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German Pages 448 [449] Year 2023
Martin Breul / Aaron Langenfeld (Hg.)
Der Glaube im Denken Eine Philosophiegeschichte
Martin Breul / Aaron Langenfeld (Hg.) Der Glaube im Denken
Der Glaube im Denken Eine Philosophiegeschichte Herausgegeben von Martin Breul und Aaron Langenfeld
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Verlag Herder Umschlagmotiv: Trinity College Library, Dublin – © Zach Plank / unsplash Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Print 978-3-451-39384-6 ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82971-0
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Breul / Aaron Langenfeld Der Pionier des grenzenlosen Denkens. Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Schärtl Der Philosoph. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
Tobias Kläden Eine Metaphysik absoluter Einheit und des absoluten Geistes und ihre Bedeutung für die christliche Theologie. Plotin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Markus Enders Die Synthesis von platonischer Philosophie und christlicher Religion. Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Aaron Looney Giganten der Islamischen Erkenntnissuche. Ibn Sīnā, al-Ġazālī und Ibn Rušd . . . . . . . . . . . . . . .
54
Darius Asghar-Zadeh Die rationale Rekonstruktion des Glaubens. Anselm von Canterbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
Stephan Ernst Rationale Gotteserkenntnis oder praktische Gottesliebe? Moses Maimonides und Chasdai Crescas . . . . . . . . . .
77
Frederek Musall Primat der wissenschaftlichen Vernunft. Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Speer
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Inhalt
6
Mystische Aufbrüche an der Schwelle zur neuzeitlichen Moderne. Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus . . . . . . . . . . .
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Saskia Wendel Von den Debatten des Spätmittelalters in die Frühe Neuzeit. Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham . . . . . .
109
Stefan Seit Der Gnadenstreit. Luis de Molina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
Johannes Grössl Die britische Aufklärung. Thomas Hobbes, John Locke und David Hume
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123
Anti-Skeptische Wende zum denkenden Subjekt. René Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Christian Hengstermann
Klaus Müller Das nachmetaphysische Denken. Blaise Pascal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142
Isabella Guanzini Die Freiheit zu philosophieren. Baruch (Benedictus) de Spinoza
. . . . . . . . . . . . . . .
149
Warum selbst Leid die Harmonie der Welt nicht zerstören kann. Gottfried Wilhelm Leibniz über die Theodizee . . . . . . . .
157
Fana Schiefen
Andreas Koritensky Von Gott und Welt, die es nicht gibt. Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Nitsche / Florian Baab
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7
Inhalt
Gott als Sinngrund des Ichs. Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
Benedikt Rediker Religion als Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher . . . . . . . . . . . .
184
Cornelia Richter Religion als Ende aller Projektionen? Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . . . . . . . . . . .
191
Jakob Deibl Die ästhetische Konzeption von Religion. Friedrich Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202
Thomas Hanke Denker der Freiheit. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . . . . .
209
Christian Brouwer Religionskritik im Zeichen der Entfremdung des Menschen. Ludwig Feuerbach und Karl Marx . . . . . . . . . . . . . .
216
Gregor Maria Hoff Das Christentum als Denkprojekt. Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Heiko Schulz Philosophie als Werkzeugkasten. Amerikanischer Pragmatismus (Pierce, James, Dewey)
. . .
233
Überwindung der Metaphysik und des Christentums. Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
Anne-Kathrin Fischbach
Jürgen Werbick „Zurück zu den Sachen selbst!“. Edmund Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enrico Grube
255
Inhalt
Eine philosophische Kulturtheorie über den Menschen, der Bedeutung bringt. Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
262
Caroline Helmus Endlichkeit und die Frage nach dem Sinn des Seins. Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
Thomas P. Fößel Der religiöse Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278
Klaus von Stosch Denken am Abgrund des Daseins. Die französische Existenzphilosophie . . . . . . . . . . . .
285
Aaron Langenfeld Brücken bauen in Philosophie und Glaube – christliche Existenz in pluraler Welt. Edith Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
298
Tonke Dennebaum Drei Denker der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin
304
Edmund Arens Der Philosoph der Anderheit. Emmanuel Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
Erwin Dirscherl Politische Phänomenologie und der Sinn menschlichen Handelns. Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
Julian Tappen Vermittelte Zugänge zu Selbst und Welt. Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veronika Hoffmann
328
9
Inhalt
Autonome Freiheit und die Frage nach Gott. Transzendental- und Bewusstseinsphilosophie im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
334
Magnus Lerch Drei Namen für ein neues Verständnis von Sprache. Hilary Putnam, Donald Davidson und Robert B. Brandom .
347
Martin Dürnberger Selbstsorge und Sorge um die Anderen. Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Karlheinz Ruhstorfer Das Verhältnis von Glauben und Wissen in postsäkularen Gesellschaften. Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Martin Breul Selbstreflexion auf die eigene Positionalität. Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
372
Ansgar Kreutzer Von der Entsicherung des Denkens zur postkolonialen Theologie. Jacques Derrida und die Dekonstruktion
. . . . . . . . . .
378
Die Moderne als ein Konzept mit Tiefenschärfe. Charles Taylor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
385
Anne Weber
Annette Langner-Pitschmann Analytische Religionsphilosophie. Alvin Plantinga, Richard Swinburne, Eleonore Stump
. . .
394
Eine Philosophie der Befreiung. Enrique Dussel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
404
Godehard Brüntrup
Jan Niklas Collet
Inhalt
10
Das „Schwache Denken“ als Ontologie dessen, was geschieht. Gianni Vattimo und Giorgio Agamben . . . . . . . . . . . .
411
Gianluca De Candia Intelligente Emotionen. Martha Nussbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
420
Jochen Schmidt Eine Philosophie der Freiheit. Judith Butler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
427
Anna Maria Riedl
Verzeichnis der zitierten Literatur
. . . . . . . . . . . . . .
434
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
439
Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Theologie und Philosophie sind seit jeher in besonderer Weise miteinander verbunden. Seit seinen Anfängen steht der christliche Glaube in einem steten Gespräch mit den philosophischen Entwürfen der jeweiligen Zeit und gebraucht die entsprechende philosophische Sprache, um zentrale Glaubensüberzeugungen auf den Begriff zu bringen. Daher gilt aus christlich-theologischer Sicht (zumal für die katholisch-theologische Sicht), dass der Glaube nicht im Widerspruch zur Vernunft stehen kann. Das, was geglaubt wird, kann philosophischen Begriffen und Analysen nicht prinzipiell unzugänglich sein. Dieser positiven Dynamik entspricht zugleich eine negative, insofern die reflexive Durchdringung des Glaubens immer auch (produktive) Kritik beinhaltet. Auch in diesem Sinne gehören also Theologie und Philosophie aus theologischer Sicht unmittelbar zusammen. Anselm von Canterbury (um 1033–1109) hat im elften Jahrhundert dieses Zueinander von Denken und Glauben auf die Kurzformel fides quarens intellectum – der christliche Glaube ist ein Glaube, der nach Einsicht sucht – gebracht. Zudem lassen sich auch umgekehrt zentrale philosophische Begriffe der Gegenwart häufig nur dann in ihrer Tiefe begreifen, wenn sie in ihrem christlich-philosophischen Entdeckungszusammenhang verstanden werden. Es kann daher nicht überraschen, dass der Dialog zwischen Philosophie und Theologie auf eine reichhaltige, ja schon fast ausufernde Geschichte zurückblickt. In diesem Buch möchten wir eine Schneise durch das Dickicht dieser Geschichte schlagen. Es bietet eine Einführung in das Denken bedeutender Philosophinnen und Philosophen der Geschichte und legt einen besonderen Fokus auf die Frage, welche Rolle die Religion in ihren Überlegungen spielt. Dabei zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit der Vernunft – oder in den Augen mancher auch: der Unvernunft – des Glaubens für nahezu alle großen Denkerinnen und Denker aus der Geschichte der Philosophie zentral für die Entwicklung ihrer eigenen Ansätze, Theorien und Modelle war bzw. ist. Zugleich stellen die einzelnen Beiträge einen Bezug zur theologischen Rezeption her. Das Buch verfolgt also ein doppeltes Ziel:
Einleitung
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Zum einen sollen spezifische theologische Konzepte in den Denkhorizonten ihrer jeweiligen Zeit und ihrer jeweiligen Kontexte fassbar gemacht werden; andererseits soll aber auch die Möglichkeit vermittelt werden, das eigene theologische Denken in einer produktiven Auseinandersetzung mit verschiedenen philosophischen Ansätzen profilieren zu können. Es versteht sich von selbst, dass dieses Buch – obwohl es nicht gerade wenige Seiten hat – nur eine erste, knappe und ausschnitthafte Einführung sein kann. Dennoch sind wir davon überzeugt, dass die Vorstellung der einzelnen Ansätze eine allgemein verständliche und gut lesbare Einführung in den Kern der jeweiligen Philosophie bietet. In diesem Sinn richtet sie sich nicht nur an ein akademisches, sondern an ein philosophisch interessiertes Publikum, das eine verständliche Wegbeschreibung entlang der wichtigsten Stationen der Geschichte der Philosophie sucht. Das Werk stellt dabei eine grundlegend überarbeitete und durch eine Vielzahl von Artikeln erweiterte Fassung des 2017 bei utb (Schöningh) erschienenen Studienbuches Kleine Philosophiegeschichte. Eine Einführung in das Theologiestudium dar. Mit dieser Neufassung legen wir ein Handbuch vor, das in der Verschiedenheit philosophischen Verstehens der Religion die Möglichkeiten eines positiven Zueinanders von Glaube und Vernunft neu zu entdecken versucht. Um diesem Anspruch einerseits, den philosophischen Ansätzen aber in ihrem Selbststand andererseits gerecht zu werden, folgen alle Artikel einer ähnlichen Struktur. Alle Autorinnen und Autoren haben für das Verfassen ihres Beitrags drei Leitfragen erhalten: (1) Welche Relevanz hat das dargestellte philosophische Denken für die Theologie? (2) Was sind die wichtigsten und originellen Erkenntnisse des Philosophen/der Philosophin oder der Strömung? (3) Welche Literatur empfiehlt sich zur vertieften Auseinandersetzung mit dem philosophischen Denkansatz? In den Artikeln fließen die Aspekte von (1) und (2) oft ineinander über, während (3) als eigenständiges, kommentiertes Literaturverzeichnis zur weiteren, vertiefenden Lektüre an jeden Beitrag angefügt ist. In den Texten waren ausschließlich (und nur in geringem Umfang) Primärzitate gestattet. Referenzen auf Sekundärtexte sind
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Einleitung
einerseits wegen der besseren Lesbarkeit, andererseits aber auch um der Zugänglichkeit willen ausgeschlossen worden. Bedanken wollen wir uns bei den Personen, ohne die dieses Buch nicht in dieser Form hätte realisiert werden können: Ein großer Dank gebührt Dr. Stephan Weber sowie dem Verlag Herder, die dieses Projekt von Anfang an mit großem Engagement unterstützt und ermöglicht haben. Für die vielen Hilfen bei der Manuskripterstellung sowie der Endredaktion danken wir Barbara Brunnert und Anna-Maria Rakus. Ein besonderer Dank gilt schließlich den Beiträgerinnen und Beiträgern. Dortmund – Paderborn, im Februar 2023
Martin Breul und Aaron Langenfeld
Der Pionier des grenzenlosen Denkens
Platon Thomas Schärtl
Annäherungen Mit dem Bild der platonischen Philosophie in der Theologie verbindet sich eine Reihe von eigenwilligen Vormeinungen: Platon (427– 347 v. Chr.) – Spross einer Athener Adelsfamilie, eigentlich für eine politische Laufbahn vorgesehen, aber von den Irrungen und Wirrungen der Athener Demokratie, der Spartanischen Fremdherrschaft und dem Justizmord an seinem Lehrer Sokrates davon abgebracht, mit eigenen politischen Ambitionen in Syrakus gescheitert und von daher ganz und gar dem Philosophieren verschrieben – gilt als Repräsentant einer Zwei-Welten-Theorie, als Begründer einer identitätsphilosophischen, metaphysischen Konzeption, schlussendlich als Vordenker eines Idealismus, der die Berührung mit der realen Welt zu vermeiden versucht. Viele dieser gängigen Platon-Bilder müssen einer Revision unterzogen werden. Platon war – und das ist die Perspektive dieses Beitrags – ein philosophischer Pionier, der sich viele begriffliche Unterscheidungen des Philosophierens erst erarbeiten musste. Platon als Pionier des Denkens zu verstehen, der in die Philosophie begriffliche Überlegungen einspeist, wo noch keine belastbaren begrifflichen Differenzierungen vorliegen, ist eine von mehreren, sich nicht zwangsläufig ausschließenden möglichen Lesarten. Wir dürfen in Platon durchaus auch eine zentrale philosophiegeschichtliche Figur erblicken, die im begrifflichen Bemühen, das für Wissenschaft kennzeichnend ist, auch Weisheit sucht und die
Der Pionier des grenzenlosen Denkens
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Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben als Ausweis dieser Weisheit versteht. Und wir können in Platon mit einem gewissen Recht einen Vorläufer mystisch-spiritueller Philosophie sehen, die im Weg der Selbstdisziplinierung, der immer auch ein Weg der intellektuellen Selbstvergewisserung ist, zu einer höheren Einsicht, zu einer Art Aufstieg hin zu einer höheren Schau führt (vgl. das berühmte Höhlengleichnis in Rp. 106a–c). Gerade die optische Metaphorik, mit der Platon Einsichtsprozesse beschreibt, legt eine Deutungsweise nahe, in der das Intellektuelle ins Ästhetische, ja sogar ins Religiöse hinüberspielt.
Werke Von Platons Schrifttum sind uns (neben Briefen) vor allem seine Dialoge überliefert, die im Sinne einer relativen Chronologie holzschnittartig in die sog. Früh-, Mittel- und Spätdialoge eingeteilt werden. Den Frühdialogen ist es (eher) eigentümlich, ethisch-praktische Fragen zu thematisieren, um dabei das vermeintliche Expertenwissen – Platon lässt Priester, Handwerker, kurzum: Fachleute aller Art auftreten, die eigentlich wissen müssten, was die Sache ist – als Unwissen, bloßes Meinen zu disqualifizieren. Gegenstand der frühen Dialoge sind Begriffe wie Tapferkeit (Laches), Frömmigkeit (Euthyphron), Besonnenheit (Charmides), Gerechtigkeit oder Freundschaft (Lysis); allgemeiner werden auch die Lehrbarkeit oder die Einsicht in die Tugend befragt (wie im Menon und im Protagoras) und die Frage nach dem Einhalten der Gesetze (Kriton) aufgeworfen. Die Frühdialoge enden oft aporetisch, d. h. sie bieten keine direkte Lösung eines philosophischen Problems, zeigen aber entlang des Weges durchaus Elemente zur Lösung eines Problems auf. Die mittleren Dialoge gelten als die Dialoge der Reifezeit – traditionell wurden sie als jene Dialoge gesehen, in denen sich Platons eigene Lehre entfaltete (wobei dies eine zu einengende Sichtweise wäre): Sie behandeln die großen, existenziell bedeutsamen Themen der Philosophie: das Schöne (Phaidros), die Liebe (Symposion), das Zusammenleben im Staat und das Gute (Politeia), die Eigenart der Sprache (Kratylos) sowie die Frage nach Tod und Unsterblichkeit (Phaidon). Die Dialoge Parmenides und Theaitetos läuten die späte Phase der mittleren Periode ein und deuten bereits an, welche The-
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Platon
men in der Spätphase überhaupt verhandelt werden: Fragen der Ontologie (Sophistes, teilweise Philebos), Fragen der Erkenntnistheorie (Theaitet) und Fragen der Kosmologie (Timaios). In den Nomoi geht Platon noch einmal der Eigenart des Staatswesens nach und entwirft eine Utopie, in der die Herrschaft der Gesetze eine zentrale Stellung einnimmt. Dieser utopische Staat soll als Verbindung von Tyrannis und Demokratie verfasst sein (hierin spiegeln sich Platons ureigene Erfahrungen mit Staatsverfassungen) und durch eine starke öffentliche Rolle von Religion konsolidiert werden. Fragt man nach den Zusammenhängen der drei Schichten von Dialogen, so ließe sich das folgende, freilich stark vereinfachende Bild präsentieren: Die frühen Dialoge eröffnen den Blick auf die primären, d. h. praktisch-ethischen Fragen des Lebens, die das philosophische Denken herausfordern müssen. Die sog. mittleren Dialoge versuchen derartige Fragen in einem jeweils weiteren, theoretischen, praktischen und existenziellen Rahmen zu bedenken, weswegen die großen Fragen der Philosophie in den Mittelpunkt rücken. Die späteren Dialoge schließlich gehen den theoretischen Überhangfragen nach, die bei der Skizze von Lösungsperspektiven buchstäblich liegen geblieben sind. Aus diesem Grund schieben sich in der Spätphase Fragen der Ontologie, der Erkenntnistheorie und Dialektik sowie der Kosmologie in das Gesichtsfeld.
Rolle und Eigenart der Ideen Die sog. Ideen erfüllen in Platons Denken eine wichtige Aufgabe in semantischer, erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht. Schon in den Frühdialogen wird der Platz der Ideenkonzeption sichtbar – wenn auch in einer sozusagen unausgefüllten Weise. Der Dialog Euthyphron geht der Frage nach, was Frömmigkeit eigentlich sei. Platon präsentiert vier Definitionsversuche (Euth. 5c–15c), die im Gang des Dialoges als ungenügend oder zirkulär verworfen werden. Platon lässt Sokrates fragen, ob das Fromme in jeder frommen Handlung sich selbst gleiche und ob das Frevelhafte nicht allem Frommen entgegengesetzt sei, sodass es sich selbst gleiche und alles Frevelhafte ein einziges bestimmtes Wesen (idea) habe, was seine Frevelhaftigkeit ausmache (Euth. 5d1–5). Eigenschaften (wie z. B. Frevelhaftigkeit) sind sich selbst gleich, sodass wir uns in allen An-
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wendungsfällen auf ein und dasselbe Allgemeine beziehen. Dieser Gedanke setzt voraus, dass es nicht nur eine logische, sondern eine ontologische Relation zwischen Individuen und Eigenschaften gibt, die bewirkt, dass verschiedene Individuen ein und dieselbe Eigenschaft haben können. Da es eine ontologische Relation ist, muss das reine Sein dieses Allgemeinen bzw. dieser allgemeinen Eigenschaft eine Art eigener Realität besitzen. Weil Ideen eine Eigenschaft F idealtypisch und standardisiert ‚verkörpern‘, gelten sie als Paradigmen des Habens einer Eigenschaft. Dies erlaubt für Platon auch eine Art prädikativer Reflexivität (Selbstprädikation). Die Rolle der Ideen wird hier sehr schnell deutlich: Sie sind in semantischer Hinsicht der Maßstab für die Benutzung prädikativ verwendbarer Ausdrücke (wie ‚fromm‘, ‚gerecht‘, ‚gleich‘) oder sortaler Terme (‚Tisch‘, ‚Bett‘, ‚Stuhl‘ [Krat. 389a–d; Rp. 596a]), weil sie den Gehalt eines Ausdrucks in idealer Weise verkörpern (Phd. 78d–e, 102b, 103b). Gleichzeitig bilden sie ein erkenntnistheoretisches Prae insofern, als wir nur dann wissen können, ob ein konkretes a die Eigenschaft F hat oder was es bedeutet, F zu sein, wenn wir das Sein dieser Eigenschaft per se kennen. Und sie sind ontologisch die Grundlage dafür, dass in den konkreten Dingen die in Rede stehenden Eigenschaften sozusagen realisiert sind. Die konkreten Dinge haben eine bestimmte Eigenschaft, weil sie an der entsprechenden Idee teilhaben. In anderen Dialogen erfahren wir mehr über Ideen – insbesondere, wovon es Ideen gibt. Es gibt Ideen nicht nur für abstrakte Konzepte wie Schönheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, nicht nur – wenn wir etwa den Dialog Phaidon heranziehen – für Gleichheit, Größe und Kleinheit (Phd. 100b), sondern auch für Gesundheit und Stärke (Phd. 65b); es gibt die Idee des Warmen und Kalten, des Feuers und Schnees, des Geraden und Ungeraden, der Dreiheit und des Lebens (Phd. 103e–106d). Im Dialog Phaidon wird ein Aspekt erwähnt, der ein Interpretationsproblem darstellt: Platon spricht gerade mit Blick auf die Rolle der Seele als Lebensgrund und exemplifiziert am Thema der Größe von der Idee in den Dingen (Phd. 102b–d). Eine mögliche Deutung könnte hier einen nicht explizierten Verweis auf Grade der Instantiierung der jeweils von der Idee verkörperten Eigenschaft entdecken: Während die Idee die vollkommene Instantiierung der sie verkörpernden Eigenschaft ist, ist ein konkretes x immer nur eine abgestufte, also geringere und damit abgeschattete Weise der Instantiierung einer bestimmten Eigenschaft. Die Idee
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Platon
spielt damit die Rolle eines Urbildes (Parm. 132d) und Standardgegenstandes (vgl. Rp. 596a–598d), der in Reinform verkörpert, was er darstellt, und der deshalb die Rolle eines Maßstabs hat. Ontologisch erprobt Platon eine Metaphysik, die noch vor der grundlegenden Unterscheidung von Individuum und Universale zu stehen kommen will. Es ist das Selbstprädikationsproblem und es sind die Fragen der Anwendbarkeit des Teilbegriffes, weswegen Platons Ideenkonzept im Dialog Parmenides kritisch diskutiert wird. Wird die Idee nicht zerteilt, wenn viele konkrete Instantiierungen an ihr teilhaben sollen (Parm. 132a–e)? Führt es nicht zu einem Kollaps, wenn wir sagen müssen, dass die Idee der Größe selbst groß ist (Parm. 129b,132a)? Und führt es nicht zu Iterationen, wenn wir Eigenschaften, die wir den Ideen ihrerseits zuzuschreiben haben, wiederum über die Teilnahme an Ideen verdeutlichen wollen (Parm. 132a–133a)? Der zweite, weitaus längere Teil des Dialogs Parmenides widmet sich einer Dialektik des Einen und Vielen und analysiert dabei die Umrisse des Teilbegriffes, die nicht weniger als den Entwurf einer Mereologie darstellen. Eine direkte Lösung des Selbstprädikationsproblems verrät uns Platon nicht. Aber die Tatsache, dass er über den Teilbegriff nachdenkt – und zwar in Bezug auf die Frage, ob und welche Eigenschaften das Eine in Hinsicht auf sich selbst (Parm. 137c–142a) und in Hinsicht auf anderes (Parm. 160b–163b) hat –, lässt eine denkbare Richtung erkennen. Wir können nämlich unterscheiden zwischen (i) etwas ist F in Relation zu sich selbst und (ii) etwas ist F in Relation zu etwas anderem. Im ersten Fall haben wir den erlaubten Fall und die Deutungsperspektive für die Selbstprädikation der Idee vor uns; im zweiten Fall haben wir die herkömmliche Situation vor uns, in der von einem (konkreten) x ein bestimmtes Sosein ausgesagt wird. Hat Platon seine Ideenkonzeption später grundstürzend reformiert? In der Fachliteratur wird die Ansicht vertreten, dass Platon von einer eher gegenständlichen zu einer eher funktional-begrifflichen Auffassung der Ideen gelangt sei; weniger eine Reform als vielmehr eine Weiterentwicklung der Ideenlehre sei in den Spätdialogen zu erkennen. Schon im Parmenides wird die Frage gestellt, ob es für alles und daher auch für Minderwertiges jeweils eine Idee geben müsse (vgl. Parm. 130a–e). Im Dialog Sophistes wiederum konfrontiert uns Platon mit fünf Grundbegriffen, deren Verbindung un-
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tereinander er einer eingehenden Prüfung unterzieht. Es handelt sich dabei um Sein, Ruhe, Bewegung, Identität, Verschiedenheit (Soph. 248a–d). Implizit scheinen zur Tafel dieser Grundbegriffe auch Vernunft und Leben zu gehören. Im Sophistes diskutiert Platon die Frage, ob und wenn ja wie diese Begriffe miteinander verbunden sein können (Soph. 251b–252c); er kommt zu folgendem Ergebnis: (i) Bewegung und Ruhe sind getrennt (254d). (ii) Bewegung und Ruhe überlappen sich mit Sein, weil beide existieren und weil Sein mit beiden verbunden ist (254d). (iii) Ruhe, Bewegung, Identität und Verschiedenheit sind paarweise verschieden (255a). (iv) Sein ist von Identität verschieden (denn sonst müssten, wegen der Anteilhabe von Bewegung und Ruhe am Sein, Ruhe und Bewegung identisch sein) (255b–c). (v) Sein ist von Verschiedenheit verschieden (ansonsten könnte es nicht gleichzeitig mit Ruhe und Bewegung überlappen) (255c–e). Die Grundbegriffe und ihre Verbindungsmöglichkeit bilden eine Grammatik des Seins. Die Gehaltlichkeit bestimmter Ideen – jener Ideen, von denen noch in den mittleren Dialogen die Rede war – ließe sich als Resultat der Verbindung und als Spezifikation einer bestimmten Verknüpfung der genannten Grundbegriffe rekonstruieren. Kombiniert wird dieses Konzept mit einer (dem Parmenides nicht unähnlichen) Karikatur der Ideenlehre, die Ideen als unkörperliche, in sich ruhende und damit inaktive Gegenstände ansieht (Soph. 241–260). Rückendeckung für diese Sicht auf die Weiterentwicklung finden wir auch im Dialog Philebos – besonders ausgehend von den Passagen, die das Verhältnis von Begrenztem und Unbegrenztem betreffen (Phil. 16–20 und 23–30). Wir treffen auf das folgende Konzept, wenn wir den Dialog Philebos zugrunde legen: Auf der einen Seite haben wir ein unbegrenztes qualitatives Kontinuum. Identität und Begrenzung dieses Kontinuums resultieren auf der anderen Seite in klaren Referenzpunkten – den Ideen, die die Grundlage für jede Vergleichbarkeit und Darstellung von Gemeinsamkeit bilden. Diese Fixpunkte haben eine jeweils klare Identität. Was qualitativ zwischen diesen Fixpunkten existiert, verdankt seine Identität den genannten Fixpunkten, die Normen des Bezugnehmens darstellen. Diese abgeleitete Identität markiert die Eigenart konkreter, raumzeitlicher Dinge, deren Konstitution in den Fixpunkten, im
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Platon
Verhältnis dieser Fixpunkte zueinander und im Zueinander von Unbegrenztheit und Identität zu finden ist.
Projekt Wissen Im Dialog Menon konfrontiert uns Platon mit einem Dilemma des Wissensbegriffes (Men. 80d–e): (i) Wenn jemand einen Gegenstand x kennt und von ihm weiß, dann kann er ihn nicht mehr erforschen (weil er ihn ja schon kennt). (ii) Wenn jemand von einem Gegenstand x gar nichts weiß, kann er ihn ebenfalls nicht erforschen (weil er ja nicht wüsste, in welcher Richtung er in seinem Forschen suchen soll). Das Dilemma ist unausweichlich, wenn wir die in ihm verpackten Voraussetzungen akzeptieren. Aber diese sind durchaus steil. Denn in (i) präsentiert uns Platon ein Konzept des perfekten und erschöpfenden Wissens – als ob ein Wissen um x immer einschlösse, dass wir x in jeder Hinsicht und ohne Abstriche kennen müssten, um zu wissen, was x ist. In (ii) werden wir mit einem Konzept konfrontiert, das neben dem Wissen ein wahres Annehmen (oder kluges Vermuten) nicht kennt oder nicht zulassen kann – oder aber (und das dürfte Platons eigentliche Position sein) das wahre Annehmen schlussendlich auf ein erworbenes Wissen zurückführen muss. Diesem letzten Spielzug dient im Menon die Einführung der (erkenntnistheoretisch gewiss eigenartigen) Anamnesiskonzeption. Anhand eines Geometriebeispiels und einer bestimmten Frageform (Elenchus) versucht Platon alias Sokrates im Dialog darzulegen, dass ein Ungebildeter ein Wissen hat, das er offensichtlich nicht erworben haben kann (Men. 82b–e). Die Anamnesiskonzeption besagt im Kern, dass wir dank einer Wiedererinnerung an ein in einem früheren, vorgeburtlichen Leben erworbenes begriffliches Repertoir in diesem Leben Urteile treffen können, die den Status von Wissen beanspruchen dürfen (Men. 85e–86c). Zwei Prämissen sind es, die Platon Zuflucht zu dieser Konzeption suchen lassen: a. Es ist nicht möglich, in diesem Leben (zumindest in bestimmten Bereichen) ohne vorausgesetzte richtige Annahmen Wissen zu erwerben.
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b. Es gibt aber richtige Annahmen, die sich jedoch nur dadurch erklären lassen, dass wir sie auf Wissen zurückführen. Im berühmten Liniengleichnis der Politeia (509d–511e) bietet uns Platon eine ebenso elegante wie extravagante Erläuterung des Unterschieds zwischen Glauben (Vermuten, Annehmen) und Wissen. Das bloße Vermuten gleicht einem Traumzustand, das echte Wissen dagegen dem Wachzustand (Rp. 476c–d). Der Unterschied liegt nicht – wie in erkenntnistheoretischen Entwürfen der Gegenwart gesagt würde – in einem Rechtfertigungs-, Verlässlichkeits-, oder Kompetenzgrad, der über den in Rede stehenden Unterschied bestimmt, sondern im Gegenstandsbereich, auf den wir uns epistemisch beziehen: Echtes Wissen (episteme) gibt es nur von den Ideen, denen ontologisch das Sein im Vollsinn (ousia) eigen ist. Der Bereich des Wissens im Vollsinne ist der Bereich des Denkens bzw. der Vernunft (noesis). Darunter liegt der Bereich des Verstandes – auch er ist wissenszuträglich, weil und insofern er sich auf die sog. mathematika bezieht. Der Bereich des Glaubens wiederum bezieht sich auf andere Gegenstände, nämlich auf die konkreten Dinge unserer Welt – wie Lebewesen und Pflanzen. Sie sind wahrnehmbar und sichtbar und dem Wandel unterworfen. Noch einmal weiter unten liegt der Bereich des bloßen Meinens (doxa) oder vagen Vermutens (eikasia), der sich auf Schatten- und Spiegelbilder bezieht. Im Dialog Theaitet rollt Platon das Wissensproblem noch einmal auf und setzt sich dabei zunächst mit dem Status der Sinneswahrnehmung (Theait. 151d–186e) und der Genese des Fehlurteils (Theait. 187a–201c) auseinander. Wie verhalten sich die dort angestellten Überlegungen zu den bisherigen Abgrenzungen zwischen Annehmen und Wissen? Es ist zu vermuten, dass der bis dato umspielte Wissensbegriff sich vornehmlich auf die Voraussetzungen bezog, die erfüllt sein müssen, damit wir sagen können, wir wüssten, was x sei. Davon zu unterscheiden ist aber das Wissen darum, dass x F ist oder in irgendeiner Relation zu einem y steht. Für das Wissenwas mögen die Standards des Liniengleichnisses relevant sein, für das Wissen-dass braucht es eine andere Definition. Platon arbeitet sich an der Frage ab, ob Wissen-dass ein wahres Annehmen-plus sei und was zum wahren Annehmen hinzugefügt werden müsse. Als Addendum bietet sich der Logos an (Theait. 201c–d); offen bleibt aber, was in diesem Logos enthalten sein muss: Rechtfertigung (Theait. 201d–206b), sprachliche Kompetenz (Theait. 206c–e) oder
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gar die Angabe der Eigentümlichkeiten des in Rede stehenden Gegenstandes (Theait. 208c–210b), was wohl die Erfassung der involvierten Ideen impliziert (Letzteres würde das Wissen-dass wieder streng an das Wissen-was zurückbinden).
Unsterblichkeit Platons Philosophie ist in einem sehr buchstäblichen Sinne Seelsorge: Die Formung der Seele durch Einsicht und Wissen, welche wiederum ein sittlich gutes Leben ermöglichen, ist stets im Fokus. In der Politeia untersucht und unterscheidet Platon drei Seelenvermögen, die uns den Menschen als ein mit Intellekt begabtes, mit Leidenschaft und Streben ausgestattetes und von ganz vitalen Kräften angetriebenes Wesen vorstellen (Rp. 435e–441c). Im Symposion legt Platon dar, was die Seele eigentlich befeuert: der Eros (Symp. 201d–212b). Dieser Eros richtet sich im Kern auf das eigentlich und an sich Schöne und Gute (und daher im ureigentlichsten Sinne Begehrens- und Erstrebenswerte). Dieses Schöne an sich ist in einem radikalen Sinne transzendent (z. B. ewig und unveränderlich), wird aber in je konkreter Schönheit (in körperlicher Schönheit, Kunstschönheit, institutioneller oder sozialer Harmonie) ansichtig. Ein gewisses Echo dieser Überlegungen finden wir auch im Dialog Phaidon, der eine Philosophie des Todes (Phd. 61c–69e) und der Unsterblichkeit präsentiert, sich aber auch – in mythologischer Annäherung – mit der Eigenart postmortalen Lebens befasst. Platon offeriert vier (zusammenhängende) Unsterblichkeitsbeweise, von denen der dritte und vierte ein besonderes Licht auf die Eigenart der Seele werfen. Im ersten Beweis (Phd. 70c–72e) rekurriert Platon auf die Wiedergeburtslehre und auf einen Begriff von Werden, der das Werden als Umschlag von einem Zustand in seinen gegenteiligen Zustand versteht, sodass es verstehbar wird, wie es einen Zyklus von Tod und Leben geben könne. Im zweiten Beweis zieht Platon die Anamnesiskonzeption (Phd. 74e–76e) heran und versucht auf diese Weise, zumindest die Präexistenz der Seele als notwendig zu denkende zu erweisen (Phd. 72b–78e). Der dritte Beweis argumentiert mit der Verwandtschaft der Seele zu den Ideen (Phd. 78b–80e): Aus der Fähigkeit der Seele, sich mit dem Unveränderlichen zu befassen, lässt sich die Verwandtschaft der Seele mit dem
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Unveränderlichen folgern. Daher sei die Seele dem ähnlich, was göttlich ist, unsterblich, nur mit dem Denken erkennbar, eingestaltig, unauflöslich und unveränderlich. Wenn die Seele demgemäß unzerstörbar sei, könne sie auch den Tod eines Menschen überdauern. Der vierte Beweis liefert ein ideen- und prädikationstheoretisches Argument (Phd. 102a–107d). Diese Überlegung setzt eine ebenso interessante wie streitbare Prädikationstheorie voraus, die man wie folgt umreißen könnte: Wenn x, das die Eigenschaft F hat, sich ändert und eine konträre Eigenschaft non-F annimmt, so verliert x die Eigenschaft F und die Instantiierung des F-seins in x geht zugrunde oder existiert abgetrennt von x fort. Auf der Basis dieses Grundgedankens ergibt sich der folgende Argumentationsgang: (i) Die Seele ist das, was den Körper belebt. Die Seele ist die immanente Idee des Lebens im Körper. (ii) Der Tod ist eine kontradiktorische Eigenschaft zu jener Idee, die die Seele darstellt. (iii) Die Seele kann daher nicht annehmen, was der Tod ist und darstellt. (iv) Entsprechend der genannten Prädikationstheorie ist es nur möglich, dass die Seele entweder flieht oder zu Grunde geht. (v) Wenn die Seele nicht zu Grunde gehen kann (weil sie unzerstörbar ist), dann flieht sie den Tod (und stirbt somit nicht). Obwohl Platon im Dialog Phaidon festhält, dass die Seele das führende und leitende Prinzip im Menschen darstellt (94b–95a), kann man bei seiner Konzeption nicht von einem Leib-Seele-Substanzendualismus sprechen. Das Verhältnis von Seele und Leib ist eingebettet in eine allgemeinere Dualität, die zwischen Idealität und Konkretion herrscht.
Gottesfragen Welchen Gottesbegriff hat Platon vertreten oder bearbeitet? Es lassen sich drei Deuteperspektiven voneinander unterscheiden: In religionsphilosophischer und religionssoziologischer Hinsicht vertritt Platon teilweise eine funktionale Religionstheorie und weist dem Polytheismus seiner Zeit seinen Platz zu (etwa in den Nomoi), den er an anderer Stelle wegen seiner fragwürdigen Mythologien auch wieder kritisiert. Eine dezidiert metaphysische Interpretation wird in der Rolle
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Gottes nur die Idee des Guten – von der in der Politeia (Rp. 504d– 517c) und im Symposion ausführlicher die Rede ist – sehen können. Diese Sichtweise wurde insbesondere für die christliche Rezeption Platons leitend. Eine kosmotheologische Deutung wiederum wird sich vom Timaios angeleitet wissen und sieht Gott bzw. die Götter als eine Art kosmologisch notwendiger Zwischeninstanz, die zwischen den Ideen auf der einen Seite und den konkreten Dingen auf der anderen Seite durch ihr schöpferisches Tätigsein vermittelt. Obwohl der Gebrauch des Ausdrucks ‚Gott‘ bei Platon nicht klar reglementiert ist und er keine Scheu hat, sich auf den Polytheismus seiner Zeit zu beziehen (und sich auch wieder davon zu distanzieren), kann man mit Blick auf den Timaios, wo es neben den geschaffenen Göttern auch einen unsterblichen und ungewordenen Gott gibt, von einem ‚schwachen Monotheismus‘ sprechen. Unter dem Stichwort ‚platonischer Theismus‘ wird in der gegenwärtigen Religionsphilosophie eine Position verhandelt, die – analog zum Timaios – Gott abstrakten Entitäten (Ideen, Universalien, Propositionen) untergeordnet oder gegenübergestellt denkt.
Ungeschriebene Lehren In der Platonforschung wurde und wird die Frage aufgeworfen, ob die Dialoge uns das gesamte Bild Platons liefern können: Unter dem Stichwort der ‚ungeschriebenen Lehren‘ wird die These vertreten, dass Platons eigentliche Lehre in den Dialogen selbst nicht (gar nicht oder zumindest nicht vollständig) zu greifen sei. Die Tatsache, dass Platon dem geschriebenen Wort misstraute (z. B. Phdr. 274b–278b), dass die Dialoge in ihrer Eigenart eher bloß zum Philosophieren einladen wollten (ohne dabei immer schon eine Lehre zu präsentieren), ja dass die Dialoge an manchen Stellen Lösungsperspektiven versprechen, die sie selbst nicht einlösen können, und dass das Philosophieren eigentlich in der Akademie praktiziert wurde – sodass man hier den Ort eines eigentlichen Lehrgebäudes vermuten könnte –, scheint in eine Richtung zu deuten, die den ungeschriebenen Lehren eine besondere Relevanz verleiht. Starke Hinweise auf das Vorhandensein sog. ungeschriebener Lehren bei Platon kommen von antiken Autoren – besonders von Aristoteles, der sich u. a. auf einen Bericht von einem Vortrag Pla-
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tons Über das Gute beruft (Aristoteles kommt darauf en passant in seiner Metaphysik und andernorts zu sprechen). Ausgehend von diesem Bericht ließe sich das folgende ‚Lehrgebäude‘ skizzieren: (i) Es gibt zwei letzte Prinzipien, nämlich das Eine und die sog. unbestimmte Zweiheit. (ii) Beide Prinzipien wirken zusammen, indem sie das Unbestimmte bestimmen – es handelt sich um ein Erzeugen. (iii) Die Ideenzahlen sind das erste Produkt dieses Bestimmungsvorgangs. (iv) Dem Einen verdanken die Ideen ihre Gehalte; das Eine verhält sich zu den Ideen wie die Idee zum Einzelding. (v) Das Eine wird auch das Gute genannt; das zweite Prinzip dagegen ist die Ursache des Schlechten. (vi) Das Eine ist die Finalursache von allem, was ist. (vii)Aufstieg zum und Abstieg vom Einen korrespondieren den verschiedenen Wegen philosophischer Erkenntnis. Diese Konzeption rückt Platons Lehre stark an eine neuplatonische Interpretationsperspektive heran bis hin zur Frage, in welch starkem Maß Platon wirklich ein direkter Vorläufer des Neuplatonismus gewesen ist. Andererseits lässt sich geltend machen, dass wir Elemente dieser Konzeption in der Politeia im Umkreis zur Reflexion auf die Idee des Guten bereits greifen können, sodass die Konzeption der ungeschriebenen Lehre uns nicht einen komplett anderen, sozusagen ungekannten Platon vorstellen wird. Die Frage wird sich also auf das Verhältnis der Dialoge zu den sog. ungeschriebenen Lehren zuspitzen und darauf, ob und in welchem Sinne Platon eine gewissermaßen apodiktische Lehre vertreten hat, die die Dialoge entwertet. Einen gewissen Kompromiss birgt jene Sichtweise, nach der die ungeschriebenen Lehren eine Entwicklung der Spätphilosophie Platons darstellen könnten. Dafür spricht, dass sich in der oben genannten Konzeption Spurenelemente finden, die wir aus den späten mittleren und den Spätdialogen kennen: so etwa die Dialektik von Einem und Vielen (Parmenides), das Verhältnis der Ideen zueinander (Sophistes), das Verhältnis von Unbegrenztem zu Begrenztem (Philebos), die kosmologische Dimension des ontologischen Rahmenkonzepts, die die Frage nach dem Ursprung des Schlechten einschließt (Timaios). In dieser Sichtweise blieben aber die Dialoge in ihrer begrifflichen Pionierarbeit und in ihrer wechselweisen Beziehung zueinander als unüberspringbare Manifestationen
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platonischen Denkens gewürdigt, ohne dass deswegen die Existenz oder Relevanz der sog. ungeschriebenen Lehren geleugnet werden müsste. Michael Bordt, Platons Theologie, Freiburg i. Br. 2006. (Bordt bietet eine punktgenaue und feinporige Darstellung der platonischen Gotteslehre(n) in ihrer Vielschichtigkeit, Einordungsproblematik und Verzweigtheit. Bordt spricht mit Blick auf Platon auch von einem ‚schwachen Monotheismus‘ und liefert in seinem Buch gute Gründe für die Differenzierung der religionsphilosophischen, metaphysischen und kosmotheistischen Auslegungsperspektiven.)
Ian M. Crombie, An Examination of Plato’s Doctrines, Vol. II: Plato on Knowledge and Reality, New York 21967. (Crombie liefert eine kluge Gesamtschau der Philosophie Platons, die den einzelnen Dialogen genügend Raum lässt. Auch wenn manche Interpretationsperspektiven von neuen abgelöst wurden, eignet er sich immer noch als lesenswerte Gesamteinführung, die Deutungsalternativen aufzeigt.)
Russell M. Dancy, Plato’s Introduction of Forms, Cambridge 2004. (In dieser hervorragenden Monografie geht Dancy der Entwicklung der sog. ‚Ideenlehre‘ nach. Er zeigt die relevanten Andockstellen in den frühen Dialogen und entfaltet die Umrisse der Ideenkonzeption ausgehend von den mittleren Dialogen. Er zeigt dabei auf, dass die sog. Ideenlehre kein fixes Lehrgebäude darstellt, sondern im Fluss ist.)
Franz von Kutschera, Platons Philosophie, 3 Bde., Paderborn 2002. (Die Platondarstellung des Altmeisters analytischer Philosophie ist sicher nicht unumstritten, aber umso spannender, als sie die Lebendigkeit und das Pionierhafte, auch die Leistungskraft der platonischen Philosophie gerade durch die Interpretationsmöglichkeiten, die die formale Logik eröffnet, vor Augen führt.)
Giovanni Reale / Samuel Scolnicov (Hg.), New Images of Plato. Dialogues on the Idea of the Good, Sankt Augustin 2002. (Der Sammelband enthält wertvolle und kontroverse Beiträge zur sog. Mailänder und Tübinger Platon-Deutung, die die Relevanz der ungeschriebenen Lehren für die Platon-Interpretation hervorhebt.)
Kenneth M. Sayre, Plato’s Late Ontology. A Riddle Resolved, Princeton 1983. (Sayre geht der Frage nach, ob und wie Platon seine Ideenkonzeption in den Spätdialogen verändert. Die wichtigsten Einsichten stammen hierbei aus der Analyse des Dialogs Philebos, der eine begrifflich-funktionale Bestimmung der Ideen in der Spätphase erlaubt.)
Der Philosoph
Aristoteles Tobias Kläden
Nach einer häufig kolportierten Aussage des britischen Philosophen Alfred North Whitehead (1861–1947) besteht die europäische Philosophiegeschichte aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon (427– 347 v. Chr.). Eigentlich aber trifft dies eher für den anderen großen Philosophen der Antike und Schüler Platons, Aristoteles (384–322 v. Chr.), zu. Denn nahezu alle philosophischen Disziplinen sind bei Aristoteles zumindest im Grundriss behandelt. Etliche Bereiche hat er als eigenständige Disziplinen der Philosophie grundgelegt, wie z. B. die Logik oder die philosophische Psychologie. Man kann mit gutem Recht behaupten, die westliche Philosophie bestehe aus immer neuen Einträgen in den von Aristoteles geschaffenen Rahmen. Doch nicht nur die systematische Umfassendheit von Aristoteles’ Werk ist beachtlich, sondern auch seine materiale Breite: Kaum ein philosophisches Thema hat er nicht behandelt, was bereits ein kurzer Blick in sein Werk deutlich macht – angefangen von den verschiedenen Bereichen der Logik über die in sich wiederum vielfältige Naturphilosophie hin zu Ethik, Politik und Poetik und schließlich zur Quer- oder Überwissenschaft der Metaphysik. Die aristotelischen Schriften tragen dabei eine enorme Materialfülle aus allen Bereichen des antiken Wissens mit hoher Detailgenauigkeit zusammen. Allein daran wird bereits deutlich, dass Philosophie für Aristoteles zuerst einmal gründliche empirische Recherche bedeutet. Man muss die einschlägigen Informationen zu einem Themenbereich sorgfältig sammeln, bevor man sie gedanklich durchdringen kann.
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Die Breite und Umfassendheit des aristotelischen Werkes ist aber nicht einfach ein bemerkenswertes Faktum. Sie ist kein Selbstzweck, sondern genuin philosophisch begründet: Nach der Auffassung des Aristoteles liegen den verschiedenen Sachbereichen jeweils unterschiedliche Prinzipien zugrunde, die entsprechend unterschiedliche Methoden und unterschiedliche Wissenstypen erfordern. So sind Gegenstände exakter Art wie z. B. logische Schlüsse auch mit logisch-mathematischen Methoden zu bearbeiten; in der Physik hingegen, also der Lehre von der Natur, ist die Stoffgebundenheit ihrer Gegenstände zu berücksichtigen; noch anders ist es z. B. in der Ethik, wo kulturelle und situative Faktoren in Anschlag zu bringen sind. Plural und divers sind nicht nur die Sachgebiete, sondern auch die Rationalitätsformen: Zu unterscheiden sind etwa in der Logik die Bereiche des Wahren und des Wahrscheinlichen, was unterschiedliche Beweisformen zur Folge hat. Und auch bei der Verwendung einzelner Worte gilt es zu differenzieren und nachzufragen, in welchem Sinn ein Begriff verwendet wird; denn die Einheitlichkeit der Begriffe garantiert nicht die Einheitlichkeit der Bedeutung. Das aristotelische Interesse für alle Bereiche und Formen des Wissens ist nicht nur philosophisch bemerkenswert, sondern konvergiert auch mit der theologischen Perspektive: Schließlich ist der Theologie der Gottesbegriff eingeschrieben. Dieser hat mit allem zu tun, weil er sich auf die ganze Wirklichkeit und die Wirklichkeit als Ganze bezieht. Insofern gibt es nichts, das prinzipiell indifferent gegenüber einer theologischen Betrachtung wäre. Diese prinzipiell unabschließbare Gegenstandskonstituierung aller theologischen Disziplinen impliziert natürlich eine Überforderung, mit der realistisch und konstruktiv umzugehen ist. Keiner kann alles im Blick haben, und das gilt natürlich ebenso für Aristoteles. Sein Werk ist auch nicht als ein abgeschlossenes Lehrgebäude zu verstehen, selbst wenn es später dafür gehalten wurde, sondern als ein Programm, das zu immer weiterer Forschung und Reflexion anspornt. Zudem liegt die Bedeutung des Aristoteles nicht nur in seiner umfassenden inhaltlichen Pionierleistung, sondern auch in seiner Art und Weise zu philosophieren. Mit Aristoteles hat sich der Stil des Philosophierens grundlegend verändert, und zwar in einer bis heute gültigen Art. Er kann geradezu als Erfinder der Textgattung ‚Abhandlung‘ gelten, in der es auf präzise, knappe Analyse und rationale Argumentation ankommt. Sprachkunstwerke wie die plato-
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nischen Dialoge sind von Aristoteles zumindest nicht überliefert. Bis heute gilt in der Philosophie wie in allen anderen Wissenschaften, dass die transparente und nachvollziehbare Erarbeitung von Antworten, die das zu bearbeitende Problem klar benennen und auch bisherige Lösungsvorschläge einbeziehen, Qualitätskriterium seriösen wissenschaftlichen Arbeitens ist. Pointiert gesagt, beginnt mit Aristoteles die Philosophie als Wissenschaft. Nicht von ungefähr trägt Aristoteles in der mittelalterlichen Philosophie den lapidaren wie ehrenvollen Titel ‚Der Philosoph‘.
Aristoteles vs. Platon I: Logik Das berühmte Wandgemälde Die Schule von Athen, gemalt von Raffael um 1510 in der Stanza della Segnatura des Vatikans, zeigt die Philosophen der Antike. In ihrem Zentrum stehen Platon und Aristoteles. Während Platon mit seinem Zeigefinger nach oben weist, ist die Handfläche des Aristoteles nach unten gerichtet. Nach einer verbreiteten, aber vereinfachenden Deutung versinnbildlicht dies den Kontrast zwischen dem Idealisten Platon, der dazu mahnt, nach oben, in den Himmel, zum Überirdischen zu blicken, und dem Realisten und Empiriker Aristoteles, der die Beachtung der irdischen Dinge empfiehlt. Vereinfachend ist diese Deutung deshalb, weil auch Aristoteles vom Vorrang des Gedachten vor dem Wahrnehmbaren ausgeht und das höchste Glück im bíos theoretikós, in der betrachtenden Tätigkeit sieht. Und dennoch lässt sich das Werk des Aristoteles gut in Absetzung von und als Kritik an seinem Lehrer Platon nachzeichnen. Bereits in der philosophischen Methode unterscheiden sich Platon und Aristoteles stark. Bei Platon kann man von einer dialektischen Methode sprechen, nicht in einem förmlichen Sinn wie später bei Hegel, sondern zunächst einmal einfach als argumentative und lebendige Form der Gesprächsführung. Aristoteles kennt solche Verfahren auch, entwickelt (in den Ersten Analytiken) aber eine eigenständige Theorie des logischen Schließens. Er behandelt darin formalisierte Schlussverfahren, die einen methodischen Wissensfortschritt erlauben. Ein Schluss (syllogismós) ist für Aristoteles ein Argument, in dem aus gesetzten Prämissen etwas von diesen Prämissen Verschiedenes mit Notwendigkeit folgt. Ein Standardbeispiel: Alle
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Menschen sind sterblich – alle Athener sind Menschen – also sind alle Athener sterblich. Aristotelische Syllogismen enthalten einen Subjektbegriff (hier: Athener), einen Prädikatbegriff (sterblich) und einen Mittelbegriff (Menschen), der in der Konklusion wegfällt. Man kann verschiedene Formen (Modi) von Syllogismen nach drei Elementen unterscheiden: a) nach der Stellung des Mittelbegriffs an der Subjektstelle oder an der Prädikatstelle der beiden Prämissen (daraus ergeben sich vier Möglichkeiten oder ‚Figuren‘), b) nach der Art der Verknüpfung der Begriffe in den Prämissen: allgemein bejahend, allgemein verneinend, partikular bejahend oder partikular verneinend und schließlich c) nach der Modalität der Verknüpfung: ob das Prädikat dem Subjekt notwendigerweise, bloß tatsächlich oder nur möglicherweise zukommt; entsprechend ergibt sich ein apodiktischer Schluss (ein Beweis), ein assertorischer Schluss (eine Feststellung) oder ein dialektischer Schluss (eine Wahrscheinlichkeitsaussage). Auch wenn seine Logik heute nicht mehr die vorherrschende ist, besteht die bis heute unbestrittene Leistung des Aristoteles nicht nur in der originären Formalisierung der Syllogistik, sondern auch in der Identifikation der logisch gültigen Schüsse aus den formal denkbaren Schlusstypen, die sich aus den Kombinationsmöglichkeiten der oben genannten Elemente ergeben. Sofern die Prämissen wahr sind, garantieren die logisch gültigen Schlüsse die Wahrheit der Konklusion, ganz unabhängig vom speziellen Inhalt der Aussagen. Es kommt in der Logik also allein auf die formale Struktur an; psychologische, anthropologische oder metaphysische Aspekte sind dabei vollständig auszuklammern. Zu ergänzen sind diese analytischen oder deduktiven Schlüsse, die von einem allgemeineren auf einen spezielleren Sachverhalt schließen, durch induktive Schlüsse (epagogé). Diese erlauben einen ‚Aufstieg‘ von etwas Speziellem zu etwas Allgemeinem, vom individuellen Einzelfall zur dahinterliegenden Gesetzmäßigkeit. In den meisten Fällen verläuft unser Wissenserwerb auf diese induktive Weise. Um zu Wissen über grundlegende Prinzipien und Gesetze zu kommen, bedarf es nach Aristoteles der Wahrnehmung (aísthesis), der konkreten Beobachtung, aufgrund derer mit dem erforderlichen Scharfsinn (anchínoia) die richtigen Schlüsse hinsichtlich des allgemeinen Gesetzes gezogen werden können. Hier begegnet uns wieder das Interesse des Aristoteles an den Realwissenschaften, an den
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Einzeldingen, seine Lust an der Beobachtung der Vielgestaltigkeit der Welt.
Aristoteles vs. Platon II: Hylemorphismus Nach Platon hingegen verläuft der Erkenntnisprozess letztlich immer analytisch, weil Erkenntnis für Platon eine Deduktion des Einzelphänomens aus der allgemeinen Idee (eídos) ist. In der platonischen Sichtweise existiert ein Einzelding erst dadurch, dass es an einer Idee teilhat. Aristoteles kritisiert diese Position seines Lehrers, jedoch nicht in dem Sinn, dass er Ideen oder Allgemeinbegriffe ablehnt. Auch für Aristoteles ist die Idee das eigentliche Sein eines Dings. Gerade deswegen lehnt er aber die platonische Vorstellung ab, dass die Ideen unabhängig von den Einzeldingen existieren. Dies würde die Wirklichkeit unnötig verdoppeln und daher dem später sog. Prinzip der ontologischen Sparsamkeit widersprechen: Man soll keine Begriffe, Annahmen oder Theorien verwenden, wenn man sie für die Erklärung eines Phänomens nicht braucht; diejenige Erklärung ist die bessere, die – bei gleicher Erklärungskraft – mit weniger Annahmen auskommt. Statt unabhängiger und vorgängig existierender Ideen, die durch Teilhabe (méthexis) das Sein der Dinge sichern, nimmt Aristoteles an, dass die Ideen in und mit den Einzeldingen existieren. Durch sie erhalten die Dinge ihre Form oder Gestalt. Damit stehen wir an einem zentralen Punkt der aristotelischen Philosophie, nämlich der in der Metaphysik aufgeworfenen Grundfrage, was das Seiende als das Seiende ausmacht. Was kommt allen Dingen zu, insofern sie Seiende sind? Was haben z. B. ein Tisch, ein Stein, ein Apfel oder ein Mensch miteinander gemeinsam? Aristoteles antwortet darauf mit seiner Theorie des Hylemorphismus: Danach ist alles in der Welt durch zwei Dinge konstituiert, einerseits durch Materie (hýle) und andererseits durch Form (morphé). Ein Tisch etwa ist aus Holz gemacht; dieses Holz stellt eine Materie dar, die für sich genommen formlos wäre. Erst die Form macht das Holz zum real existierenden Tisch; durch sie wird die ungeformte Materie so angeordnet, dass ein Tisch daraus wird. Genauer betrachtet, ist das Holz, aus dem der Tisch gemacht wird, an sich auch keine amorphe Masse, sondern selbst wieder aus Form und Materie zusammengesetzt: Das Brett aus Holz ist Form
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für die organische Zellulose-Materie des Holzes, die organische Materie ist Form für die Kohlenstoffverbindungen, aus denen sie besteht usw. Die gesamte Wirklichkeit ist daher ein gigantisches Netz aus Materie-Form-Komposita, innerhalb dessen ein Einzelding für ein ontologisch höheres die Materie und für ein ontologisch niedrigeres die Form darstellt. Am unteren Ende dieser Seinspyramide steht die (nur als Gedankending existierende) reine Materie, die bloße Möglichkeit, die noch durch gar keine Form geprägt ist; am oberen Ende steht die reine Form, die bloße Wirklichkeitsverleihung (die für Aristoteles keineswegs nur ein Gedankending ist). Die Materie-Form-Zusammenhänge sind nun nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen. Die beiden gerade genannten Begriffe sind hier von Belang: Möglichkeit (dýnamis) und Wirklichkeit (enérgeia), die das Verhältnis von Materie und Form weiter charakterisieren. Materie ist das Prinzip der Möglichkeit oder Bestimmbarkeit, Form ist das Prinzip der Bestimmung, das einem Ding den Wirklichkeitsvollzug (die Aktualität) verleiht. Das Universum ist für Aristoteles also eine Welt, die von Werde- und Vergehensprozessen geprägt ist, von vielzähligen Übergängen von Möglichkeit zu Wirklichkeit (und wieder von Wirklichkeit zu Möglichkeit). Aristoteles arbeitet dabei mit dem zentralen Begriff der Ursache (arché): Nichts existiert ohne hinreichende Ursache (diese These wird später ‚Satz vom zureichenden Grund‘ heißen). Anstatt, wie oben bei Platon gesehen, riesige Mengen voneinander unabhängiger méthexis-Beziehungen anzunehmen, geht Aristoteles davon aus, dass wir es mit Ketten von Ursache-Wirkungsbeziehungen zu tun haben. (Aus unserer heutigen Sichtweise klingt dies eigentlich selbstverständlich, man muss sich jedoch klarmachen, dass diese Perspektive die Grundlage für unsere heutige moderne Wissenschaft darstellt.) Aristoteles unterscheidet vier Arten von Ursachen: die Materialursache (woraus entsteht etwas?, im Tischbeispiel: aus Holz), die Formursache (wonach wird etwas geformt? wodurch erhält es seine Struktur?, z. B. nach einem Bauplan), die Wirkursache (von wem wurde etwas erzeugt?, z. B. vom Tischler) und die Finalursache (für welchen Zweck besteht etwas?, z. B. um daran sitzen, essen oder schreiben zu können).
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Die Seele Für die (theologische) Anthropologie ist interessant, dass sich auch der Mensch im Theorierahmen des Hylemorphismus analysieren lässt und welche Rolle die Seele dabei spielt. Zunächst einmal mag es erstaunen, dass die Seele für Aristoteles in den Zuständigkeitsbereich der Naturforschung gehört. Nach seiner in der Schrift Über die Seele niedergelegten Auffassung haben nicht nur Menschen eine Seele, sondern alle Lebewesen, also auch Tiere und Pflanzen. Im Kontext des Hylemorphismus ist das leicht verständlich: Die Seele ist einfach die Form der Lebewesen. Sie ist das Prinzip des Lebendigseins; das, was einen lebendigen von einem toten Körper unterscheidet. Die Seele stammt für Aristoteles folglich nicht aus einer göttlichen oder überirdischen Sphäre und ist auch kein Privileg des Menschen. Sie beschreibt weder wie bei Platon das Unvergängliche und Denkende im Gegensatz zum Vergänglichen und Wahrnehmbaren noch wie später bei Descartes das Bewusste und Geistige im Gegensatz zum materiell Ausgedehnten. Wohl aber unterscheidet Aristoteles verschiedene Seelentypen mit je unterschiedlichen Funktionen und Vermögen: Die Pflanzenseele ermöglicht Stoffwechsel-, Wachstums- und Fortpflanzungsprozesse; die Tierseele macht zusätzlich zur Sinneswahrnehmung, zum Begehren und zum Ortswechsel fähig; die Menschenseele umfasst diese Vermögen und darüber hinaus die Fähigkeit des verstandesmäßigen Erkennens. Die hylemorphistische Konzeption der Seele stellt eine eigenständige Position innerhalb der Diskussion um das Leib-Seele-Problem dar: Sie vertritt eine nichtdualistische Position, die sich sowohl gegen den reduktiven Materialismus als auch gegen den Leib-SeeleDualismus richtet. Gegen die materialistische Auffassung, die Seele sei selbst ein Körper, ist einzuwenden, dass die Wirklichkeit nicht hinreichend durch ihre Materialursache(n) zu erklären ist. Um ein umfassendes Bild der veränderlichen Welt zu erhalten, müssen vielmehr auch Formal- und Finalursachen berücksichtigt werden; diese sind aber nicht auf die rein körperliche Ebene zu reduzieren. Gleichzeitig ist der Hylemorphismus eine antidualistische Position. Der Dualismus stellt sich die Seele als unabhängig existierend vor und hat dadurch das Problem, ihre Verbindung mit dem Körper verständlich zu machen. Der Hylemorphismus wendet sich grund-
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sätzlich dagegen, Materie und Form als eigenständige, für sich existierende Einheiten (als Substanzen) zu verstehen. Was eigentlich existiert, ist der Mensch, das durch Form und Materie, durch Seele und Körper konstituierte konkrete Individuum. Körper und Seele sind begrifflich unterscheidbare Momente, aber keine quantitativen Bestandteile des Menschen. Sowohl der Dualismus als auch der reduktive Materialismus machen also letztlich den gleichen Fehler, indem sie die Seele dinghaft verstehen, entweder auf spiritualisierte oder auf materielle Weise. Die hylemorphistische Seelenlehre spiegelt einmal mehr das Interesse des Aristoteles an den konkreten Einzeldingen wider und ist aus theologischer Perspektive attraktiv, weil sie vor einer dualistischen Leibfeindlichkeit schützt, ohne die Wirklichkeit auf die materielle Ebene zu reduzieren. Freilich ist diese Position nicht einfach zu christianisieren, da die Seele als Seinsmoment kein Garant für eine postmortale Existenz sein kann. Nicht von ungefähr ist das aristotelische Werk nach der durch arabische Gelehrte vermittelten Wiederentdeckung in der abendländischen Philosophie des Hochmittelalters höchst umstritten (ein weiterer neuralgischer Punkt ist z. B. die Frage nach der Ewigkeit und Anfangslosigkeit der Welt). Gerade weil unser Weltbild heute eher implizit kartesisch-dualistisch (und eben nicht hylemorphistisch) geprägt ist, bietet die aristotelische Position in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes eine bedenkenswerte Alternative zur üblichen Dichotomie zwischen Dualismus und Physikalismus.
Philosophische Theologie und Ethik Abschließend seien zwei Werke des corpus aristotelicum genannt, die für die theologische Rezeption von hoher Relevanz sind, hier aber nicht ausführlicher vorgestellt werden können: Aus theologischer Perspektive stellt Buch XII der Metaphysik vielleicht den Gipfel des aristotelischen Werkes dar: Es enthält in den Kapiteln 6 und 7 die philosophische Theologie des Aristoteles mit dem berühmten Stück vom notwendig existierenden ersten, unbewegten Beweger. Er ist die erste Ursache, die sich selbst und alles andere hervorbringt, selbst aber keiner Bewegung und Veränderung unterliegt; er bewegt dadurch, dass er begehrt wird. Somit ist er frei von aller Potentialität
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und vielmehr reine Wirklichkeit. Seine Seinsweise ist als höchster Seinsvollzug das sich selbst denkende Denken. Die Nikomachische Ethik ist die bedeutendste unter Aristoteles’ ethischen Schriften. Statt von Geboten oder Pflichten auszugehen, identifiziert sie das Streben nach Glück (eudaimonía) als Leitziel menschlichen Handelns und behandelt zwei Arten praktischer Kompetenzen, die ethischen und die intellektuellen Tugenden (areté). Die Lehre von der Mitte (mesótes) zeigt, dass es bei jeder Tugend sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig gibt. Michael Bordt, Aristoteles’ ‚Metaphysik XII‘, Darmstadt 2006. (Eine ausführliche Darstellung, Erläuterung und Kommentierung des Textes, die sich besonders an Einsteiger:innen richtet.)
Otfried Höffe, Aristoteles, 4., überarbeitete Auflage, München 2014. (Eine der besten Einführungen aus der Feder des Tübinger Aristoteles-Experten.)
Bruno Niederbacher / Edmund Runggaldier (Hg.), Die menschliche Seele. Brauchen wir den Dualismus?, Heusenstamm 2006. (Sammelband zur Diskussion um den Dualismus in der Philosophie des Geistes und den aristotelisch-thomanischen Hylemorphismus als Mittelposition zwischen Dualismus und Naturalismus.)
Christof Rapp / Klaus Corcilius (Hg.), Aristoteles-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Berlin 2021. (Ein übersichtliches Handbuch, das einen knappen Überblick gibt über sämtliche überlieferten Werke des Aristoteles, deren Rezeption sowie zentrale Begriffe seiner Philosophie.)
Christof Rapp / Ansgar Lorenz, Aristoteles, Paderborn 2022. (Die Einführung aus der Reihe ‚Philosophische Einstiege‘ bringt Anfänger:innen Aristoteles mit vielen Illustrationen unkompliziert nahe.)
Wolfgang Welsch, Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, 2., durchgesehene Auflage, Paderborn 2018. (Eine lebendige Gesamtdarstellung der aristotelischen Philosophie, die sich – auf eine Vorlesung zurückgehend – an alle Interessierten richtet und die bleibende Aktualität des Aristoteles herausstellt.)
Eine Metaphysik absoluter Einheit und des absoluten Geistes und ihre Bedeutung für die christliche Theologie
Plotin Markus Enders
Leben und Bedeutung für die christliche Theologie Plotin (204/05–270), dessen römischer Name dafür spricht, dass er das römische Bürgerrecht besaß und zum ältesten und vornehmsten Senatorengeschlecht der Plautier und damit zur gesellschaftlichen Oberschicht Roms gehörte, begründete den erst durch die Philosophiegeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts sog. philosophischen Neuplatonismus als jene spätantike Geistesströmung, die eine systematisierende Wiederherstellung und Erneuerung der Einheits- und Geistmetaphysik Platons intendierte. Plotins Metaphysik der absoluten Einheit sowie des vollkommenen Geistes hat insbesondere für das Selbstverständnis des christlichen Gottesgedankens in dessen patristischer Formationsphase eine grundlegende Bedeutung gewonnen. Denn die christliche Theologie konnte von Plotins Einheits- und Geist-Metaphysik zumindest mittelbar lernen, dass der christliche Gott in seiner göttlichen Natur absolut, d. h. relations- und differenzlos, einfach und zugleich in seinem lebendigen Selbstvollzug als im Sein vollkommener Geist eine in sich relationale, unterschiedene, trinitarische Einheit ist. Nach seiner Hinwendung zur Philosophie im Alter von 28 Jahren lernte Plotin die Metaphysik Platons während seiner elfjährigen Schülerschaft bei dem alexandrinischen Platoniker Ammonios Sakkas kennen und systematisierte diese in einer auf die metaphysischen Prinzipien ausgerichteten eigenen Untersuchungsmethode. Nach
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seiner kurzfristigen Teilnahme als Reisebegleiter im Gefolge des gebildeten römischen Kaisers Gordian III. auf dessen Perser-Feldzug ließ sich Plotin in Rom nieder und gründete dort eine eigene Philosophenschule. In ihr bildete er nach dem Vorbild von Platons Akademie eine Lebensgemeinschaft zumindest mit seinem engsten Schülerkreis, zu dem Amelios und Porphyrios, sein späterer Biograf und Herausgeber seiner Schriften, gehörten. Erst nach zehnjähriger mündlicher Lehrtätigkeit begann Plotin mit der Abfassung seiner Schriften (ab 253/54 n. Chr.), die bis kurz vor seinem Tod andauerte. Es handelt sich dabei ausnahmslos um esoterische, d. h. ursprünglich nur für den internen Schulgebrauch bestimmte, Schriften, die aus dem mündlichen Unterricht Plotins hervorgegangen sind. Ihre von Porphyrios vorgenommene Zusammenfassung in sechs Gruppen zu je neun Abhandlungen thematisch zusammengehöriger Schriften trägt daher den Titel Enneaden (‚Neuner‘), wobei auch die Titel der einzelnen Schriften von Porphyrios stammen. Auf diese Ausgabe der Schriften Plotins durch Porphyrios geht ihre gesamte handschriftliche Überlieferung zurück. Nach der Ermordung seines langjährigen Gönners und Förderers, des Kaisers Gallienus, im Jahre 268 ging der politisch gefährdete Plotinkreis auseinander. Schwer erkrankt, zog sich Plotin selbst auf ein Landgut seines verstorbenen Schülers Zethos in Kampanien zurück und starb dort im Frühjahr oder Sommer 270. Als einziger seiner Schüler war Eustochios bei Plotins Tod anwesend und überlieferte dessen letzte Worte: Er wolle versuchen, das Göttliche in uns (d. h. die Geistseele), hinaufzuheben zum Göttlichen im All (d. h. zum absoluten Geist).
