienst der Liebe am Nächsten eingeschränkt. Damit einfältige Menschen und das junge Volk in Gottes Wort geübt und gelehrt sowie im Glauben schwache Menschen nicht angefochten werden, hält Luther eine regional einheitliche Gottesdienstordnung für notwendig. Die liturgische Freiheit endet dort, wo die Gewissen der Gemeindeglieder beschwert werden.76 In Anlehnung an seine Wittenberger Praxis präsentiert Luther drei Formen des Gottesdienstes.77 Die lateinische Messe nach Art seiner »Formula Missae« hält er für eine sprachlich universale Gottesdienstform, die für den (ober)schulischen und universitären Kontext geeignet ist. Die deutsche Messe nach der Art, wie sie in Luthers Abhandlung ausgeführt wird, gilt den »eynfeltigen leyen« und trägt katechetischen Charakter, so dass der Gottesdienst zur gemeindlichen Glaubensübung wird. Beide Formen müssen öffentlich in den Kirchen für jedermann zugänglich sein und öffentlich zum Glauben und zum Christentum anreizen.78 Eine »dritte weyse« gottesdienstlicher Versammlung gilt denen, die »mit ernst Christen wollen seyn und das Euangelion mit hand und munde bekennen«79. Diese, an den urchristlichen Gemeindestrukturen orientierte, hauskirchliche Gemeinschaftsform, in der alles auf Wort, Gebet und Liebe ausgerichtet ist, bleibt für Luther Vision. Weil er nicht genug Mitchristen für diese dritte Weise des Gottesdienstes vorfindet, will er die Versammlung nicht einrichten.80 76  Zur Vorrede vgl. WA 19, 72–78. Eine verkürzte Übertragung bietet Meyer-Blanck, Liturgie (s. Anm. 48), 39–51. 77  Vgl. WA 19, 73, 32–75, 30. 78  WA 19, 74, 23–75, 2. 79  WA 19, 75, 5f. 80  Vgl. WA 19, 73, 12f.; 75, 15–21. Zum Motiv, die Zeit sei für eine derartige Form noch nicht reif, tritt für Luther die Befürchtung einer sektiererischen Fehlentwicklung. Zur Rezeption der dritten Weise im Pietismus

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Auch in der »Deutschen Messe« bleibt Luther seinem gesetzeskritischen Gottesdienstverständnis treu, wenn er am Ende der Schrift notiert: »Summa, dieser und aller ordnunge ist also zu gebrauchen, das wo eyn misbrauch draus wird, das man sie flux abthu und eyne andere mache […]; denn die ordnung sollen zu fodderung des glaubens und der liebe dienen und nicht zu nachteyl des glaubens. Wenn sie nu das nicht mehr thun, so sind sie schon thot und abe und gelten nichts mehr […]. Darumb stehet und gilt keyne ordnung von yhr selbs etwas, wie bis her die Bepstliche ordnunge geachtet sind gewesen, sondern aller ordnunge leben, wirde, krafft und tugent ist der rechte brauch, sonst gilt sie und taug gar nichts«81.

6. Der Gottesdienst als Dialog Betrachtet man abschließend noch einmal die rechtfertigungstheologische Grundstruktur von Luthers Theologie, kann das im Gottesdienst zum Ausdruck gebrachte relationale Verhältnis zwischen Gott und Mensch als ein dynamisches Geschehen beschrieben werden. Luther unterscheidet das Handeln Gottes und das Handeln des Menschen z.B. als katabatische und anabatische Bewegung, wobei das katabatische Handeln Gottes stets dem anabatischen Handeln des Menschen voran geht.82 Diese dynamische Grundstruktur überträgt Luther auf das gottesdienstliche Geschehen: »durch die predig kompt er [d.h. Gott] herab, ßo kommen wir durch den glawben hynauff«83. Neben der Bewegungsmetaphorik gebraucht Luther zur Beschreibung des gottesdienstlichen Geschehens die Sprachmetaphorik. Durch das Wort, entfaltet in Predigt und Sakrament, redet Gott den Menschen an und dieser antwortet ihm in Gebet und Lobgesang. So findet »ein ewig gespräch zwischen Gott vgl. Markus Matthias, Collegium pietatis und ecclesiola. Philipp Jakob Speners Reformprogramm zwischen Wirklichkeit und Anspruch, in: PuN 19 (1993), 46–59. 81  WA 19, 113, 4–18. 82  Vgl. WA 6, 526, 13–17. 83  WA 12, 565, 20f.

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und dem menschen«84 statt. Dieses dialogische Sprachgeschehen von Wort und Antwort pointiert Luther in seiner »Torgauer Kirchweihpredigt«85 (1544) programmatisch mit den Worten: »auff das dies newe Haus dahin gericht werde, das nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang«86. Die angemessene Art des Menschen auf Gottes Wort zu reagieren, besteht für Luther im Gebet sowie in Lob und Dank.87 Weil Gebet, Lob und Dank die biblisch begründete Form menschlicher Kommunikation mit Gott bilden und folglich wahrer Gottesdienst sind, gehören sie elementar zum gemeindlichen Gottesdienst. Der von Gott angeredete Mensch antwortet in doxologischer Weise auf das gehörte Wort, so dass gilt: »Darumb singen sie allesampt eyn liedlin, loben und benedeyen gott ynn Christo; denn wyr auch nichts anders mugen got geben, denn lob und danck, syntemal [d.h. weil] das ander alles wyr von yhm empfangen, es sey gnade, wort, werck, Euangelium, glawbe und alle ding. Das ist auch der eynige, recht, Christlicher gottisdienst, loben und dancken«88.

84 

WA 47, 758, 19–26. WA 49, 588–615. Zur Kirchweihpredigt vgl. Hellmut Zschoch, Predigten, in: Beutel (Hg.), Handbuch (s. Anm. 4), 320. 86  WA 49, 588, 12–18. In der jüngeren Liturgiewissenschaft wird dieser Wunsch Luthers als »Torgauer Formel« bezeichnet. Vgl. u.a. Peter Cornehl, Art. Gottesdienst 8, TRE 14, 54. Nicht zu verwechseln ist sie mit der »Torgauer Formel« bzw. »Torgauer Buch« von 1576 als eine Vorform der »Formula Concordiae« (BSLK12, 739–1110). 87  Vgl. z.B. BSLK12, 581, 15–21. Zu Gebet, Lob und Dank bei Luther vgl. Beutel, Anfang (s. Anm. 16), 466–468; Wolfgang Ratzmann, Danken, loben und bitten in Luthers Deutscher Messe und in heutigen lutherischen Agenden, in: LuJ 74 (2007), 91–112. 88  WA 10/1,2, 61, 1–6. 85 

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Die katholische Messfeier. Theologische Akzente der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils und ihre Umsetzung in der Reform eucharistischer Liturgie Andreas Odenthal

1. Einleitung und Fragestellung Die römische Messe in ihrer mittelalterlichen Prägung, die den Reformatoren als Ausgangspunkt wie zur Abgrenzung diente1, wurde im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils einer gründlichen Revision unterzogen. Wie groß der Reformstau damals war, zeigte sich bereits bei der Vorbereitung des Konzils: Beinahe ein Viertel der eingeholten Themenwünsche betraf Fragen des Gottesdienstes2. Es ist daher von außerordentlicher Bedeutung, dass die am 4.12.1963 verabschiedete Liturgiekonstitution »Sacrosanctum Concilium« die erste offizielle Äußerung dieses Konzils war. Mit ihr wurde die nachfolgende Liturgiereform eingeleitet, die auch die Feier der Eucharistie betraf3. Denn das damals gebräuchliche Messbuch beruhte im Wesentlichen auf dem im Jahre 1570 nach dem Trienter Konzil bereitgestellten Missale4, und dort 1  Vgl. hier etwa Wolfgang Simon, Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption (SuRNR 22), Tübingen 2003. 2  Vgl. Josef Andreas Jungmann, Konstitution über die heilige Li­ turgie. Einleitung und Kommentar, in: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil 1, Freiburg 21966, 9–109, hier 12. 3  Unter den vielen Darstellungen zur Eucharistie sei hier vor allem verwiesen auf Hans Bernhard Meyer, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral (GDK 4), Regensburg 1989. 4  Missale Romanum. Editio Princeps (1570). Edizione anastatica, Intro-

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war, bedingt durch die mittelalterlichen Prägungen, im Grunde die stille Messe des Priesters Grundform eucharistischer Liturgie. Nun wurde nach jahrhundertelangem Stillstand eine gründliche Überarbeitung projektiert, die mit einem »Paradigmenwechsel« einherging5: Man orientierte sich wieder an der Form der Gemeindemesse als der Normalform der Eucharistiefeier. Die folgenden Überlegungen widmen sich jener gemeindlichen Messfeier, die von den theologischen Akzentsetzungen der Liturgiekonstitution her beleuchtet wird, um die Einheit von ritueller Form und theologischem Gehalt deutlich werden zu lassen. Nach einer Vergewisserung des Gehaltes jedweder liturgischen Feier als Versammlung der ­Kirche zur Feier des »PaschaMysterium« (2. Abschnitt) wird das Subjekt des gottesdienstlichen Handelns beschrieben (3. Abschnitt). Sodann folgen Erörterungen zu Form und Struktur der nachkonziliaren Messe samt den damit gegebenen rituellen Akzentsetzungen (4. Abschnitt). Schließlich wird das Ergebnis (5. Abschnitt) zusammengefasst. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet der im Folgenden vorgestellte Artikel 6b der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils.

2. Das »Pascha-Mysterium«: Zum Gehalt der liturgischen Feier Anders als das Trienter Konzil hat das II. Vatikanische Konzil in der Liturgiekonstitution eine zusammenhängende Darstellung dessen entwickelt, was Liturgie der ­Kirche eigentlich ist. Artikel duzione e Appendice a cura di Manlio Sodi / Achille Maria Triacca. Presentazione di S.E. Carlo M. Martini (MLCT 2), Città del Vaticano 1998. 5  Zu diesem auf Thomas S. Kuhn zurückgehenden wissenschaftstheoretischen Begriff vgl. Angelus A. Häussling, Liturgiereform. Materialien zu einem neuen Thema der Liturgiewissenschaft, in: Ders., Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche, hgg. v. Martin Klöckener / Benedikt Kranemann / ­M ichael B. Merz (LWQF 79), Münster 1997, 11–45, hier 37–38.

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6b der Liturgiekonstitution beschreibt die grundlegende theologische Leitidee jedweder gottesdienstlichen Handlung der Kirche: »Seither hat die ­K irche niemals aufgehört, sich zur Feier des Pascha-Myste­ riums zu versammeln, dabei zu lesen, ›was in allen Schriften von ihm geschrieben steht‹ (Lk 24,27), die Eucharistie zu feiern, in der ›Sieg und Triumph seines Todes dargestellt werden‹, und zugleich ›Gott für die unsagbar große Gabe dankzusagen‹ (2 Kor 9,15), in Christus Jesus ›zum Lob seiner Herrlichkeit‹ (Eph 1,12). All das aber geschieht in der Kraft des Heiligen Geistes.« 6

Der Gottesdienst der ­Kirche ist immer Antwort auf das vorangegangene Handeln Gottes.7 Und dieses Handeln Gottes bestimmt die Liturgiekonstitution mit der Rede vom »Pascha-Mysterium«8. Damit sind zwei Pole der Heilsgeschichte benannt, das Pascha Israels wie das Pascha der Christenheit. Den alttestamentlichen Pol bildet die als rettendes Handeln Gottes erfahrene Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei Ägyptens, die im Buch Exodus mit dem Pascha-Mahl verbunden wird9. Mit dem neutestamentlichen 6  Kommentar bei Reiner Kaczynski, Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Peter Hünermann / Bernd J. Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 2004, 1–227, hier 63–65. 7  Vgl. hierzu etwa Andreas Odenthal, »Der Kultus als Weltauslegung«. Elemente einer Theorie des Gottesdienstes im religionsphilosophischen Ansatz von Richard Schaeffler, in: ThPh 82 (2007), 351–367; auch Elmar Salmann, Was ist Kult? Zum Verhältnis von Liturgie und Leiblichkeit, in: EccOra 12 (1995), 245–251. 8  Vgl. Irmgard Pahl, Das Paschamysterium in seiner zentralen Bedeutung für die Gestalt christlicher Liturgie, in: LJ 46 (1996), 71–93; Angelus A. Häussling, »Pascha-Mysterium«. Kritisches zu einem Beitrag in der dritten Auflage des Lexikon für Theologie und Kirche, in: ALW 41 (1999), 157–165; Joseph Kardinal Ratzinger, 40 Jahre Konstitution über die heilige Liturgie. Rückblick und Vorblick, in: LJ 53 (2003), 209–221, hier 212–215; Benedikt Kranemann, Die Theologie des Pascha-Mysteriums im Widerspruch. Bemerkungen zur traditionalistischen Kritik katholischer Liturgietheologie, in: Peter Hünermann (Hg.), Exkommunikation oder Kommunikation? Der Weg der ­K irche nach dem II. Vatikanum und die PiusBrüder (QD 236), Freiburg/Basel/Wien 2009, 123–151. 9  Vgl. zur Geschichte der Osternachtfeier im Hinblick auf den benannten alttestamentlichen Kern Hansjörg Auf der Maur, Die Osterfeier in der alten Kirche. Aus dem Nachlaß hgg. v. Reinhard Messner / Wolfgang

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Pol ist das österliche Christusereignis eingeholt: Christi Leiden, Tod und Auferstehen, eingeleitet mit dem Letzten Abendmahl, stehen im Zentrum des Gottesdienstes10. Das seinen Höhepunkt im Kreuzesgeschehen offenbarende Heilshandeln Gottes als des Retters und Erlösers ist Grund des gottesdienstlichen Handelns der Kirche. Es bildet Anlass wie Inhalt des Handelns der Kirche, das darin besteht, »Gott für die unsagbar große Gabe dankzusagen«. Die inhaltliche Füllung mit dem Pascha-Mysterium wird durch das entscheidende Paradigma des Gottesdienstes als »Danksagung« ergänzt, gerade in Bezug auf die ranghöchste Form der Liturgie, die deshalb auch »Eucharistiefeier« (Danksagung) heißt. Von der Danksagung ist das Gedächtnis (Anamnese, Erinnerung) nicht zu trennen: Die gottesdienstliche Antwort der ­Kirche ist Re-Aktion auf das vorgängige Heilshandeln Gottes in Jesus Christus, jedoch so, dass das Heilshandeln Gottes in der kultischen Begehung neu realisiert wie rememoriert wird. Der Rekurs auf das Kreuzesgeschehen bringt dabei weitere entscheidende Motive eucharistischen Betens: Versöhnung (»Sühne«) und Erlösung für die versammelte Gemeinde, ja für die ganze Welt. Die christliche Gemeinde feiert also »den ›transitus‹ Jesu vom Tod zur Auferstehung als einen Weg, in den die Gemeinde durch die Feier der Liturgie einbezogen wird, ohne daß sie jemals das eigene Leiden und den eigenen Tod, das Leiden der Menschheit in Vergangenheit und Zukunft durch irgendwelche magische Machenschaften überspielen könnte«11. In der Danksagung wird G. Schöpf. Mit einem Beitrag von Clemens Leonhard (Liturgica Oenipontana 2), Münster 2003, etwa 16–31; zum Ritenkomplex der Osternacht im Hinblick auf das Alte Testament und die von dort übernommene Motivik vgl. auch Georg Braulik/Norbert Lohfink (Hg.), Osternacht und Altes Testament. Studien und Vorschläge. Mit einer Exsultetvertonung von Erwin Bücken (ÖBS 22), Frankfurt a. M. 22003. 10  Vgl. hier etwa Andreas Odenthal, Die Feier des Pascha-Mysterium als »sinngebender Interpretationsrahmen«. Symboltheoretische Überlegungen zum gregorianischen Introitus »Nos autem gloriari oportet« im Hinblick auf eine »aktive Sprachkompetenz« der feiernden Gemeinde, in: LJ 56 (2006), 54–77. 11  Josef Wohlmuth, Jesu Weg – unser Weg. Kleine mystagogische Christologie, Würzburg 1992, 48.

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das vergangene Heilshandeln Gottes so erinnert, dass es kultisch erneuert und lebendige Gegenwart wird. Zugleich sind die gottesdienstlichen Feiern Realisierung der von Jesus angekündigten Gottesherrschaft, deren Vollgestalt freilich noch aussteht: »Die Nähe Jesu Christi (dessen Transitus) stellt die Liturgie-Feiernden in die Dramatik der bis heute unabgegoltenen Hoffnung vergangener Generationen, indem sie sie auf die noch ausständige eschatologische Versöhnung der ganzen Schöpfung verweist«12. Gerade in der Mahlgemeinschaft durch das Brechen des Brotes vergewissert sich die ­K irche der entscheidenden erlösenden Deutung des Fluchtodes Jesu: »Sein Tod erweist sich als transitus zu einem Leben in Vollendung«13. Demnach ist Gedächtnis vorwegnehmende Vergegenwärtigung, ohne dass die mit Israel gemeinsam erhoffte Vollendung von Zeit und Welt bereits eingelöst wäre14.

3. Christus – ­Kirche – Gemeinde: Zum Subjekt des Gottesdienstes Es ist bemerkenswert, dass Artikel 6b der Liturgiekonstitution die Feier des Pascha-Mysteriums an eine empirische Größe bindet: Gottesdienst heißt »sich versammeln«. Die Gemeinde ermöglicht den Gottesdienst in ihrer konkreten Versammlung. Das Subjekt der Versammlung indes ist theologisch gesehen die ­Kirche selbst, die sich hier realisiert. Die konkrete Gemeinde vor Ort ist also Trägerin der Liturgie, deren Subjekt die ­Kirche selbst ist: Der Gottesdienst ist »Selbstvollzug« der Gesamtkirche15. 12 

Thomas Freyer, Sakrament – Transitus – Zeit – Transzendenz. Überlegungen im Vorfeld einer liturgisch-ästhetischen Erschließung und Grundlegung der Sakramente (BDS 20), Würzburg 1995, 247. 13  Pahl, Paschamysterium (s. Anm. 8), 73. 14  Vgl. hier grundsätzlich Josef Wohlmuth, Mysterium der Verwandlung. Eine Eschatologie aus katholischer Perspektive im Gespräch mit jüdischem Denken der Gegenwart (Studien zu Judentum und Christentum), Paderborn 2005. 15  »Die ganze Theologie ist in allen Disziplinen eine kirchliche Wissen-

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Das hat in der katholischen Tradition etwa die Konsequenz, dass nicht die konkrete Ortsgemeinde, sondern die Universalkirche Gesetzgeberin im liturgischen Recht ist. Zugleich wird der Blick über die konkrete Ortsgemeinde hinaus auf die Universalkirche geweitet: Sie verwirklicht sich im synchron wie diachron über die ganze Welt verstreut gehaltenen Gottesdienst, was durch die Nennung des Leiters der Ortskirche, des Bischofs, wie der Universalkirche, des Papstes, im Eucharistiegebet Ausdruck findet. Auch die vollendete »­Kirche des Himmels« ist im gottesdienstlichen Tun präsent, wenn etwa in der Präfation »mit allen Engeln und Heiligen« zum Singen des Dreimal Heilig eingeladen wird16. Ferner zählen auch die verstorbenen Mitglieder der ­Kirche dazu, deren in den Kanonfürbitten des Eucharistiegebetes gedacht wird. Ist also phänomenologisch die konkrete Gemeinde Trägerin des Gottesdienstes, so theologisch die gesamte Kirche. Doch kann sie nichts aus sich selbst heraus tun, sondern nur, wenn sie sich für das Wirken des Gekreuzigt-Auferstandenen öffnet. Deshalb gehört eine weitere theologische Qualifizierung des Gottesdienstes in diesen Kontext. In Artikel 7 der Liturgiekonstitution heißt es: Um dieses große Werk voll zu verwirklichen, ist Christus seiner ­K irche immerdar gegenwärtig, besonders in den liturgischen Handlungen. Gegenwärtig ist er im Opfer der Messe sowohl in der Person dessen, der den priesterlichen Dienst vollzieht – denn »derselbe bringt das Opfer jetzt dar durch den Dienst der Priester, der sich einst am Kreuz selbst dargebracht hat« –, wie vor allem unter den eucharistischen Gestalten. Gegenwärtig ist er mit seiner Kraft in den Sakramenten, so dass, wenn immer einer tauft, Christus selber tauft. Gegenwärtig ist er in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der ­K irche gelesen werden. Gegenwärtig ist schaft, gerade wenn und weil sie auch der ­K irche gegenüber eine kritische Funktion ausübt, da ja diese dem Glauben der ­K irche als solcher immanent ist. Das bedeutet aber auch, daß alle theologischen Disziplinen dem Selbstvollzug der ­K irche zu dienen haben, also ein Moment der praktischen Theologie in sich selbst tragen«, in: Karl Rahner, Die praktische Theologie im Ganzen der theologischen Disziplinen, in: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. 8, Einsiedeln / Zürich / Köln 1967, 133–149, hier 140. 16  So in Artikel 8, der von der vorauskostenden Teilnahme an der himmlischen Liturgie spricht. Vgl. Kaczynski, Kommentar (s. Anm. 6), 71–72.

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er schließlich, wenn die ­K irche betet und singt, er, der versprochen hat: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20)17.

Hier geht es um die vielfältigen Formen der Gegenwart des Gekreuzigt-Auferstandenen im Gottesdienst seiner Kirche. Dabei ist die Bindung Christi an die rituellen Handlungen und die sie ausführenden Menschen bemerkenswert: Wenn einer tauft, ist es phänomenologisch der konkrete Mensch (der übrigens im Notfall nicht einmal selbst getauft sein muss), theologisch Christus selbst. Die Liturgie als »Vollzug des Priesteramtes Christi« rückt das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen in den Blick. Dieses Taufpriestertum ist Grundlage des entscheidenden liturgiebestimmenden Prinzipes, das die Liturgiekonstitution neu benannt hat, nämlich der »tätigen Teilnahme« (»actuosa participatio«) aller Gläubigen18. Die Versammlung von nur Zweien oder Dreien kann bereits als Trägerin der Gegenwart des Herrn qualifiziert werden. Vor diesem Hintergrund, dem Taufpriestertum aller, gewinnt das besondere Priestertum des ordinierten Amtes seine spezifische Konturierung: Der Priester als Leiter der Eucharistie handelt »in persona Christi«: Christus selbst »tönt durch« (per-sonare). Das bedeutet für den priesterlichen Leitungsstil, im besten Sinne eine »Rolle« zu übernehmen und die eigene Person dahinter zurücktreten zu lassen. Die nachkonziliare Eucharistiefeier lebt vom Zueinander des gemeinsamen wie besonderen Priestertums sowie der damit zusammenhängenden liturgischen Rollenvielfalt, die eine Einlösung des Prinzips der tätigen Teilnahme ist. Damit ist eine der bemerkenswertesten theologischen Neubestimmungen der Messe durch das letzte Konzil in Artikel 29 der Liturgiekonstitution gegeben:

17 

Vgl. aaO., 65–71. Vgl. aus der Fülle der Literatur jetzt auch den Sammelband Actuosa participatio. Conoscere, comprendere e vivere la Liturgia. Studi in onore del Prof. Domenico Sartore, csj a cura di Agostino Montan – Manlio Sodi (MSIL 18), Città del Vaticano 2002. 18 

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»Auch die Ministranten, Lektoren, Kommentatoren und die Mitglieder der Kirchenchöre vollziehen einen wahrhaft liturgischen Dienst. Deswegen sollen sie ihre Aufgabe in aufrichtiger Frömmigkeit und in einer Ordnung erfüllen, wie sie einem solchen Dienst ziemt und wie sie das Volk Gottes mit Recht von ihnen verlangt.«19

Liest man die beiden letztzitierten Artikel zusammen, ist den liturgischen Rollen von Laien neben der des Priesters eine theologische Qualität zuerkannt. Es ist nicht vorgesehen, dass der Priester diese Rollen »auch noch« übernimmt, etwa das »Gloria in excelsis« oder die vom Lektor vorgetragene Lesung auch noch (lateinisch) spricht, damit die Messe ihre Gültigkeit hat, wie dies im vorkonziliaren Ritus notwendig war20. Dann nämlich wäre die Rollenvielfalt lediglich luxuriöses Zugeständnis an die Bedingungen einer Gemeinde. Die Rollen und ihre Trägerinnen und Träger haben vielmehr selbst theologische Qualität: Durch die Lektorin, den Lektor, spricht Christus, und der Priester ist in diesem Moment selbst ein auf Gottes Wort Hörender. Ähnliches gilt auch für die Kirchenmusik in Form des Gemeindegesanges21. Damit meint »tätige Teilnahme« aller Gläubigen keinen Aktionismus, sondern die Wahrnehmung der eigenen Taufberufung im Kontext der Liturgie22. Die bis zur Liturgiereform theologisch unterbestimmten Rollen sind aufgrund ihrer besonderen Bedeutung auch rituell auszugestalten, was Artikel 28 deutlich macht:

19 

Vgl. Kaczynski, Kommentar (s. Anm. 6), 96–97. So ist es im Ritus servandus in celebratione Missae (Nr. 23*) für die feierliche Messe, die Missa cantata vorgesehen: Diakon und Subdiakon beten mit dem Priester das Gloria leise, also während des Chorgesanges (»… cum celebrante hymnum submissa voce prosequuntur usque ad finem«), in: Missale Romanum (1570) (s. Anm. 4), 11 (Nr. 23*). 21  Alex Stock, Liturgie und Poesie. Zur Sprache des Gottesdienstes, Kevelaer 2010 macht darauf aufmerksam, dass die »funktionelle Beförderung […] zugleich eine Einengung des Spielraums [bedeute]«. Denn nun hat der Gemeindegesang den Gesetzmässigkeiten der Liturgie zu folgen (ebd., 20). 22  Vgl. Martin Stuflesser, Actuosa Participatio – Zwischen hektischem Aktionismus und neuer Innerlichkeit. Überlegungen zur »tätigen Teilnahme« am Gottesdienst der ­K irche als Recht und Pflicht der Getauften, in: LJ 59 (2009), 147–186. 20 

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»Bei den liturgischen Feiern soll jeder, sei er Liturge oder Gläubiger, in der Ausübung seiner Aufgabe nur das und all das tun, was ihm aus der Natur der Sache und gemäß den liturgischen Regeln zukommt.«

Nachkonziliare Liturgie lebt also von der Rollenvielfalt, die den Gottesdienst zur Sache der Gemeinde werden lässt, deren Würde es ist, unter der Leitung des Priesters die ­K irche zu realisieren und Ort des Wirkens Christi zu werden. Diese theologischen Akzentsetzungen hatten eine Revision der Struktur eucharistischer Liturgie zur Folge.

4. Rituelle Versammlung: Zu Form und Struktur der Feier Die Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils hat eine umfassende Neustrukturierung der Messe projektiert. In Artikel 50 heißt es: »Der Mess-Ordo soll so überarbeitet werden, dass der eigentliche Sinn der einzelnen Teile und ihr wechselseitiger Zusammenhang deutlicher hervortreten und die fromme und tätige Teilnahme der Gläubigen erleichtert werde. Deshalb sollen die Riten unter treulicher Wahrung ihrer Substanz einfacher werden. Was im Lauf der Zeit verdoppelt oder weniger glücklich eingefügt wurde, soll wegfallen. Einiges dagegen, was durch die Ungunst der Zeit verlorengegangen ist, soll, soweit es angebracht oder nötig erscheint, nach der altehrwürdigen Norm der Väter wiederhergestellt werden.«23

Die derzeitige innerkatholische Diskussion um die Messreform ist ein Spiegel der schwierigen Frage nach einem Kriterium der Tradition. Bereits in Trient hatte man die »ursprüngliche Norm […] der heiligen Väter« als das die Liturgiereform leitende Prinzip erklärt24. Es wurde damit denjenigen Verästelungen eine klare 23 

Vgl. Kaczynski, Kommentar (s. Anm. 6), 123–126. »ad pristinam Missale ipsum sanctorum patrum normam ac ritum restituerunt«. Vgl. Martin Klöckener, Die Bulle »Quo primum« Papst Pius’ V. vom 14. Juli 1570 zur Promulgation des nachtridentinischen Missale Romanum. Liturgische Quellentexte lateinisch-deutsch 2, in: ALW 48 (2006), 41–51, hier 44–45 (Nr. 4.). 24 

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Absage erteilt, die die hoch komplexen Veränderungen seit dem Mittelalter in den Kontext der Messe eingetragen hatten. Die im Grunde auf den Priester ausgerichtete Struktur mußte nach dem II. Vatikanischen Konzil so verändert werden, dass sie die »tätige Teilnahme« der Gläubigen auch ermöglichen konnte. Dies soll im Folgenden anhand der Grundstruktur der Gemeindemesse aufgezeigt werden, wie sie sich im Messbuch der ­Kirche des Deutschen Sprachraumes findet25. Schema der katholischen Eucharistiefeier nach dem II. Vatikanischen Konzil Versammlung der Gläubigen Eröffnung Einzug des Priesters und seiner Assistenz, derweil Introitusgesang Kreuzzeichen und liturgischer Gruß Kurze Einführung in die gesamte Feier Bußakt, sonntags als Taufgedächtnis (Asperges) möglich (Kyrie) (Gloria) Tagesgebet (Oratio collecta) 1. Hauptteil: Wortgottesdienst sonntags: 1. Lesung (AT, Apg…) Antwortpsalm (Graduale) 2. Lesung (NT, außer Evangelien) Halleluja (und Sequenz), (Österliche Bußzeit: Tractus) Evangelium Predigt Credo Fürbitten

werktags: Lesung (AT, NT, ohne Evangelien) Antwortpsalm (Graduale), (Halleluja)

Evangelium (Predigt)

25  Vgl. Die Feier der Heiligen Messe. Messbuch. Hgg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der Bischöfe von Luxemburg, Bozen-Brixen und Lüttich. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, Freiburg u.a. 21988, 321–531.

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2. Hauptteil: Eucharistiefeier Gabenbereitung, derweil Gesang Gabengebet (Oratio super oblata) Eucharistisches Hochgebet: Präfation Sanctus-Gesang Hochgebet mit den »verba testamenti« Kommunionriten: Vaterunser Friedensgebet und Friedensgruß Brotbrechung, derweil Agnus-Dei-Gesang Kommunion Schlussgebet (Oratio post communionem) Entlassungsriten (eventuelle Vermeldungen) Segen »Gehet hin in Frieden«

4.1. Die Eröffnungsriten Die Eucharistiefeier der Gemeinde beginnt im Grunde bereits mit dem Akt des Versammelns, oder setzt ihn zumindest voraus26. Dann folgen der Einzug des Priesters und seiner Assistenz und die Begrüßungsriten, die sowohl den Altar als Symbol für Christus (mittels Altarkuss und eventuell Weihrauch) wie die Gemeinde (mit der Zusage der Gegenwart des Gekreuzigt-Auferstandenen) betreffen. Es folgen verschiedene Möglichkeiten der Bußriten, deren prominentester, leider selten durchgeführt, das Taufgedächtnis am Sonntag ist. Kyrierufe und (eventuell) Gloria werden abgeschlossen durch das Tagesgebet, das als zusammenfassendes Gebet (»Collecta«) nicht nur die vielen einzelnen Gebetsanliegen der Gläubigen sammelt, sondern auch den Eröffnungsteil der Messe abschließt. 26  Der Messordo des Trienter Missale lässt die Messe mit dem Einzug des Priesters beginnen. Vgl. Missale Romanum (1570) (s. Anm. 4), 293 (Nr. 1389): »Sacerdos cum ingreditur ad altare…«.

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4.2. Der Wortgottesdienst als erster Hauptteil Der Wortgottesdienst des Sonntags hat drei entscheidende Lesungen. Er beginnt mit der ersten Lesung, die in der Regel aus dem Alten Testament entnommen und in der Motivik auf das Evangelium bezogen ist. Es sind die Stimmen aus Gesetz und Propheten, die – kühn genug – im christlichen Gottesdienst vorgetragen werden, da sie unter dem Schema von Verheißung und Erfüllung christologisch neu interpretiert werden 27. Dies trennt das Christentum vom Judentum. Mit dem Judentum verbindet indes das bleibende Warten auf die (für die Christenheit zweite) Ankunft des noch ausstehenden Messias. Es werden Texte gelesen, die sich einer langen Entwicklungsgeschichte und Überlieferungstradition verdanken – vieler menschlicher Erfahrungen mit Gott, die in ihnen geronnen und verdichtet sind. Sie werden als »Wort des lebendigen Gottes« qualifiziert, wie der Satz des Lektors, der Lektorin nach der Lesung lautet. Mit dem »Dank sei Gott« bekräftigt die Gemeinde den Glauben, in diesen doch oft allzu menschlich anmutenden Worten habe Gott selber sich zu Wort gemeldet, bis er sich in seinem Sohn in unüberbietbarer Weise selbst ausgesprochen hat. Insofern »vermitteln« die Schrifttexte genau jene oft so fragliche Differenz zwischen Leben und Glauben, Alltag und Feiertag. Das menschlich anmutende Wort, die menschliche Erfahrung wird zu einem Ort der Erfahrung Gottes: Er spricht, oft gerade auch als Widerspruch, Mahnung und Herausforderung. Kann die erste Lesung als Stimme des Propheten gelten, so die zweite Lesung als Stimme des Apostels. Hier wird die neutestamentliche Briefliteratur verwendet, und zwar als Bahnlesung Sonntag für Sonntag, ohne Bezug zum Evangelium. Die dritte Lesung, das Evangelium, ist die Stimme Jesu selbst. Hier ist der Höhepunkt des Wortgottesdienstes erreicht, was rituell durch die mögliche Verwendung von Weihrauch und begleitenden Leuchtern angezeigt wird. Meditierte die Gemeinde die gehörte erste Lesung mit einem vom Kantor gesungenen und von 27  Zum Problem vgl. Klemens Richter / Benedikt Kranemann (Hg.), Christologie der Liturgie. Der Gottesdienst der ­K irche – Christusbekenntnis und Sinaibund (QD 159), Freiburg 1995.

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allen mit einem Kehrvers begleiteten Psalm, so wird das Evangelium mit dem Hallelujaruf begrüßt, es sei denn, dass man in der Österlichen Bußzeit auf das Halleluja verzichtet. Die Liturgiekonstitution hat für die Wortverkündigung das Bild des Tisches gebraucht: Die Glaubenden werden nicht nur am Tisch der Eucharistie, sondern auch am Tisch des Wortes genährt. Der Wortgottesdienst ist also nicht mehr bloße »Vormesse«, wobei das Eigentliche erst mit dem eucharistischen Teil beginnt. Vielmehr handelt es sich um den ersten Hauptteil der Messe, dessen Höhepunkt die Stimme des Gekreuzigt-Auferstandenen selber ist. Von hierher gewinnt auch der Ort der Wortverkündigung, der Ambo, eine neue Akzentuierung: Nicht mehr wie in der vorkonziliaren Liturgie wird das Evangelium entweder am Altar gelesen oder im Altarraum nach Norden hin gesungen, sondern der Gemeinde verkündet. Die Liturgiekonstitution führt in Artikel 51 aus: »Auf dass den Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde, soll die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so dass innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen werden«28

Die letzte Liturgiereform hat die traditionelle Leseordnung gänzlich umgewandelt. In einem dreijährigen Zyklus werden nun weite Teile der Heiligen Schrift gottesdienstlich verwendet. Dabei ist das Lesejahr A Matthäus, Lesejahr B Markus und C Lukas vorbehalten, wobei das Johannesevangelium hohen Festen und den durch die Synoptiker nicht abgedeckten Sonntagen vorbehalten ist29. Eine neue Bedeutung hat die Homilie erhalten, die nun integraler Bestandteil der Liturgie ist und auch an Werktagen sehr empfohlen wird30. 28 

Vgl. Kaczynski, Kommentar (s. Anm. 6), 126–128. Vgl. zur Perikopenordnung etwa Ansgar Franz, Wortgottesdienst der Messe und Altes Testament. Katholische und ökumenische Lektionarreform nach dem II. Vatikanum im Spiegel von Ordo Lectionum Missae, Revised Common Lectionary und Four Year Lectionary. Positionen, Probleme, Perspektiven (PiLi 14), Tübingen/Basel 2002. 30  Vgl. Artikel 52; dazu Kaczynski, Kommentar (s. Anm. 6), 128–130. 29 

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Bereits angeklungen ist, dass der Wortgottesdienst neben dem ordinierten Amt (Priester oder Diakon als Verkünder des Evangeliums und Ausleger des Gotteswortes) vielen Laiendiensten Raum gibt: Einer Lektorin oder einem Lektor für die erste und die zweite Lesung, einem Kantor oder einer Kantorin für den Antwortpsalm und den Hallelujagesang. Immer wieder aber wird die gesamte Gemeinde mit einbezogen: Sie ist Adressatin des Gotteswortes, das im Glaubenszeugnis der Versammlung freudig angenommen und in der mühsamen Arbeit des Alltags in Lebenspraxis umgesetzt wird. Dafür sind das Glaubensbekenntnis der Gemeinde als Antwort auf das gehörte und ausgelegte Wort Gottes sowie die Fürbitten als stellvertretendes Beten in den Anliegen der Welt Zeichen.

4.3. Die Eucharistiefeier als zweiter Hauptteil Der zweite Hauptteil der Messe, die Eucharistiefeier (im engeren Sinne des Wortes), ist durch eine Exposition uralter religionsgeschichtlicher Motive bestimmt, die in dieser Dichte und ihrer Gewichtung durchaus ein Spezifikum katholischer und orthodoxer Tradition ausmachen dürften: Danksagung, Gedächtnis, Opfer und Mahl, um nur einige zu nennen31. Die Gabenbereitung stellt zunächst das uralte Opfermotiv in den Vordergrund: Die Gaben von Brot und Wein sind bescheidene Naturalopfer, die die Natur wie die menschliche Kultur versinnbilden und stets daran erinnern, dass der eigentliche Geber aller Gaben Gott selbst ist.

31 

Vgl. zu diesem großen Themenkomplex Thomas Witt, Repraesentatio Sacrificii. Das eucharistische Opfer und seine Darstellung in den Gebeten und Riten des Missale Romanum 1970. Untersuchungen zur darstellenden Funktion der Liturgie (PaThSt 31), Paderborn u.a. 2002; Martin ­Stuflesser, Memoria passionis. Das Verhältnis von lex orandi und lex credendi am Beispiel des Opferbegriffs in den Eucharistischen Hochgebeten nach dem II. Vatikanischen Konzil (MThA 51), Altenberge 22000. Die folgenden Überlegungen sind inspiriert von Stock, Liturgie (s. Anm. 21), 159–187.

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Die Gabenbereitung mündet in den Höhepunkt des zweiten Hauptteils der Messe, das Eucharistische Hochgebet 32. Die letzte Liturgiereform hat dabei dem Canon Romanus, an dem die Reformatoren Anstoß genommen hatten, mehrere andere Formulare an die Seite gestellt. Das Grundschema des Hochgebetes anhand des II. Hochgebetes: Einleitungsdialog

Der Herr sei mit euch. Und mit deinem Geiste. Erhebet die Herzen. Wir haben sie beim Herrn. Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott. Das ist würdig und recht.

Praefation (wechselnd)

In Wahrheit ist es würdig und recht, dir, Herr, heiliger Vater, immer und überall zu danken durch deinen geliebten Sohn Jesus Christus… Darum preisen wir dich mit allen Engeln und Heiligen und singen vereint mit ihnen das Lob deiner Herrlichkeit:

Gesang des dreimal Heilig

Heilig, heilig, heilig …

Postsanctus

Ja, du bist heilig, großer Gott, du bist der Quell aller Heiligkeit.

Gabenepiklese mit den »verba testamenti«

Darum bitten wir dich: Sende deinen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie, damit sie uns werden Leib und Blut deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus. Denn am Abend, an dem er ausgeliefert wurde und sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf, nahm er das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: Nehmet und esset alle davon:



32  Vgl. hier nur Winfried Haunerland, Das eine Herrenmahl und die vielen Eucharistiegebete. Traditionen und Texte als theologische und spirituelle Impulse, in: Ders. (Hg.), Mehr als Brot und Wein. Theologische Kontexte der Eucharistie, Würzburg 2005, 119–144.

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Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch, dankte wiederum, reichte ihn seinen Jüngern und sprach: Nehmet und trinket alle daraus: Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis. Gemeindeakklamation

Geheimnis des Glaubens: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.

Anamnese mit Annahmebitte Darum, Gütiger Vater, feiern wir das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung deines Sohnes und bringen dir so das Brot des Lebens und den Kelch des Heiles dar. Wir danken dir, dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen. Kommunionepiklese

Kanonfürbitten: –  für die Kirche

Wir bitten dich: Schenke uns Anteil an Christi Leib und Blut und lass uns eins werden im Heiligen Geist.

Gedenke deiner ­K irche auf der ganzen Erde und vollende dein Volk in der Liebe, vereint mit unserem Papst N., unserem Bischof N. und allen Bischöfen, unseren Priestern und Diakonen und mit allen, die zum Dienst in der ­K irche bestellt sind. –  für die Verstorbenen Gedenke unserer Brüder und Schwestern, die entschlafen sind in der Hoffnung, dass sie auferstehen. Nimm sie und alle, die in deiner Gnade aus dieser Welt geschieden sind, in dein Reich auf, wo sie dich schauen von Angesicht zu Angesicht. –  für alle: Vater, erbarme dich über uns alle, damit uns Die Gemeinschaft der Heiligen das ewige Leben zuteil wird, in der Gemeinschaft mit der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria, mit deinen Aposteln und mit allen, die bei dir Gnade gefunden haben von Anbeginn der Welt, dass wir dich loben und preisen durch deinen Sohn Jesus Christus.

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Schlussdoxologie

Durch ihn und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre, jetzt und in Ewigkeit. Amen

Die Danksagung ist bestimmendes Paradigma: Die ­Kirche antwortet in ihrer Liturgie mit Lob und Dank auf das Heilshandeln Gottes, das sie zugleich verkündet (Präfation und Anamnese). Die Bitte um den Heiligen Geist zur Verwandlung der Gaben wie zur Verwandlung (Einswerdung) der Glaubenden (Epiklese) ist notwendige Konsequenz des Gedächtnisses: So wie damals möge Gott auch heute an der versammelten Gemeinde sein Heil wirken. Rituell fallen das Mahlgeschehen wie das Opfermotiv auf: Die christliche Gemeinde kann nicht Eucharistie feiern, ohne angesichts der Gaben und ihres Opfers, wie es die Gabenbereitung vor Augen stellte, durchzustoßen zum eigentlichen Opfer, nämlich dem Opfer Jesu Christi im Kreuzesgeschehen (präsent etwa in den »verba testamenti«). Dabei ist es das Gedächtnismotiv, das die Verbindung der Gemeinde mit dem Kreuzesgeschehen leistet und das Opfermotiv erst an seine rechte Stelle setzt: Das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus wird sakramentliche Gegenwart. Jesus Christus ist die eigentliche (Selbst-)Gabe Gottes an die Menschen, die angesichts des gewaltsamen Widerstandes der Welt nicht zurückgenommen wird, sondern in die letzte Konsequenz des Gehorsams bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8) mündet. Damit ist eine entscheidende christliche Modifikation menschheitsalter Opfergesten erreicht: Gott kehrt die Aktionsrichtung um. Nicht mehr der Mensch opfert Gott etwas, sondern Gott selbst wird im Kreuzesgeschehen und seiner kultischen Wieder-Holung zum Handelnden. Dieses Handeln ist gebunden an das Gedächtnis sowie an das Mahl: Die verborgene Gegenwart des Gebers, des Gekreuzigt-Auferstandenen, wird im Mahl zugleich Gabe. Er gibt sich als Gabe in die Hand der ­Kirche und durch sie in die Hände der Menschen. Die von Gott gewährte Gabe ist der eucharistische Herr selbst, anderes hat die ­K irche nicht. Und Gott wird (sehr menschlich gesprochen und gehandelt) an sein eigenes Heilshandeln erinnert, er wird auf die von ihm selbst gewährte Geschichte mit den Menschen ver-

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pflichtet, seine Treue angesichts eigener zu beklagender Untreue eingefordert. Bei der Schlussdoxologie des Hochgebetes hält der Priester die eucharistischen Gaben in die Höhe. Dies ist ein Darbringungsgestus an Gott selbst: Die ­K irche hat nichts als das, was Gott selbst ihr geschenkt hat. Und die Gemeinde antwortet und bekräftigt dies: Amen. Doch ist die Dramaturgie der Messe noch nicht am Ziel. Notwendigerweise folgen die Kommunionriten mit dem Eucharistischen Mahl: Gott schenkt die Gaben der Kirche, die selber zur Gegenwart des Gekreuzigt-Auferstandenen geworden sind, den Menschen im Mahl zurück. Hier ist der Zielpunkt der eucharistischen Liturgie erreicht: Denn die Gabe der Menschen wird zur unüberbietbaren Selbstgabe Gottes in Jesus Christus an die Menschen. Dass es in dieser Motivsymphonie zugleich um die sich anhand der materiellen Gaben und ihrer »Wandlungen« vollziehende Selbsthingabe der Gläubigen und deren Wandlung geht, macht die »logik« latre6a« (Röm 12,1) dieses Gebetsaktes aus33. Bei der nachkonziliaren Reform der auf das Eucharistiegebet folgenden Kommunionriten blieb man zurückhaltend. Um das entscheidende, auf Jesus selbst zurückgehende Zeichen des Brotbrechens gruppieren sich viele liturgiegeschichtlich spät zu datierende Gebete wie das Friedensgebet oder die Gebete um einen würdigen Empfang der Eucharistie34. Sie ließ man aus Ehrfurcht vor der Gewachsenheit des Ritus bestehen, auch wenn sie das Eucharistiegeschehen (Hochgebet) vom Mahlgeschehen isolieren. Dies war wohl einer der Gründe für Martin Luther, bereits in der »Formula Missae et Communionis« von 1523 die auf das Vaterunser folgenden Gebete zu streichen35, ja in der »Deutsche Messe 1526« das Mahlgeschehen in Brot und Wein direkt auf die jewei33  Vgl. hierzu Albert Gerhards, Logike latreia – oblatio rationabilis (Röm 12,1). Wie vernünftig ist der Gottesdienst der biblischen Religionen?, in: Görge K. Hasselhoff/Michael Meyer-Blanck (Hg.), Religion und Rationalität (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft 4), Würzburg 2008, 131–145. 34  Vgl. hier etwa August Jilek, Das Brotbrechen. Eine Einführung in die Eucharistiefeier, Regensburg 1994. 35  WA 12, 213, 5: »omissa oratione sequenti ›Libera nos quesumus‹«.

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ligen Konsekrationsworte folgen zu lassen36. Im Eucharistischen Mahl der dargebrachten und verwandelten Gaben findet das mit der Gabenbereitung initiierte rituelle Gefüge seinen unüberbietbaren Abschluß: Gott ist es, der die Menschen mit der Eucharistie ebenso wie mit seinem Wort nährt. Das eucharistische Mahl leistet sogar eine sakramentliche Verbindung des gesamten rituellen Gefüges der Messe. Der Gregorianische Choral nämlich hält für den Kommuniongang der Gläubigen eine eigene Antiphon bereit. Sie ist in der Regel aus dem im Wortteil der Messe verlesenen Evangelium genommen. Es ist das Prinzip der »sakramentalen Relecture« des Evangeliums: Das Wort, das im Evangelium verkündet worden ist, wird nun selber Sakrament. Umgekehrt ist das sakramentliche Handeln der ­Kirche immer auch verkündigendes Wortgeschehen37. So konnte das II. Vatikanische Konzil in Artikel 56 der Liturgiekonstitution erklären: »Die beiden Teile, aus denen die Messe gewissermaßen besteht, nämlich Wortgottesdienst und Eucharistiefeier, sind so eng miteinander verbunden, dass sie einen einzigen Kultakt ausmachen.«38

Sakrament und Wort bilden so gesehen eine Einheit: Es gibt keine sakramentliche Liturgie ohne Wortverkündigung, aber diesem verkündeten Wort Gottes eignet sakramentale Qualität. Der berechtigte Wunsch nach Stille im Gottesdienst hat einen seiner Orte nach dem Kommunionempfang. Wie beim Einleitungsteil schließt die Oration nach der Kommunion den eucharistischen Teil der Messe ab. 36  WA 19, 99, 5–7: »Es dunckt mich aber, das es dem abendmal gemes sey, so man flux auff die consecration des brods das sacrament reyche und gebe, ehe man den kilch segenet«. 37  Vgl. etwa Jakob Baumgartner, Das Wort, das in der Liturgiefeier zum Sakrament wird, in: Josef Schreiner (Hg.), Freude am Gottesdienst. Aspekte ursprünglicher Liturgie (FS Josef G. Plöger), Stuttgart 1983, 155– 173. 38  Vgl. Kaczynski, Kommentar (s. Anm. 6), 136–137. Vgl. hierzu Otto Nussbaum, Die Messe als Einheit von Wortgottesdienst und Eucharistiefeier (1977), in: Otto Nussbaum, Geschichte und Reform des Gottesdienstes. Liturgiewissenschaftliche Untersuchungen, hgg. v. Albert ­Gerhards / Heinzgerd Brakmann, Paderborn u.a. 1996, 19–49.

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4.4. Die Schlussriten Denkbar knapp gehalten sind die Schlussriten. Sie bestehen lediglich aus möglichen Vermeldungen, dem Segen des Priesters sowie dem Ruf des Diakons: »Gehet hin in Frieden«. Keine unnötige Längung steht der Umsetzung des Gottesdienstes in das Alltagsgeschehen mehr im Wege.

5. Ergebnis Die Überlegungen nahmen ihren Ausgangspunkt vom Artikel 6b der Liturgiekonstitution »Sacrosanctum Concilium« des II. Vatikanischen Konzils. Im Diktum des »Pascha-Mysterium« wurde damals der entscheidende Inhalt der Liturgie der ­K irche formuliert. Doch wenn es Anliegen des Konzils war, »das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen« (Artikel 1)39, so kann dieser Inhalt, soll er denn christliche Existenz in der Tiefe berühren, nicht losgelöst von seiner Feierform verstanden werden. Das Prinzip der »tätigen Teilnahme« konnte als Paradigma nachkonziliarer Eucharistiefeier ausgemacht und seine Bedingungen wie Folgerungen angedeutet werden. Grundsätzlich erweist sich die Form der Feier zugleich als Inhalt: Das konkrete Ritual ergibt sich zwingend aus den theologischen Akzentsetzungen des letzten Konzils. Es ist die Kirche, die sich in der konkreten Ortsgemeinde zur Eucharistie versammelt, der die Christinnen und Christen dank ihrer Taufberufung beiwohnen. In die Feier des Gedächtnisses stiftet der Gekreuzigt-Auferstandene seine Gegenwart in Wort und Sakrament, und zwar so, dass »Wandlung« nicht nur für die Gaben von Brot und Wein gilt, sondern durch sie dem Leben der Menschen und der Kirche.

39 

Vgl. Kaczynski, Kommentar (s. Anm. 6), 53–54.

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1. Das ›Landeskind‹ Predigtgottesdienst Fast könnte man geneigt sein, ihn als ›ein Landeskind‹ zu bezeichnen: den württembergischen Predigtgottesdienst. Denn anders als sonst im konfessionell lutherisch geprägten Deutschland ist die ihm zugrundeliegende Struktur des oberdeutschen Predigtgottesdienstes nur in Württemberg eingebürgert; sie ist einfach: An Glockengeläut, Musik und Lied zum Eingang schließen sich zur Eröffnung ein trinitarischer ›Gruß‹ und ein Psalmgebet an, das mit dem Gloria Patri abgeschlossen wird. Es folgen ein Eingangsgebet und ein unmittelbar anschließendes Stilles Gebet, eine Schriftlesung und das Wochenlied. Im Zentrum des Gottesdienstes steht die Predigt. An sie anschließend wird in ein Lied eingestimmt, bevor Fürbitte gehalten und das Vaterunser gesprochen wird. Dem ›Lied zum Ausgang‹ schließen sich die Bekanntgaben und der Aaronitische Segen (vgl. den Beitrag von Ulrich Heckel in diesem Band) an, bevor der Gottesdienst mit Musik zum Ausgang beschlossen wird.1 Nur als fakultative Bestandteile sind das Glaubensbekenntnis nach der Schriftlesung und eine (in Form einer Choralstrophe gesungene) Friedensbitte

1  Evangelischer Oberkirchenrat (Hg.), Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, 1. Teil. Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst, Ausgabe von 2004, Stuttgart 2004, 49–59. Vgl. Evangelische Landeskirche in Württemberg (Hg.), Evangelisches Gesangbuch. Antwort finden in alten und neuen Liedern, in Texten und Bildern. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996, Nr. 684, 1239–1241.

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vorgesehen;2 vom Liturgen gesungene Stücke des Ordinariums kennt die Ordnung nicht, und die Gemeinde singt, abgesehen von dem auf die trinitarische Eröffnung und den aaronitischen Segen antwortenden ›Amen‹, lediglich das Gloria Patri zum Abschluss des Psalmgebets.3 Dass es sich dabei um die Standardform des sonn- und festtäglichen Gottesdienstes handelt, wird auch für die Gemeindeglieder sofort dadurch erkennbar, dass diese Form des Predigtgottesdienstes in der württembergischen Ausgabe des Evangelischen Gesangbuches allen anderen gottesdienstlichen Ordnungen voran präsentiert wird.4 Bestätigung findet das expressis verbis dadurch, dass es in der Einführung zum Gesangbuch ebenso knapp wie präzise heißt: »Seit der Reformation ist in Württemberg der Predigtgottesdienst zum sonntäglichen GOTTESDIENST DER GEMEINDE geworden.«5 Dem korrespondiert, dass im zweiten Band des gegenwärtig in Gebrauch stehenden Gottesdienstbuches in den Ausführungen »Zur Geschichte des evangelischen Gottesdienstes in Württemberg« sofort proklamiert wird: »Als ­K irche der lutherischen Reformation hat die württembergische von Anfang an und bis auf den heutigen Tag den evangelischen Predigtgottesdienst als ihren sonntäglichen Hauptgottesdienst verstanden und gehalten.«6

2 

AaO., Nr. 684, 1240 bzw. 1241. AaO., Nr. 684, 1239–1240. 4  Ebd. 5  AaO., 10. 6  Gerhard Hennig, Zur Geschichte des evangelischen Gottesdienstes in Württemberg, in: Evangelischer Oberkirchenrat (Hg.), Ergänzungsband zum Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg. Ausgabe von 2005, Stuttgart 2005, 11–27, hier 11. 3 

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2. Wertungen und Weichenstellungen in der Reformation Ein regionales reformatorisches Vorbild hatte der Predigtgottesdienst schon vor der Einführung der Reformation im Herzogtum Württemberg 1534 in der in der Reichsstadt Reutlingen bereits 1525/1526 etablierten Ordnung.7 Der dazu befragte Martin Luther hatte diese 1526 in einem Brief an den Reutlinger Reformator Matthäus Alber ausdrücklich nicht kritisiert, sondern auch als der gewonnenen reformatorischen Einsicht entsprechend charakterisiert: »Ceremoniae mutatae apud vos placent. Mutavimus et nos, ac iam edimus propter vicinos id flagitantes. Tu vero cave, ne denuo tuas mutes ad exemplum nostrum, sed persevera, ut coepisti« (»Die bei euch [in Reutlingen] geänderten Zeremonien gefallen mir gut. Auch wir [in Wittenberg] haben Änderungen vorgenommen und auf Drängen unserer Nachbarn bereits herausgegeben. Verändere nun aber bloß nicht deine Zeremonien wiederum nach unserem Vorbild, sondern bleibe bei dem, was du angefangen hast […]«).8 In der ersten reformatorischen Kirchenordnung in Württemberg, die dann 1536 durch Herzog Ulrich für seine Lande erlassen wurde, ist eine Ordnung für den Predigtgottesdienst nur knapp skizziert;9 eine breitere Darstellung findet hingegen die Ordnung für die (in der Regel sechs) jährlichen Abendmahlsgottesdienste.10 In den dann im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts für Württemberg erlassenen Kirchenordnungen ist der Predigtgottesdienst 7  Zu den geschichtlichen Zusammenhängen vgl. Gerhard Hennig, ›Sonntags ist Kirche‹, hgg. v. Christian Möller / Johannes Zimmermann, Stuttgart 2008, 21f. 8  Martin Luther an Matthäus Alber, 4. Januar 1526. WA Br 4, Nr. 964. Zitiert und übersetzt bei Gerhard Hennig, Der evangelische Predigtgottesdienst in Württemberg, Stuttgart 2003, 66. 9  S. Gemein kirchen ordnung, wie die diser Zeit allenthalb im Für­ stenthumb Wirtemberg gehalten soll werden. Anno. M.D.XXXVI, in: Emil Sehling (Begr.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 16, Baden-Württemberg II. Herzogtum Württemberg, bearb. v. Sabine Arend / Thomas Bergholz, Tübingen 2004, 103–128, hier 104. 10  AaO., 106–108. Vgl. Hennig, ­K irche (s. Anm. 7), 24–26.

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als die für das Herzogtum übliche gottesdienstliche Ordnung festgeschrieben worden.11 Dass es fortan bei dieser Form als der üblichen über die Jahrhunderte geblieben sei und dass auch die Abendmahlsgottesdienste nicht der sonst in den lutherisch geprägten Landeskirchen üblichen Struktur des Messgottesdienstes folgen, wird übrigens auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch mit den in den Jahren nach dem »Geharnischten Reichstag« von Augsburg 1547/1548 gemachten Erfahrungen begründet: »Württembergische Reserven gegenüber der Messe rühren bis heute her von der zwangsweisen Wiedereinführung der römischen Messe während des Interims 1548–[15]55.«12 Besonders festzuhalten ist, dass die Feier des Abendmahls nicht zur Grundform des Predigtgottesdienstes gehört. Dafür spricht zwar gewiss schon der Terminus ›Predigtgottesdienst‹ eo ipso, es wird aber sowohl in den gottesdienstlichen Büchern für die Hand der Gemeindeglieder als auch für die Pfarrerinnen und Pfarrer deklariert: Im Evangelischen Gesangbuch wird der ›Predigtgottesdienst mit Abendmahl‹ als eine besondere Form dargestellt.13 Und in der Erläuterung zum Gottesdienstbuch wird weiter festgestellt, dass »dessen ›oberdeutsche Form‹ […] zur gottesdienstlichen Identität der württembergischen ­Kirche nicht weniger als der sonntägliche Predigtgottesdienst« gehöre.14 Der Predigtgottesdienst mit Abendmahl unterscheidet sich vom Predigtgottesdienst dadurch, dass die Mahlfeier ihren Ort eingeschoben zwischen dem Lied nach der Predigt und der Fürbitte findet; dabei schließen sich an ein eröffnendes ›Wort zum Abendmahl‹ zunächst das Sündenbekenntnis und der Zuspruch der Vergebung an, bevor dann nach einem Abendmahlsgebet die Einsetzungs11  S. dazu im Einzelnen Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 14–16, und insbesondere Hennig, Predigtgottesdienst (s. Anm. 8), 82–84. 12  So Bernd Leube, Zur Geschichte der Messe, in: Evangelischer Oberkirchenrat (Hg.), Ergänzungsband Gottesdienstbuch (s. Anm. 6), 28–46; Zitat 44. 13  Evangelische Landeskirche in Württemberg, Gesangbuch (s. Anm. 1), Nr. 688, 1246–1249. 14  Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 11.

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worte gesprochen werden; dazu dient die aus dem Württembergischen Katechismus von 1696 (der ja eine Verbindung zwischen Luthers Kleinem Katechismus und den Fragstücken des Johannes Brenz herstellt) bekannte Diktion.15 Es schließen sich der als ›Abendmahlsbitte‹ bezeichnete Gesang des Agnus Dei, die Austeilung und der Dankpsalm (Ps 103,1–4) an.16 Auch diese Struktur der Abendmahlsfeier hat mit der sonst in lutherisch geprägten Landeskirchen gängigen Ordnung über den Kernbereich der Handlung (Einsetzung, Agnus Dei und Austeilung) hinaus nur wenig gemein – was wiederum damit erläutert wird, dass »die Messe […] im evangelischen Württemberg durch Jahrhunderte als Signum des Katholischen schlechthin« gegolten habe.17 So erscheinen der Predigtgottesdienst und seine zumindest einmal monatlich praktizierte Variante ›Predigtgottesdienst mit Abendmahl‹ als eine aus dem 16. Jahrhundert ungebrochen überkommene Tradition in Württemberg, die wenn nicht legitimiert, so doch plausibilisiert wird mit dem Hinweis auf konfessionell antirömische Grundeinstellungen der protestantischen Bevölkerung, die durch negative geschichtliche Erfahrungen gespeist seien. Zudem nimmt man für die Ordnung des Predigtgottesdienstes auch eine besondere Nähe zur biblischen Überlieferung (und damit – ohne es direkt in Worte zu fassen – auch eine besondere Dignität) in Anspruch: »Der evangelische Predigtgottesdienst verbin15  Evangelische Landeskirche in Württemberg, Gesangbuch (s. Anm. 1), Nr. 688, 1248; vgl. aaO., Nr. 834, 1493. Diese Tradition lässt sich durch die Jahrhunderte hindurch zurückverfolgen; s. zum Beispiel die Antwort auf die 59. Frage des Glaubensbekenntnisses, das die Konfirmanden abzulegen hatten (s. Konfirmationsbüchlein oder evangelischer Unterricht wie die Konfirmation das ist die Taufbundserneuerung mit der christlichen Jugend vor dem Genuß des heiligen Abendmahls in den gesamten evangelischen Kirchen des Königreichs Württemberg soll gehalten werden. Nebst einem Anhang von Gebeten. Ausgabe von 1884, Stuttgart 1901, 15) oder auch den Abdruck des Katechismus im Spruch- u[nd] Liederbuch und Katechismus für den evangelischen Religionsunterricht in Württemberg. Amtliche Ausgabe von 1926, Stuttgart o. J. [1930], 110f. 16  Evangelische Landeskirche in Württemberg, Gesangbuch (s. Anm. 1), Nr. 688, 1248f. 17  So Leube, Geschichte (s. Anm. 12), 44.

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det uns aber auch mit dem Predigt- und Synagogengottesdienst Israels (vgl. Neh 8,1818) und mit der Gottesdienstpraxis Jesu selbst (Lk 4,16–21)19.«20 Die hier nachgezeichnete, zur gegenwärtigen Gestalt des Predigtgottesdienstes gegebene historisch-theologische Verortung ist damit zwar noch nicht umfassend referiert, reicht aber zunächst aus, um den Duktus der Argumentation zu erkennen. Hinsichtlich der erwähnten biblischen Konnotationen wird man allerdings fragen dürfen, inwiefern die Herstellung des Bezuges zu der in Neh 8 geschilderten Feier des Laubhüttenfestes und zur ›Gottesdienstpraxis Jesu‹ wirklich zu überzeugen vermag. In Neh 8 wird nicht mehr ausgesagt, als dass während des Festes täglich aus der Tora gelesen wurde – was aber lässt das über die Struktur eines Gottesdienstes erkennen? Und in Lk 4,16–21 wird nichts weiter deutlich, als dass Jesus (wie gar nicht anders zu erwarten) auch am synagogalen Gottesdienst teilgenommen hat. Zu seiner ›Gottesdienstpraxis‹ gehörte aber – ebenso selbstverständlich – auch die Teilnahme an der – wenn man den Terminus nochmals aufgreifen will – ›Gottesdienstpraxis‹ des Jerusalemer Tempels (s. z.B. Lk 2,41–50; Joh 2,13–25; 7,14–30) – eine Praxis, von der sich nach der Perspektive, die Lukas davon vermittelt, nach dem Oster- und Pfingstgeschehen die an Christus glaubende Gemeinde in Jerusalem nicht sofort gelöst hat (s. Apg 3; 5,21–26). 18  »Und es wurde jeden Tag [des Laubhüttenfestes] aus dem Buch des Gesetzes Gottes vorgelesen, vom ersten Tag an bis zum letzten. Und sie [die Israeliten] hielten das Fest sieben Tage und am achten Tage die Versammlung, wie sich’s gebührt.« 19  »Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jes 61,1–2): ›Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.‹ Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.« 20  So Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 12.

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Neben diese ›Gottesdienstpraxis‹ ist aber – rekurriert man auf die neutestamentliche Überlieferung, etwa auf 1Kor 10,14–17; 11,17– 34 und Apg 2,42.46f – die der christlichen Gemeinde eigene Praxis der Feier des Herrenmahls getreten – aufgrund der Einsetzung durch Christus (1Kor 11,23–25; Mk 14,22–25 parr.; vgl. den Beitrag von Hans-Joachim Eckstein in diesem Band).

3. Veränderungen und Alternativen in Geschichte und Gegenwart Auch hinsichtlich der Nachzeichnung der historischen Entwicklung von der Zeit der Reformation bis zur Gegenwart stellen sich Fragen. In der im Ergänzungsband zum Gottesdienstbuch dargebotenen kleinen Gottesdienstgeschichte wird richtigerweise erläutert, dass und wie Predigtgottesdienste ohne als auch mit Abendmahl im Laufe der Jahrhunderte seit der Reformation Veränderungen erfahren haben – dass eine (pauschal gesprochen) liturgisch reichhaltigere Form, die zunächst in den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts beschrieben worden ist, bis zum 18. und 19. Jahrhundert reduziert wurde. Hennig spricht gar davon, dass »der Predigtgottesdienst – auf das liturgische Minimum einer von zwei Gebeten gerahmten Predigt und auf ein, zwei Lieder skelettiert – sich von seinen evangelischen Grundsätzen weit zu entfernen und zu einer Art Erwachsenenbildungsveranstaltung zu werden« gedroht habe. 21 Und es wird auch dargestellt, in welcher Weise – insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts – erneut liturgische Elemente aufgenommen wurden und sich allgemein eingebürgert haben, etwa das gemeinsame Sprechen des Vaterunsers22 und des Psalmgebets23, die Wiedereinbeziehung des Altars in den liturgischen Vollzug des Predigtgottesdienstes24 – bis hin schließlich zur Ermöglichung der Feier eines 21 

Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 22. AaO., 24. 23  AaO., 26. 24  AaO., 24f.; s. dazu auch Hennig, ­K irche (s. Anm. 7), 75f. 22 

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Abendmahlsgottesdienstes nach der Grundstruktur der »Evangelischen Messe«. 25 Es erstaunt in diesem Zusammenhang aber, dass die Nachzeichnung dieser Entwicklungslinien hin zur Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts allein aus der Perspektive des »alten« Herzogtums Württemberg erfolgt – und dass in die Betrachtung nicht einbezogen wird, dass aufgrund der Zug um Zug stattgehabten territorialen Erweiterung Württembergs (und damit auch seiner Landeskirche) besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aber auch noch im 20. Jahrhundert bis dahin durchaus eigenständige, von der herzoglich-württembergischen Linie der liturgischen Entwicklung zu differenzierende Traditionen der gottesdienstlichen Ordnung vorhanden gewesen sind. Einen detailreichen Einblick in diese Zusammenhänge eröffnet Paul Wurster in seiner 1919 veröffentlichten Beschreibung »Das kirchliche Leben der evangelischen Landeskirche in Württemberg«. 26 Er stellt darin nicht nur »Die Eigenart der württembergischen Gottesdienstordnung überhaupt« dar, 27 sondern charakterisiert auch die Entwicklung in den neuwürttembergischen Gebieten. So habe sich etwa der Gottesdienst in Hohenlohe nach der dortigen Kirchenordnung von 157828 gerichtet: »Sie stellt den lutherischen Meßtypus dar mit Altardienst und der Abendmahlsfeier als Höhepunkt nach dem Kanzelteil und ist im wesentlichen die brandenburg-nürnbergische Form mit kleinen Einflüssen aus der württ[embergischen] Ordnung.«29 Wie sehr man dort der Messgottesdiensttradition verhaftet war, belegen manche 1577 fixierte Detailregelungen für den liturgi25  Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 25f.; vgl. Leube, Geschichte (s. Anm. 12), 43–45. 26  Paul Wurster, Das kirchliche Leben der evangelischen Landeskirche in Württemberg (Evangelische Kirchenkunde 7), Tübingen 1919. 27  AaO., 133–135. 28  Kirchenordnung, wie es mit der lehre und ceremonien in der löblichen grafschaft Hohenlohe etc. soll gehalten werden, in: Emil Sehling (Begr.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Württemberg I. Grafschaft Hohenlohe, bearb. v. Gunther Franz, Tübingen 1977, 254– 352. Zur Datierung (1578, nicht 1577) aaO., 244. 29  Wurster, Leben (s. Anm. 26), 135.

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schen Vollzug, so der Verzicht auf die Wiederholung der Einsetzungsworte bei Wiederauffüllung des Kelches, auf die Elevation der Elemente und das Tragen des weißen Chorhemdes; Wurster berichtet dazu: »Diese Aenderungen drangen jedoch in der Stadt Oehringen und im Waldenburgischen überhaupt nicht durch, und nach einem Jahrhundert kamen die alten Bräuche wieder in Uebung.«30 Und er zieht das Fazit: »Im allgemeinen haben die Hohenloheschen Landesteile bis zu ihrer Einverleibung in Württemberg die reichere lutherische Form festgehalten, und auch die Aufklärungszeit konnte oder wollte bei dem zähkonservativen Sinn der fränkischen Bevölkerung nur wenig abschaffen.«31 Erst mit dem Übergang an Württemberg verloren die fränkischen Gebiete ihre eigene liturgische Tradition;32 »den Altardienst, wenn auch in bescheidenem Umfang, da und dort die Elevation und die brennenden Altarlichter beim Abendmahl haben einige Gemeinden bis heute [1919] behalten.«33 Verantwortlich für die weitgehende Verdrängung der in Hohenlohe üblichen Form des Gottesdienstes sieht Wurster expressis verbis »einzelne altwürtt[embergische] Pfarrer«, »die von sich aus die ihnen geläufige württ[embergische] Ordnung durchführten.«34 Das Beispiel belegt, dass für die württembergische Landeskirche jedenfalls in ihren heutigen Grenzen eine seit der Reformation einheitliche Tradition des Predigtgottesdienstes durchaus nicht geltend gemacht werden kann. Zu erkennen ist das auch an einem weiteren Beispiel aus dem 20. Jahrhundert. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die von der Evangelischen ­K irche im Rheinland betreuten evangelischen Kirchengemeinden in Hohenzollern mit dem 1.4.1950 in die württembergische Landeskirche eingegliedert wurden, brachten diese (entsprechend der in Altpreußen üblichen agendarischen Ordnung35) die liturgische Tradition des Messgottesdienstes mit 30 

Ebd. Ebd. 32  So Franz, Hohenlohe (s. Anm. 28), 250. 33  Wurster, Leben (s. Anm. 26), 135. 34  AaO., 136, Anm. 1. 35  S. Agende für die Evangelische Landeskirche. 1. Teil. Die Gemein31 

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in die Fusion ein – mit dem ausdrücklich zugesicherten Recht, bei der bei ihnen herkömmlichen gottesdienstlichen Ordnung verbleiben zu dürfen.36 Und davon wird bis zur Gegenwart Gebrauch gemacht. Jedenfalls gibt es im Bereich der württembergischen Landeskirche in ihren heutigen Grenzen durchaus auch Beispiele für Regionen, in denen die Ordnung des Predigtgottesdienstes zumindest nicht die seit der Reformation herkömmliche ist – ganz unabhängig von allen besonders im 20. Jahrhundert im Zuge der liturgischen Bewegungen einsetzenden Bemühungen, die Form des Messgottesdienstes in Württemberg als agendarische Alternative neben der Form des Predigtgottesdienstes zu etablieren.37 Dieses Ziel ist im Gottesdienstbuch I zwar realisiert,38 die überwältigend große Mehrzahl der Gemeinden dürfte indes an der bei ihnen üblichen Form des Predigtgottesdienstes bzw. des Predigtgottesdienstes mit Abendmahl als der üblichen Gestalt des sonnund festtäglichen Gottesdienstes nach wie vor festhalten.

degottesdienste, Berlin 1895; bzw. Agende für die Evangelische ­K irche der Union. Entwurf (Vorlage an die Provinzialsynoden), Berlin-Charlottenburg o. J. [1931]. 36  Vgl. Tätigkeitsbericht des Evangelischen Oberkirchenrats. BerlinCharlottenburg 1950, 20: »Mit dem 1. September 1945 hatte die Evangelische Landeskirche in Württemberg die kirchenleitende Aufgabe für dieses Gebiet vorläufig übernommen. In Verfolg dieser Entwicklung wurde durch Vertrag der altpreußischen ­K irche und der württembergischen Landes­k irche die Vereinigung des Kirchenkreises der hohenzollernschen Lande mit der württembergischen Landeskirche vereinbart. Dabei wurde vereinbart, daß die Besonderheiten der bestehenden Gottesdienstordnung und der Ordnung des kirchlichen Lebens den Gemeinden erhalten bleiben, solange sie es wünschen.« 37  S. Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 25f.; besonders aber Leube, ­Geschichte (s. Anm. 12), 44f. 38  S. Evangelischer Oberkirchenrat, Gottesdienstbuch (s. Anm. 1), 77–96.

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4. Erwägungen zu einzelnen gottesdienstlichen Elementen Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart der Ordnung des württembergischen Predigtgottesdienstes zeigt, dass dieser zwar im Bereich der württembergischen Landeskirche weitgehend wie selbstverständlich im Schwange ist, dass diese Ordnung ein Alleinstellungsmerkmal aber nicht für sich in Anspruch nehmen kann – weder historisch noch theologisch. Wie jede Ordnung muss sie sich gefallen lassen, danach befragt zu werden, welcher Vorzug ihr innewohnt mit Blick auf das Verkündigungsanliegen des Gottesdienstes.

4.1. ›Strukturelle Offenheit‹ – auch ein Problem Hennig hat durchaus mit Recht betont, dass die Form des Predigtgottesdienstes sich neu bewährt habe und bewähre, da sie dank ihrer »Klarheit und Einfachheit so etwas wie die liturgische Organisationsstruktur auch ›offenerer‹ Gottesdienstformen« sei.39 Dass sich hinsichtlich des strukturellen Aufbaus Ähnlichkeiten und Parallelen zu anderen Gottesdienstformen zeigen, kann indes nicht sonderlich überraschen – denn welcher Gottesdienst könnte auf die im Predigtgottesdienst begegnenden Elemente verzichten: Eröffnung im Namen des dreieinigen Gottes und Sendung mit dessen Segen, Hören auf das Zeugnis der biblischen Zeugen und Verkündigung der viva vox Evangelii, Gebet und Lobgesang? Zu denken geben müsste indes, in welche Richtung im Ergänzungsband zum Gottesdienstbuch diese zentrale Elemente des Gottesdienstes sichernde Struktur des Predigtgottesdienstes interpretiert wird: nämlich als »strukturelle Offenheit«, die es ermögliche, »ohne großen Aufwand und starke Veränderungen liturgische Akzente im Laufe des Kirchenjahres zu setzen«.40 Dies zeigt an, dass die Form des Predigtgottesdienstes als solche gerade nicht in einer besonderen Weise dazu geeignet ist, unterschiedliche 39 

Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 12. Evangelischer Oberkirchenrat, Ergänzungsband Gottesdienstbuch (s. Anm. 6), 212. 40 

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Propria zur Geltung zu bringen – wenn es darum geht, bedarf sie eben nicht nur einer entsprechenden Füllung ihrer Elemente, sondern es besteht offenbar auch das Verlangen nach Ergänzung. Der Ergänzungsband zum Gottesdienstbuch bietet eben dafür denn auch eine erkleckliche Anzahl von Beispielen.41 Das ist ein Indiz dafür, dass der behauptete strukturelle Vorteil der ›Offenheit‹ des Predigtgottesdienstes auch als Zeichen eines strukturellen Mangels interpretiert werden kann. Das durch die Ordnung des Predigtgottesdienstes grundgelegte weitgehende Gleichmaß der Gottesdienste ist jedenfalls nicht unbedingt förderlich, die für den jeweiligen Gottesdienst vorzunehmende je charakteristische thematische Zuspitzung der Verkündigung deutlich werden zu lassen.

4.2. Erforderliche Konstanten Unter theologischem Gesichtspunkt nicht minder gewichtig als die Frage nach der Vermittlung des Propriums des Gottesdienstes ist aber auch die nach dem Ordinarium. Es gehört zu den grundlegenden Aufgaben des Gottesdienstes, die von jeder Situation unabhängig und unverrückbar geltenden, dem Menschen zum Heil geschehenen großen Taten Gottes in Christus zur Sprache und damit in Erinnerung zu bringen. Diese ›Konstanten‹ der Verkündigung ins Bewusstsein zu heben, leistet der Predigtgottesdienst aufgrund seiner Struktur nur in auffällig geringem Maße – jedenfalls deutlich weniger dezidiert als die Ordnung des Messgottesdienstes. Dieser vermag durch seine zahlreichen zum Ordinarium zählenden Elemente einen vorzüglichen, stets erneut präsent werdenden ›Sicherungsdienst‹ wahrzunehmen, wird doch in jedem Gottesdienst Christus als dem Kyrios gehuldigt, wird doch in die Freude des Himmels über Christi Menschwerdung eingestimmt (mit dem Gloria in excelsis), wird doch durch das Aufgreifen des Hallelujarufs bewusst die Brücke geschlagen hin zum Gotteslob auch des ersterwählten Gottesvolkes, wird doch durch das Sursum corda, das Sanctus und das Benedictus vor der Einsetzung des Abendmahls angezeigt, dass der im Mahl kommende und sich 41 

AaO., 214–367.

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gebende Herr eine Zeit und Raum übergreifende Tischgemeinschaft stiftet, die von eschatologischer Freude geprägt ist. All dies zu formulieren und zum Ausdruck zu bringen, bleibt bei dieser Ordnung des Gottesdienstes nicht den mit der Leitung des Gottesdienstes Betrauten anheimgegeben, sondern es begegnet den zum Gottesdienst Versammelten als Standard – sie sind diesbezüglich niemandes ›Gestaltenwollen‹ (oder auch ›Nichtgestaltenwollen‹) ausgeliefert.

4.3. Gemeinsames Bekennen Dies gilt in besonderer Weise mit Blick auf die Formulierung des gemeinsamen Bekenntnisses im öffentlichen Gottesdienst. Die Ordnung des württembergischen Predigtgottesdienstes kennt das Credo lediglich als fakultatives Element.42 Nur im Predigtgottesdienst mit Abendmahl ist es als Stück des Ordinariums vorgesehen.43 Der Akt des Einstimmens aller Getauften in das gemeinsame Bekenntnis erscheint damit de facto als ein Extraordinarium. Das bietet Raum für den irrigen Gedanken, es ziele nicht jeder sonn- und festtägliche Gottesdienst mit seiner Verkündigung auf das frohe und zuversichtliche Bejahen und Aufgreifen des Bekenntnisses zum dreieinigen Gott. Durch das Ausbleiben des Einstimmens in Worte eines nicht von jedem Einzelnen aus dem Horizont seines Glaubens entwickelten, sondern allgemein in der ­Kirche genutzten Credos (sei es des Apostolicums, sei es des Nicäno-Konstantinopolitanums) entgeht im württembergischen Predigtgottesdienst auch die Chance, das sich alle Individualität des Glaubens nachordnende Allgemeine des christlichen Glaubens immer zur Sprache zu bringen und auf diese Weise regelmäßig zu Bewusstsein zu bringen, dass alle Glaubenden in einer ­Kirche verbunden sind. Gerade für ein Kirchenwesen, das wie das württembergische in Geschichte und Gegenwart eine so außerordentlich große Bandbreite von theologischen Prägungen und praktizierter Frömmig42  S. Evangelische Landeskirche in Württemberg, Gesangbuch (s. Anm. 1), Nr. 684, 1240. 43  AaO., Nr. 688, 1247.

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keit kennt,44 dürfte es – mit Blick auf die Zukunft – einen Gewinn darstellen, das bei aller Verschiedenheit dennoch Verbindende immer wieder explizit zu machen – und zugleich dem Eindruck zu wehren, als stellten das Bekenntnis der Christenheit und der Empfang des Heiligen Abendmahls eine qualitativ von dem übrigen Dienst Gottes abzuhebende Kategorie dar: Gott gibt sich ganz, im Sakrament und im Wort, und er gibt Mut und Freude zum Bekenntnis zu ihm ebenso durch das Hören des Wortes wie durch das Empfangen des Sakraments.

4.4. Grenzen der ›Ökumenefähigkeit‹ des Gottesdienstes Als ein weiterer Gesichtspunkt ist zu erwägen, dass der württembergische Predigtgottesdienst angeblich in besonderer Weise »ökumenefähig«45 sei, da er sich strukturell mit dem in der römisch-katholischen ­K irche bekannten Wortgottesdienst berühre.46 Doch ist der naheliegende Einwand, dass nach römisch-katholischem Verständnis dem Wortgottesdienst nicht eine gleiche Wertigkeit wie dem Messgottesdienst zukomme, schon damit erledigt, dass er zwar als zutreffend, aber dennoch als »kleinmütig« bezeichnet wird?47 Die schmerzliche Trennung der Konfessionen am Tisch des Herrn wird durch das Ausweichen auf eine nach außen hin keinen Anstoß erregende Form für gemeinsame gottesdienstliche Praxis ja in keiner Weise einer Klärung oder gar Überwindung nähergebracht – um es in einem Bild zu veranschaulichen: Leidet jemand an Zahnschmerzen, so versucht er zwar auch, diesen Schmerz zu44  S. etwa die Charakterisierung bei Gustav Bossert, Die Eigenart der evangelischen Landeskirche Württembergs im Wandel der Zeit, in: Für Volk und Kirche. Zum 70. Geburtstag von Landesbischof D. Th. Wurm dargeboten vom Evang. Pfarrverein in Württemberg, Stuttgart 1938, 33–51, hier 35. 45  So die (nicht in Anführungsstriche gesetzte) Bezeichnung bei Hennig, Geschichte (s. Anm. 6), 12. 46  Hennig, Predigtgottesdienst (s. Anm. 8), 123, spricht von der »Ökumenizität« des Predigtgottesdienstes, in dem sich römisch-katholische und evangelische Kirchen (anders als im Abendmahlsgottesdienst) träfen. 47  AaO., 125.

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mindest nicht beim Essen noch durch das Kauen harter Kost zu steigern, sondern möglichst nur weiche Kost zu sich zu nehmen, doch wird durch solche Schonung die Quelle des Schmerzes natürlich nicht behoben. Der schmerzende Zahn muss in aller Regel geöffnet werden, die Ursache des Schmerzes muss freigelegt werden, um sie behandeln und möglichst abstellen zu können. Zu deklarieren, auch weiche Kost sei nahrhaft, ist zwar zutreffend, aber es vertagt die Lösung des Problems nur, ja birgt in sich die Gefahr, dass der bestehende Riss sich noch vertieft. Wäre es für die ökumenische Begegnung nicht dringlicher, dass die eine Konfession der anderen auch und gerade in ihrer je ihrem Verstehen und Lehren entsprechenden Spezifik begegnet und die Not des dabei erlebten Getrenntseins aushält, als sich auf ein vor solch schmerzhaften Erfahrungen sicher gewähntes Terrain zu begeben? Im Übrigen ist (bei genauerem Hinsehen) der Predigt- bzw. Wortgottesdienst just solch ein Stein des Anstoßes wie der Vollzug eines Messgottesdienstes römischer Prägung, da die protestantischerseits betonte Heilswirkung der Verkündigung des Wortes allein aus römisch-katholischem Verstehen nicht weniger irrig erscheint als aus protestantischer Sicht die römisch-katholisch geltend gemachte Bindung der Zueignung des Heils an den sakramentalen Vollzug. Ist der behauptete höhere Grad der Ökumenizität von Wortgottesdiensten nicht letzten Endes eine protestantische Selbsttäuschung? Gal 6,2 – »einer trage [und eben nicht: vermeide] des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen« – wie der Kontext von Gal 6,4f.48 – zeigen an, dass bei der schwierigen und dennoch unabdingbar nötigen ökumenischen Begegnung ein anderes Verfahren als das eines bloßen Umgehens des bestehenden Dissenses angezeigt ist.

48  »Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen.«

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4.5. Des Herren Wort mit des Herren Mahl Das betrifft nun auch noch die Frage danach, ob der zumeist ohne das Reichen des Abendmahls bleibende Predigtgottesdienst eine für die Zukunft wünschenswerte Perspektive darstellt. »Es wäre töricht, diesen [Predigt-]Gottesdienst als defizitär zu denunzieren, wo er sich nicht mit der Feier des Herrenmahles verbindet«, macht Hennig geltend.49 Aber lockt es nicht, dem 1Kor 1,25 entgegenzustellen: »die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind«? Gehört es nicht zur ›Torheit Gottes‹ wie zur ›Schwachheit Gottes‹, eben nicht nur verbal, sondern in gleicher Weise auch sakramental denen begegnen zu wollen, denen sein Heil gilt und zugeeignet werden soll? Aus der Perspektive der Reformation ist es eine falsche Alternative, Verkündigung mittels ›Wort‹ und ›Sakrament‹ voneinander scheiden zu wollen. So betont Luther im Großen Katechismus, dass der regelmäßige Empfang des Sakraments unbedingt zum Leben eines Christenmenschen dazugehört; er weist in diesem Zusammenhang hin auf die Notwendigkeit einer »Vermahnung und Reizung, daß man nicht lasse solchen großen Schatz, so man täglich unter den Christen handelt und austeilet«.50 An diesem dürfe man nicht »ümbsonst furübergehen; das ist, daß, die Christen wöllen sein, sich dazu schicken, das hochwirdige Sakrament oft zu empfahen.«51 Im Hintergrund steht die Sorge, dass an die Stelle der altgläubig geltend gemachten Pflicht zum Sakramentsempfang eine nicht dem Gebot Christi entsprechende Laxheit der Glaubenden tritt, die – trotz der Einsetzung des Sakraments durch Christus – kein Begehren nach Empfang des Abendmahls an den Tag legt. Nun ist es kein Spezifikum des württembergischen Predigtgottesdienstes, dass er häufig ohne Feier des Abendmahls bleibt; dieses Phänomen lässt sich vielfach auch in den lutherischen Landeskirchen beobachten, in denen als Regelform für den Hauptgottesdienst die Messform vorgesehen ist – die dort dann in ›abgebro49 

Hennig, Predigtgottesdienst (s. Anm. 8), 120. BSLK, 715, 29–32. 51  AaO., 715, 32–35. 50 

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chener Form‹ im Stile einer protestantischen ›missa sicca‹52 (›trockene Messe‹) praktiziert wird. Als Rechtfertigung dieser Praxis ins Feld zu führen, das Abendmahl sei »keine unbegrenzt öffentliche Angelegenheit«, aber »unsere Predigtgottesdienste sind es«,53 vermag deshalb nicht zu überzeugen, weil es eine Selbstverständlichkeit ist, dass auch Abendmahlsgottesdienste für jedermann zugänglich sind – und niemand des Raumes verwiesen wird, wenn das Mahl des Herrn gefeiert wird. Die (schließlich eschatologisch relevante!) Frage, ob jemand Gottes Dienst annimmt, stellt sich bei jedem Predigtgottesdienst nicht weniger ernst als beim Empfang des Abendmahls: Lasse ich mich in meinem Herz und Sinn umkehren zum dreieinigen Gott, stimme ich in sein Lob ein, lasse ich seinen Segen mir zueignen – oder bleibe ich doch verschlossen, bei mir selbst? Dass eine sakramentale Arkandisziplin54 vonnöten und für die Zukunft neu im Protestantismus zu beheimaten sei, bedürfte jedenfalls einer gründlichen eigenen theologischen Durchmusterung. Hinsichtlich der Zukunft des Predigtgottesdienstes bleibt daher die Anfrage, welcher theologische Gesichtspunkt es sein mag, der es hindert, den Herrentag nicht nur regelmäßig mit des Herren Wort, sondern auch mit dem Herrenmahl zu begehen. Und die für den Predigtgottesdienst ins Feld geführten Argumente, dass sich nach dessen Struktur Gottesdienste aller Art gestalten ließen, bedeuten nicht, dass dies nicht auch gelingen könnte unter Einbeziehung der Feier des Herrenmahles. Das immer noch zu beobachtende eher geringe Verlangen nach dem Empfang des Herren Christus in dem von ihm eingesetzten Mahl dürfte jeden52  Zur Bedeutung der Bezeichnung ›missa sicca‹ in vorreformatorischer Zeit und konfessionell katholischer Tradition vgl. Johannes Pinsk, Die Missa Sicca, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 4 (1924), 90–118. 53  So Hennig, Predigtgottesdienst (s. Anm. 8), 121. 54  Vgl. dazu Douglas Powell, Art. Arkandisziplin, TRE 4, 1–7. Powell weist aaO., 7 zusammenfassend darauf hin, dass es selbst mit Blick auf die Alte ­K irche »schwerlich gerechtfertigt« sei, »von einer eigentlichen Arkandisziplin zu reden: offenbar handelt es sich nicht um eine kanonische Verpflichtung, sondern um eine Konvention oder Gepflogenheit, ja vielleicht nur um eine fromme Tendenz.«

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falls kaum dadurch gesteigert werden, dass man auf seinen »Empfang« von vornherein verzichtet.

5. Überwundene und noch zu überwindende Hürden Nachdenklich macht, dass über die dem Predigtgottesdienst in theologischer Beziehung innewohnenden Probleme schon vor einem dreiviertel Jahrhundert reflektiert wurde. Es war ein Impetus nicht zuletzt aus der Erfahrung der Bekennenden Kirche, insbesondere die Beteiligung der Gemeinde am Geschehen des Gottesdienstes zu intensivieren: »Die Möglichkeit der Predigt und die Möglichkeit des Sakramentes machen keine ­K irche aus. Die Predigt will geschehen, das Sakrament will ausgeteilt sein[,] im Haufen der Menschen wollen sie leben.«55 Hans Asmussen etwa hat aus damaliger Sicht eine Linie skizziert, wie die Struktur eines Predigtgottesdienstes allmählich weiterentwickelt werden kann, um hier für die Gemeinde Wichtiges zu gewinnen.56 Interessant ist, dass die liturgische Entwicklung in Württemberg in den seitdem vergangenen 75 Jahren bereits eine Reihe der von Asmussen genannten Schritte gegangen ist – manche mit Entschlossenheit, so dass sie heute selbstverständlich erscheinen,57 andere noch mit Zögern. Das zeigt, dass auch die Ordnung des Predigtgottesdienstes nicht einfach eine statische Größe ist, sondern – auf lange Sicht und mit Geduld – um solche Elemente zu bereichern ist, die als hilfreich und notwendig für die Verdeutlichung der Verkündigung im Gottesdienst und ihre Verstetigung erkannt werden. Für die Verwirklichung eines größeren Maßes an Beteiligung der Gemeinde gilt das gewiss. Die Schritte auf diesem Weg scheinen zuletzt aber eher langsamer gesetzt worden zu sein. Schon Hans 55  So Hans Asmussen, Ordnung des Gottesdienstes (Gottesdienstlehre 3), München 1936, S. XII. 56  AaO., XIV. 57  Vgl. die Beschreibung der Entwicklungen der im Laufe des 20. Jahrhunderts in Württemberg eingeführten Agenden bzw. Gottesdienstbücher bei Hennig, Predigtgottesdienst (s. Anm. 8), 91–99.

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Asmussen hat zu seiner Zeit scharfe Kritik geübt an einem Gottesdienst, der im Wesentlichen aus »pastörlichen Monologe[n]« bestehe: »Der Träger des Amtes bekannte in der Gemeinde die Sünden, und er sprach über dieselben Sünden die Vergebung aus. Er verkündigte das Wort und er gab auch selbst die Antwort in Gebet und Bekenntnis.«58 Diese Kritik dürfte in der Gegenwart zwar allgemein geteilt werden – doch ist zu fragen, ob nicht insbesondere die heute in vielfacher Form begangenen ›Zweitgottesdienste‹ in vielen Fällen auf ein sehr ähnlich gelagertes Phänomen hinauslaufen – nur dass an die Stelle des pastoralen Monologs eine geistliche (Selbst-)Darstellung bestimmter Interessenten bzw. gemeindlicher Gruppen getreten ist? Beides – geistlicher Monolog und geistliche Inszenierung vor der Gemeinde – werden aber dem Dienst Gottes bei näherer Betrachtung nicht gerecht. Denn könnte es Gott um eine Gemeinde von Zuschauern gehen, die ›aktiven‹ geistlichen Akteuren Beifall spenden?59 Noch schwieriger steht es mit der Entwicklung solcher Elemente, die sich individualistischen Perspektiven und Interpretationen des Glaubens sperrig in den Weg stellen. Denn was Asmussen seinerzeit für die Predigt festgestellt hat, gilt – wie er selbst erläutert – nicht weniger für die liturgische Praxis allgemein: »Die 58 

Asmussen, Ordnung (s. Anm. 55), XIII. »Die Reformen, die in den letzten Jahrzehnten die Liturgie zu bessern suchten, zielten darauf hin, das bewegte Gefühl des modern erregten Menschen unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Man wollte auf solche Weise den Gottesdienst dem modernen Menschen heimisch machen. Aber man verlor auf solche Weise beides: Das Erbe der Väter, mit ihm die Schönheit der Liturgie und die Wahrheit ihres Zeugnisses, und zugleich die Teilnahme der Gemeinde. Dem modernen Menschen wird eine Liturgie uninteressant, die den gleichen Gesetzen untertan ist, die ihm im Theater, im Konzertsaal, am Rundfunk begegnen. In dem Augenblick aber, wo die Kirche, nach ihrer Eigentümlichkeit gefragt, erkannte, dass die Ordnung des Gottesdienstes nichts Zufälliges ist, sondern das Zeugnis der Gemeinde, die nicht von den Wandlungen menschlicher Meinungen und nicht von den Mächten einer sich wandelnden Zeit lebt, also Ausdruck der Lehre, die seit den Zeiten der ­Aposteln gleichbleibt, erkannte sie ihre Liturgie.« So Georg Merz, Die lutherische Liturgie und das Gebet der kämpfenden ­K irche (Bekennende ­K irche 48), München 1937, 15. 59 

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Schrift ist nicht dazu da, um Predigten zu ermöglichen. Predigten sind dazu da, um zum rechten Gebrauch der Schrift hinzuführen. […] In der Liturgie darf nichts anderes geschehen, als daß eben das geschriebene Wort ausgelegt wird.«60 Der Predigtgottesdienst ist – relativ gesehen – immer noch deutlich ärmer an solchen Elementen, die einen im reformatorischen Sinne rückbindenden Charakter haben, rückbindend an die Gesamtheit der ­Kirche über das Hier und Jetzt der Gegenwart, über die Grenzen von Zeit und Raum generell hinaus, als der Messgottesdienst. Auch dies hat Asmussen seinerzeit prägnant zu formulieren verstanden: »Die Liturgie ist das Wort, welches anzeigt, daß wir mit dem heute geschehenden Worte nicht ein anderes oder neues Wort wollen gegenüber dem Wort der ersten Christenheit und unserer Vorväter im Glauben.«61 Die in der Liturgie wiederkehrend in gleicher Weise lautwerdenden »Stimmen, die gestern einmal Stimmen des Heute waren«,62 bewahren die ­Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden vor der Fokussierung auf ein Agieren, das nur die Gegenwart im Blick hat.63 Das ist deshalb dringlich, weil der Gott, der in der Gegenwart mit seinem Dienst begegnen möchte, kein anderer ist als der, der in der Vergangenheit gewirkt hat und in der Zukunft wirken wird. Für die Zukunft des württembergischen Predigtgottesdienstes gilt, was für alle Praxis unter Menschen gilt: ›learning by doing‹. Was dem Predigtgottesdienst fehlt, lässt sich gewinnen, im vorliegenden Falle umso einfacher, als das zu Gewinnende nicht erst entwickelt oder erfunden zu werden braucht, sondern schon vorhanden ist. Es braucht aber den Mut, das Wort auch in seiner litur60 

Asmussen, Ordnung (s. Anm. 55), IX. AaO., X. 62  Ebd. 63  Markant formuliert hat dies mit Blick auf die Situation in der Zeit des Nationalsozialismus Georg Merz: »Sie [die Ordnung des Gottesdienstes] wird nicht von dem Nomos des Volkes bestimmt, sondern von der Notwendigkeit, die der Dienst am Worte Gottes erfordert.« (Merz, Liturgie [s. Anm. 59], 7). 61 

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gisch geprägten Form reichlicher unter uns wohnen zu lassen,64 und es bedarf des Vertrauens, dass auch dieses liturgische Wort nicht leer zurückkommen wird – im Blick auf die Ver­heißung Gottes: Es »wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende«.65

64  Kol 3,16 nennt ausdrücklich Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder – also liturgische Elemente –, die zur Lehre und Ermahnung und als Ausdruck der Dankbarkeit genutzt werden sollen. 65  Jes 55,6.

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Was ist ein Gottesdienst? Theologische Kriterien zur Angemessenheit der gottesdienstlichen Feier Christoph Schwöbel

1. Gottesdienst als Mittelpunkt des kirchlichen Lebens und Identitätszentrum des Christentums Als die evangelischen Reichsstände am 25. Juni 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg durch den kursächsischen Kanzler Christian Beyer im Kapitelsaal des bischöflichen Palastes das »Augsburgische Bekenntnis« verlesen ließen und dem Kaiser Karl V. übergaben, enthielt dieses ursprünglich als Verteidigungsschrift der reformatorischen Bestrebungen geplante Bekenntnis einen Artikel zur Kirche, der die ­K irche anhand des Gottesdienstes definiert: »Es wird auch gelehrt, daß alle Zeit musse ein heilige christliche ­K irche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente lauts der Evangelii gereicht werden.«1

Diese beiden gottesdienstlichen Vollzüge, die Predigt des Evangeliums ohne verzerrende Zusätze und die einsetzungsgemäße Feier von Taufe und Abendmahl, so wird bekannt, sind hinreichend für die wahre Einheit der christlichen Kirche; gleichförmige Zeremonien, die von Menschen eingesetzt sind, sind dafür nicht erforderlich. In allen geschichtlichen Wandlungen der christlichen ­Kirche und in allen ihren unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten, ist der Gottesdienst der Grundvollzug gewesen, aus dem die ­K irche ihr Leben bestimmen ließ. Der christ1 

CA VII, BSLK, 61.

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Christoph Schwöbel

liche Gottesdienst als Wortverkündigung und Mahlfeier ist der Ort, wo die identitätsbestimmende Beziehung zu Christus, die fortdauernde Lebensgemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn manifest wird: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.« (Hebr 13,8). Der Versuch des Augsburgischen Bekenntnisses, den Gottesdienst als Mittelpunkt des Seins und Lebens der ­K irche für alle Christen verständlich zu machen, verdeckt aber, dass gerade im Blick auf Praxis und Verständnis des Gottesdienstes die tiefsten Verwerfungen zwischen der reformatorischen Bewegung und den Altgläubigen zu finden sind, so dass die Reformation selbst dramatisch als Kampf um den Gottesdienst charakterisiert werden kann. 2 Im Mittelpunkt der reformatorischen Kritik stand das Verständnis des Messopfers als Wiederholung des Opfers Christi durch die Kirche, die in der Gestalt des geweihten Priesters als Subjekt handelt. Die Auffassung, Christus habe Genugtuung für die Erbsünde geleistet und die Messe eingesetzt als Opfer für alle Tatsünden, wird als »greulich Irrtumb«3 gegeißelt. Die Kritik an der Gottesdienstpraxis der spätmittelalterlichen römischen ­Kirche lautet im Kern: Hier wird das Werk Gottes mit dem menschlichen Werk verwechselt und das handelnde Subjekt des Gottesdienstes vertauscht. Gottesdienst ist nicht ein menschlicher, von der ­Kirche vollzogener Dienst. Gottesdienst ist Gottes Dienst für den in Sünde gefangenen Menschen, indem er ihn durch sein Wort und durch die »sichtbaren Worte« der Sakramente gerecht spricht, ihm in Christus durch den Heiligen Geist Gerechtigkeit als Gemeinschaft mit Gott schenkt. Angesichts dieser schöpferischen Gabe antwortet der Mensch mit dem Bekenntnis seiner Sünde, mit Dank, Lobpreis und Gebet, ja mit der Hingabe seines ganzen Lebens im Glauben. Durch die Bestreitung einer effektiv Heil 2  Peter Cornehl unterstreicht diesen revolutionären Charakter im Gottesdienstverständnis der Reformation folgendermaßen: »Die Reformation hat auf dem Gebiet des Gottesdienstes die größte Veränderung gebracht, die es in der Geschichte des Christentums nach der konstantinischen Wende gegeben hat.« Peter Cornehl, Art. Gottesdienst VIII, TRE XIV, 54–85, hier 54. 3  So CA XXIV, BSLK, 93.

Was ist ein Gottesdienst?

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vermittelnden Rolle der ­K irche und der kirchlichen Amtsträger wird der Gottesdienst zu einem kommunikativen Beziehungsgeschehen zwischen dem in Wort und Sakrament handelnden dreieinigen Gott und der christlichen Gemeinde, in der alle Getauften durch Gott geheiligt, zum Zeugnis des Evangeliums berufen und zur Fürbitte füreinander befähigte Priester sind. Luther hat die Frage, was ein Gottesdienst ist, in einer Predigt bei der Einweihung der Torgauer Schlosskapelle auf die knappe Formel gebracht, ein Gottesdienst sei nichts anderes, »denn daß unser lieber Herr selbst mit uns redet durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang«.4 Wenn wir diese knappe Antwort systematisch-theologisch etwas weiter entfalten, lassen sich fünf Charakteristika des Gottesdienstes hervorheben, die jeweils ein Kriterium beinhalten, das zu bestimmen erlaubt, was ein Gottesdienst sei und wie er seinem Charakter entsprechend zu feiern sei.

2. Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen Folgen wir Luthers Zusammenfassung des Geschehens des Gottesdienstes in der ›Torgauer Formel‹, erscheint der Gottesdienst als ganzer als Kommunikationsgeschehen. Die gottesdienstliche Kommunikation im Reden Gottes mit uns und in unserem Reden mit Gott vollzieht sich in allen Dimensionen des kommunikativen Austauschs unter Einbeziehung aller Dimensionen der geschöpflichen Existenz. Die Formulierung macht weiterhin deutlich, dass hier ein erfolgreiches Reden gemeint ist. Ein Reden unseres Herrn selbst mit uns, ist ein Reden, das zum Ziel kommt, und es uns so »wiederum«, als Antwort auf Gottes Reden mit uns, ermöglicht, mit Gott zu reden, auch das ein Reden, das sein Ziel, die Kommunikation mit Gott, erreicht. Hier ist nicht nur von »Anrede« die Rede, bei der ungewiss ist, ob sie den Adressaten erreicht und von ihm aufgenommen wird. Die Rede »an« kommt zum Ziel im 4 

WA 49, 588, 16–18.

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Reden »mit«. Die Redeabsicht des redenden Herrn findet ihren Ausdruck in seinem heiligen Wort und kommt bei den so Angesprochenen so an, dass sie antworten können im Wort des »Gebets« und im »Wort-Klang« des Lobgesangs.5 Gottesdienst vollzieht sich als Gespräch zwischen Gott und Mensch in allen Formen der Kommunikation, die Gott der Schöpfer gebraucht und in denen geschöpfliche Personen unter Zuhilfenahme aller geschöpflichen Kommunikationsmittel zum Hören und Reden kommen. Gottes Reden zielt durch unser Hören auf unser antwortendes Reden, das die implizite Zusage in Anspruch nimmt, dass der Herr, der mit uns redet, auch auf uns hören will. Nicht jedes Hören ermöglicht und fordert zur antwortenden Rede auf. Wir verstehen Luthers Kurzbeschreibung des Gottesdienstes nur richtig, wenn das Reden des Herrn selbst auf kommunikative Gesprächsgemeinschaft zielt, die durch das zu Herzen gehende Hören – was ist das anderes als der Glaube? – zum Reden mit Gott befähigt und ermutigt, weil Gott sich in seinem Reden mit uns als ein Gott mitteilt, der auf seine Geschöpfe hört. Noch ein weiteres Element kann bei der »Torgauer Formel« leicht übersehen werden. Luther formuliert, dass das Reden des Herrn durch sein Heiliges Wort mit uns geschieht, so dass wir mit Gott reden können. Dabei ist klar, dass dieses menschliche »Wir« nicht einfach eine gegebene Größe ist, sondern durch Gottes Reden geschaffen wird, so dass Gottes Reden uns ins Gespräch mit ihm und ins Gespräch untereinander und miteinander zieht. Für dieses »Wir« der Gottesdienstgemeinschaft gibt es keine vermittelnde dritte Redeposition, etwa die eines geweihten Priesters. Gottesdienst ist ein echter und direkter Dialog zwischen dem 5  Das Reden im Gottesdienst ist also weder allein von der Absicht des Autors (intentio auctoris) noch von der Absicht des Textes (intentio operis) noch von der Absicht bzw. Aufnahme des Lesers bzw. der Hörenden (intentio lectoris bzw. receptio audientium) her zu interpretieren, sondern als dynamischer Austausch. Dieser ist einerseits asymmetrisch: Gottes Reden mit uns ermöglicht und fordert unser Reden mit ihm; andererseits aber auch reziprok: Gottes Reden mit uns und unser Reden mit ihm vollzieht sich in wechselseitiger Beziehung »wiederum«. Produktionsästhetische, werkästhetische und rezeptionsästhetische Momente sind miteinander im dynamischen Kommunikationsaustausch vermittelt.

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Reden des Herrn selbst mit uns und unserem Reden mit ihm. Die Rolle des geistlichen Amtes ist die eines Dienstes am Wort, des Dienstes der Verkündigung des Evangeliums und der Austeilung der Sakramente, die von Gott wie ein Werkzeug in Anspruch genommen wird, damit Gott selbst in seinem Geist Glauben schaffen kann, einen Glauben, der auf Gottes Reden hört und mit Gott zu reden wagt. Natürlich vollzieht sich das Reden des Herrn selbst mit uns durch die kommunikative Vermittlung der Sprechakte und des kommunikativen Handelns von menschlichen Personen, die sich auf vielfältige Vermittlungsformen stützen: allen voran die kanonischen Überlieferungen der Bibel, die im Gottesdienst als Heilige Schrift gebraucht wird und in lebendiger mündlicher Rede als Rede der gottesdienstlichen Gemeinde kommuniziert und ausgelegt wird. Gleiches gilt für die vielfältigen Formen, in denen das Reden des Herrn selbst in geformter menschlicher Rede vermittelt wird, als Gnadenszusage, als Friedensgruß oder als Segen, so dass die Gemeinde darauf antworten kann mit der zustimmenden Bekräftigung des »Amen« oder in der Vielfalt der Formen des Gebets oder im Lobgesang. Die vollständige Entfaltung dieser Voraussetzungen würde eine ganze Dogmatik erfordern, die aus der Interpretation der Voraussetzungen, Vollzüge und Implikate der gottesdienstlichen Vollzüge entwickelt werden kann.6 Wie Gottes Reden mit uns durch sein heiliges Wort, vermittelt im Wort der Schrift, im Wort der Predigt, der Gnadenzusage und des Segens, und unser Reden mit Gott im Amen, im bekennenden Lobpreis, im Sündenbekenntnis, in der Bitte um Gottes Erbarmen und im Gebet in seinen unterschiedlichen Formen aufeinander bezogen 6 

Vgl. Geoffrey Wainwright, Doxology. The Praise of God in Worship, Doctrine and Life. A Systematic Theology, New York 21982 und ­Jochen Arnold, Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Theologie (VLH 39), Göttingen 2004. Genau genommen ist Peter Brunners lutherische Gottesdienstlehre so eine aus dem Gottesdienst entwickelte Dogmatik. Vgl. Peter Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, in: Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, Bd. I, hgg. v. Karl Ferdinand Müller / Walter Blankenburg, Kassel 1954, 83–364.

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sind, lässt sich aber auch an der Liturgie des Gottesdienstes selbst erläutern. Der Gottesdienst beginnt mit dem trinitarischen Votum »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, auf das die Gemeinde antwortet: »Amen«. Diese Einleitung enthält in konzentrierter Form eine Reihe von fundamentalen Klärungen für das Reden Gottes und unser Reden im Gottesdienst. Der Gottesdienst wird dadurch als Auftragshandlung deutlich, in dem alles »im Namen« des dreieinigen Gottes geschieht: das Reden von Gott ebenso wie das Reden zu Gott. Es ist vom trinitarischen Gott selbst beauftragtes, befähigtes und befugtes Reden. Diese Beauftragung geschieht durch diesen spezifischen Gott, dessen Eigenname »Vater, Sohn und Geist« ist. Im Gottesdienst redet nach christlichem Verständnis nicht irgendein Gott mit uns, nicht ein namenloses Numinoses, sondern der Gott, der seine Identität durch die Offenbarung seines Namens und durch seine Selbsterschließung in der Geschichte Israels, in Person und Werk Jesu Christi und im Wirken des Geistes in der ­Kirche vorstellt und sich so als Redender zugänglich und anredbar macht. Diese Identitätsaussage ist nicht durch eine Funktionsbeschreibung »Im Namen des Schöpfers, Versöhners und Heiligmachers« zu ersetzen. Die trinitarische Identität Gottes durchzieht von da an den gesamten Gottesdienst: im »Ehr sei dem Vater«, im Glaubensbekenntnis, im Kanzelgruß, im Abendmahl, im Segen und bei jeder ausgeführten Gebetsform. Allerdings wird dieses die Identität Gottes ansagende Votum in der Agende des Evangelischen Gottesdienstbuches, alter Tradition entsprechend, sofort ergänzt durch den Zusatz: »Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.« Die Vertrautheit der Liturgie verdeckt die Ungeheuerlichkeit, die diese Aussage enthält. Der dreieinige Gott wird als der »Herr«, der »einzige Herr«, angerufen, dessen Herrsein, weil es das Herrsein des Schöpfers ist, alle anderen Herren im Himmel und auf Erden entmachtet und in ihrer relativen Autorität aufdeckt. Der Einzige, der Herr genannt zu werden verdient, ist der, der uns von den Herren befreit. Wenn wir von diesem Herrn Hilfe erwarten, kommt damit unsere gesamte Existenz in ihrer Bedürftigkeit zur Sprache, als

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geschöpfliche Existenz, die ihren Grund nicht in sich selbst trägt, als von Gott entfremdete, sündige Existenz und als mit Gott versöhnte, begnadete Existenz, die über Sinn und Heil nicht verfügt, und als stets im Werden begriffene, unvollkommene Existenz, die sich selbst nicht vervollkommnen kann. Das trinitarische Votum ruft die Geschichte in Erinnerung, in der Gott der Schöpfer sich zu seinen menschlichen Geschöpfen in Beziehung setzt, schöpferisch, versöhnend und heiligend, und sich so in allen seinen Werken selbst vergegenwärtigt: Der Vater, der Sohn und der Geist als Schöpfer, Versöhner und Vollender. Es ist ein Summarium der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur verheißenen Vollendung, in der die Gegenwart der Gemeinde durch die Selbstvergegenwärtigung Gottes lokalisiert wird. Was »im Namen« des Vaters, des Sohnes und des Geistes geschieht, geschieht darum in der sich dreifaltig schenkenden Gegenwart Gottes, die die Gemeinde als empfangene, für sie konstituierte Gegenwart, in Gebet und Lobpreis aufnimmt. Die eigene Lebensgegenwart der Gemeinde wird so als von Gott geschenkte ins Bewusstsein gebracht. Das Kommunikationsgeschehen im Gottesdienst – das sagt das trinitarische Votum aus – ist Kommunikation unter füreinander Gegenwärtigen. Mit der Anrufung des trinitarischen Namens wird Gottes dreieinige Selbstvergegenwärtigung angesprochen, die sich schenkende Gegenwart Gottes des Vaters, durch den Sohn im Geist, in der Gott dem Glauben sein Heil für die Welt gewiss macht. Gottes Gegenwart in allem, was in der Welt geschieht, ist solange verborgen, bis Gott sich im Sohn und durch den Geist als Heil der Welt zu erkennen gibt. Im Geist, durch das Überführtwerden von der Wahrheit der Christusbotschaft, kann Jesus als der Christus erkannt werden. In Christus als dem eingeborenen Sohn des Vaters erkennen die Glaubenden den »tiefsten Abgrund seines väterlichen Herzens und eitel unaussprechlicher Liebe«7 und werden so in die Gemeinschaft mit Gott gebracht. Die im trinitarischen 7  So formuliert Luther die durch das dreifaltige Sichgeben Gottes erschlossene Einsicht im Beschluss der Auslegung des Credo im Großen Katechismus, BSLK, 690.

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Votum zugesagte Gegenwart Gottes ist die Gegenwart seines Heils, in die die gottesdienstliche Gemeinde hineingezogen wird. So wird zugleich deutlich, wie sich Gottes Reden im menschlichen Reden vollziehen kann und menschliches Reden es wagen kann, mit Gott in ein Gespräch einzutreten. Gottes Gegenwart in seinem Geist schenkt Gewissheit über die Wahrheit der Christusbotschaft, die uns im menschlichen Zeugnis der Verkündigung und in den menschlichen Zeichenhandlungen der Sakramente erreicht. Die Botschaft von Jesus Christus ist das letztgültige Reden Gottes im Sohn (Hebr 1,1), durch das Gottes vielfaches und auf vielerlei Weise geschehenes Reden »zu den Vätern durch die Propheten« seine unüberbietbare Gestalt erhält. Jesus Christus kann so als das Fleisch gewordene Wort Gottes verstanden werden (Joh 1,14), in dem der schöpferische Logos, durch den und in dem alles geschaffen ist, in geschöpflichen Kommunikationsformen zur Sprache kommt. Die Inkarnation ist die Heiligung der menschlichen Kommunikationsmittel für das Reden des Schöpfers. Das ist der Sachgrund, warum Gott in den Worten menschlicher Sprache und mit den Zeichen menschlicher Kommunikationspraxis mit uns redet. Umgekehrt liegt in Jesu Reden mit Gott dem Vater, in das er seine Jünger einbezieht (Mt 6,6–13), die Heiligung menschlicher Rede für die Rede mit Gott. Kommt Gott im Gottesdienst in menschlicher Rede zur ­Sprache, so wird der Weg, den Gott in seiner Selbstvergegenwärtigung durch Christus im Geist geht, als Zusage der kommunikativen Gegenwart Gottes in Anspruch genommen. Das menschliche Reden mit Gott geht diesen Weg Gottes zu uns – im Geist durch Jesus Christus – gleichsam zurück zu Gott dem Vater. Es redet im Geist und im Auftrag und mit der Fürsprache Christi Gott, den Vater an. Vor diesem Hintergrund meint Luthers Formulierung »daß unser Herr selbst mit uns redet« nicht nur das Reden des Herrn Jesus, sondern das Reden Gottes des Herrn, durch Jesus, der als der Herr bekannt wird, im Geist, von dem die ­K irche im Nizänischen Glaubensbekenntnis bekennt, dass er »der Herr ist und lebendig macht«8. Ebenso verweist die For8 

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mulierung »durch sein heiliges Wort« auf das verkündigte Wort der menschlichen Evangeliumsverkündigung, das sich als Auslegung, Nachsprechen und Anwendung des bezeugten Wortes Gottes in der Heiligen Schrift bezieht. Es umfasst auch die im Auftrag Christi dargereichten Sakramente, die in Wort, Werk und Person Jesu Christi begründet sind. Die biblischen Überlieferungen, auf die sich Evangeliumsverkündigung und Sakramentsfeier zurückbeziehen, sind Zeugnis von Gottes Reden in Israel, in Christus und in der Kirche, das in Jesus Christus, dem »fleischgewordenen Wort«, seine Pointe hat. Sie besteht darin, dass es das schöpfe­rische Wort Gottes von Anbeginn ist, durch das er die Welt schafft und zur Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer beruft. Das Wort Gottes ist die nur trinitarisch zu beschreibende Einheit und Vielfalt des Redens Gottes mit uns. »Heiliges« Wort ist es in allen diesen aufeinander verweisenden Formen, weil es von Gott dem Vater ausgeht, in Christus als dem Sohn seinen letztgültigen Inhalt hat, und durch den Heiligen Geist, »der heilig macht«, d.h. in die Gemeinschaft mit dem heiligen Gott führt, zur Wirkung gebracht wird. Erfassen wir Luther folgend den Gottesdienst als Gespräch, ermöglicht durch die kommunikative Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Gottes, ist nur folgerichtig, dass Luther selbst auch das ewige dreifaltige Sein Gottes als Im-Gespräch-Sein verstehen konnte, in dem die drei Personen der Trinität im wechselseitigen kommunikativen Austausch aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind. Wie sollte es auch anders sein, wenn der Gottesdienst in Gottes Selbstvergegenwärtigung begründet ist, in der Gott in seinem Reden mit uns sich so zur Sprache bringt, wie er ist, und uns erlaubt, uns in unserem Reden mit Gott nicht nur auf einen Außenaspekt Gottes zu beziehen, seine der Schöpfung zugewandte Seite, die von seinem eigentlichen Sein zu unterscheiden wäre, sondern im Gespräch mit Gott zum ewigen kommunikativen Wesen Gottes in Beziehung zu treten? sches Gesangbuch: Antwort finden in alten und neuen Liedern, in Texten und Bildern, Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996, Nr. 687.

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Fragen wir, welches Kriterium durch diese theologische Beschreibung des Gottesdienstes als Kommunikationsgeschehen begründet wird, ein Kriterium, das nicht nur zur Unterscheidung von anderen Veranstaltungen fungiert, sondern auch als Leitfaden einer guten Praxis des Gottesdienstfeierns dienen kann, ließe sich die Sachgemäßheit als konsequente Ausrichtung des Gottesdienstes an der kommunikativen Selbstvergegenwärtigung des drei­ einigen Gottes nennen. Dieses Kriterium entspricht genau darum dem Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen, weil die Sache des Gottesdienstes gerade der mit den Menschen redende drei­ einige Gott und die darauf in Lobpreis und Gebet antwortenden Menschen sind.