Metaphysik absoluter Einheit Plotins Metaphysik des Einen geht von der fundamentalen Einsicht aus, dass Einheit die grundlegendste Bedingung sowohl der Existenz als auch der Bestimmtheit alles Seienden und der Denkbarkeit allen Seins ist. Einheit ist erstens deshalb der Grund der Existenz allen Seins, weil alles Seiende bzw. jedes Etwas grundlegend Eines ist und damit in Einheit gründet. Einheit ist zweitens aber auch der Grund für die gleichsam inhaltliche Bestimmtheit alles Seienden, weil jedes bestimmte Wassein bzw. Wesen eines Seienden eine einheitliche Be-
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stimmtheit, d. h. Einheitscharakter, besitzt, da Bestimmtheit nur als eine Form von Einheit bestehen bzw. gegeben sein kann. Dem gänzlich Unbestimmten fehlt dieser Einheitscharakter, sodass es weder überhaupt existiert noch etwas (Bestimmtes) ist oder überhaupt gedacht werden kann. Denn Einheit ist drittens auch der Grund für die Denkbarkeit alles bestimmten Seienden. Daher kann auch das Viele nur als eine geeinte Vielheit, als ein einheitliches Ganzes, das aus mehreren Einheiten besteht, überhaupt gedacht werden. Einheit ist als die Bedingung allen Denkens jedoch nur dann der Grund des Seins bzw. der Existenz und des Wesens alles Seienden, wenn man eine fundamentale Übereinstimmung zwischen den Strukturen des Seins und den Strukturen unseres Denkens bereits voraussetzt. Nun kann aber die notwendige Einheitsvoraussetzung unseres Denkens keine Setzung bzw. kein Produkt unseres Denkens selbst sein, sondern muss als ein Erfassen des Einheitscharakters des Seienden bzw. der Wirklichkeit verstanden werden. Denn jeder beliebige Denkakt ist seinerseits ebenfalls einheitlich, und zwar sowohl im Hinblick auf das bestimmte Etwas des von ihm Gedachten als auch an sich selbst (als ein bestimmter Denkakt), und setzt daher Einheit immer schon voraus, sodass Einheit als die Voraussetzung bzw. vorgängige Bedingung jedes Denkaktes nicht zugleich auch dessen Erzeugnis sein kann. Mit anderen Worten: Ein ursprünglicher Denkakt, der Einheit nicht bereits zu seiner Voraussetzung hätte, sondern diese erst setzen würde, wäre gar kein Denkakt und ist daher unmöglich. Einheit ist folglich ursprünglicher als jedes Denken, sie ist dessen Prinzip. Der absoluten, schlechthin vielheitslosen Einheit gebührt daher sowohl eine logische als auch eine ontologische Priorität, d. h.: Absolute Einheit ist das Prinzip bzw. der Ursprung und Grund allen Denkens und allen Seins. Als solche ist die absolute Einheit auch der Maßstab, der eine Unterscheidung von verschiedenen Stufen des Seins ermöglicht. Denn wenn die Einheit der hervorbringende Grund jedes Seienden ist, dann ist dieses in genau dem Maße seiend, in dem es Eines ist. Ein höherer Grad an Einheit einer Entität bedeutet dann auch eine höhere Seinsstufe derselben. So ist z. B. nach Plotin die Seele als das Einheitsprinzip des von ihr belebten und bewegten Organismus einheitlicher und daher auch seiender als dieser. Der Körper entsteht, wenn die Seele als sein Formprinzip ihm Einheit verleiht, und vergeht, indem er seine Einheit verliert, wenn sich die Seele von ihm
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trennt, die ihre größere Einheit nie verlieren kann, sondern immer und unvergänglich besitzt. Einheit ist nach Plotin das (erste) Prinzip und Vielheit, genauer Zweiheit (als das Prinzip der Vielheit), ist das von ihm hervorgebrachte und deshalb ihm untergeordnete, gleichsam zweite Prinzip alles Seienden. Das Voraussetzungsverhältnis beider ‚Prinzipien‘ ist daher nicht wechselseitig, sondern einseitig: Vielheit setzt Einheit konstitutiv voraus, nicht jedoch umgekehrt. Für die Hervorbringung des nach Einheitsstufen unterschiedenen Seienden aber bedarf es gleichsam einer Kooperation beider Prinzipien, indem das Vielheitsprinzip als die sog. unbestimmte Zweiheit gleichsam das Materialprinzip bzw. die Entfaltungsbasis der bestimmenden Wirkmacht der absoluten Einheit darstellt. Als der Grund aller Vielheit aber transzendiert das Einheitsprinzip, das Plotin meist das Eine nennt, den Bereich realer Vielheit, muss also von diesem verschieden sein. Daraus folgert Plotin, dass das Eine an sich selbst ohne jede Vielheit und damit differenz- und relationslose Einheit sein muss. Zugleich ist das Einheitsprinzip aber auch allem Anderen immanent, und zwar kraft seiner einheitsstiftenden, im Vielen daher seinserhaltenden Wirksamkeit. Denn jedes Wirkliche bleibt nur in dem Maße bestehen, in dem es Einheit besitzt.
Die Struktur der henologischen Reduktion und die absolute Transzendenz des Einen Aus seiner Annahme einer absoluten, d. h. in jeder möglichen Hinsicht bestehenden, Transzendenz des Einen über das Viele leitet Plotin die Struktur der Aufstiegsbewegung der vielheitlichen Wirklichkeit zu ihrem Ursprung als die einer henologischen Reduktion ab, indem er die verschiedenen Seinsstufen der vielheitlichen Erscheinungswirklichkeit auf die ihnen jeweils zugrunde liegenden Einheitsstufen der Wirklichkeit und letztlich auf das erste Prinzip absoluter Einheit selbst zurückführt. Diese henologische Reduktion vollzieht sich in drei Stufen, und zwar 1. von den einzelnen Erscheinungen zu den Ideen, 2. von der Welt als der gesamten Erscheinungswirklichkeit zum absoluten Geist als der Einheit aller Ideen und
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3. von dem seienden Einen des absoluten Geistes zum absoluten Einen. Dabei stellt der erste Reduktionsschritt einen Erkenntnisakt dar, der von der individuellen Einheit der einzelnen Entitäten zu der sie jeweils begründenden Einheit ihrer jeweiligen Idee führt, wie z. B. von den vielen Bäumen zu der Idee des Baumes. Der zweite, ebenfalls noch im Erkennen durchführbare Reduktionsschritt führt von der sinnlich wahrnehmbaren Welt als der Einheit aller Erscheinungen zur Einheit der Welt der Ideen als ihrem unmittelbaren Einheitsgrund, den Plotin im Gefolge Platons (vgl. Parm. 142b ff.) auch ‚das seiende Eine‘ nennt. Diese Einheit besitzt mit der Allheit der Ideen als der Formprinzipien alles Erscheinenden noch eine ihr immanente Vielheit, ist also All-Einheit, und setzt daher eine vielheitslose, reine, absolute Einheit als ihren Grund voraus. Dieser kann aber nur noch in einer radikal negativen Dialektik oder Theologie als absolute Transzendenz bestimmt werden, d. h. als „das Jenseits von allem“ (V1,6,13; V3,13,2; V4,2,39 f.) und damit im Gefolge Platons (vgl. Polit. 509 b9 ff.) als ein „Jenseits des Seins“ (epeikeina tês ousias), d. h. der Ideen, und somit auch als ein „Jenseits des Geistes und des Denkens“ (epekeina nou kai noêsêos) (I,7,1,19 f.). Als das Jenseits des von der griechischen Metaphysik als Bestimmtheit gedachten Seins ist das Eine daher zugleich „das Nichts von allem“ (III,8,10,28–31, 53 f.), dem Plotin jede Bestimmtheit abspricht. Dem negativ-dialektischen und damit noch erkenntnismäßigen Reduktionsschritt der Einsicht in die Notwendigkeit der Voraussetzung einer absoluten Einheit für die All-Einheit des absoluten Geistes entspricht in der Aufstiegsbewegung der menschlichen Geistseele zum Einen hin der Selbstüberstieg des Denkens in einer mystischen, mithin unmittelbaren, ekstatischen, sich selbst transzendierenden, differenzlosen Einung mit dem Einen selbst.
Der absolute Geist als das Selbstbewusstsein des vollkommenen Seins der Ideen und sein ‚Einheitsvorgriff‘ Den absoluten Geist als das erste Derivat des Einen beschreibt Plotin als eine dynamische Identität von zeitfreiem Denken mit dem vollkommenen Sein (der Ideen) und somit als ein absolutes Selbstbewusstsein bzw. als vollkommene Selbstübereinstimmung, als die
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Plotin das Wesen der Wahrheit versteht. Der absolute Geist enthält in sich die Fülle der Ideen als seine Gedanken, sodass das Sein das Selbstbewusstsein und die Selbstvermittlung des Geistes und dieser zugleich die Selbstentfaltung des vollkommenen Seins ist. Die einzelnen Ideen aber sind gleichsam die individuellen Momente der Einheit des Seins, deren vielheitliche Ganzheit aus dessen Selbstunterscheidung entsteht und zugleich in dessen Einheit in zeitfreier Weise wieder zurückkehrt, sodass alle Ideen ungetrennt, unvermischt und somit unmittelbar miteinander verbunden sind und jede einzelne Idee das Seinsganze als die Totalität aller Ideen in je eigener, besonderer Weise in sich enthält bzw. darstellt. Denn die Selbstgegenwart des in sich gegliederten Seinsganzen, das sich selbst als die Einheit der Momente dieses Ganzen vollzieht, ist der absolute Geist. Dessen Einheitsform aber ist auf Grund seiner Selbstbeziehung die Einheit mit sich im Unterschied, d. h. die Einheit von Identität und Differenz. Der ermöglichende Grund dieser Einheitsform des absoluten Geistes muss daher eine in sich ununterschiedene, einfache Einheit sein, auf welche die Zweieinheit des Geistes in einem unterschiedslosen, bloßen Berühren immer schon vorgreift. Dieser ‚Einheitsvorgriff‘ des absoluten Geistes ermöglicht erst seine ihm eigentümliche Selbstbeziehung, für die eine Zweiheit von Denkendem und Gedachtem konstitutiv ist. Denn aus der Überfülle des Einen geht die unbestimmte Zweiheit als das dem Einen gleichwohl subordinierte Ko-Prinzip des Geistes und jeder weiteren vielheitlichen Seinsstufe hervor, sodass die immanente Selbstunterscheidung des Geistes als das erste Verhältnis der beiden Prinzipien der Einheit und der unbestimmten Zweiheit zueinander verstanden werden kann. Der zeit- und raumfreie Hervorgang der unbestimmten Zweiheit des Geistes aus der Überfülle des Einen vollzieht sich zugleich als dessen Hin- und Rückwendung auf das Eine, dem es entspringt. Genau dies ist der Einheitsvorgriff des Geistes, der dessen Selbstbeziehung vorausgeht. Denn durch seinen sehenden Transzendenzbezug wird der Geist zu seiner Selbstkonstitution im Hervorbringen der Fülle der Ideen allererst ermächtigt. Als die All-Einheit konkreter Totalität ist er ein „Bild“ des Absoluten (V1,7,1). Die menschliche Geistseele aber, deren bewusstes Leben die Zeit konstituiert, ist ihrerseits ein Bild der Ewigkeit als des zeitfreien Selbstbesitzes und vollkommenen Lebens des absoluten Geistes.
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Wirkungsgeschichte Plotins in der christlichen Theologie Der Neuplatonismus entfaltete seine bedeutendste Wirkungsgeschichte in der christlichen Theologie. Denn diese übernahm vom Neuplatonismus die Ausrichtung insbesondere auf die Transzendenz des Absoluten, auch wenn sie die beiden ersten Hypostasen im metaphysischen System Plotins und der meisten philosophischen Neuplatoniker (das Eine und den absoluten Geist) in ein und dieselbe erste (und höchste) Wirklichkeitsstufe zusammenführte: Denn der christliche Gott ist zwar in seinem Wesen vollkommen einfach (wie das Eine Plotins); er ist aber in sich selbst zugleich auch absoluter Geist und vollkommenes Sein, sodass er eine in sich relationale, unterschiedene, trinitarische Einheit ist. Diese im christlichen Westen schon von Marius Victorinus und dann vor allem von Augustinus, Boethius, Johannes Scotus Eriugena, Meister Eckhart und Cusanus sowie im christlichen Osten vor allem von den Kappadokiern und von Pseudo-Dionysius Areopagita vorgenommene geistmetaphysische und trinitätstheologische Transformation der neuplatonischen Verhältnisbestimmung zwischen dem Einen und dem absoluten Geist ist für die gesamte christliche Rezeptionsgeschichte der metaphysischen Prinzipientheorie des philosophischen Neuplatonismus charakteristisch. Für sie hat allerdings schon Porphyrios’ Neukonzeption der neuplatonischen Prinzipientheorie wider Willen eine wertvolle Vorarbeit geleistet. Werner Beierwaltes (Hg.), Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1969. (Eine wichtige Informationsquelle für die Rezeption des Platonismus und Neuplatonismus im christlichen Denken des Mittelalters.)
Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, 3., erweiterte Auflage, Frankfurt a. M. 2014. (Eine geistesgeschichtlich ungemein kenntnisreiche und systematisch eindringliche Analyse der Rezeption neuplatonischer Philosopheme bei den christlichen Autoren Marius Victorinus, Pseudo-Dionysios Areopagita, Bonaventura [����–����], Meister Eckhart und Cusanus.)
Jens Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004. (Eine ausgezeichnete, kongeniale Einführung in das gesamte Denken [Einheitsund Geistmetaphysik, metaphysische Kosmologie, Seelentheorie und Anthropologie] Plotins unter Berücksichtigung seiner Wirkungsgeschichte im philosophischen [Porphyrios, Jamblich, Proklos, Damaskios] und christlichen Neuplatonismus.)
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Jens Halfwassen, Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015. (Eine exzellente Einführung in den systematischen Zusammenhang der vier Grundtypen metaphysischen Denkens [Ursprungs-, Einheits-, Seins- und Geistmetaphysik] und ihre henologische Vollendungsform sowie in grundlegende Gestalten platonischer [Platon, Speusipp] und neuplatonischer [Plotin, Jamblich, Proklos] Einheits- und Geistmetaphysik und ihre christlichen [Pseudo-Dionysius Areopagita, Eriugena, Cusanus] und idealistischen [Hegel, Schelling] Transformationen.)
Endre von Ivánka, Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964. (Als Erstinformation für die Rezeption des Platonismus in der Theologie der christlichen Väter immer noch hilfreich und empfehlenswert.)
Klaus Kremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin, Leiden 21971. (Eine bis heute unüberholte Studie zur Wirkungsgeschichte des neuplatonischen Seinsdenkens bei Thomas von Aquin.)
Die Synthesis von platonischer Philosophie und christlicher Religion
Augustinus Aaron Looney
Einführung Wie kein anderer hat Augustinus (354–430) das lateinische Christentum geprägt. Seine Wirkungsmächtigkeit veranlasst Friedrich Nietzsche zu behaupten, dass man beim Lesen Augustins dem Christentum in den Bauch sehe. Er wirkt zu allen Zeiten: in der Scholastik und in der Reformation, im Anfang der Neuzeit und im deutschen Idealismus, in der Existenzphilosophie und Phänomenologie bis hinein in postmoderne Strömungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Geistesgeschichtlich zählt Augustinus zu den einflussreichsten Autoren des Abendlandes. Sein Werk ist umfangreich und vielschichtig. Sein weitgehend autobiografisches Buch Confessiones gehört zu den Klassikern der Weltliteratur. Zudem hat er Bibel-Kommentare, spekulative Werke, Dialoge, Predigten, Briefe und Streitschriften verfasst, und er hat sich mit allen Hauptthemen der christlichen Theologie befasst – Gotteslehre, Trinitätslehre, Sakramentenlehre, Gnadenlehre, Exegese. Darüber hinaus hinterließen seine Weltdeutung und seine Auffassung der menschlichen Existenz Spuren in der abendländischen Moral und Psychologie sowie in Institutionen wie Familie, Staat und Kirche. Ohne Übertreibung kann man deshalb sagen, dass wir Augustinus verstehen müssen, um uns selbst zu verstehen. Diese kulturgeschichtliche Wirkung ist vor allem seiner Synthese von Philosophie und christlicher Religion zu verdanken. Als Erbe der antiken und hellenistischen Philosophien hat er einerseits dazu beigetragen, der christlichen Religion eine intellektuell vertret-
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bare Deutung zu geben. Andererseits hat durch seine Reflexionen die Philosophie Impulse erhalten, die ihre weitere Entwicklung stark beeinflusste. Im Gegensatz zu vielen seiner christlichen Vordenker (z. B. Tertullian) postuliert er kein antagonistisches Verhältnis zwischen Athen und Jerusalem, zwischen Vernunft und Glauben, bzw. zwischen Wissenschaft und Kirche. Sein Leben und Schreiben bezeugt vielmehr deren fruchtbares wechselseitiges Beziehungsgeflecht. Er glaubt sogar, dass der wahre Philosoph Christ sein muss. Er erkennt also den Wert der Philosophie an, sieht aber die Notwendigkeit der Religion. Zudem trägt Augustinus wesentlich dazu bei, den Ort der Kirche in der Welt zu bestimmen. Das Christentum seiner Zeit blühte auf und war im Begriff, sich von einer kleinen Gruppe, die die Welt im Namen einer anderen verneinte, zu einer mächtigen sozialen Institution zu entwickeln. Dennoch rang die katholische Kirche immer noch mit dem Heidentum (u. a. in der Form des alten römischen Staatskults) und stritt mit verschiedenen christlichen Abspaltungen – wie Arianern und Donatisten – um die wahre Lehre sowie um staatliche Anerkennung. Angesichts der Umbrüche dieser Zeiten sah Augustinus sich vor die Aufgabe gestellt, über das Verhältnis der Kirche und der Gläubigen zur Welt im Allgemeinen, und zum Staat im Besonderen, neu zu reflektieren. Sein spätes Hauptwerk De civitate Dei, welches er nach der Eroberung Roms durch Alarich und die Westgoten im Jahr 410 verfasst hat, behandelt die grundlegende Frage, wie irdische Reiche und das Gottesreich zusammenhängen, und stellt somit auch die praktische Frage, wie das christliche Leben im Staat geführt werden soll. Diese Einheit des Praktischen und Theoretischen sowie die Bindung seiner Haltungen an seine Biographie zeichnen sein Denken aus.
Zwei Bekehrungen Zwei Bekehrungen kennzeichnen das Leben Augustins – eine philosophische und eine religiöse. Im August 386 ereignete sich die entscheidende Wende im Leben des späteren Bischofs von Hippo: seine religiöse Bekehrung im Mailänder Garten. 13 Jahre zuvor erlebte er jedoch bereits eine andere Bekehrung, nämlich jene zur Philosophie. Während er bei Paulus die Mahnung zu Keuschheit und christlicher
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Lebensführung fand, war es Cicero, der den 19-Jährigen zu einem philosophischen Leben inspirierte. Aufgrund seiner religiösen Bekehrung enthält seine Paulus-Auslegung die Leitlinien seiner Theologie, während seine Lektüre des verschollenen Buches Hortensius Weisheit und Wahrheit zu den zwei Schlüsselbegriffen seiner philosophischen Meditationen gestaltete. Unmittelbar nach seiner ersten Bekehrung wurde Augustinus ein Anhänger des Manichäismus. Neun Jahre lang blieb er dieser dualistischen Religion treu. Dafür hatte er auch philosophisch-moralische Gründe. Erstens warfen die Manichäer dem Katholizismus vor, autoritär zu sein. Enthalten in diesem Vorwurf war auch die Pflicht zum Glauben. Anstelle eines gehorsamen Glaubens forderten die Manichäer unmittelbare Erkenntnis in den göttlichen Dingen, gnosis, und boten Wissenschaftlichkeit in Gestalt einer ausgereiften Kosmologie. Zweitens kritisierten sie das anthropomorphe Gottesbild der Katholiken, vor allem bezüglich der Gottebenbildlichkeit. Wenn der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, ist auch Gott allzu menschlich vorgestellt (z. B. als ein älterer Mann mit weißen Haaren und langem Bart). Zu dieser Kritik passte auch die moralische Kritik der Patriarchen des Alten Testamentes. Deren Geschichten von Mord und Totschlag, von Vielweiberei u. a. ließen sich mit der strengen Askese der Manichäer nicht vereinbaren. Schließlich problematisierten sie das katholische Verständnis vom Ursprung des Bösen (unde malum). Was seit Leibniz als die Theodizee-Frage bekannt ist, stellt die Stimmigkeit des Bekenntnisses zu einem guten allmächtigen Schöpfer in Frage. Denn wenn er alles gut geschaffen hat, woher soll das Böse kommen? Der Dualismus von zwei widerstreitenden Prinzipien, einem Reich des Lichts (bzw. dem guten, Erlösergott des Neuen Testamentes) und einem Reich der Finsternis (bzw. dem bösen Schöpfergott des Alten Testamentes), bietet eine Lösung des Problems des Bösen an, die in unterschiedlichen Formen bis heute immer wieder auftaucht. Nach ungefähr neun Jahren wandte sich Augustinus vom Manichäismus ab und begann, erste Schriften zu veröffentlichen, die im Namen oder im Kern Streitschriften gegen die Manichäer waren. Diese Wende in seinem Denken geschah wieder durch ein entscheidendes philosophisches Lektüreerlebnis: Er las die Schriften der Platoniker – einige Schriften Platons selbst, aber vor allem den Neuplatoniker Plotin und dessen Schüler Porphyrios, die er aufgrund
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seines mangelhaften Griechisch nur in lateinischer Übersetzung kannte. Seine Entdeckung in diesen Schriften war die des Geistes. Bis dahin hatte Augustinus sich Gott als ein materielles Wesen vorgestellt – wenn auch in seiner subtilsten Form, nämlich als Licht. Nun kommt er dazu, Gott als ein immaterielles Wesen, als Geist, zu fassen. Zugleich fängt er an, sich selbst als Geist zu begreifen. Damit wird zugleich der Vorwurf gegen die anthropomorphe Ebenbildlichkeit hinfällig. Gott ist nicht den Menschen in ihrer Sinnlichkeit ähnlich, sondern der Mensch ist Gott in seiner Geistigkeit ähnlich. Der Mensch ist imago Dei in seinem Geist – und nur in seinem Geist. Zudem lernt Augustinus, dass es nur ein Prinzip gibt, welches der Welt zugrunde liegt. Es gibt nur den einen immateriellen Gott, und er ist der Grund allen Seins. Infolge dieser monistischen Metaphysik kann das Böse kein eigenständiges Prinzip sein. Metaphysisch kann das Böse nur ein Mangel am Sein und am Gutsein, eine privatio boni, beinhalten. Dieses metaphysische Argument ergänzt Augustinus um ein moralisches: Dem Dualismus fehlt die menschliche Freiheit und damit die Verantwortung. Der Mensch in einem dualistischen Weltbild hat für seine Missetaten immer eine Entschuldigung parat, denn in ihm wäre ein fremdes Prinzip am Werk. Er wäre bloß in einen kosmischen Kampf zwischen guten und bösen Mächten hineingeraten. Mit der Wende Augustins zu einer monistischen Metaphysik ging so die Suche nach der menschlichen Verantwortung für die Sünde einher.
Kerngedanken augustinischer Metaphysik Augustinus betreibt Metaphysik – die Lehre von den Grundlagen der Wirklichkeit –, um den theologischen Glauben an Gott als den Schöpfer der Welt vernünftig, d. h. gemäß Prinzipien, zu erklären. Dafür übernimmt und verwandelt er die platonische Ideenlehre. Zentral dafür ist die Annahme zweier Welten, bzw. Sphären, einer intelligiblen und einer sinnlichen, die im Verhältnis von Einheit und Vielheit, Unwandelbarkeit und Wandelbarkeit, Unvergänglichkeit und Vergänglichkeit zu einander stehen. Dieses Verhältnis ist eines der Teilhabe, der Partizipation. Augustinus bezieht diese Lehre dann auf Gott: Als immaterielles Wesen ist Gott eins, unwandelbar und unvergänglich, bzw. ewig. Er erweitert schließlich diesen Bezug auf
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die Eigenschaften Gottes: Einheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte, Schönheit, Größe und auch Sein. Jedes Seiende, dem eine dieser Eigenschaften zugeschrieben wird, verfügt nur durch seine Teilhabe an Gott, der in seinem Wesen die Eigenschaft ist, über diese Eigenschaft. Der Unterschied zwischen Gott und den vielen vergänglichen Dingen, die in verschiedenen Maßen Schönheit oder Größe aufweisen, kann als der Unterschied zwischen Sein und Haben verstanden werden. Sie sind schön, weil sie Teil haben an der Idee des Schönen, aber Gott ist die Schönheit selbst. In und durch sich selbst ist Gott die Gerechtigkeit. Zu seinem Wesen gehören die Wahrheit und die Güte. Und im höchsten Maße ist Gott. Als reine Aktualität des Seins ist Gott notwendig seiend. Folglich hat Gott keine Eigenschaften, er ist seine Eigenschaften. Ferner ist Gott auch das Prinzip, also die Ursache von Eigenschaften, die alle Seienden gemeinsam haben. Bei diesen so genannten Universalien arbeitet er heraus, was Aristoteles grundgelegt hatte und Thomas von Aquin umfassend in seiner Transzendentalienlehre darstellen wird. Diese Lehre besagt: Alles, was ist, ist eins, wahr und gut. Jedes Seiende, von der Amöbe und den Pflanzen zu den Tieren und Menschen, bildet eine mehr oder weniger komplexe Einheit. Jedes Seiende ist eines. Gleichermaßen ist jedes Seiende wahr im ontologischen Sinne. Seit Platon und Aristoteles heißt dies, dass es Bestimmtheit hat; es besitzt Eindeutigkeit und Erkennbarkeit. Und es ist im ontologischen, nicht moralischen Sinne auch gut – d. h., es strebt nach seiner Erhaltung und Verwirklichung. In der Hinsicht ist auch ein Virus gut zu nennen. Wenn nun Gott die Einheit selbst, die Wahrheit selbst, das Gutsein selbst und das Sein selbst ist, folgt daraus, dass alles, was ist, ist, insofern es teilhat an Gott und seine Ursache hat in Gott. Es bedeutet auch, dass Gott in seiner Schöpfung gegenwärtig ist. Wie Paulus in seiner Rede auf dem Areopag in Athen sagt: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,27). Mit dieser Lehre trägt Augustinus also sowohl der ursprünglichen Schöpfung (creatio ex nihilo) als auch der andauernden Schöpfung (creatio continua) Rechnung. Jedes Seiende ist für den Beginn und den Erhalt seiner Existenz auf die Gegenwärtigkeit Gottes angewiesen und jedes geschaffene Wesen weist wie eine Spur auf Gott hin. Obwohl Augustinus eine weitgehende Überschneidung zwischen den Philosophen und Theologen bezüglich der Geistigkeit
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Gottes, seiner Ewigkeit, seiner Eigenschaften und seiner Prinzipienfunktion feststellt, vermisst er in deren Diskursen den Namen Jesu. Während Jesus als der Logos in die griechische Metaphysik eingeordnet werden kann, bleibt ihr die Inkarnation ein Anstoß. Auch die Idee des dreieinigen Gottes bleibt der Vernunft notwendigerweise ein Geheimnis. Für Augustinus markieren Glaube und Vernunft nicht zwei gleichberechtigte Wege zu Gott, der erste für die Massen, der zweite für die intellektuell Begabten. Da Gott uns schließlich mit einer natürlichen Vernunft ausgestattet hat, soll jeder Christ versuchen, seinen Glauben zu verstehen und dafür Gründe zu geben. Dennoch geht der Glaube über die Vernunft hinaus und ist allein unabdingbar für das Heil. Genau auf diesen Punkt zielt Augustins Hauptkritik an den Philosophen. Er wirft ihnen Hochmut vor, was für ihn kein leichter Vorwurf ist, denn wegen Hochmut sind die ersten Menschen im Paradies gefallen. Hochmut (superbia) bezeichnet er sogar als die Wurzel alles Bösen. Mit ihrem Intellektualismus verdrängten die Philosophen die Tragik und Zerrissenheit des menschlichen Lebens. Sie postulieren philosophische Erkenntnis als eine heilbringende Therapie der Seele, während für Augustinus das Heil von außen kommen muss. Dieses Motiv berührt das Herzstück der augustinischen Ethik, Anthropologie und Gnadentheologie; zugleich markiert es den Angelpunkt seines späten Streits mit Pelagius und dessen Fortsetzung mit Julian von Eclanum. Letztere stützten sich auf die Ideale der heidnischen Philosophie, vor allem der Stoa, doch Augustins Betonung der tiefen Verstrickung in Sünde und die Notwendigkeit der göttlichen Gnade setzte sich in der westlichen Kirche durch.
Kerngedanken augustinischer Ethik Wie seine griechischen und römischen Vorgänger vertritt Augustinus eine eudaimonistische Ethik. Deren leitende Maxime ist es, dass ‚alle Menschen glücklich (gr. eudaimonia) sein wollen‘. Gewisse Merkmale zeichnen alle eudaimonistischen Ansätze aus, auch die Augustins: Sie ist zielgerichtet. Sie setzt ein Ziel (gr. telos) voraus, nach dem alle Menschen natürlicherweise streben, nämlich das Glück. Sie knüpft an unser natürliches Streben konziliatorisch, d. h. beratend an (im Kontrast zu Kants Pflichtethik), denn das natürliche Streben muss
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angeleitet werden, um das Ziel zu erreichen. Zudem beinhaltet sie eine Güterlehre mit einer Hierarchie der verschiedenen Güter, denn nicht jedes Gut erweist sich als glücksbringend und der Erwerb einiger Güter trägt weniger als der anderer zum Glück bei. Schließlich ist sie perfektionsorientiert. Für Platon, Aristoteles und die Stoa ist der Weise der Glückliche, denn er lebt nach dem Besten im Menschen. Er besitzt eine Seelenruhe, bzw. eine charakterliche Stabilität, weil er sich selbst verwirklicht und mit sich selbst im Frieden lebt. Glück impliziert also eine bestimmte innerseelische Ordnung. Im Wesentlichen übernimmt Augustinus das platonische Bild der menschlichen Seele, reduziert aber die Dreistufigkeit Platons und Aristoteles’ auf eine Zweistufigkeit: Leidenschaften und Vernunft. Bei einem glücklichen, weisen Menschen ist die Seele so geordnet, dass die Vernunft, als der objektiv höhere, den Menschen auszeichnenden Teil, über den niedrigeren Teil, die Leidenschaften, herrscht. Die Leidenschaften sind an sich nicht schlecht, sondern gut. Sie müssen allerdings von der Vernunft gezügelt und von ihr in die richtigen Bahnen gebracht werden. Allein innerhalb dieser hierarchischen Ordnung wird jeder Seelenteil die ihm eigentümliche, naturgemäße Funktion (ergon) gut verrichten können. Nur so wird die Seele harmonisch, ohne Widerstreit, gestaltet sein. Zwei wichtige Verschiebungen führt Augustinus in diese Tradition ein: 1. Gott ist das höchste Gut. 2. Vollkommenes Glück ist nur im Jenseits, im ewigen Leben, zu erreichen. Das Zentrum der augustinischen Ethik ist die Idee des höchsten Gutes (summum bonum). In einer Pyramide der unterschiedlichen Güter bildet das höchste Gut die Spitze und zugleich schließt es alle anderen Güter ein. Kurz: es ist das Gut, um dessentwillen alle Güter angestrebt werden. Damit hat das höchste Gut eine objektive und eine subjektive Seite. Gott ist der Gegenstand des Strebens. Ob sie es wissen oder nicht, streben alle Menschen nach Gott. Denn allein wenn wir Gott erreichen, werden wir in den Zustand versetzt, nach dem wir streben, nämlich Glück, bzw. Frieden. Nach Augustinus war der Mensch als eine Komposition von Leib und Seele, Materie und Geist geschaffen. Da die schöpferische Ordnung gut war, lebten die ersten Menschen in Frieden mit sich selbst, miteinander und mit Gott. Die Wahrung der schöpferischen Ord-
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nung geschieht in erster Linie durch die Unterordnung der Seele unter Gott, der alles geschaffen hat. Bezeichnend für die augustinische Sündenlehre ist die Idee, dass der Mensch aus Ungehorsam lieber auf sich selbst gestellt sein wollte, als unter Gottes Macht zu stehen. Er liebte sich selbst (amor sui) mehr als Gott. Damit hat er die objektive Ordnung (ordo rerum) missachtet und seine subjektive, narzisstische Ordnung an die Stelle der objektiven, geschaffenen Ordnung gesetzt. Infolge des Seinwollens wie Gott wird eine Kettenreaktion ausgelöst: Der Friede mit Gott, mit sich selbst und miteinander löst sich in Konflikt auf. In ihrem Ungehorsam gegenüber Gott werden die Glieder ungehorsam gegen ihren Geist: „Das Fleisch begehrt auf gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch“ (Gal. 5, 17). Dieser nicht selbst zu überwindende innere Unfrieden bedeutet, dass sie mit sich uneins werden und unglücklich, unfähig sich selbst richtig zu lieben. Aufgrund der Sünde stellt Augustinus das Glück unter eschatologischen Vorbehalt. Aus Freiheit hat der Mensch sich selbst unfrei gemacht, und diese Unfreiheit ist uns zur zweiten Natur geworden. Seit dem Sündenfall charakterisiert der Widerstreit zwischen der Vernunft und den Leidenschaften das irdische Leben. Augustinus spekuliert, dass der Mensch im Paradies sowohl nicht sündigen als auch sündigen hätte können (posse non peccare et posse peccare), aber der Mensch nach dem Sündenfall kann nicht nicht sündigen (non posse non peccare). Folglich tritt die Vollkommenheit des Glücks, d. h. vollkommene Eintracht (concordia), erst dann ein, wenn Gott alles in allem ist (vgl. 1 Kor 15,28). Seine skeptische Sichtweise der Menschheit bestimmt auch sein Verständnis vom Sinn und Zweck des Staates. Die Autorität des Staates ist nach Augustinus zugleich Strafe für die Sünde und deren zeitliches Heilmittel. Anstelle der ursprünglichen, natürlichen Ordnung kommt den sündigen Menschen eine Strafordnung zu. Die von Gott gegebene politische Autorität hat daher drei Aufgaben: (1) die Sünde zu strafen; (2) die bösen Neigungen zur Verhinderung weiteren Schadens und noch größerer Schuld einzuschränken und (3) die Menschen auf das Gute zu lenken, bzw. zurückzulenken. Augustins Haltung gegenüber der Staatsgewalt ist daher durchaus ambivalent. Einerseits liefert er Gründe für die Durchführung von gerechten Kriegen. Andererseits kritisiert er die Herrschsucht (libido
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dominandi) des Römischen Reiches, welches einen Frieden sucht, der seinen eigenen Zwecken dient, nämlich die Auferlegung der eigenen Herrschaft über andere. Einerseits folgt er Paulus’ Lehre zur göttlichen Legitimierung jeder Regierung (Röm 13,1). Andererseits relativiert er die Stellung des Politischen, so dass die Staatskunst nicht als das höchste Gut betrachtet werden darf. Das christliche Leben bestimmt Augustinus im johanneischen Sinne als in der Welt, aber nicht von der Welt (Joh 17,6 ff.). Die Pilgerschaft ist eine seiner Lieblingsmetaphern. Diese ist auch in seiner Unterscheidung zwischen dem Gottesstaat (civitas dei) und dem irdischen Staat (civitas terrena) wirksam. Es ist eine Unterscheidung der Gesinnungen gemäß der Ausrichtung des Liebens zwischen denjenigen, die ihr höchstes Gut in irdischen Dingen wie Macht, Reichtum oder Ruhm suchen, und denjenigen, die auf Gott hoffen. In dieser Welt sind die zwei Staaten gemischt, selbst in der Kirche. Erst im Jüngsten Gericht werden sie voneinander gesondert. Für Augustinus entscheidet sich dann, wer den zweiten Tod der ewigen Verdammnis und wer das ewige Leben in Glückseligkeit erleben wird. Johannes Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in ‚De Trinitate‘, Hamburg 2000 (Paradeigmata 19). (Das Analogieverhältnis des menschlichen Geistes zur göttlichen Trinität wird mit Gewinn für gegenwärtige Diskurse der Geistesphilosophie entfaltet.)
Peter Brown, Augustine of Hippo. A Biography, Berkeley 1967. (Der Ausgangspunkt aller Auseinandersetzungen mit Augustinus ist seine Biografie. Browns Buch gilt als eine der besten Biografien überhaupt.)
Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980. (Diese umfassende und kritische Einführung von einem führenden Philosophiehistoriker betrachtet den Kirchvater in seiner Zeit für unsere Zeit.)
Henri-Irénée Marrou, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, übersetzt von Lore Wirth-Poelchau in Zusammenarbeit mit Willi Geerlings, hg. von Johannes Götte, Paderborn 1981. (Marrou erzählt nicht nur vom kulturgeschichtlichen Verfall ab dem Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr., sondern auch, wie etwas Neues daraus entstanden ist. Dargestellt wird die repräsentative Funktion Augustins im Strukturwandel der Bildung von der Antike zum christlichen Mittelalter.)
John Rist, Augustine. Ancient Thought Baptized, Cambridge 1994. (Aus dem Kontext der antiken Philosophie hebt Rist die theologischen und philosophischen Innovationen Augustins systematisch und nachvollziehbar hervor.)
Giganten der Islamischen Erkenntnissuche
Ibn Sīnā, al-Ġazālī und Ibn Rušd Darius Asghar-Zadeh
Einleitung Das Spannungs- und Ertragsfeld der arabisch-islamischen Philosophie (falsafa) ergibt sich aus dem frühen Anspruch, die Ressourcen der antiken hellenistischen Philosophie und die inhaltlichen wie lebensräumlichen Bedingungen der Offenbarungsreligion Islam in ein vereinbarend-konzeptuelles Verhältnis zu setzen. Bereits die islamischen Eroberungszüge des siebten Jahrhunderts führen zu intensiven Kontakten mit anderem Sprach- und Kulturgut und haben u. a. eine große Übersetzungsbewegung auf der Basis des systematisierenden Mediums der arabischen Sprache zur Folge. Dadurch werden auch die antiken philosophischen Inhalte im arabisch-islamischen Raum verbreitet, was sich im Zuge des Herrschafts- und Gesellschaftswandels noch verstärkt. Die damalige Entwicklung einer neuen islamischen Universalkultur, die allmählich religiöses und philosophisches Denken miteinander verbindet, lässt ab dem neunten Jahrhundert die Entstehung systematisierten Philosophierens im Islam zu. Die philosophische oder spekulative Theologie (kalām) der frühislamischen Scholastik ist bereits ein Beispiel für erste stärkere philosophische Einflüsse im religiösen Bereich. (Die beiden bekanntesten islamisch-scholastischen Denkschulen dieser Zeit sind die Muʿ tazila, eine vernunftethisch orientierte Bewegung, die den schiitischen Islam bis heute prägt, und die Ašʿ arīya, eine Bewegung, der es in erster Linie um die Wahrung der Doktrin von der göttlichen Souveränität und Allmacht sowie des Stellenwertes der Offenbarung und der traditionellen Überlieferungen geht und die den Sunnismus maßgeblich geprägt hat.) Wissenschaftsverständnis, Erkenntnistheorie, Metaphysik und eine mittels philosophischer Daseinsweise erlangte Erkenntnis- und Seinsvollendung sind die bestimmenden Themen der klassischen islamischen Philosophie. Der vorliegende Beitrag soll eine erste einführende Orientierung in der islamischen Philosophie vermitteln. Diese einführende Orien-
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tierung geschieht anhand kurzer Einblicke in die wesentlichsten Aspekte des Denkens der drei wichtigsten Exponenten der klassischen islamischen Philosophie: Ibn Sīnā (980–1037), al-Ġazālī (1058– 1111) und Ibn Rušd (1126–1198). Ohne weitere herausragende und einflussreiche Gestalten dieses Gebietes außer Acht lassen zu wollen, die auf dem engen Raum eines solchen einführenden Kurzbeitrags nicht alle abgehandelt werden können, dürfen die drei in den Fokus gerückten Philosophen zurecht exemplarisch für das Bild einer reichhaltigen, bewegten und umbruchsintensiven Epoche der muslimischen Geistesgeschichte stehen. Dies gilt vor allem dahingehend, dass der Umgang der ausgewählten Protagonisten mit den philosophischen Zentralthemen von ausgesprochen hoher Relevanz für die Entwicklung der islamischen Theologie ist. Insbesondere betrifft das die theologischen Fragestellungen der Weltentstehung bzw. der Schöpfungslehre, der theologischen Wissenschaftstheorie und Epistemologie, des Gottesverständnisses, der theologischen Anthropologie und nicht zuletzt soteriologischer Zusammenhänge. Die Bedeutung des Denkens Ibn Sīnās, al-Ġazālīs und Ibn Rušds ist nicht nur für die mittelalterliche Scholastik des Islam immens, sondern bis in die gegenwartstheologischen Debatten wie den Modernediskurs hinein wahrnehmbar und immer wieder von Neuem dynamisierbar.
Ibn Sīnā: Metaphysik und epistemologische Vervollkommnungspsychologie Der persische Universalgelehrte Abū ʿAlī al-Husayn ibn ʿAbdallāh ˙ ibn Sīnā, im Westen auch unter seinem lat. Namen Avicenna bekannt, gilt vielen als der herausragendste Denker der klassisch-islamischen Philosophie. Ibn Sīnā, der in seinem bewegten Leben als Berater und Leibarzt zahlreicher Potentaten auch diversen politischen Machtverstrickungen ausgesetzt wird, ist sowohl als glänzender Philosoph als auch als begnadeter Mediziner berühmt. Der jahrhundertelang einflussreiche Kanon der Medizin gehört neben seinem philosophischen Buch der Genesung sowie den Hinweisungen und Mahnungen zu seinen Hauptwerken. Der ‚vortrefflichste Meister‘ (aš-Šayh ar-Raʾ īs) des islamischen ˘ Orients ist in seinem philosophischen Denken stark aristotelisch wie neuplatonisch geprägt und findet bei seinem Vorgänger al-Fārābī
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zahlreiche Orientierungspunkte. Seine geniale Eigenständigkeit bleibt jedoch unbestritten ebenso wie die Tatsache einer tiefen muslimisch-religiösen Selbstverpflichtetheit. Die aristotelische ‚Erste Ursache‘ stimmt für ihn nicht nur mit dem ‚Ur-Einen‘ Plotins überein, sondern ganz besonders auch mit dem Gott der koranischen Offenbarung. Eine Reihe seiner philosophischen Lehren stützt sich bei weitem nicht allein auf griechische Vorgaben, sondern auch eindeutig auf koranbasierte Lehren der klassisch-islamischen spekulativen Theologie, obgleich eine klare Zuordnung zu einer der beiden scholastischen Denkschulen des islamischen Mittelalters, Muʿ tazila oder Ašʿ arīya, nicht ohne Weiteres möglich ist. Ibn Sīnās Philosophie ist vor allem in ihrer metaphysischen Rolle prominent. Metaphysik generiert sich bei ihm insbesondere als Ontologie oder auch als sogenannte ‚Onto-Theologie‘. Einerseits nimmt man bei dem persischen Gelehrten eine bewusste Unterscheidung der Kompetenzbereiche Philosophie und Theologie wahr, andererseits scheint zugleich die relationale Verknüpftheit und Aufeinanderverwiesenheit der beiden Disziplinen auf. Ibn Sīnā prägt wie kein anderer Denker seiner Zeit die Metaphysik als Lehre vom Seienden als Seiendem, welche auch den Metaphysikbegriff der scholastischen Christenheit später maßgeblich beeinflusst. Nicht Gott, sondern das Seiende als Seiendes ist der (ersterkannte) Gegenstand der philosophischen Königsdisziplin. Er schafft damit die Grundlage für ein Verständnis der Metaphysik als ‚Transzendentalwissenschaft‘ und bereitet auf diese Weise den Boden für grundsätzliche transzendentallogische Denkoperationen. Metaphysik erreicht entsprechend erkenntnistheoretisch gesehen nicht das Göttliche unmittelbar, sondern nähert sich diesem denkerisch über den Seinsbegriff. Ibn Sīnā arbeitet intensiv mit der Distinktion zwischen Essenz und Existenz sowie mit derjenigen zwischen Kontingenz und Notwendigkeit. Seine geniale Synthese aus beiden Distinktionen äußert sich dahingehend, dass den zwei Seinsbereichen, dem selbstsubsistenten, notwendig-seienden Gott und den kontingenten, möglich-
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seienden Geschöpfen das Sein auf eine unterschiedliche Weise zugesprochen wird: Qua Seiner Notwendigkeit schließt Gottes Essenz Seine Existenz mit ein, bei den geschaffenen, kontingenten Dingen fallen Essenz und Existenz auseinander, d. h. von ihrem Wesen her kann nicht auf ihre Existenz geschlossen werden. Die bahnbrechende Metaphysik Ibn Sīnās verknüpft also die hellenistische Ontologie mit den konzeptuellen Vorgaben der islamischen Theologie über die Kontingenzannahme und mit einer klar theozentrischen Grundeinstellung. Auf der Grundlage der somit erschlossenen Gegenüberstellung der essentiell bloß kontingenten (mumkin) geschaffenen Dinge und der notwendigen ersten Ursache pointiert Ibn Sīnā die Idee des ‚Notwendig-Seienden‘ (wāğib al-wuğūd), welche, theologisch gesprochen, Gott meint. Dass er in seinem Weltentstehungsverständnis am neuplatonischen Emanationsschema haftet, ist in theologischer Perspektive eine bleibende Problematik seines Denkens. Ibn Sīnā geht davon aus, dass die kontingenten Dinge über zehn sog. Intellektstufen aus dem göttlichen ersten Prinzip, dem Notwendig-Seienden ausströmen (‚emanieren‘) und dadurch selbst ‚notwendig gemacht‘ sind. Eine solche naturkausalitäre Sichtweise, oft auch als ‚kosmologischer Nezessitarismus‘ bezeichnet, ruft selbstverständlich die vehemente Kritik der traditionellen muslimischen Theologie und ihrer Insistenz auf der Doktrin von einer göttlichen ‚Schöpfung aus dem Nichts‘ auf den Plan. Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass Ibn Sīnā innerhalb seines Verständnisses von einer ‚Schöpfung aus dem Nichts‘ – er benutzt hierfür den arabischen Ausdruck ibdāʿ – ein entschiedenes Bekenntnis zur göttlichen Freiheit und zum göttlichen Willen eben nicht ausspart, wie gelegentlich fälschlicherweise angenommen. Sein emanationsphilosophischer Begriff einer nicht zeitlichen, sondern ontologisch-essentiellen Apriorität des Schöpfers vor der Schöpfung bzw. des notwendigen ersten Prinzips vor den emanierenden Dingen beabsichtigt Gott gedanklich radikal von jeglicher Zeitverhaftetheit zu befreien. Im Grunde genommen indiziert diese philosophische Annäherung auch theologisch gesehen eine besonders intensive Idee der schöpferlichen Transzendenz Gottes. Ibn Sīnās intellektualistische Epistemologie von einem Weg zur vollendeten (Wahrheits-)Erkenntnis ist einem aufsteigenden Stufendenken verpflichtet. Dies äußert sich umfassend in der bereits erwähnten gewaltigen enzyklopädischen Systematik (Logik, Physik,
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Mathematik, Metaphysik) mit dem nahezu soteriologisch angehauchten Titel Buch der Genesung oder Buch der Heilung. Damit ist die Heilung der Seele auf ihrem aufstrebenden Weg hin zur reinen Gotteserkenntnis bezeichnet. Ibn Sīnās Postulat einer kontinuierlichen Steigerung der philosophisch-rationalen Fähigkeit auf die göttliche Wahrheit hin findet – in Verbindung mit Inhalten anderer seiner Werke – die Kulmination im Begriff von einer mystisch-kontemplativ anmutenden Spitze der erkennenden Intuition (hads). Es ˙ geht hier nicht darum, philosophischen Rationalismus gegen (mystische) Religiosität auszuspielen, sondern um die Hierarchisierung und Korrelationierung von Erkenntnisweisen. Das wird auch in Ibn Sīnās Vernunftkonzept und seiner subtilen Differenzierung des menschlichen Intellekts in mehrere erkenntnisprozessuale Instanzen deutlich. Dieser Prozess soll im Optimalfall zur intensiven Verbindung mit dem gottrelationalen sogenannten aktiven Intellekt führen. Die Vollendung des Prozesses findet sich in eben jener besagten Intuition als Höchstform rationaler Erkenntnis. An diesem Punkt erhält insbesondere die Prophetenlehre des persischen Genius als religiöse Überformung der platonischen Idee vom ‚König der Philosophen‘ eine erwähnenswerte Relevanz, da er der Seele des Propheten auf Grund ihrer entsprechenden Gesamtdisposition die intensivsten menschenmöglichen intellektuellen Fähigkeiten und damit einen ‚heiligen Intellekt‘ zuspricht. Durch diesen ist dem Propheten das vollendete Erfassen der göttlichen Ordnung und ihre Vermittlung an die anderen Menschen gegeben. Die vorangegangenen Ausführungen bewegen sich bereits in einem für das anthropologische Vermächtnis Ibn Sīnās bedeutsamen Rahmen. Dieser erhält die leitende Dynamik vornehmlich von seiner Seelenlehre oder ‚Psycho-logie‘ her. Die Seele des Menschen ist für Ibn Sīnā besonders vom Willen als ihrer ‚Selbst-Kraft‘ und von ihrer Intellekt-Begabtheit geprägt. Eminent ist hier seine mit der berühmten Metapher vom ‚Fliegenden Menschen‘ argumentativ verbundene, pointierte Lehre von der ursprünglichen und immerwährenden Erkenntnis des eigenen Wesens (dāt). Es handelt sich dabei ¯ um eine Lehre über das Urbewusstsein des Menschen von der unzerstörbaren, physis-unabhängigen und individuellen Existenz seines seelischen Selbstseins, seines eigentlichen ‚Ich‘. Jene radikale Lehre von der Seele als Entität der Individualität, der Subjektivität und des Selbst-Bewusstseins bietet ein nahezu modernitätskompatibles Para-
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digma, und dies stets im Kontext muslimischer Religiosität: Ibn Sīnās (von den späteren Philosophen Suhrawardī [1154–1191] und Mullā Ṣadrā [1572–1641] aufgenommene) psychologische Idee der unbedingten Selbst-Erkenntnis zeichnet – etwa 600 Jahre vor René Descartes! – das individuationsgedankliche Entwicklungsmuster eines anthropologischen Subjektbegriffs und Personalitätsprinzips der geschöpflichen Vorgegebenheit und gleichzeitigen Formbarkeit im Islam. Schließlich zieht Ibn Sīnā aus seinen gesamten philosophischen Überlegungen elementare ethische Konsequenzen. Diese hängen mit dem Prinzip der Willensfreiheit, der moralischen Unterscheidungsfähigkeit und der Vervollkommnungsfähigkeit eng zusammen. Er richtet im Moralverständnis seiner Wertetheorie seine ethischen und politischen Anliegen auf das Gemeinwohl im Sinne der Glückseligkeit. Dies bezieht er auf den Weg menschlicher Selbstvervollkommnung als seelisch-intellektuelle Aktivität, und zwar in Entsprechung zu den prophetisch vermittelten religionsgesetzlichen Vorschriften. Insgesamt finden wir in Ibn Sīnā den genialen Vertreter einer konzeptuellen Interdisziplinarität und Komplementarität von Philosophie, Theologie und Religiosität, deren weitreichendem Erbe sich selbst seine frühesten Kritiker kaum entziehen können.
al-Ġazālī: Philosophiekritik, Rationalität und das Streben nach der Letztwirklichkeit Der im persischen Tūs geborene Theologe, Philosoph, Rechts˙ gelehrte und Mystiker Abū Hāmid al-Ġazālī gehört zu den bedeu˙ tendsten Denkern des islamischen Mittelalters. Sein dramatischen Schwankungen und Krisen ausgesetztes Leben spiegelt sich in seinem Werk und Wirken deutlich wider. Einen ausgesprochen prägnanten Einblick liefert hier sein aus einer tiefen Sinnkrise heraus entstandenes Psychogramm Der Erretter vom Irrtum, welches neben der Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften und den philosophieaufbereitenden bzw. philosophiekritischen Traktaten Absichten der Philosophen und Inkohärenz der Philosophen zu seinen wichtigsten Schriften zählt. Selbst ein virtuoser Philosophiekenner, wird alĠazālī zum einflussreichsten Philosophiekritiker des mittelalter-
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lichen Islam. Gleichwohl verlangt hier das Gebot einer fairen und sachlichen Beurteilung, den persischen Gelehrten nicht zum Vernunftfeind oder gar ‚Zerstörer‘ der islamischen Philosophie zu erklären, sondern ihn in seiner komplementären Ambiguität differenziert wahrzunehmen: Auf dem Wege seiner drängenden Wahrheitssuche will der Ašʿ arit al-Ġazālī weder einer überdogmatischen widervernünftigen Orthodoxie noch einer Verabsolutierung der Vernunft als Erkenntnismittel verfallen. Al-Ġazālīs vornehmlich gegen alFārābīs und Ibn Sīnās aristotelisch-neuplatonisch gefärbte Entwürfe gerichtete Kritik an der Philosophie rührt nicht zuletzt auch von der Erfahrung drastischer gesellschaftspolitischer wie religiöser Umbrüche und Zergliederungserscheinungen her, welche er unter anderem auf philosophisch bedingte ‚Irritationen‘ zurückführt. Zugleich ist seine Auseinandersetzung mit der Philosophie vom Bestreben getragen, ihre Leistungsfähigkeit für die Theologie adäquat nutzbar zu machen, was sich besonders in seiner positiven Einschätzung der Logik niederschlägt. Schärfer ins Gericht geht er hingegen mit der Physik und vor allem mit der Metaphysik, der er auf Grund ihrer fehlerhaften Prämissen und argumentativen Defizite die Fähigkeit zur genuinen Erkenntnis letzter Wirklichkeit abspricht. Al-Ġazālī attackiert in der Inkohärenz der Philosophen dabei aus einer klar religiöskonfessorischen Einstellung heraus 20 philosophische Lehren als glaubensunvereinbar oder argumentativ unzureichend; drei davon verurteilt er gar als Abfall vom islamischen Glauben, nämlich die Behauptung der Urewigkeit der Welt, diejenige der göttlichen Unkenntnis der Einzeldinge und diejenige, allein die Seele, nicht aber der Leib könne nach dem Tod auferstehen. Auch seine Ablehnung anderer philosophischer Theoreme bezieht sich überwiegend auf Zusammenhänge mit der Emanation und dem Kausalitätsprinzip sowie mit der Seelenlehre der Philosophen. Neben dem typisch ašʿ aritischen Anliegen, die Überzeugtheit von der Souveränität und Allmacht Gottes zu wahren, sucht al-Ġazālī die philosophische Behauptung reiner Kausalitätszusammenhänge und die damit verbun-
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dene Leugnung von Wundern selbst auf rational-argumentative Weise zu widerlegen und stellt das Wirken Gottes theologisch in den Vordergrund. Theologie und Philosophie sieht der persische Gelehrte in einem nicht durchmischten, sondern eher korrelationalen Verhältnis; von einer der Offenbarungstheologie verpflichteten Haltung her wahrgenommen ist es für ihn das Fehlen des Rückgriffs auf die göttliche Offenbarung, welches die Metaphysik in seinen Augen bereits in den Grundlagen erkenntnistheoretisch schwach erscheinen lässt. Entsprechend ist zwischen Logik-bezogenen Vernunftwahrheiten und Offenbarungswahrheiten zu differenzieren, die wiederum von der direkten Gotteserfahrung abhängen. Gleichwohl erkennt al-Ġazālī trotz seiner rationalismuskritischen Position den Wert der Vernunft an und arbeitet auch hier mit subtilen Differenzierungen. Während er eine vernünftige Seele (rūh ʿ aqlī) annimmt, die zunächst zur Wahr˙ nehmung erster intelligibler Grundsachverhalte in der Lage ist, spricht er von einer dieser vernünftigen Seele noch übergeordneten denkenden Seele (rūh fikrī). Erst diese vermag reflektorisch und logisch ˙ komplex zu operieren und zu kontextualisieren. Dennoch ist auch hier längst noch nicht die Vollendung der Erkenntnis erreicht. Es ist noch nicht die ‚Vernunfterkenntnis‘, sondern erst die mystisch begründete ‚Herzenserkenntnis‘, welche die göttlichen Wahrheiten zu erreichen vermag. Auch wenn Vernunft Ort und Medium des Wissens ist, bleibt sie für al-Ġazālī auf eine vollendende Erleuchtung angewiesen. Auf diese Weise ergibt sich epistemologisch der letztlich stark vom Sufismus (also der islamischen Mystik) geprägte Weg einer theologischen Methode des Zweifels, welche die Philosophie zu einem Stadium erleuchteter Weisheit führt, wie er insbesondere im Erretter vom Irrtum zeigt. Dieser Vollendungsweg kulminiert für alĠazālī im mystischen Erlebnis des ‚Schmeckens‘ (dauq). Al-Ġazālīs ¯ Vervollkommnungsdenken hat überdies eine handlungs- und tugendethische Konsequenz, die in der Forderung einer gesunden Synthese aus intellektuell-spiritueller Geistesformung und existentiellpraktischer Selbstoptimierung liegt. Das weder vernunftabgewandte und weltflüchtige, noch dogmenfeindliche, sondern strukturiert unterscheidende und doch disziplinverbindende Erbe dieses herausragenden Gelehrten hat für die arabisch-islamische Geisteswelt bereits früh ambivalente Konsequenzen. Bei aller internen Differenziertheit seines Denkens ist
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neben einer intensiven Auseinandersetzung mit den philosophischen Gehalten (überwiegend aus theologischen Motiven!) eine zunehmende Intensivierung orthodox-theologischer Vorstöße die Folge seiner Berühmtheit als Kritiker der Philosophie.
Ibn Rušd: (Re-)Vitalisierung des Rationalen Abū l-Walīd ibn Rušd, lat. bekannt als Averroes, gilt als der konsequenteste Aristoteliker der klassischen arabisch-islamischen Philosophie. Der im Gegensatz zu den beiden im Vorfeld dargestellten Protagonisten nicht im Orient, sondern im arabischen Spanien (al-Andalūs), also im islamischen ‚Westen‘ des Mittelalters lebende und wirkende Philosoph, Jurist, Arzt und Religionsgelehrte Ibn Rušd wird so sehr mit dem Aristotelismus verbunden, dass er in der lateinischen Scholastik einfach als ‚der Kommentator‘ (zu Aristoteles) bekannt wird. Abgesehen davon, dass sich diskutieren lässt, ob er sich überhaupt selbst als regelrechten ‚Rationalisten‘ verstanden hat, hat sich Ibn Rušd bis in die heutige Zeit einen Namen als prägender Denker einer islamischphilosophischen Rationalität gemacht. Dies schlägt sich auch in seinen zentralen Werken Die entscheidende Abhandlung und Die Inkohärenz der Inkohärenz nieder. Insbesondere Letztere zeigt, dass das rationalistisch anmutende Bestreben des Ibn Rušd teilweise eng damit verbunden ist, dass er sich in Anbetracht der einflussreichen Folgen der vehementen Philosophiekritik alĠazālīs zu einer gegenkritischen und aufbereitenden Auseinandersetzung mit dieser Philosophiekritik verpflichtet und berufen sieht. In der Absicht, eine saubere Trennung, nicht aber Beziehungsvernichtung zwischen religiösem und philosophischem Erkenntnisweg zu begründen, wirft er Denkern wie Ibn Sīnā und auch al-Ġazālī teils illegitime Grenzverwischungen zwischen Philosophie und Theologie ebenso vor wie zwischen den Dimensionen von Demonstration, Dialektik und Rhetorik (und verkennt dabei offenkundig ein wenig den
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eigentlichen interdisziplinär-komplementären Gehalt hinter ihren Ausarbeitungen). Der fatale Irrtum des religiösen Diskurses seiner Zeit liege in der Abhandlung spezifisch philosophischer Themen in Schriften der Religionslehre. Den damit verbundenen angeblichen Kohärenzverlust in der Philosophie sucht er durch eine Rückkehr zu den genuinen aristotelischen Ursprüngen auszugleichen, und zwar auf eine wiederum eigenständige und konzeptuell originelle Weise der Aristotelesinterpretation. Ibn Rušd ist es daran gelegen, den Scheinwiderspruch zwischen religiöser und philosophischer Wahrheit aufzulösen. Dennoch räumt er dem Intellekt oder der philosophischen ratio eine herausragende Stellung ein, die eng mit dem Primat der rationalen Gesetzes- und Ordnungsbegründung verknüpft ist und für einen deutlichen Erkenntnisoptimismus steht. Auch wenn er in seinem kosmologischen Verständnis das Emanationsschema verwirft, den platonisch inspirierten Universalienrealismus Ibn Sīnās eher ablehnt und eine kritische Position gegenüber der Mystik bezieht, gibt es bleibende elementare Übereinstimmungen zwischen ihm und Ibn Sīnā, und zwar vor allem hinsichtlich der Metaphysik. (Einschränkend muss hier allerdings Ibn Rušds Auffassung genannt werden, Gott sei der erste Gesprächsgegenstand der Metaphysik.) So verteidigt er die Lehren von der Urewigkeit der Welt, von Gottes lediglich allgemein-modaler Kenntnis der Einzeldinge und von der allein seelischen Auferstehung des Menschen gegen al-Ġazālī. Er scheint in seiner Metaphysik eine Mittelposition zu vertreten, in der die Weltentstehung mittels einer ewigen göttlichen Tätigkeit und die Erschaffenheit der Welt zugleich behauptet wird. Ibn Rušd bewahrt bei seiner Abkehr vom Emanationsschema die Lehre von einem alles bewegenden göttlichen Prinzip, das in jeder Hinsicht das einzige Notwendig-Seiende ist. Seine Ablehnung einer eigenen realen Existenz der Allgemeinbegriffe außerhalb des Verstandes, der sie allein als Begriffsschöpfungen hervorbringt, führt ihn zu einer moderaten Form des Nominalismus. Ibn Rušds Epistemologie bestimmt die Überprüfung der Religion mittels des Verstandes als Aufgabe der Philosophie. Sein Rationalitätsbegriff geht von einem universalen ‚materiellen‘ bzw. ‚potentiellen Intellekt‘, also einem vorreflektorischen, grundsätzlich bestehenden und ewigen Vernunftvermögen aus, das allen Menschen als überindividuelle Einheit zu eigen ist und dem Menschen-
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geschlecht gewissermaßen Ewigkeit zukommen lässt. Die Vollendung des potentiellen Intellekts geschieht prozessual mittels der Verbindung mit dem und damit Erleuchtung durch den aktiven Intellekt, den auch Ibn Sīnā besonders hervorgehoben hat. Die darin begründete allgemeine und intellekteinheitliche Gattungsvernunft hat bei Ibn Rušd eine praktisch-moralische Bedeutung: Sie – und nicht mehr die überlieferte Religion – ist die Basis aller Moral. Ibn Rušds Präferenz der philosophischen Rationalität weist der Logik einen besonderen Stellenwert zu und erkennt ihren Einsatz in der religiösen Rechtsfindung sogar als verpflichtend. Diese Verpflichtung zur Anwendung der Philosophie (eben auch im Kontext der Scharia) versucht der muslimische Denker von Cordoba interessanterweise auf religiös orientierte Weise zu legitimieren, nämlich auf dem Wege von Ableitungen aus dem Koran selbst. Die philosophische und theologische Prämisse besteht dabei durchaus in der Für-wahr-Haltung der geoffenbarten šarīʿ a. In diesem Zuge produziert er entscheidende Bausteine für eine recht progressive Form der Koranhermeneutik, indem er die Notwendigkeit verschiedener Zugänge zu den Koranversen mit der Aussageverschiedenheit der Verse begründet. Diese äußerten sich in selbstevidenten, dem äußeren Wortlaut nach evidenten und in ihrer Aussage nicht absolut auf Wörtlichkeit oder allegorische Deutungsbedürftigkeit festlegbaren Versen, welche somit gewissermaßen unterschiedliche Interpretationen durch Gelehrte zulassen. Alles in allem erweist sich dieser entschiedene islamische Aristoteliker als Wegbereiter philosophisch-rationaler Positionen, die gerne als nahezu ‚aufklärerisch‘ bezeichnet und oft auch mit einer aufklärungsweisenden Wirkung verbunden werden. Diese Wirkung ist trotz vereinzelter gegenwärtiger Vorstöße im islamischen Orient bis in die heutige Zeit ungemein geringer ausgefallen als im europäischen Okzident. Raid Al-Daghistani, Falsafa. Einführung in die klassische arabisch-islamische Philosophie, Freiburg i. Br. 2016. (Ansprechend themensystematisch strukturierter Einblick in zentrale Diskurse islamischer Philosophie und ihre Bearbeitung durch maßgebliche klassische Denker.)
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Darius Asghar-Zadeh, Menschsein im Angesicht des Absoluten. Theologische Anthropologie in der Perspektive christlich-muslimischer Komparativer Theologie, Paderborn 2017. (Interreligiös-hermeneutischer Entwurf, u. a. unter besonderer geistesgeschichtlicher und modernediskursiver Berücksichtigung Ibn Sīnās.)
Heidrun Eichner / Matthias Perkams / Christian Schäfer (Hg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013. (Sammelband mit elaborierten Fachbeiträgen zur mittelalterlichen islamischen Philosophie allgemein, zu ausgewählten Protagonisten und zur westlichen Rezeption.)
Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M. 22011. (Gut verständlicher Gesamtüberblick von der Frühzeit bis zum Modernediskurs mit Berücksichtigung des kulturhistorischen Kontextes und wichtiger Denker.)
Luis Xavier López-Farjeat, Classical Islamic Philosophy. A Thematic Introduction, New York-Abingdon 2022. (Umfassendes philosophiegeschichtliches Kompendium mit profunden Darstellungen zu den wichtigsten Kerndebatten sowie weitergehenden Zusammenhängen u. a. auch von (Natur-)Wissenschaftsverständnis, Psychologie, Erkenntnistheorie, Ethik und politischer Philosophie.)
Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3., durchgesehene und erweiterte Auflage, München 2013. (Bündige und dennoch sachlich in die Tiefe gehende Präsentationen diverser islamischer Philosophen und philosophischer Entwicklungen.)
Hamid Reza Yousefi, Einführung in die islamische Philosophie. Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn 2014. (Stichhaltige und interkulturell sachkundige Kurzeinführungen in den Kontext islamischer Philosophie sowie in die Geisteswelt von über �� Philosophen.)
Die rationale Rekonstruktion des Glaubens
Anselm von Canterbury Stephan Ernst
Anselms Methode: sola ratione – rationes necessariae Anselm von Canterbury (um 1033–1109) wird immer wieder als ‚Vater‘ der Scholastik bezeichnet. Dabei hat er das Entstehen der ‚scholastischen‘ Theologie, wie sie sich im zwölften Jahrhundert in den Kathedralschulen und im 13. und 14. Jahrhundert an den Universitäten entwickelte, selbst nicht erlebt. Für Anselm spielt sich die Theologie im Rahmen der Klosterschulen ab, in denen es weniger um die freie Disputation als um das meditative Studium der Heiligen Schrift und die Aneignung der Auslegung der Kirchenväter ging. Dennoch sah sich die Theologie in der Zeit Anselms vor neue Herausforderungen gestellt. Mit der karolingischen und ottonischen Renaissance war auch das antike Bildungssystem der sieben freien Künste (artes liberales) wiederbelebt worden. Dabei spielte für die Theologie zunehmend die Dialektik (Logik) eine entscheidende Rolle. Mehrfach war es zu Auseinandersetzungen um das angemessene Verständnis des überlieferten Glaubens gekommen: im neunten Jahrhundert über die augustinische Gnadenlehre, im elften Jahrhundert über die Realpräsenz Christi in der Eucharistie. Dabei war deutlich geworden, dass die Berufung auf die Autorität der Heiligen Schrift oder der Kirchenväter nicht ausreicht, um die Frage, wie bestimmte Glaubensaussagen zu verstehen sind, zu beantworten. Durch Autoritätsbelege ließen sich sogar gegenteilige Auffassungen stützen. Sollte diese Frage nicht durch Macht, sondern verantwortet entschie-
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den werden, ergab sich die Aufgabe, sie unter Rückgriff auf die Dialektik (Logik) und damit auf die eigene Vernunft des Menschen zu klären. Damit aber stellten sich grundlegende Fragen: Wird der Glaube nicht der menschlichen Vernunft unterworfen? Wird damit Offenbarung nicht überflüssig? Wird nicht versucht, Gott zu begreifen? Unterliegen die Aussagen des Glaubens tatsächlich den Regeln der Logik oder übersteigt ihre Wahrheit nicht die menschliche Vernunft? Wie also ist das Verhältnis von Glaube und Vernunft angemessen zu bestimmen? Die Herausforderungen für die Theologie verschärften sich zur Zeit Anselms aber noch weiter. Über den innerchristlichen Diskurs zum rechten Verständnis der Glaubensaussagen hinaus wird nun – durch die verstärkte Begegnung mit der jüdischen und islamischen Religion – auch der christliche Glaube in seinen zentralen Aussagen (Dreifaltigkeit Gottes, Menschwerdung des Sohnes) in Frage gestellt. Anselm erwähnt mehrfach die infideles, die Ungläubigen, mit denen aber nicht Atheisten im strikten Sinne gemeint sind, sondern diejenigen, die den christlichen Glauben nicht teilen oder ihn bestreiten, also zu seiner Zeit: Juden und Muslime. Mit deren Einwänden musste man sich auseinandersetzen, sollte der christliche Glaube nicht als widersinnig, als Ideologie oder Aberglaube, gelten, sondern seine Glaubwürdigkeit erwiesen werden. Sie mussten auf der Ebene der von allen geteilten Vernunft widerlegt werden. Anselm widmete sich dieser Aufgabe mit seinem von Augustinus vorgegebenen Programm des ‚Glaubens, der nach Einsicht sucht‘ (fides quaerens intellectum). Ausgehend von den durch die Autorität vorgegebenen Glaubesaussagen will er deren Wahrheit mit Vernunftgründen einsichtig machen. Nur so bleibt der Glaube dem Menschen nicht äußerlich, sondern kann zu einem angeeigneten und lebendigen Glauben werden. Für Anselm wäre es Nachlässigkeit, wenn man sich als Christ nicht bemühen würde, seinen Glauben zu verstehen. Dabei will Anselm den gesamten Inhalt des christlichen Glaubens mit Hilfe der Vernunft als wahr erweisen und rekonstruieren. Die Radikalität seiner Methode wird deutlich, wenn er in seinem Monologion sagt, er wolle von dem, was wir von Gott und seiner Schöpfung glauben, unter Ausklammerung der Autorität der Heiligen Schrift ‚allein aufgrund der Vernunft‘ (sola ratione) überzeugen.
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In Cur Deus homo beabsichtigt er, ‚unter Ausklammerung des Christusereignisses‘ (remoto Christo), so ‚als ob wir nie etwas von Christus gewusst hätten‘ (quasi nihil sciatur de Christo), mit Vernunftgründen die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus nachzuweisen. Und Anselm meint mit Vernunftgründen nicht nur Plausibilitätsgründe oder hinweisende Indizien, sondern notwendige, zwingende Gründe (rationes necessariae). Doch ist dies nicht ein Rationalismus, der glaubt, Gott beweisen und begreifen zu können und der die Angewiesenheit auf Offenbarung und Glauben leugnet? Dieser Vorwurf erweist sich als unberechtigt. Auch für Anselm ist der christliche Glaube konstitutiv auf Offenbarung angewiesen. Ausdrücklich betont er, dass nichts, was gegen die Autorität der Heiligen Schrift verstößt, Wahrheit beanspruchen könne. Aber von diesen Aussagen des Glaubens will er zeigen, dass sich die Behauptung des Gegenteils als widersprüchlich erweist, dass sich das Gegenteil nicht denken lässt. Genau dann ist für Anselm die Wahrheit des Glaubens mit notwendigen Gründen erwiesen. Notwendige Gründe sind für Anselm also solche Gründe, denen man die Zustimmung nicht verweigern kann, ohne selbst in Widersprüche zu geraten. Durch diese Methode kann Anselm einerseits – entgegen einem Rationalismus – an der Angewiesenheit des Glaubens auf Offenbarung und die Autorität der Schrift festhalten, andererseits aber – entgegen einem Fideismus – die Bedeutung der menschlichen Vernunft für einen glaubwürdigen und verantworteten Glauben erweisen. Die skizzierte Methode hat Anselm eindrücklich sowohl im Rahmen seiner Gotteslehre, vor allem der Gottesbeweise, als auch im Rahmen seiner Christologie und Erlösungslehre angewendet.
Gottesbeweise In seinem Monologion (M 1–3) geht Anselm vom Glauben aus, demzufolge Gott die eine und höchste Natur ist, die in ihrer allmächtigen Güte allen anderen Dingen ihr Sein gibt. Von diesem Glauben will er zeigen, dass auch derjenige, der diesen Glauben nicht teilt, sich davon sola ratione überzeugen kann.