3. Gottesdienst als Beziehungsgeschehen Fungiert das trinitarische Votum im Eingang des Gottesdienstes wie das Vorzeichen vor der Klammer, das das ganze gottesdienstliche Kommunikationsgeschehen betrifft, die »HintergrundDogmatik«, die im Gottesdienst vorausgesetzt oder impliziert ist, so lassen sich alle Teile und Stücke des Gottesdienstes als der Vollzug dieses Beziehungsgeschehens deuten. Der Eingangspsalm, der im 19. Jahrhundert am Anfang des Gottesdienstes platziert wurde, nachdem die reformatorischen Gottesdienste den lateinischen Introitus mit einem Psalmlied ersetzt hatten, lokalisiert die feiernde Gemeinde, die die Psalmen Israels mitbetet und nachbetet, in der Dynamik der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Im Mitbeten der Psalmen wird der Reichtum der Gottesbeziehung erfahrbar, weil er zur Sprache gebracht werden kann, als Lob, Dank, Bitte und Klage in den unterschiedlichen Situationen menschlicher Bedürftigkeit und göttlicher Fülle. So gibt die christliche Gemeinde ihrer Verwurzelung in der Gottesgeschichte Israels Ausdruck, eignet aber zugleich diese Geschichte im Horizont der dreifaltigen Selbstvergegenwärtigung Gottes an, indem sie das Psalmgebet mit dem Gloria Patri abschließt: »Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit.«

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Im bekennenden Lobpreis wird der trinitarische Horizont vergegenwärtigt, in dem alles Beten als Ausdruck der Gottesbeziehung seinen Platz hat, und alles in der Anrufung Gottes im Gebet Gesagte auf diesen Gott, den Vater, den Sohn und den Geist bezogen wird. Was immer geschieht, wird so von Gott umfasst: auch unsere Sünde, die an dieser Stelle im Gottesdienstablauf bekannt wird oder in einem Bußgebet vor Gott gebracht werden kann. Das Sündenbekenntnis stellt die menschliche Entfremdung von Gott in den Rahmen der Gottesbeziehung, und die einzelnen Sünden, die von Menschen bekannt werden, werden als Ausdruck der Deplatzierung im Gottesverhältnis zur Sprache gebracht werden. Die Gottesbeziehung umfasst alle anderen Beziehungen des Menschen, und alle Beziehungsverletzungen, für die Menschen im Verhältnis zu anderen Menschen und im Verhältnis zu sich selbst Verantwortung übernehmen müssen, haben im Gottesverhältnis ihren umfassenden Rahmen. Damit ist gottesdienstlich von vornherein festgehalten, dass der Mensch auch in der Sünde Gottes Geschöpf bleibt, das als von Gott angeredetes Geschöpf sein Dasein als vor Gott verantwortliches Geschöpf führt. Das konkretisiert sich so, dass der Mensch vor Gott seine Sünde bekennen kann und um Vergebung bitten kann in der Gewissheit, dass Gott in Christus die Entfremdung des Menschen vor Gott überwunden hat. Es entspricht der Unbedingtheit der schöpferischen Liebe Gottes auch als vergebender Liebe, dass so alle Sünde in den Horizont der Bitte um Vergebung gestellt werden kann. Das Sündenbekenntnis ist damit nicht die Bedingung der Vergebung der Sünde als Dislokation in der Beziehung zu Gott – das würde die Unbedingtheit der Gnade Gottes in Frage stellen –, sondern vielmehr die Bedingung für die Annahme der Vergebung. Die schlechthinnige Abhängigkeit von der Vergebung, das Angewiesensein auf das Eingewiesenwerden in die richtige Gottes­ beziehung wird im dreifachen Kyrie eleison ausgesprochen. Obwohl Gottes Gnade bedingungslos ist, d.h. allein die Gnade Gottes in Jesus Christus zur Voraussetzung hat, ist sie Teil eines lebendigen Beziehungsgeschehens, indem Gnade nur erbeten werden kann und nur als von Gott zugesprochene auch angenommen werden

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kann. Dadurch dass die Gnadenzusage von außen, durch den Liturgen als Teil des Dienstes am Wort zugesprochen wird, wird ihre Bedingungslosigkeit manifest. Der dialogisch-dramatische Vollzug erläutert die Struktur des Verhältnisses von Schuld und Vergebung. Zentral ist dabei die Unterscheidung des Sünders von seiner Sünde. Der Mensch ist nicht das, was er tut, sondern das, was er durch Gottes schöpferische und versöhnende Liebe empfängt. Die Identifikation des Menschen mit seiner Sünde, die seiner Verantwortung Ausdruck gibt, und die Gnadenzusage, die die Identität des Menschen nicht durch die Verletzung der Beziehung zu Gott, sondern durch Gottes Aufrechterhaltung dieser Beziehung auch angesichts von Sünde und Schuld definiert sein lässt, kommt in diesem Ablauf als dramatische Spannung zum Tragen. Die Auflösung dieser Spannung findet im »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen seiner Gnade« ihren Ausdruck, die mit der Erinnerung an die Weihnachtsbotschaft und den Lobgesang der Engel die Zusage der Gnade auf Christus bezieht, in dem das rechte Beziehungsverhältnis zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen neu etabliert ist – im Himmel wie auf Erden –, und so Frieden auf Erden ermöglicht, indem alle menschliche Verfehlung von der Zusage der Gnade umfasst wird. Im Teil von Verkündigung und Bekenntnis wird durch die Schriftlesungen (in der vollständigen Form als alttestamentliche Lesung, Epistel und Evangelium) das gottesdienstliche Geschehen zur Zeichenwelt der biblischen Überlieferungen in Beziehung gesetzt. Das gottesdienstliche Gespräch zwischen Gottes Reden mit uns und unserem Reden mit Gott erscheint so als Teil des Gesprächs, das Gott seit der Schöpfung mit seinen menschlichen Geschöpfen führt. Das Reden Gottes mit Israel, in Jesus Christus und in der christlichen Gemeinde, das in den kanonischen biblischen Texten in einer spannungsvollen differenzierten Einheit mit dem antwortenden Reden und Handeln der von Gott ins Gespräch verwickelten Menschen verwoben ist, bietet so die Koordinaten für das gottesdienstliche Gespräch zwischen Gott und Gemeinde. Die Geschichte Gottes mit den Menschen von der Schöpfung bis zur zugesagten Vollendung wird so Teil der narrativen Identität der christlichen Gemeinde. Die Zeichenwelt der biblischen Überlieferungen ist die Beziehungswelt des christlichen

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Glaubens. Im Zusammenhang des gottesdienstlichen Gebrauchs, wird die Bibel zur kanonischen Schrift, zum Instrument des gegenwärtigen Gesprächs Gottes mit den Menschen. Die in den biblischen Texten selbst enthaltenen Strukturierungselemente werden zu Elementen der Struktur des Beziehungsgeschehen zwischen Gott, Mensch und Welt von der Schöpfung bis zum Eschaton: die Dynamik des Verhältnisses von Verheißung und Erfüllung und die Spannung zwischen Gesetz und Evangelium, in der im Gesetz formuliert wird, was Gott von seinen menschlichen Geschöpfen getan haben will, um die in der Schöpfung intendierte Gemeinschaft Gottes mit seinen Geschöpfen zu realisieren, und im Evangelium zugesagt wird, was Gott zusagt und tut, um die Gemeinschaft mit seiner versöhnten Schöpfung zu vollenden. Durch die Anordnung der Texte wird dabei deutlich: Ihre innere Einheit erhalten diese Texte im Evangelium, in der unbedingten Zusage des Heils Gottes für die Menschen in Jesus Christus. Das Glaubensbekenntnis zeigt an dieser Stelle im Gottesdienst: Die biblischen Texte als Zeugnis des Redens und Handelns Gottes, fokussiert im Evangelium, zielen auf den Glauben, der gemeinschaftlich bekannt werden soll. Der Glaube als das unbedingte lebensbestimmende Vertrauen auf den dreieinigen Gott ist der explizit gemachte Zielpunkt des Redens Gottes mit uns, das im Credo zum bekennenden Reden der Gemeinde führt. Das unbedingte Vertrauen auf Gott, das es wagt, sich antwortend auf das Gespräch mit Gott einzulassen, ist durch Gottes Selbstvergegenwärtigung ermöglicht, dessen Inhalt das Glaubensbekenntnis summarisch zusammenfasst: Der trinitarische Name Gottes und die Darstellung dessen, wie sich Gott in seiner trinitarischen Beziehung zur Welt glaubbar und so anredbar macht. Hier wird als »Glauben an…« explizit gemacht, wie sich Gott in seiner Selbstvergegenwärtigung für den Glauben erwiesen hat. Das Glaubensbekenntnis formuliert so das Gottesverständnis als Implikat des Gottesverhältnisses, das Gott durch sein Reden mit uns für uns konstituiert und das wir im Bekenntnis zur Aussage bringen. Die Predigt steht genau an dieser Übergangsstelle von Evangelium und Glaube. Luther hat dem markant Ausdruck gegeben mit seiner These: »Man kann sonst nicht predigen quam de Iesu

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Christo et fide. Das ist generalis scopus.«9 Deswegen ist für ihn die Predigt die conditio sine qua non des evangelischen Gottesdienstes: »Darumb wo nicht gotts wort predigt wirt, ists besser daß man widder singe noch leße, noch zu samen kome.«10 Welche Gründe lassen sich für diese behauptete Zentralstellung der Predigt angeben? Zunächst vermittelt die Predigt nach reformatorischem Verständnis explizit die Zusage des Evangeliums von Jesus Christus an die Menschen. So ist es völlig einsichtig, dass Gott, der mit dem Menschen reden will, in der Predigt durch Menschen redet: »Gott redet nicht wie die menschen, hat kein maul, sed loquitur per homines.«11 Wegen ihrer Ausrichtung auf ihren zentralen Inhalt, das Evangelium von Jesus Christus als Zusage für den Menschen heute, und wegen ihrer Ausrichtung auf den Glauben ist die Predigt darum eo ipso dialogisch. Das aber kann nur gelingen, wenn die Predigenden zunächst Hörende des Wortes Gottes sind, bevor sie in ihrem Reden Gottes Anrede bezeugen. Nur so kann die Predigt als Rede, die aus dem Hören kommt, der Gemeinde auch Hilfe zu einem eigenen Reden, das aus dem Hören kommt, sein. Ein diesem Kriterium entsprechendes evangelisches Predigtverständnis müsste sich darauf konzentrieren, biblisch zu predigen, seelsorglich zu predigen, lehrhaft zu predigen und gemeindeorientiert zu predigen.12 Entscheidend ist für das Verständnis der Predigt im Gottesdienst, dass sie das Beziehungsgeschehen, das den Gottesdienst begründet und das er vollzieht, beschreibend transparent macht und in dieses Beziehungsgeschehen durch die Zusage der Gnade Gottes und ihre Explikation im Leben der Gemeinde eintritt. Gerade die enge Beziehung, die die reformatorische Theologie für die Korrelation von Wort und Glaube reklamiert, macht allerdings 9 

WA 36, 180, 10f. WA 12, 35. 11  WA 46, 688. 12  Diese Aspekte habe ich als Teilaspekte des theologisch Predigens entfaltet in der homiletischen Skizze »The Preacher’s Art: Preaching Theologically«, die als Einleitung der Predigtsammlung von Colin E. Gunton, Theology through Preaching, Edinburgh/New York 2001, 1–20 vorangestellt ist. 10 

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auch die Grenzen der Predigt deutlich. Kein menschliches Predigen kann – auch als »Austeilung des Wortes« – Glauben schaffen. Die Predigt kann sich nur durch die klare und verständliche Explikation des Evangeliums im Medium des äußeren Wortes dem Glauben schaffenden, Gewissheit schenkenden inneren Wirken des Heiligen Geistes als Instrument zur Verfügung stellen. Der Abendmahlsteil hat nichts anderes zum Gegenstand als das Beziehungsgeschehen, das den gesamten Gottesdienst konstituiert, aber er tut es mit anderem Akzent. Im Mittelpunkt steht die Zusage der Gegenwart Christi als Zugang zur Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott und die diese Zusage beim Wort nehmende Mahlfeier. Das Kommunikationsgeschehen des Gottesdienstes wird in seinem Charakter als Kommunikation zwischen füreinander Gegenwärtigen in Zeichen und Wort für den Glauben erfassbar. Dabei wird ausdrücklich der Bogen von der Schöpfung über die Versöhnung zur ewigen Herrlichkeit geschlagen. Die Schöpfungsgaben des Brotes und des Weines, für die im Gabengebet gedankt wird, werden für den Glauben im Zusammenhang der gesamten Mahlfeier zu wirksamen Zeichen der Gegenwart Christi, die uns als mit Gott versöhnte Sünder auf den Weg bringt zur vollendeten Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott. Die Materie der Schöpfung wird so zeichenfähig für die neue Schöpfung. Im Lobgebet (Präfation) wird Gott dem Vater für die Sendung des Sohnes gedankt, durch dessen Tod wir Vergebung der Sünde und durch dessen Auferstehen wir ewiges Leben haben. Der Zweck der Sendung des Sohnes ist, dass er denen, die mit ihm in seinem Leib verbunden sind, den Weg in die Gemeinschaft des ewigen Lebens mit Gott öffnet. Darauf antwortet das Dreimalheilig (Sanctus), in dem die Erde in den himmlischen Lobgesang einstimmt. Das darauffolgende Eucharistiegebet, Dank an Gott den Vater für die Hingabe seines Sohnes Jesus Christus, wird weitergeführt in den Einsetzungsworten. Durch die Vergegenwärtigung des Gründonnerstagsmahls Jesu mit seinen Jüngern wird das Abendmahl mit seinen Zeichen von Brot und Wein so als von Jesus Christus selbst eingesetzte Weise seiner fortwährenden personalen Gegenwart bei seiner Gemeinde gefeiert. Das erinnernde

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Handeln der Gemeinde wird zum Medium der Selbstvergegenwärtigung des auferweckten Gekreuzigten. Die Worte der Einsetzung bezeichnen somit die Art und Weise, wie Jesus Christus sich der Gemeinde der Glaubenden selbst hinterlässt. Die Mahlgemeinschaft mit Jesus, die in seinem irdischen Leben Gemeinschaft mit Gott gewährt, in der alle Entfremdung von Gott überwunden ist, ist damit nach seinem Tod und seiner Auferweckung bis zur vollendeten Gemeinschaft Gottes mit seiner Schöpfung fortgesetzt. Die Gegenwart Christi wird im Abendmahl ganz gegeben; die Vergebung der Sünden ist die Beseitigung des ausschließenden Hindernisses der Teilnahme an dieser Gemeinschaft. Der Akzent liegt ganz auf der realen Gegenwart der Person Jesu Christi in der Zeichenhandlung des Abendmahls. Genauso wie im Wort der Verkündigung die Gegenwart Gottes selbst durch die Zeichen menschlicher Worte zur Sprache kommt und im Glauben angenommen sein will, so ereignet sich die Gegenwart Christi durch die zu seiner Vergegenwärtigung eingesetzten und gebrauchten Zeichen und will im Glauben angenommen werden. Die Gemeinde antwortet darauf mit einem Glaubensbekenntnis: »Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.« Die Epiklese, die Herabrufung des Heiligen Geistes, dient darum nach evangelischem Verständnis nicht der Konsekration und Verwandlung der Elemente von Brot und Wein, sondern gilt der Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Gottes, die im Geist vollendet wird, dem Geist, der den Glauben gibt, das Sichgeben Gottes dankbar anzunehmen. Mit der Bitte um den Geist wird so die vollendete Gemeinschaft Gottes mit seiner Schöpfung vorweggenommen. Während die Anamnese zurückverweist auf die Einsetzung des Abendmahls, bittet die Epiklese um die Vorwegnahme der eschatologischen Gemeinschaft Gottes mit seiner Schöpfung. Die Gegenwart der Abendmahl feiernden Gemeinde wird in zwei Zeithorizonten konstituiert: der Vergegenwärtigung der Vergangenheit von Kreuz und Auferstehung und der Vergegenwärtigung der vollendeten Zukunft. Wird an dieser Stelle das Vaterunser gesprochen, wird dieser eschatologische Akzent, der den christlichen Gottesdienst seit sei-

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nen Anfängen bestimmte, durch die umfassenden ersten drei Bitten noch einmal verstärkt und die Bitten für das tägliche Brot, für die Vergebung der Schuld und die Verschonung von Versuchung und die Erlösung vom Bösen in die eschatologische Bekräftigung des »Dein ist das Reich« gefasst. Der eschatologische Charakter dieses Gebetes, das das gegenwärtige Kommen des Gottesreiches in allen seinen Bitten zum Gegenstand hat, wird in diesem Kontext markant unterstrichen. Sodann erfolgt das Agnus Dei, das Christus nach 1Kor 5,7b als Passalamm deutet, die Einladung und die Austeilung der Gaben. In der Mahlgemeinschaft, im Austeilen und Annehmen der Gaben, gibt der gekreuzigte und auferstandene gegenwärtige Herr den leibhaft gegenwärtigen Glaubenden im Modus leibhafter Erfahrung Anteil an der leiblichen Gemeinschaft mit ihm. Das Abendmahl schließt mit dem Friedensgruß und dem Dankgebet. In dem abschließenden Sendungsteil hat im Abendmahlsgottesdienst die Fürbitte ihren Platz, sowie die Abkündigungen und der Segen. In den Fürbitten nimmt die Gemeinde die im Abendmahl erfahrene Proexistenz Jesu Christi in der Bitte auf. Als in Christus mit Gott versöhnte Gemeinschaft bringt sie die Not der Welt vor Gott, die Angewiesenheit der ­K irche auf die Leitung durch ihren Herrn und die eigenen Bedürftigkeiten der Gemeinde und der Einzelnen in ihr. In der Fürbitte erweist sich die Gemeinde als eine sich selbst in der Bitte für andere transzendierende Gemeinschaft. Hier hat auch der Zusammenhang zwischen der koinonia der gottesdienstlichen Gemeinschaft und der diakonia ihren Ort. Gottesdienst, der Dienst Gottes an uns, befähigt die Glaubenden zum Dienst am Nächsten. Die Abkündigungen haben in diesem Zusammenhang durchaus einen theologischen Sinn, denn durch sie hält das gemeindliche Leben Einzug in den Gottesdienst und wird so Teil der Rhythmisierung des christlichen Lebens durch Sammlung und Sendung. Im Segen wird die im Gottesdienst als versammelte Gemeinde neu konstituierte Gemeinschaft unter dem Zuspruch des Friedens Gottes und mit der Botschaft seines Friedens in die »Welt« gesandt. Der Segen ist dabei die jedem Einzelnen und der Gemeinde als ganzer zugesagte behütende und erleuchtende Gegen-

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wart Gottes. In der Fürbitte, den Abkündigungen und im Segen dehnt sich das Beziehungsgeschehen zwischen dem dreieinigen Gott und den Glaubenden, das Kommunikationsgeschehen zwischen dem Reden Gottes mit uns und unserem Reden mit Gott, über den Gottesdienst in den Alltag aus. Kraft der auch für den Alltag zugesagten Gottesgegenwart ist der Gottesdienst vorbehaltloser Dienst am Nächsten. Wir haben die einzelnen Elemente des Gottesdienstes so in ihren unterschiedlichen einander zugeordneten Aspekten anhand der wesentlichen Momente des Ablaufs eines Abendmahls­ gottesdienstes als Elemente des Kommunikationsgeschehens zwischen Gottes Reden und unserem Reden mit Gott und als Aspekte des Beziehungsgeschehens zwischen dem dreieinigen Gott und seinen menschlichen Geschöpfen skizziert. Das wirft die Frage auf, ob das Kommunikationsgeschehen nur in dieser Form »vollständig« und somit die vorgegebene agendarische Struktur der Leitfaden zum Gelingen des kommunikativen Beziehungsgeschehens ist. Angesichts der Variabilitäten der agendarischen Form zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten, aber auch angesichts der Freiheit, die für die reformatorische Gottesdienstgestaltung ein vielfältig belegtes typisches Kennzeichen ist, lässt sich diese Frage nicht positiv beantworten. Vielmehr ist die Frage wohl so zu beantworten, dass das Kommunikationsgeschehen als Beziehungsgeschehen, das in Luthers Torgauer Formel angedeutet ist, für einen christlichen Gottesdienst im Sinne des Evangeliums konstitutiv ist. Darin wird auch festgehalten, dass es im Predigtgottesdienst und im Abendmahlsgottesdienst, um dasselbe Geschehen der Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Gottes und des antwortenden kommunikativen Handelns des menschlichen Glaubens geht. An der Struktur dieses Beziehungsgeschehens orientiert sich die Strukturierung der gottesdienstlichen Feier in allen ihren Formen. Fragen wir nun, welches Kriterium sich aus dieser Beschreibung des Gottesdienstes als Beziehungsgeschehen gewinnen lässt, das sowohl als Unterscheidungskriterium als auch als Gestaltungskriterium für eine gute Praxis des Gottesdienstfeierns

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fungieren kann, erscheint die Transparenz für das zugrundeliegende Beziehungsgeschehen zwischen dem dreieinigen Gott und den glaubenden Menschen als das Grundkriterium. Damit wird das reformatorische Kriterium der Verständlichkeit aufgenommen und im Blick auf seine sachliche Begründung profiliert.

4. Gottesdienst als Gemeinschaftsbildung, Bildungsprozess und ökumenische Einladung Die ausführliche Beschreibung der beiden Grunddimensionen des Gottesdienstes als kommunikatives Geschehen und als Beziehungsgeschehen beinhaltet schon eine Reihe weiterer Dimensionen, die deswegen an dieser Stelle, einschließlich der ihnen zugehörigen Kriterien, knapp skizziert werden können. Der Gottesdienst der Kirche, die sich selbst als Geschöpf des Evangeliums versteht, dient der Erbauung der Gemeinschaft der Kirche. Das Kommunikationsgeschehen, das den Gottesdienst definiert, ist zugleich das Kommunikationsgeschehen, durch das die Gemeinschaft der Glaubenden konstituiert wird, in allen ihren Dimensionen als Kommunikationsgemeinschaft, Interpretationsgemeinschaft des Evangeliums, Erlebnisgemeinschaft der Wahrheit des Glaubens und Handlungsgemeinschaft, die in allen diesen Dimensionen Zeugnisgemeinschaft ist. Wenn der Gottesdienst die Gemeinschaftsbildung der christlichen ­Kirche begründet, muss er – das wäre das Kriterium, das dieser Dimension zugehörig ist – gemeindegemäß sein. Allerdings kann damit nicht einfach die faktisch bestehende Gemeinde gemeint sein mit allen ihren kontingenten, oft durch ganz äußere Faktoren bedingten Eigenschaften und Prägungen, Sozialstrukturen und Milieuzugehörigkeiten, Vorlieben und Abneigungen. Vielmehr bietet der Gottesdienst die Gelegenheit, dass die Gemeinde an diesem gottesdienstlichen Grundgeschehen neu orientiert wird und damit ihre faktische Existenz durch die Feier des Gottesdienstes gestaltet werden kann. Der Gottesdienst wird gemeindegemäß, wenn die Gemeinde im sachgemäßen und transparenten Vollzug des Gottesdienstes das Prinzip ihrer Zusammengehörigkeit,

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Christoph Schwöbel

ihre Identität und ihren Auftrag erfährt, d.h. neu zugesprochen erhält und als Gestaltungsmotivation aufnimmt. Damit wird die ­feiernde Gemeinde zum Zentrum dessen, was in der Wechselbeziehung von Gottesdienst und Gemeinde gemeindegemäß ist. Mit dem Aspekt der Gemeindebildung ist indirekt schon eine weitere Dimension genannt: Der Gottesdienst als Bildungsprozess. Der Gottesdienst ist die primäre Bildungsinstitution des christlichen Lebens, weil er in verstehender Initiation und Partizipation die personale Identität und soziale Identität der Glaubenden konstituiert und so zum Leben in der Urteils- und Handlungskraft des christlichen Glaubens anleitet. Zentral für diese Dimension des Gottesdienstes ist der Wechsel von »äußerer«, ganzheitlicher Zeichenkommunikation und »innerer« Aneignung durch den Menschen als psychophysisches soziales Beziehungswesen. Die Zeichenkommunikation begegnet im Modus verständlicher Zeichen des Wortes, des Gesangs, des sinnlich erfahrbaren Vollzugs und zielt auf den Glauben, d.h. auf die Ausbildung der Gewissheitsstruktur der menschlichen Person ab, die sich dann wiederum auf der Basis dieser Gewissheit an der äußeren Zeichenkommunikation im Singen, Beten, Bekennen und Handeln beteiligt. Soziale Aspekte und personale Aspekte des Bildungsprozesses greifen stets ineinander. Wollte man das Kriterium bestimmen, das aus dieser Dimension des Gottesdienstes folgt, müsste man von der Nachvollziehbarkeit und der Übertragbarkeit des gottesdienstlichen Geschehens sprechen. Nachvollziehbarkeit setzt Sachgemäßheit, Transparenz und Gemeindegemäßheit voraus, kommt aber darin zum Ziel, dass das im Gottesdienst Erfahrene und Praktizierte Übertragungskompetenzen in andere Bereiche des Lebens ausbildet und damit den Gottesdienst auf den Alltag ausdehnt. Dieser Prozess wird vom Gottesdienst selbst im Rhythmus von Sammlung und Sendung vollzogen. Schließlich ist der Gottesdienst ein ökumenisches Ereignis, weil er die Feier der Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Gottes zum Heil der Welt ist. Zeigt sich diese ökumenische Dimension schon an den aus unterschiedlichen Traditionen der ­Kirche in den Gottesdienst integrierten Stücken, so wird sie in der

Was ist ein Gottesdienst?

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Feier explizit zum Ausdruck gebracht, indem sie alle diese Elemente zurückführt auf ihren dynamischen Grund: die Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Gottes in Wort und Sakrament in der gottesdienstlichen Feier. Diese Rückführung auf den Grund der ­Kirche – das ist die bis heute gültige Aussage des Kirchenartikels der Augsburgischen Konfession – ist das Fundament aller ökumenischen Offenheit, die damit zum Kriterium des Gottesdienstes wird.

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Der Gottesdienst als Ritual Birgit Weyel

Der Gottesdienst ist ein Ritual, weil sein Ablauf Regeln folgt. Die Regelmäßigkeit des Gottesdienstes kann starr oder flexibel gehandhabt werden, aber sie ordnet wesentlich das, was im Gottesdienst geschieht und ermöglicht den am Gottesdienst Beteiligten, den Liturgen und der Gemeinde, die Teilnahme. Durch seine Regelhaftigkeit wird der Gottesdienst zu einer öffentlichen Veranstaltung, in der Rollen festgelegt sind, in der kommunikative Räume eröffnet werden und erlebbar wird, was im Gottesdienst zum Ausdruck kommen soll. Die kulturwissenschaftliche Perspektive ist nicht als Konkurrenz zur theologischen Beschreibung gottesdienstlichen Handelns und Erlebens zu sehen. Zentrale Fragen der Gottesdienstgestaltung kreisen um das spannungsvolle Verhältnis von Kontinuität und Veränderung, Tradition und Innovation, Form und Spontaneität. Sie betreffen den Gottesdienst als Ritual zwischen starrer Ordnung und der völligen Auflösung der Formen. Menschen erleben Gottesdienste sehr unterschiedlich. Das hängt wesentlich an lebensgeschichtlichen Prägungen, Lebensstilen und psychischen Dispositionen. Während der eine die strenge Form als feierlich empfindet, fühlt sich ein anderer fremd. Rituale verhelfen zum Erleben von Gemeinschaft. Sie können aber auch exkludierend wirken. Rituale sind von daher ambivalent. Die Wahrnehmung des Gottesdienstes als Ritual verhilft zum besseren Verständnis der Wirk- und Funktionsweisen des evangelischen Gottesdienstes.1 Auf dieser Grundlage können Fragen der Gottesdienstgestaltung sinnvoll diskutiert werden.

1 

Vgl. auch Michael Meyer-Blanck, Das gestaltete Ritual: Der evan-

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1. Der Gottesdienst als Liturgie Der evangelische Gottesdienst ist von seinem Verständnis her primär als Dienst Gottes an den Menschen verstanden worden. Klassisch ist die von Martin Luther aus Anlass der Einweihung der Torgauer Schlosskirche am 5. Oktober 1544 formulierte doppelte Verhältnisbestimmung geworden. 2 Sie ist im Vorwort des Gottesdienstbuches, der gemeinsamen Agende von VELKD und EKU, an prominenter Stelle zitiert: »›Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt dies neue Haus einsegnen und weihen unserem Herrn Jesus Christus, welches mir nicht allein gebühret und zustehet, sondern ihr sollt auch zugleich an den Sprengel und das Räucherfass greifen [Weihwassersprengel und Räucherfass stehen hier symbolisch für Gottes Wort und das Gebet], auf dass dieses neue Haus dahin ausgerichtet werde, dass nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang …‹ Weil die Sakramente mitgedacht sind, fügen wir hinzu: und dass wir seine Gegenwart erfahren in der Feier von Taufe und Abendmahl.«3

Die so genannte Torgauer Formel bringt zum Ausdruck, dass der Gottesdienst wesentlich durch Mitteilung geprägt ist. In ihm geht es zentral um Kommunikation, d.h. um verständliche, auf Wechselseitigkeit hin angelegte Rede. Der Gottesdienst ist Gottes Dienst an den Menschen, weil in ihm das Evangelium zur ­Sprache kommt. Das Evangelium ist das dem Menschen zugute kommende, aktuell zugesprochene Wort, in dem Gott selbst handelt und auf das der Mensch antwortet durch Bitten, Loben und Danken. Schließlich handelt die gottesdienstliche Versammlung als ganze, nicht nur der Liturg oder der Prediger. Dieser Grundsatz wird als erstes Kriterium der Gottesdienstgestaltung nach gelische Gottesdienst, in: Ders. / Birgit Weyel, Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie, Göttingen 2008, 127–137. 2  Die zur Einweihung der Torgauer Schlosskirche gehaltene Predigt fasst zentrale Einsichten der Reformation zum Gottesdienst prägnant zusammen. Zu den Quellen vgl. den Beitrag von Christopher Spehr in diesem Band. 3  Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische ­K irche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische ­K irche Deutschlands, Berlin 1999, 5. Das Zitat bezieht sich zurück auf WA 49, 588.

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dem Evangelischen Gottesdienstbuch zur Geltung gebracht: »Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.«4 Damit sind wichtige Anforderungen an die Liturgie gestellt: 1. Die gottesdienstliche Liturgie muss die Beteiligung der ganzen Gemeinde ermöglichen. 2. Es reicht nicht aus, Texte zu zitieren und zu rezitieren, sondern das Evangelium muss immer wieder neu zur Sprache gebracht werden. Die Liturgie muss somit Räume eröffnen, die eine verständliche und zeitgemäße Kommunikation ermöglichen. 3. Was im Gottesdienst gesagt wird, ist nicht beliebig, sondern die Liturgie ist auf das hin zu orientieren, was zentral ist: die Selbstmitteilung Gottes in der Person Jesu Christi. Der Begriff der Liturgie bezeichnet in der heutigen Verwendung den Gottesdienst, setzt aber einen Akzent auf die Ordnung, den Ablauf, die Struktur des Gottesdienstes. Die Predigt ist Teil der Liturgie. Das wird nicht immer in der umgangssprachlichen Verwendung deutlich, wenn etwa von Predigt und Liturgie die Rede ist. Der Begriff der Liturgie wird bisweilen kritisiert, weil das Wort im Neuen Testament nicht vorkommt.5 Es gibt aber gute Gründe, vom Gottesdienst als Liturgie zu sprechen. ›Liturgie‹ kommt aus der antiken Amtssprache und meint zunächst allgemein den öffentlichen Dienst für das Gemeinwesen, der insbesondere im Kultus vollzogen wird. Die Öffentlichkeit des Gottesdienstes ist hier ebenso impliziert wie seine genuin religiöse Funktion. Der Gottesdienst ist zugleich als eine Veranstaltung gesehen, die sich mit anderen öffentlichen Kulturveranstaltungen vergleichen lässt, also als Phänomen nicht einfach unvergleichbar wäre. Theologische und anthropologischkulturwissenschaftliche Perspektiven lassen sich mit dem Begriff der Liturgie bzw. der Liturgik als Lehre vom Gottesdienst durchaus verbinden.

4 

Evangelisches Gottesdienstbuch (s. Anm. 3), 15. Vgl. Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Begriff, Geschichte und Stand der Forschung, in: Ders. / Michael Meyer-Blanck / Karl Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 18. 5 

Der Gottesdienst als Ritual

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Betrachtet man unter dem Aspekt der liturgischen Ordnung den Gottesdienst näher, so tritt die Unterscheidung zwischen Ordinarium und Proprium hervor. Zum Ordinarium gehören alle wiederkehrenden Elemente des Gottesdienstes, die von Sonntag zu Sonntag im Wesentlichen gleich bleiben, wie zum Beispiel das Glaubensbekenntnis. Das Proprium dagegen bezeichnet die nach dem Kirchenjahr wechselnden Teile des Gottesdienstes, die den besonderen thematischen Akzent des Gottesdienstes widerspiegeln. Dazu gehören die Lesungen, der Psalm, das Kollektengebet, der Wochenspruch und das Wochenlied, die den Sonntagen im Kirchenjahr ein je eigenes Thema geben, das sich wie ein roter Faden durch den Gottesdienst zieht. Der Gottesdienst ist immer schon durch ein Muster von Wiederholung und Variation geprägt. Das wechselnde Thema des Sonntags leitet sich in der Regel von dem Evangelium ab: d.h. dem Evangelientext in der Reihe I der Lese- und Predigttextordnung6, dem die anderen Texte als Lesungen und Predigttexte zugeordnet sind. Liegt die Lese- und Predigttextordnung der Gestaltung des Gottesdienstes zugrunde, wird ein sichtbares Zeichen der Verbundenheit zwischen den christlichen Gemeinden gesetzt, die diese Texte verwenden. Es ist daher ein hohes Gut und ein Signal ökumenischer Verbundenheit, wenn Revisionen mit einer möglichst großen Reichweite durchgeführt werden und die Kirchen die Reformen miteinander abstimmen.7

6  Die LPO umfasst sieben Reihen, die jährlich zu Beginn des Kirchenjahres am 1. Advent wechseln. Sie ist unter anderem zugänglich im Liturgischen Kalender des Evangelischen Gesangbuchs (vgl. Evangelische Landeskirche in Württemberg [Hg.], Evangelisches Gesangbuch. Antwort finden in alten und neuen Liedern, in Texten und Bildern. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996, Nr. 838). 7  Die Steuerung und Koordination geschieht maßgeblich durch die Liturgische Konferenz: http://www.liturgische-konferenz.de/ (9.3.2011). Zur neueren Diskussion um die Predigttexte: Kirchenamt der EKD / Amt der UEK / Amt der VELKD (Hg.), Auf dem Weg zur Perikopenrevision. Dokumentation einer wissenschaftlichen Fachtagung, Hannover 2010.

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2. Neue Gottesdienstformen Die Formen, nach denen der evangelische Gottesdienst gefeiert wurde, waren immer vielfältig und vielgestaltig. Ein zentrales Anliegen des agendarischen Reformprozesses8, der das Evangelische Gottesdienstbuch hervorgebracht hat, war es, eine gemeinsame Grundstruktur für den evangelischen Gottesdienst zu entwerfen. Während die Agenden der 1950er Jahre eine eher starre Ordnung fest geschrieben hatten, hat sich die faktische Gottesdienstpraxis seit Mitte der 1960er Jahre aufgespalten in den ›normalen‹ agendarischen Sonntagsgottesdienst und einem experimentierfreudigen, subkulturellen Gottesdienst, der von Basisgruppen vorbereitet wurde und häufig zu besonderen Gottesdienstzeiten stattfand. Vor diesem Hintergrund einer konfliktreichen Versäulung der Gottesdienstkulturen wurde im agendarischen Reformprozess der Strukturbegriff9 gegen den der Ordnung profiliert und umgesetzt. Die Struktur soll Ordnung und Flexibilität, Wiedererkennbarkeit und Gestaltungsoffenheit gleichermaßen miteinander verbinden. Im Blick auf den ›normalen‹ Gottesdienst sollte das Bewusstsein gestärkt werden, auch in ihm Gestaltungsspielräume zu öffnen, Neues auszuprobieren und ihn als Gemeinde gemeinsam zu verantworten. Umgekehrt sollten die Vorbereitungskreise alternativer Gottesdienste dazu angeregt werden, sich stärker um Konvergenz mit traditionellen Gottesdienstformen zu bemühen.10 Tatsächlich hat das Evangelische Gottesdienstbuch dazu geführt, dass sich Gemeinden mit ihrer Gottesdienstgestaltung sehr viel mehr auseinandergesetzt 8  Eine detaillierte Rekonstruktion des Reformprozesses ist nachzulesen bei Helmut Schwier, Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des »Evangelischen Gottesdienstbuches«, Hannover 2000. 9  Vgl. bes. das so genannte Strukturpapier, das maßgeblich zurückgeht auf Frieder Schulz, Versammelte Gemeinde. Struktur und Elemente des Gottesdienstes. Zur Reform des Gottesdienstes und der Agende, Hamburg 1974, 20–64. 10  Vgl. dazu ausführlich Christine Jahn, Vom Baukasten zur Ordnung? Oder: Was brauchen wir heute? Auf dem Weg zu einer zukunfts­ fähigen Agende, in: Hanns Kerner (Hg.), Zwischen Heiligem Drama und Event. Auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Agende, Leipzig 2008, 57–76.

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haben. Die alternativen Gottesdienste der 60er und 70er Jahre, das Politische Nachtgebet und das Feierabendmahl, sind heute abgelöst durch Gottesdienste, die gezielt bestimmte Gruppen ansprechen wollen, die man im ›normalen‹ Gottesdienst vermisst. Unter dem Einfluss der Mi­lieuforschung11 setzt man in den so genannten Zielgruppengottesdiensten die Pluralisierung von Lebensstilen und ästhetischen Präferenzen, die sich beispielsweise im Musikgeschmack äußert, in die Gestaltung des Gottesdienstes um12. Gemeinden sind wesentlich Gottesdienstgemeinden, sodass starke Ausdifferenzierungsprozesse der Gottesdienstkulturen, in denen ein Gottesdienstbe­sucher aus einer anderen Gemeinde keine Wiedererkennungseffekte mehr erleben kann, die Öffentlichkeit des Gottesdienstes gefährden. So sehr der Versuch, möglichst viele Menschen mit vielen unterschiedlichen Formen anzusprechen, wert zu schätzen ist, so stellt sich doch die Frage, ob dies im Ergebnis tatsächlich der Fall ist. Empirische Untersuchungen sprechen dafür, dass sich eher die Hochengagierten in besonderen Gottesdiensten treffen und dabei weitgehend unter sich bleiben.13 Das Ziel, alternative Gottesdienste wieder stärker 11  Diese ist im Raum der Praktischen Theologie und ­K irche wesentlich durch die 4. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung angestoßen worden: Wolfgang Huber / Johannes Friedrich / Peter Steinacker (Hg.), ­K irche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006. 12  Vgl. z.B. die Nachteulengottesdienste in Ludwigsburg (http://www. nachteulen.org/), die sich bewusst von ›normalen‹ Gottesdiensten absetzen und die Predigt durch einen ›Vortrag‹ substituieren. 13  Vgl. dazu die vom Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindenentwicklung der Theologischen Fakultät Greifswald durchgeführte Studie über Zweitgottesdienste in der Badischen Landeskirche. Die Studie aus dem Jahr 2007 hat gezeigt, dass die missionarische Ausrichtung zwar ein starkes Motiv der ehrenamtlich engagierten Vorbereitungskreise darstellt, die Gottesdienstbesucher aber in der Regel ein Spiegelbild der Vorbereitungskreise sind: Es handelt sich um kirchlich und religiös Hochverbundene, die regelmäßig auch den ›normalen‹ Gottesdienst besuchen. 65,03 % stimmten der Aussage zu, dass Gott sich in Jesus Christus offenbart habe, und noch 28 % stimmten dem Item zu: »Ich glaube an Gott, obwohl ich immer zweifle und unsicher werde.« http://www.ekiba.de/images/Zweit-GDLangfassung-Reppenhagen-30-S.pdf (23.4.11). Von einer mis­sionarischen Veranstaltung kann nicht die Rede sein. Im Unterschied zu den ›normalen‹

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mit dem ›normalen‹ Gottesdienst konvergieren zu lassen, ist nicht erreicht. Es entspricht vielfach dem Selbstverständnis alternativer Gottesdienste, anders, besonders zu sein. Die Abgrenzung ist damit für die Identität konstitutiv und kann nicht ohne weiteres aufgegeben werden. Das Ziel des Evangelischen Gottesdienstbuches, für den normalen Gottesdienst mehr Gestaltungsspielräume zu öffnen und zu Variationen anzuregen, ist gelungen. Es zeigt sich aber, dass sowohl diejenigen, die selten in den Gottesdienst gehen, als auch diejenigen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, in der Teilgruppe derer, die sich nicht zu den besonderen Gottesdiensten hingezogen fühlen, eine behutsam abwechslungsreiche Liturgie vielfach negativ bewerten. »Wenn ich in den Gottesdienst gehe, dann möchte ich etwas Vertrautes und mich nicht ständig auf Neuerungen einstellen müssen«. Tatsächlich wird nicht nur in der Gruppe der über 60-Jährigen eine »gewisse Monotonie« gewünscht, um »zur Ruhe kommen« zu können.14 Hier werden mit aller Klarheit die positiven Effekte der Ordnung zum Ausdruck gebracht, die sich mit einer starken Ritualisierung verbinden. Wie sich in Zukunft ›normale‹, traditionskontinuierliche Gottesdienste und der alternative Gottesdienst in ihrer Verhältnisbestimmung zueinander entwickeln, scheint mir noch offen zu sein. Klaus Raschzok spricht kritisch von einer »Pentekostalisierung« des volkskirchlichen Gottesdienstes.15

Gottesdiensten ziehen Zweitgottesdienste allerdings Besucher über Gemeindegrenzen hinaus aus der Region an. Das führt zu überdurchschnittlichen Besucherzahlen. 14  Vgl. Hanns Kerner, Wie viel Ordnung braucht der Gottesdienst? Ergebnisse zweier empirischer Untersuchungen, in: Ders., Drama (s. Anm. 10), 7–21. Zitate ebd., 14f. 15  Vgl. Klaus Raschzok, Gottesdienst und Dramaturgie. Eine Einführung, in: Irene Mildenberger / Ders. / Wolfgang Ratzmann (Hg.), »Gottesdienst und Dramaturgie«. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 23), Leipzig 2010, 15–45, hier 34f.

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3. Gottesdienst und Theater Seit Beginn des 19. Jahrhunderts finden sich in der Beschreibung gottesdienstlichen Geschehens vielfach Anspielungen auf das Theater. Begriffe wie Darstellung und Inszenierung signalisieren, dass es Parallelen zwischen Gottesdienst und Theater gibt. Von liturgischen Rollen und liturgischer Präsenz ist die Rede, Liturgen sprechen von Regieanweisungen und der Aufführung des dem Gottesdienst zugrunde liegenden Stückes. »Der Gedanke, dass Gottesdienst und Theater etwas miteinander zu tun haben, ja dass der Gottesdienst selbst einer Theateraufführung ähnlich ist, regt das praktisch-theologische Gespräch über den Gottesdienst seit geraumer Zeit dazu an, Theater und Gottesdienst miteinander zu vergleichen, ganz unterschiedliche Aspekte des Gottesdienstes mit dem Theater ins Verhältnis zu setzen sowie Gemeinsamkeiten und Differenzen zu notieren.«16

Wie genau sich Theater und Gottesdienst zueinander verhalten, ist allerdings vielfach unbestimmt. Diesen Zusammenhang genauer in den Blick zu nehmen, lohnt allerdings, da auf diese Weise nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede klarer benannt werden können, sondern auch das Verständnis dessen, wie ein Gottesdienst funktioniert, aufgehellt wird. Die Liturgik wird in einen kulturwissenschaftlichen Diskussionszusammenhang integriert, der in den letzten Jahren mehr und mehr theaterfremde Phänomene mit theatralen Begriffen und Konzepten zu verstehen sucht.17 Zwar hat das theatrale Paradigma in den vergangenen zehn Jahren eine besondere Konjunktur erfahren. Es bleibt allerdings zu vergegenwärtigen, dass schon Friedrich Schleiermacher den Gottesdienst als Darstellung verstanden und die Nähe des Gottesdienstes zum Fest und zur Kunst festgestellt hat.18 Ver16  Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes (PThK 18), Gütersloh 2006, 11. 17  Ebd. 18  »Der Zwekk des Cultus ist die darstellende Mitteilung des stärker erregten religiösen Bewusstseins.« Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen ­K irche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Fr. Schleiermacher, hgg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850, 75 (im Original hervorgehoben).

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gleiche zwischen Gottesdienst und Theater sind nicht nur breit gestreut, sondern sie gehen auch mit unterschiedlichen Bewertungen einher. Einerseits zielen sie in einem positiven Sinne auf den Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe und betonen den Aspekt, dass es zwar liturgische Vorgaben gibt, diese im konkreten Gottesdienst aber auch mit Sinn und Verstand, Sorgfalt und Inspiration aufgeführt werden wollen. Andererseits finden sich immer wieder abgrenzende Bemerkungen, insbesondere mit Blick auf die Rollendifferenz von Prediger und Schauspieler.»Der Prediger hat nichts so sehr zu scheuen, als den Vorwurf, dass er komödiantenmäßig auftritt […]. Ebenso sehr aber hat auf der anderen Seite auch der Schauspieler nichts so sehr zu vermeiden, als was an den Prediger erinnert.«19 Erst vor dem Hintergrund einer zusammenhängenden Theorie des Gottesdienstes im Gespräch mit den Theaterwissenschaften lassen sich daher konsistente Einsichten gewinnen. 20 Theater, Festkultur und Kunst stehen als gottesdienstliche tertia comparationis in einem Zusammenhang, der nicht ohne seine Wurzeln im bürgerlichen Zeitalter zu rekonstruieren ist. Schleiermacher konnte bereits auf eine lange Geschichte wechselseitiger Bezüge zwischen Theater und Gottesdienst bzw. Kult zurückblicken. Erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch gewinnt der Vergleich aus heutiger Sicht an Interesse, weil sich die moderne Gesellschaft mit ihrem typischen Kulturleben herausbildet. Diese ist davon geprägt, dass sie eine vielfältige, bunte, bürgerliche Kultur aufweist, an der prinzipiell alle Individuen, sofern sie über die entsprechenden Entschlüsselungskompetenzen, also über Bildung, verfügen, partizipieren können. Diese plurale, bürgerliche Kultur hat vielfältige Funktionen, von denen die Unterhaltung, die Geselligkeit, die Bildung einer demokratischen Überzeugung und die Werteorientierung die hervorstechendsten sind. Die Kultur ist gegenüber der institutionellen Religion auto19 

Vgl. die Beispiele bei Klaus Raschzok, Gottesdienst, (s. Anm. 15), 15. Neben der Monographie von Ursula Roth ist insbesondere auf David Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes (Christentum und Kultur 7), Zürich 2007 zu verweisen. 20 

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nom geworden, sie zieht aber auch religiöse Funktionen an sich. Sie ist – ausdrücklich im Zeitalter der Romantik als Kunstreligion – selbst religiös gefärbt. Die bürgerliche Kultur ist ein Raum, der individuelle ästhetische Erfahrung ermöglicht und zugleich die gemeinschaftliche Kommunikation darüber provoziert. Die moderne Romanliteratur (z.B. Effie Briest), das Theater der Weimarer Klassik mit seiner Offenheit und Multiperspektivität zielen darauf, das Individuum aktiv in die Kunstrezeption einzubeziehen und es nicht als bloßen Adressaten vorgefertigter Botschaften zu begreifen. Vor diesem Hintergrund der autonomen bürgerlichen Kultur beschreibt Schleiermacher den evangelischen Gottesdienst und zeichnet ihn in die zeitgenössische Kultur ein. Zwei prägnante Begriffe sind hier von Bedeutung, die seither das liturgische Selbstverständnis geprägt haben. Zum einen versteht Schleiermacher den Gottesdienst als Feier. Dieser Vergleich zielt auf die Steigerung des religiösen Gefühls, die Außerordentlichkeit der Veranstaltung, die sich nicht nahtlos in den Alltag fügt, sondern aus ihm herausgehoben ist. 21 Schließlich können und dürfen die Religion und damit auch der Gottesdienst nicht für andere als religiöse Zwecke instrumentalisiert werden. Der Gottesdienst darf nicht missbraucht werden, sondern sein Inhalt und seine Funktion bestehen allein darin, sich dankbar und freudig der Liebe Christi zu vergewissern. Zum anderen versteht Schleiermacher den Gottesdienst als darstellende Mitteilung und rückt den Gottesdienst an das Theater Goethes und Schillers heran, das zur Zeit der Deutschen Klassik blühte. Der Vergleich hat mehrere Pointen. Zum einen steht die Kommunikation im Vordergrund. Der Gottesdienst ist primär Mitteilung, die von Schleiermacher näher bestimmt wird als Mitteilung des stärker erregten religiösen Bewusstseins. Es ist daran gedacht, dass hier nicht etwa im Modus der Unmittelbarkeit Gott mit den Menschen spricht, sondern dass der christliche Glaube, 21  Zu den festtheoretischen Implikationen vgl. Christian Albrecht, Sinnvergewisserung im Distanzgewinn. Liturgische Erwägungen über das Wesen des evangelischen Gottesdienstes zwischen Fest und Feier, in: ZThK 98 (2000), 363–384.

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so wie er in der versammelten Gemeinde lebendig ist, öffentlich kommuniziert wird und damit auf die Individuen zurück wirkt. Die Mitteilung bezeichnet Schleiermacher auch als Zirkulation und legt den Gedanken an Fließbewegungen nahe, wie dies der moderne Kommunikationsbegriff, der ja auf Wechselseitigkeit, auf Austausch, zielt, ebenfalls signalisiert. Die Wortverbindung darstellende Mitteilung zeigt den Modus an, in dem sich die religiöse Kommunikation im Gottesdienst vollzieht. Darstellende Mitteilung lenkt das Augenmerk auf die darstellenden Anteile, die Symbole, die Gesten, die Kommunikation, den Gottesdienst als Inszenierung. Ursula Roth spricht zusammenfassend von der Theatralität des Gottesdienstes, die sie in vierfacher Perspektive entfaltet. Die Theatralität des Gottesdienstes bedeutet, dass der Gottesdienst – wie das Theater auch – sehr stark von Wahrnehmung geprägt ist und die ästhetische Erfahrung im Vordergrund steht. Hier rubriziert der Gottesdienst eindeutig als Kulturveranstaltung. Die Theatralität des Gottesdienstes bedeutet, dass der Gottesdienst – wie das Theater auch – von einer Dramaturgie bestimmt ist. Der Gottesdienst ist szenisch aufgebaut. Und an der richtigen Szenenfolge und dem Zeitmaß hängt im Grunde alles. Was würde aus Goethes Faust, wenn das Gretchen schon am Anfang stürbe? Wie soll Spannung entstehen, wenn es kein retardierendes Moment gebe? Der szenische Aufbau des Gottesdienstes ist auch in den Agendenwerken präsent: Eröffnung und Anrufung, Verkündigung und Bekenntnis, Abendmahl und Segen / Sendung. Die Struktur-Bausteine des Evangelischen Gottesdienstbuches sind als Szenen mit einer eigenen Dramaturgie zu verstehen. Die Theatralität des Gottesdienstes impliziert auch, dass die ›Zuschauer‹ im Gottesdienst – wie im Theater auch – als Mitspieler zu verstehen sind. Das moderne Theater bezieht die Zuschauer mit ein, nicht nur dann, wenn man sich unversehens als Zuschauer in der ersten Reihe angesprochen oder gar auf die Bühne gezogen sieht. Zuschauen bedeutet, aktiv teilzuhaben an dem, was geschieht und aktiv an der Konstitution von Bedeutung beteiligt zu sein. Man ist – und das unterscheidet das Theater von me­ dialisierten Formen des Kulturerlebens wie dem Kino, dem Film

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– leiblich anwesend. Zuschauer sein heißt körperlich anwesend sein, ganz und gar präsent zu sein und sich selbst – in seiner Rolle als Zuschauer – darzustellen. Auch der evangelische Gottesdienst als Versammlung der Gläubigen (congregatio sanctorum)22 kennt nur Mitspieler, denen unterschiedliche Rollen zugewiesen sind. Es gibt vor dem Hintergrund des in der Taufe begründeten Priestertums aller Gläubigen keine passiven Zuschauer, sondern nur Aktive. Die Theatralität des Gottesdienstes bedeutet schließlich, dass der Gottesdienst – wie das Theater auch – einen transitorischen Charakter hat. Der Gottesdienst und das Theater zielen darauf die Anwesenden durch das Erleben zu verändern. Gottesdienst und Theater sind dynamische Veranstaltungen. Sie zielen auf Veränderung. Zugespitzt gesagt: Wer hinausgeht, ist ein anderer geworden! Für dieses Moment der Theatralität kann man sicher auch historische Referenzen finden. Schleiermacher etwa spricht von Erbauung. Der getröstete, aufgerichtete Sünder, der am Tisch des Herrn zu Gast war, ist gewiss ein anderer geworden. Die Aufmerksamkeit für den Transformationscharakter des Gottesdienstes steht allerdings noch am Anfang. Sie verdankt sich jüngeren Theoriekonzepten der letzten Jahre und Jahrzehnte, die zunächst im Rahmen von Ritualtheorien entwickelt, dann auf das moderne Theater angewendet wurden und erst in jüngster Zeit auf den Gottesdienst bezogen werden. 23

22 

Confessio Augustana (1534), Art. VII. (BSELK, 11. Auflage 1992, 61.) Die Augsburgische Konfession ist in deutscher Sprache nachzulesen in Evangelische Landeskirche in Württemberg (Hg.), Gesangbuch (s. Anm. 6), 835. 23  Benedict Kranemann, Einführung: Die modernen Ritual Studies als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft, in: Ders. / Paul Post (Hg.), Die modernen Ritual Studies als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft, Leuven/Paris/Dudley 2009, 9–31; Originaltitel: Modern Ritual Studies as a challenge for liturgical studies.

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4. Die Performativität des Gottesdienstes Performativität ist als eine Näherbestimmung von Theatralität zu verstehen. Performativität bedeutet, dass nicht nur etwas gesagt wird, eine Information mitgeteilt wird, sondern dass, indem etwas gesagt wird, auch etwas geschieht. John L. Austin hat in seiner Sprechakttheorie am Beispiel von Ritualen wie einer Schiffstaufe oder einer Eheschließung zeigen können, dass es neben rein konstativen Sprechakten, die etwas feststellen, auch performative Sprechakte gibt, die etwas bewirken und soziale Wirklichkeit setzen. Ausgehend von diesen Beispielen entdeckte Austin, dass eigentlich jedes sinnvolle Sprechen in sozialen Kontexten auch performative Effekte hat. Austin spricht deshalb auch von Sprechakten, weil Sprechen immer auch Handeln ist. 24 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich der Gottesdienst als darstellende Mitteilung im Grunde nicht einfach auflösen lässt in Darstellung einerseits und Mitteilung andererseits. Er ist nicht nur eine Verbindung aus beiden Teilen, sondern immer schon eine Einheit aus beidem. Wenn der Liturg den Segen spricht, dann trifft er nicht nur eine Aussage, sondern er handelt zugleich, er schafft Wirklichkeit, er verändert Wirklichkeit. Auch die Ritualtheorie hat diese Einsichten des performative turn seit den 1970er Jahren aufgenommen. 25 Dass der Gottesdienst ein Ritual ist, gehörte schon zu den Grundeinsichten des frühen 20. Jahrhunderts. Sigmund Freud hat die Ambivalenz von Ritualen betont, indem er ihren Charakter als Zwangshandlungen beschrieben hat. 26 Später wurden 24  John L. Austin, How to do Things with Words, Cambridge 1961; dt.: Zur Theorie der Spechakte. 25  Zu den kulturwissenschaftlichen Paradigmen vgl. die Sammelbände: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften (stw 1575), Frankfurt a.M. 2002 und Josef Früchtl / Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M. 2001. 26  Vgl. Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907), in: Sigmund Freud Studienausgabe Bd. VII, Frankfurt a.M. 2000, 11–21.

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die Funktionen des Rituellen eher positiv gewendet, indem ihre kommunikativen und stabilisierenden Effekte anerkannt wurden. Dennoch wurden Rituale über weite Teile des 20. Jahrhunderts als regelgeleitete soziale Handlungen verstanden, die nur ein fixiertes Regelsystem wiederholen. Allein den im Ritual ebenfalls zur Sprache kommenden Inhalten wurde Flexibilität zugesprochen. Ein Denkmodell von Form (= Ritual) und Inhalt (= semantische Kommunikation) lag hier zugrunde. In der Theologie hat sich dieses Verständnis lange Zeit im Kontrast von Ritual und / oder Kerygma gehalten. Hier das Ritual als feststehende Ordnung, dort das Kerygma als viva vox: die lebendige Verkündigung. Diese Sichtweise ist durch die Ritualtheorien Victor Turners nachhaltig irritiert worden. Turner konnte zeigen, dass Rituale in Wahrheit ausgesprochen wandlungsfähig sind. Was wie eine fixe, starre Wiederholung ewiger Regeln aussieht, bietet enorme Potentiale für ein kreatives Spiel. Das Ritual – so Turner – ist eine kreative Quelle gesellschaftlicher und kultureller Strukturen. Rituale entwickeln eine prozesshafte Dynamik, sie sind also keineswegs nur als Stabilisatoren zu verstehen, sondern vielmehr als Gestaltungsmotoren. Ritualen wohnt allein durch ihren Vollzug eine enorme Macht inne. Sie wirken performativ. Davon ging bereits Austin aus Sicht der Sprachtheorie aus. Neu aber ist der Gedanke, dass nicht nur Rituale Menschen verändern, sondern auch Menschen Rituale verändern, Rituale also permanenten Wandlungsprozessen unterworfen sind, selbst dann, wenn sie scheinbar ohne Veränderung des Regelwerks aufgeführt werden. Darin liegt nun auch für den Gottesdienst die Pointe – durch die Aufführung von Ritualen verändern sich auch die durch das Ritual hervorgebrachten Bedeutungen. Kultur erscheint vor diesem Hintergrund nicht mehr als ein mehr oder weniger ausformuliertes System oder als Set symbolischer Codierungen, sondern als veränder­liche, prozesshafte, dramaturgische und indeterminierte Gegebenheit in Bewegung. Durch den gemeinsamen Vollzug des Rituals entsteht Gemeinschaft. Mit dem Begriff communitas bezeichnet Victor Turner diese Auflösung und Neuordnung sozialer Strukturen. Gemeinschaft entsteht, ohne dass die Individualität des Einzel-

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nen verloren geht. 27 Die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte hat im Anschluss an Turner eine Ästhetik des Performativen 28 entwickelt, die nicht nur Rituale und modernes Theater in eine gemeinsame Perspektive rückt, sondern alle kulturellen Veranstaltungen in unserer Gesellschaft als Teile einer Aufführungskultur versteht, die durch ästhetische Erfahrungen ihre Teilnehmer, die zu Mitspielern werden, verwandelt.

5. Liturgischer Blickwechsel: Der Gottesdienst als Inszenierung Vor dem Hintergrund des theaterwissenschaftlichen Paradigmas, der Theatralität und Performativität des Gottesdienstes legt sich ein liturgischer Blickwechsel nahe.

5.1. Der Gottesdienst als Ereignis Der Gottesdienst ist als ein Ereignis zu verstehen. Der Gottesdienst bildet ein unauflösliches Ganzes und erschließt sich nur in diesem komplexen Zusammenspiel von Raum und Zeit, Wort und Klang, Farben und Gesten etc. Die theaterwissenschaftliche Perspektive richtet das Augenmerk darauf, dass es auf die einmalige, unwiederholbare, konkrete Aufführung ankommt. Der Gottesdienst kann durchdacht, geplant und geprobt werden, aber er ist faktisch eine offene Situation mit Frei- und Spielräumen für Nicht-Geplantes, Nicht-Inszeniertes, Nicht-Vorhersagbares. Unsere bisherigen liturgischen Analyseinstrumente greifen noch zu kurz, weil sie das gottesdienstliche Geschehen reduzieren auf die Ordnung, auf die Texte, im besten Fall beziehen wir noch den Gesichtsausdruck des Predigers und die Farben der Paramente mit ein. Wir greifen im Grunde immer nur auf das Stück zurück, lassen aber die entscheidenden inszenatorischen Gestaltungs27  Victor Turner, From Ritual to Theatre: the Human Seriousness of Play, New York 1982, 45. 28  Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (es 2372), Frankfurt a.M. 2004.

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merkmale und schließlich die Wahrnehmung der Gottesdienstbesucher außer Acht. Die Agende, die ausgewählten Gebetstexte und Lieder – sie sind nur Material. Die Inszenierung verarbeitet das Material zu einem ausgeführten sinnlichen Prozess. Der Gottesdienst schließlich ist die Aufführung als ein von der körper­ lichen Präsenz aller Akteure geprägtes Ereignis. Eine Werkhermeneutik muss hier ansetzen, bei der Aufführung.

5.2. Der Gottesdienst als transitorischer Ritus Den Gottesdienst als transitorischen Ritus zu verstehen lenkt das Augenmerk auf die besondere Ereignisqualität des Gottesdienstes, die dieser mit anderen kulturellen Veranstaltungen teilt. Der Gottesdienst ist als ein liturgischer Erfahrungsraum zu verstehen und zu gestalten, der die Alltagserfahrungen nicht einfach fortsetzt, sondern diese unterbricht, der heilsam verstört, der die Normalität alteriert. Der Gottesdienst wird zu einem Imaginationsraum, der Schwellenerfahrungen möglich macht: die Erfahrung mit himmlischen Mächten in einem Chor zu singen, Gemeinschaft mit fremden Menschen zu erleben, über den Sinn des Lebens als Ganzes nachzudenken, sich – und sei es nur für wenige Minuten – das Wissen um die eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit einzugestehen. Im Sich-Aussetzen und AusgesetztWerden in vielfältigen Schwellenerfahrungen kommt der Gottesdienst mit seinen transitorischen Effekten zur Geltung. Dabei geht es nicht nur um sinnliche Erfahrung, um ästhetische Erfahrung des Kunstgenusses, sondern auch um das Mitvollziehen eines Gedankengangs in der Predigt, sofern dieser die Rationalität des Alltags transzendiert.

5.3. Der Gottesdienst und die Idee der Inszenierung Der Vergleich mit dem Theater ist schließlich noch in einer weiteren Hinsicht aufschlussreich. Jede Inszenierung muss eine übergeordnete Idee haben. Das, was sich im Theater im Zusammenspiel von Intendant, Regisseur und Dramaturg als eine Vorstellung herausbildet, wie eine Theateraufführung sein soll, was ›gutes‹, zeitgenössisches Theater ist, eine solche Idee vom evan-

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gelischen Gottesdienst muss auch als liturgisches Gestaltungsprinzip stärker reflektiert und diskutiert werden. Warum feiern wir überhaupt Gottesdienst? Und warum feiern wir so und nicht anders evangelischen Gottesdienst? Was ist ein guter Gottesdienst? Kann ein Gottesdienst überhaupt misslingen und wenn ja, wann wäre das der Fall? Die Selbstverständlichkeit, mit der die Gottesdienstgestaltung zum pfarramtlichen Berufsalltag gehört, verdankt sich einer Binnenperspektive. Dass der Gottesdienstbesuch für die meisten Zeitgenossen keine Selbstverständlichkeit ist, bleibt zu vergegenwärtigen. Die prinzipiellen theologischen Fragen, was die Aufgabe des Gottesdienstes ist, werden zwar im Rahmen der Dogmatik verhandelt, aber sie müssten stärker mit der praktisch-theologischen Liturgik vermittelt werden. Diese Fragen sind nicht ein für alle Mal zu beantworten, sondern sie sind auch im Blick auf jeden einzelnen gottesdienstlichen Regisseur hin zu stellen. Welches Verständnis vom guten Gottesdienst hat er / hat sie? Und wie wäre seine Aufführungspraxis theaterwissenschaftlich zu charakterisieren? Welche Vorbilder gibt es? Das Theater der Verfremdung eines Bert Brecht, der mit Absicht die Kulissen wackeln lässt, damit sich der Zuschauer keinen Illusionen hingibt? Das Theater der Romantik, das dem Zuschauer durch gefühlvollen Realismus die Einfühlung in die dramatis personae nahe legt? Oder das moderne Theater, wie es Christoph Schlingensief geprägt hat: riskant, avantgardistisch-provokativ? Nicht an jeder Spielstätte wird sich jedes Inszenierungskonzept realisieren lassen. Mit diesen drei Überlegungen, der Gottesdienst als Ereignis, der Gottesdienst als transitorischer Ritus und der Gottesdienst und die Idee der Inszenierung, sind nur einige Schlaglichter benannt. Die Entfaltung des theaterwissenschaftlichen Paradigmas für die Liturgik steht noch am Anfang. Grundsätzliche Überlegungen zum Verständnis des Gottesdienstes sind notwendig, es lassen sich nicht einfach – ohne diese Zwischenüberlegungen – mit vermeintlicher Unmittelbarkeit Konsequenzen für die Gottesdienstgestaltung ziehen. Dennoch möchte ich einige konkrete Gedanken zur Gestaltung anschließen, die sich aus meiner Sicht ergeben.

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6. Überlegungen zur Gottesdienstgestaltung 6.1. Die Gottesdienstbesucher sind immer schon aktive Teilnehmer am gottesdienstlichen Geschehen. Diese Form der Partizipation ist nicht zu unterschätzen, sondern bleibt zu würdigen. Sie kann dadurch entwertet werden, dass Liturgen meinen, sie müssten die Gemeinde überhaupt erst einbeziehen. 6.2. Der Gottesdienst ist ein dramatisches, szenisches Geschehen. Der gottesdienstlichen Ordnung ist diese Struktur bereits eingeschrieben, dennoch bleibt dieser Grundsatz bei der Gestaltung des Gottesdienstes präsent zu halten. Ein Klagepsalm, der sich an ein Danklied anschließt, widerspricht dem dramatischen Prinzip. Darüber hinaus bleibt auf Längen (z.B. in der Predigt, den Abkündigungen, dem Orgelnachspiel und den Fürbitten) zu achten und Pausen sind pointiert zu setzen. 6.3. Die Zielrichtung des Gottesdienstes ist es, den Teilnehmer als gestärkten, freien und fröhlichen Christenmenschen in den Alltag der Welt zu entlassen. Das wird nur dann auch erlebbar werden, wenn der Gottesdienst Gefühlen der Trauer und Klage Raum gibt, aber auch kognitiv plausibilisieren kann, warum wir Grund haben, froh zu sein, und auch der Freude Ausdruck verleiht. Eine gedanklich klare und anschauliche Predigt, die auf den Kern des Evangeliums konzentriert ist, Lieder, in die sich die Hörer mit ihren Emotionen einschwingen können, bringen die transitorischen Potentiale gottesdienstlichen Geschehens zur Geltung. 6.4. Der Gottesdienst als kulturelle Veranstaltung steht immer schon in Konkurrenz zu anderen kulturellen Veranstaltungen: dem Theater, dem Sportevent, dem Kino, dem Vortrag, dem Musical, dem Konzert usw. Jede Veranstaltungsform hat ihre je eigenen Medien, auch dann, wenn bewusst fremde Medien eingesetzt werden um die Rezeptionsgewohnheiten zu irritieren. Der Gottesdienst ist darstellende Mitteilung und das heißt, seine Medien sind im Wesentlichen, nicht nur, aber doch in erster Linie Menschmedien, d.h. Worte und Gesten, die durch anwesende menschliche Körper hervorgebracht werden. Anspielungen an das Musical, das Kino, das Konzert, den Erwachsenenbildungsvortrag

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sind nur sparsam einzusetzen, weil sie die je eigenen Medien des Gottesdienstes, die dieser mit dem Theater teilt, zurücktreten lassen. Der Gottesdienst verliert an Originalität. Nicht künstliche Abgrenzung gegenüber der zeitgenössischen Kultur ist das Gebot der Stunde, aber ein reflektierter Gebrauch der eigenen medialen Mittel. 6.5. Der Gottesdienst ist eine öffentliche Veranstaltung29. Im Gottesdienst wird der Glaube des Einzelnen immer wieder in Beziehung gesetzt zu anderen. Das religiöse Bewusstsein zirkuliert, zugunsten des Individuums, aber auch zugunsten der Gemeinschaft. Unsere Gesellschaft hat in den letzten 20 Jahren eine enorme Verspartung ihrer Kulturlandschaft durchgemacht. Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf das Privatfernsehen und den Privatrundfunk zurückzuführen, die sich an klar segmentierte Milieus wenden. Die entscheidende Herausforderung ist es, die vielen Teilöffentlichkeiten unserer Gesellschaft in Kontakt zu halten. Kann / wird es möglich sein, eine öffentliche Gottesdienstkultur zu erhalten / zu schaffen, im Gottesdienst also publice, öffentlich, das Evangelium laut werden zu lassen. Um noch einmal an Luthers Torgauer Predigt zu erinnern, »dass eine ordentliche, allgemeine, öffentliche Versammlung sei, dass das Gebet nirgendwann so kräftig und stark [ist], als wenn die ganze Gemeinde einträchtig miteinander betet.« Dass dies gelingt, scheint mir vor allem eine kulturelle Herausforderung zu sein.

29  Dazu etwas ausführlicher von mir: Welche Agende brauchen wir 2017?, in: Gottesdienst feiern. Zur Zukunft der Agendenarbeit in den evangelischen Kirchen, hgg. v. Michael Meyer-Blanck / Klaus Raschzok / Helmut Schwier, Gütersloh 2009, 150–164; Der Sturm auf die Ordnung. Motive, Folgen und Folgerungen. Eine Skizze der Gottesdienstlandschaft seit den 1960er Jahren, in: Kerner (Hg.), Drama (s. Anm. 10), 41–55.

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1. Christlicher Gottesdienst ist öffentlich Das gilt nicht nur im äußerlich-formalen Sinn, sondern wesenhaft. Das Evangelium geht alle an. Die Botschaft Jesu vom Anbruch des Reiches Gottes eröffnet einen Letzthorizont von Gericht und Heil für ganz Israel. »Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden«, betet die Christenheit im Vaterunser (Mt 6,10). Schon jetzt geschieht anfangsweise, was die Propheten von der eschatologischen Heilszeit erhofft haben: »Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt« (Mt 11,2ff.). Der Bann des Unheils ist gebrochen. Die Verwandlung der Wirklichkeit im Lichte der Verheißung beginnt. Auch die Mahlgemeinschaften Jesu stehen in einem endzeitlichen Horizont: »Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.« (Lk 13,29) Diese universale Perspektive ist von der urchristlichen Gemeinde nach Karfreitag und Ostern erneuert und entgrenzt worden. Davon zeugt der Missionsbefehl des Auferstandenen am Ende des Matthäusevangeliums (»Geht hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker«, Mt 28,19). Das Evangelium gilt allen. Und doch ist es Jesus und der Jesusbewegung nicht gelungen, die Mehrheit des jüdischen Volkes zu gewinnen. Maßgebliche Gruppen und die religiösen Führer haben sich verweigert und wurden zu Gegnern. Jesu Weg endete am Kreuz. Die römische Besatzungsmacht ließ ihn als Unruhestifter und Aufrührer hinrichten. Nach Ostern, nach der überwältigenden Erfahrung seiner Jüngerinnen und Jünger, dass Jesus lebt, dass Gott ihn auferweckt und ins Recht gesetzt hat, blieben die Christen zunächst

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kleine Gruppen. Sie setzten die Tischgemeinschaft mit dem Irdischen fort als Herrenmahl mit dem erhöhten Kyrios (vgl. 1Kor 11–14). Durch diese Verbindung behielt der Gottesdienst einen universalen, kosmischen Horizont. Das Christentum unterlief von Anfang an auch die Trennung von öffentlichem und privatem Kult, die für das Religionssystem des römischen Reiches grundlegend war. So tolerant Rom gegenüber den vielfältigen Formen persönlicher Frömmigkeit und in religiösen Vereinen organisierter Kultpraxis (sacra privata) war, so unnachsichtig wurden Abweichungen im Bereich des Staatskults (sacra publica) geahndet. Die Christen beschränkten sich nicht auf die Pflege der Privatreligion. Sie verweigerten dem Kaiserkult den Gehorsam. Damit waren Konflikte unausweichlich. Doch trotz sich steigernder Verfolgungen und vieler Blutopfer wuchsen die Gemeinden. Die christliche Mission entwickelte sich unaufhaltsam zu einer grenzüberschreitenden Bewegung. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts beendete Konstantin die Verfolgungen. Der Kaiser übertrug der ­K irche nach und nach die Funktionen des cultus publicus. Eine Generation später, im Jahr 380, wurde das Christentum offiziell Staatsreligion. Mit der Privilegierung als ›öffentlicher Dienst‹ übernahm der Gottesdienst nicht nur gesamtgesellschaftliche Aufgaben, sondern wurde selbst Teil der öffentlichen Machtsphäre. Das hatte Folgen für Inhalte, Formen, Räume und Funktionen des Gottesdienstes. Das Gottes- und Christusbild gewann immer mehr hoheitlich-impe­ riale Züge. Bestimmte Komplexe der biblischen Überlieferungen rückten in den Vordergrund, z.B. die alttestamentlichen Traditionen des sakralen Königtums und der Jerusalemer Kulttheologie. Dennoch hat sich die ­K irche den Rollenzumutungen des cultus publicus nie vollständig gefügt. Entscheidend war, dass das Christentum als geschichtliche Offenbarungsreligion eine Reihe von Gegenmotiven besaß, welche die religionspolitischen Funktionszumutungen transzendierten. Die Stimme der Propheten und das Evangelium Jesu Christi konnten nie ganz zum Schweigen gebracht werden. So hat die ­Kirche durch ihre Verwurzelung im Gottesdienst immer wieder die Kraft gehabt, Fehlentwicklungen zu korrigieren und sich zu erneuern. Die Geschichte der

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­ irche ist geprägt durch die Dialektik von Anpassung und WiK derstand, Korruption und Reform. Die damit gegebene Spannung durchzieht die Beziehungen zwischen Gottesdienst und Öffentlichkeit bis heute. Diese Geschichte kann hier nicht näher dargestellt und reflektiert werden.1 Auch nicht die Bedeutung der Reformation in diesem Prozess, obwohl durch die reformatorische Predigtöffentlichkeit das Verhältnis von Gottesdienst und Öffentlichkeit eine neue positive Dynamik erhielt, die verkannt wird, wenn man den Prozess einseitig unter säkularisierungstheoretischen Vorgaben als Zerfall der Einheit, Rückgang und Schwund interpretiert 2.

2. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit geht weiter Seit Jürgen Habermas’ klassisch zu nennender Studie von 1962 hat sich das Phänomen »Öffentlichkeit« weiter gewandelt, auch über die von Habermas im Vorwort zur Neuauflage von 1990 angebrachten Korrekturen und Ergänzungen hinaus3. Zwanzig Jahre 1  Vgl. als Vorarbeiten Peter Cornehl, Öffentlicher Gottesdienst. Zum Strukturwandel der Liturgie, in: Ders. / Hans-Eckehard Bahr (Hg.), Gottesdienst und Öffentlichkeit. Zur Theorie und Didaktik neuer Kommunikation, Hamburg 1970, 118–196; Ders., Art. Gottesdienst 8, TRE 14, 54–85; sowie Karl-Heinrich Bieritz, Gottesdienst und Gesellschaft, in: Martin Klöckener / Angelus A. Häußling / Reinhard Messner (Hg.), Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 2, Bd. 2, Regensburg 2008, 87–158. 2  Vgl. Georg Pfleiderer, »Säkularisierung«. Systematisch-theologische Überlegungen zur Aktualität eines überholten Begriffs, in: PrTh 37 (2002), 130–153; Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007; Rolf Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland? (es 2195), Frankfurt a.M. 2001; Ders., Sind Religionen gefährlich?, Berlin 2008; José Casanova, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009. 3  Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962; Neuauflage mit einem Vorwort (stw 891), Frankfurt a.M. 1990, 11–50.

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danach werden einige Veränderungen erkennbar, die für das Verhältnis von Gottesdienst und Öffentlichkeit wichtig sind. (1) Konkurrierende Öffentlichkeiten. Die Rede von der Öffentlichkeit im Sinne der bürgerlichen Öffentlichkeit der Privatleute, die in freier Kommunikation im vernünftigen Austausch der Argumente die alle angehenden Fragen diskutieren und entscheiden, bedarf der Modifikation. Habermas selbst hat vermerkt, dass es für die Konstituierung von Öffentlichkeit in der Neuzeit von Anfang an wesentlich war, dass sich konkurrierende Öffentlichkeiten gebildet haben. Habermas nennt vor allem die »plebe­jische Öffentlichkeit« der aufsässigen Unterschichten in der frühen Neuzeit sowie die »proletarische Öffentlichkeit« der Arbeiterbewegung.4 Keine wesentliche Rolle spielen für ihn die Vorgänge in den Kirchen. Dabei kann insbesondere der epochale Wandel in der Wahrnehmung der öffentlichen Angelegenheiten, der durch die reformatorische Predigt und Publizistik ausgelöst wurde, kaum überschätzt werden. In vergleichbarer Breite und Tiefe ist der Streit um die Wahrheit, um die Geltung der Bibel und der kirchlichen Bekenntnisse, vorher nicht ausgetragen worden, auch nicht unter derart leidenschaftlicher öffentlicher Anteilnahme. Die Spaltung der europäischen Christenheit in sich bekämpfende Konfessionskirchen und seit dem 18. Jahrhundert die Entstehung eigener Frömmigkeitsbewegungen und konkurrierender theologischer »Positionen«5 innerhalb des Protestantismus haben die politische und religiöse Kultur ebenso nachhaltig geprägt wie die Auseinandersetzungen zwischen Religion und Aufklärung. Moderne Öffentlichkeit ist Streitkultur – im besten Fall Streitkultur. (2) Plurale Öffentlichkeiten. Es gibt moderne Öffentlichkeit nur im Plural. Die eine Öffentlichkeit hat sich nach der Logik funktionaler Differenzierung (Luhmann) zu verschiedenen Teil­ öffentlichkeiten vervielfältigt. So lassen sich z.B. unterschiedliche Bereichsöffentlichkeiten ausmachen, die – auch wenn sie miteinander vernetzt sind – doch ein relatives Eigenleben führen. Die 4 

Habermas, Strukturwandel Neuauflage (s. Anm. 3), 16ff. Dietrich Rössler, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970), 215–231. 5 

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moderne Gesellschaft ist ein komplexes Gebilde. Sich öffentlich zu äußern und in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, verlangt Sachverstand, Geschick, aber auch Grenzbewusstsein. Neben den geographischen Bereichsöffentlichkeiten gibt es auch andere kategoriale Teilöffentlichkeiten, die für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften als Zivilgesellschaften eine wichtige Rolle spielen, wie z.B. die gewerkschaftliche, kirchliche, parlamentarische (und außerparlamentarische) Öffentlichkeit, in zunehmendem Maß auch die akademische Öffentlichkeit. In interdisziplinären Foren, Ringvorlesungen und Symposien werden mittlerweile allgemeine Fragen der Weltdeutung und Lebensorientierung vor einem aufmerksamen Publikum öffentlich erörtert – oft unter Beteiligung von Vertretern aus Theologie und Religionswissenschaft6. (3) Die Öffentlichkeit der neuen Medien. Entscheidend neue Tatbestände haben sich in den letzten Jahrzehnten durch die revolutionären Veränderungen der Medienlandschaft ergeben. Einiges sei (wenigstens stichwortartig) genannt: Die Vervielfältigung der Fernsehlandschaft durch eine Unzahl privatwirtschaftlich betriebener TV-Anstalten, die rund um die Uhr und z.T. weltweit senden und lokale und internationale Lebenswelten verbinden; die Erfindung und rasante Ausbreitung des Internets und der sozialen Netzwerke (wie »Facebook« und »Twitter«) mit ihren unerschöpflichen Möglichkeiten individueller Nutzung und gemeinsamen Austauschs; die immer weiter fortschreitende Koppelung der Systeme (Computer, Online-Ausgaben von Zeitungen, Radio und Fernsehen, Handys, digitale Fotografie etc.) mit ihren Fähigkeiten, beliebig viele Nachrichten, Musiken, Filme zu speichern, die auf diese Weise jederzeit verfügbar sind: All das ist dabei, den Alltag der Menschen zu revolutionieren – mit unabsehbaren Folgen für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Wirklichkeit. Gefahren und Chancen der neuen Medien werden unterschiedlich beurteilt.7 An einem Punkt besteht 6  Dass in diesen Kontexten auch Universitätsgottesdienste eine Bedeutung haben können, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht: Peter Cornehl, Öffentlicher Gottesdienst? – Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution, in: PTh 99 (2010), 136–155, hier 149ff. 7  Vgl. Werner Faulstich (Hg.), Konzepte von Öffentlichkeit. 3. Lüne­

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allerdings Konsens: Als »öffentlich« gilt heute vor allem, was in den Medien vorkommt, was von den Medien wahrgenommen, verbreitet, rezipiert und diskutiert wird. Die Entwicklung der neuen Medien hat Auswirkungen auf die Kirchen und ihre Gottesdienste. Werden sie durch die Konkurrenz marginalisiert, voröffentlich, und das bedeutet: gänzlich irrelevant? Die Gefahr besteht. Deshalb beteiligen sich die Kirchen, indem sie eigene Medien entwickeln und die Möglichkeiten in Rundfunk und Fernsehen (nicht nur für Gottesdienstübertragungen) nutzen. Auf der anderen Seite gibt es Gegentendenzen. Denn gleichzeitig mit der Möglichkeit der einzelnen Nutzer, in immer mehr virtuelle Welten einzutauchen (und abzutauchen), erhält die gemeinschaftliche »Kommunikation unter Anwesenden«, die nun einmal ein wesentliches Merkmal des Gottesdienstes ist8, neue Relevanz. Menschen suchen die Begegnung face to face und die leibliche Gemeinschaft. Und noch eine Entwicklung zeichnet sich ab: (4) Die Durchdringung des Öffentlichen und Privaten. In der Mediengesellschaft hat sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit verändert. Die Grenzen beider Bereiche sind durchlässiger geworden. Auch hier lassen sich komplementäre Entwicklungen beobachten. Dass das Private politisch ist, war eine Einsicht der 68er-Bewegung und des Feminismus, die nicht an Bedeutung verloren hat. In den neuen sozialen Netzwerken vollzieht sich eine beispiellose Ausweitung privater Kommunikation unter real Fremden, die durch den Austausch oft intimster persönlicher Informationen zu »Freunden« werden, was eine neue, bislang unbekannte Sphäre quasiöffentlicher, aber meist anonym bleibender Vertrautheit erzeugt. Immer häufiger entwickeln die neuen soburger Kolloquium zur Medienwissenschaft, Bardowick 1993; Günter Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens (stw 1370), Frankfurt a.M. 1998; Werner Faulstich / Knuth Hicke­ thier (Hg.), Öffentlichkeit im Wandel. Neue Beiträge zur Begriffsklärung, Bardowick 2000. 8  Dazu Christoph Dinkel, Was nützt der Gottesdienst? Eine funktionale Theorie des evangelischen Gottesdienstes (PThK 2), Gütersloh 2000, im Anschluss an Niklas Luhmann.

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zialen Netzwerke auch eine revolutionäre politische Sprengkraft, wie sich nach den manipulierten Wahlen im Iran und mittlerweile in Nordafrika und im arabischen Raum gezeigt hat. Diese widersprüchliche Konstellation öffentlicher Privatheit korrespondiert mit der Tatsache, dass Politik und Ökonomie immer stärker in die Alltagsverhältnisse eingreifen. Dabei bilden globale und lokale Entwicklungen einen ambivalenten Zusammenhang von Nähe und Ferne. Die anthropogenen Bedrohungen der Zukunft unseres Planeten durch den Klimawandel, die brutalen Verteilungskämpfe um die knapper werdenden Rohstoffe und in diesem Kontext Kriege, Natur- und Reaktorkatastrophen, Terror, Gewalt, Armut, Ausbeutung, Rassismus, Migration markieren »[d]as Ende der Welt, wie wir sie kannten« (Leggewie / Welzer)9. Nötig ist ein tiefgreifender Politikwechsel. Der wird nur gelingen, wenn er durch mentale und d.h. auch religiös-ethische Bewusstseinsveränderungen vorbereitet, gestützt und begleitet wird. Die Stimmungslage ist labil. Gefühle von Ohnmacht wechseln mit Erfahrungen, dass es möglich ist, etwas zu tun, dass es sich lohnt, sich zu engagieren und Alternativen zu erproben. Eine Hauptfrage wird sein: Wo sind die Quellen der Kraft, was gibt Mut und Klarheit, um sich den damit gegebenen Herausforderungen zu stellen?

3. Konsequenzen für den Gottesdienst Christlicher Gottesdienst ist öffentlich, seinem Wesen, seinem Inhalt und seinem Anspruch nach. Die Konsequenz daraus kann nicht heißen, Gottesdienste und Verkündigung zu funktionalisieren und zu Agenturen der politischen, sozialpädagogischen oder therapeutischen Bearbeitung der anstehenden Probleme zu machen. Solche Versuche der Instrumentalisierung verkennen das Wesen des Gottesdienstes. Der Gottesdienst ist nach christlichem 9  Claus Leggewie / Harald Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a.M. 2009.

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Verständnis zweckfreie Begegnung mit Gott, so wie sich Gott in der Geschichte Israels und abschließend in Person und Geschick Jesu von Nazareth gezeigt hat. Der Gottesdienst bezieht seine Themen nicht unmittelbar aus der jeweils aktuellen Lage, sondern aus dem Evangelium. Er gewinnt seine spezifische Inhaltlichkeit, sein Profil und seine Aktualität aus dem biblischen Zeugnis. Zugleich lehrt die Geschichte: Der Gottesdienst war und ist immer dann relevant, wenn er sich vom Evangelium her kritisch und konstruktiv auf die Probleme, Herausforderungen und Chancen der jeweiligen Zeit einlässt; wenn es im Medium von Schriftauslegung und Predigt, in der Feier der Sakramente, im Gebet zu einer Begegnung zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit der heutigen Welt kommt, so dass Menschen Orientierung und Vergewisserung im Glauben erfahren10. Das geht nicht ohne Auseinandersetzungen. Oft ist schon die Wahrnehmung und Deutung der Situation wie der biblischen Texte strittig. Es gibt ja auch in den Kirchen konkurrierende Öffentlichkeiten, unterschiedliche Geschichtsbilder. Dass es dabei nicht geblieben ist, dass es ermutigende Ansätze zu größerer Gemeinsamkeit und Deutlichkeit im öffentlichen Zeugnis der Christen gibt, verdanken die Kirchen vor allem der ökumenischen Bewegung. Aus den Erfahrungen mit zwei Weltkriegen, mit den menschenverachtenden totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, im Erschrecken über Shoa und Gulag und angesichts der neuen weltweiten Konfliktlagen, ist die Christenheit dabei zu lernen, politische und soziale Verantwortung zu übernehmen, für Freiheit und Versöhnung, für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzutreten.

10  Vgl. Peter Cornehl, Der evangelische Gottesdienst. Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit, Bd.1, Stuttgart u.a. 2006, 50ff.; Ders., Herausforderung Gottesdienst, in: Ders., »Die Welt ist voll von Liturgie«. Studien zu einer integrativen Gottesdienstpraxis, hgg. v. Ulrike WagnerRau (PTHe 71), Stuttgart 2005, 25–40.

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3.1. Politischer Gottesdienst – zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution: Kairos und Normalität Am Beginn eines Rückblicks auf das 20. Jahrhundert muss selbstkritisch das Eingeständnis stehen, dass die Kirchen an entscheidenden Stellen versagt haben. Man denke nur an das Verhalten der deutschen Kirchen im Ersten Weltkrieg 1914–18, an die Feldgottesdienste und Siegesfeiern zu Beginn, die fatalen Durchhaltepredigten gegen Ende, sowie an die Rolle der Kirchen im Nationalso­zialismus, an die anfangs begeisterte Zustimmung der Mehrheit der Evangelischen zur »nationalen Revolution« 1933, an die illusionären Hoffnungen, die z.B. mit dem Gottesdienst zur Reichstagseröffnung in der Potsdamer Garnisonkirche verbunden waren, an das – von wenigen mutigen Ausnahmen abgesehen – beschämende Schweigen zu den Pogromen und zur Zerstörung der Synagogen am 8. November 1938 in den sich anschließenden Bußtagsgottesdiensten11. Nach Kriegsende begann mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 eine Neubesinnung über die öffentliche Verantwortung der Kirche. Es folgten nach dem Einsetzen des Kalten Krieges und der Gründung beider deutscher Teilstaaten heftige Auseinandersetzungen über Aufrüstung, Atomwaffen und Wehrdienstverweigerung, die immer wieder auch in Predigten ausgetragen wurden. Eine umfassende Welle der Politisierung der Gottesdienste wurde von der studentischen Protestbewegung nach 1968 ausgelöst. Herausragendes Modell war das Kölner »Politische Nachtgebet«, das viele Gruppen anderswo inspirierte.12 Auch die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung der achtziger Jahre wurde von Gottesdiensten begleitet.13 11  Vgl. Peter Cornehl, Biblische Predigt und politischer Widerstand im Kirchenkampf 1933–1945. Ein Kapitel »Sklavensprache«, in: Vestigia Bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel‑Archivs 2, Hamburg 1981, 70–101. 12  Vgl. Peter Cornehl, Dorothee Sölle, das »Politische Nachtgebet« und die Folgen, in: Siegfried Hermle / Claudia Lepp / Harry Oelke (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (AKIZ.B 47), Göttingen 2007, 265–284. 13  Leider ist die Forschungslage immer noch unbefriedigend. Genauer

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Der entscheidende Durchbruch geschah in der DDR. Die »Friedensgebete«, Fürbittandachten, »Gebete und Erneuerung«, die im Herbst 1989 in Leipzig, Wittenberg, Magdeburg, Berlin und an vielen anderen Orten stattfanden, waren der authentische Beitrag der ­K irche zur friedlichen Revolution14. Die Friedensgebete haben sicher auch Stellvertreterfunktionen wahrgenommen, sie waren Gegenöffentlichkeit, aber auch Ersatzöffentlichkeit. Der Hauptgrund für ihr rasches Ende nach den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 war, dass sich die öffentlichpolitische Debatte danach dorthin verlagert hat, wo sie in einer Demokratie primär hingehört: in die neu sich bildenden Parlamente, Parteien, Gewerkschaften, Verbände, in die Medien. Die Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen haben sich nicht erfüllt. Zurück blieb bei vielen Bürgerrechtlern und in den Trägergruppen der Friedensgebete große Enttäuschung. Für die meisten Gemeinden dagegen war es wohl auch eine Entlastung. Zwanzig Jahre nach der europäischen Wende und im Kontext weltweiter Krisen ist allgemein das Bewusstsein gewachsen, wie unsicher das Leben ist, prekär, brüchig, bedroht von ambivalenten Veränderungen, deren Ausmaß wir noch nicht ermessen können. Die Erfahrung basaler Unsicherheit prägt nicht nur die politische und berufliche Existenz, sondern auch die privaten, familiären Lebensverhältnisse. Was bedeutet das für den Gottesdienst? Noch einmal sei die Überzeugung geäußert: Der Gottesdienst hat aktuelle Relevanz, wenn er sich für die Wirklichkeit in allen ihren Dimensionen öffnet, wenn es in Wort und Sakrament zu einer lebendigen Begegnung zwischen der Wirklichkeit unseres Lebens und der Wirklichkeit Gottes kommt. Dazu muss sich die ­K irche kein völlig untersucht werden müssten v.a. die Deutschen Evangelischen Kirchentage als öffentlichkeitswirksame Foren gottesdienstlicher Erneuerung. Zu beachten wäre auch die Neuentdeckung des Abendmahls in der evangelischen Kirche. 14  Vgl. Kay-Ulrich Bronk, Der Flug der Taube und der Fall der Mauer. Die Wittenberger Gebete um Erneuerung im Herbst 1989, Leipzig 1999; Hermann Geyer, Nikolaikirche montags um fünf. Die politischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig, Darmstadt 2007; Cornehl, Gottesdienst (s. Anm. 6).

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neues Programm geben. Sie bleibt bei ihrem Auftrag und ihren eigenen Themen, sie lebt in ihrem eigenen Rhythmus. Sie bleibt bei ihrer Sache, dem Evangelium – mit aller Achtsamkeit für die Veränderungen, die nicht nur in der Gesellschaft stattfinden, sondern die auch in der Verkündigung, in der Liturgie, in der Theologie im Gange sind. Es darf keinen Rückzug in die voröffentliche Zone eines nur mit sich selbst beschäftigten Gemeindelebens geben. Und es gibt ihn – aufs Ganze gesehen – auch nicht. Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution lässt sich eine neue Wachheit für die Zusammengehörigkeit von gesellschaftlichen Strukturen und persönlichem Schicksal beobachten, ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass sich Kirchen und Gemeinden nicht aus ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen lösen dürfen. Vieles spricht dafür, dass die Wahrnehmung der Zusammengehörigkeit der persönlichen und der politischen Themen zu einem wichtigen Kriterium für den öffentlichen Gottesdienst der Zukunft wird. Wenn man die liturgische Landschaft im wiedervereinigten Deutschland studiert, wird man gewahr, wie intensiv auf den verschiedenen Ebenen gottesdienstlicher Praxis diese Verschränkung von politischen und persönlichen Themen erkannt und eingeübt wird. Zu Beginn des Golfkriegs und des nachfolgenden Kriegs gegen den Irak gab es nahezu überall Fürbittandachten, Schweigegottesdienste, oft spontan und unorganisiert. Das hat sich nach dem 11. September 2001 wiederholt, und wird sich – das darf man prognostizieren – bei ähnlichen Anlässen auch künftig wiederholen. Immer wieder laden Ortsgemeinden, City-Kirchen, Projekt- und Menschenrechtsgruppen ein zu Gottesdiensten mit öffentlich-politischen Themen. Einige haben eine längere Tradition, andere greifen neue Probleme auf: z.B. Bußtagsgottesdienste mit Amnesty International, AIDS-Gottesdienste, Gottesdienste, in denen die bedrohliche Lage der Flüchtlinge und Asylanten zum Thema wird (»Requiem für die Toten an den Außengrenzen der EU«). Gemeinden in sozialen Brennpunkten, die besondere diakonische Initiativen unterhalten, feiern zusammen mit Betroffenen und Engagierten eigene Gottesdienste und Andachten.

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Verglichen mit den Politischen Nachtgebeten der 1960/70er Jahre werden in diesen Gottesdiensten neue Schwerpunkte gesetzt. Im Vordergrund stehen nicht Information, Diskussion und Aufrufe zur Aktion, sondern Berichte von konkreter Praxis. Diese Gottesdienste sind keineswegs unkritisch, aber die Forderungen nach Veränderungen erwachsen aus konkreten Erfahrungen und zeichnen sich aus durch eine geschärfte Wahrnehmung für die persönlichen und die strukturellen Probleme unseres Wirtschafts- und Sozialsystems15. Wahrscheinlich ist es die ­größere Nähe zur Praxis, die dazu beiträgt, dass in diesen Gottesdiensten biblische Meditation und Gebet viel Raum einnehmen. Für die Beteiligten ist es lebenswichtig, die biblischen Verheißungen und Weisungen zu hören und sich dessen zu vergewissern, was Kraft verleiht, um Spannungen, Zweifel, Zwiespältigkeiten auszuhalten. Was bewahrt vor Verbitterung und Zynismus, was gibt Hoffnung? Der Gottesdienst ist ein Raum für Schweigen, für Kerzen, Lieder, Gesänge, hier ist Zeit für Klage, Fürbitte, für Zorn und Anklage, aber auch Lob und Dank. Seit einiger Zeit sind den Kirchen darüber hinaus neue Aufgaben zugewachsen.

3.2. Öffentliche Trauer: Das Gedächtnis der Opfer von Katastrophen und Gewalt als Aufgabe öffentlicher Gottesdienste Es ist ein relativ neues Phänomen, ausgelöst durch zunehmende Gewaltexzesse, die in der globalisierten Welt durch die Veröffentlichung in den Medien Aufmerksamkeit erzwingen. Es begann mit dem Angriff auf das World Trade Center in New York am 11. September 200116. Seitdem gab es zahlreiche Ereignisse, die ähnliche Erschütterungen auslösten und zu öffentlichen Trauer15  Vgl. Hans-Jürgen Benedict, Barmherzigkeit und Diakonie. Von der rettenden Liebe zum gelingenden Leben, Stuttgart 2008, 157ff. 16  Dazu Peter Cornehl, »A Prayer for America«. Der interreligiöse Trauergottesdienst in New York am 23.09.2001 als Beispiel für Civil Religion nach dem 11. September, in: Ders., Welt (s. Anm. 10), 116–131. Zum Folgenden vgl. auch das instruktive Themenheft der Zeitschrift Arbeitsstelle Gottesdienst der EKD 19 (2005), Heft 1: »Öffentliche Klage und Trauer« und dort besonders Rolf Schieder, Gottesdienste in politisch-diakonischer

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feiern führten, sei es als Folge von Terroranschlägen oder Amokläufen von Schülern (in Erfurt, Winnenden, Ansbach, MünchenSollms) oder bei der Loveparade in Duisburg. Jeweils gab es öffentliche Trauergottesdienste, die vom Fernsehen übertragen wurden und eine große Resonanz in den Medien fanden. So unterschiedlich die Fälle im Einzelnen sind, so lassen sich doch manche Gemeinsamkeiten feststellen, sowohl bei den auslösenden Ereignissen als auch bei den anschließenden Trauerfeiern. Unterschiedlich waren die Täter, ihre Motive, ihre Hintergründe, unterschiedlich die Zahlen der Opfer, unterschiedlich war auch, wer für die Vorbereitung und Durchführung der Feiern verantwortlich war, gemeinsam die konstitutive Rolle, die dabei die Medien spielten, im Vorfeld und während der Gottesdienste. Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser öffentlichen Trauer­ feiern sind charakteristisch für eine neue Konstellation: Nicht mehr die hierzulande klassische Rollenverteilung zwischen Staat und ­K irche bestimmt das Geschehen. Die öffentliche Trauer geschieht vielmehr im Raum der Zivilgesellschaft. Die beteiligten Personen, Gruppen und Institutionen handeln gleichsam mit einem zivilreligiösen Mandat. Sie handeln in je eigener Verantwortung und in sorgfältig vereinbartem Zusammenwirken. Die Akteure sind vielfach nicht mehr nur eine ­Kirche oder eine Gemeinde, fast immer tritt die Ökumene in Gestalt kirchenleitender Amtsträger in Erscheinung. Neben den Geistlichen agieren Laien und Ehrenamtliche, Frauen und Männer, Politiker, Sprecher der Vereine und Verbände, der Schulen, in New York wie selbstverständlich auch Vertreter nahezu aller am Ort lebenden großen Religionsgemeinschaften – eine für deutsche und europäische Verhältnisse neue und ungewohnte Konstellation, die in den USA eine lange Tradition hat. »Civil Religion«17 ist in den Vereinigten Staaten auf der Basis der strikten Trennung von Staat und ­Kirche bei in der Verfassung Verantwortung, 13–23, sowie Wilhelm Gräb, ­K irche als Sinnstifterin. Bischofspredigten in Zeiten öffentlicher Trauer, 24–20. 17  Vgl. Rolf Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987; Klaus-Michael Kodalle, Zivilreligion in Amerika. Zwischen Rechtfertigung und Kritik, in: Ders. (Hg.), Gott und Politik in den USA. Über den Einfluss des Religiösen. Eine Bestandsauf-

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garantierter Freiheit der Religionsausübung ein bewährtes Modell, das das geregelte öffentliche Zusammenwirken der Religionsgemeinschaften vorsieht. Dagegen ist »Zivilreligion« hierzulande eine umstrittene Kategorie, die erst langsam im Kontext einer zunehmend multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft den Verdacht der Illegitimität bzw. der Instrumentalisierung gottesdienstlicher Handlungen zu verlieren beginnt und zu einer – wenn auch immer noch strittigen – Realität wird. Um zu klären, inwieweit Vorwürfe und Verdacht berechtigt sind, sind in kriteriologischer Hinsicht systematisch-theologische Überlegungen nötig. In praktisch-theologischer Perspektive fast noch wichtiger sind konkrete Analysen einschlägiger Beispiele. Manches spricht dafür, dass die Kriterien nicht vorab feststehen, sondern sich erst induktiv im Prozess bilden. Lassen sich aus den vorliegenden Beispielen bereits einige Schlüsse ziehen, die Hinweise geben, wo hier Gefahren und Chancen, Stärken und Schwächen liegen und worauf künftig geachtet werden sollte? Auf drei Fragen soll kurz eingegangen werden. (1) Warum gibt es überhaupt öffentliche Trauerfeiern? Weil Tod, gewaltsamer Tod etwas ist, was Menschen tief erschüttert. Derartige Erfahrungen durchbrechen die eingespielte Lebensroutine. Plötzlich zeigt sich die Fragilität menschlicher Existenz, seelische und gesellschaftliche Abgründe tun sich auf. Menschen werden schockartig mit Unbegreiflichkeiten, mit Dunkel, Tragik, Schicksal und Schuld konfrontiert. Katastrophale Ereignisse, die weit weg scheinen – Krieg, Terror, Gewalt, Erdbeben, Tsunamis, atomare Katastrophen (wie vor 25 Jahren in Tschernobyl und heute in Fukushima) – brechen ein in unseren eigenen, scheinbar wohl geordneten Alltag und stellen die Lebenssicherheit radikal in Frage. Die Frage nach Sinn und Wert des menschlichen Lebens wird unabweisbar. Das überschreitet die Grenzen des Privaten und wird zu einer öffentlichen Herausforderung. (2) Was bedeutet es, dass trotz aller Krisen, die die Kirchen derzeit durchmachen und in die sie – auch schuldhaft – verwinahme, Frankfurt a.M. 1988, 19–73; Wolfgang Vögele, Zivilreligion, Katastrophen und Kirchen (EZW-Texte 189), Berlin 2007.

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ckelt sind, ihnen in der Öffentlichkeit zugetraut wird, in solchen Situationen Hilfe leisten zu können? Es gibt offenbar nach wie vor ein Gefühl dafür, dass die Religionen für diese Letztdimensionen von Leben und Tod überzeugende Antworten haben. Das heißt für die christlichen Kirchen: Es eine Art Vertrauensvorschuss, dass ihre Botschaft, ihre Symbole und Rituale eine allgemein relevante Wahrheit enthalten, die angesichts der radikalen Infragestellung von Sinn den Menschen Halt geben und Hoffnung vermitteln können. Das ist nicht selbstverständlich, zumal nicht in Ostdeutschland, wo inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung konfessionslos ist und das, was Wolf Krötke »Gewohnheitsatheismus« genannt hat18, weit verbreitet ist. Umso erstaunlicher ist, dass dieser Vertrauensvorschuss existiert. Das Vertrauen ist nicht ungebrochen, aber es ist da, und das ist ein kostbares Gut. (3) Was können die Kirchen tun, dass dieser Vertrauensvorschuss nicht verspielt wird? Das Vertrauen gilt der ­Kirche als Institution, aber es steht und fällt mit Personen, die öffentlich glaubwürdig sind. Denen, die für die Vorbereitung und Gestaltung der betreffenden Gottesdienste verantwortlich sind, ist zu raten, sich auf die Sprachkraft der liturgischen Tradition zu verlassen, auf starke biblische Texte, auf in solchen Extremsituationen bewährte Lieder und Gesänge, auf einfache Symbolhandlungen und eine gewisse Strenge bei der Formulierung der Gebete. Vor allem wäre zu wünschen, dass die, die zu predigen haben, die richtigen Worte finden, den Trauernden zugewandt, persönlich, einfühlsam, nicht zu pathetisch. Wichtig ist, dass Erschütterung und Ratlosigkeit nicht überspielt werden, dass der Trost des Evangeliums nicht zu rasch, zu volltönend und formelhaft verkündigt wird. Gesetz und Evangelium sind zu unterscheiden und auf einander zu beziehen. Das ist oft schwierig, besonders in Situationen, wo Fragen nach Schuld und Verantwortung die Öffentlichkeit bewegen. Unbe18  Vgl. Wolf Krötke, Grenzen mit offenen Toren. Zum Umgang mit den Grenzen zwischen der ­K irche und der ›konfessionslosen‹ Bevölkerung im Horizont des Gottesdienstes, in: Irene Mildenberger / Wolfgang Ratzmann (Hg.): Liturgie mit offenen Türen. Gottesdienst auf der Schwelle zwischen ­K irche und Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 13), Leipzig 2005, 51–69.

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queme Anfragen dürfen nicht ausgeklammert werden, aber es darf auch nicht zu vorschnellen Verurteilungen kommen. Es bedarf einer hohen geistlichen Sensibilität, um zu entscheiden, was in der Situation angemessen ist, was gesagt und was nicht gesagt wird19.

3.3. Die spezifisch christliche Öffentlichkeit des Gottesdienstes an den großen Festen des Kirchenjahres – Beispiel: Weihnachten Christlicher Gottesdienst ist öffentlich, in seinen Inhalten und seiner Reichweite. Dass dies nicht nur ein theologisches Postulat ist, lässt sich an einer Stelle auch empirisch nachweisen: an den Gottesdiensten der großen Jahresfeste. Während die Beteiligung am regelmäßigen Kirchgang insgesamt zwar nicht abnimmt, wie viele meinen, sondern auf relativ niedrigem Niveau einigermaßen konstant ist, steigen die Zahlen an den hohen Festen weiter20. Davon profitieren nicht alle Feste in gleicher Weise. Es gibt eine Rangordnung der Beliebtheit, die mit der offiziellen dogmatischen Wertschätzung nicht unbedingt übereinstimmt. Im Vergleich mit Ostern und Karfreitag, den theologisch herausragenden Höhepunkten des Glaubens, aber auch mit Pfingsten werden die Gottesdienste an den volkskirchlich stärker verankerten Feiertagen wie Erntedankfest und Toten- / Ewigkeitssonntag besser besucht. An der Spitze steht unangefochten nach wie vor Weihnachten. 21

19  Deshalb spricht Klaus Eulenberger (unter Aufnahme eines Begriffs von Thomas Klie) zu Recht von »riskanten Liturgien«. Vgl. seine nachdenk­ lichen Überlegungen (u.a. zu New York und Erfurt): Riskante Liturgien. Religiöse Inszenierungen des Außerordentlichen, in: Ders., Nur die Stimme der Wahrheit kann trösten. Religiöse Erkundungen der Wirklichkeit, Berlin 2010, 163–171; außerdem Kristian Fechtner / Thomas Klie (Hg.), Riskante Liturgien. Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, Stuttgart 2011. 20  Vgl. die seit 2004 jährlich erscheinende Broschüre »Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben«, hgg. v. Kirchenamt der EKD, http://www.ekd. de/statistik/zahlen_fakten.html (23.4.2011). 21  Vgl. zum Folgenden Cornehl, Gottesdienst (s. Anm. 6), 153ff.

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Auch hier ist festzuhalten: Für die öffentliche Bedeutung, die Weihnachten hat, sind letztlich nicht quantitative, sondern qualitative Gründe ausschlaggebend. Für die öffentliche Relevanz des Weihnachtsfestes entscheidend ist die Botschaft, die den Kern des Festes ausmacht, sind die Horizonte, die dadurch eröffnet werden. Weihnachten, das Fest der Geburt Jesu Christi, steht theologisch im Schnittpunkt dreier großer Deutungsperspektiven, die dem Fest von seinem biblischen Ursprung her eingestiftet sind oder sich im Laufe der Geschichte dort ankristallisiert haben. Man kann sie die messianische, die inkarnatorische und die mystische Perspektive nennen. 22 Das Fest hat eine politische und soziale Dimension. An Weihnachten vergegenwärtigt die Christenheit die alttestamentlich-prophetische Verheißung des endzeitlichen Friedensreiches. »Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird«, sagt der Engel den Hirten, »denn euch ist heute der Heiland (der Retter) geboren, welcher ist Christus, der Herr …« (Lk 2,10 f.). Weihnachten hat sodann eine im engeren Sinn theologische Dimension. Sein dogmatischer Kern ist das Bekenntnis, dass in Jesus von Nazareth Gott selbst Mensch geworden ist. »Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit« (Joh 1,14). Und Weihnachten hat eine mystische Dimension. Es ist das Fest inniger Jesusfrömmigkeit. Über das Geheimnis der Menschwerdung Gottes staunen die Weihnachtslieder. Um das Kind in der Krippe anzubeten, wird der ganze Reichtum der Poesie, der Malerei, der Musik aufgeboten. Das Weihnachtsfest ist eine große schöpferische Synthese. Das schließt Spannungen und logische Widersprüche ein. Feste sind Kampfplätze, um ihre Bedeutung wird gerungen. Je populärer ein Fest, desto größer die Versuchung, sich seiner zu bemächtigen. Weihnachten ist für Werbung und Konsum attraktiv. Es ist eine Frage der inneren Kraft religiöser Gestaltung, sich auf dem öffentlichen »Weihnachtsmarkt« zu behaupten. Das ist riskant, weil die Gefahr besteht, dass der messianisch-politische Gehalt 22  Dazu genauer Peter Cornehl, Zustimmung zum Leben und Vergewisserung im Glauben. Integrale Festzeitpraxis als volkskirchliche Gottesdienststrategie, in: Ders., Welt (s. Anm. 10), 291–306, hier 297ff.

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des Festes unschädlich gemacht und die mystische Innerlichkeit verkitscht wird. Man entgeht ihr nicht, wenn man sich kulturkritisch grollend in den Winkel des theologisch-liturgischen Purismus zurückzieht. Es gibt genug Anlass, selbstbewusst, gelassen und humorvoll den Kampf um das Fest aufzunehmen und darauf zu vertrauen, dass sich seine authentischen Gehalte immer wieder durchsetzen. An Weihnachten bewährt sich die hier durchgängig vertretene These, wonach ein wesentliches Kriterium für die recht verstandene Öffentlichkeit des Gottesdienstes ist, dass sich hier die Perspektiven des Subjektiven und des Universalen, des Persönlichen und Politischen verschränken. An Weihnachten ­feiern die Christen die Geburt des Kindes im Stall von Bethlehem und hören die Botschaft der Engel, die allem Volk universalen Frieden verheißen. An Weihnachten werden wir selbst wieder zu Kindern und sehnen uns zurück in die heile Kindheit (wenn sie denn heil war). Weihnachten spüren wir intensiv Glück und Geborgenheit, aber auch Kummer und Einsamkeit und unsere Sehnsucht nach Liebe. So wichtig die persönlichen Gefühle hier sind (und sein dürfen!), Weihnachten sprengt die Grenzen des bloß Privaten, Familiären. Es wird deshalb auf die Dauer nicht gelingen, die Festinhalte kleiner zu machen, als sie von Haus aus sind. Alle Versuche, das neuzeitliche Christentum als »Weihnachtschristentum« auf den Bereich bürgerlicher Innerlichkeit zu reduzieren, so geistreich und kulturtheologisch gebildet sie auch daherkommen, müssen daran scheitern. 23 Eine letzte Überlegung nimmt die Beobachtungen zu den öffentlichen Trauerfeiern wieder auf: An Weihnachten weiten sich die Horizonte auch insofern, als die Weihnachtsgemeinde (tendenziell) eine bunt gemischte Gemeinde ist. Die Weihnachts­kirche ist (wie die Leipziger Nikolaikirche während der Friedensgebete) »offen für alle«. Nicht nur für die Kerngemeinde, nicht nur für fromme Kirchenchristen, sondern auch für Distanzierte, Skeptiker, Freigeister, Ungläubige, Halbgläubige, Andersgläubige, Konfessions23  Vgl. zuletzt Matthias Morgenroth, Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002.

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lose, Atheisten: Alle sind willkommen, allen gilt die frohe Botschaft. Das macht die Vorbereitung und Gestaltung dieser Gottesdienste nicht leichter. Man sollte nicht denken: Den Leuten ist sowieso egal, was da gesagt wird, es geht nur um die schöne Stimmung. Das wäre eine Verachtung des Weihnachtsvolks und des Weihnachtsevangeliums. Nein, es gibt sehr wohl anspruchsvolle inhaltliche Erwartungen an die Predigt. Wir sollten sie nicht enttäuschen.

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Reden im Kontext. Zur Predigt als Element des Gottesdienstes Manuel Stetter

1. Einführung: Kontextanalyse Für Martin Luther ist die Predigt ein notwendiges Element des Gottesdienstes. Denn »wo nicht gotts wort predigt wirt, ists besser, das man widder singe noch leße, noch zu samen kome«1. Freilich, ein hinreichendes Element ist sie nicht. Luthers dialogisches Gottesdienstverständnis setzt die Predigt vielmehr immer schon in Relation zu anderen liturgischen Vollzügen. 2 Diese Relation ist im Folgenden Thema. Genauerhin soll sie dabei nicht dogmatisch oder konfessionstheoretisch bestimmt werden, auch wird keine historische Rekonstruktion vorgelegt. Das Thema wird vielmehr im Sinne einer homiletischen Kontextanalyse bearbeitet. Gemeint ist damit eine Untersuchung der je spezifischen Kommunika­ tionsverhältnisse religiöser Rede. Eine solche ist notwendig, bestimmen diese kontextuellen Bedingungen die Bedeutung, die Funktion und die Eigenschaften eines Redeaktes doch je mit. Im Fall der Predigt als einer im Gottesdienst verorteten Rede führt die Kontextanalyse dabei in einen Dialog mit der Liturgik. Der rezente Trend zu einer engeren homiletisch-liturgischen Kooperation ist daher begründet.3 Unsachgemäß wäre freilich eine Eineb1 

WA 12, 35, 24f. Luthers sogenannte Torgauer Formel nennt etwa konkret »Gebet und Lobgesang« (vgl. WA 49, 588, 15–18). 3  Vgl. dazu exemplarisch Helmut Schwier, Der evangelische Sonntagsgottesdienst. Verständnis und Praxis im Umfeld des ›Evangelischen Gottesdienstbuches‹, in: LJ 60 (2010), 116–131, hier 129: »Allgemein anerkannt ist die Notwendigkeit zu einer praktisch-theologischen Theorie, die Homiletik und Liturgik zu verbinden hat.« 2 

Reden im Kontext

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nung disziplinärer Unterschiede. Infolge wird dies daran deutlich, dass die Predigt zwar in einer Vielzahl von Aspekten in Konti­ nuität zum liturgischen Gesamtzusammenhang steht (vgl. 2.), unter den damit gegebenen Bedingungen aber stets auch nach eigenen Regeln kommuniziert, die sie mit außergottesdienstlichen Mitteilungsformen verbinden (vgl. 3.).

2. Kontinuitätsaspekte 2.1. Interdependenzzusammenhang Gottesdienste sind komplexe Einheiten. Sie kombinieren mehrere Teilvollzüge, die ihrerseits aus unterschiedlichen Medien bestehen. Insofern können sie als »multimediale Amalgame«4 beschrieben werden. Entscheidend ist dabei deren Kombinationsmodus. Die einzelnen Elemente sind (1) voneinander abhängig, dies (2) in reziproker Weise, woraus sich (3) eine Totalität konstituiert, die über die Summe der einzelnen Elemente hinausreicht. Friedrich Schleiermacher bringt diesen Sachverhalt in einer naturphilosophischen Metapher auf den Punkt. Er bestimmt den Gottesdienst als »Organismus« und insofern als eine Größe, in der »die Selbstständigkeit des einzelnen und die Einheit des ganzen in solchem Wechselverhältniß stehen daß jedes das andere bedingt und voraussezt«5. Für die Predigt als ein Element dieses ›Organismus‹ folgt daraus zweierlei. Sie wird zum einen durch den liturgischen Gesamtzusammenhang und seine Teilvollzüge beeinflusst, vermag zum anderen aber immer auch diese selbst mitzubestimmen. Dieser Interdependenzzusammenhang ist infolge zu präzisieren.

4  Ludwig Jäger, Zur medialen Logik der Rituale. Bemerkungen zu einigen Aspekten des Verhältnisses von Sprache und Ritual, in: Christoph Wulf / Jörg Zirfas (Hg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole, München 2004, 303–317, hier 304 (im Original hervorgehoben). 5  Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen ­K irche im Zusammenhange dargestellt, hgg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850, 126.

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2.1.1. Bedeutungszusammenhang Der Interdependenzzusammenhang besteht zunächst auf inhaltlicher Ebene. Die semantische Dimension der Predigt bestimmt sich im gottesdienstlichen Rezeptionsprozess notwendig vor dem Hintergrund der anderen liturgischen Stücke. Sie stehen in einem »spannungsreichen Verhältnis wechselseitiger semantischer Explikativität«6. Diese Spannung zu minimieren, versucht das sogenannte Proprium. Gegenüber dem Ordinarium versammelt es die variablen Elemente eines Gottesdienstes und stellt sie in einen gemeinsamen thematischen Horizont. Dieser wird vom Evangelium als sogenannten Rector vorgegeben und orientiert sich am kirchenjährlichen Duktus. Teil des Propriums ist auch der Predigttext. Insofern partizipiert die Predigt direkt am inhaltlichen Zuschnitt der Liturgie. Ihr kommunikatives Setting eröffnet damit durchaus Möglichkeiten einer kohärenten Rezeption ihrer Aussagen. Freilich, zum gottesdienstlichen Bedeutungszusammenhang gehören nicht nur die im engeren Sinn sprachlichen Elemente. Die semiotisch inspirierte Liturgik hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die semantische Dimension des Gottesdienstes immer auch durch eine Vielzahl weiterer Medien erzeugt wird. Als multimediale Größe baut sich der Gottesdienst ebenfalls aus ›Körpersprachen‹, ›Klangsprachen‹, ›Objektsprachen‹ und ›Sozialsprachen‹ auf.7 Die Komplexität der semantischen Wechselbezüge zwischen Predigt und ihrem Vollzugskontext nimmt dadurch deutlich zu. Sie kommuniziert in einem Feld mannigfacher Codierungen. Diese betreffen etwa Mimik, Gestik, Architektur u.v.a.m. Wie bei den Wortsprachen auch sind diese Codes dabei nie allein aus dem liturgischen Geschehen selbst zu entschlüsseln. Was z.B. gefaltete Hände bedeuten, ist stets mitbedingt durch weiterreichende dogmatische und kulturelle Semantiken.

6 

Jäger, Logik (s. Anm. 4), 315. Vgl. Jörg Neijenhuis, Gottesdienst als Text. Eine Untersuchung in semiotischer Perspektive zum Glauben als Gegenstand der Liturgiewissenschaft, Leipzig 2007, 137–147. 7 

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2.1.2. Funktionszusammenhang Neben der inhaltlichen Ebene besteht der Interdependenzzusammenhang auch auf funktionaler Ebene. In seiner wirkmächtigen Studie ›Übergangsriten‹ notiert Arnold van Gennep eine wichtige ritualanalytische Einsicht: Die Erforschung von Ritualen kann deren Einzelsegmente nie nur isoliert in den Blick nehmen, sondern muss sie in ihrer »relativen Position […], d.h. ihrer Abfolgeordnung«8 betrachten. Erst in dieser Perspektive erhelle sich ihre spezifische Funktion. Diese Einsicht gilt auch für den Gottesdienst. Wolfgang Ratzmann hat dies am Beispiel des Evangelischen Gottesdienstbuches (EGb) für die Predigt vorgeführt. Seine These lautet: Auch ohne explizite homiletische Bestimmungen definiert eine Agende die Aufgabe der Predigt implizit immer auch mit – und zwar gerade durch die Platzierung der Predigt im Gottesdienstverlauf.9 Um seine These zu plausibilisieren, erarbeitet Ratzmann mehrere Neuaktzentuierungen des EGb. Zwei davon interpretiert er näher. (1) Das EGb reduziert das Gewicht der Kanzelliturgie. Bestimmte in der alten Agende I ein »präzise ausgearbeitetes Regularium«10 den Predigtakt, so führt das EGb Kanzelgruß wie Kanzelsegen nur noch als Varianten. Die Predigt wird damit stärker in den gottesdienstlichen Gesamtvollzug zurückgenommen und insofern die Relevanz und Besonderheit ihrer Funktion gegenüber den anderen Teilvollzügen nicht nochmals eigens he­ rausgestellt. (2) Zumindest in der Grundform I verortet das EGb das Credo nach der Predigt. Für Ratzmann wachsen ihr dadurch zwei neue Funktionen zu. Sie habe zunächst eine konfessorische Aufgabe, müsse also das »Einstimmen ins gemeinsame Bekennt8 

Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), übers. v. Klaus Schomburg / Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M. / New York 32005, 183 (im Original hervorgehoben); Originalausgabe: Ders., Les rites de passage, Paris 1909. 9  Vgl. Wolfgang Ratzmann, Liturgisch integriert, konfessorisch und doxologisch. Zum Verständnis der Predigt nach dem Evangelischen Gottesdienstbuch, in: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt. Grundlagen – Modelle – Konsequenzen (APrTh 21), Leipzig 2001, 243–258, hier 243. 10  AaO., 244.

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nis erleichter[n]«11. Sodann nehme sie bestenfalls auch doxologische Aufgaben wahr. Fasst man das Credo als ein Rühmen Gottes, müsse die Predigt je auch »hin[-]führen zum Gotteslob«12. Ratzmanns Überlegungen zeigen ein Doppeltes: Tatsächlich definiert sich die Funktion der Predigt immer auch über ihre relative Position innerhalb des Verlaufs der gottesdienstlichen Stücke. Dies setzt freilich einen Begriff dieser Stücke voraus, der sich nie exklusiv aus der Abfolgeordnung selbst ableiten lässt. Was etwa ein Bekenntnis ist, ist stets eingebunden in die Liturgie transzendierende dogmatische und kulturelle Vokabulare.13

2.1.3. Gestaltungszusammenhang Schließlich soll der Interdependenzzusammenhang aus produktionstheoretischer Sicht betrachtet werden. In dieser Perspektive erscheinen die Kontextbedingungen der Predigt nicht allein als vorgegebene Lage. Sie rücken vielmehr in ihren gestalterischen Möglichkeiten in den Blick. In der Regel ist der Prediger mit dem Liturgen identisch. Er ist damit in der besonderen Lage, direkt in das kommunikative Setting seiner Predigt eingreifen zu können, um so möglichst günstige inhaltliche und funktionale Wechselbezüge zu erzeugen. Aber selbst, wenn dem Prediger keine unmittelbaren Eingriffe in den Predigtkontext erlaubt wären, vermochte er diesen stets auch mitzubeeinflussen. Denn aufgrund der Reziprozität des Dependenzzusammenhangs bestimmt die Gestaltung der Predigt die Semantik und Funktion der anderen Gottesdienstsequenzen je mit. Relevant ist diese Einsicht besonders in Blick auf das Ordinarium. Auch die in ihrem Wortlaut und ihrer relativen Position invarianten Segmente des Gottesdienstes sind in ihrer Semantik und Funktion keineswegs fixiert, vermag die Predigt für sie doch 11 

AaO., 256. AaO., 258. 13  Aus diesem Grund forderte Stanley J. Tambiah für eine sachgemäße Ritualanalyse die »integration of cultural account and formal analysis« (vgl. Ders., A Performative Approach to Ritual, in: Ders., Culture, Thought, and Social Action. An Anthropological Perspective, Cambridge / London 1985, 123–166, hier 130). 12 

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ganz unterschiedliche Interpretationsrahmen zu setzen. Dies impliziert zweierlei. (1) Wie Michael Meyer-Blanck zu Recht festhält, eröffnen identische liturgische Abfolgeordnungen durchaus verschiedene dramaturgische Verlaufsformen.14 So muss sich die Predigt beispielsweise auch nach dem EGb keineswegs notwendig konfessorisch oder doxologisch verstehen (vgl. 2.1.2.). Vielmehr vermag auch sie ihrerseits dem Credo Bedeutungen zuzuweisen. Dies muss dabei (2) nicht zwangsläufig im Modus liturgischer Katechese geschehen15. Predigt muss in die Elemente der Liturgie nicht erklärend einweisen, um deren Semantik und Funktion mitzubestimmen. Sie leistet dies schon auf sublimere Weise, indem sie deren Rezeptionskontexte mitkonstruiert. Das Prinzip der Konstruktion ist dabei die Ermöglichung einer kohärenten Rezeption des Gottesdienstes. Neben konsonantischen und komplementären Wechselbezügen erlaubt dieses Prinzip durchaus auch die Erzeugung von kontrapunktischen Relationen16. Nicht thematisierte und nicht bewertete Widersprüche zwischen den liturgischen Segmenten sind freilich ausgeschlossen.

2.2. Eigenschaftszusammenhang Als Element des Gottesdienstes steht die Predigt nicht nur in den beschriebenen Interdependenzzusammenhängen. Sie partizipiert zudem an signifikanten Eigenschaften ihres liturgischen Kontextes. Drei davon werden infolge kurz erläutert und auf ihre Konsequenzen für die Predigt hin bedacht (vgl. dazu auch die Beiträge von Peter Cornehl und Birgit Weyel in diesem Band).