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Anselm beginnt seinen Gedankengang mit der Erfahrungstatsache, dass alle nach dem streben, was sie für gut halten. Ausgehend von dieser Erfahrung aber liegt es dann für die Vernunft nahe, nach dem Grund zu fragen, von dem her das, was man jeweils für gut hält, auch gut ist. Dieser Grund muss aber – so Anselm – in allen Dingen, die für gut gehalten und deshalb erstrebt werden, ein und dasselbe sein. Anselm gibt dafür mehrere Gründe an: 1. Wenn etwas von verschiedenen Dingen mehr oder weniger oder auch in gleichem Maß ausgesagt werden kann (etwa dass sie gerecht sind), so setzt dies notwendigerweise einen gemeinsamen Maßstab und Grund (die Gerechtigkeit) voraus. 2. Dagegen ist es für Anselm nicht denkbar, dass verschiedene Dinge durch jeweils etwas anderes gut genannt werden, etwa das eine Pferd wegen seiner Stärke und ein anderes wegen seiner Schnelligkeit. Denn dann kann man nicht erklären, warum ein starker und schneller Dieb nicht gut, sondern schlecht genannt wird. 3. Verweist man dann auf die Nützlichkeit oder die Schönheit eines starken und schnellen Pferdes, so gilt, dass auch alles Nützliche und Vorzügliche durch ein und dasselbe gut ist. Liegt aber allem einzelnen Guten, nach dem wir streben, ein einziges Gut zugrunde, so sind über dieses Gut weitere Aussagen möglich. Da alles andere durch es gut ist, muss es ein großes Gut sein, das durch sich selbst gut ist. Weiterhin ist es nicht möglich, dass die einzelnen Güter, die durch ein anderes gut sind, gleich oder größer sind als das Gut, das durch sich selbst gut ist. Denn da es die Voraussetzung dafür ist, dass die einzelnen Güter mehr oder weniger oder auch gleich gut sind, kann es selbst nicht unter diesen Maßstab fallen. Es ist deshalb auch höchst gut und damit zugleich auch höchst groß, also das Höchste. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass das höchste Gut nicht unter die Gesamtheit all der einzelnen Dinge fällt, die mehr oder weniger oder gleich gut sein können. Anselm geht aber noch weiter: Man kann nämlich nicht nur sagen, dass die vielen guten Dinge durch ein und dasselbe gut sind, sondern auch, dass alles, was ist, durch ein und dasselbe ist. Um dies zu begründen, werden alternative Möglichkeiten ausgeschlossen. 1. So ist die Möglichkeit, dass etwas nicht durch etwas, sondern durch nichts ist, für Anselm nicht einmal denkbar.
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2. Aber auch, dass alles, was ist, nicht durch eines, sondern durch mehrere ist, ist nicht denkbar. 2a. Denn auch diese mehreren wären auf Eines zurückzuführen. 2b. Gegen den Einwand, dass doch jedes einzelne dieser mehreren durch sich selbst sein könnte, ist zu sagen, dass sie dann auf eine einzige Kraft, durch sich zu bestehen, zurückgeführt werden können. 2c. Und auch der Einwand, dass sie durch sich gegenseitig sind, ist nicht denkbar, weil es widersprüchlich ist, dass etwas durch das ist, dem es selbst das Sein gibt. So hat sich für Anselm durch die Zurückweisung der Einwände und Alternativen als undenkbar die Rückführung aller einzelnen guten Dinge auf einen einzigen, höchsten und größten Grund ihres Gutseins und Seins als denknotwendig erwiesen. Im Verlauf des Monologion analysiert Anselm diesen Grund alles Guten und Seienden nun weiter und rekonstruiert auch den Glauben an die Dreifaltigkeit Gottes mit Vernunftargumenten. Dabei entdeckt er schließlich auch, dass der dreifaltige Gott die Grundlage und Voraussetzung des Denkens selbst ist: Das Denken ist von Gott immer schon auf Gott hin ausgerichtet. Was zwingende Gründe und Denknotwendigkeit sind, lässt sich eindrücklich auch an einem weiteren Text aus dem Monologion (M 18) zeigen. Anselm geht es hier darum, dass die höchste Wesenheit im Unterschied zu allem Geschaffenen keinen Anfang und kein Ende hat. Dabei verwendet er ein Argument, das er zu Beginn seiner Schrift De veritate noch einmal zitiert. In diesem Argument weist er auf, dass es gar nicht denkbar ist, dass die Wahrheit irgendwann begonnen hat und irgendwann nicht mehr sein wird. Geht man nämlich davon aus, dass die Wahrheit irgendwann einmal noch nicht war und irgendwann einmal nicht mehr sein wird, so ist es doch vorher, bevor die Wahrheit begann, wahr gewesen, dass es keine Wahrheit gibt, und es wird nachher, nachdem die Wahrheit beendet sein wird, wahr sein, dass es keine Wahrheit mehr gibt. Da es aber Wahres nicht ohne Wahrheit gibt, würde folgen, dass es Wahrheit gab, bevor die Wahrheit war, und dass es Wahrheit geben wird, wenn die Wahrheit beendet sein wird. Dies ist aber widersprüchlich und kann nicht gedacht werden. Die Wahrheit ist so mit notwendigen Gründen als immer existierend aufgewiesen. Es ist denknotwendig, dass die Wahrheit exis-
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tiert. Denn auch dann, wenn man denkt, dass die Wahrheit noch nicht oder nicht mehr ist, setzt man die Wahrheit gerade voraus und beansprucht sie. Die Existenz der Wahrheit ist für das Denken unhintergehbar. Bekannter als die Gottesbeweise im Monologion ist der von Immanuel Kant so genannte ‚ontologische‘ Gottesbeweis im Proslogion. Anselm berichtet im Vorwort, er habe, nachdem er im Monologion Gottes Existenz und Wesen durch verschiedene Beweise aufzuzeigen versucht habe, sich gefragt, ob sich nicht ein einziges Argument (unum argumentum) für Gottes Existenz und höchste Güte finden lasse, das selbst keiner weiteren Begründung bedarf, sondern seine Begründung in sich selbst hat. Das unum argumentum ist deshalb auch vor dem Hintergrund des Monologion zu lesen. Anselm beginnt seinen Aufweis im zweiten Kapitel des Proslogion mit einer Bestimmung dessen, was vom Glauben her mit dem Wort ‚Gott‘ gemeint ist: Wir glauben nämlich, dass Gott etwas ist, ‚über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘ (id quo maius nihil cogitari possit = IQM). Auf der Basis dieser Definition macht Anselm dann erstens klar, dass auch der Tor, der in seinem Herzen spricht ‚Es ist kein Gott‘ (Ps 14,1; 53,1), doch diese Bestimmung des Wortes ‚Gott‘ versteht, wenn er sie hört. Damit existiert dieser Begriff in seinem Verstand. Doch damit hat er noch nicht eingesehen, dass das, was in seinem Verstand ist, auch in der Wirklichkeit existiert. Anselm argumentiert deshalb zweitens, dass ‚das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘, nicht nur im Verstand allein sein kann. Denn wenn es nur im Verstand wäre, könnte etwas Größeres gedacht werden: dass es nämlich auch in Wirklichkeit existiert. Daher – so schließt Anselm drittens – existiert das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, sowohl im Verstand als auch in Wirklichkeit. Diesen Gedanken spitzt Anselm im dritten Kapitel dahingehend zu, dass viertens auch gar nicht gedacht werden kann, dass IQM nicht existiert. Denn wenn IQM als nicht-existierend gedacht werden könnte, könnte – weil das, was als nicht-existierend nicht gedacht werden kann, größer ist als das, was als nicht-existierend gedacht werden kann – etwas Größeres gedacht werden, was aber widersprüchlich ist. Gott ist also fünftens so wirklich, dass er nicht einmal als nicht-existierend gedacht werden kann. Alles andere außer Gott
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aber kann als nicht-existierend gedacht werden, so dass ihm, gegenüber allem anderen, am wahrsten und am meisten Sein zukommt. Dieser Beweis ist nicht erst von Kant, sondern bereits von Gaunilo von Marmoutier, einem Zeitgenossen Anselms, kritisiert worden. Sein zentraler Einwand lautet: Wenn Anselms Argument legitim wäre, müsste sich auch aus dem Gedanken einer Insel, die alle anderen Inseln an Schönheit und Vollkommenheit übersteigt, auf deren Existenz schließen lassen. Gaunilo verkennt jedoch – so Anselms Antwort –, dass es bei der Frage nach der Existenz Gottes nicht um das größte und vollkommenste Exemplar einer einzelnen Wirklichkeit im Horizont des Wirklichen geht, sondern um ‚das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘ schlechthin. Es geht um das auch im Monologion aufgewiesene Größte, von dem aber nicht gedacht werden kann, dass es nicht existiert. Dass es bei dem Gemeinten nicht um eine, wenn auch die größte Wirklichkeit neben anderen Dingen unter dem gemeinsamen Horizont des Wirklichen geht, macht Anselm schließlich in Proslogion 15 deutlich. Ausgehend vom unum argumentum entfaltet er – ähnlich wie im Monologion – alle wesentlichen Aussagen über Gott. Er ist der, der alles andere aus dem Nichts geschaffen hat, er ist all das, was zu sein besser ist als es nicht zu sein, also gerecht, wahr, selig usw., er ist empfindend, aber nicht körperlich, sondern erkennend, er ist allmächtig und barmherzig. Dabei geht Anselm auf, dass dies nur hinweisende Aussagen über Gott sind. Gott in sich bleibt unerkennbar. So modifiziert er seinen Gottesbegriff dahingehend, dass Gott nicht nur das ist, ‚über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘, sondern dass er ‚etwas Größeres als gedacht werden kann‘ ist. Gott fällt nicht – wie alles Geschaffene – unter den Horizont unseres Denkens. Aus den hinweisenden Bestimmungen seines Wesens lässt sich nichts ableiten.
Erlösungslehre Anselm hat nicht nur versucht, Existenz und Wesen Gottes sola ratione und mit rationes necessariae aufzuweisen, in Cur Deus homo will er – unter Einklammerung des Christusereignisses – mit zwingenden Gründen zeigen, dass die Erlösung des Menschen nur durch die Menschwerdung Gottes geschehen konnte. Indem er die Einwände
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gegen diese Behauptung widerlegt, will er zeigen, dass es nicht denkbar ist, dass der Mensch ohne die Menschwerdung des Sohnes erlöst werden konnte. Der zentrale Einwand lautet dabei, Gott hätte die Sünde der Menschen doch auch einfach aus ‚reiner Barmherzigkeit‘ erlassen können. Anselm antwortet auf diesen Einwand unter Verweis auf die Ehre Gottes. Durch die Sünde der Menschen ist Gott die Ehre genommen worden. Nichts aber ist in der Ordnung der Welt weniger zu ertragen und stört ihre Ordnung mehr, als dass ein Geschöpf Gott die Ehre nimmt. Nun ist es aber Gott nicht angemessen, dass er etwas in der Welt ungeordnet lässt. Für Anselm ist es undenkbar, dass Gott seine Ehre und seine Gerechtigkeit nicht wahrt. Zwar ist Gott frei, aber diese Freiheit bedeutet nicht, dass er auch Ungeziemendes wollen kann. Wenn Gott – so Anselm – lügen will, folgt nicht, dass lügen recht ist, sondern dass Gott nicht Gott ist. Gottes Freiheit ist an seine Gerechtigkeit gebunden. Dann aber gehört es nicht zur Freiheit Gottes, den Sünder ungestraft zu lassen, sonst würde Unrecht zu Recht. Die Vorstellung, Gott könne die Sünde allein aus Barmherzigkeit erlassen, verstößt also gegen die Gerechtigkeit Gottes und würde einen Selbstwiderspruch in Gott voraussetzen. Deshalb muss entweder Gott die Sünde bestrafen oder es muss Genugtuung (satisfacio) geleistet werden. Eine solche Genugtuung aber – so Anselm weiter – kann der Mensch aus sich heraus nicht leisten. Denn alles, was er Gott geben könnte, schuldet er Gott ohnehin schon und kann deshalb nicht zur Wiedergutmachung dienen. Außerdem kann nichts in der Welt als Genugtuung ausreichen, weil das Handeln gegen den Willen Gottes durch nichts in der Welt gerechtfertigt werden kann. Zudem sei durch die Sünde die ganze menschliche Natur so verdorben worden, dass es dem Menschen nicht möglich ist, Genugtuung zu leisten. Soll dennoch Genugtuung geleistet werden, ist es deshalb notwendig, dass Gott selbst Mensch wird. Wenn nämlich Genugtuung für die Sünde nur dann gegeben ist, wenn Gott etwas gegeben wird, was größer ist als alles, was nicht Gott ist, und wenn derjenige dies aus seinem eigenen geben muss, dann kann nur Gott selbst diese Genugtuung leisten. Wenn aber zugleich doch gerade der Mensch diese Genugtuung leisten muss, ist es notwendig, dass ein GottMensch diese Genugtuung vollbringt. Dazu müssen beide Naturen
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in einer Person zusammenkommen. Auch muss Gott die Natur Adams annehmen und nicht einen neu geschaffenen Menschen, weil sonst keine Genugtuung für das von Adam abstammende Menschengeschlecht geleistet werden kann. Anselm begründet auch, worin die Genugtuung bestehen musste. Weil nämlich der Gott-Mensch Gott etwas Größeres geben musste als alles, was nicht Gott ist, musste er sich selbst als Gabe geben. Dies aber war, weil er es auf eine Weise tun musste, die er Gott nicht schuldete, nur so möglich, dass er sich freiwillig dem Tod auslieferte, den er Gott nicht schuldete. Gegen diese Satisfaktionslehre Anselms ist immer wieder der Vorwurf erhoben worden, sie setze das Bild eines unbarmherzigen Gottes voraus, der wegen der Verletzung seiner Ehre den Menschen zürnt und dessen Zorn nur durch den blutigen Opfertod seines Sohnes besänftigt werden kann. Doch gibt der Text selbst dafür keinen Beleg. So betont Anselm zunächst, dass der Mensch Gott nicht in Wirklichkeit die Ehre rauben könne. Eine solche Vorstellung würde von Gott zu klein denken, sie würde von ihm wie von einem Geschöpf denken und ihn nicht als den verstehen, ‚der größer ist als alles, was gedacht werden kann‘. Dennoch kann der Mensch Gott die Ehre der Intention nach rauben. Dadurch stört er die Weltordnung und schadet letztlich sich selbst, indem er sich die Freiheit nimmt. Um dies genauer zu verstehen, muss man einen Blick in die anthropologischen Schriften Anselms über Freiheit und Sünde werfen, deren Grundgedanken er in Cur Deus homo auch wiederholt. So erläutert er in De veritate, dass die Rechtheit des Willens darin besteht, dass er das will, was er aufgrund seiner inneren, durch die Schöpfung vorgegebenen Zielbestimmung wollen soll, nämlich dem Willen Gottes zu entsprechen. Die Gerechtigkeit des Willens besteht dann darin, dass der Wille diese Rechtheit nicht gezwungen und nicht aus äußeren Gründen wie Angst oder Nutzen wahrt, sondern freiwillig. Gerechtigkeit ist – so Anselm – ‚Rechtheit des Willens, gewahrt um ihrer selbst willen‘. In dieser Gerechtigkeit besteht für Anselm – so in De libertate arbitrii – zugleich die wahre Freiheit des Willens. Es ist eine Freiheit, die ihm von niemandem genommen werden kann. Nicht einmal Gott selbst könnte dem Menschen die Gerechtigkeit nehmen; denn die Rechtheit des Willens um ihrer selbst willen zu bewahren, bedeutet gerade das zu wollen, wovon Gott will, dass es
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der Wille will. Gott würde sich sonst selbst widersprechen. Nur der Mensch kann – wie Anselm in De casu diaboli zeigt – die ihm ursprünglich gegebene Gerechtigkeit und Freiheit aufgeben, indem er sich dem Streben nach dem Angenehmen überlässt und jedes vorgegebene Maß willkürlich ignoriert. Genau darin besteht die Sünde des Menschen, durch die er seine Freiheit verloren hat und seine ursprüngliche Gerechtigkeit aus sich heraus nicht wiedererlangen kann. Ausgehend von diesen Überlegungen gibt derjenige, der die Gerechtigkeit des Willens wahrt, Gott die Ehre, während umgekehrt Gott die Ehre zu rauben gerade darin besteht, die Gerechtigkeit in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes nicht zu wahren. Wenn Anselm also argumentiert, dass Gott seine Ehre wahren und deshalb die Sünde entweder bestrafen oder Genugtuung geleistet werden muss, so geht es ihm nicht um die Wiederherstellung der Ehre Gottes, die ohnehin nicht tangiert werden kann, sondern um die Wiederherstellung der Freiheit des Menschen, deren inneres Maß aber gerade die Gerechtigkeit und der Wille Gottes ist. Entsprechend argumentiert Anselm, dass dann, wenn die Sünde nicht bestraft würde, der Sünder und der Gerechte gleichgestellt würden, ja die Ungerechtigkeit sogar noch mehr Freiheit bedeuten würde als die Gerechtigkeit, was aber widersprüchlich ist. Wenn Gott also die Schuld des Menschen einfach aus Barmherzigkeit ohne Genugtuung auslöschen würde, würde nicht nur die Gerechtigkeit Gottes nicht ernst genommen, sondern vor allem die Freiheit des Menschen übergangen. Gott muss deshalb, weil er seinem Schöpfungsplan und der Bestimmung des Menschen zur Freiheit aus innerer Notwendigkeit treu bleiben will, aus einer anderen, unerwartbaren und größeren Barmherzigkeit heraus die Not des Menschen wenden. Diese andere Barmherzigkeit Gottes aber, die größer ist als gedacht werden kann, die seiner Gerechtigkeit nicht widerspricht und die die Freiheit des Menschen nicht übergeht, besteht darin, dass Gott selbst durch die Menschwerdung in Jesus Christus dem Menschen einen Weg eröffnet, wie er die Gerechtigkeit wieder empfangen und wahren und so seine Freiheit verwirklichen kann. Aber auch die Vorstellung, dass Gott den blutigen Tod seines Sohnes zur Genugtuung verlangt, hat bei Anselm keinen Anhalt. Nirgendwo spricht Anselm von einem zornigen Gott, der den Tod seines Sohnes verlangt. Gegen den Einwand, es sei ungerecht und
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widerspreche der Güte Gottes, dass der gerechteste Mensch für die Sünden der Menschen den Tod erleiden muss, macht Anselm klar, dass Gott nicht den Tod des Sohnes als solchen will, sondern die Bewahrung der Rechtheit. Damit, dass Gott den Tod und das Leiden seines Sohnes wollte, ist nicht gemeint, dass er den Tod und das Leiden an sich wollte, sondern dass er den Sohn nicht daran hindern wollte, um der Erlösung willen an der Rechtheit des Willens festzuhalten, was aber für ihn den Tod zur Folge hatte. Stephan Ernst / Thomas Franz (Hg.), Sola ratione. Anselm von Canterbury (1033–1109) und die rationale Rekonstruktion des Glaubens, Würzburg 2009. (Mit Werkinterpretationen aller Hauptschriften Anselms durch jeweils ausgewiesene Experten gibt dieser Band einen guten Überblick über die thematischen Schwerpunkte des anselmschen Denkens, die begriffliche Einheit seines Werks und die Eigenart seines methodischen Zugangs.)
Gerhard Gäde, Eine andere Barmherzigkeit. Zum Verständnis der Erlösungslehre Anselms von Canterbury, Würzburg 1989. (In dieser klar formulierten und gut nachvollziehbaren Arbeit wird die oft missverstandene Erlösungslehre vom Gottesbegriff Anselms her interpretiert. Der Autor zeigt, dass Anselms Gottesbegriff eine allzu selbstverständliche Rede von Gottes Barmherzigkeit nach unserem Maß ausschließt. Erst dann kann die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes selbst als unüberbietbar große Barmherzigkeit verstanden werden.)
Martin Kirschner, Gott – größer als gedacht. Die Transformation der Vernunft aus der Begegnung mit Gott bei Anselm von Canterbury, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2013. (In dieser Arbeit nähert sich der Autor der Gotteslehre Anselm in drei methodisch unterschiedlichen Interpretationsgängen. Ausgehend von einem Verständnis des Denkens Anselms als Logik klarer Schlüsse [Dialektik] wird die Notwendigkeit eines transzendentalen Zugangs im Ausgang von der menschlichen Freiheit nachgewiesen, der dann noch einmal auf eine Reflexion der von Gott empfangenen Vorgaben zurückgeführt wird. Dabei wird deutlich, wie sich die Vernunft im Durchdenken des Glaubens selbst neu versteht.)
Rolf Schönberger, Anselm von Canterbury, München 2004. (Nach einer Einführung in Leben, Werk und Wirkung Anselms wird in einem philosophischen Zugang die Methode Anselms der Glaubenseinsicht, die Gotteslehre im Monologion und Proslogion sowie das Freiheitsverständnis Anselms erarbeitet. Der Autor denkt die Gedanken Anselms eigenständig nach und erschließt so die oft sperrigen und fremden Texte für unser heutiges Verstehen.)
Rationale Gotteserkenntnis oder praktische Gottesliebe?
Moses Maimonides und Chasdai Crescas Frederek Musall
Jüdische Theologie: Meta-Halachah und Hashkafah Ich hadere oft damit, ob ‚Theologie‘ in Bezug auf das im Folgenden Dargestellte ein konzeptionell passender und fassender Begriff ist. Denn die Ergründung allgemeiner Glaubenslehren oder die Ableitung ethischer Prinzipien stehen gewöhnlich nicht im Zentrum rabbinischer Diskurse. Diese beschäftigen sich meist weniger mit dogmatischen Fragen nach dem ‚was‘ oder ‚woran‘ der Mensch glaubt, als vielmehr damit, ‚wie‘ der Mensch auf Basis des jüdischen Religionsgesetzes, der sogenannten Halachah, handeln soll. Das soll aber keineswegs heißen, dass Halachah ohne eine entsprechende theoretische Reflexion auskommen kann; vielmehr führt gerade das Studium der Halachah zur Ergründung sogenannter Meta-Halachah, worunter die grundlegenden oder auch allgemeinen Prinzipien, Strukturen, Werte und Ziele religiös-jüdischer Lebensführung zu verstehen sind. In diesen meta-halachischen Reflexionsprozess können philosophisch-theologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch soziale und politische Faktoren einbezogen werden und Berücksichtigung finden. Ohne Meta-Halachah besteht die Gefahr, dass Halachah auf formalistisch-legalistische Aspekte und Interpretationen reduziert wird. Neben dem Konzept einer Meta-Halachah existiert noch zweiter Begriff, welcher gegenwärtig vor allem in jüdisch-orthodoxen Kreisen populär ist und auf den Aushandlungsprozess zwischen traditionell-religiöser Lebensführung und moderner Lebenswelt bezogen wird: Hashkafah, was sich mit ‚(Welt-)Anschauung‘, ‚Perspektive‘, ‚Meinung‘ übersetzen lässt und eine bestimme ideologische Haltung bezeichnet. Hashkafah meint und bezieht sich auf die jeweiligen Blickwinkel, von welchen aus wir die Welt und ihre Phänomene be-
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trachten; doch der Betrachtungsstandpunkt ist immer auch geprägt von Ort und Zeit, d. h. konkreten Kontexten und Erfahrungen. Hashkafah und Halachah stehen in einem engen Verhältnis zueinander: Hashkafah erlaubt durch die Einbeziehungen von Kontext und Erfahrung den halachischen Entscheidungsfindungsprozess dynamisch zu gestalten und zu aktualisieren. Aber anders als das Verhältnis von Meta-Halachah zu Halachah, wo eine konkrete Rechtsentscheidung niemals die abstrakten meta-halachischen Prinzipien und Werte überschreiben kann, darf Hashkafah niemals gegen geltende Halachah verstoßen. Hinter diesen einleitenden Bemerkungen stehen folgende Beweggründe: Erstens erachte ich es für wichtig, dass theologisches Denken nicht nur auf Basis oder im Rahmen bestimmter Kategorien, sondern auch von eigensprachlichen Begriffen und Konzeptionen her gedacht werden sollte; und zweitens möchte ich dafür sensibilisieren, dass bezüglich des Judentums als religiöser Rechtstradition auch immer die Dimension der Halachah mitbedacht werden muss. Meta-Halachah und Hashkafah können beide als Denken in, entlang von oder gar auf halachischen Grenzen verstanden werden und sind Ausdruck dessen, was man unter ‚jüdischer Theologie‘ verstehen kann: Der Reflexionsprozess über Beziehung zwischen Gott und dem Menschen und die Frage danach, wie und wodurch sich menschliches Handeln in einer von Gott geschaffenen Welt auf Basis des in den Geboten formulierten göttlichen Willens artikulieren und realisieren kann.
Taʿ amei ha-Mitzvot: Das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft Doch es stellt sich nun schließlich die Frage, ob Gott bzw. der göttliche Wille allein durch seine Offenbarung, welche nach traditionelljüdischem Verständnis die mündliche Lehre (hebr. torah she-bi-khtav) und schriftliche Lehre (hebr. torah she-be-ʿ al peh) umfasst, erkannt werden kann oder ob es darüber noch andere Erkenntnismöglichkeiten und -zugänge gibt. Bereits im Talmud gibt es eine Diskussion darüber, ob es dem Menschen, erstens, grundsätzlich erlaubt sei, nach den Gründen für bestimmte Gebote zu fragen und, zweitens, überhaupt möglich sei,
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diese mittels des begrenzten menschlichen Verstandes zu ergründen. Die Rabbinen greifen dabei zunächst auf die biblische Unterscheidung von ‚Gesetzen‘ (hebr. mishpatim) und ‚Rechtssatzungen‘ (hebr. chukkim) zurück, wobei erstere sich auf allgemein nachvollziehbare Ge- und Verbote beziehen, wie etwa die Verbote zu töten oder zu stehlen, während letztere jene Ge- und Verbote umfassen, deren Begründungszusammenhänge eben nicht allgemein nachvollziehbar sind, wie beispielsweise die Verbote Schweinefleisch zu essen oder tierische und pflanzliche Fasern zu mischen (hebr. shaʿ atnez). Die konservative Mehrheitsmeinung vertritt die Ansicht, dass es nicht die Aufgabe des Menschen sei, nach dem ‚Warum‘ des göttlichen Willens zu fragen, und er sich somit ausschließlich mit dem ‚Wie‘ der Gebote zu beschäftigen habe; denn Gott hat die ‚Gründe der Gebote‘ oder die ‚Geheimnisse der Lehre‘ (hebr. sitrei torah) verborgen und entsprechend sollen diese auch nicht offenbart werden. Aber gerade vor dem Hintergrund der apologetischen Auseinandersetzungen mit den beiden anderen Offenbarungsreligionen Christentum und Islam wird bei den mittelalterlichen jüdischen Denkern die Frage nach den sogenannten Taʿ amei ha-Mitzvot oder ‚Gründen der Gebote‘ erneut aufgeworfen. Auf entsprechende Entwürfe muʿ tazilitscher Mutakallimūn, d. h. den Vertretern eines philosophisch-theologischen Diskurses im Islam, zurückgreifend, führt Saadiah Gaon das Konzept einer vernunftbasierten Be- und Ergründung der Ge- und Verbote ein, wenn er in seinem Buch der Glaubensgrundsätze und Lehrmeinungen zwischen ‚Vernunftgeboten‘ (arab. ʿ aqliyyāt; hebr. sikhlijot), worunter insbesondere naturrechtlichmoralische Gebote fallen, und ‚Offenbarungsgesetzen‘ (wörtlich ‚gehörte [Gebote]‘, arab. samʿ iyyāt; hebr. shimijot) unterscheidet (ausgehend von dieser Klassifizierung werden zahlreiche andere mittelalterliche Denker ihre eigenen Einordnungen und Interpretationen der Gebote vornehmen). Da ja beide Klassen von Geboten in der Torah offenbart worden sind, stellt sich für Saadiah die grundsätzliche Frage, in welchem Verhältnis nun Vernunft und Offenbarung zueinander stehen. Für Saadiah haben Offenbarung und Prophetie (wobei letztere der dementsprechende Erkenntniszugang ist) immer Vorrang vor der Vernunft, da sie der vollkommenen göttlichen Weisheit entspringt; aber die menschliche Vernunfterkenntnis kann sehr wohl als eine nachträgliche Bestätigung der Offenbarung dienen.
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Wie komplex sich das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung gestalten kann, lässt sich exemplarisch anhand der philosophischtheologischen Werke der beiden mittelalterlichen spanisch-jüdischen Denker Moses Maimonides (1138–1204) und Chasdai Crescas (ca. 1340–1410/11) aufzeigen, zweier zentraler Repräsentanten und Akteure mittelalterlichen jüdischen Denkens. Beide sind eingebettet in die intellektuellen Diskurse ihrer Zeit und entsprechend kontextuell geprägt von bestimmten philosophisch-theologischen Moden und Methoden. Vor allem aber haben beide auf Grundlage ihrer philosophisch-theologischen Reflexionen versucht, ihrer Religionsgemeinschaft in Zeiten existenzieller Krisen eine nachhaltige Möglichkeit und prospektive Perspektive jüdischen Lebens zu eröffnen. Neben diesen Gemeinsamkeiten existieren aber auch wichtige Unterschiede zwischen ihnen: Moses Maimonides wirkt im islamischen Kulturraum, während Chasdai Crescas sich mit seiner christlichen Umwelt auseinandersetzt. Für Maimonides ist Aristoteles – in seiner neuplatonischen Filterung durch die arabisch-islamische Philosophie (arab. falsafa) – wissenschaftlich autoritativ und konstitutiv, während Crescas eine dezidiert anti-aristotelische Position einnimmt und in seinem Denken zudem von kabbalistischen sowie christlich-theologischen Einflüssen geprägt ist. Während für Maimonides die Gebote nur dann Sinn ergeben, wenn dem Menschen die Wahl- bzw. Willensfreiheit (hebr. bechirah) gegeben ist, vertritt Crescas in Fragen der göttlichen Vorhersehung (hebr. hashgachah) ein deterministisches Weltbild. Aufgrund ihrer unterschiedlichen philosophisch-theologischen Argumentationen und Standpunkte stehen ihre Weltanschauungen, ihre Hashkafot, in einem komplexen Spannungsverhältnis zueinander und eröffnen diskursive Felder: von Offenbarung und Vernunft, von Religionsgesetz und Philosophie, von Tradition und Wandel, von Determinismus und Willensfreiheit, von Partikularismus und Universalismus, von vita activa und vita contemplativa, von Apologetik und Polemik.
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Moses Maimonides: Gotteserkenntnis mittels der Vernunft Der Konflikt zwischen religiösen, auf der Offenbarungstradition gründenden und philosophischen, auf der Vernunft basierenden Wahrheiten sind Ausgangspunkt und Leitmotiv des auf judäo-arabisch verfassten philosophischen Hauptwerkes von Moses Maimonides, dem sogenannten Wegweiser für die Verwirrten (arab. Dalālat al-hāʿ īrīn; hebr. ˙ Moreh Nevuchim). Die Verwirrten, von denen im Titel die Rede ist, sind jene Menschen, welche einerseits in der Offenbarungstradition verwurzelt sind und sich ihr normativ verpflichtet fühlen, andererseits sich aber auch mit den Erkenntnissen der philosophischen Wissenschaften beschäftigen. Da die Aussagen der beiden unterschiedlichen Erkenntniszugänge, etwa in grundlegen Fragen wie des Ursprungs der Welt oder des Wesen Gottes, jedoch in einem augenscheinlichen Widerspruch zueinander stehen, besteht letztlich Unklarheit darüber, welche Erkenntnisaussagen wahr und welche falsch sind. In diesem Zustand der ‚Verwirrung‘ (ein Motiv, mit welchem Maimonides auf den Zustand der Verwirrung der Israeliten in der Wüste in Ex 13,17–18 anspielt) folgen sie entweder ihrer Offenbarungstradition oder der Philosophie nach – mit der Konsequenz, dass sie den anderen Erkenntnisweg verwerfen. Nicht nur verlieren sie so das eigentliche Ziel der Erkenntnis, nämlich die Gotteserkenntnis, aus den Augen; ihre Entscheidung kann auch soziale Konsequenzen haben, etwa durch den Abfall von der jüdischen Religionslehre und damit –gemeinschaft. Maimonides meint mit seinem 14-bändigen halachischen Korpus Wiederholung der Lehre (hebr. Mishneh Torah), in welchem er das gesamte jüdische Religionsgesetz systematisiert und kodifiziert (darunter auch jene Fragen, wie beispielsweise den Tempeldienst, die eigentlich nicht Gegenstand aktueller Praxis sind), bereits eine entscheidende Orientierung im Hinblick auf die Grundlagen und
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Praxis des Religionsgesetzes gegeben zu haben. Deshalb beabsichtigt er im Rahmen des Wegweisers für die Verwirrten nun, die ‚Wissenschaft des Religionsgesetzes in seinem wahren Sinn‘ zu erläutern und sich den ‚Geheimnissen der Lehre‘ (hebr. sitrei torah) anzunehmen (1. Teil, Einleitung). Als eine grundlegende Prämisse setzt er die ‚Spekulation über die Schöpfungsgeschichte‘ (hebr. maʿ aseh bereshit) nach Gen. 1 ff. mit der aristotelischen Physik und die ‚Spekulation über Thronwagenvision‘ des Propheten Ezechiel (hebr. maʿ aseh merkavah) nach Ez 1,26 gleich mit der aristotelischen Metaphysik (1. Teil, Einleitung). Denn die vermeintlichen Widersprüche zwischen religiös-traditioneller und philosophischer Erkenntnis seien v. a. auf sprachlich-hermeneutische Probleme zurückzuführen, weshalb sich Maimonides ausführlich der Erklärung biblischer Homonyme und Gleichnisse widmet. Mit einem Rückgriff auf das biblische Bildmotiv von „goldenen Äpfeln in silbern Schalen“ (Spr 25,11) unterscheidet er – in Anlehnung an entsprechende islamische theologisch-hermeneutische Konzeptionen – zwischen dem äußeren Wortsinn (arab. ẓāhir), die einen didaktisch-pädagogischen Zweck erfüllt, und dem inneren Wortsinn (arab. bāṭin), welche die wahre Bedeutung enthält. Sein neuplatonisch-aristotelisch geprägtes sprachtheoretisches Denken spielt denn auch in Bezug auf seine Beweisführungen zur Existenz, Einheit/Einzigartigkeit und Unkörperlichkeit Gottes eine entscheidende Rolle: So formuliert Maimonides schließlich seine negative Theologie (1. Teil, Kapitel 46–61), nach der Aussagen über Gott nur im Sinne einer Negation der Privation möglich seien, da jede positive Zuschreibung von Eigenschaften immer eine Relation zu und damit Vergleichbarkeit mit etwas anderem impliziere. Gott aber ist aufgrund seiner Einheit und Einzigartigkeit mit keinem anderen geschaffenen und zusammengesetzten Wesen, wie etwa dem Menschen, zu vergleichen – Gott ist für Maimonides folglich ‚der ganz Andere‘. Eine weitere ausführliche Diskussion widmet er der Frage nach dem Ursprung der Welt, die das vielleicht größte und tiefgreifendste Konfliktpotential zwischen den Erkenntnissen und Positionen von Offenbarungstradition und Philosophie birgt. Hier zeigt sich auch deutlich, wie elementar die aristotelische Physik und Metaphysik für Maimonides sind. In der Einleitung zum zweiten Teil des Werkes erläutert er 25 bzw. 26 aristotelische Prämissen, welche er als er-
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kenntnistheoretisches Modell zu Grunde legt. Anschließen diskutiert er ausführlich die unterschiedlichen philosophischen und religiösen Argumentationen bezüglich der Frage der Urewigkeit der Welt versus ihrer Erschaffenheit (2. Teil, insb. Kapitel 13–30). Auch wenn Maimonides an der Erschaffenheit der Welt festhält, so weist er doch darauf hin, dass metaphysische Spekulationen – ganz gleich ob sie auf der Offenbarung beruhen oder durch die Vernunft gefolgert werden – nicht demonstrativ bewiesen werden können (2. Teil, Kapitel 25). Folglich ist der hier konstatierte Konflikt zwischen Offenbarungstradition und Philosophie nur ein spekulativer, denn der menschlichen Vernunft sind in Bezug auf metaphysische Erkenntnis Grenzen gesetzt. Aber Maimonides erkennt durchaus einen didaktisch-pädagogischen Nutzen darin, die unterschiedlichen Positionen und Beweisführungen in Bezug auf metaphysische Wahrheiten argumentativ nachzuvollziehen. Wie Saadiah vertritt auch Maimonides die Meinung, dass das auf der Offenbarung basierende Religionsgesetz deswegen verbindlich ist, da die in ihm artikulierte göttliche Weisheit – ganz im Gegensatz zur menschlichen – vollkommen sei und dem Menschen damit eine grundlegende Orientierung in dieser Welt ermögliche. Maimonides schreibt dem Religionsgesetz zwei wesentliche Ziele zu: Erstens, dem Menschen einen Weg zu seiner intellektuellen Vervollkommnung zu eröffnen; und, zweitens, den Götzendienst zu bekämpfen, worunter Maimonides den erkenntnistheoretisch-kognitiven Irrtum versteht, wahrgenommenen Mittlerkräften wie Himmelssphären, Engel etc. anstatt Gott allein Verehrung zuteilwerden zu lassen. Im Verlaufe seiner ausführlichen Diskussion und Klassifikation der Gesetze wird aber auch deutlich, dass für Maimonides nicht etwa die formal-legalistischen Aspekte des Religionsgesetzes entscheidend sind, sondern meta-halachische Konzeptionen und Absichten, welche seiner Meinung nach mit den Vernunfterkenntnissen korrespondieren. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu verstehen, dass für Maimonides der Prophet Moses deswegen befähigt war das Offenbarungsgesetz zu empfangen und weiterzugeben, weil er vollkommen war hinsichtlich seiner imaginativ-prophetischen und rational-philosophischen Erkenntnis. Schließlich kommt Maimonides in seinem Palastgleichnis (3. Teil, Kapitel 51), in welchem er verschiedene Grade der Gotteserkenntnis klassifiziert, zu dem radikalen Schluss, dass im Hinblick
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auf die Erkenntnis Gottes die Vernunfterkenntnis Vorrang habe vor rechtswissenschaftlich-halachischer oder theologischer Erkenntnis. Denn Gotteserkenntnis meint nicht etwa die Erkenntnis der Wesensattribute Gottes, sondern seiner Handlungsattribute, d. h. der Erkenntnis von Gottes barmherzigem Wirken in dieser Welt, welches Maimonides mit den sogenannten ‚dreizehn Eigenschaften der Barmherzigkeit‘ (hebr. shelosh esreh middot shel rachamim) nach Ex 34,6–7 identifiziert. Somit liegt das Ideal menschlichen Handelns nicht in einer blinden Nachahmung der Vorschriften des Religionsgesetzes als vielmehr in der bewusst-reflektierten Nachahmung göttlichen Handelns (d. h. also imitatio Dei). Die Pointe des Wegweisers für die Verwirrten besteht folglich darin, dass man zur Gotteserkenntnis nicht etwa durch metaphysische Spekulation, sondern durch das naturphilosophische Studium der physischen Welt gelangt, welches schließlich die Grundlage ethisch-sittlichen Handelns darstellt. Maimonides eröffnet also eine Möglichkeit, Offenbarungstradition und philosophisches Denken miteinander in Einklang zu bringen. Allerdings mit der Konsequenz, dass die Gotterkenntnis eine primär intellektuelle Tätigkeit ist, worin sich Maimonides universalistische, aber auch elitaristische Haltung offenbart.
Chasdai Crescas: Gotteserkenntnis aufgrund der Offenbarung In Maimonides’ philosophisch-theologischem Intellektualismus, insbesondere wie er von dessen Anhängern und Nachfolgern im Südfrankreich, Spanien und Italien des 13. und 14. Jahrhunderts vertreten wurde, erkennt Chasdai Crescas eine potenzielle Gefahr für die jüdische Religionsgemeinschaft: Der von Maimonides beschriebene Weg der intellektuellen Gotterkenntnis ist nur einigen wenigen philosophisch Gebildeten vorbehalten; und da er zudem unter Erlösung die Verbindung des individuellen menschlichen Intellekts mit dem aktiven Intellekt versteht, entzieht er gewissermaßen den meisten einfachen Menschen eine soteriologische Perspektive. Vor dem Hintergrund des Traumas der gewaltsamen Religionsverfolgungen und Zwangskonversionen im Sommer 1391, welchen zahlreiche jüdische Gemeinden in Spanien ausgesetzt waren und bei denen Crescas’ Sohn ums Leben kam, sieht sich Crescas in die Verantwortung ge-
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nommen, den auf der aristotelischen Philosophie basierenden intellektualistisch-rationalistischen Maimonidismus mit aller Vehemenz zu bekämpfen. Ursprünglich plante Crescas einen ambitionierten breitflächigen Angriff, der Maimonides auf philosophischer, theologisch-dogmatischer und schließlich halachischer Ebene entgegenwirken soll. Aufgrund seiner zahlreichen gemeindepolitischen Verpflichtungen, u. a. als Oberrabbiner von Aragón, vermochte er aber nur seine philosophisch-theologische Kritik mit dem Titel Licht des Herrn (hebr. Or ha-Shem) zu vollenden. Anders als Maimonides verfährt Crescas systematisch-dogmatisch, was sich auch anhand der komplexen Struktur des Werkes erkennen lässt. Es ist in vier Abschnitte unterteilt, in denen 1. die ‚Wurzeln‘ (hebr. shorashim), 2. die ‚Fundamente‘ (hebr. pinnot), 3. die verbindlichen ‚Glaubenswahrheiten‘ (hebr. emunot amitiot) und 4. die unverbindlichen ‚Glaubensmeinungen‘ (hebr. deʿ ot) diskutiert werden. Zu den ‚Wurzeln‘ der jüdischen Religionslehre zählt Crescas die Existenz, Einheit/Einzigartigkeit und Unkörperlichkeit Gottes, die auch zentraler Gegenstand in Maimonides’ Werk sind. Da Maimonides seine Beweisführung auf Basis der aristotelischen Prämissen geführt und sie für konstitutiv erklärt hat, unterzieht Crescas diese zunächst einer ausführlichen Kritik (1. und 2. Buch). Er will schließlich aufzeigen, dass die Gotteserkenntnis nicht durch philosophische Spekulation, wie von Maimonides behauptet, sondern dem Menschen allein durch die durch die Prophetie vermittelte Offenbarungstradition zugänglich ist. Es wäre dennoch nicht zutreffend, Crescas als einen bloßen Anti-Rationalisten abzustempeln; denn ähnlich wie Maimonides ist auch er der Meinung, dass die Vernunfterkenntnis im Grunde genommen nicht im Widerspruch zu Offenbarung steht. Vielmehr problematisiert er die Begrenztheit ihrer Erkenntnismöglichkeiten, was ebenfalls bereits von Maimonides thematisiert wurde. Es hat den Anschein, dass für Crescas der Konflikt zwischen Offenbarung und Vernunft weniger eine Frage der Epistemologie ist als vielmehr der Hierarchie im Aushandlungsprozess der beiden Erkenntnisquellen. Crescas geht es um mehr als nur eine bloße philosophische Kritik an der Philosophie; diskurstheoretisch würde man wohl sagen, dass er versucht ein neues Dispositiv zu etablieren.
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Entsprechend ist Crescas bestrebt, die von Maimonides vorgenommene und als grundlegend für das Verständnis des Religionsgesetzes konstatierte Synthese von Offenbarungstradition und Philosophie wieder zu trennen. Anders als beispielsweise der andalusischjüdische Dichter und Anti-Rationalist Jehudah ha-Levi (ca. 1075– 1141) will Crescas der philosophisch-universalistischen Perspektive auf die Offenbarungstradition keinen aus religiös-apologetischer Motivation artikulierten traditionsbasierten Partikularismus entgegensetzen. Da Crescas die Offenbarung als einen holistischen Zugang zur physischen und metaphysischen Wirklichkeit erachtet, muss es ihm folglich eher darum gehen, die intellektuell-philosophische Gotteserkenntnis als eine elitistisch-exklusivistische Einbahnstraße zu problematisieren. Denn eine rein intellektuelle Gotteserkenntnis stellt eine Beschränkung des Erkenntniszuganges dar, da sie nur in der einseitigen intellektuellen Liebe des Menschen zu Gott resultiert. Nach Crescas ist das Liebesverhältnis dagegen geprägt von Gegenseitigkeit: Auch liebt der Gott den Menschen – ja, die vollkommene Liebe Gottes zum Menschen übersteigt die Liebe des Menschen zu Gott sogar bei weitem (2. Buch, Kapitel 6). Davon zeugt gewissermaßen auch das Titelmotiv seines Werkes: Das Licht des Herrn bezieht sich nicht nur darauf, Licht in das Dunkel der aristotelischen Philosophie zu bringen (Einleitung), sondern der darin verwendete vierbuchstabige Gottesname (Tetragrammaton) repräsentiert nach traditionell-rabbinischem Verständnis die unermessliche Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu seiner Schöpfung und Geschöpfen. Das philosophische Problem besteht allerdings darin, dass die crescassche Konzeption der Liebe Gottes weder mit entsprechenden aristotelischen noch mit platonischen Vorstellungen vereinbar ist, da nach beiden Liebe letztlich immer ein Ausdruck von Körperlichkeit bzw. Mangelhaftigkeit und damit Unvollkommenheit ist; aber interessanterweise spiegeln sich in ihr Vorstellungen christlicher Gnadentheologie wider. Es scheint Crescas an dieser Stelle denn auch längst nicht mehr um ein primär philosophisches Argument zu gehen: Sind die Offenbarung und ihre Gebote von Gott dem Menschen als Ausdruck seiner unermesslichen Liebe gegeben worden, so erwidert der Mensch diese Liebe durch deren Erfüllung. Die Liebe des Menschen zu Gott verwirklicht sich folglich nicht durch intellektuelle Erkenntnis, sondern durch praktisches Handeln.
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Moses Maimonides und Chasdai Crescas
Am Scheideweg Maimonides und Chasdai Crescas eröffnen zwei unterschiedliche Zugänge und Optionen im Hinblick auf die Gotteserkenntnis: einen intellektuell-philosophischen und einen emotional-spirituellen. Crescas wird zwar von jüdischen Renaissance-Philosophen rezipiert und auch Pico della Mirandolla übersetzt und adaptiert Auszüge seiner anti-aristotelischen Kritik; später wird seine Gotteslehre schließlich von Baruch Spinoza aufgegriffen. Dennoch vermag sich Crescas’ Argumentation und Position im Jüdischen nicht so nachhaltig etablieren wie die von Maimonides. Letzterer bleibt das Paradigma mittelalterlichen jüdischen Denkens. Auch wird Crescas Werk nie ins Lateinische übersetzt und ist damit, anders als Maimonides, nicht Gegenstand eines breiteren philosophisch-theologischen Diskurses. Angesichts der hier gebotenen Kürze kann das philosophischtheologische Denken der beiden lediglich skizzenhaft erfasst werden. Aber ich hoffe, dass anhand des eröffneten Einblicks in den Diskurs zwischen Moses Maimonides und Chasdai Crescas dennoch deutlich geworden ist, dass die Grenzen zwischen theologischem und philosophischem Denken keineswegs statisch verlaufen, sondern immer einem dynamisch-diskursiven Aushandlungsprozess unterliegen. Im Fall von Maimonides’ Wegweiser für die Verwirrten und Crescas’ Licht des Herrn würde es von daher zu kurz greifen, sie eindeutig entweder als philosophische oder als theologische Werke bestimmen oder klassifizieren zu wollen. Vielmehr greifen Maimonides und Crescas in ihren theologisch motivierten Überlegungen und Argumentationen auf philosophische Methoden zurück, um dadurch argumentativ nachvollziehbar ihren eigenen Standpunkt oder Perspektive auf Gott, die Welt und ihre Phänomene artikulieren zu können – ihre Hashfakah. Warren Z. Harvey, Physics and Metaphysics in Hasdai Crescas, Amsterdam 1998. (Erstklassige und präzise Darstellung der wichtigsten philosophisch-theologischen Argumentationen und Positionen von Chasdai Crescas.)
Menachem M. Kellner, Dogma in Medieval Jewish Thought. From Maimonides to Abravanel, Oxford 1986. (Grundlegendes Überblickswerk über Akteure, Modelle und Diskurse mittelalterlicher jüdischer Dogmatik.)
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Joel E. Kraemer, Maimonides: The Life and World of One of Civilization’s Greatest Minds, New York 2008. (Das derzeitige Standardwerk zu Maimonides’ Leben und Werk.)
Haim Kreisel, Prophecy. The History of an Idea in Medieval Jewish Philosophy, Dordrecht 2001. (Das umfassende Standardwerk zur Epistemologie der Prophetie im mittelalterlichen jüdischen Denken.)
Frederek Musall, Herausgeforderte Identität. Kontextwandel am Beispiel von Moses Maimonides und Hasdai Crescas, Heidelberg 2008. (Kulturgeschichtlich-wissenschaftsgeschichtliche Kontextanalyse von Erfolg und Scheitern der philosophisch-theologischen Programme von Moses Maimonides und Chasdai Crescas.)
Kenneth Seeskin (Hg.), The Cambridge Companion to Maimonides, New York 2005. (Der Sammelband enthält zahlreiche wichtige Aufsätze zu allen grundlegenden Aspekten und Themen maimonidischen Denkens.)
Sarah Stroumsa, Maimonides in His World. Portrait of a Mediterranean Thinker, Princeton 2009. (Hervorragende biografische Einbettung von Maimonides in seinen mediterranen Kontext, mit vielen Bezügen zur arabisch-islamisch Kultur und Philosophie.)
Primat der wissenschaftlichen Vernunft
Thomas von Aquin Andreas Speer
„Ein kleiner Irrtum am Anfang wird am Ende zu einem großen.“ Mit diesem häufig zitierten Satz beginnt Thomas (1225–1274) seinen Traktat Über das Seiende und das Wesen, den er als junger Theologiedozent Anfang der 50er Jahre des 13. Jahrhunderts in Paris verfasst. Dieser für Thomas programmatische Satz bezieht sich nicht auf einen irgendwie gearteten moralischen Irrtum, sondern auf die grundlegende epistemische Frage, was der Verstand zuerst erfasst. Es geht um die Grundlegung und um die elementaren Bausteine unseres Wissens, aus deren Unkenntnis kein Irrtum entstehen dürfe. Doch ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Man muss die Schwierigkeiten vielmehr offenlegen, so Thomas, und sagen, was mit dem Wort Wesen (essentia) und Seiend (ens) bezeichnet wird, was diese Worte in dem je Verschiedenen bedeuten und wie sie sich zu den logischen Ordnungen von Art und Gattung verhalten. Um jedoch darüber sprechen zu können, was etwas ist, müssen wir zuvor davon reden, was es heißt, dass da etwas ist. Mithin geht die Feststellung, dass da etwas ist, der Untersuchung, was dasjenige ist, das wir wahrnehmen, voraus. Auf dieser grundlegenden Einsicht gründet alle Gewissheit. Wir können das den Primat der Aktualität nennen. Dieser Primat besagt zunächst, dass unsere Einstellung zur Welt grundsätzlich affirmativ ist und sich bejahend auf das bezieht, was ist. Unserem Erkennen liegt stets die Annahme zugrunde, dass wir etwas erkennen wollen, so wie auch unser Handeln stets voraussetzt, dass wir
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uns positiv auf etwas beziehen, das Gegenstand und Ziel unseres Handelns ist. Diese Grundeinstellung lässt sich leicht in unserem Alltag überprüfen – etwa wenn wir morgens zum Bäcker gehen, um unsere Frühstücksbrötchen zu kaufen. Zu dieser affirmativen Einstellung gehören die Nichtwidersprüchlichkeit unseres Sprechens ebenso wie der intendierte Bezug auf die real existierende Welt. Die Logik spricht in diesem Zusammenhang von Gültigkeit und Schlüssigkeit: Ein Satz ist dann wahr, wenn er logisch korrekt, d. h. widerspruchsfrei ist und sich auf eine reale Tatsache bezieht. Auf dieser Annahme beruht nicht nur unsere Alltagserfahrung, sondern gleichfalls die wissenschaftliche Einstellung zur Welt. Auch wer nach Wissen strebt, will stets etwas erkennen – und mehr: Das Streben nach Wissen kommt erst dann zur Ruhe, wenn etwas auch der Sache, d. h. seinem Wesen nach erkannt ist. Das gilt auch für die Gotteserkenntnis. Und so ist die Argumentation des Thomas stets auf die Klärung des in der jeweiligen Frage angesprochenen Sachverhalts ausgerichtet. Dies aber ist die Sache der Wissenschaft. Die Idee der Wissenschaft lässt sich als ein Wissen aus Gründen charakterisieren, die in einer allgemein akzeptierten und gültigen Form für alle an diesem Diskurs Teilhabenden gelten und einen spezifischen Wissensmodus begründen, der streng argumentativ verfährt. Das gilt zunächst unabhängig vom jeweiligen Wissenschaftsmodell. Dabei setzt Wissenschaft stets die Idee der Kommunikation in Form eines Arguments voraus. Diese Idee von Wissenschaft verbindet sich für Thomas vor allem mit Aristoteles, dessen Schriften im Zuge der sogenannten Aristotelesrezeption zusammen mit den Kommentaren und Schriften der arabischen Peripatetiker, allen voran des Averroes und Avicennas, ab der Mitte des zwölften Jahrhunderts zunehmend übersetzt und erschlossen werden. Für unseren Zusammenhang maßgeblich werden vor allem zwei aristotelische Werke: die Zweite Analytik mit ihrer Wissenschaftslehre und die Metaphysik mit ihrem Modell einer ersten Wissenschaft. Als im Jahre 1200 die Universität von Paris mit ihrer theologischen Fakultät gegründet wurde, wird binnen kürzester Zeit das Universitätscurriculum nach dem Modell der aristotelischen Wissenschaften umgestaltet.
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Theologie als Wissenschaft Die Theologie steht vor der Entscheidung, sich als Wissenschaft gemäß den Prinzipien der aristotelischen Wissenschaftslehre in den Kanon der universitären Wissenschaften einzufügen oder der Universität fernzubleiben. Wie wenig selbstverständlich der Weg zu einer Begründung der Theologie als Wissenschaft war, zeigt ein kurzer Blick in das christlich-abendländische Milieu des zwölften Jahrhunderts, das uns eine Fülle von alternativen Theologieverständnissen darbietet, die in einem teils freundschaftlichen, teils erbitterten Agon um das wahre Theologieverständnis rangen. Doch insbesondere die jungen Mendikantenorden, allen voran die Dominikaner mit ihren Leitfiguren Albertus Magnus und Thomas von Aquin, trugen maßgeblich dazu bei, dass die Theologie die Herausforderung annahm, sich dem Gespräch mit den neuen Wissenschaften zu stellen und in die wissenschaftliche Welt als Partner einzutreten. So wurde die Sorbonne zu einem Modell, das in den folgenden Jahren und Jahrzehnten schnell eine große Ausstrahlung auf die neu gegründeten abendländischen Universitäten, aber auch auf die Ordensstudien ausübte. In dieses Milieu tritt Thomas als Dozent ein, als er nach vierjähriger Assistententätigkeit bei Albertus Magnus in Köln auf dessen Empfehlung hin im Jahr 1252 nach Paris zurückkehrt, um dort die Sentenzen – das Dogmatiklehrbuch seiner Zeit – zu lesen und sich auf das Amt des Magisters in sacra theologiae, also des Theologieprofessors, vorzubereiten. Wie sehr Thomas die neue Wissenschaftslehre als Herausforderung begreift, zeigt sich in den Prologen zu seinen philosophischen und theologischen Schriften, die reich an wissenschaftstheoretischen Überlegungen sind. Thomas folgt Aristoteles in der Grundüberzeugung, dass die Wissensgenese vornehmlich auf dem Wege der Analyse und der Synthese nach Art des schlussfolgernden Denkens erfolgt. Dabei wird jedoch stets etwas vorausgesetzt, das selbst nicht mehr ein diskursiv zu vermittelndes Wissen darstellt. Dazu gehört zum einen das in der Erfahrung Gegebene, das nicht als solches, sondern vermittelt durch Abstraktion eingesehen wird; Thomas bekennt sich explizit zur empirischen via media des Aristoteles. Dazu gehören zum anderen die allgemeinsten Grundsätze und Prinzipien, die selbst eines Beweises weder fähig noch bedürftig sind, ohne die aber kein wirkliches Wissen erzeugt werden kann, wie der
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Satz vom Widerspruch. Die daraus erwachsende Wissensdynamik mündet in einem Wissen von den gewissen Prinzipien und Ursachen, vom Allgemeinsten und Ersten. Diesem Wissen im höchsten Sinne kommt gegenüber allem übrigen Wissen und den übrigen Wissenschaften eine ordnungsstiftende Funktion zu. Eben dieses Wissen um die ersten Prinzipien hatte Aristoteles als Theologie bezeichnet – und das frühe Christentum hatte bewusst die Theologie als Probierstein gewählt, um über den Wahrheitsanspruch der Glaubenslehre im Modus vernünftiger Rede Rechenschaft zu geben. Doch dieses Modell einer christlichen Theologie erfordert angesichts der wiederentdeckten aristotelischen ‚göttlichen Wissenschaft‘ eine Neubestimmung. Klarer als viele seiner Zeitgenossen sieht Thomas die aus dem Wissenschaftsanspruch der Theologie folgenden Spannungen, und deutlicher als diese macht er die kritischen Fragen zum Ausgangspunkt seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen. Erforderlich wird eine Grenzziehung zwischen den beiden ‚göttlichen Wissenschaften‘ sowohl hinsichtlich der Bestimmung ihres Gegenstandes wie in methodischer Hinsicht, und das heißt auch mit Blick auf das Ordnungsgefüge der Wissenschaften. In dieser Debatte bildet die Antwort des Thomas einen wichtigen Bezugspunkt. Für Thomas hängt diese Frage auf das engste mit der Bestimmung der Möglichkeiten der menschlichen Vernunft zusammen. So ist diese von Natur aus dazu bestimmt, die Wahrheit vermittels der körperlichen und sinnlichen Dinge zu erkennen, auf die sie ausgerichtet ist. Der für das Erkennen konstitutive Zusammenhang zwischen sinnlicher Wahrnehmung und geistiger Erkenntnis beschränkt somit die transzendentale Offenheit des Verstandes, die in seinem ersthaften Erkenntnisinhalt ‚Seiendes‘ (ens) gegeben ist, und bestimmt zugleich die Art und Weise, wie der Verstand das Einzelne erkennt: nicht unmittelbar, sondern reflexiv durch Hinwendung zu den phantasmata, den Vorstellungsbildern. Auf diese Weise bleibt auch die Erkenntnis der obersten Ursache, nämlich Gott, die etwas von der Materie und der sinnlichen Vorstellung Abgetrenntes ist, prinzipiell beschränkt, solange unsere Seele und damit unser Intellekt mit diesem irdischen Körper vereinigt ist. Im Lichte dieser Möglichkeiten unterscheidet Thomas eine zweifache göttliche Wissenschaft: zunächst eine philosophische oder natürliche Theologie, in der Gott betrachtet wird, sofern und wie wir ihn erkennen können. Doch diese Theologie ist an die Grenzen der
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natürlichen Vernunft gebunden. So können wir zwar seine Existenz, nicht aber sein Wesen auf natürliche Weise erkennen – sieht man von einigen allgemeinen Eigenschaften ab, wie dass Gott einer, wahr und gut ist. Daher bedarf es noch einer anderen Theologie, der Theologie der Hl. Schrift, deren Gegenstand Gott ist und in der er betrachtet wird, wie er in sich selbst ist. Eine solche Theologie überschreitet die Grenzen der natürlichen Vernunft und ist daher nur als Offenbarungstheologie möglich. Doch auch diese Offenbarungstheologie unterwirft Thomas der Strenge wissenschaftlicher Argumentation. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt von den Glaubensartikeln wie etwa die Mathematik von ihren Axiomen. Die wissenschaftliche Argumentation zwingt zudem zu einer klaren Rechenschaftsgabe über die Geltungsgründe der Prinzipien. Thomas spricht daher von einer zweifachen Wahrheit in Hinblick auf das von Gott Erkennbare: eine, zu der das Forschen der Vernunft aufgrund des natürlichen Lichts der Vernunft zu gelangen vermag, und eine andere, die alles Vermögen der Vernunft übersteigt und deshalb auf die Weise der Offenbarung zu uns herabsteigt. Doch wie kann eine solche Offenbarungstheologie Wissenschaft im strengen Sinne sein? Für die Lösung dieses Problems macht sich Thomas einen Grundsatz der aristotelischen Wissenschaftslehre zunutze: Keine Wissenschaft beweist ihre Prinzipien; diese können allenfalls in einer anderen bewiesen werden, die ihr darin übergeordnet ist. Die diesem Modell der Subalternation zugrundeliegende Idee ist die einer Ordnung der Wissenschaften nach dem Grad ihrer Allgemeinheit bzw. Spezialisierung. Zu den Standardbeispielen des Aristoteles, deren sich auch Thomas bedient, gehört etwa das Verhältnis von Geometrie und Optik oder von Arithmetik und Musik, wobei die subalterne Wissenschaft – in unserem Fall die Optik und die Musik – ihre Prinzipien den subalternen Wissenschaften der Geometrie bzw. der Arithmetik entnehmen, die diese Prinzipien beweisen. Denn alles Lehren und Lernen geht von etwas Vorhergewusstem aus – so beginnt Aristoteles seine Wissenschaftslehre; d. h. die Gültigkeit und Schlüssigkeit einer wissenschaftlichen Aussage hängt an der Evidenz ihrer Prinzipien. Die Lösung des Thomas in der berühmten ersten Quaestio seiner Summa theologiae besteht nun darin, die Theologie denjenigen Wissenschaften zuzuordnen, die ihre Prinzipien anderen, übergeordneten Wissenschaften entlehnen, welche dieses Wissen und seine
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Evidenz garantieren und damit auch die Wissenschaftlichkeit der nachgeordneten, subordinierten Wissenschaft sichern. Denn wenn auch wir in diesem Leben die Evidenz der in den articuli fidei – diese liegen als Prämissen der theologischen Wissenschaft zugrunde – ausgesagten Glaubensgeheimnisse nicht von uns aus kraft unserer natürlichen Vernunft erkennen können, so sind diese doch den Heiligen bekannt, die Gott schauen, wie er ist. Damit sieht Thomas den Wissenschaftscharakter der Theologie gesichert. Gott ist der gemeinsame Gegenstand der Theologie der Heiligen wie einer Theologie im Modus der Wissenschaft. Auf diese Weise richtet sich das Subalternationstheorem auch gegen ein Auseinandertreten von Vernunft von Glaube, von Wissenschaft und Spiritualität. Diese Lösung des Thomas, der den Wissenschaftscharakter der Theologie und den daraus folgenden epistemischen Status theologischer Argumente innerhalb der Grenzen der natürlichen Vernunft zu verankern sucht, birgt allerdings einige Folgeprobleme, die bereits seinen Zeitgenossen nicht verborgen blieben. Denn die Verlagerung der Evidenz auf das Wissen der Heiligen, dem die Theologie untergeordnet ist und ihre Prämissen verdankt, macht zugleich ihre Stellung im Ordnungsganzen der Wissenschaften im höchsten Maße problematisch. In Frage steht der Anspruch, die wahrhaft erste und göttliche Wissenschaft zu sein, kraft der Exzellenz ihres Gegenstandes und aufgrund der herausragenden Weise, von diesem zu handeln. Thomas verteidigt diesen Anspruch durch den Hinweis auf die Gewissheit der Offenbarung gegenüber der irrtumsbehafteten natürlichen Erkenntnis und mit Bezug auf die besondere Würde des Erkenntnisgegenstandes. Doch muss Thomas zugleich die Sonderstellung der Theologie in ihrem Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften anerkennen: Denn was die Theologie auszeichnet, ist letztlich der natürlichen Vernunft nicht aus sich heraus zugänglich. Es ist auch nicht in der gleichen Weise zu bewähren wie die Prinzipien der Metaphysik im prozeduralen Verfahren der Vernunft. Dies bedeutet im Kern die kritische Selbstbeschränkung des normativen Anspruchs der Theologie auf der Grundlage allgemein geltender Regeln. Nur als Wissenschaft nimmt die Theologie am universellen Wissensdiskurs teil, deren Spielregeln sie jedoch nicht bestimmt und begründet. Daraus folgt in der Konsequenz die Eigenständigkeit der Wissenschaften, die nicht länger der Theologie untergeordnet sind. Vielmehr sind alle Wissenschaften – auch die Theologie – nach Maßgabe
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der Wissenschaftsordnung aufeinander bezogen, entspringen sie doch gleichermaßen dem natürlichen Wissensverlangen des Menschen, das in der Gottesschau seine Vollendung findet. Vernunft und Glauben sind also ebenso wie Philosophie und Theologie aufeinander angewiesen, soll das Ganze der Wirklichkeit in den Blick kommen. Mit dieser Lösung befindet sich Thomas keinesfalls im ‚Mainstream‘ der zeitgenössischen Debatten um das Selbstverständnis der Theologie. Vielmehr wird seine Lösung von den meisten seiner damaligen Kollegen durchaus als Provokation empfunden, wie wir in den Debatten ‚für oder gegen Thomas‘ nachverfolgen können. Dass Thomas in späteren Jahrhunderten gar als antimodernistischer Herold herhalten musste, zählt zu den Merkwürdigkeiten der Rezeptionsgeschichte.
Wissensverlangen und Gotteserkenntnis Auch wenn für Thomas die Gotteserkenntnis somit prinzipiell beschränkt bleibt, so zieht er doch nicht den Schluss, dass eine solche vollkommene Erkenntnis unmöglich ist; dies wäre gegen die menschliche Natur und würde unser ganzes Streben letztlich sinnlos und vergeblich machen. Denn es ist ja die Vernunft selbst, die von diesen Fragen belästigt wird und diesen nicht entkommen kann. Doch andererseits folgt aus den Grenzen einer an die Sinnlichkeit gebundenen Vernunft, dass dem natürlichen Erkennen die Möglichkeit einer Gotteserkenntnis versagt ist, die zeigt, wer Gott seinem Wesen nach ist. Der natürlichen Erkenntnis bleibt allein der Aufweis seiner Existenz und der Weg über die Gottesnamen. Doch eine Gotteserkenntnis, die man durch Beweisführung gewinnt, vermag das menschliche Wissensverlangen letztlich nicht zu befriedigen. Dies sagt uns aber nicht nur die Theologie. Vielmehr nötigt uns gerade die metaphysische Analyse dazu, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten, auch wenn unser Denkvermögen diesen letzten Schritt nicht aus sich selbst zu tun vermag. Thomas spricht an vielen Stellen von einem natürlichen Verlangen nach Wahrheitserkenntnis, das wesentlich die Natur unserer Vernunft ausmacht. In seinem Kommentar zu einer der Grundschriften der mystischen Theologie Über die göttlichen Namen beschreibt Thomas dieses Verlangen nach Wahrheitserkenntnis als Wirkung
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unserer Ausstattung mit dem Erkenntnislicht und als einen dynamischen Kreislauf, sofern infolge des Lichts das Verlangen nach diesem Licht wächst und durch das gewachsene Verlangen wiederum das Licht zunimmt. Je mehr wir von diesem Licht aufnehmen, desto mehr begehren wir es, und je stärker wir es begehren, desto mehr wird davon uns gegeben. Das Verlangen kennzeichnet somit gleichermaßen den Ausgangspunkt und die grundlegende Struktur der Vollendung. Dies gilt nicht nur für die Vernunftnatur, sondern für die Seinswirklichkeit im Ganzen, deren immanente Dynamik von Thomas als ein Prozess von Ausgang und Rückkehr analysiert wird, als ein Kreislauf, dessen Ursprung und Ziel identisch sind. Allerdings findet sich dieses Ziel nicht in diesem Leben, sondern in der Vereinigung mit dem Göttlichen nach diesem Leben in der wesenhaften Schau Gottes. Ein solches Ziel können wir nicht erzwingen, es wird uns gnadenhaft zuteil. Thomas nimmt hier eine doppelte Grenzüberschreitung in Kauf: die übernatürliche Erfüllung eines natürlichen Strebeziels und den Übergang von der philosophischen zur theologischen Ordnung. Beides liegt in der Konsequenz seines Ausgangspunktes. Dieses Kreislaufmotiv bildet auch das übergreifende Ordnungsprinzip der Summa theologiae, an der Thomas während seiner zweiten Amtszeit als Theologiemagister an der Sorbonne 1268 bis 1272 arbeitet. Es sind stürmische Zeiten voll großer intellektueller Auseinandersetzungen, die ihm ein unvorstellbares Arbeitspensum abverlangen. Der Anlass für dieses Projekt einer Summe der Theologie war die Unzufriedenheit mit der theologischen Ausbildung der Mitbrüder. Doch nicht nur die Form der Theologieausbildung stand in der Kritik. Es ging um das Grundverständnis der Theologie angesichts des sich immer weiter ausdifferenzierenden Wissens. Diese Klärung in der Sache gehört für ihn zu den Aufgaben eines ‚Lehrers der katholischen Wahrheit‘, als den er sich sieht. Diese Aufgabe ist für ihn eine Aufgabe der Vernunft, die von Natur aus nicht nur nach Wissen, sondern nach Wahrheit strebt. Die wichtigsten Hinweise zum Aufbau seiner theologischen Summe gibt Thomas in den Prologen zu den drei Büchern: Es sei die vorrangige Absicht der Theologie, Gott zu erkennen, und zwar nicht nur wie er in sich ist, sondern auch als Ursprung und Ziel der Dinge und insbesondere der vernünftigen Geschöpfe. Daher handelt die theologische Summe erstens von Gott, zweitens von der Be-
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wegung der vernünftigen Geschöpfe zu Gott und drittens von Christus, der als Mensch für uns der Weg zu Gott ist. In dieser Einteilung erkennen wir das Kreislaufmotiv und den neuen systematischen Zugriff auf den zu behandelnden Stoff. Der Prolog zum zweiten Teil gibt uns einen weiteren Schlüssel in die Hand. Dort ist die Rede vom Menschen und seiner Sonderstellung im Rahmen der universalen Rückkehrbewegung der Schöpfung zu Gott als ihrem Ursprung und Ziel. Diese Sonderstellung gründet in dem besonderen Verhältnis der vernünftigen Kreatur zu ihrem schöpferischen Urbild: Der Mensch ist imago Dei, Bild Gottes, da er durch Vernunftbesitz, Entscheidungsfreiheit und Selbstmächtigkeit ausgezeichnet ist. Nur wer frei in seinem Tun und Ursache seiner selbst ist, kann das letzte Ziel des Universums, nämlich Gott, erreichen, indem er ihn liebt und erkennt. Folglich hat nur das vernunftbegabte Geschöpf eine unmittelbare Hinordnung auf Gott, denn allein das vernunftbegabte Geschöpf, d. h. der Mensch, erkennt den universalen Charakter von Gut und Seiend und erfährt damit eine Ausrichtung auf den universalen Ursprung alles Seienden. Die Sache der Theologie ist somit eine Sache des Menschen, der von Natur aus kraft seiner wahrheitsfähigen Vernunft ein Gottsucher ist. Marie-Dominique Chenu, Theologie als Wissenschaft im 13. Jahrhundert, aus dem Französischen von Michael Lauble, Ostfildern 2008. (Noch immer maßgebliche Studie zur Entwicklung der Theologie als Wissenschaft im ��. Jahrhundert, mit aktueller Einleitung.)
Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 3 1998. (Maßgebliche Monografie zur praktischen Philosophie des Thomas von Aquin mit einer guten Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie.)
Andreas Speer (Hg.), Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen, Berlin – New York 2005. (In �� Beiträgen ausgewiesener Experten wird ein Überblick über die großen Themen der Summa theologiae gegeben.)