14  Vgl. Michael Meyer-Blanck, Die Dramaturgie von Wort und Sakrament. Homiletisch-liturgische Grenzgänge im ökumenischen Horizont, in: PTh 96 (2007), 160–171, hier 168. 15  Vgl. zu dieser Predigtform etwa Manfred Seitz, Gottesdienst und Predigt, in: Klaus Raschzok / Konrad Müller (Hg.), Grundfragen des evangelischen Gottesdienstes, Leipzig 2010, 35–44, hier 43f. 16  Nach Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik (UTB 2128), 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen / Basel 2011, 346 sollte schon das »Wissen um die durchaus gebrochene Konsonanz« des Propriums vorschnellen Angleichungen wehren.

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2.2.1. Öffentlichkeit Luther bestimmte den Gottesdienst als öffentliches Geschehen. »[H]eimliche Winckel«17 seien ihm unangemessen. An diesem Öffentlichkeitscharakter partizipiert auch die Predigt. Nach CA XIV ist sie öffentliche Lehre (doctrina publica). Diese Bestimmungen sind weniger als empirische, denn als normative Beschreibungen zu interpretieren. Öffentlichkeit gehört zwar notwendig zum Begriff der Predigt, freilich nur potenziell zu deren Empirie. Sie wird damit zu einer »Gestaltungsaufgabe«18. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Öffentlichkeitsstruktur lässt sich diese mindestens vierfach präzisieren. (1) Gegenwärtige Öffentlichkeit ist partizipationsorientiert.19 Insofern zielt Predigt bestenfalls auf ein Selber-Verstehen. Wenn man so will, entwirft sie ihre Hörer im Sinne Gotthold Ephraim Lessings, war doch die eigentliche Pointe dessen berühmter Rede vom »garstige[n] breite[n] Graben«, dass der »Sprung« über das, was einem Menschen nicht selbst evident ist, als irrational abzulehnen sei 20. (2) Gegenwärtige Öffentlichkeit ist kritisch verfasst. Das gilt gerade auch für das religiöse Feld. Darauf hat u.a. Charles Taylor hingewiesen. Für ihn ist die säkulare Gegenwart primär über ihre spezifischen »conditions of belief« zu bestimmen. Deren Hauptmerkmal sei die Umstrittenheit. Religiöse Überzeugungen seien heute nicht mehr selbstverständlich. Ihnen stehen vielmehr notorisch kritische Einwände gegenüber. 21 Für die Predigt entstehen dadurch ganz neue Argumentationsanforderungen. Wo die »era of ›naïve‹ religious faith« beendet ist22, können gängige Ver17 

WA 49, 592, 24. Vgl. zum Folgenden Birgit Weyel, Art. Predigt, in: Wilhelm Gräb / Dies. (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 627– 638, hier 636f. 19  Vgl. Volker Drehsen, Art. Öffentlichkeit, in: Manfred Baumotte u.a. (Hg.), Wörterbuch des Christentums, München 2001, 894–896, hier 896. 20  Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Ders., Werke und Briefe, hgg. v. Wilfried Barner, Bd. 8 (Bibliothek deutscher Klassiker 45), Frankfurt a.M. 1989, 437–445, hier 443. 21  Vgl. Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge / London 2007, 1–22. 22  Vgl. aaO., 19. 18 

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trautheiten und Formulierungen nicht mehr einfach wiederholt werden. Vielmehr wird die Predigt gerade dort Relevanzeffekte zeitigen, wo die Hörerinnen in ihren Auseinandersetzungen mit anderen Plausibilitäten durch überzeugende Argumentationsgänge und kreative Übersetzungsleistungen unterstützt werden. (3) Gegenwärtige Öffentlichkeit ist plural strukturiert. Ihren Adressatenentwurf orientiert die Predigerin daher bestenfalls nicht allein an den »Normvorstellungen eines sozial verengten Milieus«, sondern arbeitet ihn im Horizont aller potenziellen Hörer aus. 23 (4) Gegenwärtige Öffentlichkeit ist schließlich massenmedial geprägt. An zwei Stellen zeigt sich der Einfluss der modernen Medien besonders. Zum einen prägen sie die Rezeptionsgewohnheiten ihrer Benutzer. Zum anderen bestimmen sie deren Wirklichkeitskonzepte mit. Der auf Öffentlichkeit zielenden Predigt wächst daraus eine Doppelaufgabe zu. Ihre Gestaltung fordert zunächst in formaler Hinsicht eine hohe Sensibilität für die medial veränderten Wahrnehmungsstrukturen ihrer Adressatinnen. Um sich auf deren Wirklichkeitserfahrungen zu beziehen, hat sie sodann in inhaltlicher Hinsicht ihren Text mit den »auf vielfältige Weise medial vermittelten ›Hintergrunderzählungen‹ in Kontakt« zu bringen. 24

2.2.2. Performance-Charakter Der Begriff des Performativen wurde über die letzten Jahre zu einem geisteswissenschaftlichen Schlüsselkonzept. Auch die Liturgik gewann daraus neue Reflexionsperspektiven. 25 So trat etwa der performance-Charakter des Gottesdienstes verstärkt in den Blick. 26 Für diesen grundlegend ist die »leibliche Ko-Präsenz« al23 

Vgl. Drehsen, Öffentlichkeit (s. Anm. 19), 895. Vgl. Weyel, Predigt (s. Anm. 18), 636. 25  Vgl. dazu etwa Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes (PThK 18), Gütersloh 2006; David Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes (Christentum und Kultur 7), Zürich 2007; Irene Mildenberger u.a. (Hg.), »Gottesdienst und Dramaturgie«. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 23), Leipzig 2010. 26  Der Begriff des Performativen enthält mehrere Komponenten und verschränkt eine Vielzahl wissenschaftlicher Traditionslinien. Einen knappen 24 

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ler Beteiligten. 27 Dadurch kommt es zu simultanen Rückkopplungsprozessen zwischen den Akten liturgischer Produktion und Rezeption. Aus aufführungstheoretischer Perspektive ist Gottesdienst also immer erst das flüchtige Resultat vielschichtiger Interaktion. Gegenüber den agendarisch zugrunde liegenden Texten wird damit der konkrete Vollzug akzentuiert. Man kann dies eine »Rehabilitierung der Oberfläche«28 nennen. Entscheidend ist dabei, dass der konkrete Vollzug nicht als bloße Abbildung der zugrunde liegenden Einheiten interpretiert wird. Er wird vielmehr in seiner produktiven Eigenständigkeit wahrgenommen. Schließlich rückt die Emphase der ›Oberfläche‹ den Aspekt der Körperlichkeit in den Blick. Wo leibliche Ko-Präsenz konstitutiv ist, gewinnt das Medium des Körpers erheblich an Relevanz. An diesem performance-Charakter partizipiert auch die Predigt. Drei Konsequenzen seien angedeutet. (1) Die homiletisch geforderte Adressatenrelativität der Predigt ist aus aufführungstheo­ retischer Sicht als Reaktionssensibilität beschreibbar. Bestenfalls schirmt sich der Prediger gegenüber den Rückkopplungsprozessen nicht ab, sondern lässt sich flexibel auf sie ein. (2) Predigt ist eine innovative Größe. Dass dies in Bezug auf den ihr in der Regel zugrunde liegenden Bibeltext gilt, zeigt schon die Hermeneutik. Interpretation ist ein konstruktiver Akt. Insofern wiederholt die Predigt den Bibeltext nicht einfach, sondern kreiert ein »neues Wort«29. Die Aufführungstheorie zeigt nun, dass dies auch im Blick auf ihr Manuskript gilt. Der Predigtakt bildet das in der Vorbereitung Erarbeitete nicht einfach ab und muss daher in seiner produktiven Überblick bietet neuerdings Klaus W. Hempfer / Jörg Volbers (Hg.), Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme (Edition Kulturwissenschaft 6), Bielefeld 2011. Unter 2.2.2. wird lediglich auf die performance-Komponente eingegangen. 27  Vgl. hierzu und zum Folgenden Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft (UTB 3103), Tübingen/Basel 2010, 24–65. 28  Ekkehard König, Bausteine einer allgemeinen Theorie des Performativen aus linguistischer Perspektive, in: Hempfer / Volbers (Hg.), Theorien (s. Anm. 26), 43–67, hier 53. 29  Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ders., Predigen als Beruf. Aufsätze, hgg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart 1976, 9–51, hier 36.

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Eigenständigkeit wahrgenommen werden. (3) Predigt vollzieht sich im Medium des Körpers. Alle ihre sprach­lichen Dimensionen werden für die Adressaten erst in der Stimme, Mimik, Gestik, Kinesik und Proxemik der Predigerin rezipierbar. Ihr Erfolg hängt daher wesentlich am kohärenten Einsatz dieser Momente, zerstört doch die »Dissonanz zwischen den Ebenen leibhafter Symbolisation die persuasive Kraft der Rede«30.

2.2.3. Liminalität Schleiermacher interpretierte den Gottesdienst als ein »Fest« und insofern als eine »Unterbrechung[-] des übrigen Lebens«31. Dieser Moratoriumscharakter kann mithilfe von Victor Turners Konzept der Liminalität näher beschrieben werden. Turner reflektierte in den 1960er Jahren auf die sogenannte »Schwellen- bzw. Umwandlungsphase« des dreigliedrigen Ritualmodells von Van Gennep32. Sukzessive entwickelte er daraus ein Interpretationsmodell, das er nicht allein auf klassisch rituelle, sondern auch auf darüber hinausgehende kulturelle Phänomene moderner Gesellschaften anwandte. Entscheidende Züge dieses Modells können an einem frühen Text aus dem Jahr 1964 markiert werden. Obwohl dieser Ergebnisse aus Feldforschungen zu den Ndembu in Sambia verarbeitet, sind hier schon alle maßgeblichen Aspekte späterer Ausarbeitungen angelegt.33 Nach Turner konstituiert Liminalität einen spezifischen Möglichkeitsraum. Emphatisch spricht er von einem »realm of pure possibility«34. Dieser kann mindestens dreifach präzisiert werden. (1) Liminalität erzeugt reflexive Möglichkeiten. Eine liminale Größe legt die basalen Komponenten des Wirklichkeitsverständnisses der Beteiligten frei. Bleiben diese in den alltäglichen 30  Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, 129. 31  Schleiermacher, Theologie (s. Anm. 5), 70. 32  Vgl. Van Gennep, Übergangsriten (s. Anm. 8), 21. 33  Vgl. Victor Turner, Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites des Passage, in: Ders., The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca / London 1967, 93–111. 34  AaO., 97.

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Vollzügen zumeist unthematisch, rücken sie hier in den Fokus. Sie werden zu »objects of reflection«35. (2) Liminalität erzeugt lu­ dische Möglichkeiten. Sie bildet eine experimentelle Kultursphäre aus, die bestimmt ist durch »a certain freedom to juggle with the factors of existence«36. Diese werden dadurch neu kombinierbar. (3) Liminalität erzeugt transformative Möglichkeiten. Ein liminales Geschehen verändert seine Teilnehmer. Es kommt zu einem »change in being«37. Als Element des Gottesdienstes partizipiert die Predigt an diesen Möglichkeiten. In deren Realisierung unterscheidet sie sich freilich maßgeblich von den anderen liturgischen Stücken. Sie nutzt sie auf spezifische Weise. Begründet ist diese in ihrem kommunikativen Genus. Gerade vor ihrem gottesdienstlichen Hintergrund zeigt sich die Predigt als eine »genuine Redesituation«38. Mit ihr tritt im Gottesdienst der rhetorische Fall ein.

3. Spezifitätsaspekte 3.1. Rhetorizität Die Predigt ist eine Form »diskursiver Adressierung«39. Anders als etwa im Gebet redet sie die Gottesdienstteilnehmer an. Dies geschieht in einer intentionalen Einstellung. Die Predigt ist ein zweckorientiertes Kommunikationsgeschehen. Formal besehen ist ihr Ziel dabei, »die subjektive Überzeugung von einer Sache 35 

AaO., 105. AaO., 106. 37  AaO., 102. Dachte Turner selbst zunächst primär an die Veränderung des sozialen Status, legen seine Rezipienten den Akzent auf Modifikationen im Bereich des Selbst-, Welt- und Transzendenzverständnisses (vgl. etwa Erika Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel 2001, 347–363). 38  Gert Otto, Predigt als Rede. Über die Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, Stuttgart u.a. 1976, 9. 39  Ludwig Jäger, Einleitung, in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz (Germanistische Symposien Berichtsbände 25), Stuttgart/Weimar 2004, 189–192, hier 189. 36 

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allgemein zu machen«40. Predigt ist damit mehr als ein Verständigungsprozess. Sie besitzt persuasiven Charakter. Zu überzeugen sind dabei konkrete Subjekte – Subjekte also, die immer schon komplex voreingenommen sind, von moralischen Überzeugungen, von Stimmungen, von eingewöhnten Interpretationsmustern, Vorlieben, Interessen, durch Einflüsse von Tradition und öffentlicher Meinung u.v.a.m.41 Die rhetorische Tradition hat das Überzeugungsgeschehen daher mehrfach dimensioniert. Es vollzieht sich als intellektuelles ›Belehren‹ (docere), als voluntatives ›Bewegen‹ (movere) und als emotionales ›Erfreuen‹ (delectare). Auch die Predigt wird erst im Miteinander dieser Dimensionen persuasiv. Damit stellt sie vor die anspruchsvolle Aufgabe, Begrifflich-Logisches und Sinnlich-Anschauliches sprachlich miteinander zu vermitteln. Der Mut zur kreativen Formulierung und ein Sinn für argumentative Stringenz kommen bei ihr zusammen. Insofern kann die Predigt als ein »Integrationstypus« beschrieben werden, der »Elemente bildhafter Sinnkonstitution und rationaler Sinnrechtfertigung« kombiniert.42 Die Vielzahl der Möglichkeiten solcher Kombination wird dabei bestenfalls nicht prinzipiell eingeschränkt. Die jeweilige Eigenart der Predigt ist vielmehr von den je konkreten situativen Bedingungen abhängig zu machen. Diese Situationsrelativität ist ein urrhetorischer Topos. Schon die antiken Rhetoriker knüpften die Erarbeitung der Rede an eine »komplexe Situationsphänomenologie«; denn wer »überzeugend sprechen will, muss zunächst die Situation verstehen, aus der heraus und in die hinein er spricht.«43 Vor diesem Hintergrund ist auch die hier gewählte Reflexionsperspektive einer homiletischen Kontextanalyse zu verstehen (vgl. 1.). Wer im gottesdienstlichen Kontext redet, hat ein Verständnis desselben zu entwickeln. Die bisherigen Überlegungen unter Punkt 2 haben dabei freilich an unterschiedlicher Stelle gezeigt, dass eine Untersuchung des litur40  Gert Ueding / Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, 4., aktualisierte Auflage, Stuttgart 2005, 1. 41  Vgl. aaO., 9.279. 42  Vgl. Oesterreich, Fundamentalrhetorik (s. Anm. 30), 125. 43  Vgl. Andreas Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2011, 238f.

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gischen Settings die Situation der Predigt nicht schon vollständig zu beschreiben vermag. Die Analyse der Predigtsituation ist an darüber hinausreichende dogmatische und kulturelle Kontexte verwiesen. Konkret heißt das, die Hörer in die Analyse miteinzubeziehen. Der Predigt als intentionaler Adressierung sind diese ohnehin die »grundsätzlich richtunggebende Instanz«44.

3.2. Konsequenzen der Rhetorizität Der skizzierte rhetorische Charakter der Predigt hat diverse Konsequenzen. Infolge sollen drei davon näher erläutert werden. Die beiden ersten betreffen die Predigt selbst. Durch ihre Rhetorizität treten Merkmale auch anderer liturgischer Stücke bei ihr verstärkt zutage: Zum einen expliziert sie die Interferenz zwischen ›Tradition‹ und ›Situation‹ (vgl. 3.2.1.), zum anderen intensiviert sie das personale Moment (vgl. 3.2.2.). Die dritte Konsequenz bezieht sich auf die Predigttheorie. So verweist die rednerische Eigenart der Predigt auf die homiletische Relevanz der Rhetorik (vgl. 3.2.3.).

3.2.1. Explizierung der Interferenz von ›Tradition‹ und ›Situation‹ Ein Gottesdienst bezieht seine Teilnehmer auf Texte und Symbole aus der christlichen Tradition. Als Rede vermag die Predigt zunächst die Verstehensprozesse, die sich dabei implizit immer schon ereignen, hermeneutisch reflektiert zu explizieren. Sodann erlaubt sie, die Relevanzansprüche dieser Überlieferungsgestalten auszuweisen. Ernst Lange hat dabei schlüssig gezeigt, dass diese unter modernen Bedingungen nur noch über einen konsequenten Bezug auf die Lebenswirklichkeit der Gottesdienstteilnehmer einzulösen sind.45 Der Predigt erwächst daraus eine doppelte hermeneutische Aufgabe. Sie hat einerseits das Evangelium in seinen Überlieferungsgestalten zu interpretieren, andererseits die Lebenswirklichkeit ihrer Adressatinnen. Beide Interpreta­tionsakte 44 

Ueding / Steinbrink, Grundriß (s. Anm. 40), 222. Vgl. Ernst Lange, Zur Aufgabe christlicher Rede, in: Ders., Predigen (s. Anm. 29), 52–67, hier 56f. 45 

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sind dabei zu unterscheiden, droht doch ansonsten je die Auflösung des einen in den anderen. Als Unterschiedene greifen sie freilich vielfach ineinander. Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass weder ›Tradition‹ noch ›Situation‹ einfach vorliegen. Beide verdanken sich vielmehr einem interpretativen Entwurf. Daraus folgt u.a. zweierlei. (1) Zunächst kann dadurch ein gängiger Vorbehalt gegenüber schriftlichen Diskursen zurückgewiesen werden. Er lautet zugespitzt: Texte verstellen den Zugang zum wirklichen Leben. Albrecht Grözinger hat darauf hingewiesen, dass diesem Vorbehalt die falsche Prämisse zugrunde liege, wonach es auf dieses ›wirkliche Leben‹ einen unvermittelten Zugriff gebe.46 Ein solcher existiert nicht. Zugänglich ist es allein im Modus der Interpretation. Texte sind schriftlich fixierte Formen solcher Interpretationen und beanspruchen insofern, etwas vom wirklichen Leben zu verstehen zu geben. Auf diesem wirklichkeitserschließenden Potenzial auch biblischer Texte ruht eine Reihe weiterer Funktionen auf. Exemplarisch kann hier auf die von Lange notierten Funktionen der Verfremdung, Profilierung und Kontrolle verwiesen werden.47 Biblische Texte konfrontieren mit spezifischen Ansprüchen und evozieren so Auseinandersetzungsprozesse, durch welche die Identitätsentwürfe und Weltkonzepte der Interpreten reflexiv werden. Ferner steigern sie durch die Besonderheit ihrer jeweiligen Syntax, Semantik, Pragmatik etc. den Konkretionsgrad der Predigt. Zuletzt fördern biblische Texte deren Transparenz und Kritikabilität. Ein interpretativer Textbezug zwingt »den Prediger sich selbst, seiner ­Kirche und seiner Gemeinde gegenüber zur Rechenschaft über das, was er sagt, und die Gründe, warum er es so und nicht anders sagt.«48 Diese Funktionen bieten gute Argumente für einen konkreten Textbezug. Auch einer protestantischen Predigt muss dabei freilich nicht notwendig ein Bibeltext 46  Vgl. Albrecht Grözinger, Homiletik (Lehrbuch Praktische Theologie 2), Gütersloh 2008, 137. 47  Vgl. Lange, Theorie (s. Anm. 29), 42f. 48  AaO., 43. Vgl. zum Problemkreis auch Birgit Weyel, Der Hörer steckt im Text? Skizze zu einer theologisch-homiletischen Kontroverse, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 23 (2009), 41–48.

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zugrunde liegen. Maßgeblich ist vielmehr Schriftgemäßheit. Damit gehören grundsätzlich auch Lied-, Katechismus- oder stärker thematisch organisierte Predigten zum homiletischen Repertoire. (2) Der konstruktive Charakter von ›Tradition‹ und ›Situation‹ impliziert sodann deren Veränderlichkeit. So steht auch für die Adressaten nicht einfach fest, was gegenwärtig der Fall ist. Wer sie sind und welche Handlungsmöglichkeiten ihnen ihre Situation eröffnet, ist hermeneutisch durch sie immer wieder neu zu gewinnen.49 Insofern Predigt dazu relevante Beiträge liefert, gestaltet sie die Situation ihrer Hörer je mit und vermag auch verändernd in diese einzugreifen. Persuasionstheoretisch wäre von Potenzialen zu sprechen, opinion changes, attitude changes und behaviour changes zu provozieren.50 Um solche durch Rede hervorgerufene Transformationen verständlich zu machen und zu konzeptionieren, wird in der gegenwärtigen Homiletik primär auf literaturwissenschaftliche Theorien zurückgegriffen. So rekurriert etwa Grözinger auf Wolfgang Isers Konzept des ›impliziten Lesers‹. »So wie es in einem Text einen impliziten Leser, eine implizite Leserin gibt, so hat auch jede Predigt ihre impliziten HörerInnen«51. Gemeint ist, dass jeder Predigt ein Entwurf ihrer Adressaten eingeschrieben ist. Als Moment der sprachlichen Struktur unterscheidet sich dieser von den empirischen Adressaten. Als solcher bestimmt er ihre Rezeptionsprozesse jedoch entscheidend mit, wodurch sie in diesen potenziell über ihr bestehendes Wirklichkeitsverständnis hinausgeführt werden. Im Rezeptionsakt eröffnen sich Möglichkeiten, mit neuen Verstehensmustern imaginativ zu experimentieren und andere Identitätsentwürfe zu simulieren. Insofern handelt es sich hierbei um Beispiele rednerischer Realisierungen der oben beschriebenen ludischen und transformativen Möglichkeiten (vgl. 2.2.3.).

49  Vgl. dazu Christof Landmesser, Art. Hermeneutik, in: Gräb / Weyel (Hg.), Handbuch (s. Anm. 18), 748–759, hier 748.757f. 50  Vgl. dazu Joachim Knape, Art. Persuasion, HWR 6, 874–907, hier 875. 51  Vgl. Grözinger, Homiletik (s. Anm. 46), 109–116, hier 113.

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3.2.2. Intensivierung der Personalität Alle liturgischen Elemente werden durch die Personalität ihrer Akteure mitbestimmt. Das gilt nicht nur für die Begrüßung oder selbstformulierte Gebete, sondern auch für die in ihrem Wortlaut festgelegten Sequenzen wie etwa den Segen.52 Als Rede wird dieses personale Moment durch die Predigt intensiviert. Sie ist »ganz der freien Productivität dessen, der den Kirchendienst verrichtet, anheimgestellt«53 und involviert insofern seine Person umfassend in den Kommunikationsprozess. Die Predigenden stehen damit vor der Aufgabe, ihre Personalität reflektiert einzusetzen und professionell zu bilden. Was das heißt, soll exemplarisch angedeutet werden. (1) Zunächst ist mit Frank M. Lütze festzuhalten, dass sich der personale Charakter der Predigt »nicht an der Frequenz des Ichs oder am Anteil biographischer Geständnisse [bemisst], sondern daran, ob die Aussagen der Predigt persönlich erarbeitet und angeeignet wurden«54. Der Predigt geht es nicht um ein Nachsprechen christlicher Überlieferungsgehalte und um die Bestimmung möglicher Meinungen über ihre gegenwärtige Relevanz. Die Predigerin hat vielmehr ihre subjektiven Überzeugungen davon zu vermitteln (vgl. 3.1.). Predigt verlangt eine »lebendige Assimilation«55 christlicher Tradition. Damit wird sie zum Symbol protestantischen Glaubens. Sie »steht für die religiöse Unvertretbarkeit des Einzelnen« und ist insofern »exemplarisch für das Selbstverständnis evangelischen Christseins«56. (2) Die psychische Struktur des Predigers be52 

Vgl. dazu Tambiah, Approach (s. Anm. 13), 125. Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hgg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2002, § 286. 54  Frank M. Lütze, Die forma formans der Predigt. Zur vernachlässigten Rolle der Predigttradition, in: Alexander Deeg / Martin Nicol (Hg.), Bibelwort und Kanzelsprache. Homiletik und Hermeneutik im Dialog, Leipzig 2010, 115–136, hier 134, Anm. 51. 55  Otto Haendler, Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen, 3., durchgearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 1960, 52. 56  Michael Meyer-Blanck, Predigt und Lesungen im evangelischen Gottesdienst, in: Erich Garhammer u.a. (Hg.), Kontrapunkte. Katholi53 

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stimmt dessen Kommunikationsverhalten notwendig mit. Soll sie sich nicht »unkontrolliert, ungeregelt und unnormiert«57 auswirken, ist sie reflektiert wahrzunehmen. Aus dem Gespräch mit der Psychologie sind der Predigttheorie dazu unterschiedliche Modelle zugewachsen. Hinzuweisen wäre etwa auf die Rezeption der Transaktionsanalyse von Eric Berne durch Wilfried Engemann.58 Letzterer notiert dabei zu Recht, dass Selbstwahrnehmung »nicht als bloß rezeptiver, sondern vor allem als identitätsbildender Akt zu verstehen« sei.59 Die Reflexion der psychischen Struktur impliziert Dynamisierungsprozesse. Sie eröffnet immer auch Veränderungen des Persönlichkeitsprofils und erschließt so neue Predigtmöglichkeiten. (3) Die Rhetorik hat seit jeher darauf hingewiesen, dass der Erfolg einer Rede entscheidend vom Image der Rednerin abhängt. Genauerhin nimmt es Einfluss auf ihre Glaubwürdigkeit. Das Image wird dabei komplex konstituiert. So ist auch das Predigerbild der Hörer potenziell mitbestimmt etwa von dessen Alter, Bildung, Lebenswandel, kultureller Herkunft etc. Joachim Knape hat zudem auf die Relevanz persönlicher Überzeugung hingewiesen. Ergebnisse der empirischen Persuasionsforschung zeigten, dass derjenige bei den Hörern als besonders glaubwürdig gelte, der sein subjektives Überzeugtsein von einer Sache zu vermitteln vermag.60 So wird auch aus dieser Perspektive die oben benannte Notwendigkeit lebendiger Assimilation nochmals unterstrichen. Sosehr das Image der Predigerin in ihrer pastoralen Gesamttätigkeit verankert und insofern durch predigtexterne Vollzüge geprägt ist, sosehr ist es doch auch Resultat des Predigtaktes selbst. Durch jede Predigt wird das Predigerbild der Hörerinnen bestätigend oder verändernd mitkonstituiert. Predigende stehen damit vor der Herausforderung, Kompetenzen hosche und protestantische Predigtkultur (ÖSP 5), München 2006, 150–163, hier 160. 57  Haendler, Predigt (s. Anm. 55), 48. 58  Vgl. zu einem ersten Überblick und weiterer Literatur Engemann, Einführung (s. Anm. 16), 50–72. 59  Vgl. aaO., 84. 60  Vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik? (RUB 18044), Stuttgart 2000, 74f.

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miletischer Selbstinszenierung auszubilden. Es geht dabei um die »technische Kompetenz […], sich selbst in überzeugender Weise zu präsentieren, wozu Erfahrungen über die Wirkung der eigenen Person wichtig sind«61. Insgesamt zeigen die Ausführungen, dass die Intensivierung des personalen Momentes in der Predigt die Homiletik in Kontakt mit pastoraltheologischen Problemstellungen bringt. Sie evoziert Fragen pastoraler Amtsführung und Selbstkonzepte und insofern der Relation von Amt und Person.

3.2.3. Rhetorik als homiletische Reflexionsperspektive Die gerade aus ihrem gottesdienstlichen Zusammenhang hervorstechende Rhetorizität der Predigt verweist zuletzt auf das homiletische Gewicht rhetorischer Theorie. Die Rhetorik entspricht der empirischen Struktur und den medialen Möglichkeiten der Predigt. In ihr ist nach wie vor die »Grundsituation der Rhetorik, ein Mensch redet vor anderen Menschen und verlässt sich dabei auf seine Worte, seine Stimme, seine Gesten«62 gegeben. Eine Theorie findet freilich ihren Gegenstand nicht einfach vor. Sie konstituiert diesen immer auch mit. So treten aus dem Gespräch mit der Rhetorik wichtige Aspekte auch der Predigt deutlicher hervor und eröffnen der Homiletik fruchtbare Konzeptionierungsmöglichkeiten. Entscheidend scheint mir hier die rhetorische Emphase (1) der Situationsgebundenheit, (2) der konsequenten Adressatenbezogenheit und (3) der Intentionalität einer Rede (vgl. 3.1.). Das homiletische Gewicht der Rhetorik wird schließlich durch Einsichten zweier aktueller Diskurse unterstrichen. So steht zunächst der Performativitätsdiskurs, wenn auch häufig unbewusst, in Kontinuität zu wesentlichen Erkenntnissen der rhetorischen Tradition. Exemplarisch kann hier die Hervorhebung des konkreten Redevollzugs (actio) und seiner transfor61  Olaf Kramer, Redetraining als Predigttraining. Rhetorische Weiterbildung und Homiletik. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Michael Meyer-Blanck (Hg.), Homiletische Präsenz. Predigt und Rhetorik (ÖSP 7), München 2010, 156–174, hier 165. 62  AaO., 159.

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mativen Potenziale durch die antike Rhetorik genannt werden.63 Sodann verweist der Säkularitätsdiskurs auf die Relevanz rhetorischer Perspektiven. Sofern rednerische Intervention gerade dort verlangt ist, wo selbstverständliche Orientierungen brüchig werden, entsteht nach dem Ende der »era of ›naïve‹ religious faith« (Charles Taylor, vgl. 2.2.1.) auch im religiösen Feld ein spezifisch rhetorischer Bedarf. Vor diesem Hintergrund plausibilisiert sich die Rhetorik als eine »grundlegende Reflexionsperspektive der Predigt«64. Wenn es der Homiletik dabei um mehr gehen soll als um eine »bloß selektive Rezeption«, also um die Bezugnahme auf einen »systematischen Zusammenhang«65 mit durchgearbeiteten Prinzipien, spezifischen Wirklichkeitsauffassungen, Praxisbegriffen, Personkonzepten etc., dann folgen daraus zwei Anforderungen: (1) Rhetorik ist in ihren verschiedenen Konzeptionierungen wahrzunehmen. (2) Das Verhältnis der Rhetorik zu anderen homiletischen Reflexionsperspektiven wie etwa der Ästhetik ist zu bestimmen und stärker als bisher auch auf mögliche Unterschiede zu befragen.

4. Resümee: Aptumprinzip Die homiletische Kontextanalyse hat gezeigt, dass die Predigt als Element des Gottesdienstes durch ein Bündel von Einflussfaktoren bedingt ist. Im Unterschied zu anderen Formen religiöser Rede wird sie zunächst entscheidend durch die Eigenart ihres liturgischen Settings mitbestimmt (vgl. 2.). Dieses lässt zugleich ihr spezifisches Kommunikationsgenus hervortreten. Predigt ist Rede (vgl. 3.1.). Als solche ist sie sodann verstärkt sowohl auf die Gottesdienstteilnehmer und ihre Lebenswirklichkeit (vgl. 3.2.1.) als auch auf das Predigtsubjekt und seine Lebenswirklichkeit (vgl. 3.2.2.) verwiesen und insofern von ihnen abhängig. Die Vielzahl der in diesen Perspektiven durch eine Kontextanalyse zutage tre63 

Vgl. dazu etwa Hetzel, Wirksamkeit (s. Anm. 43), 14. Weyel, Predigt (s. Anm. 18), 629. 65  Vgl. Ueding / Steinbrink, Grundriß (s. Anm. 40), 7. 64 

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tenden Einflussgrößen wird in der Rhetorik unter dem Begriff des Aptums (Angemessenheit) produktionstheoretisch reflektiert. Das Aptumprinzip kann als produktionstheoretisches Korrelat der Kontextanalyse verstanden werden. Für Gert Ueding und Bernd Steinbrink ist es das »grundlegende regulative Prinzip der Rhetorik«66. Von der Predigerin verlangt es, ihre Predigt konsequent auf deren Kontext abzustimmen: Sie hat möglichst alle Einflussgrößen ins Kalkül zu ziehen, die durch diese eröffneten Predigtmöglichkeiten zu bestimmen und ihre Predigt in diese zu entwerfen. So redet sie in einem anspruchsvollen Sinn ›im Kontext‹.

66 

Vgl. aaO., 221–226, hier 221.

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Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst Jochen Arnold

0. Hinführung: Musik als Herzensmacht Die faszinierende, vor allem emotionale Wirkung, die von Musik unterschiedlichster Stilistik ausgeht, ist keine Entdeckung der Moderne. Schon Martin Luther hat die Musica als eine »domina et gubernatrix affectuum humanorum« (eine »aller bewegung des Menschlichen hertzen […] Regiererin, ir mechtig und gewaltig«)1 bezeichnet und damit das affektive2 Potenzial benannt, das in der Musik steckt.3 Doch bevor sie das Herz erreichen kann, bedarf es ihrer sinnlichen Wahrnehmung. Musik gehört gehört. Musik kommt im Ohr zur Welt. Hat sie damit eine Nähe zur Religion? In der Zeitschrift GEO kann man lesen: »Jubel, Klage, Gebet, 1  Martin Luther, Praefatio zu den Symphoniae iucundae (1538), WA 50, 371 (deutsche Übersetzung von Johann Walter aaO., 370ff.). Zu ­Luthers Musikverständnis vgl. Christoph Albrecht, Die gottesdienstliche Musik, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber / Michael MeyerBlanck / Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 2003, 413–435 und Johannes Block, Verstehen durch Musik. Das gesungene Wort in der Theologie, Tübingen/Basel 2002. 2  Vgl. Jochen Arnold, Hoffnung, Furcht, Freude, Schmerz – Affekte in der protestantischen Kirchenmusik am Beispiel der Kantaten J.S. Bachs, in: Wolfgang Kabus (Hg.), Geistreiche Klänge – sinnliche Orte, Popularmusik und Kirche, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2008, 45–68 bzw. WA DB 10,1, 100.102. 3  Erstaunlicherweise beschäftigt sich die Musikforschung erst seit kurzer Zeit intensiv mit der Frage, was Musik psychologisch bzw. neurologisch im Menschen bewirkt. Die empirische Forschung testet in diesem Zusammenhang den sogenannten »Chill-effect«: Über die Messung des Hautwiderstands bzw. der Herzfrequenz können bestimmte musikalische Ereignisse in ihrer emotionalen Wirkung am Menschen überprüft werden.

Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst

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Feier, Beschwörung: Die Anlässe, die Stimmen zu erheben, sind so vielfältig wie die Lieder der Völker. Eines jedoch eint dabei Menschen aller Kulturen: die Überzeugung, dass Gesang eine Verbindung zu höheren Mächten schafft.«4 Dieser Spur wollen wir folgen und zwei Fragen nachgehen: Inwiefern sind der Musik gottesdienstliche Züge eigen? Welche Bedeutung hat die Musik im evangelischen Gottesdienst?5 Die trinitätstheologisch geordneten Kapitel werden jeweils von einer These eröffnet:

1. Musik als Gottesdienst – Schöpfungstheologische Annährung These I: Musik ist eine göttliche Gabe, die uns bewegt und eine Kunst, die wir gestalten. Singen tut dem Menschen gut und fördert Kinder in der Entwicklung. Musik kann uns selbst und andere mit Freude erfüllen und den Schöpfer verherrlichen. Musik hat eine dreifache »gottes-dienstliche Struktur«: Gott beschenkt uns damit, und wir können sie zur Freude Anderer und zur Ehre Gottes einsetzen.

1.1. Musik als Gottesgabe und Weltenklang Musik gehört zu den schönsten Gaben der Schöpfung. Luther nennt sie gar eine »Heil bringende und fröhliche Kreatur«6, ein Gottesgeschenk, das die Schöpfung mit Klang erfüllt und allen Geschöpfen, sogar den Fischen7, mitgegeben ist. 4  Johanna Romberg, Singen – Und jetzt alle, aus voller Kehle, in: GEO, 03/2007, 30–52, hier 44. 5  Dabei stellt sich auch die Frage, ob Kult und Musik nicht nur »religiös verwandt«, sondern womöglich gar austauschbar sind, vgl. Julius Smend, Der evangelische Gottesdienst. Eine Liturgik nach evangelischen Grundsätzen, Göttingen 1904, 151: »Durch die Wahrung des Selbstzwecks aller Kunst wird die Verwandtschaft dieser mit dem Kultus hergestellt.« 6  WA 50, 373. 7  Joachim-Ernst Berendt, Nada Brama – Die Welt ist Klang, Reinbek 1985, 99 beschreibt die Klangwelt der Fische: »Da gibt es ein Pfeifen und

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»ICH wolt von hertzen gerne diese schöne und köstliche Gabe Gottes, die freie Kunst der Musica, hoch loben und preisen. […] Erstlichen aber, wenn man die Sache recht betrachtet, So befindet man, dass diese Kunst von anfang der Welt allen und jglichen Creaturen von Gott gegeben, und von Anfang mit allen geschaffen, denn da ist nichten nichts in der Welt, das nicht ein Schall und Laut von sich gebe.«8

»Nichts ist ohne Klang«, schreibt Paulus.9 Und schon in den Psalmen wird deutlich, dass dem Kosmos Spuren der Transzendenz innewohnen und die Welt ein klingender Spiegel, ein vorsprachliches »Echo Gottes« ist (vgl. Ps 19,2–4; Ps 147). Die Ordnung und Schönheit der Musik zielt darauf, Menschen zu erfreuen und ihnen die Weisheit des Schöpfers sinnlich erfahrbar zu machen. Zuweilen haben sich die Reformatoren »Frau Musica« sogar als Person vorgestellt, die den Menschen an die Hand nimmt und in die Natur führt, um den lieblichen Gesang der Vögel und die Fantasie des Schöpfers zu entdecken (vgl. Evangelisches Gesangbuch [= EG], 319). Musik öffnet die Ohren für die Mitgeschöpfe und weitet den Blick für den Kosmos als klingende Schöpfung (musica mundana). Sie macht Freude und stärkt die eigene Identität: Gott redet uns durch sie an. Sie ist zentrales Medium einer Wahrnehmungskunst der Schöpfung.

1.2. Musik als kulturelle Aufgabe und Dienst am Menschen Doch lässt sich die Musik nicht nur als Gabe und Dienst Gottes, sondern auch als Aufgabe und Dienst des Menschen verstehen. Der Mensch singt und musiziert aktiv für sich und für andere. Musik ist nicht nur Geschenk, sondern auch Kunst(werk). Diese Grunzen, Klappern und Schnarchen, Klingen und Sägen, Trommeln und Basstrommeln, Tomtoms und Tamburins, Schreien, Pfeifen, Stöhnen und Ächzen.« 8  WA 50, 368f. 9  Vgl. Harald Schroeter-Wittke, Nihil est sine sono (1. Kor 14,10), Vorspiel einer musikalischen Religionspädagogik, in: ZPT 57 (2005), 575–588; vgl. Gotthard Fermor, Every nation shall sing, in: Verena Grüter /­ Benedict Schubert (Hg.), Klangwandel. Über Musik in der Mission, ­Hamburg/Frankfurt a.M. 2010, 61–75, hier 69.

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kulturelle Dimension der Musik ist uralt. Schon auf den ersten Seiten der Bibel finden wir unter den Viehzüchtern und Handwerksberufen den Barden10 Jubal (Gen 4,21), von dem es heißt: Von Jubal sind hergekommen alle Leier- und Flötenspieler.11 Johann Walter dichtet dazu: So hat Gott bald, bei Adams Zeit die Musica, zur Lust und Freud dem Jubal künstlich offenbart, der hat der Geiger, Pfeifer Art erfunden und sein Söhn’ gelehrt, dadurch die Kunst sich weit gemehrt.12

Mit diesem Gedicht sind vier Aspekte benannt: Musik ist eine »künstliche« Erfindung Gottes, sie verweist auf seine Offenbarung. Musik dient dem Menschen zur Lust und zur Freude, sie weckt »positive Energie«. Musik ist ars und bedarf deshalb der sorgfältigen Ausbildung. Nicht nur das Musizieren, sondern auch die musikalische Ausbildung ist ein Beziehungsgeschehen, das von Person zu Person weitergegeben wird.

1.3. Singen als elementare Lebensäußerung Ein zentraler Aspekt der Musik ist der Gesang. Wie »Essen, Trinken, Lachen, Spielen, Dichten und Denken, Lieben und Erkennen« gehört es zum menschlichen Leben in »seinem Allein-Sein und in seinem Mit-Anderen-Sein«13. Der menschliche Körper wird selbst zum ganzheitlichen Instrument. Hier wirken Kognition und Affekt, Leib, Seele und Geist in idealer Weise zusammen. Dass Singen Lust bereitet, ja dem Menschen in seiner persönli10 

Vgl. Hans Seidel, Art. Musik, Calwer Bibellexikon 2, 936. Diese Notiz deckt sich mit Ausgrabungen auf altsteinzeitlichen Wohnplätzen in der Nähe von Blaubeuren. Bruchstücke von Schwanenflügelknochen haben sich nach langjährigem Probieren zu Flöten zusammensetzen lassen, die sogar klingen. 12  Johann Walter, Sämtliche Werke, Bd. 6, Kassel 1970, 154. 13  Christa Reich, Singen heute. Vermischte Bemerkungen zu einem komplexen Phänomen, in: Wolfgang Ratzmann (Hg.), Lob – Klage – Verkündigung. Gottesdienstliche Musik in einer pluralen Kultur, Leipzig 2004, 159. 11 

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chen Entwicklung und Bildung dient, wird neuerdings auch von Neurologen bestätigt. Es fördert die »notwendige Integration der Funktionen von rechter und linker Gehirnhälfte, also von Intuition und Gefühl (rechts) und von kognitivem Denken (links)«14. Dies ist besonders pädagogisch relevant: Kinder, die in der frühen Adoleszenz musikalisch gefördert werden, entwickeln sich in der Regel sprachlich schneller und sind ausgeglichener als andere. Ja, sogar die soziale Kompetenz wird durch gemeinsames Musizieren und Singen signifikant gefördert. Kein Wunder, denn wer mit Anderen singt, lernt in intensiver Weise achtsam zuzuhören.

1.4. Singen als ästhetisch-theologischer Glücksfall Was macht menschliches Singen aus? Ein zentraler Aspekt besteht darin, dass wir nicht nur wie ein Baby lallen oder wie ein Vogel zwitschern können, sondern, dass schon beim Singen eines einfachen Liedes ein bestimmter Inhalt oder Text zur Aufführung kommt. Stimmklang und Melodie, Metrum und Rhythmus gehen dabei mit der Sprache eine intime Verbindung ein. Luther schreibt dazu: »In den unvernünftigen Tieren aber, Saitenspielen und anderen Instrumenten, da höret man allein den Gesang, Laut und Klang, ohne Rede und Wort. Dem Menschen aber ist allein vor den andern Kreaturen die Stimme mit der Rede gegeben, dass er sollt können und wissen, Gott mit Gesängen und Worten [verbo et musica] zu loben, nämlich mit dem hellen, klingenden Predigen und Rühmen von Gottes Güte und Gnade, darinnen schöne Worte und lieblicher Klang zugleich würde gehöret.«15

Der ästhetische Idealfall von Musik ist demnach die Synthese von Sprache und Klang in der Vokalmusik. Musik gewinnt durch den Logos an hermeneutischer Qualität,16 ohne dass damit die Dignität der Instrumentalmusik (vgl. 1.2) bestritten wäre.17 Doch auch 14 

AaO., 163. WA 50, 371. 16  Vgl. Block, Verstehen (s. Anm. 1), 24: »Theologie wird unter Gesang getrieben und kommt unter Gesang zum Verstehen.« Vgl. auch Ders., Geh aus, mein Herz, und suche Freud, in: LJ 77 (2010), 150–163, hier 157. 17  Vgl. Christoph Krummacher, Musik als praxis pietatis. Zum Selbstverständnis evangelischer Kirchenmusik, Göttingen 1994, 143. 15 

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in einem zweiten Sinn ist der menschliche Gesang ein Glücksfall, insofern nämlich als er Gott rühmen kann. Musik kann aber auch missbraucht werden und ihre Bestimmung, Menschen zu erfreuen und Gott zu ehren, verfehlen, wenn sie Menschen manipuliert bzw. indoktriniert oder sich die Ausführenden selbst verherrlichen. Dann verliert sie ihre gottesdienstliche Würde und Qualität.18 Dennoch: Musik ist eine der schönsten Gottesgaben und eine der hochkarätigsten Kunstformen des Menschen. Sie besitzt eine besondere affektive, therapeutische und hermeneutische Qualität. Ihr kerygmatisches und doxologisches Potenzial für den christ­ lichen Gottesdienst sind evident.

2. Musik im Gottesdienst – Kirchenmusik als klingendes Wort Christi These II: Das Evangelium ist kein papiernes Lesewort, die frohe Botschaft von Jesus Christus ist ein sinnliches Klangereignis. Deshalb nimmt die christliche ­Kirche die Musik als Gabe Gottes an und lässt sich durch sie in ihrer zentralen Versammlung bewegen. Als klingendes Wort Christi lädt die Kirchenmusik Menschen zum Glauben ein, tröstet und vergewissert. Klagend und lobend, flehend und dankend gibt sie dem dreieinigen Gott die Ehre.

2.1. Kirchenmusik als Verkündigung Als klingendes Wort hat das Evangelium eine hohe Affinität zur Musik. In seiner Vorrede zum Septembertestament (1522) schreibt Luther: »Euangelion ist ein kriechisch Wort, und heyst auf deutsch gute botschaft, gute mehr, gute neuzeytung, gutt geschrey, davon man singet, saget und fröhlich ist.«19 18  Vgl. dazu Peter Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu Christi versammelten Gemeinde, in: Leiturgia I, Kassel 1954, 302–307. Dennoch gilt: Abusus non tollit usum, vgl. Krummacher, Musik (s. Anm. 17), 16–20. 19  WA NT 6, 2. Das Singen steht hier prominent noch vor dem Sagen!

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Aber auch die Musik hat eine Affinität zum Evangelium, ja bringt es erst recht zum Leuchten. Die neutestamentlichen »Einsetzungsworte der Kirchenmusik« finden wir in Kol 3,16 (vgl. Eph 5,19). Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt: »Das Wort Christi wohne reichlich unter euch. In aller Weisheit lehrt und lenkt einander mit Psalmen, Hymnen und geistgewirkten Liedern. Mit Anmut singt in euren Herzen vor Gott.«

Das musikalische Amt, das grundsätzlich allen Christen aufgetragen ist, hat daher einen prominenten Anteil an der Verkündigung der Kirche. Kirchenmusik redet nicht nur über Christus, Christus selbst teilt sich durch die Musik der Gemeinde mit. »So predigt Gott das Evangelium auch durch die Musik.«20 J.S. Bach schreibt treffend an den Rand seiner Bibel zu 2Chr 5,13: »NB. Bey einer andächtigen Musique ist Gott allezeit mit seiner Gnaden=Gegenwart!« Kirchenmusik ist daher für eine sich durch das Wort konstituiert wissende ­Kirche unverzichtbar. Sie bezeugt Christus, ja Christus bezeugt sich selbst durch sie. 21 Ein breiter Traditionsstrom evangelischer Kirchenmusik kennt diese christologisch-verkündigende Dimension. Unter den Festliedern seien exemplarisch Vom Himmel hoch (EG 24) und Erstanden ist der Heilge Christ (EG 105) genannt. Luthers Nun freut euch, lieben Christen g’mein (EG 341) singt die frohe Botschaft den Menschen unmittelbar in die Herzen: in einer poetischmusikalischen Inszenierung22 des Rechtfertigungsgeschehens in dialogischer bzw. trialogischer Form. Darüber hinaus gibt es »verkündigende Gattungen« im Bereich kirchenmusikalischer Kompositionen: Zu ihnen gehören die Evangelien- und Epistel­ motetten der Barockzeit, die das biblische Wort für den jeweiligen Sonntag 20  WA TR 2, 1258 (»Sicut praedicavit Deus evangelium etiam per Musciam«). 21  Vgl. Eduard Schweizer, Der Brief an die Kolosser (EKK), Neukirchen, Zürich 1976, 156f: »Subjekt solchen Gottesdienstes ist nicht eigentlich die Gemeinde, […] sondern das Wort Christi selbst. Es ist das, was Paulus das ›Evangelium‹ nennt […]«. Der Ausdruck logos tou Christou ist also im Sinne eines doppelten Genitivs zu deuten: als ein »Wort, das von Christus zeugt« (gen. obj.), ja sogar als »Wort das Christus selbst redet« (gen. subj.). 22  Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 22004, 193ff.

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im Kirchenjahr wörtlich aufnehmen. Zahlreiche Kantaten J.S. Bachs, G.P. Telemanns u.a. lassen sich als interpretierende Auslegung und Aneignung des Evangeliums begreifen. 23 Aber auch Kompositionen des 19.–21. Jahrhunderts, z.T. für den Konzertsaal geschrieben, können als »religiöse Musik«24 diese Dimension erfüllen.

Orgel und Chor stehen damit »auf Augenhöhe« neben Kanzel, Taufstein und Altar, was in der Kirchenarchitektur bisweilen durch den Ort der Orgel im Chorraum akzentuiert wurde. Kirchenmusik hat, nach evangelischem Verständnis, also eine grundlegende verkündigende Aufgabe und einen gleichsam sakramentalen Charakter. Singen ist geradezu ein Kennzeichen von Kirche. 25

2.2. Kirchenmusik als Lob und Klage Dies ist freilich nur die eine Linie, die es für die Musik beim Evangelium zu bedenken gilt. Denn die berühmte Stelle aus Kol 3,16 lässt sich auch anders übersetzen: »Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. Belehrt und ermahnt einander in aller Weisheit! Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt, denn ihr seid in Gottes Gnade.« (Einheitsübersetzung)

23  Vgl. dazu Jochen Arnold, Von Gott poetisch-musikalisch reden. Gottes verborgenes und offenbares Handeln in J.S. Bachs Kantaten, Göttingen 2009, 60–77. 24  Vgl. dazu Oskar Söhngen, Theologie der Musik, Kassel 1967, 171– 178, mit der Unterscheidung von religiöser Musik, gläubiger Musik und Kirchenmusik in Abgrenzung von Karl Gustav Fellerer, Geschichte der katholischen Kirchenmusik, Düsseldorf ²1956, der von »Musik des Gottesdienstes«, »Musik im Gottesdienst« und »Musik zum Gottesdienst« spricht. Wir folgen hier keiner der beiden Unterscheidungen und sprechen von Musik (vgl. 1.) und Kirchenmusik (vgl. 2.) bzw. geistlicher Musik (vgl. 3.). 25  Vgl. WA 31/1, 141 zu Ps 118. Kennzeichen von ­K irche sind dort »predigen, Gott loben, dancken, singen, teuffen, sacrament reichen und nehmen, straffen, trösten, beten, und was zur seligkeit gehöret«. Das Singen steht dabei prominent noch vor den Sakramenten.

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So abgetrennt und interpunktiert ist der erste erläuternde Satz (»belehrt und ermahnt«) auf die Wortverkündigung bezogen. Darauf antwortet das an Gott gerichtete Lob in seinen unterschiedlichen musikalischen Formen (»singt dankbar«). 26 Diese doxologische Bestimmung der Musik findet sich in allen anderen christlichen Konfessionen. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Kirchenmusik immer an den biblischen Psalmen orientiert hat, die im Hebräischen ja mit dem Begriff »Tehillim« (= Preisungen) überschrieben sind. Mit den gregorianischen Psalmen des Stundengebetes, aber auch mit kunstvollen Psalmmotetten und -kantaten wurde in über 1000 Jahren Musikgeschichte eine Fülle von Kompositionen geschaffen, die wohl mehr als die Hälfte aller geistlichen Musik ausmacht. Im EG gibt es neben den 37 Psalmgesängen, die viele Loblieder enthalten (vgl. z.B. EG 270, 302), eine eigene Rubrik »Loben und Danken« (EG 316–335).

Damit haben wir die Bedeutung der gottesdienstlichen Musik auf dem Hintergrund des Augustin zugeschriebenen Satzes »Bis orat qui cantat« (»Doppelt betet wer singt«) interpretiert. Allerdings gehören, gerade wenn man Psalmvertonungen betrachtet, auch der klagende Ruf aus der Tiefe (vgl. Ps 22 bzw. EG 381 oder Ps 130 und Bachs Kantate BWV 131) und die flehende Bitte ebenso zum gesungenen Gebet wie Lob und Dank. Ein Lob ohne Klage wäre enthusiastisch und weltfern, aber auch das Kyrie ohne das Gloria wären »unevangelisch«. So ginge man an Weihnachten und Ostern fast achtlos vorbei. Geistliche Musik kann also Anrede und Antwort, musikalische Predigt und gesungenes Gebet, klingendes Sakrament zur »Recreation des Gemüths« (J.S. Bach) und hymnisches Lob sein. Die Kirchenmusik hat somit katabatische und anabatische Funktion. 27 26  Ein dezidiert dialogisches Gottesdienstverständnis, das sich am prägnantesten in Luthers Torgauer Formel findet (vgl. WA 49, 588), könnte diese Interpretation unterstreichen. Es deckt sich mit der Liturgiekonstitution des II. Vatikanum: »In Liturgia enim Deus ad populum suum loquitur; Christus adhuc Evangelium annuntiat. Populus vero Deo respondet tum cantibus tum oratione.« (SC 33, DH 4033). 27  Vgl. dazu Jochen Arnold, Theologie des Gottesdienstes, Hannover ²2008, 19–22; 254–258 u.ö.

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2.3. Kirchenmusik als österliches Ereignis Doch was befähigt und motiviert uns dazu, dieses klingende Wort Christi in seinem ganzen Reichtum musikalisch zu verbreiten? Luther schreibt: »Singet dem Herrn ein neues Lied. Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.«28

Evangelisches Singen und Sagen hat also stets mit dem österlichen Sieg zu tun und mit der Freude, die daraus entsteht. Die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders, die heilsame Nachricht vom Tod des Todes und dem geöffneten Himmel sind Voraussetzung allen Singens und Musizierens. Deshalb ist jeder Gottesdienst ein kleines Osterfest, das hymnische Christ ist erstanden tragender cantus firmus christlicher Existenz. Für die Zukunft unserer ­K irche wird es entscheidend sein, das Singen (wieder) als etwas Ansteckendes zu entdecken. Wo Christen das österliche Lied der Freude begeistert und voller Hoffnung anstimmen, ist ­K irche nicht nur erkennbar, sondern auch attraktiv: Als klingende ­K irche bleibt sie nicht bei sich, sondern öffnet sich auch einladend-missionarisch für die Welt, damit es auch andere hören und dazukommen.

3. Kirchenmusik als Dienst des Heiligen Geistes an ­Kirche und Gesellschaft Kirchenmusik ist auch eine zentrale Lebensäußerung von ­Kirche im gottesdienstlichen Alltag. These III lautet: Gott, der heilige Geist, dient dem Einzelnen, der ­Kirche und unserer Gesellschaft durch die Musik. Als Poet und Cantor 29 gebraucht er das musi28  WA 35, 477 (Hervorhebung J.A.) (Vorrede zum Babstschen Gesangbuch [1545]). 29  Vgl. WA 17/2, 306.

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kalische Charisma einzelner Christen: 30 So bezeugt, wirkt und bewahrt Gottes Geist Glauben, versammelt seine Kirche, tröstet und orientiert sie, ja prägt auch die Kultur dieser Welt und eröffnet Visionen einer neuen Welt.31 Musikalische »Auditionen des ewigen Lebens« gibt es an vielen Orten: in der Jugendgruppe oder im Seniorenkreis, am Krankenbett oder in der Chorprobe, bei einem Seminar der Erwachsenenbildung, einer Friedensdemonstration oder einem geistlichen Konzert.

3.1. Das gemeindebildend-integrative Potenzial der Musik Beim Singen und Musizieren in Chören und Ensembles kommen Menschen unterschiedlicher Frömmigkeit, Altersgruppen und Milieus32 zusammen. Sie finden wieder oder neu religiöse »Heimat«, weil sie die Erfahrung machen, dass es gut tut, nicht nur auf sich selbst, sondern auf andere zu hören und im Medium der Musik etwas von der Freundlichkeit Gottes zu spüren. Sie lassen sich anrühren, spüren neue Hoffnung und Begeisterung. 33 Kinderchöre sind die am stärksten wachsenden Gruppen der Gegenwart. Aber auch die oft vermissten 30–50-jährigen lassen sich durch kirchenmusikalische Angebote ansprechen. In Posaunen30  Vgl. Krummacher, Musik (s. Anm. 17), 138: »Die Charismen löschen die Natürlichkeit des Menschen nicht aus, sondern rechnen mit den je eigenen Gaben […] des Menschen und nehmen sie in den Dienst der Gemeinde.« 31  Peter Bubmann, Von Mystik bis Ekstase, München 1996, 161f: »Der Heilige Geist ist die Lebenskraft Gottes. Er führt zum Glauben, lässt die Wahrheit Gottes in Jesus Christus erkennen. […] Musik im Heiligen Geist hat Anteil an allen diesen Geisteswirkungen. Als spirituelle Musik erleuchtet sie Menschen zum Glauben, vermittelt starke Gemeinschaftserfahrungen, stärkt ihren Lebensmut, tritt für das Recht aller Menschen ein und läßt Auditionen des ewigen Lebens erklingen.« 32  Vgl. dazu Jochen Arnold, Was geschieht im Gottesdienst, Göttingen 2010, 33–38 bzw. Claudia Schulz / Eberhard Hauschildt, Milieus praktisch, Göttingen 2008. 33  Vgl. dazu Petra Angela Ahrens, BeGeisterung durch Gospelsingen. Erste bundesweite Befragung von Gospelchören, hgg. v. Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, Hannover 2009.

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chören sind oft drei Generationen quer durch die Frömmigkeitsstile vertreten. Kirchenmusik ist daher ein unverzichtbares Mittel für den Gemeindeaufbau.

3.2. Das therapeutisch-seelsorgliche Potenzial der Kirchenmusik Musik hat aber auch seelsorglich-therapeutische Kraft,34 sei es, dass sie durch das Singen und Spielen aktive Partizipation ermöglicht,35 sei es, dass sie durchs Hören tröstet und zur Ruhe kommen lässt. Musik beim Evangelium kann Gefühle des Schmerzes oder der Freude ausdrücken oder auslösen, und Trost spenden, indem Menschen so angerührt werden, dass es »besser mit ihnen wird« (vgl. 1Sam 16,23). Diese seelsorgliche Dimension erweist sich am Kranken- oder Sterbebett, besonders aber im Blick auf Kasualgottesdienste als besonders tragfähig. 36 Es geht um eine »Einstimmung« und »Neustimmung« im besten Sinne des Wortes, um gestaltete Atmosphäre, in der Raum ist für Trauer und Klage, ebenso wie für Glück und Trost, mithin Raum für eine Begegnung mit dem heilenden und helfenden Gott.

3.3. Das kulturell-bildende Potenzial der Kirchenmusik Kirchenmusik trägt fundamental zur Kulturwirksamkeit und zur Prägekraft der ­Kirche bei. Konfessionelle Identität und kulturelle Ausstrahlung sind in der Kirchenmusik stets beieinander. Mit Bachs Passionen, Händels oder Mendelssohns Oratorien hält Kirchenmusik Inhalte biblischer Botschaft in der gesellschaftlichen 34  Vgl. Michael Heymel, In der Nacht ist sein Lied bei mir. Musik und Seelsorge, Waltrop 2004; Emmanuela Kohlhaas, Kann Kirchenmusik heilsam sein? Kirchenmusik und Musiktherapie, in: Winfried Böntig (Hg.), Musik im Raum der Kirche, Stuttgart 2007, 220–223. 35  In dem Wissen, dass durch das aktive Musizieren eine Katharsis einsetzen kann, die den Menschen neu zu sich und zu Gott finden lässt, schreibt Luther an den Organisten Matthias Weller einen Trostbrief, der den berühmten Satz enthält: »Aus, Teufel, ich muß itzt meinem Herrn Christo singen und spielen.« (WA Br 7, 105) 36  Vgl. dazu Stephan A. Reinke, Musik im Kasualgottesdienst, Göttingen 2010, besonders 194–199 und 220f.

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Öffentlichkeit präsent. Zugleich ist die Musik ein wichtiger Sympathiefaktor, da durch die Mitwirkenden vielfach neue Brücken in Bereiche des gesellschaftlichen Lebens geschlagen werden. Zugleich wird die eigene Identität im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsgeschehens vergewissert.37

3.4. Das prophetisch-visionäre Potenzial der Musik Kirchenmusik besitzt auch prophetisch-visionäres Potenzial. Als selbstständige Klangrede wirkt sie nicht nur stabilisierend auf kirchliche und gesellschaftliche Verhältnisse, sondern kann und soll auch aufstören und konfrontieren, zweckfrei Neues präsentieren und zum Aufbruch rufen. Beispielhaft sei an das Lied We shall overcome erinnert, das die schwarze Widerstandsbewegung der 1960er-Jahre um Martin Luther-King begleitet und gestärkt hat. Aber auch die Avantgarde, die »Neue Musik« des 20. und 21. Jahrhunderts, bildet eine wichtige Gegenstimme. Sie manifestiert – gerade mit dissonanten und sperrigen Klängen und Rhythmen – ein Stück Gegenkultur zum Zeitgeist.

3.5. Das sinnlich-ekstatische Potenzial der Musik Die Musik besitzt auch eine besondere Affinität zur Ekstase, was nicht erst an urchristlichen Gottesdiensten (vgl. 1Kor 14), sondern schon aus alttestamentlichen Schilderungen prophetischer Verzückung deutlich wird, wie am Beispiel Sauls zu sehen ist (vgl. 1Sam 10,5–11), der sich von einer Schar tanzender und musizierender junger Propheten zur Ekstase hinreißen lässt. Auch an den Tanz Davids bei einer Tempelprozession zum Einzug der Lade ist zu erinnern (vgl. 2Sam 6,15), der es damit der Miriam und ihren Gefährtinnen (vgl. Ex 15,21) gleichtut. Ekstase muss übrigens nicht unbedingt mit »chaotischen Zuständen« zu tun haben, die nicht mehr kontrollierbar sind und deshalb aus dem Gottesdienst bzw. der ­Kirche fern gehalten werden. In gewisser Weise ist sogar das 37  Vgl. dazu Peter Bubmann, Religiöse Bildung im Medium von Musik, in: Ders., Musik – Religion – Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive, Leipzig 2009, 83–88.

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Gegenteil der Fall: Musikalische Ekstase kann eine neue, »höhere Ordnung« in unser Gehirn und unser Leben hinein bringen.38

3.6. Das vielstimmige und grenzüberschreitende Potenzial der Musik Gottes Geist befähigt Menschen mit vielfältigen Gaben und bringt verschiedene Generationen und Milieus beim Musizieren zusammen, er überschreitet auch Grenzen bisheriger Erfahrung, indem er uns in einen weiten musikalischen Raum stellt. Das spirituelle Klangspektrum reicht von der archaischen Gregorianik bis zum komplexen Jazz, von der barocken Polyphonie bis zum begeisternden Gospel, vom meditativen Choral bis zum aktuellen Rap. Es gibt keinen Musikstil, der in dieser Hinsicht sakrosankt oder kirchlich völlig ungeeignet wäre. Auf den angemessenen »geistlichen« Gebrauch wird es ankommen! Wenden wir uns nach diesen grundsätzlichen Überlegungen dem konkreten Gottesdienst und seinen Formen zu. Wir haben dabei den sonntäglichen Normalfall vor Augen und unterscheiden drei Aspekte: Gemeindegesang, vokale und instrumentale Musik im Gottesdienst. Die oben vorgenommenen Unterscheidungen der Musik als Gabe und Aufgabe (vgl. 1.), Verkündigung und Gebet (vgl. 2.), Charisma des Einzelnen und der Gemeinde (vgl. 3.) werden dabei vorausgesetzt.

4. Musik im Gottesdienst – eine Skizze 4.1. Das Lied der Gemeinde Der gewichtigste Teil des evangelischen Gottesdienstes, der durch Musik geprägt wird, ist der Gemeindegesang.39 Ohne das Singen wäre die aktive Gemeindebeteiligung am Gottesdienst häufig nur 38  Vgl. Robert Jourdain, Das wohltemperierte Gehirn, Heidelberg/ Berlin 2001, 399. 39  Vgl. dazu jetzt Klaus Danzeglocke (Hg.), Singen im Gottesdienst. Ergebnisse und Deutungen einer empirischen Untersuchung in evangelischen Gemeinden, Gütersloh 2011. Die meisten der von der Universität Pa-

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sehr marginal. Die Schaffenskraft von Komponisten und Dichtern im Bereich des Kirchenliedes ist bis heute ungebrochen. Einen wichtigen Einschnitt markiert der Anfang der 1960er-Jahre. Seither sind zahllose Neue Geistliche Lieder in popularmusikalischem Gewand geschrieben und verbreitet worden.40 Folgende Orte im Gottesdienst sind denkbar für den gemeind­ lichen Gesang: 1) Die Gemeinde artikuliert mit dem Eingangslied Freud und Leid, aber auch konkrete Erwartungen angesichts des Sonntags im Kirchenjahr. Oft beginnt sie mit einer Anrufung Christi (vgl. EG 155) oder des Heiligen Geistes (vgl. EG 156). Ein Morgenlied kann an die Schöpfung (vgl. EG 455), an Ostern (vgl. EG 162) oder an die Ewigkeit (vgl. EG 450) erinnern. 2) Kaum eine Liedgattung wird in allen Konfessionen so reich gepflegt wie das Psalmensingen. Man unterscheidet den nah am biblischen Text entlanggehenden Liedpsalm (vgl. EG 270) vom etwas freieren Psalmlied (vgl. EG 289). Das Spektrum reicht hier von der abgründigen Klage (vgl. EG 299) bis zum überschwänglichen Lob (vgl. EG 302). 3) Im zweiten Teil des Gottesdienstes (Verkündigung und Bekenntnis) finden sich häufig Lieder, die in besonderer Weise das Gepräge des jeweiligen Sonntags oder Festtags aufnehmen. Weihnachten, Passion und Ostern, aber auch Himmelfahrt und Pfingsten sind ohne ihre Lieder nicht denkbar. Zunehmende Bedeutung gewinnen Lieder, die biblische Themen erzählend zu Gehör bringen (vgl. EG 311–314), oder aber eine aneignende Antwort auf das Evangelium formulieren (z.B. EG Württ. 656). Sie setzen damit

derborn befragten Menschen singen gern oder sehr gern (über 90 Prozent), vgl. aaO., 34. 40  Was die adäquate Ausführung neuer Lieder angeht, hier nur so viel: Ein Klavier oder Keyboard (vielleicht auch eine Gitarre mit Melodieinstrument) erweist sich zur Begleitung dieser Lieder oft besser geeignet als die Orgel. Es gehört deshalb neben der Orgel in jeden Gottesdienstraum. Fast noch wichtiger ist es, dass ein/e Vorsänger/in oder ein kleiner Chor die Gemeinde zum Singen des neuen Liedes anleiten.

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thematische Akzente oder laden dazu ein, das in Lesung und Predigt Gehörte im Vertrauen und Lob aufzunehmen. 4) Die Feier der Sakramente gehört – neben der Predigt – zu den geprägten Höhepunkten eines evangelischen Gottesdienstes. Lieder zu Taufe und Abendmahl geben dieser Feier einen festlichen Glanz. Sie können die Gabe des Sakraments poetisch-musikalisch darbieten, zum Glauben einladen (vgl. EG 201; 225), das Geschenk Gottes aneignen und bekennen (vgl. EG 200) oder aber Gott dafür loben und preisen (vgl. EG 215; 229). 5) Im Sendungsteil des Gottesdienstes lassen sich drei liturgische »Typen« unterscheiden. Am umfangreichsten ist die Reihe der Segensbitten (EG 170; 171 u.a.), die sich an Luthers Antiphon Verleih uns Frieden (EG 421) anschließen. Es gibt aber auch explizite Segenslieder, in denen sich die Gemeinde den Segen Gottes zusingt (z.B. EG Württ. 563). Zu den populärsten Liedern gehört Klaus-Peter Hertzschs Sendungslied Vertraut den neuen Wegen (EG 395). Die Gemeinde wird in diesen Liedern ermutigt, das im Gottesdienst Erfahrene im Alltag zu leben und weiterzusagen. 6) Eine besondere Bedeutung haben schon lange Vertonungen des Ordinariums der Messe (Kyrie – Gloria – Credo – Sanctus/Benedictus – Agnus Dei). Sie verleihen den wiederkehrenden Formen des Gottesdienstes festlichen Glanz und stärken das rituelle Moment des Gottesdienstes. Zu beachten ist dabei, dass hier – auch im evangelischen Bereich! – durchaus verschiedene Kompositionen eingesetzt werden können (vgl. EG 178–190). Ein mehrstrophiges Kyrielied kann z.B. den Bußcharakter betonen bzw. den Sinn des Kyrie entfalten, sich aber auch mit dem Psalmgebet verbinden. Der Psalmgesang wird in der Regel durch das sog. Gloria patri (Ehr sei dem Vater) abgeschlossen; auf die Lesungen antworten Rufe wie das Halleluja. Einzelne Teile können auch vom Liturgen bzw. von Kantor / in oder Chor übernommen werden.

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4.2. Solo- und Chorgesang Der zweite Bereich, in dem vokalgebundene Musik zum Einsatz kommt, ist der Chor- und Sologesang.41 Folgende Inszenierungsoptionen sind zu bedenken: 1) Chor- oder Sologesang kann additiv in die Liturgie eingefügt werden, etwa nach dem Eingangsgebet bzw. der Epistel, nach der Lesung des Evangeliums oder nach der Predigt, aber auch schon nach dem Vorspiel der Orgel. Vielfach antwortet der Chor damit anstelle der Gemeinde auf die Anrede durch das göttliche Wort. 2) Außerdem kann der Chorgesang Gemeindelieder ganz oder teilweise ersetzen.42 Dann tritt die Gemeinde hörend zurück, das dialogische Wechselspiel des Gottesdienstes bekommt so einen anderen Akzent. Eine besonders prominente Rolle spielt dabei das Messordinarium. Festliche Vertonungen haben im Laufe der Musikgeschichte die Struktur der Liturgie musikalisch erhellt, auf ihre Biblizität verwiesen und zugleich Konfessionsgrenzen überschritten. 3) Auch als Ersatz für ein instrumentales Vor- oder Nachspiel ist Chorgesang denkbar. Die Gemeinde wird dann musikalisch begrüßt oder in den Alltag hinaus geleitet. Diese »klassische« Funktion hatte und hat der Introitus, bei dem der Chor den Sonntagspsalm in einer einstimmigen oder mehrstimmigen Vertonung zur Aufführung bringt und die Gemeinde damit auf das Spezifische (Proprium) des Sonntags einstimmt. Insgesamt kann der Chor im Grunde alle liturgischen Rollen einnehmen, er kann verkündigen und biblische Geschichte erzählen, d.h. Schriftlesungen ersetzen; er kann mit oder anstelle der Gemeinde Gott bitten und danken, klagen und loben, aber auch 41 

Der doxologischen Dimension der gottesdienstlichen Musik (vgl. 2.2.) folgend, kann der Chor der Gemeinde den Rücken stärken. Der kerygmatischen Dimension (vgl. 2.1.) entspricht es, im Chorraum der Gemeinde gegenüber zu treten. Je nach dem, wie die räumlichen Gegebenheiten sind und welche Stücke gesungen werden, sollte man darin unbedingt abwechseln. 42  In der Regel wird ein vierstimmiger Chor(al)satz alternativ zwischen einzelne Choralstrophen eingefügt. Man tut gut daran, besonders in langen Festgottesdiensten oder Gottesdiensten mit besonderen Anlässen von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.

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mit der Gemeinde den Glauben bekennen oder den Segen musikalisch zusprechen. Wir können somit gleichsam eine prophetische und priesterliche Funktion des Chors erkennen.

4.3. Instrumentalmusik Nachdem wir die kulturelle (vgl. 1.2. und 3.3.), therapeutische (vgl. 3.2.) und ekstatische (vgl. 3.5.) Bedeutung der (Instrumental) musik bereits hervorgehoben haben, fragen wir: Welche liturgietheologische und dramaturgische Bedeutung hat instrumentale Musik (z.B. Orgel, Band, Posaunenchor, andere Ensembles) im evangelischen Gottesdienst? Eine Popballade kann, ebenso wie eine Orgelimprovisation, eine »verdichtete Atmosphäre« schaffen, Empfindungen der Gemeinde aufnehmen oder auslösen, Verkündigung unterlegen oder interpretieren. Instrumentalmusik kann trösten und zur Ruhe bringen, sie kann aufrütteln oder Erschütterung widerspiegeln, auch wenn sie vielleicht nicht unmittelbar Orientierung in einer konkreten Situation geben kann. Immerhin kann »nonverbale Musik […] gesprochene Aktionen im Gottesdienst ersetzen oder vertreten, indem sie entweder an verbale Darstellungen erinnert oder die Geste der vertretenen verbalen Äußerungen übernimmt.«43 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Musik simultan zu gesprochenen Aktionen gespielt wird und dadurch in einen unmittelbaren Dialog mit dem Wort kommt. Ihren bekanntesten Ort hat die Instrumentalmusik am Beginn bzw. am Ende des Gottesdienstes.44 Sie kann sowohl zum Einzug einer Gruppe erklingen oder von allen im Sitzen »genossen« werden. Im Idealfall kann die Musik zu Beginn in die gottesdienstliche Situation »einstimmen«, indem sie den Ort des Sonntags im Kirchenjahr bzw. das Thema des Gottesdienstes anklingen lässt. 43  Evangelisches Zeremoniale: Liturgie vorbereiten – Liturgie gestalten – Liturgie verantworten, hgg. v. Zeremoniale-Ausschuss der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2004, 64. 44  Ursprünglich wurde die (tragbare) Orgel als Prozessionsinstrument bei kaiserlichen oder königlichen Einzügen eingesetzt und gelangte in dieser Funktion auch in den evangelischen Gottesdienst, ehe sie im 17. Jahrhundert zunehmend zur Begleitung der Gemeinde eingesetzt wurde.

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Beim Nachspiel sind sowohl rhythmisch-beschwingte als auch meditativ-nachdenkliche Klänge denkbar, die den Übergang in den Alltag begleiten. Ihre prominenteste Bedeutung hat Instrumentalmusik in der Begleitung und Vorbereitung des Gemeindegesangs. (Choral)vorspiele oder Intonationen exponieren die Melodie und den Charakter des Liedes und laden die Gemeinde zum Singen ein. Bei weniger bekannten neuen oder alten Liedern empfiehlt sich neben der instrumentalen auch eine kantorale bzw. chorische Anleitung und Unterstützung, die der Gemeinde das Singen erleichtert, ohne daraus eine Probe zu machen. Ein wichtiger Ort ist die Situation nach der Predigt. Instrumentales Zwischenspiel kann Gehörtes nachklingen lassen oder gar deuten und auslegen. Klassischer Ort für die Ausführung instrumentaler Musik ist ferner die Austeilung des Abendmahls (sub communione). Was über Jahrhunderte hinweg die Orgel bzw. auch chorische Musik ausgefüllt hat, kann auch eine Band oder ein Soloinstrument leisten. Ein Sonderfall ist das simultane oder dialogische Spielen instrumentaler Musik zu den Lesungen. Dieses Element muss in der Balance der Kräfte unbedingt geprobt und technisch vorbereitet sein. Solche Inszenierungen helfen dazu, biblische Texte in einer »un-erhörten« Weise neu lebendig zu machen.

4.4. Kriterien zum liturgischen Gebrauch von Musik Im Blick auf den Einsatz von Musik sind für alle Gottesdienste folgende Fragen relevant: 1) Dient ein Musikstück oder Lied der dialogischen Kommunikation des Evangeliums, d.h. hilft es dazu, dass Anrufung, Verkündigung und Lobpreis in einem lebendigen Zusammenspiel geschehen können? 2) Dient die Musik einem dramaturgischen Spannungsbogen, der Menschen in eine Begegnung mit dem Heiligen hineinnimmt? 3) Eröffnet die Musik Möglichkeiten zur Beteiligung der Gemeinde?

Musik und Gottesdienst – Musik im Gottesdienst

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4) Kann die Musik integrativ wirken, d.h. Generationen und Milieu übergreifend Menschen ansprechen? Oder ist sie geeignet, einer Zielgruppe besonders gerecht zu werden? 5) Ist ein Bezug zur Gegenwart erkennbar? Tritt die Musik in einen kritischen Dialog mit der Kultur der Gegenwart? Kann sie gegebenenfalls auch aktuelle Nöte oder Katastrophen aufnehmen? Ist sie in ihrer Thematik besonders relevant? Wenn es so etwas wie eine Magna Charta der Musik in theologischer und anthropologischer Perspektive gibt, dann folgender Leitsatz Johann Walters: »Aufs erst zu Gottes Lob und Ehr, danach dem Leib zu Nutz und Lehr!«45

5. Summa mit Paul Gerhardt Eine Liedstrophe von Paul Gerhardt (EG 324,1) bündelt vier Dimensionen der Kirchenmusik in ihrer liturgischen und spirituellen Bedeutung: »Ich singe dir mit Herz und Mund.« Das beste und höchste Ziel jeder Musik ist es, Gott zu loben und ihm die Ehre zu geben. Menschen erheben ihre Herzen und machen mit bewegenden Klängen und inspirierten Rhythmen den Schöpfer groß. Wer singt, betet doppelt! Mit dieser hymnischen Dimension korrespondiert die verkündigende: »Ich sing und mach auf Erden kund!« Das besondere Profil protestantischer Kirchenmusik ist die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Sie lädt zum Glauben ein und ermutigt zu einem erfüllten Leben mit Gott. Den beiden liturgischen entsprechen zwei spirituelle Aspekte des Singens:

45  Walter, Werke (s. Anm. 12), Bd. 6, 154; vgl. Joachim Stalmann, Musik beim Evangelium, in: Für den Gottesdienst 48 (1996), 36–43.

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»Herr meines Herzens Lust!« Wenn ein Mensch vor Gott singt und musiziert, geschieht das nicht nur mit der Stimme oder mit den Händen; vielmehr kommt der ganze Mensch zum Klingen, summt und lacht, jubelt und klatscht, hüpft und tanzt. Kirchenmusik macht Freude; sie darf im besten Sinne des Wortes lustvoll sein und be-geistern. »Was mir von dir bewusst.« Evangelische Kirchenmusik eröffnet uns neue Zugänge zu den Inhalten des Glaubens. So geschieht Vergewisserung und »Bewusstseins-Bildung«; wir werden durchklungen vom »Sound des Geistes«, der uns geistlich und geistig aufbaut und bildet.

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Gottesdienst und Segen Ulrich Heckel

Wenn vom ›Segen‹ die Rede ist, kann Unterschiedliches gemeint sein.1 Am Erntedankfest oder bei Geburtstagsglückwünschen wird die Wortfamilie ›Segen‹ als umfassender theologischer Begriff für Fruchtbarkeit, Gesundheit, Glück, Erfolg, Bewahrung und gelingendes, erfülltes Leben gebraucht. Im Gottesdienst geht es um Segensworte, die gesprochen werden. Wird ein Segenswort mit einer Gebärde verbunden, so handelt es sich um eine Segensgeste, die entweder im Heben der Hände zur Gemeinde oder bei einer einzelnen Person in der Handauflegung bestehen kann. Damit dient das Wort ›Segen‹ einerseits als theologischer Oberbegriff, andererseits als liturgischer Fachterminus für einen Teil des Gottesdienstes. Dabei kommt der Segen in der gottesdienstlichen Praxis in vier unterschiedlichen Zusammenhängen vor, nämlich 1. als Gegenstand von Bitte und Dank, z.B. in Gebeten und Gesangbuchliedern 2 oder am Erntedankfest; 2. als allgemeiner Schlusssegen 1  Kirchenrat Dr. Frank Zeeb danke ich für die kritische Durchsicht. Vgl. zum Ganzen Magdalene L. Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 1998; Dorothea Greiner, Segen und Segnen. Eine systematisch-theologische Grundlegung, Stuttgart u.a. 1998; Evangelischer Oberkirchenrat (Hg.), Segnen. Eine Arbeitshilfe, Stuttgart 2001; Ulrich Heckel, Der Segen im Neuen Testament. Begriff, Formeln, Gesten. Mit einem praktisch-theologischen Ausblick (WUNT 150), Tübingen 2002; Martin Leuenberger, Segen und Segenstheologien im alten Israel (AThANT 90), Zürich 2008. 2  Vgl. Evangelische Landeskirche in Württemberg (Hg.), Evangelisches Gesangbuch: Antwort finden in alten und neuen Liedern, in Texten und Bildern, Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996, Nr. 163; 170; 171; 174 und z.B. im Württ. Regionalteil 563; 564; 565.

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im Gottesdienst; 3. bei Kasualien als lebensgeschichtlich veranlassten Segenshandlungen; 4. bei besonderen Segnungs- und Salbungsgottesdiensten. Das deutsche Wort ›segnen‹ leitet sich aus dem mittelalterlichen Kirchenlatein ab von »(cruce) signare« = »(mit dem Kreuz) bezeichnen.« In der Bibel werden dafür die Wortfamilien hebr. ›brk‹, griech. ›eulogeín‹ (eßlogeçn), lat. ›benedicere‹ gebraucht, die in ihrer Grundbedeutung ›gut reden‹ heißen und je nach Subjekt unterschiedlich zu übersetzen sind. Ist Gott das handelnde Subjekt, so heißt es ›segnen‹, ist es ein Mensch, so bedeutet es ›loben‹ bzw. ›preisen‹. Selbstverständlich ist aus der jüdischen Tradition die Wechselbeziehung zwischen Segenserfahrung und Gotteslob, die wegen der ursprünglichen Bedeutung des Wortes im Deutschen vielen Zeitgenossen heute aber kaum bewusst ist.3 In der gottesdienstlichen Praxis sind Vollzüge aus dem alltäglichen Leben liturgisch ritualisiert worden. Eingangsgruß und Schlusssegen im Gottesdienst haben sich aus den Segensworten zur Begrüßung und Verabschiedung beim Kommen und Gehen entwickelt.4

3  Sir 50,20f.; Lk 24,50f.53; Eph 1,3. Im Deutschen begegnet diese Wechselbeziehung meist nur in Nachdichtungen biblischer Texte wie Evangelische Landeskirche in Württemberg, Gesangbuch (s. Anm. 2), Nr. 140 ›Brunn alles Heils‹ (Num 6,24–26); aaO., Nr. 280 ›Es wolle Gott uns gnädig sein‹ (Ps 67) oder in der Tradition von 1Tim 4,4f. bei dem Tischgebet: »Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise.« 4  Vgl. Dtn 28,6: »Gesegnet (seist) du, wenn du kommst, und gesegnet (seist) du, wenn du gehst« oder Ps 121,8: »JHWH behüte dein Gehen und Kommen von nun an bis in Ewigkeit.« Vgl. auch den Friedensgruß (Lk 10,5; 24,36 u.ö.), die Beistandszusage zum Abschied (vgl. Lk 24,50f. mit Mt 28,20; Joh 14,16) sowie die Gruß- und Segensformeln der neutestamentlichen Briefe, von denen manche später im Gottesdienst für den Eingangsgruß bzw. Kanzelgruß und -segen übernommen wurden.

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1. Biblische Grundlagen 1.1. Der aaronitische Segen Der evangelische Gottesdienst endet mit dem aaronitischen Segen (Num 6,24–26).5 Doch ist diese Form des Schlusssegens für einen christlichen Gottesdienst keineswegs selbstverständlich. Erst Martin Luther hat den aaronitischen Segen in die Gottesdienstordnung eingeführt mit dem Hinweis, dass auf diese Weise auch Christus bei der Himmelfahrt seine Jünger gesegnet habe (Lk 24,50).6 Allgemein durchgesetzt hat sich der aaronitische Segen im 19. Jahrhundert, im 20. Jahrhundert erhielt er eine Monopolstellung. In der alttestamentlichen Exegese wird der Bericht vom Segen Aarons in Lev 9,22 meist der Grundschrift der Priesterschrift (PG) in spätexilisch-nachexilischer Zeit zugerechnet, die Überlieferung seines Wortlauts in Num 6,22–27 hingegen als spätere Fortschreibung aus dem 5. Jahrhundert v.Chr. eingeschätzt (PS). Damit kommt erst im Kult zum Ziel, was in der Schöpfung seinen Anfang genommen hat (Gen 1,22.28; 2,3). »Der universale Schöpfungssegen mündet in der priesterlich-kultischen Segensvermittlung an Israel und diese gewinnt umgekehrt schöpfungsweite Dimensionen.«7 In Num 6 ist der aaronitische Segen in eine Offenbarungsszene eingebettet: 22  Und der Herr redete mit Mose und sprach: 23     Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich:        So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:

5 

Vgl. grundlegend Klaus Seybold, Der Segen und andere liturgische Worte aus der hebräischen Bibel, Zürich 2004; Hans-Jürgen Hermisson, Der Segen (Num 6,22–27), in: ThBeitr 30 (1999), 297–302; vgl. auch Heckel, Segen (s. Anm. 1), 77–87.354–362; Leuenberger, Segen (s. Anm. 1), 165–171. 6  Vgl. Martin Luther, Formula missae et communionis (1523), WA 12, 214; Ders., Deutsche Messe (1526), WA 19, 102; vgl. auch Luthers trinita­ rische Auslegung des aaronitischen Segens in WA 30,III, 572–582. 7  Vgl. Leuenberger, Segen (s. Anm. 1), 376–418, bes. 384–392.405–418, hier 414.

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24         Der Herr segne dich und behüte dich; 25         der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir           und sei dir gnädig; 26         der Herr hebe sein Angesicht über dich           und gebe dir Frieden. 27      Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen,        dass ich sie segne.

Der Abschnitt bietet ein liturgisches Formular, das Mose nach der priesterschriftlichen Darstellung durch eine göttliche Offenbarung von JHWH selbst empfangen hat. Durch die Einbettung in eine Gottesrede wird der aaronitische Segen mit der höchstmöglichen göttlichen Autorität versehen, so dass man diese Beauftragung geradezu als ›Einsetzungsworte‹ für den aaronitischen Segen bezeichnen kann. Der Segensauftrag schließt auch die Söhne Aarons ein, er soll von Generation zu Generation weitergegeben werden. Nach Lev 9,22 hat Aaron den Segen mit zum Volk erhobenen Händen erteilt, nachdem er mit seinen Söhnen als Priester eingesetzt worden war und sein erstes Opfer dargebracht hatte. Diesem Vorbild entsprach die Praxis im Jerusalemer Tempel (Sir 50,20f.), später auch im opferlosen Wortgottesdienst der jüdischen Synagogen. Mit der Offenbarungsszene in Num 6 werden die Priester auf den überlieferten Wortlaut verpflichtet: So sollen sie sprechen, wenn sie die Israeliten segnen. Trotz der Verpflichtung auf dieses Segensformular können einzelne Wendungen variiert werden, wie ältere Amulettinschriften sowie die spätere Aufnahme des aaronitischen Segens in Qumran zeigen.8 Der Wortlaut des aaronitischen Segens (Num 6,24–26) ist ein kunstvoll durchkomponiertes Formular mit drei parallel gebauten Zeilen. Charakteristisch für die sprachliche Struktur sind

8  Vgl. die beiden Silberamulette aus einem Grab in Jerusalem (spätvorexilisch um 600 v.Chr.) sowie 1QS 2,2–4; 1QSb (1Q28b); 11QBer (11Q14 = 4Q285); vgl. Leuenberger, Segen (s. Anm. 1), 155–171.451.

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1. der indirekte Appell an das göttliche Subjekt in der dritten Person, 2. der Wunschcharakter der jussivischen Verbformen, die im Deutschen mit dem Konjunktiv zu übersetzen sind, und 3. die direkte Adressatenanrede in der zweiten Person. Der abschließende V. 27 macht deutlich, dass das Segensformular kein unrealistischer (›frommer‹) Wunsch bleibt, sondern Gott den Segen in freier Selbstbindung zu geben verheißen hat (LXX: Futur), den die Priester in der Wunschform zusprechen sollen (MT: Jussiv/LXX: Optativ). Gott ist nicht nur der Geber des Segens, sondern zugleich der Garant für die Erfüllung dieses Wunsches. Durch das Aussprechen der Segensformel wird der Name JHWHs über den Entlassenen ausgerufen (vgl. Dtn 28,10), d.h. sie werden neu unter seine Herrschaft gestellt und seinem Eigentumsbereich zugeordnet. Deshalb wird der JHWH-Name im Segensformular dreimal betont hervorgehoben und nirgends durch die unspezifische Gattungsbezeichnung ›Gott‹ ersetzt. Vielmehr bleibt es auch bei der späteren Umschreibung dieses Gottesnamens wesentlich, dass mit ›k0rioV‹ (LXX) bzw. ›Dominus‹ (Vulgata) und ›Herr‹ (Luther) derselbe Gott gemeint ist, dessen Name von Juden nicht mehr ausgesprochen werden darf. Im christlichen Gottesdienst ist es der dreieinige Gott, in dessen Namen der Gottesdienst eröffnet und mit dessen Segen die Gemeinde entlassen wird. Bevor wir uns den Segensformeln zuwenden können, muss für deren Verständnis wenigstens in Umrissen skizziert sein, was die biblischen Autoren meinen, wenn sie vom Segen reden. Von zentraler Bedeutung ist:

1.2. Die Segensverheißung an Abraham Grundtext ist die Segensverheißung in Gen 12,1–3,9 mit der nach der Urgeschichte programmatisch die Erzelterngeschichte eröffnet wird. Inhaltlich werden vier Aspekte angesprochen: zunächst 9 

Vgl. zum Ganzen Heckel, Segen (s. Anm. 1), 53–247.

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besteht der Segen in der Verheißung des Landes (V. 1) und einer großen Nachkommenschaft (V. 2). Hinzu kommt drittens eine soziale Dimension, weil der Segen vom Verhältnis zu Abraham abhängig gemacht wird: »Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen« (V. 3a). Schließlich wird der Segen auf alle Völker der Erde ausgerichtet (V. 3b), so dass der exklusive Erwählungsgedanke schon bei der Berufung Abrahams wieder universal geöffnet wird. Alle vier Aspekte werden im Neuen Testament in unterschiedlicher Weise aufgenommen: Die Landverheißung wird im He­ bräerbrief in der Weise eschatologisch umgedeutet, dass schon Abraham das Land der Verheißung nicht erreicht hat, sondern diesen Segen erst im himmlischen Jerusalem erben wird.10 Die Nachkommenverheißung wird von Paulus in Gal 3 nicht mehr historisch auf Isaak und auch nicht im kollektiven Sinne auf ganz Israel bezogen, sondern pointiert singularisch auf den einen Nachkommen Jesus Christus gedeutet (Gal 3,8.16; vgl. Apg 3,25). Die Pointe der paulinischen Argumentation besteht darin, dass durch diesen einen Nachkommen nach der Verheißung auch alle Gläubigen, die auf Christus getauft sind, zu Nachkommen Abrahams und damit zu Erben des ihm verheißenen Segens werden (Gal 3,6–9.26–29). Damit hat Paulus aus Gen 12 nicht nur den Aspekt der Völkerperspektive auf die Heidenchristen zugespitzt. Vor allem hat er den Segen selber schon durch seine kühne Deutung der Nachkommenverheißung auf Christus mit dessen Heils­ tat verbunden und soteriologisch neu gefüllt. Daher schließt der Segen im Galaterbrief alle Wirkungen ein, die Christus durch den stellvertretenden Tod eines Verfluchten am Kreuz hervorgebracht hat (Gal 3,13f) von der Gerechtmachung (3,8) über den Loskauf vom Fluch des Gesetzes (3,13) und die Freiheit in Christus (2,4; 5,1.13), den Geistempfang (3,14; 4,6) und die Gotteskindschaft (3,26; 4,5f) bis zur Neuschöpfung in Christus (6,15) und der Gabe des ewigen Lebens (3,11).11 Darum ist die etymologische Herlei10  Hebr 11,8–10.13–16; 12,22; 13,14; vgl. ebenso 1Petr 3,9: »weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen erbt.« 11  Zum umfassenden Oberbegriff für alles Heil wird der Segen jedoch erst deuteropaulinisch in Eph 1,3.

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tung des deutschen Wortes ›segnen‹ von lat. ›(cruce) signare‹ im christlichen Gottesdienst auch theologisch begründet: Segnen heißt unter das Kreuz stellen. Im Blick auf den Gottesdienst sind zwei Dinge festzuhalten: Wurde Abraham mit der Verheißung des Segens schon das Evangelium im Voraus verkündigt (Gal 3,8), dann hat nach paulinischem Verständnis nicht nur das Evangelium den Segen zum Inhalt, sondern wird auch mit dem Segen letztlich nichts anderes zugesprochen als das Evangelium (vgl. Gal 6,18: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist«). Außerdem sind Taufe und Segen miteinander verbunden: Wer auf Christus getauft ist, hat den Segen empfangen, der Abraham verheißen war (3,5–9.14.26–29). Damit vergegenwärtigt aber auch umgekehrt jeder Segenszuspruch das Heil, das in der Taufe zugeeignet wurde. Was von den vier Aspekten der Abrahamsverheißung aus Gen 12 im Neuen Testament noch fehlt, ist der dritte Gesichtspunkt der sozialen Beziehungen im Segnen und Fluchen gegenüber Abraham. Dieser Aspekt wird von Jesus in der Feldrede aufgenommen, zugleich durch das Gebot der Feindesliebe aber völlig neu ausgerichtet: »Segnet, die euch verfluchen« (Lk 6,28; vgl. Röm 12,14; 1Petr 3,9). Das Segnen der Widersacher wird in der Feldrede zwar mit der Fürbitte für die Misshandelnden parallelisiert (Lk 6,28; vgl. Mt 5,44). Gleichwohl hat dieses Segnen keine liturgische, sondern eine ethische Bedeutung. Für Paulus gehört es zum »vernünftigen Gottesdienst« im Alltag der Welt, wenn er in Röm 12,1.14 mahnt: »Segnet, die euch verfolgen, segnet und verflucht nicht!« Ebenso ist die Aufforderung zum Segnen in 1Petr 3,9 das positive Gegenstück zum Verbot der Vergeltung und damit die praktische Bewährung des Priestertums aller Gläubigen (1Petr 2,9).12 Demnach bleibt der liturgische Segen nicht auf das kultische Ritual beschränkt, sondern wirkt sich darüber hinaus ethisch aus im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen. 12  Vgl. die Begründung der Paränese in 1Petr 1,15f. mit dem aus dem Heiligkeitsgesetz zitierten Grundsatz: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig« (Lev 11,44f.; 19,2; 20,7.26).

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1.3. Die Wunschform der Segensworte ›Segen‹ ist nicht nur ein theologisch gefüllter Begriff, sondern auch eine Gattungsbezeichnung.13 So hat es sich seit dem 19. Jahrhundert eingebürgert, die Gnaden- und Friedenswünsche am Schluss der neutestamentlichen Briefe als ›Segen‹ zu bezeichnen.14 Umstritten ist – auch im Blick auf die heutige gottesdienstliche Praxis – vor allem die Frage, welcher Gattung diese Segensworte zuzurechnen sind. So wird diskutiert, ob sie den Charakter eines Gebets, einer Fürbitte, eines Wunschs, eines indikativischen Zuspruchs oder einer Verheißung haben.15 Mit gegenläufiger Tendenz wurde dabei entweder die Eigenart als Wunsch bzw. (Für-)Bitte betont oder die sakramentale Bedeutung hervorgehoben. Doch ist die exegetische Forschung durch neuere Impulse aus der Liturgik weitergekommen, in der der gottesdienstliche Segen mit Hilfe der Sprechaktanalyse untersucht wurde. Erschwert wurde die Diskussion über die Segensformeln durch zwei Problemkreise: Zum einen wurde zwischen der sprachlichen Gestalt und der theologischen Qualität dieser Segensworte nicht hinreichend differenziert. Zum anderen wurde zu wenig bedacht, dass die erwähnten Gattungen außer dem Segen auch andere Inhalte haben können. Versuchen wir deshalb zunächst die genannten Gattungen zu unterscheiden, so wird bei der Bitte Gott in der zweiten Person angeredet. Wie beim Vaterunser (Mt 6,9ff.) steht am Anfang meist ein Vokativ, dann folgen die Bitten in Verbformen von imperativischer Bedeutung. Dementsprechend müsste eine Segensbitte lauten: »Gott, segne (sc. du) uns.« Die Fürbitte hat dieselbe sprachliche Gestalt wie die Bitte, unterscheidet sich von dieser jedoch dadurch, dass der Beter für andere bittet: »Du, Herr, segne diese Jungfrau« (JosAs 8,9). 13 

Vgl. dazu insgesamt Heckel, Segen (s. Anm. 1), 248–318. Vgl. Johann Albrecht Bengel, Gnomon Novi Testamenti (31773), Stuttgart 1866 zu 2Kor 13,13: »votum« mit der Übersetzung von Carl Friedrich Werner, Stuttgart 81970 (zuerst 1876): »Segenswunsch«; vgl. die Überschriften in der griechisch-deutschen Ausgabe von Nestle-Aland 27 bei 2Kor 13,11; Eph 6,21; Phil 4,21; Kol 4,7; 1Thess 5,23; 2Thess 3,17; 1Tim 6,20; 2Tim 4,19; Phlm 23; Hebr 13,20; 1Petr 5,12. 15  Vgl. die Belege bei Heckel, Segen (s. Anm. 1) 261f. 14 

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Ebenso wie die Fürbitte gilt auch der Wunsch vielfach anderen Personen. Deshalb besteht bei beiden dasselbe Dreiecksverhältnis zwischen Sprecher, Gott und anderen Menschen. Von der Fürbitte unterscheidet sich der Wunsch jedoch durch eine andere Sprechrichtung. Gott wird nicht mehr wie bei einer Bitte als Gesprächspartner in der zweiten Person, sondern nur in einem indirekten Appell angeredet. Ein Musterbeispiel ist der aaronitische Segen in Num 6,24–26, da Gott hier als das regierende Subjekt steht, das Verbum »in die Form der indirekten Anrede gebracht« und »für den gesamten Text … der jussivische, bzw. optativische Aussagemodus anzunehmen (ist).«16 Außerdem unterscheidet sich der Segenswunsch von der Fürbitte dadurch, dass der Empfänger in der zweiten Person direkt angesprochen wird: Gott segne »dich«17 bzw. »euch«.18 Während Bitte, Fürbitte und Wunsch als Untergattungen des Bittgebets appellative Redeweisen sind, hat die Zusage einen konstatierenden Charakter: Das Verb steht im Griechischen im Indikativ Präsens. In der sprachlichen Gestalt haben Wunsch und Zusage zwar gemeinsam, dass ein menschliches Gegenüber direkt angesprochen wird. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der Wunsch von einem Menschen geäußert wird und im Griechischen im Optativ oder einer bedeutungsverwandten Verbform steht, während eine Zusage stets durch Gott oder Jesus erfolgt und indikativisch formuliert ist.19 Sprecher und Urheber des Segens sind in diesem Fall also identisch. 20 Ebenso wie eine Zusage wird auch die Verheißung von einem göttlichen Subjekt ausgesprochen, so dass es sich beide Male um eine Gottesrede handelt. Die Besonderheit der Verheißung liegt 16 

Seybold, Segen (s. Anm. 5), 27f. Gen 28,3; 49,25; Num 6,24; Rut 2,4; Ps 128,5; 134,3; Jer 31,23. 18  Dtn 1,11; 11QSM (11Q14) 1 II 7 (unter Aufnahme von Formulierungen aus Num 6,24f.). 19  Mt 28,20; vgl. die Friedenszusage Jesu in Joh 14,27 sowie in der Septuaginta die Beistands- (und Segens-) Zusage Gottes in Gen 26,24 (vgl. V. 3.28f.; ferner 28,15); Jes 41,10; 43,2.5; Jer 1,8.19; 15,20; 49,11. 20  Vom Segen kann natürlich auch einfach im Indikativ die Rede sein (vgl. Hebr 6,7), doch handelt es sich dann nicht um eine Segensformel, sondern um erzählende, argumentierende oder appellierende Aussagen. 17 

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jedoch darin, dass sie im Futur steht und in einem streng temporalen Sinne auf ein rein zukünftiges Geschehen bezogen ist. Während die Zusage den Zeitaspekt ausspart und mit der Gegenwart auch die Zukunft einschließen kann (z.B. für alle Tage bis an der Welt Ende; Mt 28,20), beschränkt sich die Verheißung auf ein noch ausstehendes Geschehen, z.B. in der Nachkommenverheißung, die Abraham für die Zukunft ankündigt, was ihm gegenwärtig noch fehlt. 21 Im Blick auf die Segensworte der neutestamentlichen Briefe scheiden von den fünf möglichen Gattungen Bitte22 und Fürbitte aus, da diese sich direkt an Gott wenden, in Segensworten jedoch das menschliche Gegenüber angesprochen wird. Außerdem erscheinen Zusage und Verheißung in der Bibel nur in Worten Jesu oder einer Gottesrede. Für die Segensformeln der Briefe bleibt daher – ebenso wie beim aaronitischen Segen in Num 6,24–26 – nur die Kategorie des Wunsches übrig. 23 Als vorläufiges Ergebnis können wir festhalten: Was heute im allgemeinen Sprachgebrauch als Segen bezeichnet wird, ist eine Gattung sui generis. Formgeschichtlich gesehen handelt es sich 21 

Apg 3,25; Gal 3,8 sowie Gen 12,3b; 18,18; 22,18 (vgl. noch Gen 26,4; 28,14; Ps 71,17 LXX); vgl. auch Hebr 6,14 = Gen 22,17 (vgl. noch Gen 12,2.3; 17,16; 22,17; 26,3). 22  Vgl. Bernd J. Diebner, Der sog. ›Aaronitische Segen‹ (Num 6,24–26) – biblischer Text und liturgische Praxis, in: Freude am Gottesdienst, FS Frieder Schulz, hgg. v. Heinrich Riehm, Heidelberg 1988, 201–218, hier 215f.: Bei der sog. Segensbitte (Herr, segne uns) »wird der Segen zum Gebet ›umfunktioniert‹. Es ist die berechtigte Frage, ob er dann überhaupt noch ›funktioniert‹;. … Als Gebet wäre diese Form – sofern der Liturg nicht grundsätzlich hinter dem Altar stehend versus populum zelebriert – in solidarischer Ausrichtung mit der Gemeinde coram Deo zu sprechen.« 23  Der Wunschcharakter wird – sofern das Verb nicht fehlt – durch Opt. Aor. (Röm 15,13; 1Thess 5,23; 2Thess 3,16; Hebr 13,21) ausgedrückt. Doch auch der Ind. Fut. (2Kor 13,11; Phil 4,7.9; 1Petr 5,10) ist in den Segensformulierungen nicht im zeitlichen Sinn einer Verheißung aufzufassen, sondern in modaler Bedeutung als Wunsch zu verstehen. Schon in der Septuaginta kann bei der Übersetzung eines Segenswunsches das hebräische Imperfekt ohne ersichtlichen Bedeutungsunterschied im Griechischen mit Opt. Aor. (Gen 28,3; 48,16; Num 6,24; Dtn 1,11; Ruth 2,4; Ps 66,2.7f. LXX; 127,5 LXX) oder Ind. Fut. wiedergegeben werden (Ps 28,11 LXX; 133,3 LXX).

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Gattungen von Segensworten Bitte      

Fürbitte Gott        

Gott

(Wort)        (Tat)

(Wort)            Tat

      Mensch

Sprecher   andere Menschen

»Gott, segne (du) mich/uns«

»Gott, segne (du) diese(n) Menschen«

Imperativ

Imperativ

Wunsch

Zusage

Gott    

Gott

Verheißung Gott    Mensch

(Tat) (Wort)

(Wort und Tat)

(Wort und Tat)



(ohne Zeitaspekt)

(Zeitachse)

Mensch   Gegenüber     Mensch

jetzt    Zukunft

»Der Herr segne dich/ »Siehe, ich bin bei euch« euch alle Tage«

Abrahamverheißung: »In dir werden alle Völker gesegnet sein«

hebr.: Jussiv griech.: Optativ deutsch: Konjunktiv

griech.: Indikativ Futur

griech.: Indikativ Präsens

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nach dem biblischen Befund um einen Segenswunsch, bei dem der indirekte Appell an Gott in der dritten Person mit dem direkten Zuspruch für die Adressaten in der zweiten Person verbunden ist und die Verbform – sofern sie nicht ausgelassen wird – einen jussivischen bzw. optativischen Aussagemodus hat. Dementsprechend ist das Verbum im Deutschen mit einem Konjunktiv wiederzugeben. Nun werden Einwände gegen die Kategorie des Wunsches erhoben wegen des falschen Eindrucks, »der Segen sei schlicht ein Wunsch.«24 Da aufgrund der biblischen Verbformen der Wunschcharakter nicht abzustreiten ist, halten selbst linguistische Analysen am Begriff des Wunsches fest und betonen zunächst die illokutionäre Bedeutung im Sinne des Anwünschens. 25 Doch geht es beim Segen nicht einfach um irgendwelche guten Wünsche, sondern um die spezielle Form eines religiösen Wunsches, bei dem Gott als Urheber des Segens erscheint. Deshalb ist beim Segen nicht die Wunschform abzulehnen, sondern die Gottesbeziehung hervorzuheben. Damit lässt sich die theologische Eigenart dieses Wunsches präzisieren. Durch das grammatikalische Subjekt wird mit der göttlichen Urheberschaft zugleich die Unverfügbarkeit des Segens angedeutet. Der Segen bleibt eine Gabe, die allein Gott selber gewährt. Deshalb kann ein Mensch nicht in einer indikativischen Aussage über den Segen verfügen, sondern nur Gott in der Form eines Wunsches um seine Gnade und seinen Frieden bitten. Die Wunschform wahrt die Souveränität und Freiheit Gottes. Sie sichert den Segen gegen das eigenmächtige Handeln des Menschen und schützt ihn vor magischer Instrumentalisierung. Als Urheber des Segens ist Gott zugleich der Garant für die Erfüllung des Wunsches. Deshalb ist der Segen kein unverbindlicher Wunsch, sondern ein Zuspruch, der von Erfüllungsgewissheit 24  Vgl. zu Recht kritisch Greiner, Segen (s. Anm. 1), 44, auch wenn ihre Ablehnung des Wunschbegriffs wegen der in der Bibel gebrauchten Verbformen nicht überzeugen kann. 25  Vgl. Reinhard Wonneberger, Der Segen als liturgischer Sprechakt. Ein Beitrag zur Pragmatik der Institution Gottesdienst, in: Klaus Oehler (Hg.), Zeichen und Realität, Tübingen 1984, 1069–1079, hier 1072.

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begleitet ist. So endet in 1Thess 5,23f. der Segenswunsch mit dem Treuespruch: »Treu ist er, der euch beruft; er wird’s auch tun.« Das Schlusssätzchen »spricht theologisch begründet die Gewissheit aus, dass Gott den Inhalt des Wunsches wirken wird.«26 Ebenso stand bereits in Num 6,22–27 hinter der Wunschform das göttliche Versprechen, den Segen zu gewähren, den die Priester wünschen. Beim Segen handelt es sich also nicht, wie man ironisch zu sagen pflegt, nur um einen »frommen Wunsch«. Vielmehr erweist dieser sich gerade darin als fromm, dass er zugesprochen wird im Vertrauen auf die Treue Gottes, der hält, was er verspricht. Darum wird die spezifische Eigenart des Segenswunsches in der Sprechaktanalyse nicht nur als illokutionär beschrieben, sondern zugleich als performativ27 bezeichnet. Trotz der Wunschform der Verben bleibt der Segen nicht ein bloßer Wunsch, sondern ist zugleich ein effektiver Zuspruch, der bewirkt, was er wünscht. 28

26  Traugott Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK XIII), Zürich u.a. 21990, 265f. 27  Vgl. Wonneberger, Segen (s. Anm. 25), 1073. 28  Zwischen sprachlicher Gestalt und theologischer Bedeutung ist auch bei den viel zitierten Formulierungen aus Martin Luthers Genesisvorlesung zu differenzieren, dass der Segen Isaaks (Gen 27,28f.) nicht ›Wunsch‹ (exoptatio), sondern ›Gabe‹ (donatio) bzw. ganz allgemein die Segnungen in der Bibel nicht optativisch, sondern indikativisch zu verstehen seien (WA 43, 524f.). Gerade bei diesen pointierten Formulierungen geht es Luther nicht um die sprachliche Bestimmung der Verbformen, sondern um ein theologisches Urteil über die Verlässlichkeit göttlicher Zusagen und Verheißungen. Denn den Segen Isaaks gibt Luther in der Genesisvorlesung der Vulgata folgend durchgehend im Konjunktiv wieder (Det tibi Deus = Gott gebe dir), und ebenso verfährt er auch beim aaronitischen Segen in seiner Bibelübersetzung und in seinen Gottesdienstschriften (s. Anm. 6). Völlig unabhängig von der verwendeten Verbform ist für Luther das theologische Verständnis entscheidend, dass jeder menschliche Wunsch im Ausgang offen und unsicher bleibt (eventualis et incerta), aber der Segen Isaaks »gewiss für die Zukunft« ist (certa in futurum). Seinem theologischen Verständnis der ›promissio Dei‹ folgend sind die Segensworte der Bibel für Luther deshalb ›reale Segnungen‹ (reales benedictiones), die geben, was sie sagen. Insofern spiegelt sich auch in Luthers Segensverständnis eine ähnliche Verbindung von biblisch vorgegebener illokutionärer Sprachform und performativer Bedeutung wie in der modernen Sprechaktanalyse.

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Aus dieser Verbindung von Unverfügbarkeit und Erfüllungsgewissheit ergibt sich bei jedem Segnen die Frage der Legitimität. Da die Wirkung nicht in der Macht des Menschen steht, kann sie nur dann eintreten, wenn der Segen im Sinne Gottes erteilt wird. Die göttliche Urheberschaft zeigt, dass der Segen von Menschen nicht eigenmächtig gesprochen werden kann, sondern seine Wirkung sich allein der göttlichen Kraft verdankt. Deshalb kann nur gesegnet werden, was Gott segnen will, jedoch nicht gesegnet werden, was Gott nicht segnen will. An der Legitimität des Segnens hängt die Wirksamkeit des Segens.

1.4. Segensgesten Explizit als ›Segen‹ bezeichnet werden in der Bibel nur die Handauflegung beim Segen Jakobs (Gen 48,14ff.) und bei der Kindersegnung Jesu (Mk 10,16) sowie das Heben der Hände beim aaronitischen Segen (Lev 9,22; Sir 50,20f.) und bei der Himmelfahrt Jesu (Lk 24,50). 29 Diese Segensgesten werden entweder im Sinne einer bloß äußerlichen Veranschaulichung bzw. zeichenhaften Darstellung interpretiert. Oder es wird ihre Wirksamkeit hervorgehoben, und zwar entweder negativ zur Abwehr magischer Missverständnisse (im Sinne eines Automatismus ex opere operato)30 oder positiv durch die Betonung des sakramentalen Charakters.31 Dass von einer Handauflegung im Neuen Testament wiederholt zur Heilung,32 Geistmitteilung33 oder Einsetzung für eine Verkündigungsaufgabe34 berichtet wird, spricht für ein effektives Verständnis der Segensgesten und widerrät einer Abschwächung im Sinne einer rein äußerlichen, zeichen-

29 

Vgl. zum Ganzen Heckel, Segen (s. Anm. 1), 319–348. Vgl. Frettlöh, Theologie (s. Anm. 1), 19f.; Greiner, Segen (s. Anm. 1), 101–137. 31  Vgl. Claus Westermann, Genesis (BK I/2), Neukirchen-Vluyn 21989, 536: »Der Segen ist das älteste Sakrament.« 32  Mk 5,23; 6,5; 7,32; 8,23.25; Lk 4,40; 13,13; Apg 9,12.17; 28,8. 33  Apg 8,17f.; 19,6. 34  Vgl. die Einsetzung der Sieben (Apg 6,6), die Aussendung von Barnabas und Saulus (13,3) und die Ordination in 1Tim 4,14; 5,22; 2Tim 1,6. 30 

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haften Handlung.35 Die effektive Bedeutung der Segensgesten entspricht dem performativen Charakter der Segenswünsche (s.o. 1.3.). Zur Abwehr magischer Vorstellungen wird die Handauflegung in der Bibel gerne mit einem Gebet verbunden, 36 das die Wirkung auf den göttlichen Urheber zurückführt und der menschlichen Verfügungsgewalt entzieht. Wenig hilfreich für das Verständnis des Segens ist die Kategorie des Sakramentalen, da dieser Begriff mit der dogmatischen Diskussion über Wesen und Zahl der Sakramente belastet ist. Zu Recht wird ein exhibitives Verständnis zurückgewiesen, als sei die Handauflegung nur eine verdeutlichende Äußerlichkeit.

2. Liturgische Konsequenzen Im Blick auf die Sprachform wird diskutiert, ob der Schlusssegen im Gottesdienst distributiv (»Der Herr segne euch«) oder kommunikativ (»Der Herr segne uns«) zu formulieren ist. Wie schon beim aaronitischen Segen werden auch die Adressaten im Schlusssegen der neutestamentlichen Briefe durchgehend in der zweiten Person angeredet (vgl. Mt 28,20: »Ich bin bei euch alle Tage«). Der biblische Befund spricht also für die distributive Sprachform. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die Anrede im Singular oder im Plural erfolgen soll. Da in Num 6,23 »die Israeliten« im Plural angesprochen werden, hat die singularische Anrede im aaronitischen Segen neben der individuellen zumindest auch eine kollektive Bedeutung. Im Neuen Testament wird bei einer Mehrzahl von Menschen im Segen jedoch stets der Plural gebraucht, wie es auch bei der Reformulierung des aaronitischen Segens in Qumran (11QSM = 11Q14) der Fall ist. Angesichts der heutigen Individualisierungstendenzen empfiehlt sich deshalb beim Schlusssegen im Gottesdienst eine pluralische Formulierung, die 35  In Lk 24,49f. folgt der Segen mit erhobenen Händen auf die Verheißung des Geistes. 36  Vgl. Handauflegung und Gebet bei der Kindersegnung (Mt 19,13), nach der Taufe (Apg 8,15.17), bei Beauftragungen (Apg 6,6; 13,3; vgl. auch 14,23) und bei Heilungen (Mk 7,32–34; Apg 28,8; vgl. Jak 5,14; 2Kön 5,11).

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sich einer individualistischen Engführung widersetzt und den Gemeinschaftsbezug des Segens hervorhebt. Damit wird auch die soziale Dimension des Segens betont (s.o. 1.2.), die im heutigen Segensverständnis vielfach zu kurz kommt. Anstelle des aaronitischen Segens werden manchmal auch trinitarische Formulierungen verwendet, die sich von 2Kor 13,13 her ebenfalls biblisch begründen lassen: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen!« Paulus hat hier den sonst üblichen, ursprünglich eingliedrigen Gnadenwunsch (1Thess 5,28 u.ö.) zu einer triadischen Segensformel erweitert, die dem trinitarischen Gefälle im paulinischen Segensverständnis entspricht (vgl. Gal 3,14; 4,4–6). Mancher Segen schließt mit einer Ewigkeitsformel wie z.B. Ps 121,8: »Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit« (vgl. Ps 21,7). Im Neuen Testament gewinnen solche Ewigkeitsformeln eine eschatologische Bedeutung »für alle Tage bis ans Ende der Welt« (Mt 28,20; vgl. Joh 14,16: »in Ewigkeit«) bzw. bei der Wiederkunft Christi (1Thess 5,23).37 Damit wird deutlich, dass ein christlicher Segen auch im Tod nicht an seine Grenzen kommt, sondern zur Vollendung des Heils im ewigen Leben führt (s.o. 1.2.). Das ›Amen‹ bildet nicht den Abschluss des Segens, sondern die Antwort der Gemeinde. Da es nach 1Kor 14,16 durch die Gemeinde gesprochen wird (vgl. 2Kor 1,20), hat es – wie im Alten Testament – einen responsorischen Charakter. Das Amen bekräftigt das Empfangen des Segens als ein wechselseitiges Beziehungsgeschehen (s. Anm. 3), das kein rein passives Widerfahrnis ist, sondern mit der Zustimmung zugleich die eigene Erhörungsgewissheit bekräftigt. Die Septuaginta übersetzt es mit »g4noito« (so sei es). Luther paraphrasiert im Kleinen Katechismus treffend: »Amen, Amen, das heißt: Ja, ja, so soll es geschehen.«38

37  Vgl. Eph 6,24 (»in Unvergänglichkeit«) und ferner mit einer Doxologie Phil 4,19f.; Hebr 13,20f.; 1Petr 5,10f. 38  BSLK, 515.

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Wird der Segen mit einer Geste verbunden, so wird er der ganzen Gemeinde mit erhobenen Händen zugesprochen, bei Einzelsegnungen mit der Handauflegung auf den Kopf (s.o. 1.4.). Beides sind Kontaktgesten, die Handauflegung durch die unmittelbare körperliche Berührung, das Erheben der Hände durch den begleitenden Augenkontakt, wie ihn die direkte Anrede nahe legt. Wort und Geste ergänzen einander und verstärken sich in ihrer Wirkung gegenseitig. Deshalb kommt beim Segensakt der Kongruenz von Sprachform und Körperhaltung eine große Bedeutung zu. Wendet sich jemand mit einer Segensbitte direkt an Gott, so ist eine Gebetshaltung mit gefalteten oder nach oben geöffneten Händen angemessen. Spricht jemand den Segen in der Wunschform zu, so kommt der Zuspruchscharakter am besten in der körperlichen Zuwendung zum Ausdruck, d.h. im Heben oder Auflegen der Hände. Die Geste dient der Verleiblichung des Wortes, bei der die direkte Adressatenanrede durch die Handauflegung noch eine intensivere Wirkung entfaltet. In der Berührung wird das göttliche Mit-Sein (Röm 16,20b; vgl. Mt 28,20) leibhaftig erfahrbar, wie z.B. Reaktionen von Kranken in der Seelsorge oder Berichte von Konfirmanden über ihre Einsegnung zeigen. Fragen wir noch, wer die Hände auflegt, so wird die Handauflegung im Neuen Testament von Funktionsträgern mit einer herausgehobenen, gewissermaßen ›offiziellen‹ Stellung in der Gemeinde berichtet wie Aposteln,39 Propheten und Lehrern40 oder Ältesten.41 Weil das Heil nicht mehr durch den Opferkult im Jerusalemer Tempel vermittelt wird, sondern durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi begründet ist, bildet nicht wie im Judentum die Zugehörigkeit zur Priesterschaft die Voraussetzung für das kultische Segnen. Vielmehr wird im frühen Christentum die Handauflegung dem theologischen Verständnis des Segens entsprechend (s.o. 1.2.) ganz auf die Verkündigung des Evangeliums ausgerichtet und zunehmend an die Funktion der Gemeindeleitung gebunden (s. Anm. 39ff.). D.h. übertragen auf 39  Apg 6,6 (die Zwölf; V. 2); 8,17 (Petrus und Johannes; V. 14); 19,6 (Paulus); 2Tim 1,6 (›Paulus‹); vgl. auch 1Tim 5,22 (Timotheus). 40  Apg 13,1–3. 41  1Tim 4,14; Jak 5,14.

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unsere heutigen Verhältnisse: Den Segen kann sprechen, wer mit der Leitung des Gottesdienstes beauftragt ist. Darüber hinaus hat die Handauflegung beim Segnen in der Großfamilie (Gen 48,14ff.) einen anderen Sitz im Leben.

3. Kasualien als Segenshandlungen Neben dem allgemeinen Schlusssegen im Gottesdienst haben sich in den Kasualien 42 spezielle Segenshandlungen herausgebildet, deren Bedeutung als eigenständiger Zyklus einer lebensgeschicht­ lichen Form der Frömmigkeit erst im 19. Jahrhundert erkannt wurde. Religionswissenschaftlich zutreffend werden die Kasualien in der Praktischen Theologie als Passageriten an den Schwellensitua­tionen des Lebens interpretiert. Damit ist die Funktion der Ka­sualien anthropologisch erfasst, über ihre theologische Bedeutung als Segenshandlung aber noch nichts gesagt.43 Die theologische Pointe liegt nicht einfach im Überschreiten einer Schwelle, sondern im Zuspruch des Segens für die bevorstehende Situa­tion.44 Liturgisch wird die Segenshandlung durch das Auflegen der Hände vollzogen und mit einem Segenswort verbunden. Geschichtlicher Ausgangspunkt ist im Neuen Testament die Handauflegung (s. Anm. 29) zur Geistmitteilung nach der Taufe.45 Dasselbe Verständnis begegnet bei der Ordination in den 42  Vgl. Christian Grethlein, Grundinformation Kasualien. Kommunikation an den Übergängen des Lebens, Göttingen 2007. 43  So z.B. bei Jochen Cornelius-Bundschuh, Art. Segen / Segen und Fluch VI. Praktisch-theologisch, TRE 31, 2000, 93–96, der den Segen als »Schwellenritual im lebensgeschichtlichen Horizont« (93) beschreibt, unter diesem Stichwort erstaunlicherweise aber nicht erklärt, was dieses Ritual mit dem Segen Gottes zu tun hat. 44  Vgl. Ulrich Heckel, Kasualien als Segenshandlungen. Eine theologische Grundlegung der kirchlichen Passageriten, in: Una Sancta 58 (2003), 188–204.319; Ders., Segenshandlungen. Gottesdienstliche Praxis und biblische Traditionen, in: PrTh 42 (2007), 100–106; vgl. weiter Ulrike WagnerRau, Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart u.a. 2000; Marianne Varelmann, Segensfeiern. Theorie – Geschichte – Praxis, Würzburg 2008. 45  Apg 8,14–19; 19,1–7; Hebr 6,2; vgl. auch Apg 9,12.17f.