Jean-Pierre Torrell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, aus dem Französischen übersetzt von Katia Weibel in Zusammenarbeit mit Daniel Fischli und Ruedi Imbach, Freiburg i. Br. 1995. (Magistrale biobibliografische Darstellung von Werk und Leben des Thomas von Aquin; Referenzwerk.)
Albert Zimmermann, Thomas lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. (Zählt zu den besten Einführungen in das Denken des Thomas; klar geschrieben.)
Mystische Aufbrüche an der Schwelle zur neuzeitlichen Moderne
Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus Saskia Wendel
Einführung In einer ‚kleinen Philosophiegeschichte‘ über Meister Eckhart (um 1260–1328) und Nikolaus Cusanus (1401–1464) zu schreiben mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, denn beide waren primär Theologen, nicht Philosophen. Doch gerade am Beispiel dieser beiden Denker wird deutlich, dass die Grenze zwischen Philosophie und Theologie nicht so eindeutig zu ziehen ist wie oftmals behauptet, jedenfalls dann, wenn man die Philosophie theologisch nicht nur für die Reflexion der sogenannten Vorfragen des Glaubens (praeambula fidei) zuständig erklärt und ansonsten auf sie als bloße Hilfswissenschaft für die argumentative Durchdringung von als geoffenbart verstandenen Glaubensüberzeugungen zurückgreift. Sowohl die Theologie Eckharts als auch diejenige des Cusanus sind Beispiele für ein philosophisches wie theologisches Denken, das sich nicht in den Bahnen der Theologie Thomas von Aquins und dessen Modell einer theologischen Aristoteles-Rezeption bewegt hatte, sondern sich eher an der Tradition einer ratio fidei, wie sie Anselm von Canterbury entwickelt hatte, orientiert hat. Thomas von Aquin hatte die Theologie als subalterne Wissenschaft konzipiert: Ihre Gehalte sind ihr dieser Perspektive zufolge durch ‚übernatürliche Offenbarung‘ gegeben. Zugleich sind sie unbeschadet von deren prinzipieller Verankerung in einem Offenbarungswissen der Theologie zur Reflexion und argumentativen Durchdringung aufgegeben, und dabei leistet ihr die Philosophie Unterstützung. Autonom kann die Philosophie und mit ihr die ‚natürliche Vernunft‘ in diesem thomasischen Modell allein auf der Ebene der Glaubensvoraussetzungen wie etwa der Frage nach der Existenz Gottes zu Werke gehen. Anselm von Canterbury hatte dagegen das Programm einer strikt rationalen und natürlichen Theologie formuliert, auch wenn der Glaube der Vernunft im Sinne eines erkenntnisleitenden Standpunktes vorausgeht (fides
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Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus
quaerens intellectum). In methodischer Einklammerung der in Christus ergangenen Offenbarung (remoto Christo) hat die Theologie den Glauben zu reflektieren und allein aus Vernunftgründen zu rechtfertigen, und dabei erstreckt sich ihre autonome Tätigkeit nicht allein auf die Voraussetzungen des Glaubens, sondern auf sämtliche Glaubensüberzeugungen, die die Vernunft aus sich selbst heraus denken und begründen kann. In dieser Tradition dominierte weniger die aristotelische Philosophie denn eine (neo-)platonische Ausrichtung, und diese kam auch bei Eckhart und Cusanus in besonderem Maße zum Tragen. Bei Meister Eckhart ist das insofern besonders interessant, weil er wie Thomas von Aquin ein Schüler des Albertus Magnus gewesen ist, dem zentralen Wegbereiter der Aristoteles-Renaissance in der christlichen Theologie. Diese wissenschaftstheoretische Diskussion des Theologieverständnisses und der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung weist in entsprechende Kontroversen in der neuzeitlichen bzw. modernen Philosophie und Theologie hinein bis hin zur Kritik eines instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnisses, welches Offenbarung als übervernünftige Mitteilung satzhafter Wahrheiten versteht (Extrinsezismus), und zu Neubestimmungen des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung und dementsprechend auch der Theologie als Wissenschaft. Eckhart und Cusanus können in ihrem Gegenentwurf zu Thomas somit auch als wichtige Referenzautoren für theologische Entwürfe gelten, denen es um das Konzept einer der Autonomie der Vernunft sich verpflichtenden rationalen Theologie zu tun ist, und die sich von extrinsezistischen Verhältnisbestimmungen von Vernunft und Offenbarung ebenso verabschiedet haben wie vom althergebrachten Verständnis der Theologie als einer subalternen ‚Glaubenswissenschaft‘. Doch noch in anderer Hinsicht sind Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus bis heute theologisch bedeutsam: Bei ihnen lassen sich zumindest Wurzeln bestimmter philosophischer und dann auch theologischer Motive finden, die in detaillierter Entfaltung zu zentralen Motiven neuzeitlicher Philosophie und Theologie geworden sind. In dieser Hinsicht stehen sie beide, wiewohl von ihrer Grundausrichtung her zweifelsohne noch in der mittelalterlichen Scholastik beheimatet, an der Schwelle zur Neuzeit. Entgegen dem Klischee des ‚finsteren Mittelalters‘ belegt dies exemplarisch die Existenz einer „Aufklärung im Mittelalter“ (K. Flasch), und es zeigt sich, dass
Mystische Aufbrüche an der Schwelle zur neuzeitlichen Moderne
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Philosophie- wie Theologiegeschichte weder nur als Ablauf streng abgegrenzter, einander ablösender Epochen noch nach dem Modell einer ewig waltenden philosophia perennis gedacht werden können, sondern als dynamischer Prozess konzeptioneller Kontinuitäten wie Diskontinuitäten zu verstehen sind. Zu den Kernmotiven, die sowohl Eckhart wie Cusanus zu Vorläufern und Wegbereitern neuzeitlichen Denkens machen, gehören erstens die Verknüpfung von Selbst- und Gotteserkenntnis und damit die Bedeutung des erstpersönlichen religiösen Erlebens auch in seiner Vorgängigkeit gegenüber einem Offenbarungsgeschehen extra nos. Der individuellen Religiosität kommt so eine hohe Bedeutung zu, ebenso der Autonomie des religiösen Erlebens gegenüber jeglichen religiösen Autoritäten oder Traditionen. Dazu passt auch das Konzept einer rationalen Theologie, das sich offenbarungstheologischen Begründungsformationen gegenüber eher zurückhaltend verhält. Zweitens kann gerade Eckhart als Vorläufer einer Theologie gelten, die sich in allen ihren Feldern von substanzontologischen Bestimmungen verabschiedet hat, hat er doch den Seelengrund nicht als Sache bestimmt, sondern eher in Analogie zum Begriff des Ereignisses als Geschehen bzw. Vollzug der permanenten Einung von göttlichem Grund und Grund der Seele. Und drittens ist insbesondere bei Cusanus eine Kosmologie zu finden, die Erkenntnisse der kopernikanischen Wende zumindest punktuell bereits vorwegnimmt wie etwa die Unendlichkeit des Alls. Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt, der Eckhart wie Cusanus für die Theologie der Gegenwart bedeutsam macht. Ihre rationale Denkform begrenzt die Philosophie wie die Theologie nicht nur auf die Rationalität des Intellekts und des reflexiv bestimmten Willens, sondern sie umfasst alle Vermögen der Vernunft und so auch die Dimension des vorreflexiven Erlebens und des intuitiven Erkennens, Wollens und Handelns. Zudem stellen beide die Grenzen der begrifflichen Erkenntnis gerade im Blick auf die Gotteserkenntnis heraus und schreiben ihrer Theologie ein Moment negativer Theologie ein, das der Rationalität der Denkform nicht widerstreitet, sondern lediglich darauf hinweist, dass Prädikate Gottes, und mögen sie auch rational gerechtfertigt sein, Gott niemals vollkommen bestimmen können und daher niemals univok, allenfalls analog ausgesagt werden können.
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Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus
Meister Eckhart: Einung mit Gott im Grund der Seele – mystische Theologie in scholastischer Denkform Das Zentrum von Eckharts Theologie ist die Lehre von der Geburt Gottes im Grund der Seele, von dort ausgehend entfaltet Eckhart seine weiteren theologischen Gedanken, so etwa die Lehre von der Abgeschiedenheit, der Gelassenheit und der geistigen Armut, aber auch Überlegungen zum Gottesverständnis, zur Christologie und zur Schöpfungslehre. Der Seelengrund ist bei Eckhart eine Kraft, ein Etwas in der Seele, aus dem alle Kräfte der Seele, d. h. alle ihre Vermögen, allererst entspringen. Hier vollzieht sich die unmittelbare, intuitive, intellektuelle Schau Gottes, modern formuliert: unmittelbares Gottesbewusstsein in der Einheit mit ebenso unmittelbarem Selbstbewusstsein. Gottes Selbstmitteilung ist zunächst kein äußeres Geschehen, sondern vollzieht sich immerwährend im Inneren des Menschen, im Vollzug der mystischen Einung mit Gott und der ewigen, permanenten Gottesgeburt im Grund der Seele. Dies kann zugleich als eine kontinuierliche Kreation sowie eine immerwährende Inkarnation Gottes in jedem Menschen verstanden werden, unbeschadet der besonderen Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth. Eckhart bezeichnet den Seelengrund mit vielen Metaphern wie z. B. Burg, Fünklein, Hut des Geistes, Kraft im Geiste, Licht des Geistes. Als Kraft in der Seele, nicht Kraft der Seele, ist der Seelengrund für Eckhart zeit- und ort- bzw. raumlos, berührt weder Zeit noch Fleisch und ist darin kein Seiendes im Sinne eines Dings oder einer Sache, ‚weder dies noch das‘. Für Eckhart ist der Seelengrund also der ‚ortlose Ort‘ der Einwohnung Gottes, den Gott ‚ihm selbst gleich gebildet und geschaffen‘ hat. Doch der Seelengrund ist für Eckhart im Gegensatz zur Geschaffenheit der Seele als ebenso ungeschaffen und unerschaffbar wie Gott anzusehen, dem er gleicht. Seelengrund und Gott sind wesensgleich, sie sind identisch ihrem Sein und ihrer Substanz nach. Wie Gott ist der Seelengrund Eines, kein Seiendes, und zudem als ‚Nichts‘ des Seienden unnennbar und namenlos, denn er entzieht sich dem diskursiven Sprechen und Erkennen, das immer auf Seiendes bezogen ist. Ebenso ist er wie Gott völlig leer,
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frei von allen Bildern, Dingen, Formen. Schließlich ist er das ‚einig Eine‘ ebenso wie die einfaltige Gottheit als Grund der Dreifaltigkeit der göttlichen Personen. In diesen Grund kann die Seele, also das Selbst, mittels seiner Vermögen niemals ‚hineinlugen‘, weil er über alle Weise und Kräfte erhaben ist. Das ist das zentrale Moment einer negativen Theologie bei Meister Eckhart: Göttlicher Grund wie Seelengrund entziehen sich dem Zugriff begrifflichen Denkens, sie werden zwar unmittelbar erkannt, nicht aber durchgehend begrifflich bestimmt. Dennoch folgt aus dieser Identität von Gottes Grund und Seelengrund keine vollkommene Identität von göttlichem Grund und dem Grund der Seele, sondern eine Identität in Differenz: Nur das ‚Bürglein in der Seele‘, nicht die Seele selbst und ihre Kräfte, ist Gott gleich. Der Mensch ist wie seine Seele geschaffen, also Geschöpf, in dieser Hinsicht individuell Seiendes, ‚hoc aut hoc‘ (dies und das), und demgemäß endlich Seiendes. In der Identität von Seelengrund und Gott ist also auch eine Differenz markiert, die in der Bezeichnung des Grundes als Bild Gottes zum Ausdruck kommt. Dieses Bild, das die Seele aufgenommen hat, ist Gabe, Geschenk Gottes, der sich der Seele als Bild eingegossen hat. Gott teilt sich im Bild, das der Grund ist, unvermittelt mit, ohne die Vermittlung des Willens oder des Denkens, aber auch ohne Vermittlung anderer, äußerlicher Bilder. In jenem Bildsein des Seelengrundes mit dem göttlichen Grund ist eine Identität beider ausgedrückt, eine Gleichheit, die mehr ist als ein Ähnlichkeitsverhältnis. Der ganze Mensch ist Bild Gottes, allerdings nur insofern er das Fünklein in sich trägt, das im eigentlichen Sinne Bild Gottes ist. Doch das Bild, wiewohl ein Sein und dasselbe Sein mit Gott, steht in einem radikalen Abhängigkeitsverhältnis zum absoluten, d. h. göttlichen Sein, da es sein Sein diesem völlig verdankt. Das Bild hat kein eigenes Sein und ist demnach dem Sein nach mit dem Urbild identisch. Zugleich gibt es jedoch eine Differenz zwischen absolutem Sein und endlichem, geliehenem, verdanktem Seienden, zwischen Schöpfer und Geschöpf, die sich jedoch nicht in einer Seinsdifferenz, sondern in einer Differenz von Ursprung und Entsprungenem, von Gebären und Geborenwerden bestimmt. Gleichzeitig verliert das Urbild im Bild nichts, es bleibt voll und ganz in ihm enthalten. Im Bildsein fallen also Identität und Differenz zu einer differenzierten Einheit bzw. Differenz in der Einheit zusammen.
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Der Mensch ist also immer schon Bild Gottes, weil er den Seelengrund als das Bild des Sohnes in sich trägt und dementsprechend dieses Bild selbst ist. Dieses Bildsein jedoch ist kein statisches, unveränderliches Sein, sondern wie das Sein des Seelengrundes Ereignis, Vollzug. Damit kommt ihm eine prozessuale Dynamik zu, das Sein des Bildes ist gleichzeitig ein Werden und damit offen für Geschichtlichkeit. Zudem ist der Mensch als In-der-Welt-Sein kontingent und somit kein vollkommenes Bild. Es ist ihm jedoch aufgetragen, zum reinen und vollkommenen Bild Gottes zu werden, und dies geschieht in der unio. Das bedeutet: Der Mensch soll und muss das realisieren und nachvollziehen, was er eigentlich schon ist, gemäß dem Grundsatz ‚Werde, was du bist!‘ Das Bild kann deshalb realisiert werden, weil es selbst schon Vollzug ist; im Vollziehen des Bildwerdens ist das Bild schon, nämlich Ereignis, Sein im Werden. Zudem muss der Mensch zum Bild werden, damit sich Gott ins Bild setzen, zur Erscheinung kommen kann. Damit der Mensch aber zum Bild Gottes werden kann, muss er sich aller anderen Bilder entledigen, auch der eigenen Bilder, nicht nur der fremden. Denn diese Bilder verstellen das unmittelbare Bild Gottes im Grund. Diese Entbildung also führt zum Bildwerden, zur Einbildung und Überbildung des Menschen in die Gottförmigkeit und Einheit mit Gott. Aus der Bildlosigkeit, dem Zerbrechen der Bilder, aus dem Sprung aus den Repräsentationen und Abbildern, entspringt das unmittelbare Bild, das kein Abbild ist, das Bild Gottes. Das entspricht der Abgeschiedenheit und Gelassenheit der Seele und dem, was Eckhart als geistige Armut bezeichnet. Sie führen zu einer neuen Art und Weise des ‚Zueigen-Seins‘ sowohl der Dinge, meiner selbst und letztlich auch Gottes, und zu einem neuen Reichtum der Seele. Die Lehre von der Abgeschiedenheit und Gelassenheit der Seele hat für Eckhart eine zutiefst ethisch-praktische Bedeutung: Abgeschiedenheit und Gelassenheit bezeichnen nicht nur ‚Zustände‘ der mit Gott geeinten Seele, sondern auch Haltungen, ja Tugenden. Sie ermöglichen den Weg der Seele in ihren eigenen Grund und damit die Einung mit Gott, sie beziehen sich jedoch auch auf die Haltung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu den Dingen. Insofern ist die Armut nicht allein eine geistige, sondern schließt auch materielle Armut mit ein in der Hinsicht, dass der wahrhaft Abgeschiedene und Gelassene auch dem Streben nach Besitz, Macht und Reichtum entsagt und sich dieser Wünsche entledigt. Der wahre Mystiker ist somit
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nicht derjenige, der sich ausschließlich in sein eigenes Inneres zurückzieht oder allein nach Seelenruhe und Seelenfrieden im Einklang mit Gott strebt. Nicht Weltflucht ist intendiert, sondern im Gegenteil ein neuer Zugang zur Welt, zu den Dingen, zum eigenen Selbst und zu Gott als dem alles tragenden Grund. Das erfordert auch tatkräftiges Handeln mitten in der Welt unter der Maßgabe des in der Einung Erkannten, also eine Einheit von vita activa und vita contemplativa.
Nikolaus Cusanus: Rationale Rechtfertigung des christlichen Glaubens in ‚belehrter Unwissenheit‘ Auch Cusanus konzipiert eine Form unmittelbaren Gottesbewusstseins, welches aber keine vollkommenen Bestimmungen bzw. materialen Gehalte Gottes quasi mitliefert. Denn Gott ist kein einzelnes Seiendes und damit weder Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung noch des Denkens; er übersteigt und umschließt den Gegensatz von Sein und Nichts bzw. von Selbstheit und Andersheit, von Identität und Differenz. Deshalb kann er auch nicht mit einem einzelnen Namen bzw. Prädikat positiv und durchgängig bestimmt werden – das ist das Moment negativer Theologie in Cusanus’ Denken. Hier schließt sich auch bei ihm eine mystische Theologie an: Nicht im zerlegenden, dianoetischen Denken, sondern in der intuitiven, unmittelbaren Schau, in einem dem Sehen Gottes entsprechenden Sehen, wird Gott als die Einheit aller Gegensätze und damit auch aller begrifflichen Bestimmungen erkannt. Dies aber kann nur momenthaft geschehen, da kein Mensch über die Fähigkeit dauerhafter vollkommener Erkenntnis verfügt. Diesem Theologieverständnis liegt ein besonderes Verständnis Gottes zu Grunde: Gott wird von Cusanus nicht in Analogie zu individuell Seiendem als Individuum oder von Anderem unterschiedene Entität verstanden, auch nicht als ein vom Nichtsein unterschiedenes ‚etwas‘ – in ähnlicher Weise hatte auch schon Eckhart Gott bestimmt: weder Dies noch Das, Seinsfülle im Vergleich zum Nichts, Nichts im Vergleich zum einzelnen Seienden. Gott ist für Cusanus die umfassende Einheit, die Koinzidenz aller Gegensätze (coincidentia oppositorum) – auch noch derjenigen von Sein und Nichts, Einheit und Unterschiedenheit, Einzelheit und Allgemeinheit. Gerade darin
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erweist er sich als der absolute Grund und Ursprung eines jeglichen Seienden und damit der Vielheit des Einzelnen und Besonderen. Als solcher existiert Gott Cusanus zufolge notwendig, da ohne ihn nichts existierte. In ihm fallen auch Einfaltung (complicatio) und Ausfaltung (explicatio) alles dessen, was ist, in eins. Gott faltet alles Seiende in Vielheit aus sich heraus, zugleich faltet sich alles, was ist, wiederum in ihn hinein – hier spiegelt sich das exitus-reditus-Motiv des Neoplatonismus, Ausgang des Vielen aus dem Einen und Rückkehr des Vielen in das Eine. Als Koinzidenz aller Gegensätze bzw. Widersprüche ist Gott jedoch nicht als absolute Identität bestimmt, sondern als Identität in Differenz, da er alle Differenzen in sich trägt und umfasst. Beides, Koinzidenz der Gegensätze als auch das Vexierbild von Einfaltung und Ausfaltung, sind Gedanken, auf denen Cusanus sein gesamtes theologisches Konzept aufbaut. Gott ist das absolut Größte, das grenzenlos Unendliche, das schrankenlos Unbedingte eben als Einheit aller Gegensätze, auch noch von Größtem und Kleinstem, Unendlichem und Endlichem, Unbedingtem und Bedingtem. Er setzt ein Anderes aus sich als sein Bild: das Universum. Dieses ist eins mit Gott insofern, als es aus ihm ist, aus ihm sich entfaltet – das ist ein analoger, kosmologisch geweiteter Gedanke zu Eckharts auf den Seelengrund applizierten Begriff des Bildes im Sinne eines Selbstausdrucks, einer Manifestation Gottes, den die Welt bzw. das Universum darstellt. Zugleich ist das Universum aber auch von Gott unterschieden, insofern, als es aus ihm ist: Es ist nicht uneingeschränkt, sondern lediglich eingeschränkt Größtes und Unendliches, es verdankt sich dem absoluten und uneingeschränkt Größten und Unendlichen, also Gott, der sich in das Universum ausfaltet, und in den es sich wiederum einfaltet. Schöpfung ist so verstanden nicht nur ein einmaliger Akt ‚im Anfang‘ aus Nichts oder Ordnung einer schon vorhandenen Materie, sondern Ausfaltung Gottes aus sich, also aus der Koinzidenz von Sein und Nichts, aber auch von Form und Stoff, Akt und Potenz,
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Geist und Materie, und in dieser Ausfaltung ist der Anfang mitgesetzt. Gott als die Koinzidenz der Gegensätze steht also nicht im Gegensatz zur Materie etwa als bloßer Geist oder reiner Akt, sondern er umfasst auch die Materie, die ihm zugehört, und schließt in seine Aktualität alle Potentialitäten mit ein. Schöpfung ist somit nicht nur einmaliger Akt, sondern immer auch ein permanentes, prozessuales Geschehen von Ausfaltung und Einfaltung, von Ausgang und Rückkehr. Neben die Vorstellung einer creatio originans im Moment der Ausfaltung Gottes tritt gleichursprünglich diejenige der creatio continua des Universums in jenem Vollzug der Ausfaltung. In der weiteren Folge leitet Cusanus aus diesen Gedanken die zentralen Gehalte des christlichen Glaubens ab, wie etwa Trinität, Inkarnation, Auferstehung, Eschatologie, bis hin zur Legitimation der Existenz der Kirche, entwickelt also eine rationale Theologie, die die Glaubensüberzeugungen aus Vernunftgründen und nicht etwa im Rückgriff auf Schrift oder Tradition zu rechtfertigen sucht. Das erinnert an die ratio fidei Anselms von Canterbury. Die Trinität etwa rechtfertigt Cusanus durch die These, dass in Gott als Koinzidenz der Gegensätze insbesondere auch drei Momente in eins fallen, die ihn als diese Koinzidenz wesentlich bestimmen: Einheit (Vater), Gleichheit (Sohn) und Verbindung (Geist). Die Trinität ist also kein Glaubensmysterium oder eine nachträgliche ‚übernatürliche‘ Hinzufügung zu einem ‚natürlichen‘ Gottesverständnis, sondern sie ergibt sich notwendig und intrinsisch daraus, dass Gott als das Absolute die Einheit der Gegensätze ist. Das Gleiche gilt für die Inkarnation: Der Gedanke der Menschwerdung Gottes ist für Cusanus kein durch übernatürliche Offenbarung Hinzutretendens, sondern ein Gedanke, den der Intellekt aus sich selbst heraus zu denken vermag, und der auch strikt rational zu rechtfertigen ist. Denn wenn Gott die Koinzidenz der Gegensätze ist, dann schließt er ja in sich auch den Zusammenfall des Gegensatzes von Größtem und Kleinstem, Unbedingtem und Bedingtem, Schöpfer und Geschöpf ein. Der menschgewordene Gott aber ist nichts anderes als dieser Zusammenfall, in ihm drückt sich Gott als dieser Zusammenfall auf vollkommene Weise unter endlichen Bedingungen aus, er ist eingeschränkt und absolut Größtes, Kreatur und Gott zugleich. Die Koinzidenz begründet die Einheit wie Unterschied von Gott und Kreatur in einem Menschen; Mikrokosmos und Makrokosmos fallen in eins
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im Gottmenschen, der solcherart als Einzelner das ganze All in sich trägt und zum Ausdruck bringt. So rechtfertigt Cusanus auch den Gedanken, dass Christus sowohl eine individuelle als auch eine universale, kosmische Gestalt, einzelne Person wie Korporativpersönlichkeit, ist. Dass es aber Jesus von Nazareth ist, in dem sich dies ereignet hat, das kann Cusanus nicht mehr sola ratione rechtfertigen, an diesem Punkt muss er dann doch auf das überlieferte Bekenntnis zurückgreifen, dass Jesus von Nazareth der Christus, mithin der menschgewordene Gott ist. Dabei rekurriert er auf Zusatzannahmen, die alles andere als selbstevident sind: die Sündlosigkeit Jesu, die Vollkommenheit des Körpers Jesu, die Wundertaten Jesu, also letztlich auf den tradierten Glaubwürdigkeitserweis des ‚Geistes und der Kraft‘. An diesem Punkt bleibt also auch dem rationalen Theologen Cusanus nichts anderes, als in ‚belehrter Unwissenheit‘ die Tradition des Christusbekenntnisses glaubend anzuerkennen und damit in den Glauben zu springen, dass sich in Jesus von Nazareth tatsächlich Selbstoffenbarung und Inkarnation Gottes vollzogen hat. Rational rechtfertigbar ist der Gedanke der Menschwerdung Gottes, nicht aber die Überzeugung, dass sie sich tatsächlich ereignet hat, noch dazu in dem konkreten Menschen Jesus aus Nazareth. Doch auch dies entspricht genau besehen der Konfiguration der Theologie Anselms. Es ist der Glaube, der nach Einsicht sucht, nicht aber der Intellekt, der sich auf Basis eines argumentativen Verfahrens aller erst zum Glauben entschließt, und das unterscheidet die rationale Theologie des Cusanus von einem strikten Rationalismus. Kurt Flasch, Nicolaus Cusanus, München 32007. (Grundlegende, detaillierte Darstellung des gesamten Werkes des Cusanus mit Erläuterungen der philosophie- und theologiegeschichtlichen Hintergründe sowie einer wirkungsgeschichtlichen Einordnung.)
Kurt Flasch, Meister Eckhart. Philosoph des Christentums, München 3 2011. (Umfassende Erläuterungen zur Theologie Meister Eckharts, die durchgängig als Philosophie und spekulative Metaphysik verstanden wird, dabei auch Kennzeichnung der Unterschiede zur Aristoteles-Rezeption in anderen Richtungen der Dominikanerschule nebst philosophie- und theologiegeschichtlicher Einordnung in die zeitgenössischen scholastischen Debatten.)
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Johann Kreuzer, Gestalten mittelalterlicher Philosophie. Augustinus, Eriugena, Eckhart, Tauler, Nikolaus von Kues, München 2000. (Philosophiehistorische Einführung in repräsentative Konzeptionen mittelalterlicher Philosophie und Theologie vorrangig (neo-)platonischen Typs, dabei auch Erläuterungen zu Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus auch mit Hinweisen zu deren neoplatonischer Ausrichtung.)
Reiner Manstetten, Esse est deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, Freiburg/München 1993. (Ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung vor allem mit Meister Eckharts Seelengrundlehre und deren theologischen Implikationen etwa hinsichtlich der Schöpfungslehre, des Gottesverständnisses und insbesondere der Christologie. Ein besonderer Akzent liegt auch auf Eckharts Programmatik rationaler Theologie und der Verknüpfung von Mystik und Scholastik.)
Dietmar Mieth, Meister Eckhart, München 2014. (Einführung in Leben und Werk Meister Eckharts und Überblick über die zentralen Kernmotive seines Denkens, auch mit Akzent auf die Bedeutung für die Ethik.)
Von den Debatten des Spätmittelalters in die Frühe Neuzeit
Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham Stefan Seit
Johannes Duns Scotus und die Begründung der Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden als einem solchen Johannes Duns Scotus (1265/66–1308) ist einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen des lateinischen Hochmittelalters; er gilt nicht zuletzt als einer der wichtigsten Erneuerer der Metaphysik mit einer direkten und indirekten Wirkungsgeschichte bis weit in die Neuzeit hinein. Für die (Neu-)Begründung der Metaphysik als Kerndisziplin der Philosophie im Kontext der mittelalterlichen Universität spielt namentlich die Frage nach dem Verhältnis der Metaphysik als philosophischer Theologie zur sacra doctrina, wie sie an den Theologischen Fakultäten betrieben wurde, eine entscheidende Rolle: Ist Gott ausschließlich Gegenstand des Glaubens oder (auch) der vernünftigen Erkenntnis? Wo liegen – ggf. – die Grenzen der natürlichen rationalen Gotteserkenntnis? Wo setzt die philosophische Gotteserkenntnis an, kann sie dem Glauben widersprechen oder besteht ein komplementäres Verhältnis? In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen legt Scotus – im Rückgriff auch auf Anselms von Canterbury unum argumentum – einen ‚Gottesbeweis‘ vor, der erstmals im engeren Sinn als ‚ontologischer‘ Beweis bezeichnet werden kann. Systematisch grundlegend ist
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dabei die Überlegung, das Wort ens (‚seiend‘) müsse in allen möglichen Verwendungskontexten, d. h. in Bezug auf Gott und auf die Geschöpfe, in Bezug auf Substanzen, d. h. selbständige Seiende, und ihre (akzidentellen) Eigenschaften, dasselbe bedeuten (‚Univozität des Seienden‘). Scotus grenzt sich damit programmatisch von der Auffassung ab, die vor ihm Thomas von Aquin, v. a. aber Heinrich von Gent vertreten haben: ‚Seiend‘ habe zwar nicht gänzlich verschiedene Bedeutungen, weil diese sich von einer gemeinsamen Grundbedeutung herleiteten, die Bedeutungen seien aber auch nicht exakt dieselben. ‚Seiend‘ werde also weder univok noch äquivok, sondern analog gebraucht (‚Seinsanalogie‘). Dagegen wendet Scotus im Rückgriff auf Augustins Argumentation gegen die Akademische Skepsis ein, man müsse bereits einen univoken Begriff des Seienden voraussetzen, um dann, gleichsam innerhalb der schlechthin gemeinsamen Bedeutung, Seiende mit dieser und jener besonderen Bestimmtheit unterscheiden zu können. Das ‚Seiende als Seiendes‘ (ens inquantum ens), das somit freilich nicht mehr (oder noch nicht) inhaltlich bestimmt ist, kann schlechterdings nicht anders als univok verstanden werden und stellt genau deshalb den einen Gegenstand der Metaphysik als einheitlicher Wissenschaft dar (die sich somit zur Lehre vom Seienden – Ontologie – entwickelt). Diese kann und muss damit nicht mehr, wie etwa bei Thomas, zugleich Lehre von den Erstursachen (‚Erste Philosophie‘), von den getrennten Substanzen (‚Theologie‘) und vom Seienden als solchem (‚Metaphysik‘ i. e. S.) sein. Scotus versteht dabei das ens inquantum ens als den fundamentalen, den ersten und letzten klaren Denkinhalt des menschlichen Intellekts: Alles, was der Intellekt überhaupt erfasst, ist als solches ein ‚Seiendes‘ ; der Intellekt erfasst nie Nicht-Seiendes. Damit ist freilich keineswegs gesagt, dass jeder Erkenntnisgegenstand auch extramentale Existenz besitzt, denn auch bloß Ausgedachtes ist ‚im Denken‘. Für Scotus muss und kann die natürliche Gotteserkenntnis beim ens inquantum ens ansetzen. Er vertritt die Auffassung, dieses sei auch der höchste Begriff, den der Mensch von Gott haben könne; auch Gott nehme deshalb auf diese fundamentale menschliche Erkenntnisvoraussetzung direkt Bezug, wenn er sich in Ex 3,14 als „Ich bin, der ich bin“ offenbare, also als (im Höchstmaß) seiend zu erkennen gebe, und umgekehrt sei die Offenbarung für den Menschen allein im Ausgang vom Begriff des Seienden verständlich, der
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Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham
folglich den Zusammenhang zwischen Metaphysik und sacra doctrina begründet. Anders als beispielsweise die quinque viae des Thomas von Aquin setzt der Gottesbeweis des Johannes Duns Scotus also nicht etwa bei der natürlichen Wirklichkeit und ihrer Veränderung an, sondern allein beim Intellekt selbst, Gott als Gegenstand des Glaubens ist nicht in erster Linie identisch mit der Erstursache der Natur, die etwa aus dieser heraus erkannt werden könnte. In seinem Traktat De primo principio geht Scotus deshalb von der Analyse der ‚wesentlichen Ordnung des Seienden‘ aus, die also nicht lediglich auf beiläufigen Merkmalen beruht. Er zeigt, dass, insofern der Intellekt mehrere verschiedene Seiende erfasst, diese in mehrfacher Hinsicht in geordneten Verhältnissen stehen, d. h. etwa als Ursache und Wirkung aufeinander bezogen sein müssen. Ursachenreihen wiederum müssen letztlich in einem ‚ersten Prinzip‘ gipfeln, wobei (spätestens) dieses nicht mehr nur im Denken existieren kann. Scotus vertritt zudem die Ansicht, dass diese Erstursache nicht allein als real existierend, sondern auch als einfach, unendlich, weise und wollend erkannt werden kann. Dem entspricht es, dass Scotus die von Gott aussagbaren Vollkommenheiten (wie eben ‚Weisheit‘) zu den Transzendentalien, d. h. zu den überkategorialen Bestimmungen des ‚Seienden als eines Seienden‘ (passiones entis), rechnet. Einige weitere aus theologischer Sicht wichtige Theoriestücke stehen im Zusammenhang mit dem Metaphysikkonzept des Johannes Duns Scotus: Wiederum in Abgrenzung gegen Heinrich von Gent (dem er eine falsche, nämlich ihrerseits ‚skeptizistische‘ Lesart der Auseinandersetzung des Augustinus mit der Akademischen Skepsis vorwirft) postuliert Scotus die Möglichkeit echten Wissens puris naturalibus, das der Intellekt des Menschen also allein mit natürlichen Mitteln gewinnen könne, für das er nicht auf eine übernatürliche Erleuchtung (illustratio) angewiesen sei. Näherhin zeigt er, dass es sichere Wahrheitserkenntnis durch Erfahrung (per experientiam) geben kann, – obwohl, wie auch Scotus zugibt, die Sinneswahrnehmung selbst nicht verlässlich ist. Ausgangspunkt ist hier die Überlegung, der Intellekt – Scotus deutet die Lehre des Aristoteles vom Widerspruchsverbot als ‚Prinzip der Prinzipien‘ gleichsam psychologisierend – könne als solcher niemals zugleich einander widersprechende Zustände annehmen. Dies korrespondiert mit der Behauptung des ens inquantum ens (also dessen, dem es nicht widerstreitet, zu sein) als des fundamentalen Inhaltes des Intellekts. Ele-
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mentare Sinneseindrücke werden nun auf der Grundlage des Widerspruchsverbots schrittweise in Erfahrungsurteilen verknüpft bzw. diese Verknüpfungen korrigiert. Dabei bedient sich der Verstand grundlegender Verbindungen von Ordnungsbegriffen (wie Ursache und Wirkung, Teil und Ganzes), die deshalb verlässlich sind, weil sich diese Begriffe wechselseitig definieren. Die Regel ‚keine Wirkung ohne Ursache‘ etwa, die der Verstand, wenn er Sinneswahrnehmungen gleichsam synthetisiert, an diese heranträgt, ist deshalb verlässlich, weil sie ein analytisches Urteil darstellt. In der Frage nach dem Status der allgemeinen Begriffe (Universalien) vertritt Scotus eine moderate Position: Die den Einzeldingen gemeinsamen ‚Naturen‘, auf die Universalien zielen, sind zwar nicht real, aber doch formal von den Einzeldingen verschieden. Allgemeinbegriffe sind also keine substantiell selbständigen ‚Dinge‘, ohne deshalb jedoch nur ein Sein im (menschlichen) Intellekt zu besitzen: Obwohl die Natur, die folglich weder im strengen Sinn allgemein (universalis) noch einzeln (singularis), sondern mehreren Einzeldingen gemeinsam (communis) ist, ebenso wie der individuierende Unterschied real nur im Einzelding existiert, besteht in der Wirklichkeit eine gleichsam in den Dingen selbst liegende begriffliche Ordnung.
Nominalismus und absolute göttliche Macht bei Wilhelm von Ockham Demgegenüber lenkt Wilhelm von Ockham (ca. 1286–ca. 1349) den Blick ganz auf das Einzelding: Jedes extramentale Ding ist im eigentlichen und strengen Sinn ein einzelnes, und zwar ohne dass eine irgendwie – real oder formal – übergreifende ‚Natur‘ erst durch ein hinzutretendes Individuationsprinzip vereinzelt würde. In der Folge sind Universalien ausschließlich im (menschlichen) Intellekt. Diese Zuspitzung weist erhebliche theologische Implikationen auf: Nach Scotus bleibt der göttliche Willensakt – derjenige Akt, in dem Gott als Schöpfer die Einzeldinge zum Dasein bringt – noch an eine immanente rationale Struktur zurückgebunden: Gott schafft zwar nicht nach einem ‚vorgängigen‘ begrifflichen Plan, dieser ist jedoch dem Schöpfungsgeschehen eingeschrieben. Ockham jedoch fokussiert ganz auf das Einzelding, das von Gott durch einen Willensakt ins Dasein gebracht wird. Dabei ist die göttliche (All-)Macht als
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solche nicht durch eine vernünftige Ordnung limitiert, sondern im strengen Sinn absolut (potentia absoluta). Das heißt freilich wiederum nicht, dass Gott willkürlich Willensakte setzte, die nichts miteinander zu tun hätten und womöglich zueinander im Widerspruch stünden, so dass – aus der Sicht des Menschen – die Welt ohne (auch moralisch) verbindliche Ordnung wäre. Auch Kategorien wie ‚gut‘ und ‚böse‘ verlören durchaus nicht jede Bedeutung, weil ‚gut‘ etwa immer nur das wäre, was Gott je aktuell vom Menschen forderte: Gott will zwar nicht etwas, weil es aufgrund einer höherrangigen Vernunftordnung gut wäre, sondern etwas ist gut, weil Gott es will und befiehlt. Gleichwohl limitiert Gott selbst willentlich seine als solche absolute Macht: Er weicht von einmal gesetzten Willensakten nicht mehr ab; der göttliche Wille gibt sich so selbst eine Ordnung, die Macht Gottes ist insofern stets auch eine geordnete (potentia ordinata). Mit dieser Lehre von der Selbstbindung des göttlichen Willens begibt sich Ockham in die radikale Opposition zu jedem intellektualistischen Nezessitarismus, wie er von den konsequenten Aristotelikern des 13. Jahrhunderts vertreten wurde. Trotz der Absage an einen Willkürgott lockert Ockham deshalb die Verbindung zwischen vernünftiger, philosophischer Gotteserkenntnis einerseits und religiösem Glauben andererseits noch mehr, als dies bereits bei Scotus der Fall ist: In dem Maße, in dem Gott nicht als ein selbst primär vernünftiges Wesen verstanden wird, das (in Schöpfung und Erlösung) in Übereinstimmung mit seiner Vernunft willentlich handelt, sondern als ein primär willentliches Wesen, entziehen sich Gott und sein Heilsplan der menschlichen Erkenntnis. Auch das Projekt eines Gottesbeweises tritt folgerichtig bei Ockham weitgehend zurück, Glaube und Theologie werden von ihrer Bindung an die Philosophie und von ihrer Ausrichtung auf eine verstandesmäßige Einsicht (im Sinn des Anselmischen ‚ich glaube, um einzusehen‘) immer weiter freigestellt. Dies hat dramatische Auswirkungen auf zentrale Inhalte des christlichen Glaubens wie
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beispielsweise die Trinitätslehre: Während Scotus noch darum bemüht war, die Lehre von Gott als einem in drei Personen rational einzuholen und mit den Gesetzmäßigkeiten der (menschlichen) Logik in Einklang zu bringen, muss Ockham Gott in dieser Hinsicht einen absoluten Sonderstatus zuweisen: Der Glaube an die Trinität übersteigt jede Logik. Für die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie (im Sinn der sacra doctrina) heißt das, dass der Akzent sehr weitgehend auf die methodische Korrektheit der Schlussfolgerungen verlagert werden muss, die der Theologe, unabhängig davon, ob er persönlich gläubig, ungläubig oder Häretiker ist, aus Glaubensinhalten ableitet von denen er ‚Kenntnis genommen‘ hat. Erhebliche Bedeutung kommt Wilhelm von Ockham auch im Kontext der kirchenpolitischen Situation seiner Zeit zu: Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen dem Papsttum und dem Franziskanerorden um das Problem der Armut der Kirche begibt sich Ockham unter den Schutz Ludwigs des Bayern, den er in der politischen Auseinandersetzung mit dem Papsttum propagandistisch unterstützt. Dieser Konstellation verdankt sich der Dialogus, Ockhams politisch-theoretisches Hauptwerk, in dem dieser insbesondere Herrschaftsansprüche des Papstes bestreitet, die in den weltlichen Bereich hinreichen. Im Zentrum des Konzeptes steht eine entfaltete Lehre vom Eigentumsrecht sowie vom Recht des Gebrauchs an überlebenswichtigen Gütern – sozialen Strukturen, deren Einrichtung Gott dem Menschen nach dem Sündenfall zugesteht, die aber ebenso wie die je konkreten Formen der weltlichen und kirchlichen Herrschaft historisch kontingent sind, aber an ihren Zweck, die Sicherung des (Über-)Lebens in der postlapsarischen Konkurrenzsituation, zurückgebunden bleiben. Auch Herrschaftsrechte, die in einer dem Eigentum korrespondierenden Weise erworben werden, haben deshalb keine absolute, womöglich göttliche Legitimation, sondern unterliegen einer sozialen Kontrolle: Amtsträger, die ihren Aufgaben nicht angemessen nachkommen, können abgesetzt, u. U. auch bestraft werden. Dies gilt ebenso für kirchliche Funktionäre: Auch deren Legitimation muss sich an der sozialen Aufgabe der Institution messen lassen. Hans Kraml / Gerhard Leibold, Wilhelm von Ockham, Münster 2003. (Als knappe, konzise und überblicksartige Einführungen in die Philosophie und die Theologie des Johannes Duns Scotus und des Wilhelm von Ockham sind die oben
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stehenden drei Titel besonders für Anfänger geeignet; Spezialprobleme und -diskussionen bleiben ausgespart, die genannten Einführungen bieten jedoch einen guten Einstieg in die (ältere) Forschungsliteratur. In den Bänden von Ingham und Kraml/Leibold finden sich außerdem Quellenauszüge, die mit Blick auf die Bedürfnisse von Anfängern ausgewählt und kommentiert sind, die einen Zugang zu den philosophisch-theologischen Theorien im Ausgang von Primärtexten suchen.)
Thomas Williams (Hg.), The Cambridge Companion to Duns Scotus, Cambridge u. a. 2003. (Detaillierte, aber noch immer knappe und eher einführende Gesamtdarstellungen bieten die vorstehenden beiden Bücher, in denen jeweils verschiedene Autoren in überschaubaren Kapiteln die einzelnen systematischen Aspekte der Philosophie und Theologie des Johannes Duns Scotus bzw. des Wilhelm von Ockham behandeln; die Bände sind somit für die weiterführende Lektüre gut geeignet, die klare Gliederung erlaubt eine schnelle Orientierung; umfangreiche Literaturhinweise erschließen die ältere Forschungsliteratur.)
Ludger Honnefelder, Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster 1979. (Noch immer absolut grundlegend für die Metaphysik des Johannes Duns Scotus. Bei diesem Band handelt es sich um eine sehr detail- und voraussetzungsreiche wissenschaftliche Studie, die als Einführungsliteratur eher nicht geeignet, aber schlechterdings unverzichtbar ist, wenn es um eine weiterführende Beschäftigung mit Scotus geht.)
Volker Leppin, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003. (Breiter angelegte, allgemeinverständliche Hinführung zu Wilhelm von Ockham aus der kirchenhistorischen Perspektive. Leppins Interesse an Ockham speist sich nicht zuletzt auch aus der Bedeutung dieses Autors für Martin Luther, sodass er Ockham insbesondere auch unter dem Aspekt der Wirkungsgeschichte der spätmittelalterlichen Philosophie und Theologie in den Blick nimmt.)
Herbert Schneider / Marianne Schlosser / Paul Zahner (Hg.), Duns-ScotusLesebuch, Mönchengladbach 2008. (Eine weiter ausgreifende Darstellung spezifischer, systematisch zentraler Aspekte der Philosophie und Theologie des Johannes Duns Scotus, die konsequent von gezielt ausgewählten Quellenauszügen her angelegt ist. Der Band macht es möglich, thematisch fokussiert Originaltexte kennenzulernen, die sonst nicht in deutscher Übersetzung vorliegen.)
Der Gnadenstreit
Luis de Molina Johannes Grössl
Der Gnadenstreit im 16. und 17. Jahrhundert Im Jahre 1588 veröffentlichte der spanische Jesuit Luis de Molina in Lissabon seine Schrift Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione concordia, mit der er die spanische Inquisition gegen sich aufbrachte. An vorderster Front stand dort der Dominikaner Domingo Báñez, der – noch vor einer ausführlichen Untersuchung – den damaligen königlichen Vertreter in Portugal dazu brachte, die Verbreitung des Buches zu verhindern. Nachdem Molina jedoch eine Erwiderung auf alle Anklagepunkte schrieb, erschien die Concordia erneut, nun mit einer Replik Molinas auf die Anfragen als Anhang. Der durch diese Publikation weiter entfachte Disput über das Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade wird allgemein als Gnadenstreit bezeichnet. Papst Paul V. beendete diesen Streit vorläufig, indem er im Jahr 1607 – sieben Jahre nach dem Tod Molinas – entschied, dass beide Parteien zumindest keine offensichtlichen Häresien vertreten und deshalb der Friede innerhalb der Kirche und zwischen den Ordensgemeinschaften wichtiger als eine schnelle Klärung der Streitfrage sei. Beide Seiten distanzierten sich nämlich von ihren möglichen „Extremformen“: Die Dominikaner unterscheiden sich vom Reformator Johannes Calvin sowie vom späteren Jansenismus: Der freie Wille werde nicht zerstört. Die Jesuiten unterscheiden sich vom Pelagianismus: Der Anfang des Heils liege nicht in uns. Papst Paul verbot eine gegenseitige Verurteilung der Positionen, solange die The-
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sen zur Willensfreiheit und Gnade des Konzils von Trient bejaht würden. Dieses Konzil hatte sich – vor allem in Positionierung gegen Luther – dafür ausgesprochen, dass die menschliche Willensfreiheit auch im Stand der Erbsünde und selbst gegenüber dem auf die Rechtfertigung hinzielenden Gnadeneinfluss Gottes bestehe, wenn auch in geschwächter Form. Der Mensch könne der göttlichen Gnade frei zustimmen oder nicht zustimmen (voluntaria susceptio; vgl. DH 1525; 1554). Molina hält ausdrücklich daran fest, dass zur Freiheit gehört, dass der Mensch auch anders handeln kann. In seiner Concordia schreibt er: „[Gott weiß, …] was die aus Freiheit wirkenden Ursachen in jeder beliebigen Ordnung der Dinge tun würden – obwohl sie tatsächlich, wenn sie wollten, das Gegenteil hervorbringen könnten […]“ (Concordia, Disp. 52, 29 f.).
Molinas Freiheitsbegriff Molina entnahm seinen Freiheitsbegriff der scotistisch-nominalistischen Tradition. Die Franziskaner, speziell Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, vertraten im späten Mittelalter bereits ein Menschenbild, nach dem man sich unter gleichen Umständen – nämlich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte – für oder gegen eine Position, selbst gegen die Vernunft entscheiden konnte; viele Dominikaner meinten hingegen in platonischer Tradition, dass eine unvernünftige Entscheidung immer einer Schwäche der geistigen Kräfte geschuldet ist. Festgehalten kann werden, dass die Diskussion über ein Freiheitsverständnis mit der Macht über alternative Möglichkeiten schon viele Jahrhunderte andauerte und durch Molina und seine Vorläufer auch auf die Gnadenlehre ausgegriffen hat. Molina betont, dass der Wille vom Intellekt unabhängig ist: „Und so ist der Wille bei gleicher Veranlagung und Erkenntnis […] seitens des Verstandes durch seine angeborene Freiheit fähig zu wollen oder zu widersprechen oder weder zu wollen noch zu widersprechen“ (Concordia Disp. 2; übers. nach Freddoso, Introduction, 25). Auf die Frage, warum der Gnadenstreit aber gerade in der frühen Neuzeit ausgebrochen ist, kann man einige überzeugende Antworten liefern. Einerseits wurde die Leugnung der Freiheit durch die Reformatoren erwähnt – ein Affront, auf den man von katholischer Seite antworten musste. Andererseits bewegten die Menschen aber
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neue Fragen: theologisch die Frage der Theodizee und dem Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen, gesellschaftlich die Frage nach Gerechtigkeit, nach Bürger- und Menschenrechten. Früher war gemeinhin anerkannt gewesen, dass niemand die Gnade Gottes verdient hat: Erlösung sei reine Gnade, und Gnade war keine Frage der Gerechtigkeit. So konnte auch der König beliebig einen Menschen begnadigen und einen anderen, der das gleiche Verbrechen begangen hat, nicht begnadigen. In der Zeit der anbrechenden Aufklärung wurde jedoch zunehmend auch das einseitige Vergeben von Privilegien als Ungerechtigkeit angesehen. Heute erscheint ein Gott, der manchen Menschen die ewige Seligkeit schenkt, anderen jedoch nicht, als ungerecht – selbst wenn niemand die ewige Seligkeit verdient hat. Durch dieses neue Gerechtigkeitsempfinden ist das Wiedererstarken des Semi-Pelagianismus in der Neuzeit zu erklären. Demnach müsse der Mensch durch seine freie Zustimmung die Gnade annehmen, damit diese wirksam wird. Zur Zeit Molinas waren die meisten theologischen Fakultäten thomistisch geprägt. Es gab allerdings eine augustinische Minderheit, die vor allem in Leuven ansässig war. Dort wirkte auch Michael Baius, ein Vorläufer der Jansenisten, und später Cornelius Jansen selbst. Baius ist für die Vorgeschichte zu Molina wichtig, denn dieser lag in einem theologischen Streit mit dem Jesuiten Leonardus Lessius, dessen Thesen zur Willensfreiheit kurz vor Erscheinen von Molinas Concordia zensiert wurden. Die augustinische Schule sah kein Problem darin, dass Gott einige Menschen von Ewigkeit her verdammt. Das Verdammen sei nämlich kein positiver Akt Gottes, sondern eine Folge der Erbsünde. Die freie Ablehnung, ein Geschenk zu übergeben, gelte nicht als Ungerechtigkeit. Vielmehr sei Gott in der Ausübung seines Willens an keine Regeln gebunden. Dieser Gedanke erstarkte in der nominalistischen Tradition des Mittelalters (potentia absoluta Dei) und kulminierte in der Theologie Martin Luthers. Der göttlichen Gnade könnten wir Menschen demnach nichts entgegensetzen, da dadurch seine Allmacht und Souveränität nicht gewahrt bleiben würde. Nach Molina besitzt Gott allerdings logisch unabhängig vom Schöpfungsakt ein Wissen über kontrafaktische Freiheitskonditionale: Was würde jemand in einer bestimmten Situation, in die er nie kommen wird, aus freiem Willen tun? Präfaktische (Was würde jemand in einer Situation, in die er tatsächlich kommt, aus freiem
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Willen tun?) und kontrafaktische Freiheitskonditionale (Was würde jemand in einer Situation tun, in die er niemals kommen wird?) ergeben zusammen Gottes mittleres Wissen. Dieses wird von Molina als dasjenige Wissen bezeichnet, „durch das Gott in seinem eigenen Wesen kraft des höchsten und erforschlichen Erfassens eines jeden freien Entscheidungsvermögens unmittelbar erkennt, was es aus seiner angeborenen Freiheit heraus tun würde, wenn es sich in dieser oder in jener oder auch in unenendlich vielen Ordnungen der Dinge befände, auch wenn es tatsächlich das Gegenteil tun könnte, falls es wollte“ (Concordia, Disp. 52, 9). Durch eine Zuschreibung eines solchen Wissens an Gott kann ein Semi-Pelagianismus trotz libertaristischer Willensfreiheit verhindert werden. Gott weiß nämlich bereits unabhängig von der Existenz einer Person, ob sie sich in einer bestimmten Situation aus freiem Willen für oder gegen den Glauben entscheiden würde. Gott weiß auch, welche Situation er erschafft. Also kann er das Geben seiner Wirkgnade von seinem mittleren Wissen abhängig machen und nur denjenigen diese Gnade zusprechen, von denen er im Vorhinein weiß, dass sie diese auch aus freiem Willen annehmen würden.
Göttliches Vorherwissen Molina nimmt in Einklang mit der thomistisch geprägten Tradition an, Gott hätte vollständiges Vorherwissen vom gesamten Weltverlauf. Tatsächlich – so meinen die meisten Interpreten – steht Molina so stark in der boethianisch-thomistischen Tradition der Überzeitlichkeit Gottes, dass Gott Vorherwissen nur nostro intelligendi modo zugeschrieben werden kann (vgl. Molina, Göttlicher Plan, 113). Tatsächlich besitze Gott ewiges Wissen vom gesamten Weltverlauf; er selbst überblicke die Geschichte in einer Weise, als wäre jeder Moment gleichzeitig mit seiner ewigen Existenz. Für die Überzeitlichkeit spricht nicht nur Gottes Einfachheit, die es nicht erlaubt, dass Gott aus verschiedenen zeitlichen Teilen besteht, sondern auch seine Perfektion, die in platonischer Tradition jede Veränderung ausschließt. Molina stellt aber die Einfachheit Gottes infrage, indem er mehrere logische ‚Momente‘ des Wissens Gottes postuliert: 1. Gottes natürliches Wissen (scientia naturalis) umfasst alle notwendigen Wahrheiten, darunter alle mathematischen Wahrhei-
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ten, alle Tautologien, alle möglichen Geschichtsverläufe in allen möglichen Welten. 2. Gottes mittleres Wissen (scientia media) umfasst alle kontingenten Wahrheiten, die nicht von Gottes Willensentschluss abhängig sind. Dazu zählen auch alle freien Entscheidungen der Geschöpfe, alle tatsächlichen und alle möglichen Entscheidungen. 3. Gottes freies Wissen (scienia libera) umfasst alle kontingenten Wahrheiten, die (allein) von Gottes Willensentschluss abhängig sind. 4. Gottes Vorherwissen (scientia visionis) ergibt sich schließlich logisch aus dem freien und dem mittleren Wissen. Revolutionär ist hierbei vor allem die Zuschreibung des Wissens kontrafaktischer Konditionale. Molina selbst rekurriert hierbei auf eine alttestamentliche Erzählung, bei der Gott weiß, dass die Bewohner von Keïla David ausgeliefert hätten, wäre er in der Stadt geblieben; tatsächlich ist er aber geflohen. Der biblische Hintergrund hierfür ist 1 Sam 23,12: David fragte: „Werden die Bürger von Keïla mich und meine Männer an Saul ausliefern?“ Darauf bekam er von Gott die Antwort „Sie werden euch ausliefern“. Der Molinismus wurde in den 1970er-Jahren von Alvin Plantinga in seiner Auseinandersetzung mit Notwendigkeit und möglichen Welten aufgegriffen und seither in der analytischen Religionsphilosophie ausführlich debattiert. Fruchtbar war dabei sicher die frühe englische Übersetzung und analytische Kommentierung von Molinas Werk durch Alfred Freddoso. Berühmte gegenwärtige Molinisten sind unter anderem William Lane Craig (1949) und Thomas Flint (* 1966); zu den bekanntesten Kritikern gehören Robert Adams (* 1937) und William Hasker (* 1935). Adams beschrieb in seinem Aufsatz „An Anti-Molinist Argument“ den heute als grounding objection bezeichneten Einwand. Dieser basiert auf der gut begründeten und verbreiteten philosophischen Annahme, dass jede wahre Aussage einen sogenannten „Wahrheitsmacher“ (truth maker) besitzt. Etwas allgemeiner spricht man auch von der These „truth supervenes on being“: Es ist die Realität, die der Garant für die Wahrheit oder Falschheit einer Proposition ist. Nun stellt sich die Frage: Was ist der Wahrmacher für Gottes mittleres Wissen? Die Frage nach dem Wahrheitsmacher für Gottes natürliches Wissen und Gottes freies Wissen lässt sich einfacher beantworten. Für ersteres sind es logische Gesetzmäßigkeiten, mathematische Tatsachen, oder auch Gottes Na-
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tur. Der Wahrheitsmacher für sein freies Wissen ist Gottes Entscheidung. Die Tatsache „Die Welt existiert“ ist wahr, weil Gott sich entschieden hat, die Welt zu erschaffen, und wäre falsch, wenn sich Gott nicht dazu entschlossen hätte, die Welt zu erschaffen. Die freien Entscheidungen der Geschöpfe können bei Molina als solche Wahrmacher ausgeschlossen werden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens wird das mittlere Wissen von Molina als prävolitionär eingestuft, d. h. als unabhängig vom Schöpfungsakt. Gott besäße auch mittleres Wissen, wenn er keine Welt erschaffen hätte; tatsächlich meint Molina, Gott kann seine Entscheidung, welche Welt er erschafft, sogar von seinem mittleren Wissen abhängig machen – dies wurde bereits als eine wichtige Motivation in der Gnadenlehre dargestellt. Eine gegenseitige Abhängigkeit von mittlerem Wissen und Wissen über die Beschaffenheit der Welt würde zu einem logischen Zirkel führen. Zweitens kann das mittlere Wissen nicht von Geschöpflichem abhängig sein, weil dies der thomistischen Lehre der Impassibilität Gottes widersprechen würde. Nichts Geschöpfliches kann Gott in irgendeiner Hinsicht affizieren, geschweige denn, Teile seines Wissens konstituieren. Nun meint Robert Adams, Gottes mittleres Wissen fehle jegliche Fundierung in der Realität. Es gibt nichts Existierendes, das kontrafaktische Freiheitskonditionale wahr oder falsch machen kann. Wäre es Gott selbst, wäre mittleres Wissen kein mittleres, sondern freies Wissen. Die meisten Molinisten antworten hierauf, dass es unerklärlich sei, wie Gott dieses Wissen haben könne, er habe es einfach. Ob aus philosophischer Perspektive eine solche Erklärung als hinreichend betrachtet wird, hängt sicher auch von methodischen Vorentscheidungen zur prinzipiellen Erkennbarkeit Gottes ab. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Der Molinismus behauptet mithilfe der komplexen Theorie des mittleren Wissens menschliche Freiheit und göttliche Vorsehung vereinbaren zu können. Gelänge dies, würde dies nicht nur das Verhältnis von Freiheit und Gnade klären, sondern auch andere theologische Probleme lösen wie z. B. das christologische Unsündlichkeitsproblem: Gott würde von Ewigkeit her wissen, ob ein möglicherweise existierender bloßer Mensch Jesus von Nazareth aus freiem Willen nicht sündigen würde und könnte seine Entscheidung zur Vereinigung mit einer bestimmten menschlichen Natur von eben diesem Wissen abhängig machen.
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Alexander Aichele / Mathias Kaufmann (Hg.), A Companion to Luis de Molina, Leiden 2014. (Eine umfassende Sammlung von aktuellen Beiträgen zu Molina nicht nur zur Freiheits- und Vorsehungsdebatte, sondern auch zur Rechtsphilosophie sowie den Themen Sklaverei, Wirtschaft und Krieg.)
William L. Craig, The Only Wise God. The Compatibility of Divine Foreknowledge and Human Freedom, Eugene 2000. (Eine gut lesbare Kritik des theologischen Fatalismus sowie traditioneller Vorsehungslehren, mit einer abschließenden Verteidigung des Molinismus als einzige Möglichkeit der Vereinbarkeit von Vorherwissen und Freiheit.)
Luis de Molina, Göttlicher Plan und menschliche Freiheit. Concordia, Disputation 52. Lateinisch–Deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Christoph Jäger, Hans Kraml und Gerhard Leibold, Hamburg 2018. (Eine aktuelle deutschsprachige Übersetzung des Teils von Molinas Concordia, der sich mit der Vorsehungslehre beschäftigt, inklusive sehr ausführlicher Einführung von Christoph Jäger.)
Ken Perszyk (Hg.), Molinism. The Contemporary Debate, Oxford 2011. (Dieser Sammelband enthält vor allem analytische Aufsätze, die für oder gegen den Molinismus argumentieren, aber auch wichtige Anwendungsfälle zu Theodizee und Christologie.)
Ruben Schneider, Sein, Gott, Freiheit. Eine Studie zur KompatibilismusKontroverse in klassischer Metaphysik und analytischer Religionsphilosophie, Münster 2016. (Eine aktuelle Verteidigung des Molinismus in einer formal ausgearbeiteten Variante, die mithilfe von Gottfried Wilhelm Leibniz [����–����] weiterentwickelt wird und dadurch die grounding objection zu umgehen versucht.)
Eleonore Stump / Georg Gasser / Johannes Grössl (Hg.), Göttliches Vorherwissen und menschliche Freiheit. Beiträge aus der aktuellen analytischen Religionsphilosophie, Stuttgart 2015. (Eine Sammlung deutschsprachiger Übersetzungen einflussreicher Artikel zum Thema, darunter auch Beiträge zum Molinismus von Thomas Flint, Robert Adams und William Hasker.)
Die britische Aufklärung
Thomas Hobbes, John Locke und David Hume Christian Hengstermann Der britische Empirismus: Philosophie der Erkenntnis und Naturwissenschaft Mit seinem Votum für die sinnliche Erfahrung, durch die der Mensch, wie von Roger Bacon propagiert und von Wissenschaftlern wie Robert Boyle und Isaac Newton in Experiment und Beobachtung praktiziert, Aufschluss über die ihn umgebende natürliche Welt gewinnt, ist der Empirismus im 17. Jahrhundert die Philosophie des wissenschaftlichen Aufbruchs. Über die Theorie der Erkenntnis hinaus, die im Theoretischen wie im Praktischen ihren Ursprung im Zeugnis der Sinne hat, leisten die Empiristen Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) auch bedeutende Beiträge zur Philosophie der Religion: Steht Hobbes für ein erstes Paradigma einer streng materialistischen Theorie von Seele, Welt und Gott, entwickelt Locke eine umfassende praktische Vernunftreligion, in der die Befolgung des natürlichen Sittengesetzes vornehmlicher Weg zum Heil der gefallenen Seele ist. Bei David Hume hat die Religionsphilosophie schließlich die Form einer scharfen Kritik aller Gottesbeweise.
Thomas Hobbes: Materialismus nach geometrischer Methode Nach dem Vorbild von Euklids Elementen der Geometrie entwickelt Thomas Hobbes in den bewusst hiernach benannten Elementen der Philosophie eine streng empiristisch-materialistische neuzeitliche Erstphilosophie, nach der sich alle Dinge, die natürlichen wie die menschlichen, auf das notwendige Zusammenspiel bewegter Atome zurückführen lassen. In seinem Meisterwerk Leviathan von 1651, in dem er die Elemente als Teil seiner in scharfer Kritik der englischen
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Bürgerkriegsparteien formulierten Philosophie zusammenfasst, setzt er die Sinneswahrnehmung des Menschen mit dem Eindruck gleich, den die Atome des wahrgenommenen Objekts in denjenigen des wahrnehmenden Subjekts hinterlassen. Desgleichen bezeichnen Vorstellung und Gedächtnis nicht etwa eigene Vermögen, sondern lediglich die schwächer werdenden Eindrücke der Außenwelt, die wir kraft des uns vorbehaltenen Verstandes- und Sprachvermögens zunächst benennen und dann in den Wissenschaften in Definitionen und nach Ursachen und Wirkungen ordnen. Sowenig unser Sinnes- und Verstandesapparat von den bewegten Atomen der Welt zu unterscheiden ist, sowenig stellt auch das menschliche Handeln eine geistige Wirklichkeit eigener Art dar. Im Disput mit dem liberalen anglikanischen Theologen John Bramhall, der eine von der notwendigen materiellen abzusetzende eigene freie geistige Kausalität annimmt, sieht Hobbes den Willen lediglich als letztes Glied in einer im Ganzen notwendigen Kette von Begierden, die sich über Vernunft, Vorstellung und Wahrnehmung allesamt wieder, wie es dem wissenschaftstheoretischen Anspruch der Elemente entspricht, auf das Zusammenspiel der bewegten Atome in und außerhalb des menschlichen Organismus zurückführen lässt. Wie alle übrige Bewegung resultiert auch jede Handlung des Menschen aus den zugleich notwendigen und hinreichenden Bedingungen ihrer Ursache, namentlich der als Wille bezeichneten handlungsinduzierenden letzten Begierde. Im genannten literarischen Streit erweist sich Hobbes als Urheber einer als Kompatibilismus bekannten wirkmächtigen Position, nach der die Annahme einer allumfassenden natürlichen Notwendigkeit mit der moralischen Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen vereinbar ist: Obwohl er nicht anders handeln kann, als er es faktisch tut, ist der Mensch für sein Handeln, das seine im Zusammenspiel von unterschiedlichen inneren und äußeren Einflüssen entwickelten Begierden zur Ursache hat, gleichwohl verantwortlich. Im berühmten Szenario eines vorstaatlichen Naturzustandes im Leviathan erscheint die Be-
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gierde der ‚Selbsterhaltung‘ als einziges Handlungsmotiv des Menschen: Im ‚Wettkampf‘ um die für sein Überleben unerlässlichen knappen Ressourcen ist ein Mensch dem anderen in ‚Misstrauen‘ und ‚Ehrsucht‘, wie Hobbes es, wenn auch in anderem Zusammenhang, mit einer wirkmächtigen Metapher ausdrückt, ‚ein Wolf‘ und in einem ‚Krieg aller gegen alle‘ begriffen, der erst im Zusammenschluss, im Staat, dem Leviathan genannten sterblichen Gott, ein Ende findet. Der Vertrag, der im Mittelpunkt der von Hobbes begründeten neuzeitlichen Moral- und Staatsphilosophie steht, sieht vor, dass ein jeder, wie es das zweite Naturgesetz, das Streben nach Frieden, vorsieht, das erste, nämlich die Verpflichtung, alles Mögliche für die eigene Selbsterhaltung zu tun, auf einen Souverän überträgt. Dieser hat fortan allein das genannte Naturrecht, die Freiheit uneingeschränkten Machtgebrauchs zum Zwecke der Selbsterhaltung des alle Bürger umfassenden Staatskörpers, inne. Zu Unrecht wird Hobbes bald nach Erscheinen seines streitbaren Hauptwerkes als Urheber eines umfassenden philosophischen Atheismus beschimpft. Zum einen nämlich führt er in einem eigenen kosmologischen Argument die Bewegung aller natürlichen und menschlichen Dinge auf einen allmächtigen Gott, ihre erste und ausschließliche Ursache, zurück, über die sich freilich in streng negativer Theologie schlechterdings nichts aussagen lässt. Zum anderen entwickelt er insbesondere in seiner lateinischen Übersetzung des Leviathan, gestützt auf seine Definition von ‚Person‘ als Subjekt, das entweder für sich selbst oder für einen anderen spricht oder handelt, eine eigene Trinitätstheologie, nach der Gott, der Vater, in den drei ‚Personen‘ Mose, Jesu und des Heiligen Geistes wirkt.
John Locke: der Weg der Ideen aus Sensation und Reflexion Seine umfassendste Formulierung findet der britische Empirismus, wie Hobbes ihn in seinen Elementen nach geometrischer Methode grundlegt, in John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand. Anlass des Werkes ist eine Diskussion über die Probleme der Ethik und Offenbarungsreligion, die der Autor, wie er berichtet, mit einigen Freunden über Moral und Offenbarungsreligion geführt hat. Ehe man freilich, so habe man sich einigen müssen, etwas Gewisses
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über die genannten Themen zu sagen vermöge, gelte es, sich ein Bild von dem zu machen, was der menschliche Verstand überhaupt zu leisten imstande sei. Das Leitthema des Versuchs ist der Ursprung der mannigfachen Ideen, über die der Verstand verfügt. Weder die theoretischen Ideen der Metaphysik noch die praktischen der Ethik sind angeboren, wie Locke in Widerlegung des Rationalismus René Descartes’ und der Cambridger Platoniker Ralph Cudworth und Henry More darlegt. Ihr ausschließlicher Ursprung ist vielmehr die Erfahrung, namentlich der ‚Sensation‘, der Sinneswahrnehmung, und der ‚Reflexion‘, des Verstandes. Der menschliche Verstand ist zunächst nämlich, wie Locke es mit einem berühmten Bild ausdrückt, eine ‚leere Tafel‘, die durch die Sensation und Reflexion mit einer Vielzahl unterschiedlicher Ideen gefüllt wird. Anders als etwa bei Platon, bei dem der Begriff der Idee das allein vom Verstand einsehbare Wesen der Dinge bezeichnet, fungiert er bei Locke als Sammelterminus für sämtliche Bewusstseinsgehalte, die er konsequent auf die genannten beiden Quellen zurückzuführen sucht. Hierzu unterscheidet Locke grundsätzlich zwischen ‚einfachen Ideen‘, d. h. unmittelbaren sinnlichen Eindrücken wie ‚kalt‘ und ‚grün‘ und Verstandestätigkeiten wie ‚Denken‘ und ‚Rechnen‘ sowie ‚komplexen Ideen‘, die sich daraus zusammensetzen. In einer umfassenden Systematisierung unterteilt Locke die komplexen Ideen sodann in ‚Substanzen‘, ‚Modi‘ und ‚Relationen‘. Substanzen stellen das eigenständig existierende Substrat dar, dem unterschiedliche Eigenschaften beigelegt werden. An sich bleibt dem Menschen das wahre Wesen der Substanz, die er gleichwohl als Grundlage der Prädikation in Erkenntnis und Sprache voraussetzt, grundsätzlich verschlossen. Mit dem ‚wahren Wesen‘ dürfte Locke im Sinne des atomistischen Naturbildes, wie es die Wissenschaft der neuen Zeit begründet, die allein objektiv wahren ‚primären Qualitäten‘, d. h. ‚Festigkeit‘, ‚Ausdehnung‘, ‚Gestalt‘ und ‚Bewegung‘, gemeint haben, denen wir im subjektiven Erkenntnisakt eine Vielzahl unterschiedlicher ‚sekundärer Qualitäten‘ wie Geruch und Farbe beilegen. Zwar haben Letztere
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ihre Ursache in der Struktur des wahrgenommenen Gegenstandes, die im Seh- und Geschmackserlebnis bestimmte Reaktionen im menschlichen Organismus auslöst. Ebenso wenig wie die Fülle anderer subjektiver Empfindungen, die sich in der sinnlichen Wahrnehmung in einem Individuum einstellen, kommen die sekundären Qualitäten der lediglich in ihrer genannten atomaren Grundstruktur erkennbaren Substanz jedoch an sich zu: So wie die Schmerz- und Hitzeempfindung von einem Gegenstand verursacht wird, ohne eine ihm unabhängig von unserer Physiologie zukommende Eigenschaft zu sein, so entspringt etwa auch der Farbeindruck lediglich dem Zusammenspiel zwischen der Beschaffenheit der bewegten Atome der Welt und des Sinnes- und Verstandesapparates des Menschen. Während Substanzen eigenständig existieren, stellen die Modi, in denen entweder gleiche oder unterschiedliche Ideen zusammengefügt werden, Arten der Beschreibung unterschiedlichster Dinge und Sachverhalte dar, die als solche nicht für sich zu existieren vermögen. Zu den so genannten ‚einfachen Modi‘ zählen etwa beliebige quantitative Angaben von der Körpergröße bis hin zu umfassenden Kategorien wie Raum und Zeit, die der Verstand in der Addition gleicher Elemente ins Unbegrenzte zu erweitern vermag. In ‚komplexen Modi‘ werden unterschiedliche sinnliche und geistige Ideen miteinander verknüpft, darunter etwa, wie Locke veranschaulicht, ‚Sakrileg‘ oder ‚Mord‘, in denen eine wahrnehmbare Handlung mit geistigen Kategorien wie dem Verbot, die Gottheit zu beleidigen und einem Menschen das Leben zu nehmen, zu entsprechenden Begriffen verknüpft worden sind. Als häufigste Ingredienzien solcher komplexer Modi gelten Locke zufolge ‚Denken‘, ‚Bewegung‘ und ‚Kraft‘, auf die sich das Gros der begrifflichen Kategorien unserer Selbst- und Weltbeschreibung zurückführen lässt. Die Trias einfacher Ideen hat nach Locke zuvörderst in der eigenen Selbsterfahrung des Menschen, der kraft seines Denkens eine Bewegung zu beginnen und zu beenden vermag, ihren Ursprung. ‚Relationen‘ schließlich stehen für unterschiedliche Korrelationsbegriffe wie ‚Ehemann‘, der die Bindung zu einer Ehefrau einschließt, oder ein Komparativ wie ‚weißer‘, mit dem ein Gegenstand hinsichtlich einer ihm zukommenden Qualität mit einem anderen verglichen wird. Zu den wirkmächtigsten Darlegungen einer ‚Relation‘ im Versuch gehört diejenige der personalen Identität, in der ein Vernunftwesen zu sich selbst steht. Anders als bei Descartes zeichnet sich bei Locke nicht eine prinzipiell unerkennbare
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fortdauernde Geistsubstanz, sondern unser Bewusstsein und unsere Erinnerung für die Selbstbeziehung der personalen Identität verantwortlich. Auch die ursprünglichen Themen des Treffens mit seinen Freunden, für die der Versuch die erkenntnistheoretischen Grundlagen zu legen sucht, die Moral und die Offenbarungsreligion, behandelt Locke eingehend. In der Ethik, in der er sich als Wegbereiter des späteren Utilitarismus erweist, vertritt Locke einen konsequenten Hedonismus, nach dem das Gute und das Böse mit Lust bzw. Schmerz gleichzusetzen sind. Innerhalb des triadischen Schemas komplexer Ideen stellen ethische Prädikate ‚Relationen‘ dar: Handlungen werden zum göttlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Gesetz in Beziehung gesetzt, so dass beispielsweise die vorsätzliche Tötung eines Menschen gleichermaßen als ‚Sünde‘, ‚Verbrechen‘ und ‚Laster‘ anzusprechen ist. Die Ewigkeit von Lust und Schmerz, die der göttliche Gesetzgeber dem Menschen in der Heiligen Schrift ankündigt, ist zentrale Triebfeder sittlichen Handelns, das im Vordergrund von Lockes rationaler Theologie steht. Gegenüber den sogenannten ‚Enthusiasten‘ der Bürgerkriegsära, die Anspruch auf eine gefühlte Einheit mit Gott erhoben, betont Locke mit den Cambridger Platonikern und späteren liberalen Theologen der anglikanischen Restaurationskirche mit Nachdruck die Vernünftigkeit des Christentums. Er reduziert sie im Sinne des Toleranzideals auf eine vornehmlich praktische Wahrheit: Der Glaube, der rechtfertigt, beschränkt sich auf einen einzigen Satz, nämlich den, dass, wie Locke, gestützt allein auf die Schrift, namentlich die im Werk en détail ausgelegten historischen Schriften des Neuen Testaments, darlegt, Jesus der Messias ist. Neben dem genannten Bekenntnis ist es innerhalb der Vernunftreligion für die Erlangung des Heils des in Adam gefallenen Menschen ausreichend, die eigenen Verfehlungen zu bereuen und ein gutes Leben zu führen. Hierin, im klaren und deutlichen Heilsweg, den es den Menschen in Form eines kurzen Bekenntnisses und einer einfachen Moral weist, besteht die Vernünftigkeit des Christentums.