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Pastoralbriefen,46 die in Analogie zur Geistmitteilung durch die postbaptismale Handauflegung (s. Anm. 45) gestaltet wurde. Damit wird keine der heutigen Kasualien im Neuen Testament als ›Segenshandlung‹ bezeichnet. Aber die beiden Handauflegungen, die sich am ehesten mit den heutigen Kasualien berühren, stehen in einem engen Zusammenhang mit der Taufe. Schon in der Alten ­Kirche wurde die postbaptismale Handauflegung in der Firmung zu einer eigenen gottesdienstlichen Handlung verselbstständigt. Bei der Konfirmation wurden seit dem 19. Jahrhundert die Segensworte als Denksprüche festgehalten. Die Bezeichnung ›Einsegnung‹ betont den initiatorischen Charakter, dem die ›Aussegnung‹ mit dem Valetsegen an der letzten Schwelle des Lebens entspricht.47 Damit hat sich die Bedeutung der Handauflegung sehr gewandelt. Aus einer Teilhandlung der Initiation in die christliche Gemeinschaft wurde ein Passageritus für das Erwachsenwerden, aus dem Ritus der Geistmitteilung bei der Taufe die Segnung für einen neuen Lebensabschnitt. Diese kirchengeschichtliche Veränderung muss jedoch nicht als Alternative stehen bleiben. Vielmehr könnte die Verbindung beider Aspekte in der Konfirmation zum Deutungsschlüssel für das theologische Verständnis und die liturgische Gestaltung aller Kasualien werden: Die Segenshandlung als Taufgedächtnis, -erinnerung und -vergewisserung. Für diese Deutung spricht nicht nur die Entstehung der Konfirmation aus der postbaptismalen Handauflegung, sondern auch der bereits dargestellte Zusammenhang von Segen und Taufe in Gal 3,6–4,7. Mit der Taufe beginnt für Paulus nicht nur die Gotteskindschaft, sondern auch die Erfüllung der christologisch-soteriologisch gedeuteten Segensverheißung an Abraham. Darum kann eine Segnungshandlung nach paulinischem Verständnis nur eine Fortführung dessen sein, was in der Taufe seinen Anfang genommen hat.

46 

1Tim 4,14; 2Tim 1,6; vgl. 1Tim 5,22. Vgl. den Sterbesegen Evangelisches Gesangbuch (vgl. Anm. 2), Nr. 830 sowie Ernst Nestele, Die Aussegnung Verstorbener, Stuttgart 1999. 47 

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Daher kann die Taufe geradezu als ›Ur-Segen‹ verstanden werden, aus dem analog zur Konfirmation sich auch alle anderen Segenshandlungen systematisch ableiten und liturgisch als Taufgedächtnis entfalten lassen.48 Als Tauferinnerung hat ein kirchlicher Passageritus den Sinn, den göttlichen Beistand bei jeder Kasualie von neuem ins Gedächtnis zu rufen, der bei der Taufe ein für alle Mal zugesprochen worden war (vgl. Mt 28,20). Die theologische Pointe liegt nicht einfach im Überschreiten einer Schwelle, sondern im göttlichen Beistand und Segen für die neue Situation. So verbinden Kasualien als Segenshandlungen Heilsereignis und Lebensgeschichte, die in Christus offenbar gewordene Gnade Gottes mit den entscheidenden Stationen eines Menschenlebens. In einem solchen Zyklus sollten stets als rituelles Erkennungszeichen wiederkehren ein individuell zugesprochenes Segenswort, die Handauflegung als Segensgeste und das Kreuzzeichen, das an die Heilstat Jesu erinnert. Dadurch verdichtet sich im liturgischen Vollzug der Segenshandlung, was in der gnädigen Zuwendung Gottes theologisch den Sinn der Kasualgottesdienste ausmacht. Unter dem Leitmotiv der Tauferinnerung könnten auch andere Kasualien wie Einschulungsgottesdienste, Ehejubiläen oder Goldene Konfirmation sowie Segnungs- und Salbungsgottesdienste gestaltet werden.

48  Vgl. Frieder Schulz, Segnende ­K irche und christlicher Glaube (GAGF 28), hgg. v. Gemeinsame Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der Evangelischen ­K irche in Deutschland, Hannover 1997, 42–65, hier 59; Grethlein, Grundinformation (s. Anm. 42), 65f.402–407.

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Gottesdienst und christliche Gemeinde bzw. ­K irche sind nicht voneinander zu trennen. Theologisch macht der Artikel VII der Confessio Augustana auf diesen Sachverhalt aufmerksam: »Es wird auch gelehret, daß alle Zeit muss ein heilige christliche ­K irche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden. Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden […]« (BSLK, 61; vgl. WA 11, 408, 8–10)1

Empirisch ist zu konstatieren, dass christliche Gottesdienste die einzige Kommunikationsform sind, die exklusiv in der christlichen Gemeinde gefeiert werden. Von daher verwundert es nicht, dass sich in einer Mikrostudie zur Kommunikation in einer Kirchengemeinde ergab, dass mehr als die Hälfte der Mitglieder durch Gottesdienste (einschließlich Kasualien, Kindergartengottesdienste usw.) mit der Ortsgemeinde verbunden sind. 2 1  Vgl. auch die Liturgiekonstitution des II. Vaticanum »Sacrosanctum Concilium« (Art. 10), die »Liturgie« den »Höhepunkt, dem das Tun der ­K irche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt«, nennt (nach Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vaticanums in der bischöflich beauftragten Übersetzung, Freiburg ²1966, 56). 2  Es handelt sich um eine 2010 durchgeführte, noch unveröffentlichte Befragung der Gemeindeglieder der Erlösergemeinde in Münster, die im Rahmen des praktisch-theologischen Promotionsprojektes von Stephanie Barthel erfolgte.

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Zugleich scheinen aber beide, Gottesdienst und Gemeinde, in der Krise zu stecken. Die Rede von den »leeren Kirchen« ist mittlerweile sprichwörtlich und die Gemeinden haben vielfältige, nicht zuletzt finanzielle Probleme. Demgegenüber will ich die These vertreten, dass sich Gottesdienst und Gemeinde in tiefgreifenden Transformationsprozessen befinden, aber keineswegs in einer Abwärtsbewegung. Es ist angesichts der Veränderungsprozesse in den Sozial- und Kommunikationsformen auch nicht erstaunlich, dass sich Gottesdienst und Gemeinde wandeln – es wäre eher bedenklich, wenn sie sich nicht änderten. Allerdings verstellen umgangssprachlich übliche, sachlich aber problematische Engführungen in der Semantik von »Gemeinde« und »Gottesdienst« einen theologisch und empirisch hinreichenden Zugang zum Thema. Deshalb sei in einem ersten Abschnitt der Begriff »Gemeinde« geklärt. Die sich dabei ergebende Differenzierung öffnet den Blick für die Pluriformität von Gottesdienst, der im zweiten Schritt nachgegangen wird. So vorbereitet kann dann der Zusammenhang von Gemeindeentwicklung und Gottesdienst in den Blick genommen werden.

1. Gemeinde Schon Luther übersetzte das griechische »ekklesia« durchgehend mit »Gemeinde«. So legt es sich nahe, die Verwendung von »ekklesia« in Erinnerung zu rufen, um das Nachdenken über »Gemeinde« biblisch zu konturieren.

1.1. Ekklesia im Neuen Testament Im Neuen Testament bezeichnet »ekklesia« drei soziale For­ma­ tionen:3 Zum einen ist die »ekklesia« im ökumenischen, also den ganzen bewohnten Erdkreis umspannenden Sinn zu nennen. Sie hat offensichtlich das Jesus-Logion im Blick, in dem ein Jünger als 3  Zum Textbefund im Einzelnen vgl. Karl Ludwig Schmidt, Art. ekklesia, ThWNT 3, 502–539, hier 505–516.

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»Fels« bezeichnet wird, auf den die »ekklesia« gebaut werden soll (Mt 16,18). Dann begegnen bei Paulus »ekklesiai« (Plural) in Städten, etwa in Korinth (1Kor 1,2), oder in der Apostelgeschichte in Landschaften, etwa in Syrien und Zilizien (Apg 15,41). Schließlich wird das Haus des Philemon als »ekklesia« bezeichnet (Phlm 2), also die soziale Vorform der Familie (im weiteren Sinn). »Gemeinde«, als Übersetzung von »ekklesia«, hat demnach neutestamentlich drei Bedeutungsebenen: die Hausgemeinde, die Ortsgemeinde und die allgemeine weltweite Ökumene. Sachlich zusammengehalten werden diese drei unterschiedlichen Sozialformen durch den gemeinsamen Bezug auf den Grund der Gemeinde, Jesus Christus. Konkreten Anteil an diesem Grund erhalten die Mitglieder der jeweiligen Gemeinde durch ihren persönlichen Bezug auf diesen Grund, rituell seit Beginn der Christenheit vermittelt durch die Taufe. Es ist interessant, dass sich im Neuen Testament keine Hinweise auf Prioritäten oder Posterioritäten dieser verschiedenen Formen von Gemeinde finden. Das würde auch dem Gewicht des Christusbezugs für das Gemeindeverständnis widersprechen (vgl. den Beitrag von Hans-Joachim Eckstein in diesem Band).

1.2. Heutiges Verständnis Diese Mehrschichtigkeit der Semantik von Gemeinde fehlt nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch im kirchlichen (und pastoralen) Selbstverständnis. Der Siegeszug der vereinsmäßigen Strukturierung von (Orts-)Gemeinde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, damals eine wichtige Form der Inkulturation der So­ zialform von Gemeinde,4 erweist sich angesichts lebensweltlicher Veränderungen zunehmend als dysfunktional. Auch aktuelle kirchliche Dokumente, die sich um eine Öffnung der parochialen Engführung bemühen, fallen immer wieder in diese Vorstellung zurück. Die dann begegnende Rede von der »engeren Kirchengemeinde« ist verräterisch und impliziert ein (nach evangelischem 4  Vgl. Wolfgang Lorenz, Kirchenreform als Gemeindereform dargestellt am Beispiel Emil Sulze, masch. Diss. (Kirchliche Hochschule Berlin) 1981.

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Verständnis) theologisch ungeklärtes Gemeindeverständnis. Demgegenüber gilt es, die seit Beginn des Christentums begegnende Balance zwischen weltweiter Ökumene, örtlicher Präsenz und häuslicher Verankerung von Gemeinde wiederzugewinnen. Der Ausfall der ökumenischen Perspektive führt zur Provin­ zialisierung des Christentums, die Vernachlässigung der familiä­ ren Perspektive zu Lebensferne, insofern Familie, jetzt im Sinne neuerer Familiensoziologie multilokal verstanden,5 wesentlich den Alltag der Menschen prägt. Das Zurücktreten der örtlichen Perspektive kann mit einem Verlust an Bedeutung christlicher Daseinsund Wertorientierung in dem, für die Lebensführung der meisten Menschen entscheidenden, lokalen Nahraum einhergehen. Die Ideologie des vereinsmäßigen sog. Gemeindelebens hat die ökumenische und häuslich-familiale Dimension von Gemeinde zurückgedrängt. Tatsächlich sind sich wohl die meisten Familien nicht mehr ihrer ekklesialen Bedeutung bewusst. Der Bereich der Ökumenizität christlicher Gemeinde (in internationaler und konfessioneller Hinsicht) blitzt an vielen Orten nur selten auf.

2. Gottesdienst auf den verschiedenen Ebenen von Gemeinde Auch bei »Gottesdienst« stellen sich Fragen hinsichtlich der genauen Bedeutung, hier allerdings anders als bei »Gemeinde«.6 Denn »Gottesdienst« ist kein biblischer Begriff, also keine Übersetzung eines griechischen (oder hebräischen) Wortes. Vielmehr vermeiden die neutestamentlichen Autoren meist sogar kultische Terminologie, wenn sie das erwähnen, was wir heute gottesdienstliche Handlungen o.ä. nennen. Auch die Bezeichnungen kirchlicher Funktionsträger (apostolos, episkopos, diakonos) entstammen nicht der kultischen Sprache. Die Übernahme der pro5  Vgl. z.B. Wolfgang Lauterbach, Die multilokale Mehrgenerationenfamilie. Zum Wandel der Familienstruktur in der zweiten Lebenshälfte (Familie und Gesellschaft 13), Würzburg 2004. 6  Vgl. zum Folgenden Christian Grethlein, Grundfragen der Liturgik, Gütersloh 2001, 55–65.

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phetischen Kultkritik durch Jesus – nach Mt 9,13; 12,7 zitiert er Hos 6,6 – unterstreicht diesen – bald vergessenen – Grundzug christlichen Gottesdienstverständnisses. So widerspricht dessen kultische Engführung dem Grundimpuls des Christentums. Paulus hat den daraus folgenden Zusammenhang von kultischem Handeln und alltäglichem Lebensvollzug in Röm 12,1f. auf den Begriff gebracht: »Ich ermahne euch nun, Brüder, unter Berufung auf die Barmherzigkeit Gottes, eure Leiber hinzugeben zu einem lebendigen, heiligen, Gott wohlgefälligen Opfer. Das ist euer geistlicher Gottesdienst. Laßt euch nicht diesem Weltgefüge gleichschalten, euch vielmehr in erneuertem Denken ändern, um prüfen zu können, was Gottes Wille ist, (also) das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.«7

Demnach ist für christlichen Gottesdienst die den ganzen Menschen umfassende Hingabe an den Willen Gottes konstitutiv. Damit ist zugleich aber eine gewisse Distanz zum Alltag gegeben, insofern vor der Gleichschaltung mit dem »Schema« der Welt gewarnt wird. Inhaltlich wird – indirekt durch die verwendete Taufterminologie8 – der Christusbezug als grundlegend statuiert. Dazu gehören zum Gottesdienst offenkundig mehrere Menschen, Paulus formuliert im Plural. Ein solches, an der lebensbezogenen gemeinschaftlichen Kommunikation zwischen Gott und den Menschen interessiertes, Gottesdienstverständnis erweist sich als heuristisch fruchtbar, wenn dem Zusammenhang zwischen Gottesdienst und Gemeinde auf den eben skizzierten Ebenen nachgegangen wird.

2.1. Gottesdienst und multilokale Mehrgenerationenfamilie Zuerst zur Ebene des Hauses: Die hier sich öffnende liturgische Perspektive wurde lange Zeit durch einen (auch soziologisch) auf den Haushalt fixierten Familienbegriff verdunkelt. So konnte man auf die Differenz zwischen der Erwerbs- und Lebensge7  Übersetzung von Ernst Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 1973, 310. 8  Vgl. zu den Einzelnachweisen aaO., 312–314.

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meinschaft des antiken Hauses und der modernen sogenannten Kleinfamilie hinweisen und die kirchentheoretische Vernachlässigung dieses Bereichs rechtfertigen. Mittlerweile hat sich aber die Familiensoziologie umorientiert und die »multilokale Mehrgenerationenfamilie« als eine, nicht zuletzt für Menschen in der zweiten Lebenshälfte, aber auch die Sozialisation der Kinder wichtige soziale Größe identifiziert. Bei Familien mit kleinen Kindern kommen so neben Mutter, Vater bzw. Stiefmutter und -vater, Geschwistern und Halbgeschwistern auch Großeltern und/oder andere betreuende Verwandte, eine eventuelle Tagesmutter, Tagesgeschwister, aber auch Kinderkrippe, -hort und Kindergarten sowie Schule, Schulhort u.Ä. in den Blick. Verändert man so den Blick auf Familie, als wesentlich durch die Generationendifferenz sowie ein besonderes Solidaritätsverhältnis konstituiert, nicht aber unbedingt durch biologische Verbundenheit,9 gewinnt die gottesdienstliche Dimension ungewohnte Weite. Zuerst begegnen dann beim Stichwort »Hausgemeinde« nicht auf Grund eigener Entscheidung und meist Übereinstimmung in der Praxis Pietatis gewählte Kommunikationsformen wie der traditionelle Hauskreis. Vielmehr ziehen sozialisationstheoretisch gewichtige Rituale wie das abendliche Zu-Bett-Bringen eines Kindes die Aufmerksamkeit auf sich. Eine sich auf die Befragung von 1200 deutschschweizer Familien stützende empirische Untersuchung ergab hier interessante Befunde.10 Zumindest in der Hälfte der Familien vollzieht sich allabendlich eine intensive Kommunikation, die nicht nur funktional, sondern auch inhaltlich als gottesdienstlich zu qualifizieren ist. So geben fast 40 % der Befragten an, dass am letzten Abend (vor der Befragung) ein Gebet gesprochen wurde, in 42 % der Rituale wurde ein Lied gesungen (wobei in über der Hälfte davon das »Glöggli«-Lied erklingt), in über der Hälfte der Fälle eine Geschichte vorgelesen oder erzählt, ebenfalls in diesem Umfang wurde noch über 9  Vgl. Rosemarie Nave-Herz, Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung, Darmstadt 1994, 5f. 10  Vgl. Christoph Morgenthaler, Abendrituale. Umrisse einer ethnografischen Liturgik, in: PTh 97 (2008), 168–185.

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den Tag gesprochen und bei fast 90 % gab es einen Gute-NachtKuss. Dazu kommen diverse Formen der expliziten Kommunikation des Evangeliums in Kindergärten, etwa bei Gebeten11 und Kinder(garten)gottesdiensten oder in der Schule. Vor allem der Einschulungsgottesdienst, oft durch Lehrer/innen und/oder Eltern initiiert, hat in den letzten zwanzig Jahren deutlich an – auch zahlenmäßig messbarer – Attraktivität gewonnen.12 Diese Beobachtung leitet über zu der liturgischen Form, die im Bereich der multilokalen Mehrgenerationenfamilie seit langem große Stabilität besitzt und zugleich von vereinskirchlich orientierten Theologen kritisch beäugt wird, den Kasualien. Sie, also in engerem Sinn: Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung, bilden neben den Hochfesten, allen voran Weihnachten, wichtige liturgische Höhepunkte im Bereich der multilokalen Mehrgenerationenfamilie. Der Religionssoziologe Michael Ebertz hat ihre Attraktivität einleuchtend dadurch erklärt, dass sie »zweiseitige liturgische Handlungen« sind, d.h. sie können sowohl in kirchlicher als auch familiärer Logik verstanden werden.13 Schließlich findet liturgische Kommunikation im Bereich des »Hauses« massenmedial statt. Dabei ist nicht nur an die sonntäglichen ZDF-Gottesdienste, sondern auch an diverse Morgenandachten im Radio zu erinnern, die regelmäßig viele Menschen in ihrer alltäglichen Umgebung (einschließlich Auto) erreichen.

11  Vgl. Katharina Kammeyer, »Lieber Gott, Amen!« Theologische und empirische Studien zum Gebet im Horizont theologischer Gespräche mit Vorschulkindern, Stuttgart 2009. 12  Vgl. Marcell Saß, Schulanfang und Gottesdienst. Religionspädagogische Studien zur Feierpraxis im Kontext der Einschulung (APrTh 45), Leipzig 2010. 13  Michael Ebertz, Einseitige und zweiseitige liturgische Handlungen – Gottes-Dienst in der entfalteten Moderne, in: Benedikt Kranemann / Eduard Nagel / Elmar Nübold (Hg.), Heute Gott feiern. Liturgiefähigkeit des Menschen und Menschenfähigkeit der Liturgie, Freiburg 1999, 14–38.

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2.2. Gottesdienst und Kirchengemeinde Tatsächlich hat sich in den letzten Jahrzehnten die liturgische Partizipation der Kirchenmitglieder an den Gottesdiensten, die am Sonntagmorgen gefeiert werden verändert. Nahmen 1963 EKDweit noch durchschnittlich etwa 1.700.000 Menschen (über 12 Jahre) und 780.000 Kinder, also etwa 7 % der Kirchenmitglieder, an einem evangelischen Gottesdienst bzw. Kindergottesdienst an einem Sonntagmorgen teil, waren dies 2006 – in Gesamtdeutschland – etwa 980.000 (ältere) Teilnehmer/innen und 285.000 Kindergottesdienstbesucher/innen (entspricht etwa 3,9 % der Kirchenmitglieder), mit weiter abnehmender Tendenz. Dies hat auch abgesehen von den demographischen Veränderungen, die besonders den Kindergottesdienst betreffen, verschiedene Ursachen. Vor allem hat sich die Regelmäßigkeit in der Gottesdienstteilnahme verändert. Heute findet nur noch eine kleine Minderheit jeden Sonntag den Weg in die Kirche. Schon vor Jahrzehnten hat Gerhard Rau in diesem Zusammenhang den »Festtagskirchgänger« entdeckt.14 U.a. wies er auf das »Wochenende« als neue Zeiteinheit hin. Auch könnte man die Einführung der wöchentlichen Gottesdienstübertragung im ZDF 1986 nennen. Peter Cornehl führte Raus Analyse weiter und wies nachdrücklich auf Veränderungen im Zeitbudget der Menschen hin: »Man kann die Prognose wagen, daß Bedürfnisse, Interessen und Rhythmen der Teilnahme am Kulturprogramm im Zuge weiterer Arbeitszeitverkürzung sich in Zukunft rasch verändern werden. Entscheidend dafür, ob in diesem Bereich auch ein gottesdienstliches Angebot ›angenommen‹ wird, ist auf die Dauer sein Sinnwert: nicht geschickte Terminregie und äußerlich attraktive Programmgestaltung, sondern der theologische Gehalt, also die Frage, ob die Menschen […] in diesen Gottesdiensten theologische Sinndeutung erfahren, mit der sie leben können.«15 14  Gerhard Rau, Rehabilitation des Festtagskirchgängers, in: Manfred Seitz / Lutz Mohaupt (Hg.), Gottesdienst und öffentliche Meinung. Kommentare und Untersuchungen zur Gottesdienstumfrage der VELKD, Stuttgart 1977, 83–99. 15  Peter Cornehl, Teilnahme am Gottesdienst. Zur Logik des Kirchgangs – Befund und Konsequenzen, in: Joachim Matthes (Hg.), Kirchenmitgliedschaft im Wandel. Untersuchungen zur Realität der Volkskirche.

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Diese Interpretation hebt sich in Stil und Differenzierungsgrad wohltuend von dem »Steigerungs«-Gerede im Perspektivpapier der EKD »­K irche der Freiheit« sechzehn Jahre später ab. Und tatsächlich sprechen auch sonstige Beobachtungen für Cornehls Vermutung. So nimmt die Größe der Gemeinde am Heiligabend in evangelischen Kirchen zu. 1975 zählte man – in der Bundesrepublik – 5.600.000 Feiernde, 2008 waren es – gesamtdeutsch – bereits fast 9.600.000. Und auch für andere Gottesdienstanlässe ist Ähnliches zu vermuten, ohne dass dafür genaue statistische Zahlen vorlägen: etwa für Gottesdienste am oder im Umfeld von Erntedank, für Osternachtfeiern und regional spezifische Gottesdienste.

2.3. Gottesdienst und Ökumene Den wohl größten Aufschwung in den letzten Jahren – unterstützt durch neue Technologien – nahmen gottesdienstliche Feiern in überregionaler und -konfessioneller Hinsicht. Der ZDF-Gottesdienst wurde bereits erwähnt.16 1984 wurde er – noch nicht wöchentlich ausgestrahlt – nur von etwa 360.000 Menschen gesehen, mittlerweile sehen ihn bis zu eine Million Menschen. Diese Steigerung der Zuschauerzahlen ist, innerhalb des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, einzigartig. Dabei unterscheiden die Menschen offenkundig nicht zwischen evangelischen und katholischen Gottesdiensten, die sich ja wöchentlich abwechseln. Dazu kommen zahlreiche regional ausgestrahlte Gottesdienste im Radio, in denen ebenfalls versucht wird, im Medium biblischer Texte Wirklichkeit zu erschließen. Bisher kaum beachtet und in ihrer zahlenmäßigen Bedeutung noch nicht abzuschätzen sind Online-Gottesdienste. Stefan Böntert untersuchte Gottesdienste im Internet mit herkömmlichen (katholischen) liturgiewissenschaftlichen Kriterien. Nicht zuletzt Beiträge zur zweiten EKD-Umfragen »Was wird aus der Kirche«, Gütersloh 1990, 15–53, hier 26. 16  Zum Konzept vgl. Charlotte Magin / Helmut Schwier, Kanzel, Kreuz und Kamera. Impulse für Gottesdienst und Predigt (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 12), Leipzig 2005.

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durch Rückgriff auf die Mystik und deren Erfahrung der Unmittelbarkeit relativiert er die Bedeutung der physischen Präsenz17 und sieht in den neuen Formen eine Erweiterung des bisherigen liturgischen Gegenstandsfelds, das er – entsprechend katholischer Lehre – wesentlich als sakramentales versteht.18 Daneben liegt die erste Studie zum Beten in Chats vor, die u.a. auf das Entstehen einer neuen religiösen Ausdrucksform hinweist. Sie vollzieht sich jenseits der traditionellen Distinktion zwischen öffentlich liturgischem und privatem Gebet und eröffnet zugleich eine neue Form der Sozialität, die nicht mehr durch face-to-face-Kommunikation vermittelt ist.19 So bilden sich gegenwärtig neue, den lokalen und regionalen Bereich übersteigende Gottesdienstformen heraus. Gemeinsam sind ihnen der enge Zusammenhang mit technischen Innova­ tionen sowie das Ausblenden der konfessionellen, teilweise sogar religiösen Distinktionen.

3. Gottesdienst und Gemeindeentwicklung in verschiedenen Modellen Wie bereits bei »Gottesdienst« und »Gemeinde« ist ebenfalls bei »Gemeindeentwicklung« eine kurze Begriffsklärung notwendig. Dabei begegnen drei unterschiedliche Akzentuierungen, die – jedenfalls tendenziell – die Aufgabe unterschiedlich fassen lassen. Sie ergeben zugleich drei wichtige Gesichtspunkte für die Bestimmung des Verhältnisses von Gottesdienst und Gemeindeentwicklung. Konkret untersuche ich dieses anhand von drei unterschiedlichen Konzeptionen. Sie wurden zum einen wegen ihrer Bedeutung für die Fachdiskussion ausgewählt, zum anderen lassen sich anhand ihrer Analyse zentrale Problemstellungen aufzeigen, die auch in anderen Konzeptionen begegnen. 17  Stefan Böntert, Gottesdienste im Internet. Perspektiven eines Dialogs zwischen Internet und Liturgie, Stuttgart 2005, 166–169. 18  AaO., 222–247. 19  Anna-Katharina Lienau, Gebet im Internet. Eine praktisch-theologische Untersuchung (Studien zur Christlichen Publizistik 17), Erlangen 2009.

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3.1. Begriff Gemeindentwicklung20 In der Literatur finden sich die Begriffe »Gemeindeentwicklung«, »Gemeindeaufbau« und »Kybernetik« oft wenig trennscharf nebeneinander: Praktisch-theologisch am ältesten ist wohl »Kybernetik«, eine enzyklopädische Bezeichnung, die Gerhard von Zezschwitz – unter Bezug auf 1Kor 12,18 – bei Erörterungen zum Kirchenregiment einführte. 21 Zwar hat dieser Begriff eine deutliche neutestamentliche Kontur, doch setzte sich die 1947 durch den Mathematiker Norbert Wiener für Steuerungsprozesse in Maschinen in Anspruch genommene Bedeutung von Kybernetik allgemein durch. Sachlich von bleibender Bedeutung ist jedoch die Benennung der Leitungsaufgabe als wichtiges Thema. »Gemeindeaufbau« ist eine Übersetzung des biblischen »Oikodome« und wurde von Bruno Gutmann eingeführt im Kontext der Äußeren Mission. 22 Inhaltlich unterstreicht er die Bedeutung des göttlichen Handelns als Voraussetzung für christliche Gemeinde. Dabei stellte sich von Anfang an die Frage des Anknüpfens an vorfindliche Sozialformen bzw. später die Frage des Weiterführens von bestehenden Formen des Christseins. Genau dieses Problem fokussiert der jüngste von den drei genannten Begriffen, die »Gemeindeentwicklung«. Er verdankt sich dem sozialwissenschaftlich fundierten Konzept der Gemeindeberatung, das organisationssoziologische Modelle und Einsichten auf den Bereich der Kirchengemeinde überträgt. Hier geht es vor allem darum, unter neuen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen einen verlässlichen organisatorischen Rahmen für die Kommunikation des Evangeliums zu schaffen. 20  Vgl. zum Folgenden Christian Grethlein, Gemeindeentwicklung. Gemeindeaufbau / church growth / Gemeindeleben / Verein, in: Wilhelm Gräb / Birgit Weyel (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 494–506, hier 494f. 21  Gerhard v. Zezschwitz, System der Praktischen Theologie. Paragraphen für academische Vorlesungen, Leipzig 1876–1878, 147. 22  Bruno Gutmann, Gemeindeaufbau aus dem Evangelium. Grundsätzliches für Mission und Heimatkirche, Leipzig 1925.

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Ein Begriff von Gemeindeentwicklung, der sich darum bemüht, diese Einsichten aufzunehmen und so auch die Konzepte der Kybernetik und des Gemeindeaufbaus weiterzuführen, hat also folgende Aspekte zu integrieren: die Frage nach der Leitung (Kybernetik), das Vertrauen auf das Handeln Gottes (Gemeindeaufbau) und die Aufgabe eines organisatorischen Rahmens für die Kommunikation des Evangeliums (Gemeindeentwicklung). Sie markieren zugleich zentrale Themen des Gottesdienstes: seine Leitung, seine Ausrichtung auf Gottes verheißene Gegenwart und seine konkrete Gestaltungsaufgabe.

3.2. Evangelikal-missionarischer Gemeindeaufbau 1984 gab der damalige Herner Superintendent Fritz Schwarz mit seinem Sohn Christian der Diskussion um die weitere Entwicklung von ­K irche und Gemeinde einen viel beachteten Impuls. Ausgangspunkt ist eine harsche Kritik an der Institution ­Kirche als »Christentumsverwaltung«. 23 In ihrer »Theologie des Gemeindeaufbaus« unterscheiden die Beiden strikt zwischen der ­Kirche als Institution und der »Ekklesia«.24 Positiv gehen sie von einer aktiven Form des Christseins aus: »Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ist ein Mensch Christ, der ein persönliches Verhältnis zu Jesus und zu Schwestern und Brüdern hat, deren Glaube in der Liebe tätig wird. Es kann keine passiven Christen geben, weil Christsein nur in lebendiger Gliedschaft am Leibe Jesu Christi möglich ist.«25

In diesem Konzept wird also alles dem persönlichen Verhältnis zu Jesus und seiner »Gemeinde« untergeordnet. Deshalb lehnen die beiden Theologen auch die Praxis der Kindertaufe ab. 26 Schon hier ist auffällig, welche geringe Rolle Gottesdienst in diesem Konzept spielt. Konsequent ging dann Christian Schwarz seinen weiteren Weg außerhalb der Landeskirche. 23  Fritz Schwarz / Christian Schwarz, Theologie des Gemeindeaufbaus. Ein Versuch, Neukirchen-Vluyn 1984, 11. 24  AaO., 27–33. 25  AaO., 44. 26  AaO., 43f.

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Michael Herbst, früherer Assistent von Manfred Seitz und jetzt Leiter des »Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung« an der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald, nahm das evangelikal-missionarische Anliegen behutsamer und theologisch besonnener auf. Er entwarf drei »kybernetische Grundentscheidungen«: »Es geht erstens im missionarischen Gemeindeaufbau um die geistliche Erneuerung und kybernetische Ausbildung des Pfarrerstandes. Es geht im missionarischen Gemeindeaufbau zweitens darum, solche Gemeindeglieder, die sich schon zum Leben der Gemeinde halten, entweder im Glauben zu vergewissern oder allererst zum Glauben zu führen, um dann auch ihre Charismen für die Mitarbeit zu entdecken. Es geht im missionarischen Gemeindeaufbau drittens darum, auch die fernstehenden Gemeindeglieder zur Umkehr einzuladen und in das Leben der ›Gemeinde von Brüdern‹ einzugliedern.«27

Deutlich ist hier der pastoraltheologische Ansatz der Erlanger Schule (z.B. v. Zezschwitz) zu erkennen. Auffällig ist auch, dass allgemein soziale Formen wie Familie keine Rolle spielen, demgegenüber dominiert der »Glaube« auch das Gemeinschaftsverständnis (»Leben der Gemeinde«). Schließlich steht der Gottesdienst, in welcher Form auch immer, eher im Hintergrund. In jüngster Zeit versuchen Vertreter dieses Ansatzes, Gemeinsamkeiten zwischen den Diskursen »Bildung« und »Mission« zu finden. 28 Auch hier bleibt interessanter Weise die liturgische Dimension weithin ausgespart. Dahinter steht wohl die Auffassung, dass »Glaube« etwas ganz Anderes ist und besser außerhalb der sonstigen Lebensvollzüge angeeignet wird. Dafür spricht zumindest das Interesse an sog. Glaubenskursen im Bereich des missionarischen Gemeindeaufbaus. Hier scheint es, besser als in einem Ritual, möglich zu sein, das »Evangelium« zu vermitteln.

27  Michael Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volks­ kirche, Stuttgart 41996, 310f. 28  Vgl. Johannes Zimmermann (Hg.), Darf Bildung missionarisch sein? Beiträge zum Verhältnis von Bildung und Mission (Beiträge zur Evangelisation und Gemeindeentwicklung 16), Neukirchen-Vluyn 2010.

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3.3. Organisationsentwicklung Etwas vor der »Theologie des Gemeindeaufbaus« legte der Pfarrer Walter Lück einen bewusst volkskirchlichen Vorschlag zur Gemeindeentwicklung vor, der die pluralen Einstellungen und Interessen der Kirchenmitglieder ernst nehmen will. Positiv empfiehlt Lück eine Gliederung der Ortsgemeinde in Fachbereiche, die spezialisierte Arbeit ermöglichen. 29 Kirchentheoretisch nennt er dies eine »konziliare Gestalt von ­Kirche am Ort«: »Die Kirchengemeinde müßte konziliare Struktur haben. Sie müßte angstfreies Gespräch ermöglichen und dürfte nicht Gegenstand von Aggressionen sein. Praktisch bedeutet das, daß die Mitglieder innerhalb der Institution unterschiedliche Positionen erkennen können sollen, die durch den verstehenden Dialog miteinander verbunden sind. So könnte es gelingen, daß auch die gegenwärtig abseits stehende Mehrheit der Mitglieder sich in der Institution der ­K irche angenommen und vertreten sehen würde.«30

Dieses konziliare Konzept nimmt Herbert Lindner, der langjährige Leiter der Gemeindeakademie in Rummelsberg, auf und führt es in seinem »Entwicklungsprogramm für Ortsgemeinden« weiter. Dabei geht er ebenfalls kritisch von der kirchlichen Gegenwartssituation aus, jedoch mit deutlich anderer Akzentuierung als bei den missionarisch ausgerichteten Autoren. Nach seiner Einschätzung kann ­Kirche gegenwärtig ihr Potenzial, das »in ihrer Bibelorientierung, in ihrer Geschichte und in ihren Gemeinden und deren Mitarbeitenden« liegt, nicht ausschöpfen, weil sie den schnellen allgemeinen Wandel zu wenig berücksichtigt.31 Er empfiehlt für die anstehende Veränderung eine organisationssoziologische Umorientierung: »Um die Neuausrichtung [sc. der Kirche, Ch.G.] zu erreichen, müssen evangelische Kirchen als Organisationen ausgestaltet werden. Aus soziologischer Sicht lassen sich Kirchen als Teilorganisationen der Gesellschaft begreifen.«32

29 

Walter Lück, Praxis: Kirchengemeinde, Stuttgart 1978, 129–136. AaO., 87f. 31  Herbert Lindner, ­K irche am Ort. Ein Entwicklungsprogramm für Ortsgemeinden, Stuttgart 2000. 32  AaO., 15 (ohne teilweisen Fettdruck des Originals). 30 

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Unter der Vision »gemeinsam leben in Gottes Haus« entwickelt Lindner ein »[…] aus dem konziliaren Zusammenspiel von Situation, Auftrag und Person […]« bestehendes Konzept.33 Konkret wird es durch die Konzentration auf die biographiebezogenen Kasualien: »Die Lebensübergänge sind der bündelnde Fokus für alle Angebote der Ortsgemeinde. Zunächst ist das eine Frage der Perspektive. Vieles aus dem Bestehenden läßt sich in weiten Teilen neu verstehen und dann auch anders praktizieren. Auch das gruppengemeinschaftliche Leben läßt sich dieser Perspektive großenteils zuordnen. Auch die helfenden und bildenden Angebote machen hier keine Ausnahme. Aber im Konfliktfall ist die Priorität klar: Die Energien der Gemeinde, sprich die Mitarbeit und das Geld fließen zunächst in die Begleitung der Lebensübergänge […]«34

So soll den Bedürfnissen der Menschen entsprochen werden. Zudem ist damit eine klare Option für die Dominanz der Ortsgemeinden als die »Basisstruktur« der evangelischen ­K irche Deutschlands verbunden.35 Eine Unterstützung findet dieses Modell der Gemeindentwicklung durch das Kirchenjahr.36 Hier bekommen also gottesdienstliche Feiern große Bedeutung, allerdings als Handeln der Ortsgemeinde.

3.4. Kirchliche Orte Zwar unterschieden sich die beiden vorgestellten Modelle der Gemeindeentwicklung grundlegend in Begründung und Ausrichtung. Gemeinsam war aber beiden die exklusive Konzentration auf »Gemeinde« als eine eigene Organisationsform jenseits von Haus und Ökumene. Hier führt die Habilitationsschrift von Uta Pohl-Patalong weiter. Ihr Ausgangspunkt ist ein binnenkirch­ licher Konflikt, nämlich die Auseinandersetzung um die Dominanz der Parochialstruktur. In einer akribischen Auflistung der jeweiligen Stärken und Schwächen parochialer und überparochialer Arbeit kommt Pohl-Patalong zu dem Schluss, 33 

AaO., 16. AaO., 135. 35  AaO., 162. 36  Vgl. aaO., 183–208. 34 

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»dass die nichtparochiale Position in mehr Bereichen Stärken zeigt als die parochiale, und zwar sowohl auf soziologischer wie auf ekklesiologischer Ebene. Gegenüber der bisherigen dominant von parochialen Strukturen bestimmten kirchlichen Organisationsform wird damit Handlungsbedarf angezeigt. Auch die parochiale Seite hat jedoch stichhaltige Argumente und zeigt an vielen Punkten gleiche Stärke wie die nichtparochiale Gegenposition […] Es kann also nach der Argumentationslage nicht einseitig zugunsten nichtparochialer Organisationsformen entschieden werden.«37

Hier wird also deutlich die Voraussetzung der bisher skizzierten Modelle in Frage gestellt, nämlich die Dominanz der örtlichen Kirchengemeinde. Demgegenüber plädiert Pohl-Patalong für ein Ernstnehmen der unterschiedlichen »kirchlichen Orte«: »Gemeint sind damit ebenso bisherige Parochien, die in der Regel baulich durch eine ­K irche und ein Gemeindehaus repräsentiert werden, wie Tagungshäuser, kirchlich genutzte Räume in Krankenhäusern, Schulen und Gefängnissen und jegliche Gebäude, in denen bisher kirchliche Arbeit geleistet wird, teils mit gleichen Aufgabengebieten – vor allem in den Parochien –, teils mit unterschiedlichen Schwerpunkten – sowohl in den Parochien als auch in den Nichtparochien.«38

Dabei wird für jeden kirchlichen Ort eine Differenzierung zwischen vereinsähnlichem kirchlichem Leben und einem jeweils inhaltlich qualifizierten Arbeitsbereich vorgeschlagen. Das erste soll von den Interessierten selbst ehrenamtlich gestaltet werden, das zweite von Haupt- und Ehrenamtlichen. Inhaltlich gehören »die Vermittlung von Wort und Sakrament« konstitutiv zu jedem kirchlichen Ort.39 Auch die Kasualien können sowohl in den Parochien als auch außerhalb in sog. Kasualkirchen gefeiert werden. Insgesamt kommt also in diesem Modell den Gottesdiensten ein großes Gewicht innerhalb und außerhalb der Parochien zu, allerdings jeweils nur im organisatorisch kirchlichen Rahmen.

37  Uta Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003, 211. 38  AaO., 228. 39  AaO., 221.

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Dazu wird auch die ökumenische Dimension für beide Formen der kirchlichen Repräsentanz erwähnt.40

4. Gottesdienst und Gemeindeentwicklung: ein Ausblick In den skizzierten Modellen fällt auf, dass die grundlegenden Begriffe »Gottesdienst« und »Gemeinde« nicht bzw. nicht gründlich in ihrer biblischen Kontur geklärt werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen.

4.1. Defizite der Konzepte Alle Konzepte blenden die kirchentheoretische Bedeutung des Bereichs aus, der biblisch mit »Haus« bezeichnet wird und dem heute die multilokale Mehrgenerationenfamilie in der in 1.2. skizzierten Weite entspricht. »Familie« kommt nur als von »Gemeinde« zu betreuende Sozialform in den Blick. Dies gilt auch für das Modell Lindners, wenngleich dessen Betonung der Kasualien diesen Bereich als zentral für die Ortsgemeinde herausstreicht. Allerdings stellt das in der Praxis – zumindest im städtischen Bereich – vor ein Problem. Denn die multilokale Mehrgenerationenfamilie bezieht sich nicht stets nur auf das Territorium einer Parochie. Pohl-Patalongs Vorschlag der »kirchlichen Orte« könnte dagegen entsprechend weitergeführt werden. Es gälte dann Familie als »kirchlichen Ort« zu entdecken und zu profilieren. Dazu müsste jedoch der Begriff des Gottesdienstes weiter gefasst werden. Ein ähnliches Defizit ist hinsichtlich der elektronisch vermittelten Formen der Kommunikation des Evangeliums zu konstatieren, die sich jenseits örtlicher, konfessioneller und teilweise religiöser Bestimmungen ereignen. Schon seit mehreren Jahrzehnten erfreuen sich die Gottesdienste in Fernsehen und Rundfunk wachsender Beliebtheit, ohne dass dies in den Gemeindeentwicklungs-Modellen zur Kenntnis, geschweige denn konzeptionell 40 

Vgl. aaO., 183.

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aufgegriffen wird. Mittlerweile steht aber mit dem Übergang von den »mass media« zu den »social media« eine neue tiefgreifende Veränderung der Kommunikations- und Sozialformen an. Bei jüngeren Menschen ist sie bereits ansatzweise greifbar.41 Vor allem durch die Interaktivität der neuen Medien bekommt der, in der neueren agendarischen Praxis und liturgischen Theorie auf katholischer und evangelischer Seite, grundlegende Begriff der »Beteiligung«42 neue Bedeutung.

4.2. Horizonterweiterung Die von mir vorgeschlagene, biblisch konturierte Fassung der Begriffe »Gottesdienst« und »Gemeinde« eröffnet der Diskussion um die Gemeindeentwicklung neue Horizonte. Die exemplarisch zitierten empirischen Befunde zur Kommunikation des Evangeliums in deutschschweizer Familien, in Internet-Gottesdiensten und Chats entlarven das verbreitete Krisen-Gerede als irreführend. Nicht die meist eher schnell und flüchtig entworfenen als theologisch und empirisch geklärten kirchenamtlichen »Reform«-Modelle werden weiterführen. Denn sie sind einem Paradigma kirchlicher Aktivität verpflichtet, das sich durch Verspätung auszeichnet und damit die Lebenswelt verfehlt. Vielmehr gilt es zuerst die vielfältigen Transformationen der Kommunikation des Evangeliums in den Blick zu nehmen, die Menschen schon heute – meist jenseits der kirchlichen Organisation – unternehmen. Die Abendrituale in Familien mit kleinen Kindern oder die Gebete auf Twitter angesichts eines massenmedial ausgestrahlten Unfalls in einer Fernseh-Show weisen eine deutliche Richtung für zukünftige praktisch-theologische Forschung, die sich mit liturgischen und kirchentheoretischen Fragen alltagsnah befassen will. Damit sollen die sich hier begegnenden Äußerungen nicht unkritisch und affirmativ der theologischen Reflexion entnommen 41  Vgl. erste Befunde bei Gerhard Franz, Digital Natives und Digital Immigrants: Social Media als Treffpunkt von zwei Generationen. Ergebnisse einer Onlinebefragung, in: Media Perspektiven 2010, Heft 9, 399–409. 42  Vgl. hierzu monographisch Katharina Stork-Denker, Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst (APrTh 35), Leipzig 2008.

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oder gar normativ aufgeladen werden. Bei Gesprächen mit jungen Eltern und in Gebet-Chats begegnet man schnell Menschen, die dringend Hilfe für eine angemessene Kommunikation des Evangeliums benötigen. Wahrscheinlich kommt in dieser Situation den Kasualien eine hervorragende Bedeutung zu. Hier treffen die in multilokalen Mehrgenerationenfamilien sozial Verbundenen mit ausgebildeten Theologinnen und Theologen zusammen. Kristian Fechtner nannte die Herausforderung dabei – am Beispiel der Trauung – treffend »liturgische Arbeit mit Beteiligten«.43 Dabei geht es um Kommunikationsprozesse, die – wie anspruchsvolle Kommunikation grundsätzlich – ergebnisoffen, so aber auch offen für Neues sind.44 Grundsätzlich von Bedeutung ist dabei die pastorale Zielsetzung: Soll diese Begegnung dazu dienen, Menschen für die aktive Teilnahme in der Ortsgemeinde zu gewinnen – was selten Erfolg hat – oder geht es darum, den Kontakt durch die Kasualie zur Stärkung der Gemeinde multilokale Mehrgenerationenfamilie zu nutzen – was in der Regel dankbar angenommen wird? Ein biblisch konturiertes Verständnis von Gemeinde und Gottesdienst spricht für die zweite Alternative. Ähnliches gilt für die vielfältigen Dimensionen religiöser Kommunikation im Internet. Soll sich das Engagement kirchlicher Mitarbeiter/innen in diesem Bereich primär darauf konzentrieren, die Menschen in die Ortsgemeinden einzuladen oder in die virtuelle Kommunikation evangelische Einsichten zu Fragen der Daseins- und Wertorientierung einspielen?

4.3. Probleme Allerdings ist nicht zu verschweigen, dass die hier vorgeschlagene Neuausrichtung der Diskussion zur Gemeindeentwicklung erhebliches Kränkungspotenzial für kirchliche Mitarbeiter/innen 43  Kristian Fechtner, ­K irche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart – eine Orientierung, Gütersloh 2003, 142. 44  Vgl. Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a.M. 2005, 85–98.

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enthält. Denn wenn neben der örtlichen bzw. ortsgemeindlichen Ebene kirchentheoretisch gleichwertig häusliche bzw. familiale und überregionale virtuelle Sozialformen genannt werden, mindert dies die Bedeutung ortsgemeindlicher Praxis. Dies gilt ebenso für die kirchliche Organisationsstruktur, insofern sie wesentlich auf konfessioneller Distinktion beruht. Auf den beiden genannten Ebenen spielt diese für die meisten Menschen keine Rolle.45 Das ist gut verständlich. Denn im familialen und virtuellen Kontext vollzieht sich in der Regel eine Form der Kommunikation des Evangeliums, die auf den konkreten Alltag und nicht auf Lehrentscheidungen früherer Jahrhunderte bezogen ist. Wenn es nicht gelingt, diese in für die Bewältigung gegenwärtigen Lebens plausible Maximen zu transformieren, werden sie zunehmend die Abständigkeit der kirchlichen Organisation von der Lebenswelt der Menschen demonstrieren, also einen geradezu antimissionarischen Effekt entfalten. Doch erscheint es mir möglich, mit solchen Kränkungen und Herabstufungen produktiv umzugehen. Denn das positive Ergebnis der vorgeschlagenen Horizonterweiterung ist das Ent­decken lebendiger Kommunikation des Evangeliums. Hier begegnen kirchliche Mitarbeiter/innen neuen Aufgaben. Im Bereich der Kasualpraxis erleben bereits Pfarrer/innen, die offen für pluriforme Zugänge zum Evangelium sind, wie bereichernd auch für sie solche Öffnung sein kann.46

45  Tony Jones, The New Christians. Dispatches from the Emergent Frontier, San Francisco 2008, 9, weist für die Situation in den USA darauf hin, dass dort auch die meisten Geistlichen zustimmen, »that denominations are an outmoded form of organized Christianity«. 46  Ein Beispiel hierfür bieten die Gespräche mit Taufeltern in: Regina Sommer, Kindertaufe – Elternverständnis und theologische Deutung (PTHe 102), Stuttgart 2009.

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Gottesdienst auf dem Prüfstand. Empirische Befunde – offene Fragen – Herausforderungen für die Zukunft Friedrich Schweitzer

Immer wieder wird auf die Spannung und das Missverhältnis zwischen der theologischen und kirchlichen Hochschätzung des Gottesdienstes auf der einen und der weithin vernachlässigten Frage nach seiner realen Gestalt und Situation auf der anderen Seite hingewiesen. Bei einer für die ­Kirche so bedeutsamen Veranstaltung wie dem Gottesdienst stünde eigentlich zu erwarten, dass er der erste Gegenstand auch der erfahrungswissenschaftlichen, also empirischen Forschung in der ­Kirche wäre. Dass dem faktisch nicht so ist, bleibt zu beklagen. Dass die Gründe für dieses Forschungs- und Aufmerksamkeitsdefizit nicht nur in den tatsächlich vorhandenen Schwierigkeiten einer entsprechenden Forschung zu suchen sind, soll im Folgenden deutlich werden. Dabei wird sich auch zeigen, dass es bei dem Versuch, den Gottesdienst auf den Prüfstand zu stellen, keineswegs um ein rein akademisches Unternehmen geht. Viel wichtiger könnte eine veränderte Wahrnehmungs- und Denkweise sein, von der Pfarrerinnen und Pfarrer ebenso profitieren könnten wie gemeinde- und kirchenleitende Gremien oder auch einfach die Gemeinden selbst. Denn bei einer kritischen Durchsicht der von den Kirchen sowie von der Praktischen Theologie vorgelegten Untersuchungen wird deutlich, dass es nicht allein an entsprechenden Daten fehlt – auch wenn der Mangel an geeigneten Daten ein empfindliches Grundproblem bleibt –, sondern noch mehr an einer theoretischen Wahrnehmungs- oder Zugangsweise, wie sie als Voraussetzung empirischer Untersuchungen anzusprechen ist. Solange nicht klar ist, worauf sich denn empirische Untersuchungen richten sollen,

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wird sich an der defizitären Forschungssituation auch kaum etwas ändern lassen. Meine These ist dabei, dass es eben eine solche theoretische Wahrnehmungs- und Zugangsweise ist, von der auch die Praxis in den Gemeinden für ihre erfahrungsgestützte Orientierung vor Ort profitieren könnte. Insofern wird es im Folgenden um beides gehen müssen, eine Übersicht zu den verfügbaren empirischen Erkenntnissen sowie – schon vorab – um den Gewinn einer geeigneten Wahrnehmungs- und Zugangsweise.

1. Wahrnehmungs- und Zugangsweisen im Blick auf den Gottesdienst Der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags soll bei erfahrungswissenschaftlichen Zugängen und bei der Empirie des Gottesdienstes liegen. Dass diese Empirie auch mit der von der Systematischen Theologie entwickelten Ekklesiologie sowie mit liturgischen und anderen praktisch-theologischen Theorien verknüpft sein muss, setze ich dabei voraus, konzentriere mich im Folgenden aber konsequent auf die enger gesteckte Frage, welche Empirie im Blick auf den Gottesdienst erforderlich ist. Bislang war es weithin üblich, dass vor allem nach dem Teilnahmeverhalten am Gottesdienst gefragt wurde. Die Evangelische ­K irche in Deutschland (EKD) veröffentlicht dazu jährlich Zahlen, die aber insofern wenig aussagen, als nur die absolute Zahl der Teilnehmenden berichtet wird. Was soll man aber daraus entnehmen, dass es im Jahr 2010 etwa 1,3 Millionen evangelische Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen gegeben hat oder dass am Sonntag Invokavit etwa 1 Million Menschen den Gottesdienst besucht haben?1 Immerhin bestätigt der Vergleich etwa mit dem Gottesdienstbesuch am Erntedankfest und an Heiligabend die bekannten Unterschiede. Denn hier erreichen die Teilnahmezahlen auch statistisch ein Vielfaches der üblichen Beteiligungsrate. Weiter reichen auf jeden Fall aber die Befunde aus den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD, wie sie seit den 1970er Jahren im 1  Kirchenamt der EKD (Hg.), Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, Hannover 2010, 17; zum Folgenden 16. Die Angabe für diesen Sonntag bezieht sich auf die neueste Erhebung im Jahre 2008.

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Abstand von jeweils etwa zehn Jahren durchgeführt werden. Wie wir noch sehen werden, geben diese Studien auch Auskunft über die Zusammensetzung der Gottesdienstgemeinden sowie die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Gottesdienstes. Solche Befunde sind durchaus interessant und können Anlass für Reformimpulse sein. Ein einfaches Beispiel dafür liefert das Impulspapier der EKD »­K irche der Freiheit« mit der Aussage: »mit einer durchschnittlichen Gottesdienstbeteiligung von etwa 4 % können sich die evangelischen Kirchen in Deutschland nicht abfinden«2. Vor allem seit der im Jahre 2006 veröffentlichten, derzeit neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wird darüber hinaus vermehrt gesehen, dass »­Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge« der Menschen betrachtet werden muss.3 Dies gilt auch für den Gottesdienst. Deshalb wird nun vor allem mit Hilfe einer Analyse unterschiedlicher Lebensstile genauer gefragt, welche Erwartungen bestimmte Gruppen an den Gottesdienst herantragen und welche Erfahrungen sie mit ihm machen. Damit kommt es zu einem bedeutsamen Perspektivenwechsel: Ausgangspunkt ist nun nicht mehr einfach der Gottesdienst (Mikroperspektive), sondern es werden die Lebenszusammenhänge (Mesoperspektive) einbezogen, von denen her der Gottesdienst von Kirchenmitgliedern und anderen Menschen wahrgenommen wird. Dieser richtige und wichtige Schritt hin zu einer erweiterten Perspektive ist aber erst ansatzweise vollzogen. Denn die Frage nach Erwartungen und Präferenzen, die sich mit unterschiedlichen »Lebensstilen« verbinden, stellt hier natürlich nur eine Möglichkeit dar. Weitere bedeutsame Kontexte für den Gottesdienst müssten sich beispielsweise auf unterschiedliche Formen von Familie oder Gruppen in der Gesellschaft beziehen sowie auf institutionelle Zusammenhänge wie etwa Heime oder Anstalten verschiedener Art.4 Viel 2  Kirchenamt der EKD (Hg.), ­K irche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische ­K irche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006, 23. 3  Vgl. Wolfgang Huber / Johannes Friedrich / Peter Steinacker (Hg.), ­K irche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006. 4  Einige Impulse dazu enthält der auf die vierte Mitgliedschaftsstudie

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zu wenig beachtet wird auch noch die biographische Perspektive auf den Gottesdienst, die sich lebensgeschichtlich aus verschiedenen Erfahrungen ergibt, angefangen in der Kindheit und bis hin zum hohen Alter. Damit ist auch bereits ein weiteres und besonders gravierendes Defizit angesprochen: Bislang liegen so gut wie keine Studien zur Gottesdienstsozialisation vor. Mit anderen Worten, es wird wissenschaftlich nicht einmal gefragt und untersucht, wie in der Lebensgeschichte eine Vertrautheit mit dem Gottesdienst entstehen kann und welche Enttäuschungen oder distanzierenden Erfahrungen dabei auftreten. Die allermeisten Studien konzentrieren sich von vornherein allein auf Erwachsene, während Kinder und Jugendliche ausgeblendet bleiben. Es liegt jedoch auf der Hand, dass beispielsweise die von der EKD geforderte Steigerung beim Gottesdienstbesuch kaum erreicht werden kann, wenn es nicht langfristig gelingt, schon in der Kindheit und im Jugendalter ein positives Verhältnis sowie eine Bindung zum Gottesdienst aufzubauen. Die erfahrungswissenschaftliche Perspektive kann sich also nicht auf den Gottesdienst selbst beschränken, sondern muss nach dessen weiterreichenden Lebensbezügen fragen. Solche Lebensbezüge erschöpfen sich allerdings nicht im Nahbereich des alltäglichen Lebens einzelner Menschen, sondern sie erstrecken sich auch auf die Gesellschaft und auf die Bedeutung des Gottesdienstes für diese (Makroperspektive).5 Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn oder dass es Gottesdienste gibt? Kann und darf beispielsweise behauptet werden, dass Gottesdienste eine wichtige gesellschaftliche Funktion der religiösen Integration der bezogene Band Jan Hermelink / Ingrid Lukatis / Monika WohlrabSahr (Hg.), ­K irche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Bd. 2: Analysen zu Gruppendiskussionen und Erzählinterviews, Gütersloh 2006. 5  Ekklesiologisch und kirchentheoretisch wird dies inzwischen zumindest von manchen Autoren wahrgenommen, vgl. bes. Johannes A. van der Ven, Kontextuelle Ekklesiologie, Düsseldorf 1995; Reiner Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin/New York 1997; aus einer anderen disziplinären Perspektive vgl. auch Martin D. Stringer, A Sociological History of Christian Worship, Cambridge 2005.

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Gesellschaft übernehmen oder dass sie ein notwendiger Bestandteil gesellschaftlicher Symbolisierungsprozesse im Blick auf Sinn und Werte sind, etwa in der Gestalt einer Wertepräsentation und Wertekommunikation? Wie eng der Gottesdienst und selbst der Gottesdienstbesuch mit gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtzusammenhängen verbunden sind, macht beispielsweise der vergleichende Blick auf die Vereinigten Staaten deutlich. Sind es in Deutschland etwa 4 % der Kirchenmitglieder, die an einem durchschnittlichen Sonntag einen Gottesdienst besuchen, so stehen dem etwa 50 % der amerikanischen Bevölkerung gegenüber, die jeden Sonntag Gottesdienst feiern.6 Solche Unterschiede lassen sich kaum damit erklären, dass die Gottesdienste in den USA eben attraktiver seien, lebendiger oder etwa missionarischer. Das belegt beispielsweise auch die genauere Betrachtung der Unterschiede innerhalb der USA, wie sie das Gallup-Institut, das führende amerikanische Meinungsforschungsinstitut, herausgearbeitet hat.7 Der Gottesdienstbesuch ist demnach sehr hoch in Staaten wie Alabama, Lousiana und South Carolina (jeweils ca. 58 %), während er etwa in New Hampshire oder Vermont weit geringer ausfällt (ca. 24 %). An solchen Beobachtungen wird exemplarisch deutlich, dass es gesellschaftliche, soziale, kulturelle und religiöse Voraussetzungen sind, die – etwa in den verschiedenen Bundesstaaten in den USA, aber ähnlich auch in den unterschiedlichen Regionen in Deutschland – über den Anteil der Gottesdienstbesucher bestimmen. Der Blick auf den Gottesdienst allein reicht für ein empirisches Verständnis nicht zu. Auf solche Fragestellungen ist die empirische Gottesdienstforschung noch kaum eingestellt. Sie konzentriert sich auf die Mikroebene, erweitert sich derzeit vorsichtig hin zu einer Mesoebene und lässt die Makroebene weithin außer Acht, zumindest was empirische Untersuchungen angeht. 6  Vgl. die Angaben des Gallup-Instituts, http://www.gallup.com/ poll/113452/Evidence-Bad-Times-Boosting-Church-Attendance.aspx (27.1.2011). 7  Vgl. http://www.gallup.com/poll/22579/Church-Attendance-LowestNew-England-Highest-South.aspx (27.1.2011).

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Im Folgenden können deshalb auch nur Befunde zu bestimmten Bereichen berichtet werden, vor allem zur Beteiligung am Sonntagsgottesdienst sowie zu Erwartungen und Erfahrungen im Blick auf solche Gottesdienste.8 Einen weiteren Schwerpunkt werde ich auf die Gottesdienstsozialisation legen, zu der sich, aufgrund eigener Tübinger Untersuchungen, zumindest einige Beobachtungen berichten lassen. Ebenfalls auf Interesse stoßen neuerdings empirische Einsichten zum Verständnis der Pfarrerinnen und Pfarrer im Blick auf die Gottesdienstgestaltung, Hinweise, die hier allerdings nicht wiedergegeben werden können.9 Zumindest noch hingewiesen sei an dieser Stelle darauf, dass eine stärker internationale Ausrichtung der Gottesdienstforschung ebenfalls zu einem besseren Verständnis beitragen könnte. Interessante, aber in Deutschland in aller Regel nicht beachtete Befunde liegen inzwischen aus verschiedenen Ländern vor.10

2. Wer kommt zum Gottesdienst? An einem »normalen« Sonntag besuchen 4 bis 5 % der Evangelischen den Gottesdienst.11 Die entsprechenden Anteile sind seit den 1960er Jahren deutlich gesunken, nämlich um etwa ein Drit8  Neben den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD als wichtigster Quelle sei zum Folgenden besonders verwiesen auf die knappen, aber hilfreichen Darstellungen bei Ingrid Lukatis, Der ganz normale Gottesdienst in empirischer Sicht, in: PrTh 38 (2003), 255–268; Arbeitsstelle Gottesdienst 21 (2007), Heft 3; Hans-Hermann Pompe, Gottesdienst: Der sonntägliche Normalfall und seine Ergänzungen, in: Jan Hermelink / Thorsten Latzel (Hg.), ­K irche empirisch. Ein Werkbuch zur vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft und zu anderen empirischen Studien, Gütersloh 2008, 153–174. Auf diese Veröffentlichungen wurde auch für die nachfolgende Darstellung zurückgegriffen. 9  Vgl. Claudia Schulz / Michael Meyer-Blanck / Tabea Spieß (Hg.), Gottesdienstgestaltung in der EKD. Ergebnisse einer Rezeptionsstudie zum »Evangelischen Gottesdienstbuch« von 1999, Gütersloh 2011. 10  Zu denken ist sowohl an die skandinavischen Länder als auch an die Schweiz oder an Großbritannien. 11  Vgl., auch zum Folgenden, die Darstellung bei Lukatis, Gottesdienst (s. Anm. 8).