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David Hume: Kausalität als Gewohnheit Auch David Hume führt alle Ideen auf die Erfahrung zurück. Wo sich ein Begriff nicht mittelbar auf die Sinneswahrnehmung wissenschaftlich quantifizierbarer Tatsachen zurückführen lässt, ist er, so spitzt der allgemein als Vollender der empiristischen Denkform gefeierte schottische Aufklärer die Position noch einmal zu, sogar grundsätzlich als bar jeder Bedeutung aufzugeben. Innerhalb der ‚Perzeptionen‘, als die er die unterschiedlichsten Bewusstseinsgehalte begrifflich fasst, unterscheidet Hume noch einmal zwischen dem unmittelbaren starken ‚Eindruck‘ von etwas und seiner späteren schwächeren ‚Idee‘. Zwar nimmt auch er wie Locke Eindrücke und Ideen der ‚Reflexion‘ an. Allerdings sind diese ihrerseits, wie Hume am Beispiel der auf ‚Schmerz‘ und ‚Lust‘ folgenden Empfindungen von ‚Hoffnung‘ und ‚Furcht‘ aufzeigt, sekundäre Erzeugnisse der primären ‚Sensation‘. So wie es in der physikalischen Wissenschaft des von ihm bewunderten Isaac Newton das Gesetz der Gravitation ist, nach dem die verschiedenen Himmelskörper einander anziehen, so fügen sich in der moralischen Wissenschaft (die er im zunächst erfolglosen ausführlichen Jugendwerk Abhandlung über die menschliche Natur, dann in den vielgelesenen essayistischeren Untersuchungen über den menschlichen Verstand und über die Prinzipien der Moral zu begründen sucht) die vielfältigen Ideen des Verstandes nach den Gesetzen der ‚Ähnlichkeit‘, der ‚Nähe in Raum und Zeit‘ und insbesondere der ‚Ursache-/Wirkung-Beziehung‘ zusammen: Die Idee eines Bildes ruft unweigerlich den Gedanken an die abgebildete Person oder Sache hervor, und ebenso verbindet sich die eines bestimmten Ortes oder einer bestimmten Zeit mit den für sie charakteristischen Dingen. Von den drei Prinzipien gilt Humes besondere Aufmerksamkeit dem dritten, dem der Kausalität, dem zentralen Strukturprinzip unserer Ideen über die ‚Tatsachen‘ der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Das Kausali-
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tätsprinzip, nach dem uns die immer wieder beobachtete ‚Abfolge‘ und ‚Nähe‘ zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung eine ‚notwendige Verbindung‘ zwischen beiden annehmen lässt, hat nach Hume weder analytischen Charakter – es gehört offenbar nicht zum begrifflichen Gehalt einer rollenden Billardkugel, dass sie ihrerseits eine andere bei Berührung in Bewegung setzen muss –, noch lässt es sich induktiv, also auf der Grundlage einer Vielzahl von Beobachtungen, die ihrerseits allesamt das genannte Prinzip voraussetzen, begründen. Es handelt sich vielmehr, wie Hume im Sinne seiner streng empirisch verfahrenden moralischen Wissenschaft vom Menschen darlegt, um eine bloße Gewohnheit der menschlichen Natur, nach der wir ungeachtet unserer Unfähigkeit, Aussagen über seine Wirklichkeit zu machen, unweigerlich unser gesamtes Leben ausrichten. Das Prinzip von Ursache und Wirkung ist auch für Humes Moralund Religionsphilosophie leitend. Die alte Streitfrage, ob der Mensch einen freien Willen besitzt oder nicht, weist er angesichts der Regelhaftigkeit und Gesetzlichkeit unseres Handelns, die wir ungeachtet unserer theoretischen Überzeugungen in allen Bereichen unseres praktischen Lebens voraussetzen, ausdrücklich als bloßes Sprachspiel zurück. Für den gefangenen Straftäter, so ein drastisches Beispiel, besteht kein Unterschied zwischen der Notwendigkeit, mit der ihn seine Zelle, und derjenigen, mit der ihn seine Wärter an der Flucht hindern. Es ist sodann wie bei Hobbes nicht etwa die Vernunft, sondern allein die unterschiedlichen Leidenschaften, die den Menschen, der seinerseits lediglich ein Bündel von Eindrücken und Ideen ist, zum Handeln bewegen. Ihre Kausalität hat nicht weniger den Charakter eines im Sinne einer beobachtbaren Regelhaftigkeit notwendigen Gesetzes als die der übrigen natürlichen Welt. In der Ethik nimmt Hume wie Henry More und Francis Hutchinson einen ‚moralischen Sinn‘ an, der uns das eigene Verhalten und das anderer Menschen nach dem Maßstab der Nützlichkeit für uns und die Allgemeinheit beurteilen lässt. Entgegen dem ethischen Egoismus Hobbes’, in dem der Mensch zunächst nur den eigenen Nutzen sucht, erhebt Hume das uneigennützige Interesse am Allgemeinwohl, das uns den Einsatz für andere, auch wo es uns selbst keinen Vorteil bringt oder uns, im Gegenteil, sogar zum Nachteil gereicht, gutheißen lässt, zu einem unleugbaren anthropologischen Faktum. Innerhalb der Religionsphilosophie bezweifelt Hume bereits in der erkenntnistheoretischen Abhandlung über den menschlichen Verstand
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die Kausalität eines allgemeinen Wirkens Gottes in der Welt, seiner guten und gerechten Vorsehung, die sich unmöglich aus dem in gleichem Maß von Bosheit und Ungerechtigkeit geprägten Lauf der Dinge erschließen lässt, und eines speziellen in Wundern, die als Verstöße gegen ein durch die Erfahrung immer wieder bestätigtes Naturgesetz per Definition bereits Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit verlieren müssen: Einem Zeugnis einer solchen willentlichen Außerkraftsetzung der Naturgesetze durch Gott (oder andere ihm dienstbare oder feindlich gesinnte übernatürliche Wesen) stehen unzählige Beispiele für ihre beobachtbare Regelmäßigkeit gegenüber, der wir aus Gewohnheit, wie es unserer Natur entspricht, nicht den Glauben versagen können. In den postum erschienenen Dialogen über die natürliche Religion, dem empirischen Widerpart zu der spekulativen Religionsphilosophie der rationalistischen Göttlichen Dialoge des Cambridger Platonikers Henry More, lässt Hume den Skeptiker Philo, sein wahrscheinliches Sprachrohr, gleichermaßen apriorisch-ontologische wie aposteriorisch-physikotheologische Argumente für die Existenz einer Gott genannten ersten Ursache, wie sie nacheinander die Dialogpartner Demea und Cleanthes vertreten, widerlegen: Während er Demeas begriffliches Argument für eine notwendig unverursachte erste Ursache aller Dinge – es beinhaltet niemals einen Widerspruch, eine Tatsache, auch die Existenz Gottes, als nicht-existierend zu denken – rasch zurückweist, lässt er Philo das von Cleanthes vorgetragene empirische aus der Ordnung der Welt eingehend entkräften: Warum soll ausgerechnet das unbedeutende Denken des Menschen Maßstab für das Sein und Wesen einer in willkürlichem Anthropomorphismus nach Analogie von Kunst und Handwerk aufgefassten Welt sein? Ähnelt die Welt im Ganzen wirklich so sehr einem Kunstwerk von Menschenhand, dass ein Schluss von einer ähnlichen Wirkung auf eine ähnliche Ursache Gültigkeit beanspruchen kann? Ließe sich die Welt nicht ebenso gut nach Analogie eines sich entwickelnden beseelten Organismus denken, anstatt eine dem Bösen und Ungeordneten in der Welt widersprechende schöpferische Intentionalität zu postulieren? Im Letzten kommt auch der Disput zwischen dem Theisten und Atheisten, die beide in dem Analogieschluss übereinkommen, dass die erste Ursache aller Dinge mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine, wenn auch prinzipiell nicht näher bestimmbare Form von Ähnlichkeit zum schöpferischen Verstand des Menschen besitzt, wie der-
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jenige zwischen Libertariern und Deterministen einem bloßen Scheinstreit um Begriffe gleich. Lothar Kreimendahl, Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus, Stuttgart 1994. (Weit mehr als eine erste Einführung, interpretiert der Autor unter anderem Hobbes’ Leviathan, Lockes Versuch und Humes Dialoge im Blick auf ihre systematische Bedeutung für die gegenwärtige theoretische und praktische Philosophie.
Wolfgang Röd, Die Philosophie der Neuzeit, Bd. 1: Von Francis Bacon bis Spinoza, 2., verbesserte und ergänzte Auflage, München 1999. (Eine ausgesprochen luzide geschriebene Einführung in die frühneuzeitliche Philosophie, die durchweg auch der Bedeutung der Naturwissenschaften Rechnung trägt.)
Roger S. Woolhouse, The Empiricists, Oxford – New York 1998 (A History of Western Philosophy 5). (Eine hervorragende Gesamtdarstellung des klassischen Empirismus, der auch die Beiträge der Hauptdenker zur Moral- und Religionsphilosophie berücksichtigt.)
Anti-Skeptische Wende zum denkenden Subjekt
René Descartes Klaus Müller
1596 in La Haye geboren kommt Descartes früh unter die Knute eines Jesuiten-Kollegs. Er unterzieht sich später in Holland einer militärischen Ausbildung und brachte es bis zum Offizier. Sein Wissensdrang, von einem seiner Lehrer besonders auf die Naturwissenschaften gelenkt, kam dabei nicht zum Erliegen. 1619 führte ihn ein langer Marsch seiner Armee in die Nähe von Ulm. Dort hatte Descartes einen Traum, der ihn in die Philosophie führen sollte. Geträumt habe ihm, so Descartes, von einem Wörterbuch, um dessen Vollständigkeit es irgendwie ging und von dem er in seiner eigenen Deutung überzeugt war, dass es sich auf die Wissenschaften bezogen habe. Und zum anderen sei in dem Traum der Satz ‚Welchen Lebensweg soll ich einschlagen?‘ hörbar gewesen. Beide eben erwähnten Momente aus dem Traum bezeichnen die grundlegenden Orientierungspunkte für Descartes’ Denken: In dem Traumvers kommt das Wort ‚Weg‘ vor, dasselbe Wort steckt im griechischen methodos (Nach-Gang). Gemeint ist: einem Ziel nachgehen in systematischer, geregelter Weise. Und eben das war eines der großen Themen Descartes’: Er ist durch und durch Methodologe. Diesem Thema sind auch die Werke gewidmet, die ihn bis heute berühmt machen: die Regeln zur Leitung des Geistes; der Discours de la méthode; schließlich die berühmten Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Den zweiten Brennpunkt von Descartes Denken bildet die Idee der Enzyklopädie, also das Gesamt des Wissens aller Wissenschaften zu kennen und zusammenzubringen (dafür standen im Traum das Wörterbuch und die Frage seiner Vollständigkeit). Niederschlag fand diese Idee in einem Werk, an dem Descartes von 1629–1649 arbei-
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tete, das trotzdem Fragment blieb und den Titel trägt Die Welt. Ebenfalls in diesen thematischen Bereich gehören die Principia philosophiae. Dahinter steht wohl auch die zu jener Zeit außerordentlich aktuelle Idee der mathesis universalis, als einer Universalwissenschaft, die ohne Bezug auf konkrete Objekte die systematischen Strukturen von Wissen überhaupt ausformuliert und eine rechnerische Erfassbarkeit der Welt als ganzer unterstellt. In Anbetracht dieser beiden Brennpunkte seines Denkens würde man auf den ersten Blick nicht vermuten, dass Descartes’ eigentliche philosophische Leistung in einer Neubegründung der Metaphysik und speziell der philosophischen Theologie liegt. Und doch ist es so. Dabei hat sich Descartes diesem Problembereich unter durchaus problematischen Umständen gewidmet. Die Neubegründung von Metaphysik und speziell Theologie war nötig geworden, weil das überkommene Paradigma aus mehrfältigen Gründen seine Überzeugungskraft eingebüßt hatte (dazu gleich mehr). Zeit seines Lebens blieb Descartes ein frommer Katholik und ein Monarchist. Beinahe ängstlich war er darauf bedacht, jedem Konflikt mit kirchlichen Instanzen aus dem Weg zu gehen und sich anbahnende Spannungen im Keim zu ersticken. Trotzdem hat ihn diese glaubensmäßige Beheimatung nicht daran gehindert, die reflexive Fassung des Glaubens in der Gestalt der Scholastik kompromisslos zurückzuweisen. Was dergestalt über Gott und die Welt – vor allem über letztere – verbreitet wird, schlägt seiner Ansicht nach dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht. Und genau das ist die Erstinstanz, auf die Descartes sich stützt. Damit teilt Descartes die Grundüberzeugung etwa auch eines Michel de Montaigne. Nur wendet er – anders als dieser – seinen Vorbehalt gegen die überkommenen Wissensansprüche von vornherein positiv. Das kommt am ersichtlichsten darin zur Geltung, dass er die Verbindlichkeit des von ihm als Urteilsinstanz beanspruchten gesunden Menschenverstands in gewissermaßen handliche Regeln gießt. Aus der Befolgung dieser Regeln verspricht sich Descartes nicht zuletzt den Gewinn einer rationalen Ethik. Ethik gilt ihm als letzte und höchste Stufe der Weisheit, die alle anderen Wissenschaften voraussetzt. Für den Weg dorthin benennt Descartes Grundsätze einer provisorischen Moral. Der erste dieser Grundsätze managt die Situation konkurrierender Geltungsansprüche, in der sich kein Entscheid über wirkliche Gültigkeit herbeiführen lässt. Der zweite Grundsatz
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der vorläufigen Ethik empfiehlt größtmögliche Entschlossenheit, wenn man sich einmal entschieden hat – auch dem Ungewissesten sei dann so zu folgen, als sei es das Sicherste. Und der dritte Grundsatz schließlich mahnt dazu, sich in Unveränderliches einzufinden und lieber die eigenen Wünsche als die Weltordnung zu verändern zu trachten, weil absolut nichts in des Menschen Macht stehe – außer seine Gedanken. Im Grunde ist das beinahe eine pragmatisch-falsifikatorische Position – bis auf die Schlusswendung: dass wir uns daran zu gewöhnen hätten, „dass nichts völlig in unserer Macht steht außer unseren Gedanken.“ (Descartes, Discours III, 4) Da blitzt etwas völlig Neues auf, das dann auch im nachfolgenden Teil IV des Discours flüchtig skizziert wird, um in den Meditationes ausführlich erörtert zu werden, im Grunde alles, was bis heute mit dem Namen ‚Descartes‘ spontan assoziiert wird: das cogito, die res cogitans gegenüber der res extensa, die Gottesbeweise, der Charakter evident wahrer Urteile. Um das genuin Neue an Descartes’ Denken zu erfassen, ist es hilfreich, einen Moment auf Michel de Montaigne zu blicken. Dieser hatte gegen menschliche Wissensansprüche der Skepsis erhebliche Rechte eingeräumt und auf Staat und Kirche als Gewissheitsinstanzen rekurriert. Descartes setzt exakt am gleichen Punkt an, sucht aber nicht mehr bei vorgegebenen Gewissheitsinstanzen Halt. Das war ihm nicht mehr möglich, weil diese in Gestalt der Religionskriege jedwede Glaubwürdigkeit verspielt hatten. Stattdessen packt er den Stier der Skepsis bei den Hörern, d. h. er reizt die Einstellung des Zweifels, die Montaigne noch dosiert eingesetzt hatte, bis an den äußersten Rand des logisch Möglichen aus. Er probiert aus, was passiert, wenn man grundsätzlich alles, was den Anspruch hat, Wissen zu sein, bezweifelt – und macht eine verblüffende Entdeckung: Der radikalisierte Zweifel, der nichts mehr als sicher gelten lässt, landet im Augenblick seiner Maximierung auf einem völlig neuen Gewissheitsboden: Selbst wenn ich alles bezweifelte, was es gibt und was ich wahrnehme: Dass ich es bin, der da zweifelt, dass es mich geben muss, ist unhintergehbar gewiss: „Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘ [ego sum, ego existo], sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“ (Descartes, Meditationes II, 2–3)
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Dieses ego cogito, ego sum und seine Herleitung zeitigten seltsame Wirkungen. Die ersten bekam Descartes selbst zu spüren. Jesuitische Theologen, die großen Einfluss am französischen Königshof ausübten und wohl auch dafür gesorgt hatten, dass nicht-aristotelisches Philosophieren unter Androhung von Todesstrafe verboten war, attackierten ihn heftig vor allem wegen seiner Idee eines ‚Deus malignus‘, eines dämonischen Lügengottes, der ihn in allem zu täuschen vermöchte; die hatte er zwar nur methodisch eingesetzt, aber allein schon der Gedanke ließ ihn in den Augen der Ideenpolizisten als Teufelsbraten erscheinen. Die zweite Wirkung des cogito hat Descartes gewiss nicht tangiert, dafür betrifft sie uns bis heute: Von Hegel über Heidegger bis Levinas (und andere) wird das Cartesische cogito stereotyp als Inbegriff des neuzeitlichen Herrschersubjekts angesehen, das sich als Mittelpunkt der Welt sieht und sich alles unterwirft, was es nicht selbst ist. Liest man aber nach dem ego cogito, ego existo in den Meditationes noch ein paar Seiten weiter, nimmt sich die Sache ganz anders aus. In der Meditatio III, die ausdrücklich vom Dasein Gottes handelt, entwickelt Descartes ausgehend vom cogito der Meditatio II einen Gedanken vom Unendlichen und dessen notwendigem Dasein – und zwar so, dass das Unendliche als Möglichkeitsbedingung des Ichs im ‚ich denke‘ auftritt. Und genau das ist das Originäre an Descartes philosophischer Theologie, und es ist im Grunde auch der Spitzengedanke der ganzen Meditationes. Formal gesehen handelt es sich um die Freilegung eines transzendentalen Bedingungsverhältnisses folgender Form: In das Denken, das im Ich seinen festen Grund hat, fallen verschiedenste Vorstellungen, so von Tieren, Menschen, Engeln und von Gott. Über die wirkliche Existenz des Vorgestellten ist damit wegen des methodischen Zweifels nichts gesagt, wiewohl sie in der Vernunft real sind. Darum müssen auch diese Vorstellungen – wie real Existierendes – einen zureichenden Grund haben. Der kann darin liegen, dass ich mir aus meiner Selbsterfahrung Vorstellungen zusammenmontiere; Fabelwesen etwa kommen ja genau so zustande. Nur im Fall der Idee Gottes ist das nicht möglich, so dass diese nur durch Einwirkung des real existierenden Gottes in meine Vernunft kommen kann. Der Grund dafür: Der Begriff des Unendlichen kann nicht einfach durch Negation von Endlichem gewonnen werden. Im Gegenteil begreife ich Endliches oder Defizitäres nur auf der Matrix des Unendlichen und Vollkommenen, das aber nicht aus
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mir selbst kommen kann. Das heißt: Der Geltungsanspruch des IchGedankens wird durch den Rückbezug auf den Begriff des Unendlichen gesichert, der seinerseits transzendentallogisch über die Mangelstruktur des Subjekts erschlossen wird. Umgekehrt kann dieser Fundierungsbegriff nur durch das reale Dasein des durch ihn Erfassten in die Vernunft kommen. Zum Gottesbeweis wird die Denkfigur also erst durch diesen Schlussschritt, der auf die Kausalität rekurriert. Möglicherweise hat Descartes selbst gespürt, dass das für den Beweis tragende Moment irgendwie nachklappt und hat darum in der Meditatio V die Thematik nochmals in Gestalt einer Variante des ontologischen Arguments aufgegriffen. Descartes hat nämlich seine von der unhintergehbaren Gewissheit des Ichs ausgehende Argumentation erklärtermaßen im Gegenzug gegen die vor allem durch Thomas von Aquin als gängig etablierten Gottesbeweise konzipiert, die strukturell auf der Notwendigkeit der Vermeidung eines infiniten Regresses basieren. Descartes lehnt diese elementare Voraussetzung aller Gottesbeweise des Thomas ab, weil im Horizont des neuen naturwissenschaftlichen Denkens unter der Voraussetzung des Trägheitsprinzips ein endloser Fortgang von Ursachen und Wirkungen konsistent denkbar ist. Allerdings bleibt auch in Descartes Beweisführung eine ausgesprochen schwache Stelle: Das Dasein des vollkommensten Wesens muss von dessen Vollkommenheit schon impliziert sein, darf also nicht noch als eine weitere Vollkommenheit hinzutreten, d. h. das vollkommenste Wesen muss auch ein notwendiges sein. Genau dieser Schritt aber ist – modern gesprochen – nicht vor dem Einwurf geschützt, es könnte sich um Projektion handeln, denn: Wir können uns ja ohne Weiteres vollkommenes Endliches denken, das ja darum auch von begrenzter Vollkommenheit wäre, ohne dafür etwas Vollkommenstes voraussetzen zu müssen – anders als beim Gedanken des Unendlichen, der sich ja als Möglichkeitsbedingung der Erfahrung von Endlichem erwiesen hatte. Unbeschadet des genuinen Neuansatzes einer philosophischen Theologie und damit der Metaphysik generell, bleibt aber zu konstatieren: Die überwältigende Mehrheit der Theologen war von Descartes’ Konzeption alles andere als begeistert. Zum einen schwammen ihnen angesichts dieser Alternative natürlich die Felle der wohlvertrauten natürlichen Theologie weg, wie sie etwa Röm 1,20
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mit dem Gedanken einer Erkennbarkeit Gottes aus den Werken der Schöpfung für möglich hält. Zum anderen dürften die Vorbehalte gegen Descartes wohl auch damit zu tun gehabt haben, dass er von dem für das christliche Denken kanonisch gewordenen Aristoteles im Grunde überhaupt nichts hielt. Und wegen der Inanspruchnahme des radikal gemachten methodischen Zweifels verdächtigte man den ängstlichen Cartesius sogar der Gottlosigkeit. Ein weiteres Konfliktfeld kommt hinzu: Anti-Aristoteliker zu sein, bedeutete für Descartes ja in erster Linie die Blockade der eben sich zu entwickeln beginnenden Naturwissenschaft durch scholastische Vorgaben aufzusprengen, also eine von der Theologie freigekommene Naturwissenschaft zu ermöglichen. Aus dem Einsatz des methodischen Zweifels einerseits und dem Leitfaden des gesunden Menschenverstandes andererseits ergibt sich die basale Differenzierung von res cogitans und res extensa, von denkender und ausgedehnter Substanz – und die Natur ist mittels letzterer zu bestimmen. Natürlich sind die Dinge hinsichtlich ihres Daseins wie ihrer Dauer vom Schöpfergott abhängig. Aber aus der zu seiner Vollkommenheit gehörenden Unveränderlichkeit Gottes folgt, dass von Seiten Gottes keinerlei Veränderung in den Dingen der Natur stattfindet. Alles, was sich da tut, geht auf die Naturdinge und ihre Interaktionen zurück. Daraus resultiert ein durch und durch mechanistisches Bild von der Natur. Schon in seinem bereits erwähnten Werk Die Welt von 1633 (veröffentlicht postum 1664) schreibt Descartes: Gott habe am Anfang keinen Kosmos, sondern das Chaos geschaffen, aus dem sich dann nach mechanischen Gesetzen die Ordnung des Geschaffenen herausentwickelt habe. Isaac Newton setzte dem aus Sorge, so könne ein atheistisches Bild von der Welt entstehen, ein Konzept entgegen, das nicht-mechanische Kräfte wie die Gravitation einschloss, in denen sich das Wirken Gottes zur Geltung bringe. Jedoch wurde Newtons Theorie entgegen der erklärten Intention ihres Urhebers als mechanistisches Konzept missverstanden. Dass Newtons Sorge nicht ganz unberechtigt war, zeigt sich daran, dass Cartesianer relativ schnell die mechanistische Erklärung der Natur auch auf die Auslegung der Bibel bezogen und infolge davon alle Aussagen der Schrift, die sich mit der neuen Naturwissenschaft nicht vereinbaren ließen, damit erklärten, dass sich der Heilige Geist an diesen Stellen dem Fassungsvermögen der biblischen Autoren angepasst habe – ein durchaus sympathisches Konzept, auf den ersten
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Blick. Nur wenn es einmal in Gebrauch genommen ist, greift keinerlei Kriterium mehr, wo denn nun solch angepasster Sprachgebrauch vorliege und wo die Dinge an sich zur Sprache kommen. Dennoch handelt es sich bei dieser theologischen Opposition um die sprichwörtlichen peanuts im Vergleich zu dem, was sich Descartes mit dem ‚res cogitans-res extensa‘-Theorem wirkungsgeschichtlich bis heute andauernd von philosophischer Seite an Prügel einhandeln sollte. Gemäß dem mechanistischen Ansatz sind für Descartes – durchaus konsequent – auch Tiere und Menschen nichts anderes als raffinierte Maschinen. Um genau zu begreifen, wie sie funktionieren, nimmt man sie am besten auseinander (Descartes hatte sein Arbeitszimmer mit Präparaten sezierter Tiere vollgestellt, die er seinen Besuchern gern als ‚meine Bücher‘ vorstellte). Weiß man, wie etwas funktioniert, dann kann man es natürlich auch manipulieren, z. B. optimieren. Oder man kann versuchen, Lebewesen technisch nachzubauen. Es ist die Zeit, in der man aus Blech mechanische Tiere baut von einer Raffinesse, die noch heute sprachlos macht. Es kann kein ernsthafter Zweifel bestehen, dass genau an diesem Punkt wirkungsgeschichtlich gesehen der Siegeszug der sogenannten instrumentellen Vernunft einsetzt, der den Erfolg der modernen Wissenschaften überhaupt erst ermöglicht, aber in einem dialektischen Umschlag auch all das heraufbeschworen hat, was uns heute von Öko-Kollaps bis Klonierung und Künstlicher-Intelligenz-Forschung umtreibt. Und darum gilt Descartes vielen gegenwärtigen Zeitgenossen regelrecht als ein philosophischer Gott-sei-bei-uns. Aber vielleicht sollten diejenigen, die wie selbstverständlich die praktischen Konsequenzen eines Prinzips nutzen, nicht einfach dessen Urheber dafür verantwortlich machen, dass sich das Prinzip auch missbrauchen lässt. Ethik ist unteilbar – und einem Descartes galt sie als höchste Stufe der Philosophie. Es gibt einen Teilbereich aus dem Feld der ‚res cogitans-res-extensa‘-Problematik, der sich in den letzten Jahren zu einem der heißesten Streitfälle in der Philosophie der Gegenwart entwickelt hat – und Descartes’ Name fällt immer als Kürzel dafür, wie es nicht geht, obwohl bis heute keiner zu sagen vermag, wie es anders geht. Das Verhältnis von res cogitans und res extensa muss natürlich dort regelrecht in den Härtetest treten, wo es um das Thema ‚Leib-Seele‘ oder in heutiger Version Mind and Brain geht. Descartes hat einen Dualismus vertreten und dann die Möglichkeit der Interaktion zwischen
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beiden Dimensionen zu fassen versucht. Solange heutige Ansätze nicht kategorisch das Mentale zugunsten des Materiellen zu eliminieren suchen, sind sie damit befasst, einen solchen Dualismus zu vermeiden und trotzdem die Dimension des Mentalen und seine Sprache als irreduzibel zu erweisen. Weitgehend allgemein akzeptierte Resultate gibt es bisher nicht. Die Frage steht im Raum, ob es sie je überhaupt wird geben können. Insofern steht Descartes in der Sache genau besehen gar nicht so schlecht da. Eine zweite Front: Nicht nur theologische Kritik von Theologen und philosophische Kritik von Philosophen zog und zieht er auf sich. Er bekam schon zu Lebzeiten auch theologischen Gegenwind von philosophischer Seite zu spüren. Er hatte nämlich der Sache nach so etwas wie einen prinzipiellen Gegenspieler: Blaise Pascal. Verblüffend nimmt sich an diesem die Zahl der Übereinstimmungen mit Descartes aus: Glänzender Physiker und Mathematiker – wie jener; überzeugter Katholik – wie jener; ab einem gewissen Zeitpunkt war es freilich kein Überzeugtsein mehr, sondern – zumindest von außen gesehen ein Fanatismus, der kompromisslos war, Gegnern gegenüber unfaire Mittel nicht scheute und auch vor Denunziation nicht halt machte; Anti-Aristoteliker und Anti-Scholastiker – wie Descartes; in Dauerclinch mit den Jesuiten-Theologen – wie jener. Und dennoch scheinen Descartes und Pascal miteinander nichts anzufangen gewusst zu haben. Die bislang jüngste anticartesianische Revolte geht von den prominenten Philosophen Hubert Dreyfus und Charles Taylor aus: Sie sehen selbst die Dualismuskritik des linguistic turn und des zeitgenössischen Materialismus noch immer behext von Descartes’ Modell des Repräsentationalismus, demgemäß Erkenntnis der Wirklichkeit immer nur durch mentale Vermittlungsinstanzen möglich ist. Gegen den Rahmenirrtum dieser Innen-Außen-Denkfigur argumentieren sie für ein Modell der Unmittelbarkeit von Erkennen und Realität, wie sie es in der Antike durch Platon und Aristoteles, in der jüngeren Gegenwart u. a. durch Heidegger, Merleau-Ponty und Wittgenstein vertreten finden, die allesamt von einer Einbettung des Denkens in physische und soziokulturelle Kontexte ausgehen und damit jeden Dualismus im Ansatz unterlaufen. So wird der viel gescholtene Descartes am Ende auch noch zum Abstoßpunkt für die jüngst in Gang gekommene Realismus-Debatte.
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Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, aus dem Englischen von Hainer Kober, München – Leipzig 1994 [Taschenbuchauflage 2004]. (Das Buch bietet ein klassisches Beispiel für die heute aus den Lebenswissenschaften kommende Kritik an Descartes’ Konzeption.)
Hubert Dreyfus / Charles Taylor, Die Wiedergewinnung des Realismus, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Berlin 2016. (siehe Textende.)
Christian Link, Subjektivität und Wahrheit. Die Grundlegung der neuzeitlichen Metaphysik durch Descartes, Stuttgart 1978. (Diese schon etwas ältere Arbeit zeichnet zum einen die bahnbrechenden Konsequenzen der Entdeckung des ego cogito nach, vergegenwärtigt die christliche Mitverantwortung für dessen Konstitution und thematisiert die Probleme, die Descartes’ Ansatz der Philosophie einträgt.)
Jean-Luc Marion, Sur la théologie blanche de Descartes. Analogie, création des vérités éternelles et fondement, Paris 1981. (Eines der zahlreichen kritischen Bücher des Autors über Descartes, das diesen einer inkonsistenten Theologie zeiht.)
Wolfgang Röd, Descartes. Die Genese des cartesianischen Rationalismus, 3., ergänzte Auflage, München 1995. (Das Buch zeichnet die Genese des cartesianischen Rationalismus nach und argumentiert für dessen Unrealisierbarkeit.)
Das nachmetaphysische Denken
Blaise Pascal Isabella Guanzini
Blaise Pascal als Zeitgenosse Blaise Pascal (1623–1662) ist ein einzigartiger Zeitzeuge, da sein Leben das gesamte wissenschaftliche, philosophische und religiöse Leben seiner Epoche in intensiver und eigentümlicher Weise widerspiegelt. Schon früh widmete er sich mit großem Erfolg den empirischen Wissenschaften und der Mathematik, da er bereits 1635 die von Marsenne gegründete Académie mathématique besuchte. Seine erste wissenschaftliche Schrift l’Essai pour le coniques (1640) und die Konzeption einer arithmetischen Maschine (1642) zeigen, dass er schon in seinen jungen Jahren den Geist der modernen Wissenschaft verinnerlichte. In seiner sogenannten „mondänen Periode“ erlebte Pascal die soziale Welt seiner Gegenwart – das Hofleben und die Stadt zur Zeit von Richelieu mit seinen literarischen und wissenschaftlichen Salons, in denen er die bon vivants und den als honnête homme definierten Menschentypus kennenlernte. Das Ideal der „honnêteté“ als gesellschaftliche Lebenskunst und Wissensform regte ihn zum Nachdenken über ein allseits umgängliches, vollkommenes und gemeinschaftsbezogenes Menschenbild an, was ihm die Frage nach einer anderen Dimension des Geistes, die der mathematischen Vernunft unzugänglich und nicht auf den esprit de géométrie reduzierbar ist, eröffnete. Er verstand, dass die Komplexität der menschlichen Existenz ein anderes Vernunftkonzept benötigt: einen esprit de finesse, der ein existenzielles Involviertsein des Subjekts sowie ein inneres Berührt-werden miteinschließt. In der Nacht des 23. Novembers 1654 hat sich Pascals ‚Bekehrungsprozess‘ vollzogen – so
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bezeugt es sein Mémorial, eine kurze Aufzeichnung über seine Gotteserfahrung, die er ständig in das Futter seiner Jacke eingenäht trug, ohne dass es bis zu seinem Tod jemand bemerkte. Seitdem näherte er sich schrittweise dem Kloster von Port Royal und seiner jansenistischen Religiosität an, die ihn dazu brachte, seinen Glauben existentiell zu vertiefen und den übertriebenen Rationalismus der damaligen Theologie zu bekämpfen. Er befasste sich mit dem Skeptizismus Epiktets und Montaignes und versuchte, mit dem herausragenden literarischen Stil seiner Lettres provinciales (Briefe in die Provinz, 1656–57), jedoch anonym, – in die damaligen intellektuellen und theologischen Debatten zwischen Jesuiten und Jansenisten, Molinisten und Calvinisten, Rigoristen und Laszivsten einzugreifen. Sein Anliegen war, die Ansprüche einer zu „mondänen“ Theologie zu desillusionieren und ein falsches Christentum zu entlarven, um die Relevanz der Gnade und der Bekehrung gegen die jesuitische „Kasuistik“ im moralischen Bereich hervorzuheben. Sein Projekt einer umfassenden Apologie des Christentums ist uns in Form von tausend Fragmenten (Pensées) erhalten geblieben, von denen einige kaum skizziert, andere wiederum in einem artikulierten und vollständigen Diskurs dargelegt worden sind. In diesen Fragmenten fragt er die Gotteserkenntnis der rationalen Theologie zugunsten eines religiösen Gottes, der die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Menschseins anzuerkennen und zu erlösen vermag, an. Pascal steht jedoch nicht nur für eine einzigartige, vielschichtige und rastlose Seele der Moderne. In der Tat kann er auch als einzigartiger Zeuge unserer Zeit verstanden werden, insofern sein philosophischer Diskurs einen beeindruckenden, rationalen Weg darstellt, der gleichzeitig ein großartiges Bewusstsein für die Grenzen des modernen Vernunftkonzepts und der rationalen Theologie zum Ausdruck bringt. „Wir sind unfähig zu erkennen, was Gott ist und ob er ist“ (Fr. 418), schreibt er in seinen Pensées. Mit seiner Idee des Deus absconditus, welche Gott als „unendlich unbegreiflich“ kennzeichnet, weist Pascal darauf hin, dass die klassische metaphysische Tradition und der ihr entsprechende Vernunftbegriff weder einen rational verantworteten Diskurs über Gott noch die Einheit der Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen erfassen können. Darüber hinaus legt Pascal damit den Grundstein für eine Hermeneutik der religiösen Erfahrung, die von der Begrenztheit und Widersprüchlichkeit
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der conditio humana ausgeht, in der sich jedoch die Zeichen eines transzendenten Ursprungs und Ziels erkennen lassen.
Pascalsche Anthropologie Die Anthropologie steht im Zentrum der religionsphilosophischen Perspektive Pascals. Dabei stellt das Glückstreben in all seinen Ausformungen das grundlegende Kennzeichen der menschlichen Erfahrung dar, obwohl es innerweltlich substanziell aussichtlos bleibt. Dem Menschen ist als endliches und sterbliches Wesen nur eine flüchtige und unbefriedigende Erfahrung von Glück beschieden, die ihn zu Langeweile und einem Zustand der Sinnlosigkeit verurteilt. Der Mensch findet sich in einer stummen und sogar feindseligen Natur wieder, verloren in einem entlegenen Winkel des Universums, bestürzt „in der ewigen Stille“ der unendlichen Räume, ohne sein Schicksal und seine Pflichten zu kennen. Die menschliche Vernunft ist nicht in der Lage, eine universelle Ethik mit moralischen Prinzipien zu begründen, die für alle Zeiten und für jede*n gelten könnten. Man sieht nichts Rechtes oder Unrechtes, „das bei einem Klimawechsel nicht seine Eigenart wechselt; drei Grad Polhöhe kehren die ganze Jurisprudenz um, ein Meridian entscheidet über die Wahrheit“ (Fr. 60/294). Die Unfähigkeit des Menschen, auf natürliche Weise zur Wahrheit, zum Guten und zum Glück zu gelangen, offenbart seinen grundlegenden Zustand der Zerrissenheit und des Elends, auf welchen Pascal sein Augenmerk richtet. Der Mensch ist nichts anderes als Verstellung, Lüge und Heuchelei, also ein „ewiger Irrtum“. Das größte und unheilvollste menschliche Elend, so urteilt Pascal schließlich, ist die „Zerstreuung“, das divertissement, das nichts anderes als eine Flucht vor sich selbst darstellt. Deswegen ist für den Menschen nichts unerträglicher, als in völliger Ruhe zu sein, ohne Geschäfte und ohne Leidenschaften, denn dann spürt er seine Unzulänglichkeit, seine Leere und seine Ohnmacht. Aus den Tiefen seiner Seele dringen dann die Traurigkeit, die Langeweile, die Schwäche und die Abhängigkeit seines sterblichen Zustands hervor. Der Mensch ist tatsächlich ein „Mittelding zwischen nichts und allem“, der keinen fixen Ort und keine Sicherheit besitzt und zwischen Hochgefühl und Melancholie schwankt.
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Andererseits erkennt Pascal, dass der Mensch nicht nur Elend ist, weil er sich eben genau dieser Situation bewusst ist. Deswegen stellt das Bewusstsein des eigenen Elends gleichzeitig auch ein Zeichen der Größe dar. „Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr“ (Fr. 200/347). Die Größe und die Würde des Menschen liegen deshalb in seinem Denken bzw. in seiner Fähigkeit, den eigenen elenden Zustand zu erkennen. Der ontologisch unglückliche Mensch, der sich seines radikalen Elends rational bewusst wird, ist auf der Suche nach einem absoluten Sinn. Pascal glaubte erst, diesen Sinn in den Naturwissenschaften oder in den philosophischen Theorien zu finden, doch erkannte er, dass diese den Menschen nicht retten können. Wo also nach dem Guten und dem wahren Glück suchen? Auf wen lässt sich wirklich hoffen?
Nachmetaphysisches Gottesfragen Weder der Deismus noch der Atheismus stellen nach Pascal mögliche Wege erlösender Gottes- und Wahrheiterkenntnis dar, denn es gibt weder ein Wissen über Gott ohne Wissen über unser Elend (Deismus), noch ein Wissen über unser Elend ohne Wissen über Gott (Atheismus). Nur das Christentum ist für Pascal in der Lage, die Duplizität und Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz zu verstehen, da die Erbsündenlehre von einem Zustand ursprünglicher Größe spricht, aus dem der Mensch durch eigenes Verschulden herausgefallen ist. Folglich definiert Pascal den Menschen als einen „entthronten König“ (roi dépossédé, Fr. 116/398, 117/409), der aufgrund des Sündenfalls nun in einer elenden Situation lebt und eine Sehnsucht nach einer geheimnisvollen Größe verspürt, die er jedoch nicht wirklich erfahren kann. Nur der christliche Glaube vermag, die Spuren dieses vollkommenen Zustands zu entschlüsseln und dem Menschen als einem ihm selbst unbegreiflichen Rätsel eine Orientierung zu geben. Der Glaube ist nach Pascal aber nicht im metaphysischen Sinn beweisbar, auch wenn er keineswegs irrational ist. In diesem Sinn hat Pascal eine neue „Apologetik“ erfunden, welche die traditionell ob-
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jektivierende, intellektualistische und unpersönliche Gotteserkenntnis aufhebt und das Herz als besonderes Erkenntnisorgan und menschliches Existenzzentrum zur entscheidenden Instanz macht, sofern sich in ihm alles, was den Menschen ausmacht (Fühlen und Erkennen, Denken und Wollen, Sehnen und Verstehen), versammelt. Demzufolge kritisiert Pascal den Gott der Philosophen und Gelehrten bzw. den Gott als Urheber geometrischer Wahrheiten und kosmischer Ordnung. Im Zentrum seiner Religionsphilosophie steht im Gegenteil „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, der ihr Dasein durchdringt, sie in ihren Herzen berührt, das gewöhnliche Leben erschüttert und den Sinn des Lebens umstößt. Gott kann nicht als Gegenstand aus einer distanzierten Beobachterperspektive erkannt, sondern nur in der Innerlichkeit des Menschen, der sich von der Nähe Gottes „berühren“ lässt, erspürt werden. Deswegen „ist das Herz, das Gott fühlt, und nicht die Vernunft“ (Fr. 424), das Zentrum und die Bedingung jeder Gotteserkenntnis. Aus diesem Grund entspricht der Glaube keiner metaphysischen Erkenntnis, sondern der Erfahrung eines Berührt- und Heimgesuchtwerdens und dem Wunsch, dem Anderen Raum zu geben und sich seinem Anderssein auszusetzen. Offenbarung entsteht nicht als Erweiterung des Wissens, sondern als unvorhergesehene Erfahrung, die in der Ordnung des Ereignisses und der Begegnung liegt. Letztere bedarf eines esprit de finesse und kann nur durch das Herz wahrgenommen werden. Pascal setzt jedoch Erkenntnis des Herzens und Erkenntnis der Vernunft keineswegs als entgegengesetzt fest: Herz und Vernunft – esprit de géométrie und esprit de finesse – wirken vielmehr aufeinander ein, wenngleich die Herzenserkenntnis für die Vernunft eine vermittelnde und begründende Funktion in jeder Weltbeziehung hat: Sie kann nur auf der Grundlage dessen wirken, was das Herz in Gestalt erster Prinzipien und Axiome weiß und es reflexiv und diskursiv erläutern. Die Vernunft muss – nachmetaphysisch – erkennen, dass es unendliche Dinge gibt, die sie übersteigen. Zugleich soll die Religion auf vernünftigen Argumenten beruhen, die sowohl das Elend als auch die Größe des Menschen anerkennen, wie es beim Christentum dank der Zentralität der Figur Jesu Christi, welche die Philosophie erschüttert und deren Geheimnis exegetisch sowie historisch untersucht werden soll, der Fall ist.
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Obwohl die christliche Religion nicht in der Lage ist, die Existenz Gottes unumstößlich zu beweisen, zwingt das Leben Pascal zufolge zu einer Entscheidung. Deswegen behauptet er, dass man – gegen jeden radikalen Skeptizismus – wetten (parier) muss. Im Argument der Wette (pari) begegnen sich wissenschaftliche Logik und der Wille zum Glauben, um das Gewissen des bon vivants davon zu überzeugen, dass es vernünftig ist, sich für Gott zu entscheiden. Denn wenn Gott existiert, so hat der/die gläubige Wettende fraglos die Wahrheit und das höchstmögliche Glück bzw. die ewige Seligkeit gewonnen; existiert Gott nicht, so hat er/sie nichts verloren bzw. nur endliche und „irdische Freuden“, er/sie hat jedoch ein getreues und redliches Leben im Sinne Gottes gelebt. Das Argument der Wette ist mit der anti-fideistischen Frage nach der Vernünftigkeit des Glaubens eng verbunden, der auf keinem blinden oder willkürlichen Entschluss beruht. Die zwei Extreme des Fideismus und des Rationalismus sind zu überwinden, indem sowohl der Verzicht auf die Vernunft als auch ihre übertriebene Relevanz zum Verlust des Übernatürlichen führen würden. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Pascals Apologetik des Christentums keineswegs eine Ablehnung oder Abwertung der Vernunft bedeutet, sondern dass sie vielmehr als eine Infragestellung ihrer dogmatischen Radikalisierung zugunsten eines kritischen Rationalismus gelesen werden kann. Demzufolge könnte man behaupten, dass der kantische Kritizismus nicht ohne Pascal zu denken ist. Einerseits sind bei Kant sowohl die Kritik am Skeptizismus als auch die Kritik am Dogmatismus zu finden, andererseits hat auch Kant das Wissen aufheben müssen, um dem Glauben Platz zu machen. Pascal und Kant haben systematisch über die Grenzen der (reinen) Vernunft nachgedacht, um dem Denken eine andere Art nachmetaphysischer Orientierung anzubieten. Markus Knapp, Herz und Vernunft – Wissenschaft und Religion. Blaise Pascal und die Moderne, Paderborn 2014. (Eine äußerst interessante Hermeneutik des pascalschen Denkens nicht nur im Kontext der Moderne, sondern auch der nachmetaphysischen Gegenwart. Das Werk fokussiert auf den wechselseitigen Verweis von Herzens- und Vernunfterkenntnis.)
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Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, hg. von Jean-Robert Armogathe, aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann, Stuttgart 2021. (Der Übersetzung liegt die Textfassung der Pensées zugrunde, die Louis Lafuma für Pascals Œuvres complètes, Éditions du Seuil, Paris ����, besorgt hat.)
Albert Raffelt / Peter Reifenberg, Universalgenie Blaise Pascal. Eine Einführung in sein Denken, Würzburg 2011. (Eine gute lesbare Einführung aus theologischer Perspektive.)
Hans-Martin Rieger, Menschlich denken – Glauben begründen. Blaise Pascal und religionsphilosophische Begründungsmodelle der Moderne, Berlin – New York 2010. (Eine religionsphilosophische Untersuchung der Frage nach dem rationalen Begründen im Ausgang der analytischen Erkenntnistheorie.)
Die Freiheit zu philosophieren
Baruch (Benedictus) de Spinoza Fana Schiefen
Seine Rehabilitierung und seinen Kultstatus hat Spinoza Vertretern der klassischen romantischen deutschen Literatur (von Lessing, Herder und Goethe bis hin zu Schlegel und Heinrich) zu verdanken. Spinozas Philosophie bietet eine aufgeklärt-religiöse, alle Lebensbereiche umfassende Weltdeutung, die – jenseits der geschichtlichgeoffenbarten Religionen – sowohl auf das metaphysische Grundproblem der Verbindung des Endlichen mit dem Unendlichen, als auch auf die anthropologische Herausforderung der Bewältigung menschlicher Kontingenzerfahrungen eine plausible Antwort liefert.
Bento, Baruch, Benedictus – zum biografisch-intellektuellen Profil Spinozas Baruch de Spinoza zählt zu den geheimnisvollsten und polarisierendsten Denkern der europäischen Philosophiegeschichte. Am 24. November 1632 in Amsterdam geboren, wächst Spinoza in einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf, die wegen der Unterdrückung der Juden im Zuge der katholischen Inquisition zunächst aus Spanien, dann aus Portugal fliehen musste und in den Niederlanden Zuflucht fand. Dort besucht er die Schule einer jüdischen Gemeinde und genießt eine biblisch-talmudische Ausbildung. Aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit der Philosophie distanziert er sich mehr und mehr vom Judentum und wird im Alter von 23 Jahren von der Amsterdamer portugiesischen jüdischen Gemeinde ausgeschlossen und mit dem Bannfluch
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(Cherem) belegt, einer auch sozial und wirtschaftlich gesehen harten Strafe. Mittellos geworden, wird er von Freunden (v. a. aus der freireligiösen Gemeinschaft der sogenannten Kollegiaten, die ihn auch 1656 nach seiner Exkommunikation aus der Synagoge bei sich aufnahm) unterstützt und verdient zeitweise als Linsenschleifer seinen Lebensunterhalt. Die zwar zu Lebzeiten, jedoch anonym veröffentlichte Schrift, der Tractatus theologico-politicus, löste heftige Debatten aus, sodass diese Auseinandersetzung mit rechtsphilosophischen und religionsphilosophischen Fragen 1674 verboten wurde. Beeinflusst war Spinoza einerseits von René Descartes’ Philosophie (von der er sich jedoch kritisch absetzte), der Cartesianischen Physik und der Geometrie im Allgemeinen sowie andererseits von der mittelalterlichen jüdischen Philosophie. Letztere könnte auch eine Übermittlerin neuplatonischen Gedankenguts gewesen sein, das maßgeblich in seine Gottes- und Erkenntnislehre eingeflossen ist. Sein Denken ist nicht nur vom Geist der Geometrie geprägt, sondern strukturiert sich auch in axiomatischer Darstellungsweise, in der die Sätze nicht allein aus evidenten Prämissen abgeleitet werden. Diese logische Beziehung überträgt Spinoza auch analogisch auf die Abhängigkeit aller Wesen von Gott, als der absolut unendlichen Substanz (zu diesem Begriff später mehr). Als sein Hauptwerk gilt die Ethik nach der geometrischen Methode bewiesen (Ethica ordine geometrico demonstrata), die erst 1677 posthum erscheinen wird. Seine zweite politische Schrift (Tractatus politicus) kann er nicht mehr vollenden, da er am 21. Februar 1677, im Alter von 44 Jahren, an Tuberkulose erkrankt und wenig später stirbt. Spinoza polarisiert bis heute. Er war zeit seines Lebens einerseits offenem Hass und Judenfeindlichkeit ausgesetzt, andererseits gilt er vielen als der „nobelste und liebenswerteste der großen Philosophen“ (Bertrand Russel). Scharfe Kritik erfuhr Spinoza von Leibniz, Fichte, Schelling, Hegel, als auch Feuerbach und Marx und Heidegger. Bei Schelling und Hegel lösten seine philosophischen Theorien sowohl heftigen Widerstand aber auch große Begeisterung aus. Besonders beeindruckt hat Spinoza wohl durch seine unnachahmliche Weise, Denken und Leben miteinander zu vereinen. Er denkt das GottWelt-Verhältnis radikal-rational und macht sich von allen religiösen Bekenntnissen frei. Er führt ein zurückgezogenes, bescheidenes Leben und gilt als aufrichtiger, tugendhafter und freier Mensch.
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Baruch (Benedictus) de Spinoza
Der andauernde Streit um Metaphysik und die ihr angemessene Kritik, zeigt, dass die Frage nach dem Ganzen und dessen Ursprung bis heute virulent ist. Die Aktualität von Spinozas Philosophie herauszustellen, bedeutet weder, ihn zum Kult zu machen, noch ihn als modernen Denker zu stilisieren.
Rationale Metaphysik – Grundlegung einer Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik der Freiheit Spinoza geht es um ein aufgeklärtes Verhältnis zur Religion. Dafür ist es seiner Ansicht nach nötig, die institutionalisierte Theologie durch Religionsphilosophie zu ersetzen. Solange der Glaube sich vor der Kritik der Vernunft versteckt, droht ihm die Gefahr, zum Aberglauben und Götzendienst zu verkümmern. Ziel seiner Abhandlungen ist es, sämtliche existentiellen Fragen des Menschen unabhängig von aller positiven Offenbarung aus dem Denken allein zu beantworten und so die Vernunft von der Religion zu emanzipieren – ein durch und durch moderner Denker. In radikal-rationalistischer Manier identifiziert Spinoza also Gott und Wahrheit bzw. wahres Denken von Vollkommenheit und Unendlichkeit, überwindet im Zuge dessen Descartes’ Dualismus und sieht sich fortan dem Vorwurf des Pantheismus bzw. Atheismus, des Materialismus bzw. Determinismus ausgesetzt. Wenn Gott als Ausgangspunkt einer philosophischen Metaphysik gelten soll, muss er auch näher bestimmt und rational begründet werden. Für Spinoza heißt das, dass Gott mehr sein muss, als nur das vollkommenste und notwendig existierende Wesen. Mittels des Begriffs der substantia kann Spinoza zwar einerseits an eine lange Tradition anknüpfen, andererseits entwickelt er jedoch einen ganz eigenen Substanzbegriff, der zu einem metaphysischen System ausgebaut wird: „Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und aus sich begriffen wird: das heißt das, dessen Begriff nicht des Begriffes eines anderen Dinges bedarf, um daraus gebildet werden zu müssen“ (Eth. I, Def.3, vgl. Axiom 1–2). Spinoza ist davon überzeugt, dass es nur eine Substanz geben kann, die als Grund und Ursache (causa sui) allen wirklichen Seins gilt. Hier präsentiert Spinoza seinen Gottesbegriff in ontologischer Beweisform, der nicht zuletzt von Martin Heidegger scharf attackiert wurde. Um einem Substanz-Dua-
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lismus auszuweichen, ist folglich alles wirklich Seiende ontologisch inbegriffen in dem absolut Einen und nur deshalb überhaupt wirklich, weil es nicht dem Absoluten gegenüber, sondern in ihm selbst existiert. „Deus sive natura“ (Eth. IV, Lehrsatz 4, Beweis). Für Spinoza gibt es nur eine Wirklichkeit, nämlich Gott: „Was auch immer ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein und begriffen werden“ (Eth. I, 15). Diese monistische Weltsicht, welche alles Wirkliche aus einem einzigen Prinzip heraus erklären will, leitet Ausdehnung und Denken als Attribute und Ausdrucksweisen ab und qualifiziert die jeweiligen Spezifizierungen als Modi der einen Substanz. Alles Wirkliche ist daher in Gott, als eine Weise, in der Gott selbst ist; und umgekehrt ist Gott auch in allen Dingen, die sind. Diese Aussage hat zum Pantheismus-Vorwurf geführt und kulminiert philosophiegeschichtlich im sogenannten „Pantheismus-Streit“, der von Friedrich Heinrich Jacobi mit seiner Veröffentlichung Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (erste Fassung 1785) initiiert worden ist, worin er Lessing posthum des „Spinozismus“ bzw. Atheismus bezichtigte. Als theologisch anschlussfähig erweist sich eine Lesart, die Spinozas Metaphysik als Vermittlung von Alleineinheit und Singulärem versteht, die sich wie ein „Vexierbild“ (Klaus Müller) präsentiert, in dem je nach Perspektive sowohl „das Einzelne als Modus der unendlichen Substanz und damit aber auch das Unendliche im Endlichen begegnet“ (Müller, Gott jenseits von Gott, 116.). Gleich, welcher Lesart man sich anschließt, sollte der Substanzbegriff nicht isoliert betrachtet, sondern in einem dialektischen Verhältnis von Ontologie und Anthropologie verstanden werden. Ob sein metaphysisches System, das auf einer Variante des ontologischen Arguments fußt, heute noch überzeugt, hängt nicht zuletzt mit der Aktualität seines politischen Anliegens zusammen: den philosophischen Dualismus von Sein und Denken, den man bis dahin nur mit einer transzendenten Ursache vermitteln konnte, zu überwinden, um radikale Freiheit im Denken zu erlangen.
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Ethik und Anthropologie Spinoza ging es in seinem Streben nach der Freiheit des Denkens nicht nur um das Individuum. Seine Ethik offenbart die Zielrichtung seines philosophisch-politischen Ansinnens: Es geht um den Frieden der Gesellschaft, der gerade im modernen Nationalstaat angesichts der in Europa wütenden Bürgerkriege gefährdet ist. Der Religion misst er eine entscheidende Rolle für das menschliche Zusammenleben bei. Dieser kann sie aber nur noch gerecht werden, indem sie sich der radikalen Religionskritik einschließlich des Anthropomorphismus- und Projektionsverdachts stellt. Dies hat weitreichende Konsequenzen für das Gottesbild, die sich für Spinoza rein (onto-) logisch aus seiner Metaphysik ergeben, mit der christlichen Metaphysik und Schöpfungslehre aber kaum vereinbar sind: Gott (natura naturans) handelt weder zweckgebunden noch um den Menschen willen, sondern allein aufgrund der Notwendigkeit seiner Natur, in der sich seine Freiheit in allen denkenden wie ausgedehnten Dingen, den beiden Modi seiner sich uns präsentierten Attribute, verwirklicht. Die menschliche Existenz (natura naturata) ist also ein Modus der Substanz, die sich durch den Selbsterhaltungstrieb (conatus) auszeichnet. Dieser wiederum ist auch die Basis der Lehre von den menschlichen Affekten, die Spinoza im Rahmen seiner Ethik ausbuchstabiert, und die eine große Wirkungsgeschichte bis in die Psychoanalyse und in aktuelle Emotionstheorien hinein entfaltet. Hier kann man Spinozas harsche Kritik an klassischen Auffassungen göttlichen Handelns erkennen, die sich gegen jede theologische Anthropozentrik sowie gegen jeden Wunderglauben richtet. Ihm geht es vielmehr um Verwirklichungsmöglichkeiten menschlicher Freiheit, die die Erkenntnis Gottes und die Liebe zu Gott immer schon voraussetzen – amor intellectualis Dei.
Politische Philosophie und historisch-kritische Exegese Angesichts von Spinozas Gottesphilosophie und der oben skizzierten Motivation seines Denkens, ist es nur logische Konsequenz, dass auch die biblischen Zeugnisse zum Gegenstand der historischen Kritik werden müssen – nicht um sie wertlos erscheinen zu lassen, sondern um den in ihr enthaltenen moralisch-praktischen Wert durch
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freien Vernunftgebrauch herauszustellen. In gewisser Weise kann er als Vorreiter der Reformatorischen Exegese gelten, die zunächst noch an der Verbalinspiration und dem historischen Sinn der Schrift festhält. Den philosophischen Rahmen einer radikal-skeptischen Hermeneutik bilden Spinozas Grundprinzipien Freiheit, Rationalität und Frieden. Auf diese Weise gibt er der der historisch-kritischen Bibel-Exegese, welche paradigmatisch für die liberale Theologie aller Konfessionen geworden ist, ein philosophisches Fundament (vgl. Tractatus theologico-politicus, Vorrede und Kap. 7).
Theologische Aktualität eines skeptischen Denkers Spinozas Philosophie bietet Denkanstöße und -modelle, die für heutiges Theologisieren von hoher Relevanz sind. Eines der zentralen spekulativ-metaphysischen Probleme, mit dem sich auch die gegenwärtige Religionsphilosophie zu befassen hat, ist die Verhältnisbestimmung von Unendlichem und Endlichem. Spinoza legt nicht nur eine Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft vor, in der Substanz als erstes Prinzip aller wissenschaftlichen Erklärung fungiert, sondern bietet einen in Rationalität gründenden Perspektiven-Dualismus als Ausweg aus dem Dualismus von Gott und Welt bzw. Denken und Sein. Aus diesem Grund kürt ihn Klaus Müller zum „heimlichen Paten“ des Panentheismus. Gegenüber dem landläufig unterstellten Pantheismus wird hier der Panentheismus ins Feld geführt, mit der Begründung, dass zwar die Dinge als in Gott, aber Gott nicht als in den Dingen gedacht werden könne. Denn wenn alles in Einem ist, muss notwendigerweise ein Unterschied gemacht werden zwischen diesem Einen und dem, was in dem Einen als einem zu ihm anderen ist. Ob dies nun als Pantheismus oder Panentheismus gelten muss und was diese Modelle insgesamt für eine theologisch konsistente Bestimmung des Gott-WeltVerhältnisses leisten, ist Gegenstand aktueller philosophisch-theologischer Debatten. Dass solche und andere spekulativen Reflexionen nicht in einem hermetisch-abgeschlossenen eurozentrischen System zu entwickeln sind, zeigen schon die vielseitigen Bezüge bei Spinoza selbst. Parallelen zu östlichen Philosophien – v. a. die indische Vedanta-Tradition – ermöglichen einen interreligiösen und interkulturellen Dia-
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log, der sich mehr für einen freien Gebrauch der Vernunft starkmacht als für die Apologetik der konkurrierenden Glaubenstraditionen. Sein universales Denken wirkt bis heute in hermeneutische, anthropologische und ethische Diskurse hinein. Zu den (be)drängendsten Themen der globalisierten Gegenwart gehört die ökologische Krise, die im doppelten Sinne eine Krise des Menschen ist. Sie fordert ein anderes Verhältnis des Menschen zur Natur. Das beinhaltet sowohl ein neues Menschenbild wie auch einen neuen Naturbegriff. Wie so häufig lohnt ein Blick in die (Philosophie-)Geschichte, um – auf der Suche nach Antworten – möglicherweise auf Spinozas Substanz-Begriff zu stoßen. Theologisch ist dieser einerseits besonders anregend, da er in seiner Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur auch dem Gottesgedanken nicht ausweicht. Herausfordernd ist diese Verhältnisbestimmung andererseits durch die ihr inhärente Teleologie- und Anthropomorphismuskritik, der zufolge der Mensch nicht im Gegenüber zur Natur, sondern als Teil der Natur gedacht wird. Wolfgang Bartuschat, Baruch de Spinoza, 2., aktualisierte Auflage, München 2006. (Leicht zugängliche Einführung in Leben und Werk des Philosophen Spinoza aus der Feder des renommierten Übersetzers und Herausgebers der Werke Spinozas.)
Wolfgang Bartuschat, Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik, Hamburg 2017. (Der Band enthält verschiedene Aufsätze des Spinoza-Forschers und Übersetzers zu den Themenfeldern Ontologie und Subjektivität, Ethik und Politik sowie zu Spinozas Verhältnis zur klassischen Philosophie.)
Clare Carlisle, Spinoza’s Religion. A New Reading of the Ethics, Princeton – Oxford 2021. (Eine innovative Interpretation von Spinozas Metaphysik und Ethik – jenseits aller stereotypen Zuschreibungen.)
Christian Hengstermann, Zur spinozistischen Systematik des Panentheismus von Klaus Müllers Gott jenseits von Gott. Replik eines christlichen Platonikers, in: Zeitschrift für Theologie und Philosophie 144 (2022), 534–546. (Eine kritische Auseinandersetzung mit der Spinoza-Rezeption bei Klaus Müller auf Basis fundierter Spinoza-Kenntnisse und aus der Perspektive eines christlichen Platonikers.)
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Klaus Müller, Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006. (Philosophische Quellenkunde für gegenwärtige Debatten zum Gott-Welt-Verhältnis aus monistischer Perspektive, in der Spinoza als ‚heimlicher Pate‘ des Panentheismus inszeniert wird.)
Klaus Müller, Gott jenseits von Gott. Plädoyer für einen kritischen Panentheismus, Münster 2021. (Müllers Gesamtentwurf und Verteidigung seines panentheistischen Ansatzes mit einer umfänglichen Materialsammlung aus der abendländischen Philosophie- und Theologiegeschichte und einer panentheistischen Durchbuchstabierung theologischer Traktate.)
Wolfgang Röd, Benedictus de Spinoza. Eine Einführung, Stuttgart 2002. (Beliebte Einführung in Spinozas Philosophie und deren metaphysische Grundlagen.)
Yirmiyahu Yovel, Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 2012. (Eine Biografie, die den historischen Ursprüngen von Spinozas Philosophie im spanischen Marranentum nachgeht.)
Warum selbst Leid die Harmonie der Welt nicht zerstören kann
Gottfried Wilhelm Leibniz über die Theodizee Andreas Koritensky Das Theodizeeproblem Das sog. Theodizeeproblem kreist um die Frage, wie die Existenz von Übel (Leid und Bosheit) mit der Annahme vereinbar ist, dass es einen guten und allmächtigen Gott gibt. Unterschieden wird in der Regel zwischen physischem Übel, also Leid, das durch natürliche Ursachen erzeugt wird, und moralischem Übel, das heißt Leiden, für dessen Entstehen Menschen verantwortlich sind. Es ist hilfreich, drei Varianten in der Auffassung der Frage zu unterscheiden: (1) In ihrer klassischen Gestalt befasst sich die Theodizee mit dem metaphysischen Problem einer rationalen Theologie, das sich mit der Spannung zwischen der Zuschreibung von Güte und Allmacht an Gott und der Tatsache von Übel in der Welt auseinandersetzt. (2) In der Analytischen Philosophie wird die Thematik eher als argumentationsstrategisches Problem beim Versuch der rationalen Rechtfertigung der Existenz Gottes aufgefasst. Das Problem des Übels schwächt die Gründe, die für die Existenz Gottes sprechen und muss daher so weit wie möglich unschädlich gemacht werden. (3) Schließlich kann sich mit dem Begriff auch das existentielle Problem der Unverständlichkeit von Leid verbinden. Durch Verstehen – und wenn es auch noch so rudimentär ist –, so die Hoffnung, kann die Unfassbarkeit schweren Leidens erträglicher werden.
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Lösungsvorschläge, die für einen der drei Problemkreise entwickelt wurden, haben nicht notwendigerweise Geltung für die beiden anderen. Diese Unterscheidung ist wichtig, um falsche Erwartungen an ein Argument zu vermeiden.
Leibniz über die Theodizee Seinen Namen hat das Theodizee-Problem von den 1710 erschienen Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal (Essays zur Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels). Der Autor, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), reagiert damit auf Pierre Bayle, der das Übel in der Welt zum unerklärlichen Geheimnis erklärt hatte. Ein Grundanliegen der Theodizee ist daher die Abwendung des drohenden Konflikts zwischen Glaube und Vernunft, wie Leibniz im einleitenden Discours erläutert. Das Werk ist kein systematischer Traktat, sondern spiegelt in der langen Verkettung von Themengebieten, Exkursen, historischen und zeitgenössischen Debatten den breiten Kontext wieder, in dem der Universalgelehrte Leibniz die Theodizee-Problematik eingebettet sieht. Aus diesem Text lässt sich ein Kernargument herausfiltern, das sich in zwei Schritten entfaltet: 1. Im ersten Schritt entwickelt Leibniz die These, dass die bestehende Welt die bestmögliche ist und dass die Erschaffung dieser Welt mit dem Wissen, der Güte und der Allmacht des Schöpfers vereinbar ist. Die ‚Urunvollkommenheit‘ (imperfection originale) dieser kontingenten Welt bezeichnet Leibniz als metaphysisches Übel. 2. In einem zweiten Schritt muss dann gezeigt werden, dass moralisches (Sünde) und physisches Übel (Leid) aus der unvermeidlichen Kontingenz der Welt abgeleitet werden können. 1. Der erste Teil des Arguments gliedert sich in zwei Etappen: a) Leibniz beginnt mit einem Gottesbeweis aus der Kontingenz der Welt: (i) Die Welt ist eine Ansammlung kontingenter Dinge. Ihre Existenz ist daher erklärungsbedürftig. Sie trägt ihren Grund (raison) nicht in sich. Der Grund der Welt darf nicht
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selbst wieder erklärungsbedürftig sein, sondern muss seinen eigenen Grund in sich selbst tragen, notwendig und ewig sein (Beweis der Existenz Gottes). (ii) Da die Welt kontingent ist, sind auch andere Welten (Weltzustände) möglich. Der Grund der Welt muss also eine dieser möglichen Welten gewählt haben. Daraus folgt, dass dieser Grund der Welt Einsichtsfähigkeit (entendement, sagesse) und Willen (volonté) haben muss. Wille ist, wie in der älteren philosophischen Tradition üblich, durch seine Ausrichtung auf ein Gut definiert. Da dieser Wille offenbar wirksam ist, muss der Grund der Welt auch über Macht verfügen (puissance). Diese Macht, Weisheit und Güte müssen vollkommen sein, da sie auf alles, was möglich ist, ausgerichtet sind (Entfaltung der Attribute Gottes). b) Aus diesen Prämissen folgert Leibniz, dass ein solches Wesen nur die bestmögliche Option wählen kann. Wenn es kein Optimum unter den möglichen Welten gegeben hätte, hätte Gott keine gewählt. Es gibt die Welt. Also muss die faktisch bestehende Welt die bestmögliche sein. Eine imaginierte bessere Welt als die faktische muss daher a priori einen Selbstwiderspruch enthalten, der ihre Existenz unmöglich macht. c) Akzeptiert man das Argument a), ist der Schluss in b) hinreichend begründet. Allerdings reichert Leibniz seine Überlegungen noch durch stützende Ad-hominem-Argumente ab, die (gegen einen christlich verbrämten Pessimismus) plausibel machen sollen, dass das Böse in der Welt nicht überwiegt. So würden Menschen beim Herannahen des Todes ihr Leben noch einmal leben wollen. Auch sei es aufgrund der Größe des Universums denkbar, dass das Übel auf der Erde eine vernachlässigbare Größe sei. Gerade diese Argumente sind es, die vor dem Hintergrund großen Leids schal und unangemessen erscheinen. 2. Das metaphysischen Übel, die Unvollkommenheit der kontingenten Welt, ist notwendig, moralisches und physisches Übel hingegen nicht. Es wird aber durch die Unvollkommenheit der Welt möglich. Hier stellt sich die Frage nach der Verantwortung Gottes.