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tel, aber seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahren sind sie in etwa konstant geblieben. Der Rückgang beim Gottesdienstbesuch betrifft in diesem Zeitraum im Übrigen auch die katholische Kirche: »Hier sank die Besuchsquote von mehr als 45 % im Jahr 1960 auf 30 % in der Mitte der 70er Jahre; 1990 lag die Quote bei 21,9 %; im Jahr 1999 nahmen noch 16,6 % der Katholiken am Sonntagsgottesdienst teil«12. Derzeit ist von etwa 13 % auszugehen.13 In der Selbsteinschätzung fällt die Häufigkeit des Gottesdienstbesuches etwas höher aus. Bei der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gaben 10 % der Evangelischen in Westdeutschland an, »jeden oder fast jeden Sonntag« den Gottesdienst zu besuchen und in Ostdeutschland waren es sogar 16 %.14 Weitere 13 bzw. 12 % sagten, sie würden »ein- bis zweimal im Monat« an einem Gottesdienst teilnehmen, 35 bzw. 37 % »mehrmals im Jahr«. Diese Zahlen stimmen mit der, bei den kirchlichen Zählungen festgestellten, Beteiligung nicht überein. Sie können wohl eher als Hinweis darauf gewertet werden, dass nach wie vor viele Mitglieder der ­Kirche den Gottesdienstbesuch als eine kirchlich vorgeschriebene Pflicht verstehen, der sie eigentlich nachkommen sollten. Wirklichen Aufschluss darüber gibt die Befragung allerdings nicht, da entsprechende Gefühle nicht erfasst werden. Hinsichtlich der Zusammensetzung der durchschnittlichen Gottesdienstgemeinden zeigt sich ein klares Bild: Ein großer Teil der regelmäßigen Gottesdienstbesucher ist 45 und mehr Jahre alt. Mehrheitlich handelt es sich um Frauen. Im Blick auf den Bildungsabschluss überwiegt der Volks- oder Hauptschulabschluss.15 Dieser Darstellung wäre allerdings noch der – häufig vergessene – Hinweis auf die Konfirmandinnen und Konfirmanden hinzuzufügen, deren Altersjahrgang vielfach der im Gottesdienst am stärksten vertretene ist. Auf jeden Fall handelt es sich bei der Zusammensetzung nicht um einen Querschnitt aus der 12 

Lukatis, Gottesdienst (s. Anm. 8), 259. Vgl. Katholische ­K irche in Deutschland, Statistische Daten 2009, Bonn 2010. 14  Vgl. Huber u.a., ­K irche (s. Anm. 3), 453. 15  Vgl. Lukatis, Gottesdienst (s. Anm. 8), 261f. 13 

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Bevölkerung oder der Kirchenmitgliedschaft, sondern aus bestimmten Gruppen oder Schichten. Im Blick auf den Glauben sehen sich die regelmäßigen Gottesdienstbesucher der ­Kirche eng verbunden. Zweifel am Gottesglauben sind bei ihnen eher selten. Während beispielsweise 53 % derer, die mindestens einmal im Monat den Gottesdienst besuchen, die Aussage bejahen: »Ich weiß, dass es Gott wirklich gibt, und habe daran keinen Zweifel«, sind es bei denen, die dies nur »mehrmals im Jahr« tun, lediglich 24 %.16 Einzugehen ist schließlich noch einmal auf den Unterschied zwischen dem »normalen« Sonntagsgottesdienst und vor allem dem Gottesdienst an Heiligabend, wenn – rechnerisch gesehen – ca. 40 % der Evangelischen in die ­Kirche gehen.17 Dem entspricht die Selbstangabe von mehr als 60 % der Evangelischen, dass sie »einmal im Jahr oder noch seltener« bzw. »mehrmals im Jahr« einen Gottesdienst besuchen.18 Neben den Gottesdiensten an hohen kirchlichen Feiertagen sind es die Kasualgottesdienste aus Anlässen wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung, für die mehr als 90 % der Evangelischen einen Gottesdienstbesuch berichten.19 In den Statistiken und empirischen Untersuchungen spiegeln sich bislang leider noch nicht die Vielfalt unterschiedlicher Gottesdienste und deren Besuch. Nicht eigens erhoben werden etwa der Gottesdienstbesuch bei der Einschulung, der Konfirmation oder den Jugendgottesdiensten, den Schul- und Schülergottesdiensten, den Gottesdiensten in Krankenhäusern und Heimen, beim Militär oder im Gefängnis, bei Katastrophen usw. Auch die Fernseh- und Radiogottesdienste sind bei den Statistiken und den üblichen empirisch ausgerichteten Darstellungen nicht im Blick. Die empirischen Erhebungen folgen hier offenbar noch einer sehr traditionellen Vorstellung von Gottesdienst, die diesen allein mit 16 

Lukatis, Gottesdienst (s. Anm. 8), 266. Die Einschränkung »rechnerisch« ist insofern erforderlich, als an diesem Tag auch viele Konfessionslose einen Gottesdienst besuchen. 18  Vgl. Huber u.a., ­K irche (s. Anm. 3), 453. 19  Vgl. ebd. 17 

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dem Sonntagvormittag verbindet und die inzwischen eingetretene gottesdienstliche Vielfalt nicht abzubilden versuchen. Dass veränderte gottesdienstliche Angebote nicht zwingend auch zu einer veränderten Zusammensetzung bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern führen müssen, zeigt dabei eine kleine Studie zu »Zweitgottesdiensten« in der badischen Landeskirche. 20 Diese Gottesdienste sind offenbar gerade für Menschen attraktiv, die der ­Kirche stark verbunden sind, während nur wenig andere angesprochen werden. Erst wenn die Vielfalt der gottesdienstlichen Angebote sowie die vielfältige Realität des Gottesdienstes am Sonntagvormittag systematisch erfasst wird, lassen sich auch Fragen beantworten, die heute mitunter diskutiert werden und die hier zumindest genannt werden sollen: – Trifft es zu, dass derzeit eine immer stärkere Ausdifferenzierung unterschiedlicher gottesdienstlicher Angebote für bestimmte Zielgruppen zu beobachten ist? – Kommt es dadurch zu einer Pluralisierung innerhalb des gottesdienstlichen Angebots, vielleicht auch mit der Folge, dass sich die Identität des evangelischen Gottesdienstes insgesamt, über die herkömmliche Gleichsetzung mit dem Sonntagvormittagsgottesdienst hinaus, verändert? – Ist eine Ästhetisierung des Gottesdienstes durch immer stärkere liturgische Anreicherungen zu konstatieren? – Kann von einer Kasualisierung von Gottesdiensten gesprochen werden, etwa dadurch, dass sich der »normale« Sonntagsgottesdienst an die Kasualgottesdienste annähert, indem bestimmte situative Bezüge und Themen oder bestimmte Personen, die beispielsweise in ein (Ehren-)Amt eingesetzt oder verabschiedet werden, immer öfter den Gottesdienst thematisch bestimmen?

20  Vgl. dazu u.a. Michael Nüchtern, Aufbruch der Engagierten. Kommentar zu einer empirischen Studie über Zweitgottesdienste, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 21 (2007), 87–89.

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Zu allen diesen Fragen liegen bislang zwar einzelne Erfahrungsberichte vor, aber keine wirklich verlässlichen Untersuchungsergebnisse. Für die wissenschaftliche und praxisbezogene Diskussion über den Gottesdienst und seine Entwicklung wäre es sehr wichtig, verlässliche Informationen über solche Tendenzen zu erhalten.

3. Erwartungen und Erfahrungen Bei den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen wird auch nach Erwartungen an den Gottesdienst gefragt. In West- wie in Ostdeutschland stehen drei Erwartungen an der Spitze. Der Gottesdienst soll demnach – durch eine fröhlich-zuversichtliche Stimmung gekennzeichnet sein, – von einer zeitgemäßen Sprache geprägt sein, – vor allem eine gute Predigt enthalten. 21 Ebenso wurden auch die »Gründe gegen den Gottesdienstbesuch« erhoben. An der Spitze steht hier, wiederum in West- wie in Ostdeutschland, aber deutlicher ausgeprägt im Westen (74 %, im Osten 63 %), die Aussage: »Für meinen Glauben ist der Besuch des Gottesdienstes unwichtig«. In die Nähe der Zustimmung zu dieser Aussage kommt lediglich noch der Wunsch, am Wochenende ausspannen zu können (64 % bzw. 51 % im Osten). Mit jeweils Angaben zwischen 30 und 40 % werden Nicht-Zugehörigkeitsgefühle, die abschreckende Art der Predigt, andere Verpflichtungen sowie attraktivere Möglichkeiten, seine Zeit zu verbringen, genannt. Im vorliegenden Zusammenhang bemerkenswert ist, dass 31 % im Westen und 18 % im Osten sagen: »Der Stil, in dem Gottesdienste gefeiert werden, gefällt mir nicht«. 22 In neuerer Zeit ist deutlich geworden, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen »Milieus« beziehungsweise die 21  So die Formulierung der Fragen (Items) bei Huber u.a., ­K irche (s. Anm. 3), 454. 22  Vgl. Huber u.a., ­K irche (s. Anm. 3), 455.

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Tabelle 1: Gottesdienst und Milieus Alter: 18–44 Jahre

Bildung: bis einschl. Mittlere Reife (n = 195) Gottesdienstbesuch: 5 bzw. 30 %

Bildung: mind. Fachhochschulreife (n = 110) Gottesdienstbesuch: 5 bzw. 25 %

»Unterhaltungsmilieu«

»Selbstverwirklichungsmilieu«

+ Video sehen – + Sportzeitschriften – + Pop / Rock – + Deutsche Schlager – + Action(filme) –

+ Klassische Musik + + Pop / Rock – – Heimatfilme + – Volksmusik + – Deutsche Schlager +

Bildung: Bildung: bis einschl. Mittlere Reife Hauptschulabschluss (n = 284) (n = 72)

Gottesdienst- Gottesdienst- besuch: besuch: 16 bzw. 44 % 24 bzw. 44 % Alter: 45 Jahre »Harmoniemilieu« »Integrationsmilieu« und älter + Heimatfilme + + Spazierengehen + + Deutsche + Nachbarschafts- Schlager + kontakte + + Volksmusik + (weniger Gebildete:) + Spazierengehen + + »Trivialmusik« + – Sport (interesse) – (höher Gebildete): – klassische Musik + + Klassische Musik + – Heimatfilme + (Ältere:) – Action(filme) – – Pop / Rock –

Bildung: mind. Fachhochschulreife (n = 59) Gottesdienstbesuch: 24 bzw. 47 % »Niveaumilieu« + Klassische Musik + – Pop / Rock – – Deutsche Schlager – – Action(filme) –

Legende: +/– vor einem Stichwort signalisiert Präferenz / Distanzierung des jeweiligen Milieus; +/– nach einem Stichwort signalisiert: wird von häufigen GottesdienstbesucherInnen besonders stark / wenig bejaht.

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Präferenz für einen bestimmten »Lebensstil« auch die Einschätzungen und Interessen im Blick auf den Gottesdienst stark beeinflusst. Die Übersicht von Ingrid Lukatis (s. Tabelle 1, S. 295)23 macht deutlich, wie unterschiedlich die ästhetischen Vorlieben der fünf, hier dargestellten, Milieus ausfallen. Ähnliches gilt auch im Blick auf die unterschiedlichen Lebensstile, die in der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in sechs Typen eingeteilt wurden 24:

hoch

Abbildung 1: Lebensstile evangelischer Kirchenmitglieder im sozialen Raum

geistig

Status

hochkulturelltraditionsorientierter Lebensstil Typ 1

geselligtraditionsorientierter Lebensstil Typ 2 traditional

traditionsorientierter, unauffälliger Lebensstil Typ 6

hochkulturellmoderner Lebensstil Typ 4

von jugend- Do-it-yourself kulturellgeprägter, moderner moderner Lebensstil Typ 5 Typ 3

Normative Orientierung

modern

In einer Spezialberechnung hat Claudia Schulz nachgewiesen, dass sich die Zugehörigkeit zu diesen Typen sehr stark auf Erwartungen und Erfahrungen mit dem Gottesdienst auswirken 25: 23 

Lukatis, Gottesdienst (s. Anm. 8), 263. Aus Huber u.a., ­K irche (s. Anm. 3), 216. 25  Tabelle 2, S. 297 aus: Claudia Schulz, Wie hätten Sie’s denn gern? Erkenntnisse und offene Fragen zum Gottesdienst für Menschen in verschiedenen Milieus, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 21 (2007), 15–24, hier 19f. 24 

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Tabelle 2: Gottesdienst und Lebensstile Der Gottesdienst soll … Zustimmungswerte nach Typen in Prozent: sehr wichtig (A) durch fröhlich-zuversichtliche Stimmung gekennzeichnet sein (B) von einer zeitgemäßen Sprache geprägt sein (C) mir ein Gefühl der Gemeinschaft mit Anderen geben (D) mir helfen, Distanz zu meinem Alltag herzustellen (E) mich etwas vom Heiligen erfahren lassen (F) mir helfen, mein Leben zu meistern (G) vor allem eine gute Predigt enthalten (H) auch neue Formen wie Tanz, Theater, Pantomime enthalten (I) in einer schönen Kirche stattfinden (K) vor allem klassische Kirchenmusik beinhalten Ablehnungswerte nach Typen in Prozent: völlig unwichtig

1 2 3 4 5 6 Gesamt 71 74 80 60 50 58 82

47 49 57 38 33 42 65

49 64 51 71 23 53 15 35 10 22 15 30 34 70

57 34 63 40 49 28 31 21 19 14 28 21 57 36

53 57 46 31 23 30 55

17 9 26 28 30 13 50 38 28 31 35 24 58 39 11 26 23 20

21 34 27

1 2 3 4 5 6 Gesamt

(A) durch fröhlich-zuversichtliche Stimmung gekennzeichnet sein (B) von einer zeitgemäßen Sprache geprägt sein (C) mir ein Gefühl der Gemeinschaft mit Anderen geben (D) mir helfen, Distanz zu meinem Alltag herzustellen (E) mich etwas vom Heiligen erfahren lassen (F) mir helfen, mein Leben zu meistern (G) vor allem eine gute Predigt enthalten (H) auch neue Formen wie Tanz, Theater, Pantomime enthalten (I) in einer schönen Kirche stattfinden (K) vor allem klassische Kirchenmusik beinhalten

2 5 2 2 4 4 13 10 21 17 16 11 2 2

3 2 4 12 19 14 2

32 38 13 22 22 25 12 7 9 18 11 9 7 10 27 12 17 10

24 11 15

Anteil der Hochverbundenen in Prozent

77 55 11 44 34 23

38

3 5 2 6 8 4 1

4 3 1 9 12 8 1

2 0 3 0 7 4 18 12 29 21 24 16 6 1

Hier sind zur Frage 17 der aktuellen EKD-Studie die deutlichen Zustimmungswerte (6 und 7) sowie die deutlichen Ablehnungswerte (1 und 2) erfasst auf der Skala von 1 (»völlig unwichtig«) bis 7 (»sehr wichtig«).

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Schulz formuliert dazu einige vertiefende Beobachtungen: »Das Milieu der jugendkulturell geprägten Mobilen (Typ drei) zeigt gegenüber vier der zehn angebotenen Erwartungen an den Gottesdienst deutliche Ablehnungswerte, die höher ausfallen als die Zustimmungswerte. Während auch in den anderen Milieus kaum jemand eine ›gute Predigt‹, eine ›zeitgemäße Sprache‹, eine ›fröhliche Stimmung‹, ein ›Gefühl der Gemeinschaft‹ oder die Umgebung einer ›schönen Kirche‹ als völlig unwichtig bezeichnet, werden die wenigen inhaltlichen Vorgaben in den übrigen Items bei den Mobilen unmittelbar zum Stein des Anstoßes.«26 »Relativ unproblematisch erscheinen dagegen die Affinitäten und Distanzen beim Thema der ›neuen und alten Formen‹ im Gottesdienst, des Theaters – quasi als Gegenentwurf – der klassischen Kirchenmusik. Hier finden sich einige erwartbare Verteilungen: Die durchschnittlich deutlich älteren stark kirchenverbundenen Milieus der Hochkulturellen und Bodenständigen schätzen die klassische Kirchenmusik mit dem typischen ›Kultur-Gefälle‹ zwischen den beiden Milieus, das sich im Übrigen zwischen den Kritischen und den Geselligen, Zurückgezogenen und schließlich den Mobilen noch einmal wiederholt. Es verwundert wenig, dass die Bodenständigen die geringste Zustimmung zu ›neuen Formen‹ im Gottesdienst zeigen, jedoch die insgesamt höchste Ablehnung, während die Mobilen hier eine für ihre Verhältnisse hohe Zustimmung, aber diesmal die geringste Ablehnung zeigen«. 27

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die aus der Zusammenarbeit zwischen dem Gottesdienst-Institut Nürnberg und dem Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur in Bayreuth hervorgegangene Studie »Mensch – Alltag – Gottesdienst«, weil sie von den Lebenszusammenhängen der Menschen her die Frage zu klären versucht, warum manche am Gottesdienst teilnehmen, andere aber nicht. 28 Diese Studie beruht allerdings auf einem sehr kleinen Sample (49 Interviews). Jeannett Martin fasst ihre Ergebnisse so zusammen, dass »insbesondere die folgenden Faktoren das individuelle Nutzerverhalten in Bezug auf gottesdienstliche Angebote der (evangelischen) Kirche« beeinflussen: 26 

AaO., 22. AaO., 23. 28  Jeannett Martin, Mensch – Alltag – Gottesdienst. Bedürfnisse, Rituale und Bedeutungszuschreibungen evangelisch Getaufter in Bayern (bayreuther forum Transit 7), Berlin 2007. 27 

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1. »die subjektiv wichtigen Bedürfnisse einer Person in Bezug auf das eigene Leben und die persönliche Alltagsgestaltung«, 2. »ihre Haltung zu ›Kirche‹ (bzw. zu dem was darunter verstanden wird)«; 3. »die individuellen Weltsichten bzw. Weltsichtelemente dieser Person, insbesondere ihre individuelle Haltung zur christlichen Lehre bzw. zu Elementen derselben«; 4. »ihre aktuelle Lebenslage«; 5. »subjektiv bedeutsame biographische Erfahrung«; 6. »als wichtig erachtete Begegnungen mit Personen im Zusammenhang mit ­K irche und deren Angeboten«. 29

Weiterhin werden in dieser Studie fünf Idealtypen identifiziert, die – in etwas flapsiger Sprache – so beschrieben werden30: Typ I: »Ja zu Religion, aber Nein zum Bodenpersonal« Typ II: »Ja zum Christentum, wohlwollende Haltung gegenüber Gottesdiensten – aber anderswo ist es schöner!« Typ III: »Zustimmung zum Christentum, wohlwollende Haltung zur ­K irche und Erfüllung eigener Bedürfnisse im Gottesdienst« Typ IV: »Nein zur Religion, Nein zur Kirche!« Typ V: »Die evangelikal Orientierten«.

Jeder dieser Typen hat auch ein anderes Verhältnis zum Gottesdienst, das die genannten Aspekte des Nutzerverhaltens weiter einfärbt und modifiziert. So stehen die Ergebnisse dieser Studie vor allem für die religionssoziologische These der immer weiterreichenden Individualisierung und Pluralisierung im Bereich von Religion. Nur noch anmerkungsweise kann am Ende dieses Abschnitts auf spezielle Untersuchungen zu einzelnen Elementen des Gottesdienstes hingewiesen werden. Dies betrifft Untersuchungen zu Rezeption und Resonanz der Predigt, die schon seit mehreren Jahrzehnten immer wieder unternommen werden, neuerdings aber auch zu anderen Elementen, wie etwa zur Kirchenmusik.31

29 

AaO., 114f. AaO., 115ff. 31  Vgl. dazu die entsprechenden Veröffentlichungen des GottesdienstInstituts in Nürnberg, http://www.gottesdienstinstitut.org (27.1.2011). 30 

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4. Gottesdienstsozialisation – eine vernachlässigte Frage Wie bereits deutlich geworden ist, gäbe es allen Anlass dazu, genauer zu fragen, warum der Gottesdienstbesuch für die allermeisten Kirchenmitglieder offenbar so wenig attraktiv ist. Dies gilt umso mehr, wenn – wie im Impulspapier der EKD »­K irche der Freiheit«, wie oben beschrieben – der Wunsch nach einer Steigerung der Beteiligungszahlen immer mehr hervorgehoben wird. Doch geben die bislang vorliegenden Untersuchungen schon deshalb so wenig Aufschluss über die Art und Weise, wie sich in Lebensgeschichten ein Verhältnis oder Nicht-Verhältnis zum Gottesdienst aufbauen kann, weil nur die Erwachsenen betrachtet werden. Zugleich ist schon seit langem bekannt, dass der spätere Gottesdienstbesuch stark von Erfahrungen im Elternhaus sowie von den Kirchgangsgewohnheiten der Eltern abhängig ist. Gedeutet wird dies in aller Regel dann aber nur so, dass es eben auf die Eltern ankomme. Nicht weiter reflektiert werden die Sozialisationswirkungen des Gottesdienstes selbst. Darin kann kaum etwas anderes als ein »blinder Fleck« gesehen werden. Das Problem beginnt bereits bei der kirchlichen Statistik, die darauf verzichtet, die Beteiligung am Kindergottesdienst auszuweisen. Hier kann man lediglich erfahren, wie viele Gottesdienste stattfinden – nämlich etwa 20000 pro Woche im gesamten Bereich der EKD.32 Erfahrungsberichte machen deutlich, dass es manchmal nur sehr wenige Kinder sind, die den Kindergottesdienst besuchen. Es wäre deshalb in Blick auf die Gottesdienstsozialisation äußerst wünschenswert, zumindest genauer zu wissen, welcher Anteil der getauften Kinder sowie der Kinder von evangelischen Eltern insgesamt sowie aus konfessionsverbindenden Elternhäusern den Kindergottesdienst besuchen. Auch das Lebensalter der Kindergottesdienstkinder wäre wichtig. Erfahrungsberichte verweisen immer wieder darauf, dass ältere Kinder fast gar nicht mehr dabei seien. 32 

Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Zahlen (s. Anm. 1), 15.

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Seit der ersten bundesweiten Studie zur Konfirmandenarbeit in Deutschland, die im Jahr 2009 veröffentlicht wurde, ist zumindest deutlich mehr über dieses systematisch gesehen wichtigste Arbeitsfeld der Gottesdienstsozialisation bekannt.33 Der Untersuchung zufolge legen viele Gemeinden größten Wert auf den regelmäßigen Gottesdienstbesuch in der Konfirmandenzeit. Am weitesten verbreitet sind Verpflichtungen zwischen 16 und 25 Gottesdiensten (45 % der Gemeinden) oder sogar mehr als 25 Gottesdienste (39 %) während der Konfirmandenzeit. Der Gottesdienstbesuch wird überprüft: 63 % aller Kirchengemeinden überwachen die Einhaltung der Pflichtbesuche mit »harten Anwesenheitskontrollen«, also Unterschriftskärtchen o.ä. Die Konfirmandinnen und Konfirmanden begegnen dem Gottesdienst von Anfang an mit einiger Skepsis. Schon zu Beginn der Konfirmandenzeit stimmen 49 % der Aussage zu: »Gottesdienste sind meistens langweilig«. Die Annahme, dass Jugendliche den Gottesdienst ablehnen, weil und solange sie ihn nicht kennen, und dass mit zunehmender Gewöhnung an die Gottesdienstformen und mit der Kenntnis von Ablauf und Liturgie eine Beheimatung stattfindet, die zu einer Wertschätzung des Gottesdienstes durch Jugendliche führt, wird durch die Befunde deutlich widerlegt. Das Gegenteil ist der Fall: Am Ende der Konfirmandenzeit, also nach dem Erleben von zumeist 20 oder mehr Gottesdiensten, ist der Anteil der Konfirmanden, die Gottesdienste langweilig finden, nicht etwa geringer, sondern liegt mit 54 % signifikant höher als zu Beginn der Konfirmandenzeit. Die Jugendlichen finden Gottesdienste offensichtlich langweilig, nachdem oder – zugespitzt formuliert – weil sie diese erlebt haben. Ein weiteres Ergebnis zeigt dabei, dass man sich mit diesem Zustand nicht abfinden muss. Vielmehr verweisen die Daten auch auf einige Bedingungen dafür, dass und auf welche Weise die 33  Vgl. Wolfgang Ilg / Friedrich Schweitzer / Volker Elsenbast in Verbindung mit Matthias Otte, Konfirmandenarbeit in Deutschland. Empirische Einblicke, Herausforderungen, Perspektiven. Mit Beiträgen aus den Landeskirchen, Bd. 3: Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten, Gütersloh 2009, bes. 139ff.; im Folgenden werden ohne besondere Kennzeichnung einzelne Passagen aus diesem Band übernommen.

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Wahrnehmung der Gottesdienste positiver werden kann. Einigen Aufschluss erbringt der Vergleich mit zwei zusätzlichen Fragen – nämlich ob die Konfirmanden angeben, dass sie jugendgemäße Gottesdienste erlebt und Gottesdienste selbst mitvorbereitet haben. Die Jugendlichen, die beides bejahen, sind am Ende zu 63 % mit dem Gottesdienst zufrieden. War beides nicht der Fall, sinkt der Anteil der Zufriedenheit auf 28 %. Dabei werden diese Möglichkeiten, den Gottesdienst für Jugendliche attraktiv zu machen, noch bei weitem nicht überall ausgeschöpft. Lediglich 46 % der Konfirmanden haben jugendgemäße Gottesdienste erlebt und 45 % haben Gottesdienste an irgendeinem Punkt mit vorbereitet. Verglichen mit der hohen Zahl an Pflichtbesuchen sind dies sehr geringe Zahlen. In solchen Befunden mit ihrem schlaglichtartigen Charakter liegen natürlich nur erste Hinweise dafür vor, wie Gottesdienste auch für Konfirmandinnen und Konfirmanden attraktiver werden können. Aufbauend auf diese Befunde müssen Wege gefunden und erkundet werden, die eine veränderte Gottesdienstgestaltung ermöglichen.34 Festzuhalten ist noch einmal, dass kein anderer Altersjahrgang so stark im Gottesdienst vertreten ist wie die Konfirmandinnen und Konfirmanden. Zugleich erweist sich das damit zumindest quantitativ wichtigste Feld der Gottesdienstsozialisation als geradezu kontraproduktiv. Die Jugendlichen werden verpflichtet, am Gottesdienst teilzunehmen, während sich der Gottesdienst – so jedenfalls der Eindruck der Jugendlichen – nur selten oder gar nicht darauf einstellt, dass diese Jugendlichen nun da sind. Auf diese Weise wird ihnen vermittelt und werden sie daran gewöhnt, dass es sich beim Gottesdienst um eine Veranstaltung oder Institution handelt, die sehr gut auch ohne ihre Anwesenheit auskommen kann. Sie erfahren sich in einer weithin passiven Zuschauerrolle, 34  Hinweise im Anschluss an die Studie bei Sönke von Stemm / Karlo Meyer, Gottesdienste, in: Thomas Böhme-Lischewski / Volker Elsenbast / Carsten Haeske / Wolfgang Ilg / Friedrich Schweitzer (Hg.), Konfirmandenarbeit gestalten. Perspektiven und Impulse für die Praxis aus der Bundesweiten Studie zur Konfirmandenarbeit in Deutschland, Bd. 5: Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten, Gütersloh 2010, 80–89.

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empfinden Langeweile und freuen sich darauf, nach der Konfirmation die lästige Pflicht hinter sich zu haben. Da es nach der Konfirmation kein weiteres Feld der Gottesdienstsozialisation mehr gibt, liegen die Ergebnisse auf der Hand.35 Ohne eine konsequente Hinwendung zur Frage der Gottesdienstsozialisation in Praxis, Theorie und Empirie wird das Verhältnis der Evangelischen zum Gottesdienst sich kaum produktiver gestalten lassen.

5. Ausblick und praktische Konsequenzen Lassen sich aus den empirischen Befunden praktische Konsequenzen ziehen? Dies wird häufig erwartet, sollte aber nicht vorschnell geschehen. Empirische Untersuchungen beschreiben IstZustände. Erst wenn sie mit normativen theologischen, also etwa liturgischen oder ekklesiologischen Theorien verbunden werden, können daraus Konsequenzen gezogen werden. Im Folgenden will ich in fünf knappen Punkten in Gestalt eines Ausblicks mögliche Konsequenzen andeuten. Auf die liturgischen und ekklesiologischen Zusammenhänge kann dabei nur noch verwiesen werden.36 (1) Wie zu Beginn bereits hervorgehoben, weist der Stand der empirischen Forschung zum Gottesdienst viele »blinde Flecken« auf. Der Abstand zwischen dem, was etwa für kirchenleitendes 35  Als erfreuliche Entwicklung sei an dieser Stelle auf erste Bemühungen um eine verstärkte Berücksichtigung von Fragen einer Homiletik für Jugendliche sowie eine liturgiewissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Jugend hingewiesen, vgl. Michael Meyer-Blanck / Ursula Roth / Jörg Seip (Hg.), Jugend und Predigt. Zwei fremde Welten? (ÖSP 6), München 2008; Arbeitsstelle Gottesdienst 22 (2008), Heft 1. 36  Wichtige Anregungen dazu habe ich aus Peter Cornehl, Teilnahme am Gottesdienst. Zur Logik des Kirchgangs – Befund und Konsequenzen, in: Joachim Matthes (Hg.), Kirchenmitgliedschaft im Wandel. Untersuchungen zur Realität der Volkskirche. Beiträge zur zweiten EKD-Umfrage »Was wird aus der Kirche?«, Gütersloh 1990, 15–54 entnommen. Trotz der damals anders ausgerichteten Diskussionslage bietet dieser Beitrag noch immer wichtige Impulse.

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Handeln bekannt sein müsste, und den tatsächlichen Erkenntnissen und Befunden ist noch immer enorm. Zugespitzt: Niemand kann derzeit verlässlich sagen, wie sich die Wirklichkeit von Gottesdienst in seiner tatsächlichen Vielfalt darstellt. Wie viele Gottesdienste in welcher Form, bei welchen Anlässen, mit welcher Beteiligung und mit welcher Resonanz stattfinden, ist genau genommen niemandem bekannt. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die angesichts der kirchlichen und theologischen Hochschätzung des Gottesdienstes wohl doch als sorglos bezeichnet werden muss. Zielführende Verbesserungsversuche über die Einzelgemeinde hinaus bleiben jedenfalls ohne gesicherte Grundlage. (2) Häufig werden die empirischen Befunde zur Beteiligung am Gottesdienst als entmutigend empfunden und dann gerne verdrängt. Diese Befunde könnten aber auch davor bewahren, sich in ziemlich hoffnungslosen Anstrengungen zu erschöpfen. Offenbar bewegen sich die Beteiligungsraten in allen Landeskirchen auf einem sehr vergleichbar niedrigen Niveau. Die Unterschiede sind im Einzelnen zwar durchaus bemerkenswert – für Nordelbien etwa liegt die Beteiligung bei knapp 3 %, in Württemberg leicht über 6 %37 –, aber von Landeskirchen mit mehr als 10 oder gar 20 % Beteiligung kann keine Rede sein. Die Unterschiede in der Gottesdienstgestaltung – ob nun gemäß der Deutschen Messe oder der schlichten Württembergischen Liturgie – schlagen sich jedenfalls in der Teilnahme nicht nieder. Auch Alternativangebote wie etwa die Zweitgottesdienste führen im Wesentlichen eher zu Verschiebungen innerhalb der Gruppe derer, die ohnehin einen Gottesdienst besuchen, als dass sie wirklich neue, bislang dem Gottesdienst ferne Menschen ansprechen und anziehen würden. (3) Häufig wird gesagt, dass der Sonntagsgottesdienst längst nicht mehr als »Mitte der Gemeinde« angesprochen werden könne. Die theologischen und kirchlichen Erwartungen gingen hier einfach an der Realität vorbei. Im Blick auf die Beteiligung, sowohl hinsichtlich der Zahlen als auch der Zusammensetzung der Gottesdienstgemeinden, trifft dies sicher zu. Damit ist aber 37 

Vgl. Lukatis, Gottesdienst (s. Anm. 8), 260.

Gottesdienst auf dem Prüfstand

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noch wenig darüber gesagt, welche Bedeutung dem Gottesdienst für die Wahrnehmung von ­K irche insgesamt zukommt. Diese Frage kann sowohl im Blick auf einzelne Menschen – auch der ­Kirche fernstehende Menschen – als auch im Blick auf die Gesellschaft gestellt werden. In dieser Hinsicht fehlt es noch fast vollständig an empirischen Untersuchungen, obwohl hier durchaus Impulse auch für praktische Konsequenzen zu gewinnen wären. Den Gottesdienst als »Mitte der Gemeinde« ernst zu nehmen würde dann nicht in erster Linie bedeuten, dass die Teilnahmeraten gesteigert werden müssen. Es könnte zumindest auch implizieren, dass vermehrt an dem nach außen vermittelten Bild von Gottesdienst gearbeitet werden muss. Diese Forderung betrifft schon die Ankündigung und Information zu Gottesdiensten, ggf. die Berichterstattung in der Lokalzeitung, vielmehr aber noch die mediale Präsentation von Gottesdiensten in der Gesellschaft. (4) Auch für die Gegenwart ist offenbar die, aus der Kirchensoziologie längst bekannte und als problematisch identifizierte, Spannung zwischen den der ­K irche zugeschriebenen Erwartungen und dem realen Teilnahmeverhalten bestehen geblieben. Demnach erwartet auch die evangelische ­Kirche eine regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst, aber sehr viele Kirchenglieder erfüllen diese Erwartung nicht. Und obwohl in der kirchentheoretischen Diskussion immer wieder gefordert wurde, unterschiedliche Muster des Teilnahmeverhaltens als berechtigt anzuerkennen und also beispielsweise die sogenannten Jahreschristen nicht einfach abschätzig wahrzunehmen, spiegelt sich an vielen Stellen das Gefühl, dass eine solche Wertschätzung bis heute nicht erreicht ist. Die stereotype Wahrnehmung, dass der massenhaft besuchte Gottesdienst an Heiligabend eben bloß ein »Volksfest« und allein der »normale« Sonntagsgottesdienst die eigentlich »wahre« Feier des Herrn sei, erweist sich als schwer ausrottbar. (5) Der Nutzen, den Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenleitungen und Gemeinden aus empirischen Untersuchungen ziehen können, wird offenbar nur sehr allmählich bewusst. Dieser Nutzen sollte auch nicht darin gesehen werden, dass nun jede einzelne Gemeinde ihre Arbeit vor Ort im Wissen beispielsweise um die Beteiligungsraten in der gesamten Landeskirche gestalten sollte

306

Friedrich Schweitzer

(obwohl auch dies manchmal nützlich sein kann). Zu gewinnen ist an erster Stelle ein veränderter, nämlich an Erfahrungen orientierter Blick auf den Gottesdienst und seine Voraussetzungen sowie eine veränderte Perspektive, die nicht vom eigenen Angebot ausgeht, sondern von denen, die damit erreicht werden sollen. Für Peter Cornehl geht es damit um eine Kirche, die deshalb als Volkskirche bezeichnet werden kann, weil sie für andere offen ist. Er beschreibt es so: »Den Pfarrern ist die Umkehr der Perspektive von der Institution zu den Mitgliedern zuzumuten, damit sie lernen, Motive, Verhaltensweisen, Wahlen und Vorbehalte der volkskirchlich orientierten Christen zu verstehen und ihnen vorurteilslos zu begegnen.«38

Aus heutiger Sicht wird man diese Einsicht nicht auf die Zustimmung zu einem solchen Verständnis von Volkskirche beschränken können. Von dem hier geforderten Perspektivenwechsel wird jede Form von Gottesdienst und ­K irche profitieren, die einer ­Kirche des Evangeliums dienen will.

38 

Cornehl, Teilnahme (s. Anm. 36), 45.

307

Autorinnen und Autoren Dr. Arnold Angenendt ist Professor em. für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Dr. Jochen Arnold ist Direktor des Michaelisklosters Hildesheim, Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik und Privatdozent für Systematische Theologie an der theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Dr. Peter Cornehl ist Professor em. für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Homiletik und Liturgik am Fachbereich Evange­ lische Theologie der Universität Hamburg. Dr. Volker Henning Drecoll ist Professor für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt Patristik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Hans-Joachim Eckstein ist Professor für Neues Testament mit Schwerpunkt Evangelienforschung an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Christian Grethlein ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Dr. Ulrich Heckel ist apl. Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Theologischer Oberkirchenrat der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.

308

Autorinnen und Autoren

Dr. Bernd Janowski ist Professor em. für Altes Testament mit Schwerpunkt Theologie des Alten Testaments an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Jürgen Kampmann ist Professor für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt Kirchenordnung und Neuere Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Andreas Odenthal ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Friedrich Schweitzer ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Christoph Schwöbel ist Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Christopher Spehr ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Jena. Manuel Stetter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorgelehre und Pastoraltheologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Birgit Weyel ist Professorin für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorgelehre und Pastoraltheologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

309

Stellenregister Altes Testament Genesis 4,3ff. 4,21 12,1–3 18,1–8 27,28f. 48,14ff. Exodus 15,21 20,24–26 Leviticus 1,2f. 9,22 16,1–34

Numeri 6,23–26

6 227 249ff. 5 257 258, 262

236 4–7, 10

6ff. 247f., 258 8, 15–19, 23, s. auch Versöhnungstag

247ff., 253f., 257, 259, s. auch Segen, aaronitisch

Deuteronomium 6,4f. 22, 28 12,13–19 8, 13 16,1–8 8, 13ff. Richter 6,18–21 13,15–20

8 8

1Samuel 10,5–11 25,2–11

236 5

2Samuel 6,15

236

Psalter 19,2–4 22 34,9 67 102,23 103,1–4 119 119,164 121,8 130 147

226 232 56 246 97 128 59 71 246, 260 232 226

Jesaja 1,10–17 61,1f.

8, 10 26, 129

Hosea 6,6

8, 10, 269

Maleachi 2,1–9

10f.

310

Stellenregister

Neues Testament Matthäus 6,9–13 11,2ff. 16,18 18,20 28,18–20 Markus 1,1.14f. 10,16 14,12–26

31, 152, 185, 252, s. auch Gebet, Vaterunser 185 40f., 267 25, 41, 110 VII, 25, 39, 41, 43, 185, 246, 253f., 259ff., 264 35 258 27, 38, 130

Lukas 4,16ff. 13,29 24,13–35 24,49ff.

25f., 129 185 27, 29, 31, 39, 106 246f., 258f.

Johannes 1,14 14,16

152, 201 246, 260

Apostelgeschichte 2,42.46f. 24, 28, 32, 35, 130 20,7(–12) 27, 35f. Römer 4,24f. 10,9ff. 12,1

29ff. 29ff. 22, 86, 121, 251, 269

1Korinther 3,17 5,4 5,7 8,6 10,14–17 11,17–34 12,3 14,16

73 23, 32 38, 161 28 24, 35ff., 130 24, 28, 34, 36ff. 29f. 260

14,23–26 15,3–5 15,35–58 16,22

24, 30, 36 31, 34 73 29f., 33, 3

2Korinther 6,16 73f. 13,12f. 33, 36, 252, 260 Galater 3,6–29

27, 39, 250ff., 260

Epheser 5,19

30, 230

Philipper 2,6–11

22, 29ff., 120

Kolosser 3,16

30, 144, 230f.

1Thessalonicher 5,23f. 252, 254, 257, 260 1Timotheus 4,13f. 26, 258, 261, 263 Hebräer 1,1 10,1–14 10,19 13,8 13,20–22

152 47 78 146 27, 29, 252, 254, 260

Jakobus 5,13ff.

30, 77, 259, 261

1Petrus 2,5 2,9 3,9

73 251 250f.

Stellenregister

Antikes Judentum Qumran 11QSM 1 II 7

Sirach 50,20f.

246, 248

65,1f. 66,1 66,3 67,3–6

44 44 45 45

253, 259

Nag Hammadi Codex XI,2 48

Alte Kirche Cyprian Epistolae 63,2 63,16f.

46 47

Didache 8,2 9f 10,2–8 14 15,1

43 44 43f. ,1 44

Tertullian Apologeticum 39 46 27

De baptismo 6,2–8,1 46 20,1 46

Justin Apologia I 61,3.10.13 44

Evangelisches Gesangbuch Nr. 24 105 140 155 156 162 170 171 200 201 215 225

230 230 246 238 238 238 239 239 239 239 239 239

229 270 280 289 299 302 319 324 341 395 421 450

239 232, 238 246 238 238 232, 238 226 243 230 239 239 238

311

312 455 563 684 686 687

Stellenregister 238 239 124f., 136 61 60, 153

688 830 834 838

127f., 136 263 127 169

313

Personenregister Alber, Matthäus 126 Asmussen, Hans 141ff. Assmann, Jan 12 Austin, John Langshaw 178f. Bach, Johann Sebastian 230ff. Berne, Eric 220 Böntert, Stefan 273f. Caillé, Alain 1f. Cornehl, Peter 6, 146, 272f., 303, 306 Engemann, Wilfried 207, 209, 220 Fechtner, Kristian V Fischer-Lichte, Erika 180, 212, 214 Freud, Sigmund 178 Gennep, Arnold Van 207, 213 Gerhardt, Paul 243 Grözinger, Albrecht 217f. Gutmann, Bruno 275

Krötke, Wolf 199 Kuhn, Thomas Samuel 105 Lange, Ernst 212, 216f. Leggewie, Claus 191 Lessing, Gotthold Ephraim 210 Lindner, Herbert 278f., 281 Lohfink, Norbert 13f., 20, 107 Lück, Walter 278 Lütze, Frank Michael 219 Lukatis, Ingrid 288, 290ff., 296, 304 Luther, Martin 84–103, 104, 121, 126, 139, 147f., 151f., 153f., 157, 162, 167, 184, 204, 210, 224, 225, 228ff., 233, 235, 239, 247, 249, 257, 260, 266 Martin, Jeannett 298 Marx, Alfred 2f., 5f., 12 Meyer-Blanck, Michael 101, 166, 209, 219, 290, 303 Pohl-Patalong, Uta 279ff.

Hennig, Gerhard 130, 134, 139 Herbst, Michael 277 Hertzsch, Klaus-Peter 239 Iser, Wolfgang 218 Jaspers, Karl 63 Jungmann, Josef Andreas 63, 78, 104 Klauser, Theodor 59, 79 Knape, Joachim 218, 220

Raschzok, Klaus 172, 174 Ratzmann, Wolfgang 103, 207f. Rau, Gerhard 272 Roth, Ursula 173f., 176, 211, 303 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 173–177, 205, 213, 219 Schulz, Claudia 234, 290, 296ff. Schwarz, Christian 276 Schwarz, Fritz 276 Seitz, Manfred 209, 272, 277

314

Personenregister

Steinbrink, Bernd 215f., 222f. Taylor, Charles 210, 222 Telemann, Georg Philipp 231 Theissen, Gerd 20f. Turner, Victor 179f., 213f. Ueding, Gert 215f., 222f. Ulrich, Herzog von Württemberg 126

Walter, Johann 224, 227, 243 Weber, Max 65, 72 Weller, Matthias 235 Welzer, Harald 191 Wurster, Paul 131f. Zezschwitz, Gerhard von 275, 277 Zwilling, Gabriel 95

315

Sachregister Abendmahl 33, 44–46, 85, 104–123 – Austeilung 56, 242 – Brotbrechen 24, 35ff., 39, 108, 114, 121 – Einsetzungsworte 34, 38, 45, 49, 56f., 88f., 90, 128, 130, 132, 159f. – Gabenbereitung 114, 117f., 120, 122 – Gedächtnis 36, 38f., 46, 67, 107f., 117, 119f., 123 – Hochgebet 49, 54, 56f., 67, 68, 107, 109, 114, 118ff., 121 – Leib und Blut 45, 67, 75, 82f., 87 s. auch Messe; Sakrament Agape-Mahl 36, 46 Agnus Dei 114, 128, 161, 239 Affekt, affektiv 224, 227ff. Agende 98ff., 132f., 150, 162, 167, 170, 176, 181, 207, 212, 282 Alltag V, 11f., 14, 21, 23, 93, 115, 117, 123, 162, 164, 175, 181, 183, 189, 191, 198, 233, 239f., 242, 251, 268f., 284, 297ff. Altar, Altardienst 4, 69f., 73, 75, 77, 84, 87, 114, 116, 130f., 254 Altargesetz 4–6 Amt, Amtsführung 44, 46, 48–51, 68f., 84, 86, 96, 110, 117, 142, 147, 149, 197, 221, 230, 293, s. auch Prediger Akklamation 29f. Aptum 222f. Arkandisziplin 140 Audition 234 Avantgarde 236

Bekennende Kirche 141f. Bekenntnis, Credo 22, 24, 28f., 30–32, 35, 60f., 66, 117, 124, 136f., 150, 157, 160, 169, 188, 201, 207ff., 238 – Confessio Augustana 145f., 177, 210, 265 – Apostolicum 60f., 136 – Nizänum 81, 152 Beteiligung, Partizipation 141, 164, 168, 174, 183, 210, 235, 237, 272, 282 Bibel, Heilige Schrift 26, 64, 85f., 88, 96ff., 116f., 122, 149, 152f., 157, 188, s. auch Offenbarung Bildung 96, 130, 164, 174, 227f., 236, 244, 277, 291, 295 Blut 7, 16, 18f., 23, 37, 67, 75, 82f., s. auch Abendmahl, Leib und Blut; Opfer Buße, Umkehr 70f., 74, 76f., 85, 140, 277 Doxologie 43, 49, 54, 103, 120f., 208f., 229, 232 Dramaturgie 121, 156f., 176, 179, 209, 241 Ekklesia s. Kirche Ekstase 78, 236f., 241 Eucharistie s. Abendmahl Evangelium 34f., 88f., 115ff., 122, 145, 153, 157f., 163, 167f., 185, 192, 229f., 235, 242f., 251 – Gesetz und Evangelium 88, 157, 199

316

Sachregister

– Kommunikation des Evangeliums 158, 168, 183f., 192, 242, 271, 275f., 281, 282ff., s. auch Verkündigung Epiklese 49, 54f., 56, 118, 119f., 160, 306 Eschatologie 30, 34, 39, 44, 136, 140, 160f., 185, 250, 260 Familie, familiär V, 8, 67, 194, 202, 262, 267f., 269ff., 277, 281f., 283f., 287 Fest, Festtag 5, 8f., 11ff., 53, 78f., 82, 92, 115f., 125, 129, 133, 136, 173ff., 200–203, 213, 230, 238, 271f., 286, 292, 305 – Erntedank 200, 245, 273, 286 – Ostern 53, 60, 67, 106f., 113, 116, 129, 185, 200, 232f., 238, 273 – Pfingsten 129, 200, 238 – Weihnachten 53, 95, 100, 200–203, 232, 238, 271, 273, 286, 292, 305 Freiheit 47, 65, 97ff., 101, 162, 192, 198, 250, 256 Freude 8, 12–15, 135f., 183, 225ff., 233, 235, 244 Fürbitte 46, 54–56, 64, 76f., 109, 113, 117, 119, 124, 127, 147, 161f., 183, 252f., 255 Gastfreundschaft 5f., 36 Gebet 24, 28, 31, 35, 43ff., 57f., 64f., 71f., 79f., 81f., 101ff., 114, 148f., 154, 214, 219, 252, 271, 274, 282f. – Eingangsgebet 124, 240 – Friedensgebet 114, 121, 194, 202 – Gebetsruf »Maranatha« 30, 33 – Politisches Nachtgebet 171, 193, 196 – Psalmgebet 72, 124f., 130, 154, 169, 239

– Stundengebet 60, 64, 71, 84, 232 – Vaterunser 31, 43, 56, 58, 66, 114, 121, 124, 130, 152, 160, 185, 252 s. auch Fürbitte Gemeindeentwicklung 274, 275–279, 281ff. Gemeindeaufbau 235, 275, 276ff. Gesellschaft 287, 305 Gewissheit 152, 155, 159, 164, 256ff., 260 Glaube 23f., 31, 66, 78, 86, 88, 90–92, 93, 96, 99–102, 148f., 157ff., 164, 175, 184, 277, 292 Gloria Patri, Ehr sei dem Vater 124f., 150, 154, 239 Gnade 62, 73, 79, 89, 90, 155f., 230, 264 Götzendienst, Abgötterei 37, 91f. Gottesdienst – Besuch, Quote V, 172, 182, 272, 287, 289–292, 294f., 301f., 304 – als Beziehungsgeschehen 86f., 92, 146ff., 151, 154–163 – als Feier 23, 154, 162, 175 – Fernseh-/Radio- 271, 273, 281, 292 – als Identitätsabgrenzung 47f. – als Kommunikationsgeschehen 103, 147–154, 159, 162f., 167, 175f., 179, 190f., 242, 265f., 269 – neue Gottesdienstformen 170–172, 189f., 196 – Online- 273f., 282 – als Quelle christlichen Lebens V – Raum 40, 42, 73, 99, 186, 238, 280 – Religionsgeschichte 62 – Sozialisation 270, 288, 290, 300–303 – Sonntags- 59, 71, 84, 95ff., 100, 113ff., 125, 127, 170, 271f., 289ff., 293, 304f.

Sachregister – Synagogen- 24–28, 129, 248 – Teilnahme 24, 36, 47, 110f., 112f., 123, 166, 272, 283, 286, 291, 300, 304f. – Trauerfeiern 196ff. s. auch Abendmahl; Liturgie; Messe; Predigt Gottesdienstbuch 125, 127, 130, 133ff., 150, 167f., 170, 172, 176, 207, 209 Gottesnähe 14f., 17ff. Gregorianischer Choral 122 Heil – Heilsgeschichte 106 – Heilshandeln 120 Heilige Schrift s. Bibel, Heilige Schrift Heiliger Geist 23, 24, 46, 49, 55, 60, 106, 120, 146, 150ff., 160, 233f., 237f., 262f. Herrenmahl s. Abendmahl Herz 30f., 80, 91, 94, 140, 148, 224, 230, 243f. Hymnus 30f., 230f., 243 Identität 2, 31, 46f., 127, 145ff., 156, 163f., 172, 217f., 220, 226, 235f. Inszenierung 12, 142, 173f., 176, 180–182, 230, 240, 242 Interpretation 212, 217 Jugend, Jugendliche 288, 301f. Kasualien 262–264, 265, 271, 279f., 281, 283f., 292, 293 – Bestattung 77, 82, 271, 292 – Einschulung V, 264, 271 – Konfirmation, Konfirmanden 263f., 271, 292, 301 – Passagenritus 66, 207, 213, 262ff.

317

– Trauung, Jubiläen 178, 264, 271, 283, 292, s. auch Taufe Katechismus, Katechese 53, 56, 60, 66 – Kleiner Katechismus 94, 128, 260 – Großer Katechismus 91, 139, 151 – liturgische 101, 209, 218 – württembergischer (1696) 128 Kinder 202, 225, 228, 234, 270f., 272, 288, 300 Kirche 25, 29, 39–41, 266–268, 286 – Gemeinschaft der Glaubenden/ Getauften 44, 47, 67, 82, 143, 147, 163 – Hausgemeinde 42, 101, 267, 269ff. – Kirchenbau 42, 52, 73 Kirchenjahr 53, 60, 77, 134, 169, 200ff., 206, 231, 238, 241, 279 Kirchenmitgliedschaft 286f., 291, 294 Kirchenordnung 126, 130, 131 kirchliche Orte V, 234, 271, 279–281, 292 Kloster, Klosterleben 71f., 84, 100 Körperlichkeit 183, 206, 212f., 227, 261 Kommunion 67, 70, 76, 78, 80, 121f., s. auch Messe Konfession 124, 128, 137, 138, 165, 188, 232, 235, 238, 240, 268, 273f., 284, 300 Konfessionslos 199, 202f., 292 Konfirmation, Konfirmanden s. Kasualien, Konfirmation Kontext, Kontextanalyse 145, 204f., 208f., 215f., 222f., 284, 287f. Konziliarität 278f. Konzilien s. Trienter Konzil; II. Lateran-Konzil; II. Vatikanisches Konzil Kultkritik 8–11, 19f., 268f.

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Sachregister

Kultur, kulturell 1ff., 11f., 63, 117, 174f., 179f., 183f., 213, 216, 220, 226f., 234, 235f., 243, 275, 289, 297f. Kulturwissenschaft 3, 166, 168, 173 Kunst 78, 173f., 181, 225ff., 229 Kybernetik, Leitung 110, 261, 275–277 Lesung 24ff., 33, 35, 44ff., 58f., 64, 97, 111, 113, 115f., 117, 124, 156, 169, 239, 240, 242 Liebe 38, 93f., 96, 97f., 101, 155f., 175, 202, 260, 276 – Feindesliebe 251 – Nächstenliebe 93, 97f., 101 Lied, Gesang 9f., 99, 124, 154, 169, 181, 183, 201, 231, 233, 237–239, 240f. Liminalität 213f. Liturgie 65–73, 76–78 – alte Kirche 47ff., 53–58 – antiochenische 53, 55f. – evangelische 168–169 – frühchristliche 33 – Frühmittelalter 63f., 65–73, 76ff. – Mönchsliturgie 71f., 76ff. – Spätmittelalter 78–81 – Totenliturgie 76f. – westliche 56ff., 61, 65 s. auch Gottesdienst; Inszenierung; Katechismus, Katechese; Ritual Liturgische Bewegung 133 Ludizität 214, 218 Lust 227f., 244 Messe 61, 67f., 71, 76–81, 84, 86ff., 239 – Deutsche V, 87, 99, 100ff., 121, 131 – Konventsmesse 71f., 76, 84

– missa sicca 140 – Privatmesse 72, 84, 95f. s. auch Abendmahl; Gottesdienst; Kommunion; Liturgie Milieu 163, 171, 184, 211, 234, 237, 243, 294, 296, 298 Monolog 142 Musik – als Begleitung 238, 241, 242 – Eingangsmusik 124, 238 – Instrumentalmusik 9, 228f., 237, 241f. – liturgischer Gebrauch 242f. – als Recreation 232 – simultan 241f. – therapeutisch, seelsorgerlich 229, 235, 241 – und Verkündigung 229–231, 237f., 242, 243 – Vielstimmigkeit 237 – Weltenklang 225f. s. auch Hymnus; Gregorianischer Choral; Lied, Gesang Mystik 80f., 274 Ökumene 61, 137f., 163ff., 169, 192, 197, 266ff., 273f., 281 Öffentlichkeit 70f., 101, 136, 140, 166, 168, 171, 176, 184, 185–203, 210f., 215, 236, 274 Offenbarung 24, 88, 150, 186, 227, 247f. Opfer – deuteronomisch, Deuteronomium 8, 12ff. – »geistiges Opfer« 22, 46f., 67, 77f., 83 – Messopfer 67ff., 89, 95f., 109, 120, 146 – Opfertiere 6ff., 11, 17 – Opferterminologie 6ff. – Priesterschrift 9

Sachregister – sacrificium 2, 22f., 47, 87ff. – Überwindung, Ende des Opfers 9, 19ff. – Transformation 20f. – victima 2 s. auch Blut; Sühne; Sühneort; Sündenbock; Versöhnungstag Ordinarium 79, 125, 135f., 169, 206, 208, 239f. Partizipation s. Beteiligung, Partizipation Passa 13f., 38, 161 Passa-Mysterium 105f. Performativität 1, 174, 178–180, 211f., 221, 257, 259 Personalität 219f. Persuasion 215, 218, 220 Pluralisierung, Pluralität, 100, 171, 174, 188f., 211, 278, 293, 299 Poet, poetisch 230f., 233, 239 Präfation 56f., 109, 114, 120, 159 Prediger 50, 59, 100, 167, 174, 208, 211ff., 217, 219f. Predigt 124, 142f., 145, 149, 157ff., 168, 181, 188, 203 – Gestaltung 183, 208f., 211, 223, 299 – Perikopenordnung, Predigtreihe 33, 51, 58f., 95, 116, 169 – Text 50f., 58, 206, 212, 217f. – Thema 50, 58, 195, 218 – Situation 215, 218 – Verschriftlichung, Manuskript 32, 43, 212f. s. auch Evangelium; Predigtgottesdienst Predigtgottesdienst – und Abendmahl 128, 130, 139 – Elemente 134 – oberdeutsch 124 – strukturelle Offenheit 134 – Veränderungen 130ff.

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– württembergischer 124f. Priestertum aller Gläubigen 93, 110, 119, 177, 251 Promissio, Gnadenzusage 87–89, 148f., 152, 155ff., 253ff., 257 Proprium 135, 169, 206, 240 Psalmgebet s. Gebet Rechtfertigung 31, 87, 97, 102, 230, 233 Reflexionsperspektive 211f., 215, 221f. Reformation 63, 78f., 86, 99, 126–130, 139, 146 Reliquien 73, 77, 78, 81 Rhetorik, Rhetorizität 214ff., 220, 221f., 223 Ritual, Ritualität 1ff., 11, 15ff., 25, 46ff., 65f., 70, 77, 81ff., 87, 123, 166–184, 199, 207, 213, 246, 251, 270, 277, 282 Sabbat 25, 27, 129 Säkularität, Säkularisierung 63, 187, 210f., 222 Sakrament 48, 57, 60, 66, 68, 74f., 82ff., 87ff., 102, 109, 120, 122f., 137ff., 146f., 149, 152f., 165, 192, 194, 239, 259, 280, s. auch Abendmahl, Taufe Sanctus 50, 54ff., 114, 118, 135, 159, 239 Schema Jisrael 22, 28 Scholastik 63, 68f., 75–78 Schöpfung 108, 146, 147f., 150ff., 192, 225ff., 243, 247 – Neuschöpfung 250 – Schöpfungsmittlerschaft Christi 28 Schriftbeweise 32 Segen 6, 8, 15, 32f., 66ff., 123, 140, 149, 150, 161f., 178, 207, 219, 239, 241, 245–264

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Sachregister

– aaronitisch 124f., 247ff., 253f., 257, 258ff – Handauflegung 46, 245, 258f., 261ff. Selbstvergegenwärtigung Gottes 151-154, 157, 160, 162, 164f. Semantik 179, 206ff., 217 Sendung, Sendungsteil 134, 161, 164, 239 Sonntag, Tag des Herrn 27f., 30, 34, 35, 45, 52f., 67, 71 Sühne, Sühneriten 3, 6f., 9, 16ff., 23, 67, 107 Sühneort, Kapporet 16–19, 23 Sünde, Sünder 6, 15, 17f., 28, 31, 67, 70, 72, 89, 142, 146, 155f., 159f., 177, 233 Sündenbock 16, 18f. Synagoge 25f., 193, 248, s. auch Gottesdienst Taufe 43f., 47, 60, 66f., 74f., 82, 85, 145, 239, 251, 262ff., 267, 271, 292, s. auch Sakrament Tempel 8, 23, 35, 129, 236, 248, 261 Theater, Theatralität 142, 173–177, 180, 181, 184, 297f. Torgauer Formel/Einweihungspredigt V, 103, 147f., 162, 167, 184, 204, 210, 232

Transformation 20, 177, 214, 218, 266, 282, 284 Trienter Konzil 104f. Trinität, trinitarisch 28, 44, 46, 60, 75, 134, 140, 147, 150f., 153ff., 157, 159f., 162f., 164f., 225, 229, 249 Trost 199, 229, 235, 241 Vaterunser s. Gebet, Vaterunser Verkündigung 24, 28, 32f., 34ff., 93, 97, 116, 122, 134f., 138, 139, 141, 146, 149, 152f., 160, 179, 191, 195, 229ff., 240f., 243, 261 Versöhnung 9, 15–19, 23, 38, 70, 107f., 159 Versöhnungstag 8, 15–19 Votum 150ff., 154 Wahrheit 11, 151f., 163, 179, 188, 199 Werteorientierung 174, 289 Zehn Gebote 86, 90ff. Zweitgottesdienste V, 142, 171, 293, 304 II. Lateran-Konzil 70 II. Vatikanisches Konzil 104f., 112f., 122f.