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a) Direkt verantwortlich wäre Gott insbesondere beim Fehlen von menschlicher Freiheit. Letztere scheint mit dem Vorauswissen Gottes über die Zukunft in Widerspruch zu stehen. b) Aber selbst wenn sich dieses Problem lösen lässt und der Mensch frei ist, muss Gott das Übel wenigstens zulassen. Impliziert ein solches Zulassen nicht entweder einen Defekt in der Güte (d. h. im Wollen des Guten) oder in der Macht Gottes? Leibniz bedient sich folgender Unterscheidung: Grundsätzlich will Gott nur das Gute und das Heil aller Menschen (volonté antécédente). Wirksam wird sein Wille aber nur in einer Form, bei der Strebungen nach dem Guten und nach der Vermeidung von Übel wie in der Mechanik miteinander verknüpft werden (volonté conséquente). Gott will also ‚vorhergehend‘ das Gute, ‚nachfolgend‘ das Beste (das beste Mögliche). Daher kann Gott ‚nachfolgend‘ physisches Übel (Leiden) ‚wollen‘, wenn es als Strafe dient oder wenn es für das Erreichen größerer Güter notwendig ist. Hinsichtlich der moralischen Übel (Sünde) ist der Spielraum für die Zulassung noch enger. Ihr Zulassen ist nur dann erlaubt, wenn das Einschreiten selbst wieder mit Sicherheit eine moralische Pflicht verletzte und damit selbst ein moralisches Übel wäre (sine qua non-Bedingung).
Die Konsequenzen Isoliert betrachtet, kann die leibnizsche Argumentation leicht skurril erscheinen. Bereits Voltaire hat Leibniz’ Projekt im Candide mit Spott überzogen. In Anbetracht von übergroßem individuellem Leid klingt jedoch der Rat des Aufklärers, der Mensch solle sich mit der unerklärlichen Existenz von Gut und Übel abfinden und sich mit dem ‚Kultivieren von Gemüse‘ begnügen, genauso unangemessen. Um der Bedeutung einer Argumentation gerecht werden zu können, ist es in der Regel sinnvoll, sie im Kontext des zeitgenössischen Diskurses und seiner Fragen zu betrachten. Für Leibniz ist die Theodizee noch nicht ein apologetisches Unternehmen zur Verteidigung der Existenz Gottes. Sie ist vielmehr als ein kleiner Baustein zur großen Vision eines universalen Wissenssystems zu lesen, das uns ein rationales Verstehen der Wirklichkeit ermöglichen soll. Leibniz orientiert sich dabei zeitlebens an einem Ideal der Harmonie, bei dem die Einheit die Vielfalt nicht aufhebt. Dieses Ideal versucht er
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immer auch in seinen praktischen Konsequenzen zu entfalten: In einer Zeit, in der absolutistisch regierte, konfessionell uniforme Nationalstaaten stark werden, verteidigt Leibniz die föderalen Strukturen des Reichs und tritt für eine Ökumene ein, bei der keine Seite gezwungen sein soll, ihre Positionen aufzugeben. Der Glaube an die Möglichkeit eines solchen harmonischen Welt- und Wissenskonzepts ist bei Leibniz offenbar stärker als die Erfahrung von Leid. Der Wunsch nach einer rational begründeten Harmonie hat zur Folge, dass Leibniz das Problem nicht prinzipiell verhandelt, sondern auch versucht, Brücken zwischen den konkreten theologischen Positionen seiner Zeitgenossen zu schlagen. Dieses Bemühen um Vermittlung wurde von den damaligen Lesern geschätzt, führt aber auch dazu, dass die Argumentation heute überladen und zerfasert wirkt. Wenn religiöser (Bayle) oder agnostischer Quietismus (Voltaire) keine Antwort auf die Erfahrung von Bösem und Leid sind, dann können wir dem Wunsch Leibniz’ nach einer rationalen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen nicht ausweichen. Eine solche Auseinandersetzung sollte heute wieder stärker auf das Verstehen und nicht ausschließlich auf die Apologetik ausgerichtet sein. Allerdings trauen viele einem metaphysischen System diese Wirkung nicht mehr zu. Dass in eine rationale Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Übel auch andere Strategien – wie zum Beispiel deutende Narrative – einbezogen werden können, zeigen zum Beispiel die Arbeiten von Eleonore Stump (* 1947) (siehe Literaturhinweise). Das Theodizeeproblem in seiner existentiellen Form ist auf Lösungen angewiesen, die den individuellen Plausibilitäts- und Denkhorizont des fragenden Menschen einbeziehen. Daher stoßen metaphysische Universallösungen in dieser Variante des Problems an ihre Grenzen. Armin Kreiner, Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente, Freiburg i. Br. 1997. (Diese Studie Armin Kreiners steht exemplarisch für die gegenwärtige katholische Rezeption der Theodizeefrage. Das Problem des Leidens wird als Argument gegen die Existenz eines [gütigen und allmächtigen] Schöpfergottes verstanden und damit vor allem als Herausforderung der Apologetik gegenüber Skeptikern und Atheisten [als Teil der demonstratio religiosa]. Dieses Werk bietet einen differenzierten und gut strukturierten Überblick über die verschiedenen Aspekte des Theodizeeproblems – wenn auch nicht viel zu Leibniz.)
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Peter van Inwagen, Das Argument aus dem Übel, in: Bernd Irlenborn / Andreas Koritensky (Hg.), Analytische Religionsphilosophie, Darmstadt 2013, 188–207. (Das Theodizeeproblem wurde in den letzten Jahrzehnten nirgendwo so intensiv diskutiert wie in der Analytischen Religionsphilosophie. Ein charakteristisches Beispiel für den Umgang mit der Fragestellung ist dieser Artikel von Peter van Inwagen. Statt eine definitive Lösung des Problems in Form einer Theodizee zu suchen, greift Inwagen zur bescheideneren Variante einer ‚Verteidigung‘ [defense]. Sie soll nur die Stärke des Arguments aus dem Übel gegen die Existenz Gottes so weit schwächen, dass es nicht die anderen Argumente paralysieren kann, die die Überzeugung, es gäbe einen Gott, rechtfertigen.)
Paul Ricœur, Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie, mit einem Vorwort von Pierre Bühler, aus dem Französischen von Laurent Karels, überarbeitet von Anna Stüssi, Zürich 2006. (Dieser kleine Essay bietet eine kurze prägnante Einführung in die Fragestellung der Theodizee unter existenzieller Perspektive und skizziert einen möglichen Lösungshorizont.)
Eleonore Stump, Wandering in Darkness. Narrative and the Problem of Suffering, Oxford 2010. (Die amerikanische Philosophin Eleonore Stump hat eine sehr umfangreiche, aber leicht lesbare Arbeit vorgelegt, die sich mit der existenziellen Suche nach einem Verstehen des Leidens befasst. Sie nutzt Elemente der Anthropologie aus der Analytischen Philosophie und der großen katholischen Denker des Mittelalters, um damit biblische Texte unter der Perspektive des Theodizeeproblems zu deuten. Narrative treten hier neben die metaphysischen Systeme als Mittel des Verstehens von Leid vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens.)
Von Gott und Welt, die es nicht gibt
Immanuel Kant Bernhard Nitsche und Florian Baab
Einleitung: Kants Bedeutung für die Theologie Für die Theologie stellt die Philosophie Immanuel Kants (1724– 1804) eine sportliche Herausforderung dar. Historisch bedeutsam ist der Umstand, dass Kants Interesse an der Gottesfrage im Lauf der Forschungsgeschichte stark vernachlässigt wurde. Kant galt nach einem Moses Mendelssohn zugeschriebenen Wort als ‚Alles-Zermalmer‘ der Metaphysik. Damit verbindet sich in der römisch-katholischen Perspektive ein Scheidungsprozess zwischen katholischer Innenperspektive und antikatholischer Außenperspektive: Bereits im Jahr 1827 wurde Kant auf den ‚Index‘ der durch das kirchliche Lehramt verbotenen Bücher gesetzt. Während des gesamten 19. Jahrhunderts galt er als ein tendenziell antiklerikaler und theologieferner Denker. Allerdings zieht sich Kants Beschäftigung mit der Gottesfrage von den Frühschriften bis zum Opus postumum durch. Joachim Kopper geht sogar so weit, die Gotteslehre Kants als durchgängiges Motiv seines Denkens zu behaupten. Dafür spricht der pietistische Hintergrund von Kants Erziehung und der programmatische Hinweis, wonach Kant „das Wissen aufheben“ müsse, um für den „Glauben Platz“ zu bekommen (KrV B XXX). Die Gottesthematik wird von ihm primär nicht nur im Rahmen von Welterkenntnis oder metaphysischer Spezialforschung verortet, sondern ist Implikat des geglückten Lebens. So lässt sich Kants Philosophie als genuin theozentrisch bezeichnen und für die Theologie fruchtbar machen. Immanuel Kant hat für die Philosophie eine herausragende Bedeutung, weil er die neuzeitliche Wende zum Subjekt methodo-
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logisch auf den Punkt bringt. Seine Wende im Denken, welche er als kopernikanische Wende ansieht, liegt darin, dass der Weltbezug des Menschen von jenen Bedingungen her betrachtet wird, die im Subjekt selbst gegeben sind bzw. sein müssen. Die Frage des Menschen nach sich selbst fasst Immanuel Kant daher in den drei Grundfragen zusammen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Sie markieren wesentliche Aufgaben der Transzendentalphilosophie. Das Wort ‚transzendental‘ hat wie die – innerhalb der Theologie ebenfalls höchst relevanten – Worte ‚transzendent‘ und ‚Transzendenz‘ seine Wurzeln im lateinischen transcendere, das sich wörtlich mit ‚über etwas hinausgehen‘, ‚eine Grenze überschreiten‘ übersetzen lässt. Der entscheidende Unterschied zwischen ‚transzendental‘ und ‚transzendent‘ besteht darin, dass Letzteres explizit auf eine Realität jenseits unserer Erfahrungsgegebenheiten verweist, während es das Anliegen des ersten Begriffes ist, nach den Grundgegebenheiten der Erfahrung selbst, den Bedingungen ihrer Möglichkeit im Subjekt, zu fragen: Kant möchte die vor aller erkennenden oder handelnden Weltbeziehung liegenden Bedingungen erforschen. Nicht die Frage nach einer jenseits unserer Welt liegenden Welt steht damit im Mittelpunkt seines Interesses (gegen Rationalismus und Metaphysik), sondern die Frage nach dem subjektiven Ursprung unserer Weisen der Weltbegegnung. Erst auf der Basis apriorischer Vorleistungen des Subjektes werden die Gegenstände der Welt objektiv konstituiert. Die transzendentale Reflexion fragt in doppelter Weise danach, welche Bedingungen im Subjekt vorliegen müssen, damit eine Welterkenntnis und ein Welthandeln des Menschen überhaupt zustande kommen kann. Die beiden Pole der subjektiven Tätigkeit des Menschen als transzendentales Handeln des Subjektes einerseits sowie der erkennende, der handelnde und der ästhetische Weltbezug andererseits sind wechselseitig aufeinander bezogen. In allen diesen subjektiven Tätigkeiten geht es Kant auch nicht um eine Phänomenologie psychischer und damit anschaulich beschreibbarer oder empirisch messbarer Bedingungen (gegen Empirismus), sondern um solche Bedingungen, die gerade nicht gegenständlich angeschaut
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werden können und darum nicht-empirisch sind, obwohl sie in allen (theoretischen, praktischen und ästhetischen) Weltbezügen immer schon wirksam sind und die Möglichkeiten dieses Weltbezuges strukturieren. Eine Theologie nach Kant kommt daher nicht umhin, a) ihren Transzendenzbezug unter den Bedingungen einer transzendentalkritischen Reflexion als möglich auszuweisen, b) nach den Bedingungen der Möglichkeit der Ansprechbarkeit für den Glauben im Subjekt zu fragen sowie darüber hinaus c) die genuin theologischen Prämissen und Bedingungen der Offenheit des Menschen für die Annahme des Heils zu bestimmen, welches der Glaube bezeugt und verheißt.
Was kann ich wissen? Zur transzendentalen Analyse des theoretischen Vernunftgebrauchs Die von Kant herbeigeführte Wende zum Subjekt im erkennenden Weltbezug besteht darin, dass er nicht mehr die Auffassung vertritt, wonach die Gegenstände der Welt einfach so existieren, wie sie den Menschen in sinnlicher Anschauung erscheinen. Wird die verarbeitende Tätigkeit des Subjektes in seinen Strukturbedingungen beachtet, so gehören die Formen der Anschauung (von Raum und Zeit) sowie die Kategorien (von Kausalität, Quantität, Qualität usw.) zu Bedingungen des Erfahrungsbezuges, die im menschlichen Verstand selbst beheimatet sind. Ohne diese könnte der Mensch überhaupt keinen erkennenden Weltbezug haben. Diese funktionale Bedeutung für den erkennenden Weltbezug greift so z. B. die alte Frage der Naturphilosophie auf, welcher Status Raum und Zeit zukommt. Entgegen dem Empirismus argumentiert Kant, dass Raum und Zeit nicht einfach und schlechthin Teile der Wahrnehmung sein können, da sie ansonsten wie die wahrgenommenen Dinge selbst kontingent wären; sie könnten entweder sein oder auch nicht sein. Entgegen dem Rationalismus argumentiert er, dass Raum und Zeit auch nicht lediglich Begriffe sein können, da sie ansonsten als spezielle Fälle allgemeiner Begrifflichkeiten gelten müssten. Die Frage nach Raum und Zeit ist nur auf dem Weg der Analyse der Bedingungen von vorstellungsbezogener Erkenntnis zu beantworten, innerhalb derer
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sich Raum und Zeit finden. Räumliche und zeitliche Strukturierungen sind notwendig, um Vorstellungen ausbilden zu können. Die Kritik der erkennenden oder theoretischen Vernunft (von griech. ‚Kritik‘ – Fähigkeit des Urteilens und Unterscheidens) stellt mithin die Frage, inwiefern überhaupt Erkenntnis von Gegenständen (welcher Art auch immer) möglich sein kann. Die natürliche Annahme ist zunächst die, die Gegenstände als etwas an sich und unabhängig von unserer Wahrnehmung und Erkenntnis Gegebenes zu fassen. Kant vertritt demgegenüber die These, dass wir „besser fortkommen, wenn wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“. (KrV B XVI) Mit diesem Perspektivenwechsel gelingt es Kant auch, die prinzipiellen Grenzen der Erkenntnis anzuzeigen. Dies hat fundamentale Konsequenzen. Manche eher kritische Interpretationen unterstellen Kant, er siedle die Erkenntnis so sehr im Individuum an, dass es außerhalb der Erkenntnis eigentlich gar nichts gibt: Gott und Welt existieren, zugespitzt gesagt, dann nur im Menschen; die außerhalb unserer Erkenntnis situierte Realität ist uns unzugänglich. Doch ein solches Urteil ist falsch, denn ganz so einfach macht Kant es sich dann doch nicht: Zunächst unterscheidet er zwischen der Erscheinung der Wirklichkeit für den Menschen in der Vermittlung der sinnlichen Anschauung und der Wirklichkeit in sich selbst. Die Wirklichkeit, die in der Anschauung aufscheint, kann als Ding an sich, d. h. in ihrem eigenen Selbstsein, nicht unabhängig von ihrer Erscheinung für den Menschen erfasst werden. Niemals können wir aus den Bedingungen unseres Erkennens heraustreten. Denn diese Bedingungen sind die einzige Weise, in der uns eine Erkenntnis der Gegenstände möglich ist. Kant nennt daher die Gegenstände, die wir wahrnehmen, „Erscheinungen“ und kommt zur Grunderkenntnis des von ihm so bezeichneten „transzendentalen Idealismus“ – alle Erscheinungen sind uns „bloße Vorstellungen“ und nicht „Dinge an sich“. (KrV A 369) Sodann gilt, dass Erscheinungen immer nur auf Basis von Empfindungen zustande kommen können. Es muss daher eine Form geben, die unsere Empfindungen so ordnet, dass uns erst durch sie ein Gegenstand erscheinen kann. Diese Form ist für Kant doppelt gegeben in Raum und Zeit, sie sind die Bedingung der Möglichkeit für das Auftreten eines Gegenstandes im Modus der Erscheinung. Schließlich stellt er unter diesen Voraussetzungen klar, dass die ehemals als Wirklichkeit behaupteten Ge-
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genstände der Metaphysik von Ich (Seele), Welt (esse commune) und Gott (esse ipsum subsistens) keine Gegenstände einer sinnlich vermittelten (empirischen) Erfahrung sein können, sondern notwendige ‚Leitsterne‘ (Ideen) des menschlichen Denkens sind, um sich selbst, die Welt und die zusammenhängende Positivität aller möglichen Gehalte denken zu können. Sie haben daher eine kritische, regulative und heuristische Funktion im erkennenden Weltbezug. Diese Ideen beschreiben also notwendige Bedingungen des Denkens und können gerade deshalb weder als real gegeben bewiesen noch widerlegt werden. Danach stellt die Analyse des Urteilsbegriffes einen weiteren wichtigen Aspekt dar. Jede Erkenntnis nimmt zunächst die Form eines Urteils mit einer differenzierenden Ur-Teilung und einer bestimmenden Aussage (Aussagesatz) an. Dies gilt unabhängig davon, ob der Inhalt dieses Urteils wahr ist oder nicht. Erkenntnisse sind immer an Urteile gebunden. Will man untersuchen, inwiefern grundsätzlich überhaupt eine Möglichkeit von Erkenntnis besteht, muss man mit einer Analyse von Urteilen beginnen. Im Hinblick auf eine Differenzierung unterschiedlicher Urteile ist insbesondere Kants Einteilung in apriorische und aposteriorische Urteile höchst relevant: Jedes Urteil, das auf einer sinnlich vermittelten Erfahrung basiert, wird von ihm als aposteriorisches Urteil bezeichnet, da es erst nach eben dieser Erfahrung gefällt werden kann. Das Urteil ‚diese Kugel ist blau‘ ist ein typisch aposteriorisches Urteil, das falsifizierbar ist, weil die Kugel auch eine andere Farbe haben könnte. Das Urteil ‚die Kugel ist rund‘ dagegen ist ein apriorisches Urteil vor jeder Erfahrung, das notwendig wahr ist. Denn die Tatsache, dass die Kugel rund ist, gehört notwendig zum Begriff der Kugel; es ist nicht möglich, einen Gegenstand ausfindig zu machen, der sowohl eckig als auch eine Kugel ist. Wesentlich ist sodann die Einteilung in analytische und synthetische Urteile: Ein analytisches Urteil erbringt keinen Erkenntnisgewinn, ein synthetisches Urteil dagegen erweitert unsere Erkenntnis. In einer Verbindung dieser vier Klassifikationen stellt Kant sich die Frage, ob es auch Urteile gibt, welche zum einen unabhängig von unserer Erfahrung sind und zum anderen apriorischen Charakter haben. Das scheint zunächst nicht möglich, da offensichtlich im Modus des Denkens nur analytisch-apriorische Urteile gefällt werden können (Kugeln sind rund), unter Zuhilfenahme der Wahrnehmung
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aber nur synthetisch-aposteriorische Urteile (dieser Apfel ist grün). Die Frage nach der Möglichkeit synthetisch-apriorischer Urteile deckt sich daher mit der Frage, ob es uns möglich ist, notwendige Grundzusammenhänge und Grundtatsachen des Seins und damit absolute Wahrheiten ausfindig zu machen. Synthetisch-apriorische Urteile leiten jene Gesetze der Logik und Mathematik an, die einerseits unabhängig von konkreten Erfahrungen sind und andererseits doch Regeln des Erfahrungsbezugs benennen. Damit klärt sich aber auch der Status des Gottesbegriffes. Der Begriff eines schlechthin notwendigen Wesens ist zwar in sich selbst fehlerfrei denkbar, aber kann nicht synthetisch erweitert werden und ist daher ein rein analytischer Begriff. Als Urbild ist das personifizierte Ideal zugleich ‚Urwesen‘ (ens originarium), ‚höchstes Wesen‘ (ens summum), ‚Wesen aller Wesen‘ (ens entium) und Grund der Möglichkeit für alle Dinge und Sachgehalte. Gott ist einerseits das vernunftnotwendige Ideal objektiver Erkenntnis, nicht aber eine objektiv erkannte und erkennbare Wirklichkeit. Weil das Wissen des Menschen nur soweit möglich ist, wie dem Menschen weltbezogene Erfahrungen möglich sind, kann es ein metaphysisches Wissen nicht geben. Dieses müsste synthetisch a priori sein, mithin ein Wissen, dass von aller sinnlichen Erfahrung unabhängig und doch erkenntniserweiternd wäre. Der Gottesgedanke im Sinne des Abschlusses allen metaphysischen Denkens kann daher lediglich eine transzendentale Idee sein, ein ‚Ideal der reinen Vernunft‘. Dieses Ideal wird vernunftnotwendig im denkerischen Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit als höchste Instanz gesetzt, um den Zusammenhang aller Wirklichkeitsgehalte zu begreifen: „Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts anders, als ein regulatives Prinzip der Vernunft.“ (KrV B 647) Auf Basis seines synthetischen Erfahrungsbegriffes leistet Kant eine mehrdimensionale Kritik der vor ihm klassisch durchgeführten Gottesbeweise. Der ontologische Gottesbeweis betont, dass Gott als das höchst vollkommene Wesen notwendig existieren müsse, da die Nichtexistenz ja einen Mangel an Vollkommenheit bedeutete. Dieses Argument wird von Kant mit der Feststellung kritisiert, dass die Existenz kein reales Prädikat sei. Unter dieser Voraussetzung kann eine Wirklichkeit Gottes gegenüber der bloßen Möglichkeit keinen ontologischen Mehrwert haben. Auch der kosmologische Gottesbeweis, der nach dem ersten Grund alles Seienden fragt, beruht
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nach Kant auf einer unrechtmäßigen Übertragung des nur in der Sinnenwelt gültigen Prinzips von Ursache und Wirkung auf Gott als außerweltlichen Grund der Sinnenwelt. Der teleologische Gottesbeweis schließlich, der aus der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur auf eine Ursache schließt, die die Welt zweckmäßig geordnet und gestaltet hat, wird von Kant zwar mit gewissen Vorbehalten versehen – man dürfe nicht Gott mit einem ‚Weltbaumeister‘ und analog dazu die Welt mit menschlichen Kunstprodukten gleichsetzen. Zudem bleibe die menschliche Vernunft auch im Rahmen des teleologischen Gottesbeweises im Endlichen und Defizitären verhaftet. Dennoch macht Kant an seinem Beispiel deutlich, dass die Dialektik der teleologischen Vernunft nicht nur ein negatives Resultat hat: Der teleologische Gottesbeweis zeigt auf, dass es keinen Widerspruch beinhaltet, die Idee Gottes bilden zu wollen, da Gott nicht bloß ein möglicher, sondern – freilich innerhalb der Grenzen eines transzendentalen Ideals – ein für die Vernunft notwendiger Begriff ist. In gegenläufiger Betrachtungsweise zeigt sich allerdings auch in seinen kritischen Werken eine Hochschätzung der traditionellen Gottesbeweise, die keinesfalls einer generellen Abweisung gleichkommt. (KrV B 648 ff.) Als regulative Idee der Vernunft findet Gott so seinen Platz in der theoretischen Philosophie. Alle Versuche jedoch, seine Existenz auf Basis kontingenter menschlicher Erfahrung beweisen oder (atheistisch) widerlegen zu wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Indem Kant so die Gottesbeweise in ihrem klassischen Geltungsrahmen kritisiert, verwirft er nicht nur die spekulative Theologie, sondern ebenso auch einen spekulativen Atheismus. Darüber hinaus kritisiert er einen Positivismus, der jede Vorstellung von Gott für undenkbar und der Vernunft unwürdig hält. Gott kann zwar widerspruchsfrei gedacht, aber nicht sinnlich weltbezogen (theoretisch) erkannt werden. Die einzige Theologie, die einer reinen, das heißt von aller Offenbarung unabhängigen Vernunft noch möglich ist, gründet in moralischen Gesetzen. Sie findet also ihren Ort in der praktischen Vernunft.
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‚Was soll ich tun?‘ ‚Was darf ich hoffen?‘ Zum praktischen Vernunftgebrauch Kant zufolge ist die praktische Vernunft in der Lage, Handlungen entweder gegen oder auch in Ergänzung zu den sinnlichen Antrieben zu steuern und zu koordinieren. Das zentrale handlungsmotivierende, praktische Vernunftvermögen ist für Kant der freie Wille. Er ist die Seite der praktischen Vernunft, die den Übergang vom praxisbezogenen Denken zum Handeln selbst leistet. Damit der Mensch als ein moralisch zurechenbares Wesen gedacht werden kann, welches sich selbst Regeln und Gesetze des Handelns gibt, bedarf es einer Kausalität aus Freiheit, welche „ohne allen Widerstreit angetroffen werden“ kann. (KrV B 569) Für Kant ist die Idee solch autonomer Freiheit in ihrer Möglichkeit aufgewiesen, wenn sie nicht in einen notwendigen Widerspruch zu den Gesetzen der Natur in der empirischen Erfahrungswelt gerät. (Vgl. KrV B 562, 558) Die Denkbarkeit von Freiheit wird von Kant in der dritten Antinomie von Freiheit und Determinismus erörtert: Kant konzipiert Freiheit als das Vermögen, einen Zustand in der empirischen Welt von selbst beginnen zu können; Freiheit und Kausalität aus Freiheit stellen damit eine Alternative zum Konzept der Naturkausalität dar. Diese jedoch bleibt in ihrer Geltung zugleich vollständig aufrecht erhalten, da es essentiell zum Begriff der empirischen Welt gehört, streng nach allgemein gültigen Gesetzen geordnet zu sein; die Kette der Ursachen innerhalb der Welt muss daher zwingend als lückenlos geschlossen angesehen werden. Kant vertritt somit in der Freiheitsfrage eine klassisch kompatibilistisch zu nennende Position: Freiheit im Sinn vernünftiger Autonomie ist nur möglich im Rahmen allgemeiner strukturgebender Gesetzlichkeiten. Im praktischen Weltbezug unterscheidet Kant zwei Arten von Regeln oder Imperativen. So gibt es Regeln oder Gesetze der Klugheit, die im Fall der Handlung dazu gebraucht werden, Befriedigung der sinnlichen Antriebe zu leisten. Diese Regeln auf Basis sinnlich bestimmter Lust- und Neigungsmotivationen nennt Kant hypothetische Imperative. Ihnen kommt es zu, die Mittel aufzuspüren, mit denen ein bestimmter Zweck erreicht werden soll. Sie charakterisieren also das strategische und zweckrationale Handeln von Menschen.
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Demgegenüber unterscheidet Kant Regeln und Imperative, die für die Selbstbestimmung praktischer Vernunft notwendig sind, um ihre moralische Klarheit und ihre vernünftige Universalisierbarkeit zu begründen. Deshalb spricht Kant von Maximen, die er als oberste Prämissen der praktischen Vernunft begreift und die als Grundsätze eines vernunftgemäßen Handelns dienen. Diese Maximen stehen für Kant unter einem kategorischen Imperativ, also unter einem Imperativ der immer, unter allen Bedingungen und in jeder Hinsicht zur Geltung zu bringen ist. Die Vielzahl der Formulierungen kann dabei auf zwei Brennpunkte einer Ellipse fokussiert werden. Zum einen soll die andere Freiheit respektiert werden. Deshalb gilt es, den anderen Menschen nicht (strategisch) als Mittel zum Zweck zu benutzen, sondern ihn moralisch und vernünftig als „Zweck an sich“ selbst anzusehen. (KpV A 58) Zum anderen kann eine Maxime nur dann vernünftig genannt werden, wenn sie zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung universalisierbar ist und unbedingten Anspruch erhebt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (KpV A 54) Die reine praktische Vernunft ist aus sich selbst heraus zwecksetzend und zielt von daher nicht auf empirisch angetriebene Einzelinteressen oder private Einzelzwecke, sondern auf ein Ziel, welches in unbedingter und unverstellter Weise „Zweck an sich selbst“ (GMS IV 435) ist. Der Anruf des Gewissens, in dem das ethische Sollen zum Imperativ wird, kommt in den verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs zur Sprache. Das ‚Prinzip Freiheit‘ und das unbedingte moralische Sollen gehören darum unlösbar zueinander. Denn ohne Freiheit gibt es kein verantwortliches moralisches Sollen und ohne eine moralische Sollensforderung im Gewissen als Faktum der Vernunft bleibt die Objektivität und Geltung der Freiheit problematisch. Die Frage, wonach der Mensch handelt, wenn er vernunftgemäß handelt, ist deshalb nicht empirisch zu klären. Das schlechthin Gute ist nicht der Empirie zu entnehmen, sondern nur der unbedingten Forderung moralischer Freiheit. Die Moral und damit auch das schlechthin moralisch Gute beanspruchen darum uneingeschränkte Verbindlichkeit. Sie müssen unabhängig von den Bedingtheiten der Empirie zu finden sein. So ist für Kant „überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Ein-
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schränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. (GMS IV 393) Steht das (strategische) Glücksstreben der Menschen im Kontext empirischer Wirklichkeit unter den Antrieben der Lust, der Neigung oder des Angenehmen, so ist die Glückswürdigkeit mit der unbedingten Sollensfrage praktischer Freiheit verbunden. Damit stellt sich das Problem, wie das sinnlich und affektiv bestimmte Glücksstreben in die vernunftgeleitete und prinzipienorientierte (moralisch reine, weil selbstzweckliche) Glückswürdigkeit eingebracht werden kann. Denn diese Glückswürdigkeit ist das Ziel formal unbedingter Freiheit und des ethischen Sollens: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein.“ (KrV B 83 6; A 808 f.) An diesem Punkt gerät die moralische autonome Vernunft in den Zwiespalt, dass sie nach den Gesetzen der Naturkausalität in der Regel ihre Moralität aus Pflicht hinter sich lassen muss, um zu einem Glück in Neigungen zu gelangen. In diesem Konflikt zwischen lust- und neigungsbezogenem Glücklichsein und moralischer Glückswürdigkeit ist die praktische Vernunft in einen Modus der Hoffnung gedrängt. Hier stellt sich die Frage, ob ein höchstes Gut, ein Reich des glücklichen Lebens in moralisch verbindlicher Freiheit, möglich ist. Um dieses höchste Gut als Wirklichkeit hoffen und praktisch befördern zu können, erfordert dies nach Kant als Bedingung der Möglichkeit solchen Handelns ein Postulat. Dieses Postulat der Hoffnung formuliert eine in praktischer Vernunft begründete Existenzannahme von subjektiver Notwendigkeit. Die Existenzannahme sichert den Sinnanspruch der Freiheit in ihrem moralischen Sollen ab und gilt einem von Weisheit bestimmten Weltregierer oder Gott, welcher zugleich Urheber der Kausalität der Natur und der Kausalität aus Freiheit ist und beide Ordnungen miteinander versöhnen kann. Nur diese ultimative Macht vermag die Einheit von moralischer Glückswürdigkeit und faktischer Glückseligkeit herbeizuführen. In einem problembewussten symbolischen Anthropomorphismus ist Gott „der allein Heilige, der allein Selige, der allein Weise“. In einer Fortführung dieses Gedankens kann auch gesagt werden, Gott sei „der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Regierer (und Erhalter) und der gerechte Richter: drei Eigenschaften, die alles in sich enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird, und denen angemessen die metaphysischen Vollkommenheiten sich von selbst in der Vernunft hinzufügen“. (KpV, A 236)
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Die durch die praktische Vernunft erkannte Glückswürdigkeit des Menschen muss als ein uneinlösbarer Anspruch gelten, wenn das Ziel der Glückseligkeit nicht objektiv gewährleistet werden kann; die eschatologische Verheißung ist daher nicht lediglich Projektion oder Flucht in eine ‚Hinterwelt‘, sondern diejenige Erfüllung allen menschlichen Strebens, ohne die nicht nur moralisches Handeln, sondern alles menschliche Handeln sinnlos wäre. Konkret versteht Kant das Postulat der reinen praktischen Vernunft als eine notwendige, aber nicht beweisbare Forderung, die dem praktischen Gesetz unabtrennbar anhängt, weil sie allein den Sinn solcher Praxis verbürgen kann. Vor diesem Hintergrund bekommen sowohl die Pneumatologie als auch die Christologie in der Religionsschrift ethisch-soterische Funktion. Angesichts des Konflikts im moralischen Bewusstsein, zwischen Glückseligkeit und Glückswürdigkeit hin- und hergerissen zu sein, ist es der Paraklet, welcher die in sich widerstreitende Vernunft mit sich versöhnen kann. Denn die praktische Vernunft ist im Blick auf die Moralität der Handlungsmotivationen zugleich Angeklagte (aufgrund ihrer Selbstverfehlung) und Anklägerin (aufgrund der Sollensforderung des moralischen Gesetzes). In diesem umfassenden Widerstreit bedarf sie eines Urteilsspruches aus Gnade, um sich auf dem Weg der gebesserten Gesinnung, die allein Gott kennt, verstehen zu können. Dieser Zuspruch und dieses Zutrauen von Besserung ermöglichen es dem Menschen, sich in erneuerter Weise selbst bestimmen zu können. In der Begegnung mit Jesus Christus und durch den Zuspruch des externen Vergebungswortes von Gott her wird dem Menschen die Fähigkeit eröffnet, in der neuen Qualität des Gottessohnes zu leben. Dadurch wird der Sohn Gottes als Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit vorgestellt. In der geschichtlichen Anschaulichkeit ist Jesus Christus ein Zuspruch und eine Ermutigung dazu, die individuelle Freiheit vernunftgemäß und glaubensgemäß zu ergreifen. Hans-Michael Baumgartner, Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Anleitung zur Lektüre, Freiburg i. Br. – München 62006. (Klassiker.)
Georg Essen / Magnus Striet (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005. (Legt aus unterschiedlichen Perspektiven die verschiedenen Anregungen Kants für die Theologie frei.)
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Stefan Gerlach, Immanuel Kant, Tübingen 2011. (Eine gut lesbare Einführung.)
Bernhard Nitsche, Zur transzendentalen Methode in der Theologie, in: Günter Kruck / Joachim Valentin (Hg.), Rationalitätstypen der Theologie, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2017, 177–230. (Stellt Kant entlang seines Gottdenkens dar und präsentiert die römisch-katholischen Hauptvertreter einer transzendentalen Denkform.)
Wilhelm Teichner, Kants Transzendentalphilosophie. Grundriss, Freiburg i. Br. – München 1978. (Sehr konzise Darstellung des Gesamtprojektes.)
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Johann Gottlieb Fichte Benedikt Rediker
Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) gilt als einer der zentralen Vertreter des sogenannten Deutschen Idealismus, dessen Werk nicht nur auf die Frühromantik, sondern auch auf die idealistischen Systeme Hegels und Schellings großen Einfluss hatte. Als glühender Anhänger der Philosophie Kants und des freiheitlichen Revolutionsgedankens der Französischen Revolution war es Kants praktische Freiheitslehre, die sein philosophisches Nachdenken prägte und die er in einer gegenüber Kant nochmals radikalisierten Transzendentalphilosophie zur Grundlage seines philosophischen Werks erhob. Stärker noch als Kant war Fichte dabei um eine stringente wissenschaftliche Begründung allen Wissens innerhalb eines philosophischen Systems bemüht, für das er den Begriff des freien Ichs in Form eines praktischen Idealismus zum Letztprinzip allen Denkens und Seins erhob. Theologisch bedeutsam ist Fichte bis heute, weil er mit seiner Transzendentalphilosophie ein genuin transzendentales Gottdenken etabliert hat, demzufolge die Gottesfrage am Grund des freien Ichs selbst zu verorten und deshalb im Rahmen einer radikalen Subjektreflexion zu bearbeiten ist. Mit diesem konsequent transzendental verfahrenden Zugang zum Gottesbegriff hat er Maßstäbe für ein philosophisch verantwortetes Gottdenken gesetzt, die bis heute leitend für theologische Ansätze und Debatten sind.
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Fichtes frühe Wissenschaftslehre (1794/95) Die entscheidenden Einsichten der Fichteschen Frühphilosophie ergeben sich aus einer kritischen Fortschreibung der von Kant entwickelten Transzendentalphilosophie. Kants grundlegende Einsicht bestand darin, dass er die für ihn leitende Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, durch eine als kopernikanische Wende der Denkungsart bekannt gewordene Umkehrung metaphysischer Wahrheitsfindung zu beantworten versuchte. Anders als es in der klassischen Metaphysik angenommen wurde, lässt sich allgemeingültiges Wissen über die Grundstrukturen der Wirklichkeit nur dann in systematisch zusammenhängender, also wissenschaftlicher Weise generieren, wenn diese Strukturen nicht in den Dingen selbst, sondern in den Bewusstseinsstrukturen des erkennenden Subjekts ausgemacht werden, mit Hilfe derer die Erfahrbarkeit von Dingen überhaupt erst als denkmöglich ausgewiesen werden kann. Damit wird bei Kant die formale Struktur des endlichen Wissens in ihrem Zusammenhang von subjektiver Form und gegebenem Gehalt, Spontaneität und Rezeptivität selbst zum Programm der philosophischen Analyse. Fichte übernimmt dieses Anliegen Kants, indem er Philosophie als Wissenschaftslehre versteht, die in systematisch stringenter Form aufzeigt, wie Wissen in seiner formalen Struktur aufgebaut ist und als solches transzendental begründet werden kann. Im Fokus steht somit nicht die Frage nach den konkreten empirischen Wissensinhalten und ebenso wenig die empirisch-psychologische Erklärung des Wissensvorgangs, sondern die nur transzendentallogisch zu erhellende Strukturform des Denkens und Wissens, die in jedem konkreten Wissensakt in ihrer gesamtem Komplexität bereits vollständig enthalten ist, aber noch nicht wissenschaftlich in ihren einzelnen Elementen aufgezeigt und begründet wurde. Entscheidend ist, dass Fichte dabei den von Kant noch aufrechterhaltenen Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich hinter sich lässt und Wissen von Anfang an als Wissen für das Bewusstsein bestimmt, über das hinaus im Rahmen einer transzendentalen Analyse grundsätzlich nicht hinausgegangen werden kann. Zwar bedarf es auch Fichte zufolge eines äußeren Anstoßes, der die Bewusstseinstätigkeit des Ichs und damit den Wissensprozess überhaupt erst in Gang bringt, aber über das Sein dieses außerhalb des Bewusstseins zu verortenden Anstoßes lässt sich kein philosophisch gültiges Wis-
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sen erlangen. In dieser Grundannahme liegt der Idealismus der Fichteschen Frühphilosophie begründet, der bis heute als eine ihrer wichtigsten Markenzeichen gilt. Ein realistisches Wahrheitsverständnis im Sinne einer Korrespondenz von Denken und bewusstseinsunabhängigem Sein ist für den frühen Fichte somit von Anfang an ausgeschlossen. Damit Wissen begründet werden kann, gilt es vielmehr – dem Wissenschaftsideal Fichtes entsprechend – die einzelnen formalen Elemente und Prinzipien des Wissens in ihrer Einheit aufzuzeigen und aus einem letzten, selbstevidenten Prinzip abzuleiten. Ein solches Prinzip sieht Fichte im transzendental vorausgesetzten Subjektbegriff gegeben, der bereits bei Kant in der Form des „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption als Einheitsprinzip aller Erkenntnisleistungen vorausgesetzt, jedoch nicht mehr als Letztprinzip des Wissens begründet wurde. An dieser Stelle geht Fichte deshalb über Kant hinaus, indem er die Grundstruktur des Wissens aus dem Begriff dieses Ichs zu deduzieren versucht. Für dieses Vorhaben stellt er drei Grundsätze des Wissens auf: Der erste Grundsatz beschreibt das Prinzip der Identität, aus dem die Notwendigkeit einer einheitlichen Vernunftform des Ichs resultiert, die sich in jedem konkreten Wissensakt aufs Neue vollzieht und den Einheitsanspruch des Wissens zur Geltung bringt. Da Wissen jedoch in seiner Gehaltlichkeit ebenso auf das Individuelle und Andere bezogen ist, impliziert es zugleich ein dem Ich entgegengesetztes Moment, das Nicht-Ich, was in Fichtes zweitem Grundsatz, dem Prinzip des Widerspruchs zum Ausdruck kommt. Da diese beiden Grundsätze sich wiederum wechselseitig aufheben würden, ist die endgültige Charakteristik des Wissens erst dann erreicht, wenn die wechselseitige Bestimmbarkeit beider Momente durch das jeweils andere gedacht wird, sie sich also nicht absolut aufheben, sondern nur zum Teil einschränken. Genau dies wird im dritten Grundsatz festgehalten, demzufolge im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegengesetzt wird. Damit ist die grundsätzliche Struktur des Wissens aus der formalen Struktur des Selbstbewusstseins abgeleitet. Wissen vollzieht sich somit in Form einer wechselseitigen Durchdringung von teilbarem Ich und Nicht-Ich, von universaler Vernunftform und einer dieser entgegengesetzten individuellen Materie. Aus dieser Grundstruktur des Wissens lassen sich nun laut Fichte alle weiteren Strukturmomente des Wissens ab-
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leiten und auch die Kategorien der Erkenntnis deduzieren und einheitlich begründen. Eine entscheidende Innovation dieser transzendentalen Analyse des Wissens besteht darin, dass sie Wissen als strikt relationalen Prozess ausweist, in dem die logisch unterschiedenen Momente wie Ich und Nicht-Ich, Form und Gehalt Teilmomente dieses Prozesses darstellen, die unabhängig von diesem keine eigenständige Realität besitzen. Anders als etwa die von Fichte als realistischer und idealistischer Dogmatismus bezeichneten Positionen annehmen, bedeutet Wissen deshalb nicht, dass zwei eigentständig bestehende Einzelglieder wie Subjekt und Objekt im Wissen eine ihnen äußere Verbindung eingehen, sondern dass sie als Einzelglieder vielmehr erst aus dem Wissensprozess selbst ableitbar sind und auch deshalb niemals unabhängig von diesem in ihrem Eigenstand gedacht und hypostasiert werden dürfen. Zugleich führt die hier explizierte Struktur des Wissens auf theoretischer Ebene jedoch in einen Zirkel. Denn die im Wissen angestrebte Bewältigung der gegebenen Materie durch die reinen Formen des Ichs lässt sich niemals vollständig erreichen, sondern stellt einen unendlichen Prozess einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Durchdringung der Materie durch die subjektive Form dar, der als solcher aber nie zu einem endgültigen Ende kommt. Die Mannigfaltigkeit der Materie bleibt somit eine letzte Schranke des Bewusstseins, die niemals vollständig zu überwinden und in ihrem Aufkommen theoretisch nicht zu erklären ist. In theoretischer Hinsicht bleibt somit ein letzter Restskeptizismus bestehen, da die im Begriff des Wissens geforderte Einheit von Form und Materie durch das Denken selbst doch niemals endgültig herstellbar ist. Die Pointe von Fichtes Antwortversuch auf dieses Problem besteht nun darin, dass er es auf theoretischer Ebene zwar tatsächlich als unlösbar anerkennt, Wissen damit aber dennoch nicht als nichtbegründbar verwirft. Vielmehr glaubt er es in Form eines praktischen Idealismus auf einem genuin praktischen Weg rechtfertigen und den theoretischen Skeptizismus auf diesem Weg unterlaufen zu können: Zwar lässt sich das im Wissensprozess angestrebte Ziel einer vollständigen Einheit von Form und Materie in theoretischer Hinsicht nicht erreichen, dennoch ist der immer wieder neu unternommene Versuch begründet, weil er – unabhängig von seiner endgültigen Realisierbarkeit – praktisch gesollt ist. Es ist der kategorische
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Imperativ, der das Ich dazu aufruft, die gegebene Mannigfaltigkeit der Materie durch die eigene Vernunftform zu durchdringen und auf diesem Weg die sinnliche Welt im Sinne des sittlichen Anspruchs zu gestalten. Dabei verbürgt der moralische Anspruch des Sittengesetzes die Freiheit des Subjekts, die diesem im praktischen Vollzug des Wissens in Form einer intellektuellen Anschauung bewusst ist und die einzig epistemisch gewisse Grundlage des gesamten Fichteschen Systems darstellt. Fichte greift hiermit Kants moralisch begründete Freiheitslehre auf, radikalisiert sie aber insofern, als dass er sie nicht mehr nur auf den praktischen Vernunftvollzug bezieht, sondern sie zur Grundlage allen menschlichen (Selbst)-Bewusstseins erhebt, in dem sowohl praktische als auch theoretische Vernunft vereinigt sind. Die in der Mannigfaltigkeit der Materie gegebene Schranke des Bewusstseins bleibt zwar in theoretischer Hinsicht unüberwindbar und unerklärlich, erhält durch diese praktische Neuperspektivierung jedoch eine andere Bedeutung und Begründung: Sie wird nun als eine sich immer wieder neu stellende Aufgabe für den freien Selbstvollzug des Ichs gedeutet, also als Material für die Pflicht, mit dessen Hilfe sich das Ich als freies Selbstbewusstsein setzen kann. Auch das Wissen erhält damit eine gegenüber dem zuvor beschriebenen theoretischen Verständnis neue Bestimmung. Sein Sinn besteht nicht mehr darin, dass die in ihm angestrebte Einheit von Form und Materie vollständig vollzogen sein muss, sondern dass sich in ihm das formale Ich im Sinne des moralischen Gesetzes als freies Selbstbewusstsein konstituieren kann. Begründet ist es nach diesem Verständnis somit dann, wenn sich alle verschiedenen Momente des immer komplexer ausdifferenzierenden Wissensprozesses von der Empfindung, über die Einbildungskraft, bis hin zur Urteilskraft als logisch aufeinander aufbauende Stufen der moralisch aufgetragenen Selbstbewusstwerdung des reinen Ichs ausweisen lassen.
Fichtes Religionsphilosophie Fichtes praktischer Idealismus hat zugleich entscheidende religionsphilosophische Konsequenzen, die ihn u. a. zur Verabschiedung eines klassisch-theistischen Gottesverständnisses nötigen, demzufolge Gott als eigenständige Substanz hypostasiert und dabei mit konkreten, zumeist anthropomorphen Eigenschaften versehen wird.
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Dies hat Fichte im Rahmen des sogenannten Atheismusstreits (1798/99) den Vorwurf des Atheismus eingebracht, obwohl Fichte nur eine transzendentale Neukonzeptionierung theistischen Gottesdenkens vornimmt. Da Fichte den Grund seines Systems im freien Subjekt ausmacht, ist für ihn klar, dass Gott als das Absolute selbst kein Seiendes innerhalb der durch das Ich begründeten Bewusstseinswelt darstellen kann, sondern vielmehr als Sinn- und Ermöglichungsbedingung des freiheitlichen Vollzugs des Vernunftsubjekts selbst angesetzt werden muss. Während sich diese Funktion des Gottesbegriffs so auch schon in Kants Postulatenlehre wiederfindet, geht Fichte jedoch nochmals über Kant hinaus und erweist sich hiermit als der gegenüber diesem nochmals radikalere Transzendentalphilosoph: Fungiert das Gottespostulat bei Kant noch als Garant der Einheit zwischen der intelligiblen Welt des Sittengesetzes und der empirischen Welt des Glückseligkeitsstrebens, ist für Fichte klar, dass Gott nur noch innerhalb der intelligiblen Sphäre der Moral verortet werden kann. Denn die von Kant noch aufrechterhaltene Trennung von sinnlicher und intelligibler Sphäre wird von Fichte durch die im praktischen Idealismus vorgenommene Fundierung der Natur in der Sphäre der Freiheit von Anfang an aufgehoben. Natur existiert für Fichte nur im Hinblick auf ihre Funktion, nämlich Material für die Pflicht des sich freiheitlich vollziehenden Ichs zu sein. Gott ist deshalb gleichzusetzen mit der rein intelligiblen moralischen Ordnung, die als Ermöglichungs- und Sinnbedingung des moralisch geforderten freien Selbstvollzugs des Subjekts fungiert. Als Urgrund einer von der moralischen Welt unabhängig gedachten empirischen Natur, als die er bei Kant noch fungiert, ist er damit nicht mehr von Relevanz. Angesichts des im praktischen Idealismus zugleich vorausgesetzten relationalen Wissensverständnisses ist zudem klar, dass auch Gott kein für sich gegebenes Sein ist, sondern Teil eines relationalen Geschehens zum sich freiheitlich vollziehenden Ich darstellt. Gerade auf diesem Weg ist es deshalb möglich, ihm personale Prädikate wie die des Lebens und der Bewegung zuzuschreiben, solange diese nicht als Eigenschaften einer außerhalb dieser Beziehung existierenden Substanz angenommen werden. In seiner Spätphilosophie hat Fichte die Funktion des Gottesbegriffs nochmals verändert, ohne dabei jedoch die transzendentale Stoßrichtung seines Gottdenkens aufzugeben. Begrenzt er sich in seiner Frühphilosophie strengstens auf die transzendentale Analyse
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des endlichen Wissens, wird diese Begrenzung in seiner Spätphilosophie aufgebrochen und die Frage des Seins als Grund des Denkens philosophisch bearbeitet. Dabei erweist sich Gott als die allem endlichen Wissen zu Grunde liegende Einheit des Seins. Indem das endliche Individuum sich im Wissen als freies Selbstbewusstsein setzt, realisiert es sich somit zugleich als Bild des Absoluten, das es auf endliche Weise zur Erscheinung bringt.
Theologische Relevanz und Rezeptionslinien Fichtes Gotteslehre ist bis in die heutige Zeit hinein von großer theologischer Relevanz. Mit seinem radikalisierten transzendentalen Gottdenken und der daraus resultierenden Kritik an einem klassischen, dem Substanzdenken verpflichteten Theismus hat er wegweisende Einsichten für eine philosophisch verantwortete Gottesrede markiert. Für das Vorhaben einer transzendentalen Gottesrede, wie sie im 20. Jahrhundert z. B. durch die Theologien Karl Rahners oder Thomas Pröppers zur Prominenz gekommen ist, setzt seine philosophische Kriteriologie weiterhin Maßstäbe. Nicht ohne Grund berufen sich deshalb zentrale zeitgenössische theologische Ansätze auf Fichtes Philosophie. Der freiheitstheoretische Ansatz Thomas Pröppers ist vermittelt durch Hermann Krings’ transzendentale Freiheitslehre stark von Fichte geprägt. Sowohl der von Pröpper im Anschluss an Krings entwickelte Begriff einer formal unbedingten Freiheit des Menschen als auch der sich daraus ableitende Gottesbegriff einer formal und material unbedingten Freiheit als letzter Sinnbedingung, haben große Gemeinsamkeiten mit der zuvor skizzierten Argumentation Fichtes. Im Gegensatz zu Pröpper greift wiederum Hansjürgen Verweyen primär die Spätphilosophie Fichtes auf und bestimmt Gott als den absoluten Sinngrund menschlicher Freiheit, zu dessen Bild Menschen im freiheitlich moralischen Handeln werden sollen. Theologisch rezipiert wird auch die nochmals anders ansetzende Fichte-Rezeption Dieter Henrichs, die Fichte vor allem für die Frage nach der Entstehung des Selbstbewusstseinsphänomens eine entscheidende Bedeutung zuschreibt. Dabei bestimmt Henrich in kritischer Fortschreibung der von Fichte entwickelten Kritik an einem reflexiven Selbstbewusstseinsverständnis das menschliche Selbstbewusstsein als wesentlich präreflexives Phänomen, das somit
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zugleich den Abgrund selbstbewusster Freiheit markiert und verschiedene theologische Interpretationen dieses Abgrunds möglich werden lässt. Diese werden u. a. im Kontext der sogenannten Monismus-Debatte weiterhin kontrovers diskutiert. Trotz ihrer unterschiedlichen Stoßrichtungen kommen alle der hier erwähnten theologischen Ansätze darin überein, dass eine philosophisch verantwortete Theologie den Subjektbegriff und dessen selbstbewussten Freiheitsvollzug zum Ausgangspunkt des Gottdenkens machen muss. Diese Relevanz des Subjektbegriffs für das Gottdenken in philosophisch höchst differenzierter Weise herausgestellt zu haben, stellt ein nicht hoch genug einzuschätzendes Verdienst der Philosophie Fichtes dar. Hans Michael Baumgartner, Über das Gottesverständnis der Transzendentalphilosophie. Bemerkungen zum Atheismusstreit von 1798/99, in: PhJ 73 (1965/66) 303–321. (Spannender Artikel zu Fichtes transzendentalphilosophischem Gottdenken vor dem Hintergrund des Atheismusstreits.)
Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft in der neueren Zeit. Dritter Band: Die nachkantischen Systeme, in: ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, hg. von Birgit Recki, Hamburg 2000, 121–208. (Exzellente, bis heute lesenswerte, systematisch ausgerichtete Zusammenfassung der Philosophie Fichtes von einem der letzten Universalgelehrten der Philosophiegeschichte.)
Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a. M. 1967. (Henrichs berühmter, auch theologisch äußert breit rezipierter Aufsatz, in dem er seine selbstbewusstseinstheoretisch orientierte Fichte-Deutung entfaltet.)
Wolfgang Janke, Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970. (Klassiker der Fichte-Exegese, der auch theologisch, u. a. für die Fichte-Rezeption Thomas Pröppers, von großer Wichtigkeit ist.)
Magnus Lerch, All-Einheit und Freiheit. Subjektphilosophische Klärungsversuche in der Monismus-Debatte zwischen Klaus Müller und Magnus Striet, Würzburg 2009. (Hervorragender Überblick über die zwischen Klaus Müller und Magnus Striet geführte Monismus-Debatte, die ihren entscheidenden Ausgangspunkt in der Fichte-Deutung Dieter Henrichs hat.)
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Johann Gottlieb Fichte
Paul Platzbecker, Radikale Autonomie vor Gott denken. Transzendentalphilosophische Glaubensverantwortung in der Auseinandersetzung zwischen Hansjürgen Verweyen und Thomas Pröpper, Regensburg 2003. (Differenzierter Vergleich zweier bedeutender fundamentaltheologischer Ansätze, die sich in unterschiedlicher Weise auf Fichte als zentrale philosophische Quelle beziehen.)
Religion als Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Cornelia Richter
Zum zeitgeschichtlichen Kontext Friedrich Schleiermacher (1768–1834) ist für die Theologie deshalb so bedeutsam, weil er in seinem Lebenswerk Theologie, Philosophie, Hermeneutik und Ästhetik, Literatur und Philologie verbunden hat und sich mit bildungs- und kirchentheoretischen Programmen in den politischen Diskurs seiner Zeit wirkmächtig eingebracht hat. Wie kaum einem anderen Theologen ist es ihm gelungen, seine Herkunft aus einer pietistischen Frömmigkeit kritisch zu reflektieren, dank dieser selbstreflexiven Kritik auch zu bewahren und zugleich auf Augenhöhe mit den führenden Vertretern der Klassischen Deutschen Philosophie genuin philosophische Vorlesungen zu halten und zu publizieren. Er ist deshalb in direktem Zusammenhang mit Kant, Fichte, Schelling und Hegel zu lesen, ohne deren Werke der Streit um das Verhältnis von Glaube und Vernunft, Frömmigkeit und Rationalität bis heute nicht zu verstehen ist. Sie alle sind eingebettet in ein zeitgeschichtlich einzigartiges intellektuelles Netzwerk: die Entwicklung des Geschichtsbegriffs bei Lessing, Herder und Novalis; die Bildung literarisch-ästhetischer Diskurse um August und Friedrich Schlegel, Dorothea Veit-Schlegel und Rahel Varnhagen; die poetisch-philosophische Sonderstellung Hölderlins sowie die Klassik um Goethe und Schiller; die religionstheoretischen Fundamentaldebatten, angefacht durch Lessings Edition der ReimarusFragmente, Friedrich H. Jacobi und dessen Rezeption Spinozas sowie seine Einwürfe gegen Lessing und Mendelssohn. Nur in diesem intellektuellen Panorama lässt sich der „Streit um die Religion“
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Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
(W. Jaeschke) zwischen den Extremen eines rezeptierten Pantheismus und dem an Fichte ausgetragenen Atheismus-Vorwurf verstehen – mit Schleiermacher als einer zentralen Kristallisationsfigur dieses Diskurses.
Zu den theologischen Hauptwerken Es ist ein Diskurs, in dem Schleiermacher zunächst aufgrund seiner altphilologischen Expertise reüssiert und die bis heute anerkannte Übersetzung der Dialoge Platons mit einer philosophisch bedeutsamen Einleitung anfertigt. Seit seinem Wechsel nach Berlin denkt er mit Schlegel über das Projekt nach, führt es letztlich aber alleine aus; der erste Band erscheint 1804, der sechste und letzte Band 1828. Als Mitglied der literarisch-ästhetischen Berliner Avantgarde legt Schleiermacher sodann das theologische Meisterwerk vor, das für den gesamten folgenden Streit um die Religion maßgeblich ist: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799 in erster Auflage erschienen und bis 1831 in insgesamt vier Auflagen konstant weiter bearbeitet. Wie zuvor Kants kritische Schriften hat dieses Werk Schleiermachers die intellektuelle Welt gleichermaßen verzaubert und provoziert, weil sich in ihm Subjektivitätstheorie, Ästhetik, Kirchen- und Dogmenkritik mit tiefer religiöser Passion, gemeinschaftsbildender Spiritualität und selbstbewusstem Christentum verbinden. Im Stil dieser Schrift hat Schleiermacher zeitlebens gepredigt und dabei nicht nur an der Berliner Charité die Massen begeistert. Im theologischen Geist dieser Schrift hat er 1811 die Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen verfasst, eine bis heute lesenswerte Einführung in das Theologiestudium. In der Ratio dieser Schrift hat er sich in seinen philosophischen Vorlesungen ab 1811 den absolutheitstheoretischen Reflexionen der Dialektik gewidmet und ab 1812 einer Kulturtheorie, die damals noch als Ethik bezeichnet wurde. Auf der Basis dieser religionsphilosophischen Grundlegung hat Schleiermacher vergleichsweise spät, nämlich 1821/22 in erster Auflage, und 1830 in zweiter, stark überarbeiteter Auflage, dann eine umfangreiche Dogmatik im engeren Sinne vorgelegt, die unter dem bis heute programmatischen Titel Der Christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (CG)
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wegweisend ist für jede gegenwärtige evangelische Fundamentaltheologie. Anders als in der klassischen, als normative Schrift- und Traditionsauslegung verstandenen Dogmatik ist die theoretische Vorklärung (Prolegomena; d. h. das, was zur Einleitung in eine Dogmatik zu sagen ist) der Glaubenslehre bei Schleiermacher subjektivitäts- und kulturtheoretisch konstituiert (CG2: §§ 3–6 und 7–10), so dass in der Konsequenz jeder Glaubenssatz als ein Satz des frommen Bewusstseins (und nicht einer unantastbaren kirchlichen Lehrbildung) expliziert wird (CG2: § 15). Leitend ist dabei der Gedanke, dass sich das fromme Bewusstsein zwar als partiell frei in der Welt erfährt, letztlich aber um seine „schlechthinnige Abhängigkeit“ (CG2: § 4) von Gott weiß. Was sich auf den ersten Blick wie ein depressives Sündentrauma lesen lässt, ist es bei genauerem Hinsehen nicht: Eher im Gegenteil ist die Glaubenslehre getragen vom Bewusstsein erfahrener Gnade. Der oft gehörte Vorwurf, Schleiermacher würde im Ergebnis eine nur noch anthropozentrische Glaubenslehre vorlegen, greift daher zu kurz. Zwar kritisiert er z. B. die klassischen Formen der Trinitätslehre, nimmt sie ob ihrer philosophisch und theologisch ungeklärten Problematiken heraus und stellt sie provokant in eine Art Anhang zur Glaubenslehre (CG2: §§ 170– 172). Aber er tut dies nicht, um sie als wertloses Bildungsgut zu verabschieden, sondern um auf ihre noch neu zu durchdenkende metaphysische Komplexität in Relation zum frommen Bewusstsein hinzuweisen. Das gilt ebenso für den Zusammenhang von Christologie, Pneumatologie und ekklesiologischer Begründung: Mit der ZweiNaturen-Lehre, Auferstehungs- und Himmelfahrtsbildern und ähnlichen metaphysischen Modellen hält sich Schleiermacher nicht lange auf, sondern hebt stattdessen das singulär eindrückliche Gottesbewusstsein Jesu hervor, dessen Geist sich den Jüngern vermittelt und sie in die Nachfolge gerufen habe. Auch wenn die sogenannte Glaubenslehre in manchen Passagen an eine an Jesu Vorbild orientierte Aufklärungschristologie erinnert, geht es Schleiermacher doch um wesentlich mehr, nämlich darum, dass sich in und durch Jesus Christus eine neue, durch Gottes erlösende Gnade gewirkte Lebensperspektive aufbaut. Im Ergebnis hält man eine Glaubenslehre in der Hand, die eine bis in unsere Gegenwart wesentliche Mahnung enthält: Christlicher Glaube dürfe sich nie damit zufrieden geben, den kirchlich normierten Glaubenskanon einfach zu akzeptieren, sondern jede/r Theologe/in müsse imstande sein, die Glaubenssätze
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selbst und auf der argumentativen Höhe der Zeit zu durchdenken (CG2: § 19, ebenso § 218 in der Kurzen Darstellung). In all seinen Schriften geht es Schleiermacher um ein philosophisch gebildetes, kritisches und selbstreflexives Christentum, das sich nicht hinter Kirchenmauern verschanzt, sondern im Sinne engagierter Ökumene – Schleiermacher trat vehement für die sog. ‚Union‘ ein, den Zusammenschluss der lutherischen und reformierten Kirchen – und weltzugewandter Spiritualität aktiv teilnimmt an der Gestaltung öffentlichen Lebens. Es verwundert daher nicht, dass dieser Theologe 1810 in den Kreis der Gründungsmitglieder der Humboldt-Universität zu Berlin berufen wurde.
Zu den religionsphilosophischen Kerngedanken Die erste und zentrale philosophische Einsicht Schleiermachers liegt darin, dass er Religion im Sinne individueller Frömmigkeit versteht, genauer als einen Akt des subjektiven, unmittelbaren Selbstbewusstseins (CG2: § 3). In den Reden Über die Religion hat er die Religion als ein Drittes neben Denken und Handeln bzw. Metaphysik und Moral gestellt und sie als ‚Gefühl‘ bezeichnet. Damit ist jedoch keine weichgezeichnete ‚Gefühlsduselei‘ gemeint, sondern im Gegenteil eine komplexe Emotionstheorie skizziert, die Vorbildcharakter hat für manch zeitgenössischen Entwurf. Im Blick auf die Religion geht es um das Bewusstsein eines unmittelbaren Affiziertseins durch das „Unendliche“ – eine paradoxe Formulierung, die ernst nimmt, dass Religion einerseits nur als Selbstvollzug, Selbstbildung und kommunikatives Gemeinschaftsgeschehen verstanden werden kann und andererseits ein Gegebenes ist, für das der Mensch seine Sinne öffnen muss. Dass Schleiermacher dieses Gegebensein von Religion (ähnlich wie Kants ‚Anlage zum Guten‘, 1783) so beschreibt, dass „jeder Mensch mit einer religiösen Anlage geboren“ (3. Rede) werde, lässt uns im heutigen Kontext an naturalistische Begründungsfiguren denken, doch es trägt wenig aus für Schleiermacher selbst. In Schleiermachers Kontext ist dies eher als eine anthropologische Wesensbestimmung zu lesen, denn Religion ist jene unverzichtbare dritte Instanz, die es braucht, um Denken und Handeln zusammen zu bringen. So stark Schleiermacher in vielen Aspekten von Kant geprägt ist, an dieser Stelle hat er ihm den vermutlich stärksten Wi-
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derstand entgegengesetzt: Religion ist nicht zu reduzieren auf die vernünftige Moralität, sondern sie ist ein Eigenes, das sich im unmittelbaren Bewusstsein ausdrückt. Mit diesem Ausgangspunkt ist es nicht verwunderlich, dass alle folgenden Werke Schleiermachers das Verhältnis von Metaphysik, Moral und Religion thematisieren – das gilt für die frühen Werke der Reden und den Brouillon zur Ethik (1805/06) ebenso wie für deren Fortführung in den explizit philosophischen Werken, der Dialektik ab 1811 und der Ethik ab 1812/13. In ihnen kommt eine zweite anthropologisch grundlegende Verhältnisbestimmung hinzu, nämlich die von Idealität und Realität, also die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Idee einer vollkommenen Absolutheit (die jedes vernünftige Denken anstreben muss, auch jedes moralische Handeln, deren Erreichen aber letztlich nur Gott selbst vorbehalten ist) einerseits und deren zwangsläufig unvollkommener Gestalt im realen Leben andererseits. Zwar ist die Verhältnisbestimmung des Idealen und Realen nicht auf die Religion beschränkt, sondern gilt ebenso für die epistemologischen, moralischen und ästhetischen Bezüge des Menschen, weil das Ziel immer in höchstmöglicher Erkenntnis, Einheit und Harmonie besteht. Aber die Religion thematisiert dieses Verhältnis in besonderer Weise, da es sowohl Gegenstand der positiven (d. h. faktisch vorfindlichen) christlichen Vorstellungen wie deren religionstheoretischer Rekonstruktion ist. Schleiermacher nimmt dies als Vorlage und bearbeitet das Verhältnis von Idealität und Realität daher zuerst in der Dialektik mithilfe der Transzendentalphilosophie, um es dann in der Ethik im Sinne einer Kulturtheorie für sämtliche Bereiche menschlichen Lebens durchzuspielen; letzteres nicht im Sinne einer bloß deskriptiven Kulturtheorie, sondern im Sinne einer Darstellung des religiösen Sinnes für die Welt. In der Dialektik ist dies als eine Epistemologie konzipiert, mit der er sich sowohl von einem einseitigen Idealismus abgrenzt wie von einem ebenso einseitigen Realismus bzw. von einer axiomatisch gesetzten naturwissenschaftlichen Zugangsweise, die sich – weil der Anspruch auf reine, vollkommene Idealität faktisch nicht zu erreichen ist – vorschnell mit einem Empirismus oder gar Materialismus, in manchen Varianten auch mit einem bloßen Relativismus (höchste Ziele braucht es nicht, weil ohnehin alles relativ ist) zufrieden geben würde. Schleiermachers Ziel ist es hingegen, die Totalität allen Wissens zu verstehen, ohne sich – gegen Hegel –
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der Illusion eines jemals zu erreichenden absoluten Wissens hinzugeben. Es geht vielmehr um das Verstehen jener Denk- und Wissensstrukturen, die sich in der Ethik in den konkreten Strukturen, den inhärenten Gesetzmäßigkeiten und Formen des historisch und kulturell kontingenten Lebens empirisch aufzeigen lassen. Das Erkenntnisproblem ist für Schleiermacher nicht als abstraktes epistemologisches Thema relevant, sondern für das Verstehen von realem Wissen, das in seiner Gebundenheit an die Emotionalität im Sinne des unmittelbaren Bewusstseins stets mehr ist als bloße Kognition oder Logik. Schleiermachers Vorlesungen zur Dialektik und zur Ethik sind deshalb zwar als für sich stehende Werke zu rezipieren, lassen sich in voller Tiefe aber nur in ihrer wechselseitigen Perspektivierung verstehen. Ein dritter Grundgedanke ist deshalb konsequenterweise mit dem Begriff höchster Einheit bzw. des transzendenten Grundes verbunden. Wie Kant ist Schleiermacher davon überzeugt, dass keine Metaphysik jemals in der Lage sein könnte, solch eine höchste Einheit in sich selbst, sozusagen in ihrer transzendenten ‚Konkretion‘, erkennen und explizieren zu können. Deshalb ist es für ihn auch nebensächlich, ob man den Gedanken höchster Einheit mit dem Gottesnamen verbindet oder lieber vom Absoluten spricht, auch das höchste Wissen könnte ihm ein geeigneter Kandidat sein. Doch in jedem Fall gilt, dass sich solch eine höchste Einheit eben durch jene Einheit von Idealem und Realem auszeichnet, die dem menschlichen Bewusstsein unzugänglich bleibt: Denn menschliches Bewusstsein ist und bleibt in seiner Existenz in der Differenz zwischen dem Idealen und Realen gefangen. Der Gedanke höchster Einheit ist für Schleiermacher dennoch unverzichtbar, weil mit ihm der letzte und deshalb transzendente Grund allen Denkens, Handelns und Seins ausgesprochen ist. Spätestens an dieser Stelle könnte man geneigt sein, Schleiermacher ein substanzlogisches Denken alter Schule unterstellen zu wollen, doch das Gegenteil ist der Fall. Obwohl er die höchste Einheit als transzendenten Grund allen Denkens, Handelns und Seins voraussetzt, ist dieser Grund nie vorfindlich gegeben. Sondern es ist ein Grund im Sinne eines konstitutiven Prinzips, das nirgends anders als im ethischen Vollzug zur Geltung gebracht werden kann. Es gehört zum Paradox der menschlichen Perspektive auf den transzendenten Grund, dass er sich nur zeigt, wo er in Anspruch genommen wird. Auch dann nie in klarer Gestalt,
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aber immerhin als eine Ahnung, nämlich in der relativen Identität des Denkens und Wollens im Gefühl. Aus der Fülle von Schleiermachers Schriften ließen sich noch zahlreiche weitere, für den gegenwärtigen philosophischen Diskurs ebenfalls relevante Themenstellungen herausgreifen, allen voran seine weitsichtigen Ausführungen zur Hermeneutik. Doch im Blick auf die Religionsthematik ist hoffentlich mit den hier genannten Gedankengängen das Interesse geweckt. Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin – New York 2013. Ulrich Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003. Ulrich Barth, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004 Ulrich Barth, Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005. (Ulrich Barth und Andreas Arndt gehören gegenwärtig zu den bedeutendsten Schleiermacher-Experten seit der sog. Schleiermacher-Renaissance in den ����erJahren und sind maßgeblich für die Edition der Quellentexte mit verantwortlich. Die Aufsatzsammelbände decken das breite Spektrum des religionsphilosophischen Kontextes Schleiermachers ab.)
Dietz Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher. 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985. (Der Band enthält knappe, konzise und sehr gut lesbare Aufsätze zu Einzelthemen Schleiermachers.)
Hermann Fischer, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, München 2001. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001. (Diese beiden Werke sind ideal für den Einstieg in die Schleiermacher-Lektüre. Fischer ist knapper und stärker auf die theologischen und religionsphilosophischen Schriften bezogen, Nowak hat das darüber hinausgehende Gesamtwerk Schleiermachers breiter dargestellt.)
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Als Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) im Jahr 1788 ins Tübinger Stift kam, um Theologie zu studieren, lernte er Hölderlin und später auch Schelling kennen. Eine wichtige Grundlage der sich bald entwickelnden Verbundenheit der drei Studierenden war die Lektüre Kants, die für sie der entscheidende Referenzpunkt ihres Denkens bleiben sollte (es empfiehlt sich deshalb, diesen Beitrag gemeinsam mit dem über Kant zu lesen). Neben ihrer Beschäftigung mit antiker (v. a. Platon) und neuzeitlicher Philosophie (Spinoza, Leibniz, Kant, Herder, Jacobi etc.) wurde den drei Freunden im Rahmen ihrer protestantisch-pietistischen Ausbildung auch eine starke Prägung durch die Bibel zuteil. Nach dem Ende des Studiums verabschiedeten sie sich, wie Hölderlin sich in einem Brief an Hegel (10. Juli 1794) erinnert, mit dem Ruf ‚Reich Gottes!‘ voneinander. Keiner der drei ergriff den Beruf des Pfarrers. Hegel arbeitete zunächst als Hauslehrer, dann als Privatdozent in Jena und Gymnasialdirektor in Nürnberg, schließlich als Professor an der Universität Heidelberg und danach in Berlin. Der eigentliche Gehalt von Hegels Philosophie, ihre Wissensund Gesellschaftskritik, findet sich in seinen beiden Hauptwerken, der Phänomenologie des Geistes (PhdG, 1806/07) und der Wissenschaft der Logik (WdL, ab 1812). Beide Werke beziehen sich an neuralgischen Stellen auf die Religion und entwickeln darüber hinaus eine Fülle von Kategorien des Denkens, welche für die systematisch-theologische Reflexion von hoher Relevanz und Erklärungskraft sind. Als Einführung dazu können die so genannten Theologischen Jugendschriften gelesen werden, unveröffentlichte längere Entwürfe Hegels
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aus den Jahren 1793 bis1800, welche die Frage nach der Religion mit gesellschaftlich-politischen Analysen und einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie verbinden. Hegels philosophischer Weg setzt gewissermaßen mit der Frage ein, wie eine lebendige Religion der Moderne zu denken sei. In seiner Kritik an erstarrten oder unfreien Formen der Religiosität nimmt er gleichzeitig wichtige Einsichten der Religionskritik des 19. Jahrhunderts vorweg.
Hegels gesellschaftlich-politische Bestimmung des Gedankens Gottes und des Ichs Von den Jugendschriften an versteht Hegel Religion als ein intersubjektives gesellschaftliches Phänomen. Weder der Begriff Gottes noch das Subjekt dürfen aus den politischen Verhältnissen gelöst werden: Im Gottesgedanken kommt dem Menschen nicht zuletzt die Form seiner Weltbegegnung entgegen, d. h. die Weise seines Umgangs mit Welt, Natur, Gesellschaft, Sprache und Geschichte, in welche er hineinverwoben ist. In ihm kristallisiert sich das, was eine Gesellschaft als das Absolute ansieht. Allerdings darf Religion nicht bloß als Bestätigung der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden. Mit der Transzendenz des Absoluten begegnet immer auch ein Moment des Widerstandes und des Widerspruchs, das die Kategorien unserer Ordnung von Welt infrage stellt. Hegel verbindet seine Überlegungen zur Religion mit einer umfassenden Wissens- und Gesellschaftskritik (und damit auch einer Kritik an bestimmten Formen der Religion), worin eine Fortführung der kantischen Erkenntniskritik zu sehen ist. Ohne hinter Kant zurückgehen zu wollen, modifiziert Hegel dessen Konzeption des Gottesgedankens sowie des Ichs. Er denkt Gott, wie bereits angedeutet, in Entsprechung zu gesellschaftlichen Verhältnissen. Entgegen dem Motiv einer sich nie erfüllenden Annäherung an das Absolute, das immer in Gestalt des Postulats bleiben muss, versteht Hegel in seinen Jugendschriften Gott vom biblischen Gedanken der Liebe und des pleroma, der Fülle, her: „Das Ideal können wir nicht außer uns setzen, sonst wäre es ein Objekt, – nicht in uns allein, sonst wäre es kein Ideal. Die Religion ist eins mit der Liebe. Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm, und dann ist er doch
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wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht fassen können.“ (Hegel, Schriften, 244) Im pleroma der Liebe sieht Hegel „Reflexion und Liebe vereint, beide verbunden gedacht“ (ebd., 370), woraus ersichtlich wird, dass Hegel die Errungenschaften der Aufklärung nicht aufgeben möchte. In den Hauptwerken tritt an die Stelle des als verbraucht geltenden Terminus ‚Liebe‘ der des ‚Begriffs‘, wobei seine Herkunft aus dem Motiv der (göttlichen) Liebe immer mitzuhören ist. Wenn also die WdL nach ihren ersten beiden Teilen, der Seins- und der Wesenslogik, in eine Begriffslogik mündet, bedeutet dies gerade nicht, dass Hegel die gesamte Wirklichkeit einem abstrakten Verstandeskonstrukt und einem gänzlichen Durchschauen, d. h. einer intellektuellen Bewältigung, unterwerfen möchte, sondern dass es ihm um die Frage nach einem freien und anerkennenden (liebenden) Umgang mit der Welt und dem Anderen geht. Im Hinblick auf den Gedanken des Ichs nimmt Hegel seinen Ausgangspunkt bei jener zentraler Stellung, die ihm seit Luther und Descartes zukommt, sieht darin aber auch eine Reduktion angelegt: Ein bindungsloses Ich schreibt seinen Herrschaftswillen in die ihm als Objekt begegnende Welt ein. Wie die sprachliche Struktur des Urteils (Subjekt ist Prädikat) zum Ausdruck bringt, weist das Ich beständig einem leeren ‚Etwas‘ Prädikate zu (z. B.: die Rose ist rot und …), d. h., es arbeitet mit klaren Definition, die seine Erkenntnis leiten. Auf diese Weise kann jedoch das Lebendige nicht mehr in den Blick gelangen. Hegel zieht aus dieser schon in den Jugendschriften angelegten Kritik in seinen Hauptwerken die Konsequenzen und verzichtet gänzlich auf Definitionen, was die große Schwierigkeit seiner Texte ausmacht. Er wendet sich aber auch gegen die kantische Konzeption, die zwar das Ich von seiner moralischen Autonomie und Verpflichtetheit her rekonstruiert, aber in der Rückführung auf eine transzendentale Struktur seine Welthaftigkeit und Geschichtlichkeit nicht in den Blick zu bringen vermag. Demgegenüber möchte er den Gedanken des Subjekts konsequent an interpersonale und gesellschaftliche Verhältnisse binden.
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Hegels Philosophie als narrative Rekonstruktion abendländischer Geschichte In den Umkreis der Jugendschriften gehört auch einer der wohl bedeutendsten Texte der Philosophiegeschichte, der in programmatischer Weise die Aufgaben einer kommenden Philosophie angibt, das so genannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, dessen Verfasserschaft (Hegel oder doch Schelling?) nicht geklärt ist. Nach den Themen Moral, Freiheit, Naturwissenschaft, Geschichtsphilosophie und Ästhetik kommt der Text an seinem Ende auf die Religion zu sprechen. Das Älteste Systemprogramm tritt gegen jene schon erwähnte Form modernen Weltumgangs auf, der zur Zeit Hegels bereits wahrzunehmen ist, uns heute aber in einer noch viel massiveren Weise besetzt: Von einem neutralen Standpunkt aus soll die Wirklichkeit in objektivierender, verrechnender Weise einem Urteil unterworfen werden, d. h., sie wird in ‚Tabellen und Registern‘ systematisiert, wohingegen das Lebendige, Geistige, die Freiheit und das Schöne und damit auch die Religion in ihren Vollzügen, Texten und Riten nicht mehr in ihrer Eigenständigkeit in den Blick gebracht zu werden vermag. In den Schlusspassagen entwickelt der Text die Idee einer Religion der Moderne, deren Aktualität für Theologie, Kunst und Philosophie bis heute ungebrochen ist. Das Älteste Systemprogramm möchte den modernen Gedanken der Freiheit und Autonomie mit einer affektiven und narrativen Dimension verbinden. Hinter Ersterem stehen die politischen (Französische Revolution) und philosophischen (Kant) Errungenschaften der Epoche. Letztere steht für das Wissen der Religion, dass die Identität des Menschen sich nicht mittels einer Aufzählung beliebig vieler Eigenschaften angeben lässt (dann wäre der Mensch nichts als ein Gegenstand der Technik), sondern nur in Erzählungen, die vom Menschen immer wieder neu ‚geschrieben‘ werden müssen, zugänglich wird. Die Religion gibt überdies der stimmungs-und gefühlsmäßigen Weise, unsere Welt zu bewohnen, einen (nicht bloß irrational-zufälligen) Ausdruck. Das Älteste Systemprogramm prägt für diese Verbindung das Wort von einer Mythologie der Vernunft. Mythologie steht hierbei für die erzählerische, sinnliche, ästhetische, affektive Dimension, in welcher sich Religion zum Ausdruck bringt; Vernunft spielt auf die Motive Aufklärung, Freiheit, Verantwortung und verallgemeinerbares Handeln (Kant) an: „wir müssen eine neue Mythologie haben,
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diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden“ (ebd., 236). Diese Synthese imaginiert eine Religion, die kein Instrument der Unterdrückung oder gesellschaftlichen Selektion ist, sondern der Bildung von Hierarchien und der Trennung von aufgeklärten Eliten und Unaufgeklärten entgegenwirkt. Auch die beiden Hauptwerke Hegels können als ein großer Erzählbogen verstanden werden, in welchem Hegel die Genese und Entwicklung bestimmter Gestalten und Kategorien des Denkens rekonstruiert. Er behandelt also keine Gegenstände im herkömmlichen Sinn: Die PhdG muss wie die Schilderung eines Weges gelesen werden, in dessen Verlauf Gestalten des Denkens (Formen menschlichen Weltumgangs, z. B. ein stoischer, skeptischer oder von der revolutionären Freiheit getragener Zugang zur Welt) wie auf einer Bühne auftreten. Sie werden entwickelt und konsequent durchdacht, bis sie sich schließlich an ihren eigenen Widersprüchen auflösen. Dabei gehen sie jedoch nicht verloren, vielmehr macht das Bewusstsein eine Erfahrung, die im weiteren Verlauf des Weges mitgeführt wird. Von daher lässt sich das berühmte hegelsche Wort der Aufhebung in seiner dreistrahligen Bedeutung verstehen: Eine Gestalt des Denkens hebt sich auf, d. h., sie verliert ihre unmittelbare Geltung (1), geht dabei aber nicht verloren, sondern wird auf eine höhere Stufe gehoben (2) und bleibt im weiteren Verlauf erhalten (3). Die WdL entwickelt in einer ähnlichen Weise die Kategorien des Denkens in ihrem inneren Fortgang und Zusammenhang. Dabei frägt sie in grundlegender Weise, was Bestimmungen wie Sein, Nichts, Dasein, Form, Inhalt, Materie, die Idee des Guten etc. bedeuten.
Aufhebung und Negativität als Schlüsselbegriffe Hegels Beide Hauptwerke schildern eine Entwicklung von Gestalten bzw. Kategorien, deren Logik nicht einem äußeren Maßstab folgt, sondern in der Sache selbst, d. h. im Inneren ihres Fortgangs, liegt. Dafür hat sich fälschlicherweise die Rede von einer Trias ‚These – Antithese – Synthese‘ eingebürgert, die den Gang der Entwicklung lenke und mit der Notwendigkeit eines Mechanismus determiniere: Etwas wird behauptet, aufgestellt, tritt auf (These) und wird bis zu seinem
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Gegenteil entwickelt (Antithese). Beides fasse sich schließlich in einer Synthese zusammen. Dieses Schema kommt bei Hegel jedoch nicht vor. In jeder geschilderten Gestalt muss – der jeweiligen Gestalt entsprechend – die Frage gestellt werden, wie sich der Gang der Überlegungen weiterentwickle (und damit auch, wie sich ‚Gott‘, ‚Ich‘ und ‚Welt‘ darstellen). Nie folgt jener Gang einem äußerlichen Algorithmus oder Mechanismus. Vielmehr ist es die Negativität des Seins, die in allen Begriffen auftritt und verhindert, dass sich die Entwicklung an einem Punkt fixieren lässt. Mit Negativität ist angesprochen, dass die einzelnen Kategorien nie gänzlich präsentierbar und definierbar sind, sich also ihrer ‚Positivierung‘ (von lateinisch ponere – ‚setzen‘, ‚stellen‘) und damit dem Versuch, sie zu beherrschen und zu kontrollieren, immer entziehen. Der Gang der Entwicklung der beiden Hauptwerke ist nicht, wie vielfach behauptet, einfachhin als eine Fortschrittserzählung zu lesen, die am Ende zur Totalität eines vollständigen Wissens und zu einem alles in sich integrierenden System führt. Vielmehr handelt es sich um einen Weg, im Rahmen dessen die Negativität (d. h. auch die Freiheit) aus unseren beständigen Versuchen, die Dinge und den Anderen handhabbar, verfügbar, definierbar zu machen, immer deutlicher hervortritt. Anstelle eines stetigen Fortschritts schildert Hegel ein Zerbrechen sämtlicher Konzepte, welche die Negativität zu kontrollieren suchen, um schließlich zu einem Freilassen des Anderen und der Natur aus unseren Projektionen und Bildern zu führen. Dafür verwendet Hegel die Termini des freien Andersseins und der Anerkennung. So geht es darum, ein singuläres Moment, das sich der Einordnung entzieht, zur Sprache zu bringen. Wenn Hegel am Schluss seiner Hauptwerke von absolutem Wissen (PhdG) bzw. absoluter Idee (WdL) spricht, darf ‚absolut‘ nicht als ‚total‘ verstanden werden, sondern meint im Sinne des lateinischen absolvere ‚losgelöst‘, ‚frei‘.
Der Weg der PhdG zur Religion Betrachten wir nun in aller Kürze den Weg der PhdG, um einen kleinen Einblick in den Duktus des Werkes und damit in die hegelsche ‚Denkform‘ zu erhalten. Es kann in zwei große Teile untergliedert werden: Im ersten, wesentlich längeren Teil versucht das
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Bewusstsein (das Ich), sich in immer differenzierterer Weise in der es umgebenden Welt zu spiegeln, d. h., sich selbst in der Welt zu finden und somit die Welt in gewisser Weise zu beherrschen. Alle diese Projektionen des Ichs scheitern jedoch an der Negativität des Seins bzw. des Ichs, das ebenfalls nicht definierbar ist. Der Weg beginnt in der sinnlichen Gewissheit mit der Überzeugung, über einen unmittelbaren Weltzugang zu verfügen, der den Reichtum der Erkenntnis in unverfälschter Weise bieten und in welchem sich das Ich unmittelbar finden kann. Allerdings zeigen sich darin sofort Störungen an, nämlich die Differenz von Ich und Gegenstand, das Vergehen der Zeit, das Sich-Entziehen der Unmittelbarkeit und ihre Unaussprechlichkeit etc. Der erste Versuch, das Verhältnis von Ich und Welt zu denken, lässt sich nicht halten. Im Wahrnehmungskapitel zeigt sich der Versuch, die Welt als eine stabile Welt der Dinge zu beschreiben, doch findet das Bewusstsein keinen Umgang mit der Veränderung der Gegenstände und mit der Trennung von veränderlichen äußeren Eigenschaften und einem unveränderlichen Inneren der Dinge. Diesem zu statischen Denken folgt eine Beschreibung der Welt über die in ihr waltenden Kräfteverhältnisse und Gesetzmäßigkeiten, die mit dem Problem ringt, wie die Welt der Erscheinung und ihre Repräsentation unter Gesetzen zusammenhängen. Im Versuch, beide Sphären zusammenzuhalten, ergibt sich die diese Stufe sprengende Kategorie des Unterschiedes, der keiner ist, weil er unmittelbar in sich zurückgenommen wird. Damit kommt erstmals die Struktur des Selbstbewusstseins vor: Ich unterscheide mich von mir selbst und falle doch nicht in zwei unterschiedene Entitäten auseinander, weil ich es bin, der sich von mir unterscheidet. Ab dieser Stufe versucht das sich seiner selbst bewusste Ich, sich in einem anderen Selbstbewusstsein, d. h. in intersubjektiven Verhältnissen, zu finden, zuerst indem es, wie das berühmte HerrKnecht-Kapitel zeigt, den anderen auf Leben und Tod bedroht und ihn für sich arbeiten lässt. Die Entwicklung läuft sodann über den Knecht weiter, der die Todesfurcht erfahren hat und in stoischem Rückzug jeglichen Inhalt der Welt in den Gedanken zurücknimmt. Dies führt in die Entwertung der Welt in skeptischer Distanz. In all diesen Umgangsweisen erfährt das Bewusstsein jedoch keine Anerkennung und verlegt schließlich als unglückliches Bewusstsein seinen Referenzpunkt als unerreichbaren in ein (göttliches) Jenseits (philosophisch: in ein unerreichbares Postulat). Damit taucht erstmals
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eine Figur auf, in welcher sich das Ich nicht mehr unmittelbar in innerweltlichen Zusammenhängen spiegeln kann. Die Welt wird nicht mehr wie in den vorigen Stufen gedanklich vernichtet, sondern – weil das Ich sich ganz auf den Unwandelbaren (Gott) ausrichtet – freigelassen. Dies hat zur Folge, dass das Ich der Mannigfaltigkeit der Welt gewahr wird und sich nun, wie das Vernunftkapitel schildert, in der Beobachtung der Welt und ihrer Gesetze finden möchte (Naturwissenschaft, Psychologie, Logik …). Danach versucht sich das Ich im Anderen zu realisieren, nämlich in der Erotik, dann in der tugendhaften Handlung, die die Welt verändern möchte, schließlich in einem Werk, in welchem das Ich den gesamten Inhalt seines Daseins zu finden meint. In all diesen Gestalten erfährt das Bewusstsein jedoch nur seine eigene Nichtverortbarkeit und lernt, dass seine Bestrebungen noch abstrakt waren, weil das Ich noch nicht in seiner Aufgehobenheit in einem Gemeinwesen und dessen kultureller und sittlicher Substanz gedacht war. Hegel stellt diese kulturelle Einbettung anhand der griechischen polis und an der Spannung von Staat und Familie dar, wobei darin eine Wahrnehmung von Einzelheit aufbricht, mit welcher diese Gesellschaftsform nicht umzugehen vermögen. Immer deutlicher wird in der Folge die Entfremdung des Ichs gegenüber seiner Herkunft, was sich in der Bildung ausdrückt. Aus der Entfremdung gegenüber einer konkreten sittlichen Zugehörigkeit erwächst das allgemeine Denken der Moralität (Kant). Schließlich endet der erste Teil der Selbstfindungsversuche beim Gewissen, als das Ich erkennen muss, dass der Ort, von dem aus es immer schon die Welt beurteilt und sich in ihr zu finden versucht hat, selbst ein durch anderes und Andere ermöglichter Ort ist. Immer liegt ihm schon ein geistig-kulturell-sprachliches Umfeld voraus, das uns überhaupt erst zur Sprache kommen lässt. Das Ich verfügt nicht über jenen absoluten Standpunkt, den es sich in all den Stufen angemaßt hat, und kann dem Anderen, den es seinem eigenen Urteil unterwerfen wollte, verzeihen, wobei es sich nicht mehr um einen gönnerhaften Gestus handeln darf. An diesem Punkt, an dem alle Projektionen des Ichs auf die Spiegelflächen der Welt bzw. des Anderen zerbrechen, beginnt für Hegel der Eintritt in den zweiten Teil der PhdG, der die Kapitel der Religion und des absoluten Wissens umfasst. Die Religion ist – ganz
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im Gegensatz zu der auf Feuerbach zurückgehenden Bestimmung als Projektion des Selbstbewusstseins in ein Unendliches – der Umgang mit dem Ende aller Projektionen, d. h. mit der Unmöglichkeit, sich in der Welt, im Anderen zu finden. Allerdings wird die Religion immer differenziertere Versuche entwickeln, diese auftretende Negativität (d. h. das Ende der Projektionen) noch irgendwie zu symbolisieren. Hegel spricht in drei Stufen von der natürlichen Religion, der Kunstreligion – wobei er vor allem an die antike griechische Religion denkt – und der offenbaren Religion. Was die Religion im Laufe ihrer Entwicklung immer deutlicher erkennt, ist, dass das Geschehen der Verzeihung, wie es am Ende des Gewissenskapitels ansichtig wurde, bereits durch einen Akt der göttlichen Entäußerung (Kreuz) ermöglicht ist und deshalb nicht mehr als selbstmächtige Handlung eines Subjektes angesehen werden muss, das auch in der Verzeihung immer nur bei sich bliebe. Die ‚Handlung‘ des Ichs erweist sich, Nachvollzug eines substantiellen, d. h. die göttliche Substanz betreffenden Geschehens zu sein. Allerdings versucht die Religion, dieses Geschehen in eine Vergangenheit oder Zukunft auszulagern, und nimmt es nicht in die Präsenz des Heute, worin ihr Defizit angezeigt ist. Das absolute Wissen hat der Religion gegenüber keinen neuen Inhalt mehr, es beschreibt vielmehr das Freilassen des Wissens der Religion und aller vorhergehenden Stufen. Damit wird auch der lineare Verlauf der PhdG gebrochen. Die bisher dargestellten aufgehobenen Wissensgestalten können sich neu ordnen, d. h., sie können und müssen in je neuen Erzählungen der Geschichte konfiguriert werden und eine neue Ausgestaltung erfahren. Am Ende des Buches steht eine radikale Offenheit. Das absolute Wissen ist nur insofern Abschluss, als es zur Neulektüre und Neu-Konfiguration aller vorhergehenden Gestalten einlädt, die freilich keine Willkür darstellt, sondern einen geistigen Blick auf die Welt und den Anderen verlangt (und damit auch mit bestimmten gesellschaftlichen Veränderungen korrespondiert).
Rezeption und Literatur Einem vielfach erhobenen Vorwurf zufolge sei Hegel der letzte Systemdenker, welcher die Wirklichkeit in ihrer Endlichkeit und Einzelheit nicht zu würdigen vermag, weil die gesamte Wirklichkeit in die
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Vernünftigkeit einer logischen Entwicklung eingeschlossen werde. In gewisser Weise zieht sich dieser Vorwurf von Schelling über Kierkegaard bis hin zur Frankfurter Schule und manchen postmodernen Entwürfen. In der Theologie wird dieser Vorwurf nicht selten rezipiert mit Blick darauf, dass die Abgeschlossenheit des Systems nicht ermögliche, die Freiheit Gottes zu denken. Außerdem wird behauptet, die Religion habe bei Hegel keinen Eigenwert, zumal sie durch eine höhere Gestalt, das absolute Wissen, abgelöst werde. Wie der kurze Durchgang durch die PhdG andeuten sollte, sind beide Vorwürfe nicht haltbar. Hegel versucht gerade, sämtliche Denkweisen, welche eine „Verkleidung“ der kontingenten Wirklichkeit darstellen, an ihr Ende zu führen, um einen neuen Blick auf das Sein und den Anderen in ihrer Negativität, d. h. in ihrer Nicht-Fixierbarkeit und Singularität zu eröffnen. Der Weg der PhdG ist der Weg eines Zerbrechens sämtlicher Projektionen, welche Sein und Dasein nicht freizulassen vermögen. Die Religion bleibt bei Hegel aufbewahrt, wird aber problematisiert, insofern sie das Heilsgeschehen nicht in der Lebendigkeit des Heute zu aktualisieren vermag. Die Philosophie Hegels ist für viele philosophische Entwürfe, die heute in der Theologie rezipiert werden, ein wichtiger Referenzpunkt, sei es in Distanz oder affirmativer Fortschreibung. Zu erwähnen sind etwa Heidegger, die Frankfurter Schule, Sartre, Derrida, Nancy, Agamben und Judith Butler. Eine breite theologische Diskussion, die von den Hauptwerken Hegels ihren Ausgang nimmt, steht bis heute aus. Kurt Appel, Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008. (Nach einem Durchgang durch Leibniz, Kant, Heidegger und Schelling entfaltet das Buch im Anschluss an die PhdG und WdL auf innovative Weise die Zeitthematik als Grundmotiv der Gottesrede.)
Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977. (Hegels Wort vom ‚Tod Gottes‘ nimmt eine vermittelnde Gestalt von Gottesrede und modernem Atheismus ein.)
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Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964. (Der Autor stellt neu eine Eschatologie mit politisch-theologischem Charakter ins Zentrum der Theologie und zwar vor dem Hintergrund von Hegels Rede vom ‚Tod Gottes‘.)
Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996. (Grundlegende Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie mit Hegel als Angelpunkt.)
Die ästhetische Konzeption von Religion
Friedrich Hölderlin Thomas Hanke
Unsere Gegenwart ist geprägt durch eine Pluralisierung und Dynamisierung von Lebensentwürfen. Konfessionelle Bindungen lösen sich auf, dogmatische Positionen werden als lebensfern und -feindlich erfahren. Bei der Suche nach Sinn spielen ästhetische Kategorien eine zunehmend wichtigere Rolle, religiöse und andere weltanschauliche Motive können frei miteinander assoziiert werden. Vor diesem Hintergrund gewinnen Person, Denken und Dichten Hölderlins eine bemerkenswerte Relevanz. Friedrich Hölderlin, geboren 1770, stammte aus einem evangelischen Elternhaus und studierte von 1788 bis 1793 – in demselben Jahrgang wie G. W. F. Hegel – Philosophie und Theologie in Tübingen. Das Ziel, Pfarrer zu werden, scheint er aber nie ernsthaft verfolgt zu haben. Es war die Literatur der griechischen Antike, die ihn von Anfang an fesselte und deren Geist er wiedererwecken wollte. Früh erfuhr er sich zum Dichter berufen, der Erfolg beim Publikum blieb jedoch zu seinen Lebzeiten überschaubar. Als Hauslehrer in Frankfurt am Main ab 1796 ging er eine Liebesbeziehung mit Susette Gontard ein, der Frau seines Arbeitsgebers. Ihre erzwungene Trennung stürzte beide in eine Krise und führte zugleich zu einem angeregten monatlichen Briefaustausch. Der Staatsbeamte Isaac von Sinclair vermittelte Hölderlin für längere Zeit Obdach in der nahen Residenzstadt Homburg vor der Höhe. Von einer kurzen Anstellung als Hauslehrer in Bordeaux kehrte Hölderlin 1802 körperlich und psychisch angegriffen zurück und erfuhr von Susettes frühem Tod. Ob und wann genau sich seine Depressionen zu einer Psychose entwickelten, ist umstritten. 1806 wurde er in ein Sanatorium in Tübingen zwangs-
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eingewiesen. Von 1807 bis zu seinem Tod 1843 lebte er unter der Aufsicht des Schreinermeisterehepaars Ernst und Elisabeth sowie später deren Tochter Charlotte (Lotte) Zimmer im heute sogenannten ‚Tübinger Turm‘ am Neckarufer. Literaturwissenschaftlich wird Hölderlin häufig ‚zwischen Klassik und Romantik‘ verortet. Philosophisch betrachtet ist er eindeutig der Frühromantik zuzuordnen. Systematisch ähnliche Entwürfe finden sich bei Novalis und Friedrich Schlegel. Die Frühromantik versteht sich als Kind der Aufklärung, kritisiert allerdings deren Überhöhung der Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft. Demgegenüber spricht sie die Verletzlichkeit und das Fragmentarische des Denkens und Lebens aus. Umso absurder muss daher der Missbrauch der ‚deutschen Romantik‘ und insbesondere der Texte Hölderlins durch die Nationalsozialisten erscheinen.
Die romantische Grundoption: Sein jenseits des ur-teilenden Bewusstseins Hölderlins philosophische Bedeutung, die ihn auch aus spiritueller und theologischer Sicht interessant macht, kann in drei Schritten erläutert werden. Der entscheidende Text, der den ersten Schritt repräsentiert, wurde erst im Jahr 1961 publiziert. Es handelt sich um ein Blatt, das Hölderlin im Frühjahr 1795, als er als Gasthörer an der Universität Jena die Vorlesungen J. G. Fichtes besuchte, auf beiden Seiten beschrieben hat. Nach den beiden Wörtern, mit denen die Seiten jeweils beginnen, wird dieser Text meist Urtheil und Seyn genannt. In Urtheil und Seyn ist Hölderlins philosophische Grundoption zu erkennen. Fichte wollte seine Philosophie, die er programmatisch ‚Wissenschaftslehre‘ nannte, auf dem absolut gewissen Grundsatz ‚Ich bin ich‘ aufbauen. Dieser erste Grundsatz sollte sowohl die Einheit dieser Wissenschaft vom Wissen garantieren als auch seine Gewissheit auf die folgenden Sätze dieser Wissenschaft übertragen. Für Fichte ging es beim ‚absoluten Ich‘ dieses Grundsatzes um eine formale Struktur, die er explizit nicht mit dem individuellen Ich bzw. dem Selbstbewusstsein gleichsetzen wollte. In seiner Kritik an Fichte weist Hölderlin jedoch darauf hin, dass die Rede vom Ich dann eigentlich unverständlich wird: „Wie kann ich sagen: Ich! ohne Selbst-
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bewußtseyn?“ (MA 2,49). Wird der Satz ‚Ich bin ich‘ aber als Aussage über das Selbstbewusstsein gedeutet, muss dabei zwischen einem Ich-Subjekt, das Ausgangspunkt der Reflexion ist, und einem IchObjekt, das deren Zielpunkt ist, unterschieden werden. Fichtes Grundsatz entpuppt sich also, obwohl er Identität aussagen möchte, gerade nicht als eine letzte Einheit, sondern vielmehr als „Urtheilung“ oder „ursprüngliche Trennung“ (MA 2,50). Das hat er mit allen anderen Urteilen, also propositionalen Aussagen, gemein. Hölderlin verbindet diese subjekttheoretischen und sprachphilosophischen Überlegungen mit einem metaphysischen und einem wissenschaftstheoretischen Gedanken. Er postuliert nämlich eine Einheit, die allen Trennungen vorausliegt. Diese Einheit von allem, was existiert, nennt er ‚Seyn‘. Von diesem Sein kann indes nichts ausgesagt werden, weil dafür wieder die Form des Urteils nötig wäre. Die Einheit von allem, was existiert, kann also nicht Gegenstand einer Wissenschaft sein. Das ist die kritische Diagnose, die Hölderlin – und mit ihm die gesamte Frühromantik – dem Anspruch Fichtes und jeder Systemphilosophie ausstellt.
Ästhetische Konzeption von Religion Bereits die Position von Urtheil und Seyn deutet darauf hin, dass das absolute Sein jenseits des trennenden Urteils nicht-personal gedacht ist, also nicht etwa den monotheistischen Gott bezeichnet, der von der Welt unterschieden wäre. Hölderlin vertritt vielmehr einen umfassenden Monismus. Ende 1795 verwendet er dafür das spinozistische Schlagwort vom Ἓν καὶ Πᾶν, dem Ein-und-Alles. Zugleich verweist er nun in einem zweiten Schritt auf einen alternativen Weg, auf dem dieses „Seyn, im einzigen Sinne des Worts“ zu erfahren ist: „Es ist vorhanden – als Schönheit“ (MA 1,558). Weder die theoretische noch die praktische Philosophie können es erreichen. Vielmehr zeigt es sich in der ästhetischen Anschauung. Im ersten Band des Briefromans Hyperion (1797) wird dies immer wieder auf beeindruckende Weise zur Sprache gebracht. Religion wird in diesem Zusammenhang als Tochter der Schönheit benannt, die die Schönheit liebt, jedoch nicht direkt, sondern nur vermittelt in den Göttergestalten der griechischen Mythologie (vgl. MA 1,683 f.). Eine ausführlichere Theorie der Religion(en) ent-
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wickelt Hölderlin im Fragment philosophischer Briefe (ca. 1796/97). Darin grenzt er seine Alleinheitslehre in einem zentralen Punkt von derjenigen Spinozas ab, nämlich von dessen mechanistischem Weltbild. Demgegenüber betont er die individuelle Freiheit, die über Determinismus und Zwang ‚erhaben‘ ist. Sie stellt die anthropologische Verankerung der Rede von Gott dar. Fast schon postmodern formuliert Hölderlin: „Und jeder hätte demnach seinen eigenen Gott, in so ferne jeder seine eigene Sphäre hat, in der er wirkt und die er erfährt“ (MA 2,51). Erst das Zusammenwirken und -leiden freier Menschen führt dazu, dass sie „eine gemeinschaftliche Gottheit“ (MA 2,52) haben. Dies ist eine ‚poetische‘ Konzeption von Religion: Gott bzw. die Götter werden von den Menschen gemacht, allerdings mit gutem Grund, nämlich basierend auf den je eigenen Erfahrungen, die das Leben mit sich bringt. Das Faszinierende einer solchen Konzeption besteht darin, dass sie Menschen herausfordert, immer wieder die Aspekte ihres Lebens in Worte und Bilder zu fassen, über die sie in einem ur-teilenden, propositionalen, wissenschaftlichen Sinne keine Aussage zu treffen vermögen. Hölderlin will damit jedoch nicht zu einem weltabgewandten und wissenschaftsfeindlichen Raunen einladen. Ein solcher Ästhetizismus wäre eine Missdeutung seiner Kunst. In seinen poetologischen Reflexionen zeigt er vielmehr mit Nachdruck auf, dass das Fassen in Worte und Bilder nicht beliebig sein sollte, sondern eigenen Gesetzen und Rhythmen zu folgen hat. In seinen Arbeiten am zweiten Band des Hyperion und am Empedokles-Projekt (1799/1800) – übrigens im engen Austausch mit Hegel in Frankfurt –, drückt sich zugleich die Einsicht aus, dass die überwältigende Erfahrung von Schönheit nicht lange ohne die Erfahrung von Begrenzung bis hin zum tragischen Verlust zu haben ist. Auch das Schöne muss sterben, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne: Diotima, Empedokles, Susette. Diese Tragik bedeutet jedoch nicht die Negation von Freiheit, sondern ihre Affirmation, wenn auch in ihrer Endlichkeit. Anders ist Freiheit, anders ist Liebe nicht zu haben.
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‚Christologische‘ Lyrik ab 1800: Einheit der Welt, Vielheit der Götter, Einzigkeit Christi Im zweiten Schritt hat sich gezeigt, dass All-Einheit nicht harmonisch oder statisch zu verstehen ist, sondern ein dialektisch-geschichtliches Werden und Vergehen bezeichnet, in das wir als Individuen mit unseren Sehnsüchten und Schicksalen einbegriffen sind. Dies kommt auf ästhetische Weise zum Ausdruck, wobei Ästhetik hier beides meint: die überwältigende und zerbrechliche Erfahrung des Schönen ebenso wie die poetische Praxis des Dichtens. Ab 1800 zeichnet sich schließlich ein dritter Schritt in Hölderlins Denken ab. In einigen seiner späteren Gedichte, die oft in mehreren Fassungen überliefert sind, treten unter den Gestalten der griechischen Mythologie auch Figuren auf, die als Jesus Christus interpretiert werden können (so der ‚Versöhnende‘ und der ‚Fürst des Festes‘ in unterschiedlichen Fassungen der Friedensfeier; vgl. MA 1,356 und MA 1,364) bzw. explizit so benannt werden (beispielsweise in Der Einzige). Als Dichtung kommt diesen Texten selbstverständlich ein Eigenrecht zu. Zugleich regen sie zu religionsphilosophischen Reflexionen an. Hölderlin transponiert in ihnen ein Motiv der Aufklärung. Diese kritisierte die Fixierung des Christentums auf bestimmte Personen und Ereignisse, angefangen bei den ersten Jüngern, die nicht von Jesus lassen wollten und ihn deshalb zum Auferstandenen stilisierten. Hölderlin wendet dies in die innere Erfahrung, wenn er das lyrische Ich schuldbewusst ausrufen lässt: „zu sehr, O Christus! häng ich an dir“. Dem wird in einer späteren Strophe gegenübergestellt: „Christus aber bescheidet sich selbst“ (vgl. insgesamt Der Einzige, Dritte Fassung, MA 1,467–469). Nur aufgrund dieser Selbst-Zurücknahme kann er der Einzige in einem Sinne sein, der nicht exkludiert. Christus erscheint in Hölderlins später Lyrik als derjenige, der die vielen Götter und Menschen zum Lebensdank sammelt und so die einander oft widerstrebenden Tendenzen des je eigenen Lebens und die Lebensentwürfe der Vielen miteinander versöhnt. Systematisch betrachtet geht es also abermals um Einheit und Pluralität. Dieser dritte Schritt, den man mit Vorsicht ‚christologisch‘ nennen darf, ergibt sich bruchlos aus dem zweiten einer ästhetisch-poetischen Konzeption von Religion, welche ihrerseits auf dem ersten Schritt beruht: der Einsicht in das Ἓν καὶ Πᾶν, das jeder ur-teilenden Aussage vorausliegt.
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Philosophisch-theologische Rezeptionen Insbesondere Dieter Henrich (* 1927–2022) hat sich seit den 1960erJahren, ausgehend von der Interpretation von Urtheil und Seyn, um die Anerkennung Hölderlins als Philosophen verdient gemacht. Seine monumentale Studie Der Grund im Bewußtsein von 1992 begründet seine eigene reife Position über Selbstbewusstsein und AllEinheit (siehe den Artikel von Magnus Lerch in diesem Band). In seinen letzten Arbeiten unterstreicht Henrich nochmals, dass Hölderlins Option für eine Geborgenheit im all-einen Sein keinen weltfremden Ästhetizismus meint, sondern mit den tragischen Erfahrungen der Nichtigkeit vertraut ist. Nur unter dieser Bedingung kann sich ein ehrliches Ja zur eigenen Endlichkeit als berechtigt erweisen. Von theologischer Seite sind Henrichs Impulse auf markante Weise von Klaus Müller (* 1955) aufgenommen worden, der Hölderlin zwar selten nennt, ihm aber in einem ästhetischen Monismus auf bemerkenswerte Weise nahesteht. An einigen Stellen noch dogmatisch gebremst, ansonsten aber kongenial, spürt Romano Guardini (1885–1968) in seinem Hölderlin-Buch Weltbild und Frömmigkeit von 1939 der Frage nach, wie in nicht mehr christlichen Zeiten von Gott und Welt, von Christus und von anderen religiösen Wahrheiten und Bildern gesprochen werden kann. Dieses Buch ist (wie bereits Guardini selbst bei der Zweitauflage zu bedenken gab) nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Forschung. Es bahnt aber nach wie vor den Weg für eine existentiellkerygmatische Lesart der lyrischen Texte Hölderlins unter säkularpostsäkularen Bedingungen. Dafür stehen heute die sensiblen Analysen von Jakob Deibl (* 1978). Bärbel Frischmann, Der philosophische Beitrag der deutschen Frühromantik und Hölderlins, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart – Weimar 2005, 326–354. (Bester Überblick über die philosophische Frühromantik. Mehrere Abschnitte widmen sich dem Zusammenspiel von Philosophie, Poesie und Religion.)
Romano Guardini, Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit, Leipzig 1939. (Angesichts der Fortschritte der Hölderlin-Philologie veraltet. Dennoch ein inspirierender Klassiker aus christlicher Perspektive unter säkular-postsäkularen Bedingungen.)
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Dieter Henrich, Hölderlins philosophische Grundlehre. In der Begründung, in der Forschung, im Gedicht, in: Thomas Grundmann u. a. (Hg.), Anatomie der Subjektivität. Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl, Frankfurt a. M. 2005 (Stw 1735), 300–324. (Henrich hat Tausende von Seiten zu Hölderlin verfasst. Ein exemplarisches Kleinod ist dieser Artikel, in dem Hölderlins Ode ‚Lebenslauf‘ mit der christlichen Danksagungsfeier des Abendmahls in Verbindung gebracht wird.)
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Michael Knaupp, 3 Bde., München 1992/93. (Die Münchener Ausgabe (MA), aus der oben zitiert wurde, ist sowohl historischkritisch als auch handlich.)
Johann Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, revidiert und erweitert, Berlin 22020. (Erste Anlaufstelle zu Hölderlins Biografie und den unterschiedlichen Editionen seiner Texte. Vgl. die Beiträge von Violetta Waibel für den Bezug zu Fichte und von Michael Franz zu den theoretischen Schriften.)
Andreas Stähli, „…, unverwandt / Abgründe der Weisheit“. Religionsphilosophische Überlegungen zu Friedrich Hölderlin, Berlin 2016. (Guter Überblick über das Gesamtwerk Hölderlins mit religionsphilosophischem Schwerpunkt. Auf der systematischen Basis der Arbeiten von Henrich und Müller.)
Denker der Freiheit
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Christian Brouwer
Leben und Werk(e) Die ersten Stationen des philosophischen Lebens Friedrich Wilhelm Joseph Schellings waren geistesgeschichtliche Brennpunkte jener Zeit. 1790 begann er ein Studium der Evangelischen Theologie am Tübinger Stift, mit einer Sondergenehmigung, denn der 1775 im Württembergischen Leonberg geborene Pfarrerssohn war selbst für das an Begabten nicht arme Stift eigentlich zu jung. Er lebte dort mit Hegel und Hölderlin zusammen, so ergab sich eine Wohngemeinschaft, deren Potential schon durch die Nennung der Namen offensichtlich ist und die alsbald vom Geist der Französischen Revolution, der trotz aller Widerstände durch die ehrwürdigen Gemäuer geradewegs in die Köpfe der jungen Studenten wehte, ergriffen waren. Aus dieser Dreiergruppe entstand (mit nicht endgültig bestimmbarem Autor) das sog. Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus, ein kurzer pulsierender Text, der neben der Schönheit, der Poesie und einer neuen Mythologie mit der Freiheit das Lebensthema Schellings in den Mittelpunkt stellt. Er wird nicht ruhen, bis er diese philosophisch umfassend durchdrungen haben wird. Zunächst führte ihn sein Weg in das nächste geistesgeschichtliche Epizentrum, nach Jena, wohin er ab 1798 (mit Unterstützung Goethes) auf eine außerordentliche Professur berufen wurde, wo er für kurze Zeit Fichte begegnete, der aufgrund des Atheismusstreits aber bald die Stadt verlassen musste. Vor allem verkehrte er im Kreis der Frühromantiker um die Brüder Schlegel. Hier lernte er seine spätere Frau Caroline kennen, die zu jener Zeit noch mit August Wilhelm Schlegel verheiratet war.
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Über Stationen in Würzburg, München (wo er zwischen 1806 und 1820 im Staatsdienst keine akademische Tätigkeit innehatte), Erlangen und wiederum München wurde Schelling 1841 nach Berlin berufen. Der Antritt der Professur war eine akademische Sensation. Schelling hatte nach fulminantem Start seiner philosophischen Laufbahn seit 1809 kein Werk mehr veröffentlicht, war vielmehr in vielen Anläufen immer wieder daran gescheitert und hatte erst in den Erlanger und Münchener Vorlesungen wieder Lösungen für seine Fragen gefunden. Nun besetzte er, inzwischen hochbetagt, den vakanten Lehrstuhl Hegels. Kierkegaard, Bakunin und Engels gehörten zu seinen Hörern, allerdings wandten sich viele bald enttäuscht ab und Schelling beendete nach wenigen Jahren seine Lehrtätigkeit. 1855 starb er im Schweizerischen Bad Ragaz. Seinen Grabstein ziert die Inschrift „Dem ersten Denker Deutschlands“. Den Hintergrund von Schellings philosophischem Denken bildet der Deutsche Idealismus, die Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants in kritischer Weggemeinschaft mit Fichte und Hegel, wenngleich die unterschiedlichen Denkwege im Laufe der Zeit immer deutlicher hervortreten. Bedeutsam für Schelling sind allerdings auch eine Reihe weiterer Einflüsse auf sein Denken. Er bemüht sich um eine positive Rezeption Spinozas, einen idealistisch entwickelten Spinozismus bzw. einen spinozanisch fundierten Idealismus. Vermittelt durch Franz von Baader beschäftigt sich Schelling ab 1806 intensiv mit Bengel und Oetinger, vor allem aber mit den theosophischen Spekulationen Jakob Böhmes, die ihn fortan nicht mehr loslassen und sich in seinem Werk widerspiegeln. Wer Schelling liest, kann ihm bei der Entwicklung seines Systems zuschauen. Sein Werk ist zu keiner Zeit fertig; in immer wieder neuen Anläufen versucht er, an sein Ziel zu gelangen. Alle Versuche einer Periodisierung seines Schaffens haben zwar heuristischen Wert, scheitern aber in letzter Konsequenz daran, dass Schelling mit Neuakzentuierungen, anderen Schwerpunkten, aber nie ohne Anknüpfung immer wieder von vorne beginnt. Auch dort, wo der Neuansatz fundamental scheint, wie bei der sogenannten Spätphilosophie, ist das zuvor Entwickelte stets gegenwärtig. Ausgangspunkt von Schellings (wie auch Fichtes und Hegels) Bemühungen ist das Bestreben, Kants Philosophie zu überbieten, der, darin waren die Idealisten einig, zwar überzeugende Ergebnisse, aber kein letztgültiges, in sich gegründetes Prinzip aufweisen konn-
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te. Dieses Prinzip findet Schelling im Absoluten. Ist es zunächst 1795 in Vom Ich als Prinzip der Philosophie das absolute Ich in Unterscheidung vom Selbstbewusstsein, gewinnt er in den folgenden Jahren Einsicht in die Natur als produktive Kraft. Das Absolute ist nicht mehr Ich, sondern Geist. Wie das Selbstbewusstsein aus dem Absoluten entsteht, ist nun Gegenstand von Schellings Naturphilosophie. Allerdings kann das Absolute nur unter der Voraussetzung des Selbstbewusstseins erkannt werden; dies verhandelt die Transzendentalphilosophie. Schellings Systemversuche dieser Zeit vereinen die beiden Disziplinen. In einem weiteren Schritt wird in den sog. identitätsphilosophischen Schriften (Darstellung meines Systems der Philosophie [1801], Philosophie und Religion [1804], System der gesamten Philosophie [1804]) der Fokus erneut verschoben vom Selbstbewusstsein auf das Absolute. Den beiden Systemteilen wird ein weiterer vorangestellt, der das Absolute als völlige Identität von Subjektivität und Objektivität auffasst. Schelling war seinem Ziel, das Absolute in seinem Sein zu denken, damit deutlich näher gekommen – allerdings ließ sich nicht schlüssig klären, wie aus diesem Absoluten eine endliche Welt entsteht. Dieser Aufgabe widmete Schelling sich in den Schriften und Vorlesungen ab 1809. Dass er sich dazu dem Gottesgedanken zuwendet, macht gerade diese letzten Schaffensphasen für Theolog*innen besonders interessant.
Themen Schellings Philosophie deckt ein weites Themenspektrum ab. Gleichwohl ist es schwierig, einzelne Themen zu isolieren, zu sehr hängt für ihn alles mit allem zusammen. So ergeben sich auch die „theologischen“ Themen auseinander. Der entscheidende Schritt der Freiheitsschrift (1809) ist, dass Schelling das Sein des Absoluten fortan radikal als Willen denkt und daraus eine Willens-Ontologie entwirft. Dadurch wird das Absolute als persönlicher Gott gefasst – ein Begriff, den Schelling in seiner Frühphase noch dezidiert abgelehnt hatte. Mit dem Willen ist zugleich Dynamik und Leben in das Sein und so auch in den Gottesbegriff gebracht. Schelling unterscheidet in allem, was ist, somit auch in Gott, das Existierende und den Grund von Existenz, und fasst
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beide als Willen: diesen als Eigenwillen, jenen als Universalwillen. Sprechend sind seine Metaphern: der Grund ist Sehnsucht, das Dunkle, Schwere, während das Existierende als Licht, Verstand und Seiendes beschrieben wird. Schelling bemüht die Sprache Jakob Böhmes, zugleich aber intensiv biblische Sprache, insbesondere aus dem Johannesevangelium und den Paulusbriefen, für eine genealogische Erzählung. Auf ihrem Weg berührt er u. a. (1) die Personwerdung Gottes, (2) die Schöpfung, die als freie Tat Gottes zu zeigen ihm hier noch nicht endgültig gelingt, (3) die Theodizee hinsichtlich der Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen, (4) die Sündenlehre, (5) die eschatologische Überwindung des Bösen und die universale Verwirklichung der Liebe. Zur ontologischen Dynamisierung, die Schelling vollzieht, gehört, dass nicht Gott ‚fertig‘ am Anfang steht. Er wird Person, konstituiert so seine Freiheit und bleibt auf seine Natur (seinen Grund) dynamisch bezogen. Diese Freiheit impliziert allerdings eine „sittliche Notwendigkeit“ zur Schaffung der von Gott unterschiedenen Welt. Die Schöpfung vollzieht sich nun als ein stetiger Scheidungsprozess der beiden Prinzipien, die als Grund und Existierendes erst im Menschen (als Geist) zur völligen Unabhängigkeit voneinander gelangen. Hierin besteht die Möglichkeit des Bösen: der Mensch kann in einer freien, gleichwohl aus seinem eigenen Grund erregten Tat das richtige Verhältnis der Prinzipien umkehren und den Eigenwillen dem Universalwillen überordnen. So entstehen Gut und Böse als Möglichkeiten, allerdings nicht als moralische, sondern als ontologische Kategorien: nur der Mensch hat die Möglichkeit zum Bösen. Faktisch setzt der Mensch sich immer in dieser Weise an die Stelle Gottes, was Schelling mit der theologischen Tradition als Sünde bezeichnet. Die Umkehrung der göttlichen Ordnung als scheinbare Verwirklichung der Autonomie deutet Schelling als Sündenfall und kritisiert so zugleich den neuzeitlichen Autonomiegedanken. Die Rückführung des Bösen auf eine menschliche Tat, deren Möglichkeit, nicht aber Vollzug in Gott gründet, ist der Kern von Schellings Theodizee-Versuch. Dass dieser bei aller Stärke, die darin besteht, dass er das Böse als Böses ernstnimmt und eine Hermeneutik des Bösen erlaubt, durchaus problematisch ist, zeigt sich u. a. daran, dass in einem nächsten Schritt die faktische Wirklichkeit des Bösen in teleologischen Dienst zur endzeitlichen Durchsetzung der Liebe Gottes als alleinige Wirklichkeit genommen wird. Damit Gott seine
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Liebe erweisen kann, muss diese sich als Überwindung des Bösen in der Welt als ihr Gegenteil offenbaren. Zwar will Schelling, indem er das Wesen der menschlichen Freiheit untersucht, zugleich die Freiheit Gottes philosophisch begründen. Das Fazit der Freiheitsphilosophie ist jedoch, dass in ihr Freiheit nicht radikal genug gedacht ist; das Hervorgehen der Schöpfung aus Gott scheint letztlich doch einer Notwendigkeit zu unterliegen. Erst mit dem Neuansatz der sog. Spätphilosophie glaubt Schelling, die Freiheit Gottes, also des Absoluten, und mit ihr auch Freiheit universal gezeigt zu haben. Der Neuansatz liegt in der Unterscheidung einer ‚positiven Philosophie‘ von einer ‚negativen Philosophie‘. Durch diese Unterscheidung wird akzeptiert, dass der Vernunft das Vordringen zum Absoluten in reinrationaler Methode letztlich nicht möglich ist; das Absolute bleibt dem Wissen das Unvordenkliche. Gleichwohl muss der Weg des reinen Denkens als negative Philosophie bis an seine Grenze beschritten werden. Diese Grenze fungiert nun als ein Ruf: Es setzt eine Kehre des Denkens ein, ein Perspektivwechsel in die positive Philosophie als Tat menschlicher Freiheit. Ziel der Spätphilosophie ist die philosophische Religion. Nun wird nicht mehr reinrational bewiesen, sondern Gott wird erwiesen, indem unter dem Vorbehalt der Existenz des Absoluten das, was in der negativen Philosophie als letztes rational zu beweisen war – für Schelling: die Potenzen – auf das Absolute angewandt wird. Gott verfügt über die Potenzen als seine eigenen Möglichkeiten. Die positive Philosophie ist kein Schritt in das Irrationale. Alles, was in ihr entfaltet wird, ist für das Denken nachvollziehbar. Weil aber an ihrem Anfang kein logisches Prinzip steht, ist sie Philosophie der Offenbarung. In ihrem Kern ist sie Trinitätslehre. Die Freiheit eines persönlichen Gottes wird erwiesen, der in sich die drei Potenzen als Seinsmomente enthält, von denen sein Wesen allerdings unterschieden ist. Schelling zeigt, dass Gott sowohl frei ist von der Notwendigkeit, die Welt zu schaffen, als auch frei, sie um des Menschen und seiner Freiheit willen zu schaffen. Der Schlüssel zum Verständnis der göttlichen Freiheit ist das Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität. Gottes Freiheit gegenüber der Welt zeigt sich in der immanenten Trinitätslehre, die die Lehre vom Vater übernimmt. Gott trägt als wirklicher Vater in sich die Möglichkeit des Sohnes im möglichen Geist. So ist er in sich differenziert und zugleich frei, sich auch
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in die Welt hinein zu differenzieren (ökonomische Trinität). Gott gibt bei der Schaffung der Welt seine Natur frei, offenbart sich als Sohn und Geist und zeigt sich so als Liebe. Freiheitstheoretisch entscheidend ist sodann die christologische Ausführung. In ihr kommen göttliche Freiheit und menschliche Freiheit zusammen. Im Sohn tritt die menschliche Freiheit in unser Bewusstsein. Jesus von Nazareth wird als das Urbild menschlicher Freiheit präsentiert. In ihm könnte sich das menschliche Bewusstsein in völliger Unabhängigkeit vollziehen. Dass Jesus genau dies nicht tut, zeigt Schelling an der Versuchungserzählung: Jesus bezieht sich selbst auf seine Herkunft (aus dem Vater) zurück, bindet seine Freiheit in die universale Freiheit Gottes ein und verwirklicht kein partikulares Freiheitsbegehren. Faktisch verhält es sich beim Menschen anders als beim jesuanischen Urbild – er strebt nach der (sündhaften) Unabhängigkeit. Die Anknüpfung an die Freiheitsphilosophie von 1809 ist offensichtlich, deren Aporie Schelling mit der Spätphilosophie zu überwinden versucht, indem er Gottes Freiheit von der und zur Welt überzeugender erweist. Somit löst er zum Ende seines Schaffens den Anspruch ein, Freiheit philosophisch durchdrungen zu haben. Dass dies seiner Auffassung nach nur möglich ist durch den Rückgriff auf einen lebendigen, persönlichen, dreieinigen Gott macht ihn, auch wenn sein Schreiben oft schwer zu verstehen ist, theologisch ebenso lesenswert wie die damit zusammenhängenden Themen. Christian Brouwer, Schellings Freiheitsschrift. Studien zu ihrer Interpretation und ihrer Bedeutung für die theologische Diskussion, Tübingen 2011 (RPT 59). (Eine Interpretation von Schellings Freiheitsschrift in dezidiert theologischer Perspektive, vor dem Hintergrund u. a. klassischer (Un-)Freiheitstraktate.)
Christian Danz, Die philosophische Christologie F. W. J. Schellings, Stuttgart-Bad Canstatt 1996 (Schellingiana 9). (Die Studie stellt nicht nur die Christologie Schellings und ihre Aktualität dar, sondern zeigt über die christologischen Gedanken auch den inneren Zusammenhang des Werkes über mehrere Jahrzehnte hin auf.)
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Friedrich Hermanni, Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie, Wien 1994. (Hermanni ordnet Schellings Theodizeeversuch freiheits- und sündenfalltheoretisch in die Theodizeedebatte ein und erläutert sowohl ihr theoretisches Scheitern als auch ihre Vorzüge gegenüber anderen Versuchen.)
Malte Dominik Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008 (RPT 31). (Eine detaillierte Darstellung der Spätphilosophie Schellings, die sie als freiheitstheoretisch durchgeführte trinitarische Theorie des Absoluten interpretiert.)
Xavier Tilliette, Schelling. Biographie, aus dem Französischen von Susanne Schaper, Stuttgart 22004. (Brillante Biografie eines der besten Schelling-Kenner des ��. Jahrhunderts. In die Lebensbeschreibung fließen auch zahlreiche Erkenntnisse aus Tilliettes Gesamtdarstellung [Schelling. Une philosophie en devenir, � Bde., Paris ����] ein.)
Franz Josef Wetz, Friedrich W. J. Schelling zur Einführung, Hamburg 2 2023. (Gut lesbarer Überblick über Schellings gesamtes philosophisches Werk.)
Religionskritik im Zeichen der Entfremdung des Menschen
Ludwig Feuerbach und Karl Marx Gregor Maria Hoff
Einführung Es sind zwei abtrünnige Hegelianer, die den religionskritischen Diskurs des 19. Jahrhunderts maßgeblich bestimmen. Beide greifen Hegels Dialektik auf, beide arbeiten sich an ihrer idealistischen Ausführung ab, beide machen sie aber auch im Zuge einer Umkehrung der erkenntnistheoretischen Begründungsverhältnisse produktiv. So entschieden Ludwig Feuerbach (1804–1872) die hegelsche Koordination von Endlichem und Unendlichem anthropologisch umstellt, so konsequent geht Karl Marx (1818–1883) über den materialistischen Impuls Feuerbachs hinaus. Wo Feuerbach die sinnliche Wirklichkeit des Menschen gegen eine idealistische Bewusstseinsphilosophie zur Geltung bringt und aus der Kritik der reinen eine Kritik der unreinen Vernunft (so der ursprünglich vorgesehene Titel des Wesen des Christentums) macht, besteht Marx darauf, dass die konkreten Produktions- und Lebensverhältnisse alle Erkenntnis bedingen. Das gilt auch für die Religion und ihre Kritik. Für sie setzt Marx die Geltung des (erst nach Feuerbach so benannten) projektionstheoretischen Arguments voraus, überschreitet aber den subjekttheoretischen Rahmen, in dem Feuerbach es entwickelt hat. Wo dieser vom Wesen des Menschen spricht, argumentiert Marx als historischer Materialist. Beide sind überzeugt davon, dass Religion die Wirklichkeitsverhältnisse verkehrt und eine grundlegende Entfremdung des Menschen bedingt bzw. artikuliert. Feuerbach entwickelt seine Kritik allerdings im Rahmen einer Anthropologie, die Marx aus ihren abstrakten Allgemeinbestimmungen löst, um sie ökonomisch zu erklären. Es handelt sich um einen erkenntnistheoretischen Unterschied ums Ganze. Er setzt sich nicht nur in den spezifisch religionskritischen Diskursen von Feuerbach und Marx durch, sondern erweist die Kritik der Religion als zentralen Raum ihrer philosophischen Theoriebildung. Die Richtung, in die sich die moderne Theologie entwickelt hat, wurde
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davon entscheidend bestimmt: Sie versuchte, sowohl in offenbarungstheologischen (Karl Barth) wie transzendentaltheologischen (Karl Rahner) Ansätzen, den Projektionsverdacht zu unterlaufen.
Ludwig Feuerbach Die zentrale Bedeutung der Religionskritik liegt für Feuerbach schon mit den Titeln auf der Hand, die den Zuschnitt seines Werks konturieren: von Über Philosophie und Christentum und den Vorlesungen über das Wesen der Religion bis zur Theogonie, nach den Quellen des klassischen hebräischen und christlichen Altertums. Seine umfangreichen Briefwechsel atmen durchgehend religionskritischen Geist; sein Œuvre steht förmlich im Bann des Religionsthemas, gerade wenn er es grundständig säkularisiert und in eine ins Humane (und Kosmische) gewendete Menschheitsreligion der Liebe überführt. Feuerbachs religionskritischer Weg beginnt mit dem (anonym veröffentlichten) Text Gedanken über Tod und Unendlichkeit aus dem Jahr 1830, in dem er bereits ein Grundmotiv anklingen lässt: die Lebensfeindlichkeit einer Religion des Unendlichen, die das konkrete, kontingente Leben in Haft nimmt und letztlich aufbraucht. In der ‚Schlußanwendung‘ seines Hauptwerks Das Wesen des Christentums macht er diesen Gedanken scharf: Der Mensch, der um Gottes willen existiert, lässt sich von der Religion dieses Gottes um sein Bestes bringen – um seine vernunftautonome Freiheit und die Optionen selbstbestimmter Liebe. Es ist die illusionäre Anlage des religiösen Weltkontakts, die den Menschen von sich und seinesgleichen entfremdet. Das gilt erkenntnistheoretisch und -psychologisch und betrifft die theologische Auffassung vom Menschen, die sein Bild zum Abbild Gottes umformt und ihn enteignet. Am Mechanismus dieses fehlgeschalteten Kontakts macht Feuerbach seine Religionskritik fest. Er analysiert die Form dieser Übertragung, indem er die Verhältnisse freilegt, die sie ermöglichen. Er erkennt sie in den spezifisch anthropologischen Ein-
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schlägen der Religion, die es erlauben, ja erzwingen, den Menschen nicht nur als ihr Thema und ihre Referenz, sondern als ihr Subjekt und ihren Autor zu begreifen. Damit ist das Theorieprogramm Feuerbachs gefasst – die Umstellung aller Theologie auf Anthropologie. Er argumentiert sie im Zuschnitt verschiedener Ansatzpunkte durch, die sich ineinander verfugen. Von jedem dieser Punkte aus erreicht man das Ganze seiner Theorie: sprachphilosophisch, erkenntnistheoretisch und -psychologisch, religionsgeschichtlich und -theoretisch, immer wieder vor allem anthropologisch. In weiten Teilen erscheint dieser Ansatz epistemologisch unterbestimmt, weil Feuerbach von der unmittelbaren Evidenz seiner projektionstheoretischen Hypothese überzeugt ist. Darüber hinaus lässt sich ein weiterer Grund aus der pragmatischen Disposition vor allem des ‚Wesens des Christentums‘ filtern. Feuerbach strengt hier einen förmlichen Religionsprozess an, in dem der Autor als klagende Partei auftritt. Die diskursive Darstellungsform ist dabei von Belang, genauer: ihre rhetorische Suggestivität. Die Personalpronomina – das identifizierende ‚Ich‘, das verallgemeinernde ‚Du‘ –belegen eine appellative Leserlenkung. Das wiederum hat eine mehr als nur taktische Funktion. Wenn der Mensch in Gott als Person aufgeht, stellt Feuerbach ihn im religionskritischen Vorgang seiner Selbstaufklärung wieder her. Genauer: Er setzt ihn in die aktiven erkenntnispraktischen Rechte ein, die ihm zukommen. Dieser Diskurs emanzipiert die wahren Machtverhältnisse in Sachen Gott und Mensch. Feuerbach gibt ihm eine inkarnatorische Form, und zwar nicht nur in der Analyse dieses zentralen christlichen Topos’, sondern in der Inversion der zugrundeliegenden körperlichen Autorschaft. So wechselt er im Wesen des Christentums dekonstruktiv zwischen theologischen Perspektiven und einer human anschlussfähigen Auslegung von Taufe und Eucharistie, von Trinität und Leiden Gottes, um am Umschlagpunkt theologischer und atheologischer Schreibform die Position des menschlichen Erkenntnisakteurs auszubilden. Feuerbach öffnet dem ‚Du‘ die Augen und bezieht es ein. Sein ‚Ich‘ exekutiert ein Religionsurteil, das phänomenologisch begründet wird. Man muss sehen, wie sich Projektion ereignet. Wer so sieht, bestätigt im Vorgang der perspektivischen Schärfung und Auflösung, mit der Feuerbachs Text arbeitet, dessen Wahrheit. Die Redundanzen, die das Wesen des Christentums durchziehen, lassen sich dann als
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rhetorische Praxis begreifen, als konsequente Arbeit an einer perspektivischen Einstellung, die es braucht, um von verschiedenen Seiten das Phänomen Religion in seinen menschlichen Projektionsbezügen zu erfassen. Das aber ist erforderlich, um reflexiv einzuholen, was sich für Feuerbach – exemplarisch in der Vorrede zur zweiten Auflage des Wesens des Christentums – zeitgeschichtlich vollzieht: der Rückzug der (christlichen) Religion aus intellektuellen Sphären und lebensweltlichen Zusammenhängen. Feuerbachs Religionskritik ist als ein solcher Prozess angelegt; damit korrespondiert sein sprachphilosophischer Ansatz. Der Term ‚Gott‘ bezeichnet eine unendliche Größe, die vom Endlichen her sprachlich bestimmt wird. Um von ‚Gott‘ sprechen zu können, bedarf es konkreter Prädikate, ohne die sich ‚Gott‘ nicht von anderen Zeichen unterscheiden ließe oder ohne die er in seiner Unendlichkeit förmlich zu Nichts würde. Radikale negative Theologie ist nach Feuerbach ein Atheismus, der sich noch nicht über sich aufgeklärt hat. Jede positive Theologie aber überträgt endliche Prädikate auf ein unendliches Wesen, das sich genau darin als lediglich vom Endlichen abgezogen erweist. Erkenntnistheoretisch bedeutet dies, dass ‚Gott‘ nur für den Menschen und nicht ‚an sich‘ erscheint, damit aber auch erkenntnispsychologisch aus dem Verfahren der Übertragung heraus als eine abgeleitete Größe in Erscheinung tritt. Dass sie als die eigentliche Wirklichkeit, dass ‚Gott‘ als Schöpfer der Welt codiert wird, trägt eben diese projektiven Begründungsverhältnisse in einen ‚Gott‘ ein, der menschliche Kontingenz einerseits aufnimmt (etwa im christlichen Gedanken des Todes Gottes), sie andererseits überwindet, weil Endlichkeit von Unendlichkeit unterfasst wird. Hier spielen Wunsch- und Angstverhältnisse eine konstitutive Rolle. Sie lassen Rückschlüsse darauf zu, wie die Vorstellung von Gott und Göttern, von Himmel und Hölle entstanden. Der begrenzte Mensch nimmt sich die Auszeit von seiner Kontingenz in der Imagination einer Extrazeit nach dem Lebensende, die aber ganz nach den Proportionen seiner endlichen Welt konfiguriert wird. Die dafür aufkommenden Bilder einer Glückseligkeit nehmen die Störfälle materiell-geschichtlicher Existenz aus einer Wirklichkeit heraus, die genau deshalb als illusionäre Übertragung sichtbar wird, weil sie aus einem bloßen Superlativ besteht. Die überhöhte Wirklichkeit kann nur in der Form einer Negation, also nie real erreicht werden: unendlich, unbegrenzt, unbeschränkt, unsterblich.
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Der sprachliche Ausgangspunkt ist damit als menschliche Wirklichkeit präpariert. In der theologischen Übertragung steht der Mensch sich selbst gegenüber, aber nicht mehr als Subjekt, sondern objektiviert: „Der Mensch – dies ist das Geheimnis der Religion – vergegenständlicht sein Wesen und macht dann wieder sich zum Gegenstand dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt, eine Person verwandelten Wesens; er denkt sich, ist sich Gegenstand, aber als Gegenstand eines Gegenstands, eines anderen Wesens.“ (Feuerbach, Wesen, 124) Feuerbach bringt damit eine Entfremdung des Menschen erkenntnistheoretisch auf den Begriff, die sich existentiell auswirkt. Religion entsteht aus einem Zwiespalt, der den Menschen bestimmt – er ist aufgespannt zwischen den Polen des Endlichen und Unendlichen. Aber das Unendliche ist als Gedanke und Vorstellung ein menschliches Produkt. Indem der Mensch sein Wesen ins Unendliche versetzt, dem keine andere Wirklichkeit als eben die einer sprachlogischen Verneinung zukommt, verfehlt er sich. Das Wesen des Menschen ist für Feuerbach seine Ausrichtung auf Liebe, die aber in der Religion zur Illusion verkommt, während sie auf ihre geschichtliche Verwirklichung wartet.
Karl Marx Es ist dieser Entfremdungsprozess, der die Religionskritik von Marx bestimmt, aber auch die gravierenden erkenntnistheoretischen Umstellungen markiert, mit denen er seine Kritik an Feuerbach aufsetzt. Die Entfremdung des Menschen vollzieht sich mit der Entwicklung arbeitsteiliger Gesellschaften. Die Produkte der Arbeit lösen sich vom Vorgang der Produktion ab. Sie nehmen als Waren eine eigene Existenzform an, indem sie getauscht werden und einen abstrakten Wert gewinnen, damit aber in ihrer Materialität etwas förmlich Übersinnliches annehmen. In der Ware wird Arbeit gegenständlich: Sie lässt sich unabhängig von ihrer Anfertigung auf einem Markt handeln, auf dem der Mensch selbst in seiner Arbeitskraft zu einem Gegenstand ökonomischer Rationalisierung wird. Diese Entfremdung vollzieht sich als Trennung des Menschen vom Arbeitsprodukt und betrifft seine Lebensform, die von entfremdeter Arbeit bestimmt ist. Sie wird gesellschaftlich wirksam, wo Lohnarbeit im Mehrwert so verrechnet wird, dass das erwirtschaftete Kapital einseitig von den
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Besitzern der Produktionsstätten akkumuliert wird und das Proletariat von den erwirtschafteten Lebensbedingungen nur anteilig, aber nicht konstitutiv profitiert. Eine Konsequenz zeigt sich in der Verelendung der ausgebeuteten Industriearbeiterschaft des 19. Jahrhunderts, die in der Arbeits- und Lebensform wie im ökonomischen Profit von der eigenen Produktivität abgeschnitten wird. In diesem Mechanismus setzt Marx die Produktion religiöser Vorstellungen an. In seinem Hauptwerk Das Kapital markiert er dies mit dem ‚Fetischcharakter der Ware‘ : Was produziert wurde, nimmt eine eigenständige Wirklichkeitsform an, die im Geldtransfer zunehmend abstrakter wird und in den Finanzströmen des Kapitals eine eigene Sphäre einrichtet. Der warenkapitalistische Prozess ist mit dem religionsökonomischen verbunden. „Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten.“ (Marx, Kapital, 86) Die Kritik der Religion bestimmt Marx damit nicht nur als Bearbeitung entfremdeten Lebens, als ihre projektive Überschreitung, sondern begreift sie als deren konsequenten Ausdruck. Mit anderen Worten: Religion ist ein grundlegendes Moment arbeitsteiliger Ökonomien und ihrer sozial-politischen Ordnungen, weil sie mit dem Aufbau einer auf Entfremdungsprozessen basierenden Gesellschaft als deren Darstellung, Motor und zugleich indirekt kritische Auflösung auftritt. Als Überschreitungsform konkreten menschlichen Elends artikuliert Religion den Protest gegen eine Welt der Entfremdung und Ausbeutung. Aber dieser Protest ist transzendent organisiert, er bleibt idealistisch verkürzt, weil er sich im Himmel statt auf der Erde festmacht und in förmlichen Hirngespinsten verliert. Marx macht hier von der Feuerbach’schen Projektionstheorie Gebrauch. Er setzt sie – undiskutiert – als durchschlagend voraus, während er ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen radikal umstellt. Für Marx bleibt Feuerbach noch in seiner Betonung sinn-
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licher Erkenntnis an Hegels Idealismus gebunden, weil er sein religionskritisches Argument grundständig bewusstseinsphilosophisch aufsetzt. Anders Marx: „Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.“ (Marx, Kritik, 378) Religion reagiert darauf mit einer Verdopplung der Welt und exekutiert Entfremdung: Ihr Weg führt in ein Jenseits, das zwar jetzt schon Trost bietet, aber doch nur als eine Vorstellung. Sie muss schon der Form nach deshalb vom Menschen gemacht sein, weil sie im Modus der Überschreitung die Ökonomien gegebenen Elends bestätigt. Insofern ist sie Opium des Volks: halluzinatorisch. Die Religionsdroge macht abhängig, sie lähmt den Willen und hebt Selbstbestimmung auf. Ihre Glücksversprechen sind illusorisch und nicht nachhaltig, weil sie an der gegebenen Situation nichts verändern. Deswegen ist Religion zu überwinden, wobei sie mit der Entwicklung einer kommunistischen Gesellschaft ohnehin verschwindet, nachdem sich die Entfremdungsverhältnisse und Klassengegensätze aufgelöst haben. Das entspricht einem Gesetz, das Marx als dialektischen und historischen Materialismus fasst und einen einerseits naturgeschichtlichen, andererseits politisch revolutionären Aspekt beinhaltet. Die entsprechende Spannung zeigt sich im Marxismus, wo er sich staatlich organisierte: Während sich Religion eigentlich aufgrund des gesellschaftlichen Fortschritts in einer klassenlosen Gesellschaft hätte auflösen müsste, wurden und werden Religionen in kommunistischen Staaten zumindest in ihrer Entfaltung behindert, meistens unterdrückt und systematisch verfolgt. Dieser innere Widerspruch entspricht dem epistemologischen Ort der materialistischen Theoriebildung bei Marx. Einerseits begreift er seinen Materialismus als Methode, andererseits umschreibt er damit eine historische Gesetzmäßigkeit im Weltbildformat. Das ist dem Entwicklungszug des Marx’schen Werks geschuldet, das in Gelegenheitsschriften seine spezifische Form als konkreter Eingriff gefunden hat und nur im
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ersten Band des Kapitals auf eine – von Marx nicht mehr abgeschlossen veröffentlichte – Systematik zuhielt. Diese Spannung ergibt sich aber wohl auch aus der bewussten Absage an eine Erste Philosophie, von der sich Marx nachidealistisch lösen wollte, ohne die ‚ontologische‘ Aufladung seiner handlungstheoretischen Wende in der Erkenntnistheorie zu thematisieren. Das schlägt wiederum auf seinen religionskritischen Diskurs zurück, den er ausdrücklich nicht in Auseinandersetzung mit transzendentalphilosophischen oder existenzpragmatischen Ansätzen führte, die in einer Linie von Augustinus bis zu Kant und anders bei Schleiermacher vorlagen. Die Religionskritik von Marx weist – im Unterschied zu Feuerbach – ein markantes Desinteresse an der interpretativen Leistungsfähigkeit religiöser Überzeugungen auf; mithin auch einen Mangel an profundem Wissen. Über ihre Traditionen geht er so rasch hinweg, wie er sich unkritisch auf antisemitische Klischees einlässt, die ihn – in eine jüdische Familie geboren – zwar nicht zum Rassisten machen, aber einen entdifferenzierten und oft entstellenden Blick auf Religionskulturen verraten.
Religionskritik in der Kritik Der projektionskritische Gedanke verliert damit nicht an Bedeutung. Er justiert theologische Sprachformen und stellt sie auf kritische Proben, wo sie etwa die christologische Grundregel einer ungetrennten und unvermischten Koordination menschlicher und göttlicher Wirklichkeit anthropomorph verletzen. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen projektiven Anlage aller Erkenntnis und Kommunikation, ohne die Empathie und zwischenmenschliches Verständnis kaum möglich wäre. Über die Wirklichkeit dessen, was in projektionsimprägnierten Vorstellungen modelliert wird, lässt sich ohnehin nur auf der Basis bereits in Anspruch genommener ontologischer Annahmen entscheiden – weltbildbezogen und -immanent. Dass dafür wiederum theologisch kritische Verfahren in Anschlag gebracht werden, belegen die biblischen Traditionen des Bilderverbots und ihre philosophischen Ansprüche ebenso wie die theoretischen Anforderungen einer Theologisierung des Christentums, das sich auf die Einhaltung basaler rationalitätstheoretischer Standards einlässt, ja sie selbst mitentwickelt hat (Scholastik). Nicht
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zuletzt eine Frage steht im Zuge einer produktiven religionskritischen Auseinandersetzung mit Feuerbach und Marx im Raum: inwiefern religiöse Überzeugungen vornehmlich gegebene Erwartungen bedienen, auf den Erhalt des Status quo setzen und sich nach der Ordnung der eigenen Wunschverhältnisse ausrichten. Prophetische Kritik, wie sie die Bibel durchzieht, fügt sich in dieses Religionsbild ebenso wenig ein wie die gerechtigkeitstheoretisch gehaltvolle Rede von einem Gericht Gottes. Es vermag eigene Hoffnungspotentiale freizusetzen, wie sie die von Marx inspirierte Kritische Theorie in ihren unterschiedlichen Verlaufsformen (Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Ernst Bloch) in Anspruch nahm – bis hin zu eigenen messianischen Inversionen, die bis in die Gegenwart an den Übergängen von Religionskritik und Theologie von Interesse bleiben (Jacques Derrida, Giorgio Agamben). Gregor Maria Hoff, Religionskritik heute, Kevelaer 22010. (Knappe Einführung in Geschichte und Gegenwart religionskritischer Positionen.)
Joachim Negel, Feuerbach weiterdenken. Studien zum religionskritischen Projektionsargument, Berlin 2014. (Eine aktuelle fundamentaltheologische Studie zum religionskritischen Ansatz Feuerbachs, die das Argument philosophiehistorisch präzise einordnet und genealogisch präpariert, den systematischen Ort des Gedankens bei Feuerbach bestimmt und eine gründliche kritische Auseinandersetzung führt.)
Michael Weinrich, Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 2011. (Eine solide Präsentation religionskritischer Diskurse – gut als Einführung zu lesen.)
Hans Zirker, Religionskritik, Düsseldorf 1982. (Eine profunde Darstellung der Religionskritik u. a. von Feuerbach und Marx, die sich zur ersten Orientierung hervorragend eignet.)
Das Christentum als Denkprojekt
Søren Kierkegaard Heiko Schulz
Zur Biografie und zur theologischen Relevanz Kierkegaards Unter dem Eindruck der pietistisch-schwermütigen Religiosität seines Vaters und in Verarbeitung einer Reihe von lebensgeschichtlichen Schlüsselereignissen verfasst Søren Kierkegaard (1813–1855) zwischen 1843 und 1855 in rascher Folge neben einem umfangreichen Corpus so genannter erbaulicher bzw. christlicher Reden sowie (ab 1854) neun Nummern einer von ihm allein verantworteten, kirchenkritisch-polemischen Zeitschrift (Der Augenblick; Nr. 10 postum) eine Vielzahl von pseudonymen Schriften (Entweder/Oder, Bd. 1–2; Furcht und Zittern; Die Wiederholung; Der Begriff Angst; Philosophische Brocken; Stadien auf des Lebens Weg; Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift; Die Krankheit zum Tode; Einübung im Christentum). Um Eigenart und Bedeutung dieses umfangreichen Werkes, das in weniger als 20 Jahren zu Papier gebracht wurde, richtig einschätzen zu können, muss man sich zunächst vor Augen führen, dass Kierkegaard laut eigener Sprachregelung als religiöser Schriftsteller, d. h. weder als Philosoph noch als Theologe gelesen werden wollte bzw. will. Er schreibt zwar für einen (nicht ausschließlich, aber überwiegend) christlich geprägten Adressatenkreis, doch tut er dies weder im Verkündigungsauftrag des ordinierten Pfarrers noch mit dem weitgehend apologetischen Selbstbewusstsein des damaligen akademischen Theologen oder Philosophen. Im Gegenteil: Die Realisierung seines zentralen Anliegens, notwendige Voraussetzungen zu schaffen für die indivi-
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duelle Wiederaneignung des christlichen Glaubens in seiner ursprünglichen, neutestamentlichen Idealität, werden aus seiner Sicht durch Kirche und philosophisch-theologische Wissenschaft systematisch unterminiert. Kierkegaard entwirft im Gegenzug theoretische Konzeptionen dessen, was er einerseits und zwecks Grundlegung der kirchlichen Predigt ‚christliche Redekunst‘, andererseits und qua Alternative zur zeitgenössischen Theologie bzw. (christlichen) Philosophie ‚Existenzwissenschaft‘ nennt, wobei die Prinzipien beider Grundlegungsdisziplinen in den erbaulichen und pseudonymen Schriften praktisch umgesetzt werden. Eben hier liegt aber auch der besondere Reiz zumal für eine theologische Auseinandersetzung mit den Texten. Gewiss bieten diese schon auf der reinen Sachebene durchweg eigenständige und intellektuell brillante Vorschläge zur Reformulierung dogmatisch-traditioneller Theoriebestände (z. B. zu Eigenart und Voraussetzungen der Erbsünde oder zu den offenbarungstheologischen Implikationen des Inkarnationsgedankens). Darüber hinaus aber und im Unterschied zu den meisten (nicht nur) zeitgenössischen philosophischen Anregern theologischen Denkens sind Kierkegaards Texte Ausdruck und Instrument eines Kommunikationsprozesses, der zugleich die eigenen (sach-, adressaten-, situations- und formbezogenen) Mitteilungsbedingungen reflektiert und die Resultate dieser Reflexion – z. B. durch Einschaltung von Pseudonymen, wechselnde Stilformen, ironische Brechungen des Mitgeteilten etc. – konsequent in den Mitteilungsvollzug selbst überführt.
Kierkegaards Leitgedanke und seine systematische Entfaltung Kierkegaards literarisches Projekt, das sein quellenhistorisches Profil vor allem aus der Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, dem Luthertum des frühen 19. Jahrhunderts, der Romantik sowie der hegelianischen bzw. hegelianisierenden Spekulation gewinnt, zielt im Kern darauf, die christliche Lebensanschauung in die ‚bestehende Christenheit‘, als eine Form von Heidentum nämlich, die sich zu Unrecht für christlich hält, erneut einzuführen. Kierkegaard verteidigt den christlichen Glauben daher nicht wie Friedrich Schleiermacher gegen die Gebildeten unter seinen Verächtern, sondern eher gegen die unter seinen Verteidigern. Analog zu Karl
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Søren Kierkegaard
Marx und Ludwig Feuerbach insistiert er darauf, dass die Philosophie Hegels und seiner rechtshegelianischen Adepten einer als scheinhaft erkannten Versöhnung von Denken und Glauben bzw. von Christentum und Vernunft zum Sieg verholfen hat; eben damit aber sei im ‚Zeitalter der Reflexion‘ die genuin menschliche Lebenswirklichkeit – und d. h. für ihn primär: die ethisch-religiöse Wirklichkeit, im Unterschied zur bloß gesellschaftlich-ökonomischen (Marx) oder natürlich-sinnlichen (Feuerbach) – ebenso unterschlagen bzw. vergessen worden wie die Idealität des christlichen Glaubens in dessen neutestamentlich-ursprünglicher und d. h. zugleich normativ verbindlichen Gestalt. Dementsprechend bringen Kierkegaards Schriften, mit jeweils eigenen, sowohl inhaltlich wie formal bzw. mitteilungstheoretisch variierenden Akzenten, vier Leitthesen zur Geltung: (1) Jeder Mensch bedarf einer Lebensanschauung, die es ihm ermöglicht, authentisch zu existieren, d. h. die ‚unbedingte Gültigkeit‘ der eigenen, formal als unendliche und nicht-delegierbare Aufgabe beschreibbaren Existenz anzuerkennen und zu verwirklichen. (2) Das Christentum als eine im ursprünglichen und idealen, d. h. neutestamentlichen Sinne existenzprägende Lebensanschauung ist im hegelianischen bzw. posthegelianischen ‚Zeitalter der Reflexion‘ faktisch nicht mehr vorhanden. (3) Authentisches Existieren ist auch unter den Bedingungen des Reflexionszeitalters möglich, freilich nur dann und in dem Maße, wie unter denselben Bedingungen die Wiederaneignung (der Lebensanschauung) des Christentums im neutestamentlichen Sinne möglich ist. (4) Christentum und christlicher Glaube sind, zumindest post Christum natum, jederzeit, d. h. auch und unter anderem unter den Bedingungen des Reflexionszeitalters möglich. Kierkegaards gesamtes literarisches Projekt kann dann in Entsprechung zu diesen vier Thesen als Entfaltung eines in sich gestaffelten anthropologisch-theologischen Programms gelesen werden: Das menschliche Dasein schließt als integrales Moment erstens die Frage nach seiner eigenen unbedingten Berechtigung bzw. nach dessen Gültigkeitsbedingungen von sich her und unabweisbar ein. In der Art und Weise, diese Frage zu stellen, verbirgt sich zweitens faktisch immer schon der Anspruch auf eine bestimmte und in ihrer Recht.
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mäßigkeit bis auf weiteres ihrerseits fragwürdige Art und Weise ihrer Beantwortung. Dieser Anspruch kann drittens mit Recht nur im Medium des Glaubens erhoben und auch nur so erfüllt werden. Die reale Möglichkeit des Glaubens und mit ihr die der Erfüllung jenes Anspruchs basiert schließlich und viertens auf der realen Möglichkeit paradoxer Sachverhalte. Das mit diesen Thesen skizzierte Programm kann im Rückgang auf drei zentrale pseudonyme Schriften Kierkegaards erläutert werden. Zunächst: Wie muss die menschliche Existenz beschaffen sein, wenn (a) aus ihr selbst die Frage nach ihrer eigenen Gültigkeit hervorgehen und diese bzw. die nach der Ermöglichung jener Frage (b) im christlichen Glauben eine mindestens hinreichend bestimmte Antwort finden können soll? Anhaltspunkte zur Beantwortung der ersten Teilfrage bietet vor allem die Krankheit zum Tode von 1849. Die auf dezidiert christlichen Prämissen beruhenden Überlegungen ihres pseudonymen Autors Anticlimacus sind von der Überzeugung geleitet, dass die menschliche Existenz als solche ethisch strukturiert ist, ihr Vollzug mithin als Ausdruck des unbedingten Interesses daran interpretiert werden muss, eine mit ihr selbst vorgegebene und als solche vom Existierenden zumindest unterschwellig immer schon anerkannte Aufgabe zu lösen. Anticlimacus trägt diesem Sachverhalt durch die These Rechnung, dass der Mensch ontologisch gesprochen nicht als beharrende Substanz mit wechselnden Eigenschaften, sondern als Subjekt relationaler Vollzüge, genauer a) als Vollzugssubjekt einer Synthetisierung polar verbundener Relate (Endlichkeit/ Unendlichkeit, Notwendigkeit/Möglichkeit, Zeitlichkeit/Ewigkeit) beschrieben werden kann – wohlgemerkt: einer Synthetisierung, in der sich das Subjekt b) zugleich zu sich selbst als einer derartigen Relation und überdies c) zu etwas als deren (nota bene: göttlichem) Möglichkeitsgrund verhält. Wie lässt sich vor dem Hintergrund dieser strukturellen Vorgaben der Hinweis des Autors der Krankheit zum Tode verstehen, dass der Mensch eben dadurch faktisch der Verzweiflung anheimfällt, dass er sich – gleichsam aus der Hand Gottes entlassen – ‚zu sich selbst‘ verhält? Die Verzweiflungsschrift geht dieser Frage nicht eigens nach; in der Sache weist diese aber zurück auf das erste anthropologische Schlüsselwerk Kierkegaards, Der Begriff Angst von 1844. Hier steht zwar thematisch der Begriff der Erbsünde sowie die alttestamentliche Erzählung vom Sündenfall Adams (vgl. Gen 3)
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Søren Kierkegaard
im Zentrum; da aber laut Anticlimacus Sünde und Verzweiflung koextensive Begriffe sind (keine Sünde ohne Verzweiflung und umgekehrt), können die Überlegungen der Angstabhandlung auch für die Beantwortung der vorliegenden Frage als einschlägig gelten. Die Möglichkeitsbedingungen der Erbsünde bzw. des Sündenfalls zu klären heißt demnach zugleich die Möglichkeitsbedingungen der Verzweiflung zu klären. Freilich zeigt auch Vigilius Haufniensis, der pseudonyme Autor des Begriffs Angst, wenig Neigung, die Frage nach den metaphysischen, logischen und/oder genetischen Möglichkeitsbedingungen der Sünde kategorisch zu beantworten. Er begründet diese Zurückhaltung zunächst mit dem Hinweis, dass die im Sündenfall Adams wurzelnde Erbsünde – und damit die Sünde überhaupt – durch einen im Laufe der Menschheitsgeschichte unaufhörlich wiederholten und dabei genetisch wie geltungstheoretisch unableitbaren Sprung in die Welt kommt; den Sündenfall erklären heißt daher die Erbsünde erklären und umgekehrt. Das Ereignis dieses Sprungs aber, so der sachlich originäre und rezeptionsgeschichtlich wegweisende Zusatz, könne allenfalls approximativ, genauer psychologisch-approximativ erklärt werden: nämlich im Rückgang auf das Phänomen der Angst als einer in sich zweideutigen, d. h. sympathetisch-antipathetischen und antipathetisch-sympathetischen Gestimmtheit des Menschen im Übergang zu seinem aktuellen Sichergreifen als Freiheit – ein Übergang, in dem zugleich die Selbstwerdung des Menschen als ‚existierender Geist‘ manifest wird. Christlich geurteilt wird diese Freiheit allerdings von vornherein missbräuchlich und d. h. so erworben, dass ihr ursprünglicher Vollzug sie zugleich verwirkt: Mensch sein heißt (nicht notwendig, aber) faktisch, die eigene Freiheit – nota bene: i. S. des Vermögens zum Guten und Bösen – immer schon mit der Konsequenz verwirklicht und vollzogen zu haben, dass man ihrer, ebenso wie Adam im Paradies, in eben diesem Vollzug, durch die faktische Wahl des Bösen nämlich, bereits verlustig ging. Die seinskonstitutive Frage des Menschen nach sich selbst geht mithin de facto immer schon mit derjenigen Art und Weise, sie zu beantworten, einher, die den mit ihr einhergehenden Anspruch auf unbedingte Gültigkeit des eigenen Daseins gerade als unberechtigt erscheinen lässt. Damit ist umrisshaft skizziert, in welcher Weise das Christentum bzw. die christliche Dogmatik, im Rückgriff vor allem auf Psychologie und Ethik, zumindest hinreichende Verständnisbedingun-
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gen für Eigenart und Genese jener Frage des Menschen nach sich selbst bereitstellt, die Kierkegaard als integrales Moment der menschlichen Existenz als solcher begreift. Wie steht es aber mit der spezifisch christlichen Antwort? Im Unterschied zum Übergang vom ursprünglichen zum faktischen qua sündigen Selbst betrifft diese Frage theologisch gesprochen den Sprung vom faktischen zu dem, was man das eschatologische oder das Selbst des Glaubens nennen mag. Dieser Sprung sowie dessen christologische und hamartiologische Voraussetzungen stehen im Zentrum der Philosophischen Brocken von 1844. Ihr pseudonymer Autor Climacus verfolgt hier Schritt für Schritt die erkenntnistheoretischen, ontologischen und theologischen Konsequenzen, die sich aus der christlichen Inkarnations- qua Offenbarungsbehauptung (i. S. von Gal 4,4) mindestens dann ergeben, wenn als Kontrastfolie das sokratische Modell des Lernens qua Wiedererinnerung an jene Wahrheit (hier: des guten Lebens) in Betracht gezogen wird, die im Lernenden immer schon bereitlag und diesem unwissentlich bekannt war. Soll sich dies nun anders verhalten, dann besagt das: Der Lernende war de facto ‚in der Unwahrheit‘ (qua Sünde); der Lehrer ‚gebiert‘ (qua Offenbarung) im Lernenden sich selbst als rettende Wahrheit in Gestalt eines gottmenschlichen Versöhners, Erlösers und Richters; der Lernende wird in einem als Einheit von Glaube und Sündenbewusstsein zu begreifenden Lernprozess ein neuer Mensch: der ‚Wiedergeborene‘. Kernpunkt der christlichen Antwort auf die in der menschlichen Existenz liegende Frage nach deren ewiger Gültigkeit ist demnach der Glaube an und durch den menschgewordenen Gott – und dessen Voraussetzung und integrales Moment, das Sündenbewusstsein. Dieser Glaube, von dem Climacus hinzufügt, er könne aller dazwischenliegenden Jahrhunderte zum Trotz mit Jesus Christus als seinem Gegenstand ‚gleichzeitig‘ werden, verlangt seiner Funktion nach zugleich erkenntnistheoretisch und ontologisch bestimmt zu werden: Der mit Gott versöhnte Sünder erkennt darin erstens die unbedingte Gültigkeit seines eigenen, jetzt und hier durch einzigartige und unwiederholbare Bedingungen bestimmten und begrenzten Lebens; und er erkennt zweitens, worauf der Ausdruck ‚unbedingte Gültigkeit der eigenen Existenz‘ an sich referiert – nur auf die und jede Existenz nämlich, die im Glauben des erlösten und versöhnten Sünders aus der Hand Gottes dankbar empfangen werden kann. Darüber hinaus fungiert jener Glaube aber zugleich als Me-
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Søren Kierkegaard
dium der Verwirklichung des Erkannten – und wird sich in dieser Funktion auch zum eigenen Gegenstand: In der und durch die offenbarungsvermittelte(n) Einsicht in die nunmehr als realisiert vorgestellten Gültigkeitsbedingungen der eigenen Existenz vollzieht er kraft göttlicher Initiative selber die Realisierung eben dieser Bedingungen. Freilich schärft Kierkegaard unermüdlich ein, dass die Wahrheit dieser Doppelthese auf der realen Möglichkeit paradoxer Sachverhalte, und d. h. hier auf der Wahrheit einer nicht nur unbegründeten oder unbegründbaren, sondern rational schlechthin abgründigen Ausgangsprämisse beruht: Dass Ewiges zeitlich oder Göttliches menschlich wird – kurz: dass Ewiges oder Göttliches wird –, entzieht sich menschlichem Verstehenwollen als ein prinzipiell Nichtverstehbares, das gerade als solches verstanden und angeeignet zu werden verlangt. Dasselbe gilt vom ‚Wunder‘ des Glaubens und der Wiedergeburt des Sünders, ebenso aber auch von der Erbsünde als einer Form des Werdens, die zugleich und paradoxerweise ein radikales Anderswerden des Menschen qua Geburt einschließen soll. Verknüpft man dieses Ergebnis abschließend mit Kierkegaards Unterscheidung dreier Existenzsphären oder -stadien (Ästhetik, Ethik, Religion), dann ergibt sich: Der Ästhetiker, der den Sinnengenuss zum Daseinsprinzip erhebt, übersieht bzw. leugnet die mit dem Faktum seiner Existenz gegebene unendliche Aufgabe. Der Ethiker missversteht bzw. verendlicht diese, indem er sie irrtümlich als ein durch ihn selbst herzustellendes Gleichgewicht des Ästhetischen und Ethischen (paradigmatisch im Medium der Ehe) deutet. Die sog. Religiosität A scheitert an der autonomen Realisierung absoluter Selbstvernichtung vor Gott als der notwendigen – und an sich richtig erkannten – Vorbedingung zu ihrer Lösung. Erst und allein der Christ (= Religiosität B) sieht und löst die Aufgabe, auf der Basis des Sündenbewusstseins, und bewegt sich damit epistemisch wie ontologisch in der ‚Sphäre der Erfüllung‘ ; er sieht und löst sie jedoch, wie er selbst erkennt, nicht aus eigener Kraft, sondern allein kraft und im Medium des durch Gott vermittelten Offenbarungsglaubens. Angesichts der imponierenden Geschlossenheit und inneren Konsequenz in der Durchführung des Leitprojektes einer Existenzmitteilung des Christentums unter den Bedingungen des Reflexionszeitalters kann leicht übersehen werden, dass Kierkegaard innerhalb dieses Projektes und seiner Realisierung funktional zu- und unter-
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geordnet eine ganze Reihe vor allem religionsphilosophisch und fundamentaltheologisch weitreichender Überlegungen angestellt hat: z. B. zu (Un-)Sinn, Funktion und Plausibilität der sog. Gottesbeweise; zur vernünftigen Rechtfertigungsfähigkeit des Glaubens auf der Basis des Sündengedankens; zur Anfechtung als dem genuinen Ort der Genese dogmatisch orthodoxer Sätze etc. Diesen und ähnlichen Überlegungen sollte künftig, auch und gerade in systematischer Hinsicht, größere Beachtung geschenkt werden. Hermann Deuser / Markus Kleinert (Hg.), Sokratische Ortlosigkeit: Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers, Freiburg i. Br. – München 2019. (Aktueller Sammelband mit Texten zu Kierkegaards schriftstellerischem Selbstverständnis.)
Joakim Garff, Sören Kierkegaard. Biographie, aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann Schmid, München 2004. (Maßgebliche neuere Biografie.)
John Lippitt / George Pattison (Hg.), The Oxford Handbook of Kierkegaard, Oxford 2013. (Konzise Einführung in zentrale Themen, Probleme und Kontexte des kierkegaardschen Denkens.)
Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion, Bd. 1: Studien zur Rezeption Søren Kierkegaards, Berlin – New York 2011 (KSMS 24). (Studien zu zentralen Aspekten der Werkgenese und Rezeptionsgeschichte des Kierkegaardschen Denkens.)
Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion, Bd. 2: Studien zur Philosophie und Theologie Søren Kierkegaards, Berlin – Boston 2014 (KSMS 28). (Studien zur theologischen und religionsphilosophischen Relevanz Kierkegaards; bzgl. der Letzteren vgl. vor allem ebd., S. IX–XIII, ferner Kap. ��, ��, ��.)
Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard Research. Sources, Reception and Resources, 21 Bde. [in 58 Teilbänden], Abingdon – New York 2007–2018. (Umfassender Überblick zu zentralen Themen und Kontexten der Werkgenese und Rezeptionsgeschichte sowie zur internationalen Kierkegaard-Forschung.)
Tilo Wesche, Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2003. (Knappe und konzise Einführung in Kierkegaards Denken aus philosophischer Perspektive.)
Philosophie als Werkzeugkasten
Amerikanischer Pragmatismus: Peirce, James, Dewey Anne-Kathrin Fischbach
Der Amerikanische Pragmatismus lässt sich am besten als eine recht heterogene philosophische Strömung begreifen, die mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der intellektuellen Oberschicht der nordamerikanischen Ostküste entstand. Der Begriff „Pragmatismus“ ist von dem griechischen Wort πρᾶγμα abgeleitet und bezeichnet dort eine Handlung oder eine Sache. Anders als der in der Alltagssprache gebräuchliche Begriff, demzufolge eine Handlung dann pragmatisch ist, wenn sich aus ihr ein unmittelbarer Nutzen für den Handelnden im Zweifelsfall auch gegen das, was als Wahrheit gewusst wird, ergibt (= in Geschäften geschickt, tüchtig) bezeichnet der philosophische Begriff eine Denkströmung, der es durchaus um die Frage nach der Wahrheit geht: Im Gegensatz zu der klassischen korrespondenztheoretischen Wahrheitstheorie geht die pragmatische Wahrheitstheorie jedoch davon aus, dass jedem theoretischen Begriff praktische Handlungsprozesse vorgängig sind, durch die sich der Begriff als solcher erst zu konstituieren vermag.
Prägende Figuren Ins Zentrum gerückt werden in diesem Artikel die Kerngedanken dreier Männer, die besonders zur Theoriebildung des Amerikanischen Pragmatismus beigetragen haben, und die aufgrund der breiten Rezeption ihres Denkens bis in die Gegenwart hinein besonders wirkmächtig geworden sind. Über diese Denker hinaus gibt es selbstverständlich auch noch weitere prägende Gestalten innerhalb der Denkströmung des Amerikanischen Pragmatismus, die hier jedoch keine Erwähnung finden.
Philosophie als Werkzeugkasten
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Obwohl alle drei Philosophen sind, haben sie doch ganz unterschiedliche Schwerpunkte, die sich jeweils in teils sehr unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Theoriebildung niederschlagen. In der Auflistung der Chronologie ihrer Geburtsdaten folgend, gilt Charles Sanders Peirce (1839–1914) als streng mathematisch argumentierender Logiker mit ursprünglich experimentell-naturwissenschaftlichem Hintergrund; seine Spielart des Pragmatismus ist am realistischsten ausgeprägt. Dagegen hat William James (1842–1910) einen ursprünglich geisteswissenschaftlichen, hauptsächlich psychologischen Schwerpunkt, der sich in seiner Ausformung pragmatischen Denkens mit der Betonung eines radikalen, teils konstruktivistischen Empirismus verbindet. Wie James steht auch John Dewey (1859–1952) als Pädagoge, Soziologe und Psychologe den Geisteswissenschaften näher – sein Pragmatismus akzentuiert vor allem die Instrumentalität von Erkenntnis und die soziale Dimension dieses Prozesses. Theologe war ausdrücklich keiner der drei, doch kann die zumindest implizite Thematisierung Gottes in ihren jeweiligen philosophischen Kontexten als eine verbindende Größe zwischen den drei Pragmatisten geltend gemacht werden. Mit unterschiedlichem Erfolg waren alle drei Pragmatisten im universitären, akademischen Umfeld tätig, dem Peirce und James auch prominent entstammten, während Dewey aus eher einfachen Verhältnissen kam. Alle drei sind ihrer Herkunft nach im Umfeld der Ostküste der Vereinigten Staaten und zeitlich um die Jahrhundertwende vom 19. bis zum 20. Jahrhundert zu verorten, eine Zeit, in der Nordamerika vor allem vom Bürgerkrieg, dem aufkeimenden (Sozial-)Darwinismus und der Industrialisierung geprägt wurde, während sich die ersten amerikanischen Universitäten erst allmählich etablierten. Gemeinhin gilt
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Amerikanischer Pragmatismus: Peirce, James, Dewey
der Pragmatismus daher als erste originär US-amerikanische Philosophieströmung. Obwohl innerhalb der pragmatischen Denkströmung tatsächlich die Praktikabilität und Anwendbarkeit von Ideen im Vordergrund steht, und sie demzufolge aus Sicht der bereits etablierten europäischen Philosophielandschaft oft als hemdsärmeliges Projekt einer frühkapitalistischen US-amerikanischen „Machergesellschaft“ interpretiert wurde, muss das pragmatische Gedankengebäude als umfassend erkenntnistheoretisches Projekt begriffen werden. Darauf deutet auch die halbironische Bezeichnung „Metaphysical Club“ für den Intellektuellenzirkel hin, der (proto-) pragmatische Ideen in hitzigen Diskussionen über erkenntnistheoretische bzw. metaphysische Fragestellungen entwickelte: Debattiert wurde hier auf hohem Niveau, zwar im Hinblick auf konkrete gesellschaftliche Bedürfnisse, in durchaus detaillierter Kenntnis europäischer Philosophie. Wem die europäische Philosophie des 19. Jahrhunderts vertraut ist, ist gegebenenfalls überrascht von der teils scharfen Religions- bzw. Theologiekritik der Pragmatisten, die gleichzeitig jedoch unproblematisch einhergeht mit grundsätzlicher Bejahung von Glauben bis hin zu religionsphilosophischen Spekulationen. Alle drei der hier genannten Autoren haben Schriften mit direktem Bezug zu Religiosität oder der Frage nach Gott hinterlassen, tendenziell ist ihr religionsphilosophisches Denken jedoch in ihrem Werk verstreut und lässt sich jeweils aus dessen Gesamtanlage rekonstruieren. Bei Peirce beschränkt sich die Beschäftigung mit religionsphilosophischen Inhalten auf wenige Artikel, unter denen A Neglected Argument for the Reality of God, 1908 herausragt. James gibt religiösen Themen etwas mehr Raum: In dem Aufsatz The Will to Believe, 1896 versucht er den Glauben an Gott als „religiöse Hypothese“ gegenüber einer atheistischen Einstellung zu rechtfertigen, wohingegen die Vorlesungsreihe Varieties of Religious Experience, 1901–1902 eher deskriptiv die Psychologie religiöser Erfahrung bzw. die Vielfalt religiöser Phänomene darstellt – beide Schriften haben intensive Rezeption erfahren. Auch Dewey setzt sich im Kon-
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text einer Vorlesungsreihe mit dem Titel A Common Faith, 1934 explizit mit religiöser Erfahrung auseinander. Der Fokus liegt hierbei auf der Betonung der Demokratisierung von Glauben, der prinzipiell der ganzen Menschheit zugänglich sein muss und nicht auf Gruppen gleich welcher Art beschränkt bleiben darf.
Rezeption Rezipiert wurden pragmatische Theorieelemente vor allem in den Gesellschafts- und Humanwissenschaften, aber auch innerhalb der empiristischen Wissenschaftstheorie. Während zeitgenössische europäische Philosophie dem Amerikanischen Pragmatismus zunächst eher ablehnend gegenüberstand und ihm vorwarf, Nützlichkeitskriterien über die Orientierung an Wahrheit zu stellen, fand er im Umfeld des Wiener Kreises eine vorsichtig affirmative Aufnahme. Während Carnaps bzw. Poppers Wissenschaftstheorien zumindest implizit pragmatisch beeinflusst sind, hat James’ Religionsphilosophie direkte Einflüsse auf Wittgensteins Sprachphilosophie. Wittgenstein wiederum wird zur Schlüsselfigur für den linguistisch orientierten Neopragmatismus (Robert Brandom, Hilary Putnam, Richard Rorty) sowie über Quine für die analytische Philosophie Nordamerikas. Direkt beeinflusst vom Pragmatismus Peirces ist auch Whiteheads Prozessphilosophie. Innerhalb der (jüngeren) deutschen Philosophie finden sich pragmatische Prägungen prominent beispielsweise bei Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel, dort insbesondere als Transzendentalpragmatik transformiert in Demokratietheorie, sowie bei Hans Joas, der sich aus dem Pragmatismus pluralismusfreundliche Impulse für zugleich dennoch universalistische Konzeptionen von Moral erhofft. Theologisch wurde der Pragmatismus lange nur in Nordamerika und von bestimmten Ausprägungen der Befreiungstheologie rezipiert. Von der deutschen Theologie ist das Potenzial klassisch pragmatischen Denkens bis in die jüngere Gegenwart hinein kaum ausgeschöpft worden. Gelegentlich sind pragmatische Theorien von der praktischen Theologie, vor allem im Kontext der Wende der Theologie hin zur Empirie, in wenigen Ausnahmen auch von der systematischen Theologie fruchtbar gemacht worden.
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Grundgedanke: Begriffe sind Werkzeuge Es ist die methodologische Grundmaxime des Pragmatismus, dass die Bedeutung von Begriffen nur mit Bezugnahme auf Praxis, d. h. auf „Handlungen“ (verstanden als interpretierte und dadurch zu Erfahrung geronnene Ereignisse) geklärt werden kann und dass die Wahrheit einer begrifflich verfassten Idee in deren möglichen Konsequenzen zu finden sein muss. Alle Arten von Begriffen, mit denen wir operieren, konstruieren wir innerhalb von Interpretationsprozessen selbst. Es gibt keine Begriffe, die der (menschlichen) Vernunft an sich schon gegeben und die daher klar wären. Dies hat zur Folge, dass all unsere Begriffe immer nur vorläufig sind und immer möglicherweise durch bessere (was in diesem Kontext „treffendere“ oder „passendere“ Begriffe wären) ersetzt werden können. Begriffe sind unsere Werkzeuge (tools) zur Orientierung in der Welt – und wie Werkzeuge müssen sie ersetzt oder modifiziert werden, wenn sie nicht länger für den Einsatz taugen, für den sie ursprünglich konzipiert wurden. Philosophie bekommt im Pragmatismus auf diese Weise ausdrücklich den Charakter eines fortlaufenden Experiments, wobei dieses nicht notwendigerweise mithilfe klassisch-empirischer Messmethoden, sondern auch in Gedanken oder selbst vorreflexiv stattfinden kann. Dieser experimentelle Charakter erstreckt sich auch noch auf den Begriff der Wahrheit selbst, denn insofern auch sie als Begriff verwendet wird, der praktische Bedeutsamkeit beansprucht, ist der Begriff der „Wahrheit“ selbst ein instrumentelles Konstrukt, dessen wir uns im Zuge von Problemlöseverfahren bedienen: Wahrheit ist demzufolge – wie der Begriff – an ein Subjekt (bzw. an eine Gemeinschaft von Subjekten bzw. eine Interpretationsgemeinschaft) gebunden, das sich Wahrheit als „seine“ Wahrheit in einem fortlaufend auf Optimierung angelegten Prozess aneignet. Was jemand als wahr bezeichnet, hängt vom Kontext und von der Konstellation des Problems ab, das es zu lösen gilt, was bedeutet, dass unterschiedliche Wahrheitsansprüche durchaus auf einen gewissen Raum bzw. Zeit beschränkt sein bzw. nebeneinander gelten können. Weil Wahrheit im Pragmatismus so eng mit dem Bedeutungsgehalt von Begriffen und Ideen verbunden wird, ist die pragmatische Wahrheitstheorie nur als Bedeutungstheorie verstehbar und wird somit zugleich semiotisch – Zeichentheorie. Denn der Begriff der Be-
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deutung (meaning) indiziert immer schon eine dreigliedrige Beziehung, die darüber hinaus wesentlich ein Subjekt voraussetzt: Etwas (ein Begriff verstanden als Signifikant) kann nur für jemanden (den Begreifenden verstanden als Interpretant) etwas bedeuten (Bedeutungsgehalt des Begriffs verstanden als Signifikat).
Schlüsselkonzept: Erfahrung Einen zentralen Stellenwert im Pragmatismus nimmt neben dem Begriff der Wahrheit auch der Begriff der Erfahrung (experience) ein. Erfahrung stellt für alle drei Pragmatisten den Ausgangspunkt und den Impuls zur Bildung von Verhaltensgewohnheiten (habits) dar. Für jegliche Form des Lernens, welche in einer Aneignung von funktionalen Verhaltensgewohnheiten besteht, ist folgendes Schema ausschlaggebend: Jedes Ungleichgewicht (Bedürfnis) erfordert die Wiederherstellung eines Gleichgewichts (Befriedigung). Verhaltensgewohnheiten, die effektiv zur Wiederherstellung des Gleichgewichts sind, werden gestärkt bzw. zu Glaubenssätzen (beliefs) erhoben, andere verworfen. Dieses Schema, das Peirce „doubt-belief-theory of inquiry“ nennt, Dewey hingegen „reflex arc concept“, funktioniert über Falsifikation – über die Auslese von ineffektiven Problemlösestrategien. Aufgrund seines starken Erfahrungsbegriffs, demzufolge Erfahrung nicht nur das ist, was sich den Sinnen aktuell darbietet, oder nur das, was mit Maschinen gemessen werden kann, sondern die Gesamtheit aller Situationen, die bereits durchlebt, interpretiert, erkannt wurden, einschließt, bietet der Pragmatismus das Potenzial, religiöse Erfahrung jeglicher Couleur zunächst einmal vorurteilsfrei ins wissenschaftliche Denken miteinzubeziehen. Mitbedacht wurde von den Pragmatisten dabei auch, welches Potenzial Glaube als Problemlösestrategie für soziale und politische Herausforderungen bereithält.
Gegenseitige Durchdringung von Theorie und Praxis Trotz dieses stark instrumentellen Verständnisses von Begriffen, welches ein kontextuell verortetes Subjekt voraussetzt, wird der dro-
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hende Subjektivismus innerhalb pragmatischen Denkens mit objektiven „Gegengewichten“ vermittelt. Die verschiedenen Spielarten des Pragmatismus verfahren hierbei unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie das Gegengewicht allesamt in einer starken Betonung der Kontinuität und gegenseitigen Durchdringung von Theorie und Praxis verorten. Es ist die Resonanz seiner Umwelt, die das handelnde Subjekt in all seinen Handlungszusammenhängen erfährt. Probleme – auch und gerade solche theoretischer Natur – entstehen immer aus dieser Praxis und sind stets mit Rekurs auf Praxis zu lösen. Begriffliches Denken, Wissenschaft ist daher als Problemlösestrategie zu begreifen, die in Verhaltensänderung resultiert: Manche habits werden verfestigt, andere verändert. Allerdings ist das Konzept, das dem pragmatischen Denken zugrunde liegt, gerade nicht mit einem kurzfristig gedachten Nützlichkeitskonzept zu verwechseln – ich kann nicht glauben, was ich will – wenigstens nicht mit Gründen und auf Dauer: Zwar kann ich meinen Fokus selbstverständlich wählen und mein Denken kontrollieren, Einfluss auf meine Begriffsbildungen nehmen, die dadurch tatsächlich auf gewisse Weise von mir konstruiert werden. Wissenschaftliches Denken ist insofern Einübung von Selbstkontrolle meiner Wahrnehmung, die partikular bleiben kann und muss, aber gleichzeitig ist mein Handeln Regeln unterworfen. Verhaltensgewohnheiten (habits) können nicht einfach nach Gutdünken angenommen und abgestreift werden: Entscheide ich mich bspw. dafür zu glauben, dass ich fliegen kann, werde ich mit dieser Überzeugung wortwörtlich schnell auf die Nase fallen. Genuin wissenschaftliches Denken ist daher auch von der Unabhängigkeit davon gekennzeichnet, ob seine Erkenntnisse gesellschaftlich akzeptiert werden – pragmatisches Denken ist zuversichtlich, dass sich Wahrheit durchsetzen wird – in the long run zumindest. Wissenschaft, die mithilfe von Begriffen Wahrheitsansprüche formuliert, geht daher – so die Grundannahme des Pragmatismus – implizit immer schon realistische ontologische Verpflichtungen ein. Denn gäbe es nichts, „which is independent of the vagaries of me and you“ (Peirce; CP 5.311), gäbe es auch keine Möglichkeit, die Wirkung der selbst konstruierten Begriffe zu überprüfen und auf ihre Tauglichkeit hin zu modifizieren. Die stetige Erfahrung von Phäno-
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menen, die das Subjekt betreffen, wird damit zum Wetzstein seiner Begriffe, die dadurch immer weiter geschärft werden. Pragmatisches Denken ist der Vorannahme verpflichtet, dass die Voraussetzung eines Begriffs von Wahrheit für den Forschungsprozess unabdingbar ist. Wahrheit kann zwar pluralistisch, nicht aber relativistisch oder individualistisch behauptet werden, sondern hat sich an einer konkreten, gemeinschaftlichen Wissenschaftspraxis von Forschenden zu messen – sie rückt damit in den Status eines regulativen Prinzips. Von Wahrheit wird im Pragmatismus also nie ausgegangen, sondern nach ihr wird in Form eines fortdauernden Prozesses gesucht. Wahrheitsansprüche können aufgrund mehr oder weniger guten Gründen im besten Falle nur vorläufig, mit „gerechtfertigter Behauptbarkeit“ (warranted assertibility, Dewey; LW 12, 15 f.) gelten. Aufgrund dieses Wahrheitsbegriffs, der sich vielmehr von einem noch nicht erreichten Zielpunkt als von einem bereits sicheren Ausgangspunkt her definiert, lässt sich die pragmatische Wahrheitstheorie als „epistemologischer Non-Foundationalism“ bezeichnen. Apriorische Argumentationsfiguren sind dabei per se nicht zugelassen, denn sie würden „der forschenden Wissenschaft den Weg blockieren“ (Peirce, CP 1.135). Weil die pragmatische Anthropologie und Weltsicht von einem Ziel ausgeht, das von Begriffen anvisiert werden kann, ist sie grundsätzlich optimistisch: (Wissenschaftlicher) Fortschritt ist möglich. Diese Überzeugung übernimmt der Pragmatismus aus der Euphorie der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, insbesondere für Darwins Evolutionstheorie: Wissenschaft wird aufgrund der Hoffnung betrieben, damit in Zukunft besser leben zu können, sie ist also wesentlich auf eine bessere Zukunft ausgerichtet und wird von einem grundsätzlichen Erkenntnisoptimismus getragen. Auf die Theologie gewendet bedeutet die Anwendung pragmatischer Einsichten, dass theologische Dogmen Glaubenssätze sind, die – wenn sie auch auf eine Wahrheit abzielen – bedeutungslos und ihrem Sinngehalt nach zu modifizieren sind, wenn sie nicht länger Relevanz für das Leben der Menschen beanspruchen können. Andererseits kann mit pragmatischen Theorien auch für ein wirklichkeitsveränderndes Potenzial von religiösem Verhalten bzw. theologischen Handlungen plädiert werden: Indem Menschen Handlungspraxen aufgrund von Überzeugungen etablieren, tragen sie zur Veränderung von Wirklichkeit bei.
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Kontinuität als Leitlinie Pragmatismus ist nicht zuletzt ein philosophischer Ansatz, der um Vermittlung bemüht ist. Dies gilt für gänzlich unterschiedliche Bereiche, und wird daran deutlich, dass er im Allgemeinen Kontinuität harten Brüchen vorzieht. Er verschleift klare Grenzen und Dichotomien in Gradualität, bspw. zwischen Glauben und Vernunft, indem er aufzeigt, dass Vernunft eine kontrollierte Form des Glaubens ist, wohingegen Glaube auf Vernunft aufruht. Auch hier wird eine kontinuierliche gegenseitige Durchdringung deutlich: Die Grenzen zwischen Natur und Kultur werden verwischt, was für die Theologie zur Folge hat, dass es zwischen (Natur-)Wissenschaften und der Theologie als Glaubenswissenschaft keine kategorischen, sondern höchstens graduelle Unterschiede gibt, sie befinden sich nicht in unterschiedlichen Wirklichkeitssphären. Folglich müssen sich theologische Argumente denselben Rationalitätskriterien stellen – und sich gegebenenfalls von diesen falsifizieren lassen – wie naturwissenschaftliche Argumente. Alle Erfahrung, ja das Subjekt selbst wird vom Pragmatismus als grundsätzlich kontinuierlich mit seiner Umwelt gedacht, wodurch klare Identitätszuschreibungen und die cartesisch begründete Subjekt-Objekt-Dichotomie ins Schwimmen kommen. Dies macht pragmatische Theorien nicht zuletzt anschlussfähig für panentheistische bzw. prozessphilosophische Denkfiguren, die sich mit der LeibSeele-Problematik befassen. Die pragmatische Betonung von Kontinuität birgt außerdem ein Restpotenzial für metaphysische Universalitätsvorstellungen, ein Potenzial, auf das zeitgleich entstehende Strömungen im europäischen Raum zumeist explizit verzichtet haben. Dies liegt mit daran, dass Säkularisierungsprozesse in Europa historisch anders verlaufen sind als im Nordamerika des 19. Jahrhundert. Die Errichtung einer gesellschaftlichen säkularen Sphäre, die dem Religiösen nur noch im Privaten Existenzberechtigung einräumt, hat es in den Vereinigten Staaten so nicht gegeben. Den Amerikanischen Pragmatisten war die Gotteshypothese nie so fremd, wie dies für ihre europäischen Kolleg: innen der Fall war. Für den US-amerikanischen Kontext ist dagegen mehr von einer Transformation des Christlichen in eine politische Zivilreligion gesprochen worden. Dieser Entwicklung hat der Pragmatismus, allem voran Deweys Demokratietheorie, wesentlich Vor-
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schub geleistet. Religion bleibt dabei in den Vereinigten Staaten auch innerhalb der Universitäten bis in die Gegenwart hinein Angelegenheit des öffentlichen Interesses. Andersherum gilt für Theologien in Anlehnung an den Pragmatismus aber auch, dass die (vermeintlich säkulare) Welt radikal ernst zu nehmen ist.
Ethik: Ausgangs- und Zielpunkt demokratischer Prozesse Das radikale Erstnehmen der Wirklichkeit in all ihrer Pluriformität kann als ethische Handlungsmaxime des Pragmatismus gelten. Der Pragmatismus hat eine immanent politische Ausrichtung, weil er der Überzeugung ist, dass sich Verbesserung im ethischen Sinne im gemeinschaftlichen Handeln konkreter Individuen ereignet. Gemeinsam ist allen drei Pragmatisten daher eine grundsätzliche Befürwortung demokratischer Strukturen, jedoch ist diese unterschiedlich stark ausgeprägt; Dewey bspw. macht die Demokratietheorie zur Grundlage aller anderen Überlegungen, während eine solche bei Peirce im besten Fall rudimentär angelegt ist. Eine demokratische Gesellschaft ist jedoch kein Zweck an sich, sondern stellt den Pragmatisten zufolge die beste Grundlage dafür dar, Wahrheitssuche betreiben zu können. Diese ist als Verwirklichung von „concrete reasonableness“ (Peirce; CP 2,34) ethisches Ziel an sich – wobei begründungsbedürftig bleibt, warum das Wissen um das vernünftige Handeln in der Welt gut ist. Insofern pragmatische Theorien dies beanspruchen, fundieren sie Erkenntnistheorie in der Ethik, was wiederum ein mögliches Anknüpfungspotenzial für theologische Ansätze darstellt.
Antifundamentalistischer Impetus Aufgrund der Tendenz zwischen zwei Extrempolen eine vermittelnde Position einzunehmen zeichnet sich pragmatisches Denken in vielerlei Hinsicht durch eine „irenic attitude“ bzw. durch Ambiguitätstoleranz aus, die geeignet ist, Grautöne zum Vorschein zu bringen. Pluralität ist erstrebenswert. Diese grundsätzliche Intuition kulminiert in einer Kritik an der letztgültigen Universalisierung jeg-
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licher deterministischer Erklärungsmuster. Die Semiose, die Bedeutung produziert, ist prinzipiell unabgeschlossen: Jede Theorie, jedes Dogma, jede Idee kann mit guten Gründen falsifiziert werden. Zumindest aus menschlicher Perspektive ist Letztbegründung unmöglich, dieser Perspektive ist aber nicht zu entkommen. Der Pragmatismus hat als immanent selbstkritische Theorie eine antifundamentalistische und antiidentitäre Ausrichtung und beinhaltet theoretisch die Möglichkeit zur Überschreitung seiner eigenen Geltungsansprüche. Zu bewerten ist diese Möglichkeit jedoch danach, ob sie – pragmatisch verstanden – das bessere Argument wäre. Im Hinblick auf religiöse Fragestellungen hat eine solche Zuwendung zum Pluralismus zur Folge, dass auch religiöse Erfahrungen demokratisiert und somit der Deutungshoheit durch Religionsgemeinschaften entzogen werden: Ein Monopol auf Wahrheit ihrer jeweiligen Interpretationswerkzeuge kann so keine Religionsgemeinschaft länger für sich beanspruchen. Gerade hinsichtlich der Frage nach der Vermittlung religiöser Wahrheitsansprüche in Zeichensymboliken bietet pragmatische Theorie deshalb gute Anknüpfungsmöglichkeiten für interreligiösen Dialog in Form eines religiösen Pluralismus. Hermann Deuser, Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004 (RPT 12). (Monografie zur vertiefenden Einführung in das religiöse bzw. religionsphilosophische Denken von Peirce.)
Michael Festl (Hg.), Handbuch Pragmatismus, Stuttgart 2018. (Als Handbuch bzw. Nachschlagewerk zu einzelnen Themen des Pragmatismus.)
Martin Hartmann / Jasper Liptow / Marcus Willaschek (Hg.), Die Gegenwart des Pragmatismus, Berlin 2013 (Stw 2049). (Weiterführender Sammelband zu einzelnen Themen des Pragmatismus.)
Ludwig Nagl, Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1998. (Klassisch, aber zur ersten Orientierung noch immer unverzichtbar.)
Annette Pitschmann, Religiosität als Qualität des Säkularen. Die Religionstheorie John Deweys, Tübingen 2017 (RPT 93). (Dissertation zur vertiefenden Einführung in das religiöse bzw. religionsphilosophische Denken von Dewey.)
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Christoph Seibert, Religion im Denken von William James. Eine Interpretation seiner Philosophie, Tübingen 2009 (RPT 40). (Habilitationsschrift zur vertiefenden Einführung in das religiöse bzw. religionsphilosophische Denken von James.)
Überwindung der Metaphysik und des Christentums
Friedrich Nietzsche Jürgen Werbick
Experimentalphilosophie Friedrich Nietzsche (1844–1900) steht für die radikalste und wirkungsgeschichtlich folgenreichste Christentumskritik des 19. Jahrhunderts. In immer wieder neuen Anläufen hat er die christlichen Wurzeln und die bleibende ‚christentümliche‘ Prägung philosophischer Konzepte und lebensweltlicher Selbstverständnisse zu dechiffrieren versucht. In zentralen Feldern gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und philosophischer Fragestellungen des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts markiert er die Herausforderungen, die es mit sich bringt, wenn man diese oft verborgene Formatierung hinter sich lassen will. Dabei bediente er sich eines DenkStils, den er experimentell nennt. Er arbeitete seine ‚Experimental-Philosophie‘ meist in aphoristischen Textsammlungen aus, die den Gedanken nicht systematisch entfalten, ihm gleichwohl konsequent auf der Spur bleiben und ihn in seine äußersten Voraussetzungen und Konsequenzen hinein verfolgen. Eine systematische Entfaltung des Gedankens verbietet sich für Nietzsche, weil sie eine „Gottesperspektive“ (Hilary Putnam) beanspruchen würde, in der alles so begriffen werden könnte, wie es ‚in Wahrheit‘ ist. Diese metaphysische Überzeugung gilt es nach Nietzsche bis auf den Grund zu zerstören, um so die Perspektivität allen Wissens hervortreten zu lassen und darüber hinaus die Verwurzelung der Perspektiven in elementaren Lebenseinstellungen
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und Bedürfnissen aufzuweisen, diese als solche in den Blick zu nehmen und zu bewerten. So wird die Letztgültigkeit metaphysischer Geltungsansprüche – ihre Absolutheit, ihre ‚Göttlichkeit‘ – durchgreifend relativiert; sie erweist sich als ‚selbstgemacht‘ : als von Vorentscheidungen bestimmt, die individuell und gesellschaftlich mehr oder weniger bewusst vollzogen werden und den Lebenszusammenhang bzw. die Machtinteressen ausmachen, in denen ein Geltungsanspruch angemeldet und befolgt wird.
Genealogie statt Metaphysik Diese Geltungen experimentell außer Kraft zu setzen, indem man ihre ‚Genealogie‘ aufdeckt, das scheint einem umfassenden Nihilismus den Weg zu bereiten, der keine Geltungsansprüche mehr hinnimmt. So ist Nietzsche vielfach verstanden worden. Er selbst wollte aber nicht „bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen“ bleiben, sondern „bis zum Umgekehrten hindurch [kommen] – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl“ (Nachgelassene Fragmente, KSA 13, 492). Die Relativierung aller Erkenntnis als perspektivisch (lebenseinstellungsbezogen) soll zuletzt einer umfassenden und höchsten Perspektive den Weg bereiten, in der die Welt als unbedingt bejahenswert wahrgenommen werden kann. In seiner anti-metaphysischen, ausdrücklich gegen den Platonismus und den Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) gerichteten Option ist Nietzsche im 20. Jahrhundert vielfach aufgenommen und weitergedacht worden. Das detektivisch-experimentelle Aufsuchen der in den unterschiedlichen Perspektivierungen wirksamen, mehr oder weniger verleugneten Bedürfnis-, Interessen- und Macht-Konstellationen hat in Sigmund Freuds (1856–1939) Psychoanalyse einen therapeutisch-erfahrungsgesättigten Hintergrund gewonnen und mit Michel Foucaults (1926–1984) bzw. Jacques Derridas (1930–2004) genealogisch-dekonstruktiven Verfahren bedeutsame Verfeinerungen und in der französischen Philosophie eine geradezu kanonische Geltung erlangt. Nietzsches entschiedener, wenn auch nicht als solcher durchgehaltener Perspektivismus führte ihn schließlich zu der These: „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen […]. Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen“ (Nachgelassene Fragmente, KSA
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12, 315). Diese These hat einem hermeneutischen Radikalismus den Weg bereitet, der das Ideal der Voraussetzungslosigkeit und Objektivität des Denkens überholt sieht und sich mitunter zu einem konsequenten Relativismus bzw. Pluralismus der Interpretationen bekennt, welcher den Vereinheitlichungs- und Systemzwang modernen Wissens – seiner ‚Meta-Erzählungen‘ – postmodern hinter sich lassen müsse. Nietzsches Versuche, die Lebens-Bedeutung aller Theorien und Konzepte aufzuweisen, hat aber auch in einem aggressiv-religionskritischen Naturalismus Resonanz gefunden, wie er gegenwärtig mit metaphysischer Selbstgewissheit vorgetragen wird, was Nietzsches reflektiertem Perspektivismus und seinem experimentellen Denken freilich kaum entspricht.
Christentumskritik Die Theologie ist von Nietzsches Denken und Wirkungsgeschichte in all diesen Fragestellungen elementar herausgefordert. Sie sollte sie nicht aus dem Blick verlieren, wenn sie sich speziell mit Nietzsches Christentumskritik befasst. Das Christentum gilt Nietzsche je später desto deutlicher als Ideologie der Lebensverneinung, welche die Menschen davon abhält, sich in das Geschehen des Lebens einzubringen und sich darin selbst zu transzendieren (zu ‚überwinden‘). Das alles umfassende und ausmachende Geschehen des Lebens nennt er den Willen zur Macht. Diesen gilt es im eigenen Leben zur Geltung zu bringen; ihm gilt es sich hinzugeben, damit sich der Wille zur Macht im eigenen Leben realisiere und steigere. Das Christentum aber entwertet das endlich-sinnlich-leibhafte Leben in dieser Welt als das nicht-eigentliche, als vorübergehend und vordergründig. Es ist „Platonismus für’s ‚Volk‘“ (Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 12), für den das eigentliche, ‚ewige‘ Leben im Himmel geschieht, in einer ‚Hinterwelt‘, in der Dramatik und Reichtum des Lebens in dieser Welt vergangen und verloren sein werden. Christlicher Platonismus will im irdisch-endlichen Leben allenfalls den Vorschein des Göttlichen sehen und verhindert es so, dass man sich auf das Geschehen dieser Welt rückhaltlos einlässt. Die berühmt gewordene Parabel vom tollen Menschen (vgl. Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 480–482) formuliert das Zu-Ende-Kommen eines jeden religiösen Platonismus: Mit dem Tod Gottes wird die
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Erde von der Sonne des Göttlichen losgekettet. Die Menschen können sie nicht mehr im Sonnenglanz verklärt und von göttlichem Sinn überstrahlt sehen. Es liegt nun an ihnen, in ihr ein Licht anzuzünden, sie als aus sich und in sich sinnvoll anzusehen. Sie müssen dabei freilich selbst zu Übermenschen, ja zu Göttern werden, um in der Welt ohne Gott leben, so aber auch erst das Leben in seiner Fülle – in seinem Macht-Überschwang wie in seinen Abgründen – erleben zu können, es ohne Zuflucht bei einem allversöhnend Göttlichen zu ertragen. Das Christentum verweigert sich diesen Herausforderungen und hält an der platonischen Entwertung des Diesseits ebenso fest wie an der metaphysischen Verheißung einer Gottesperspektive, die dem menschlichen Geist eingestiftet sei und menschlicher Selbstreflexion den Zugang zum Wesen und zum göttlichen Sinn der Wirklichkeit gewähren sollte.
Wille zur Macht und Übermensch Nietzsche setzt dagegen: Wo die Bindung ans Göttliche aufgegeben ist, stehen die Menschen vor der Notwendigkeit, sich die Welt als lebensweltlich-umfassendes Naturgeschehen des Willens zur Macht zu erschließen und sich ihm ebenso eingefügt wie von ihm zu höchster Realisierung des Willens zur Macht herausgefordert zu sehen. Damit aber wird die Welt nicht mehr um Gottes und des in ihr zu wirkenden jenseitigen Heils willen, sondern in sich selbst und so erst wirklich bejaht. Zarathustra tritt als der Prophet auf, der dieses „ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-Sagen“ lehrt, das die Welt von göttlichen Zwecksetzungen befreit und an den wahrhaft schöpferischen Menschen – den Übermenschen – freigibt (Also sprach Zarathustra, KSA 4, 208 f.). Die Welt ist so, wie sie ist und geschieht, „vollkommen“ (ebd., 343). Der Übermensch bejaht sie so, wie sie geschieht; sein Ja ist so umfassend, dass er sie in unendlich-ewiger Wiederkehr willkommen heißt: dass er von ihr in Zukunft gar nichts mehr ‚Neues‘ erhoffen könnte und ihr kein Ziel vorgegeben sieht, für das sie da zu sein hätte (vgl. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 570). Dieser ‚Ewige-Wiederkunfts-Gedanke‘ ist für Nietzsche die „höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“ (Ecce homo, KSA 6, 335). Aber es ist zugleich die schwerste Herausforderung für den Menschen – die zum Übermenschen –, die Wirklich-
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keit, die sich ihm zumutet, nicht anders, sondern genau so haben zu wollen und keinerlei Groll oder Ressentiment gegen sie zu hegen. Wer noch unter der Wirklichkeit leidet, der bleibt ihr dieses Ja schuldig, und er bleibt sich die Fülle des Lebens schuldig. Er bleibt sein Opfer, ein Leidender, der in seinem Leiden einen Sinn entdecken will.
Christlicher Glaube als Ressentiment Nietzsches schärfste Christentumskritik attackiert das Christentum als ein Lebenskonzept, das den Opfern und Leidenden eine Rechtfertigung dafür verleiht, das Leiden als etwas Positives und Sinnvolles wahrzunehmen und so aus ihrer Schwäche eine Stärke zu machen. Es „hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrathenen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig-stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werthe der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte“, indem es die Menschen mit dem Ressentiment infizierte (Der Antichrist, KSA 6, 171). Der christliche Gott ist – so der späte Nietzsche – Gegenbegriff des starken, sich selbst behauptenden Gottes der antiken Heiden; in ihm ist „der Wille zum Nichts heilig gesprochen“ (ebd., 185). Er ist ein Gott des Mitleids, der das Mitleiden mit den Schwachen heilig spricht und als höchste Form der Menschenliebe erscheinen lässt. Ihm schleudert Nietzsche als ersten Satz seiner Menschenliebe entgegen: „Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehen; […] Und man soll ihnen noch dazu helfen“ (ebd., 170), weil man so dem Lebensgesetz des Willens zur Macht dient. Hier muss es um des ‚aufsteigenden‘ Lebens willen zu einer Umwertung der Werte kommen und eine ‚Herren-Moral‘ gegen die christliche Herden- und Sklaven-Moral in Geltung gesetzt werden. Die ‚Todfeindschaft‘ des Christentums gegen das Leben muss aufgedeckt werden, in der es „das Gesetz der Selektion gekreuzt, ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die stolzen und wohlgerathenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftsverbürgenden Menschen gemacht“ hat (Ecce homo, KSA 6, 374). Es hat das Kruzifix über der Erde aufgerichtet und so aus ihr eine „entsetzliche Stätte“ gemacht,
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in der man nur durch Entsagung (durch die Realisierung „asketischer Ideale“), durch Leiden und Sterben zur Vollendung kommen kann (vgl. Morgenröte KSA 3, 75). Christsein bedeutet die „Selbstkreuzigung und Selbstschändung des Menschen“ (Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 333), hervorgetrieben von einem Glauben, der das Leiden Gottes selbst an der Sünde und der Nichtswürdigkeit der Menschen im Mittelpunkt sieht und als monströsen Vorwurf an eine für alles Böse verantwortliche Menschheit deutet (ebd., 33). Tod und Leiden müssen zwar sein. Aber sie dienen dem Leben und nicht der Abzahlung einer imaginären Schuld, welche die Menschen gerade in ihrer Stärke und Lebensmächtigkeit auf sich geladen haben sollen: „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ (Ecce homo, KSA 6, 374), Überschwang und Verausgabung des Lebens gegen das Lebensopfer, das der Sünde des Starksein geschuldet sein soll! Zu dieser emblematischen Zuspitzung steigert sich Nietzsches ‚Fluch auf das Christenthum‘ (so der Untertitel seiner Schrift Der Antichrist), der zuletzt freilich doch mit der Ahnung einhergeht, dass der Gekreuzigte für sein authentisch-alternatives Leben gestorben ist – wie Nietzsche sich offenbar auch selbst in den Untergang hineingerissen sieht, auf den seine prophetische Sendung unaufhaltsam zuzuführen scheint. In den sogenannten ‚Wahnsinnszetteln‘, zu Papier gebracht nach seinem Zusammenbruch in Turin am 3. Januar 1889, identifiziert sich Nietzsche schließlich selbst mit dem unverstanden-abgelehnten Gekreuzigten.
Gegen die Entwertung des Lebens in dieser Welt Nietzsches Pathos des starken, ‚aufsteigenden‘ Lebens wendet sich gegen eine abgründige Entwertung des Lebens in dieser Welt, das christlich nicht das eigentliche sein, sondern nur den Weg ins himmlische ‚ewige Leben‘ ebnen soll. In diesem Sinne gilt für Nietzsche unabdingbar: „Diess Leben – dein ewiges Leben!“ (Nachgelassene Fragmente, KSA 9, 513) und deshalb als erste Forderung einer radikal umwertenden Moral: „die Liebe zum Leben, zum eigenen Leben auf alle Weise pflanzen“ und „Eins sein in der Feindschaft gegen alles und Alle, die den Werth des Lebens zu verdächtigen suchen“ (ebd., 512). Das Christentum hat Nietzsche in der Tradition eines Pietismus wahrgenommen, der das ‚Diesseits‘ zur Bewährung für das ‚Jenseits‘
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abzuwerten schien. Ihm gegenüber hat er mitunter Jesu „evangelische Praktik“ in Schutz genommen, in der man sich hier und jetzt „‚göttlich‘, ‚selig‘, ‚evangelisch‘, jeder Zeit ein ‚Kind Gottes‘ fühlt“ (Der Antichrist, KSA 6, 205). Er konnte aber nicht sehen, dass es in gesamtbiblischer Perspektive und gerade auch in der Verkündigung Jesu um die Heilung des Lebens in dieser Welt durch Gottes aufrichtend-zurechtbringende Gerechtigkeit geht, an der die Menschen in einem dem guten Willen Gottes ‚gehorchenden‘ Leben teilhaben sollen. Gottes Herrschaft, die nach Jesu Predigt zum Greifen nah ist, will den Herrschaften ein Ende machen, die menschliches Leben unterdrücken, ausbeuten und so um seine Lebendigkeit bringen. Sie will und wird – hier wäre gerade auch Nietzsches Kritik aufzunehmen – menschliches Leben zu seiner Fülle bringen; und der Gott dieser Herrschaft wird – so die Hoffnung der Christen – dieses Leben niemals verloren geben. Nur so könnte christlich authentisch von einem ‚ewigen Leben‘ und vom ‚Himmel‘ gesprochen werden: In ihm ist die Fülle eines Lebens gerettet, die in dieser Welt auf dem Spiel steht, für die in dieser Welt Partei genommen werden muss, zu der man in dieser Welt schon unterwegs sein darf und aufbrechen muss.
Fülle des Lebens? Gestritten werden müsste mit Nietzsche darum, was die Fülle des Lebens ausmacht und wie man ihr dient. Im Fokus stünde dabei gewiss der höchst zwiespältige Begriff des Willens zur Macht. Nietzsche hat ihn vor allem in unveröffentlichten Nachlassnotizen mit einer ‚Logik‘ des leibhaften Lebens in Zusammenhang gebracht, die von der Selektion und der Ausmerzung der Leidenden und Schwachen bestimmt würde. Das Christentum sei „das Gegenprincip gegen die Selektion“, predige „die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerirten“, habe „die Unnatur zum Gesetz gemacht“ (Nachgelassene Fragmente, KSA 13, 470). „Gegen den Ausschuß und Abfall des Lebens“ aber gibt es für Nietzsche „nur Eine Pflicht, vernichten; hier mitleidig zu sein, hier erhalten wollen um jeden Preis wäre die höchste Form der Unmoralität, die eigentliche Widernatur, die Todfeindschaft gegen das Leben selbst. –“ (ebd., 611).
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Diese ‚biologische‘ Sicht entspricht den heutigen Einsichten in die ‚Logik‘ des Lebens nicht mehr. Und auch wenn man sie aus der geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Situation des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts heraus historisch zu verstehen sucht, wird man an Nietzsche die Rückfrage zu richten haben, welche menschheitsgeschichtlichen Konsequenzen ein solches Verständnis des Naturzusammenhangs mit sich bringen müsste. Dabei wird man Nietzsche die skandalöse Inanspruchnahme seiner Lehre vom Willen zur Macht durch die Ideologie des Dritten Reiches nicht zur Last legen können. Aber man wird in der Sache aufzuweisen haben, warum sein ‚Biologismus‘, der den Begriff des Willens zur Macht zumindest auch bestimmt, das Leben nicht in seiner Fülle begreifen kann. Diese Fülle wird – und darin treffen sich heutige lebenswissenschaftliche Thesen mit christlichen Überzeugungen – weniger durch Selektion und Exklusion als durch Teilhabe und liebend-solidarische Kommunikation ermöglicht. Das Geschehen der Natur kann nicht als solches das ‚Fatum‘ sein, dem sich der (über)menschliche Wille einzufügen und den es zu ‚lieben‘ hätte (vgl. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 521). Es ist vielmehr – und das wäre auch gegenwärtigen Biologismen zu erwidern – in seiner Ambivalenz als Herausforderung anzunehmen, seine Potentiale in solidarischer Praxis fruchtbar zu machen und gegen ihre Ausbeutung nach dem ‚Recht‘ des Stärkeren zu schützen. Christliches Reden von Sünde und Erlösung hat zu erläutern, wie die Menschen immer wieder neu zu dem guten Willen befreit und inspiriert werden müssen, das Leben und seine Möglichkeiten miteinander solidarisch zu teilen – und wie diese befreiende Inspiration sich dem Glauben daran verdanken kann, dass Gott mit ihnen sein göttlichen Leben teilen will, dass er dies in seinem Messias Jesus gelebt und in ihm am menschlichen Leben teilgenommen hat, um es durch seinen Heiligen Geist für seine ihm zugedachte Fülle aufzuschließen. Von besonderer theologischer Bedeutung sind die Konsequenzen, die sich aus Nietzsches Perspektivismus ergeben und nach wie vor die hermeneutischen Debatten bestimmen. Bei Nietzsche selbst ist dieser Perspektivismus nicht so radikal durchgehalten, dass er jede Perspektive als prinzipiell gleichberechtigt anerkennen würde. Die Perspektive des aufsteigenden Lebens ist für ihn vielmehr die einzig berechtigte; in ihr erscheinen alle anderen Perspektiven als
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defizitär, ja als lebensfeindlich. Es scheint also für Nietzsche doch so etwas wie eine umfassende Perspektive zu geben, in der alles als das erscheint, was es wirklich ist – und so rückhaltlos bejahbar ist, wie es Zarathustra, der Prophet des Übermenschen, ankündigt: „Die Welt von innen gesehen […] sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem. –“ (Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 55). Ist das nun ein Rückfall in die Metaphysik? Oder artikuliert Nietzsche hier die hermeneutische Notwendigkeit, in der Vielfalt der Deutungen und Weltauslegungen nach einer Verbindlichkeit zu suchen, in der das Leben eine ‚ewige‘ Gültigkeit gewinnen und eine gültige Lebenspraxis entwickeln kann? Auch und gerade die Theologie sollte sich von dieser Frage in Anspruch genommen sehen und mit Nietzsche darüber streiten, ob er sie inhaltlich weiterführend formuliert hat. Wenig fruchtbar erscheint es demgegenüber, Nietzsche als Protagonisten einer „Diktatur des Relativismus“ (Papst Benedikt XVI.) ausfindig zu machen, der es mit der Offenbarungswahrheit des Christlichen gegenüberzutreten gelte. Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010. (Dieses Buch erschließt mit literaturwissenschaftlichen Methoden eine bahnbrechend neue Sicht der Schriften aus der Zeit unmittelbar vor und nach Nietzsches Zusammenbruch.)
Krzystof Michalski, Die Flamme der Ewigkeit. Eine existentielle Interpretation Nietzsches, aus dem Polnischen von Thomas Weiler, hg. von Ludger Hagedorn, Piotr Kubasiak und Klaus Nellen, Baden-Baden 2022. (Eine anregende phänomenologisch-existenzphilosophische Deutung Nietzsches.)
Daniel Mourkojannis / Rüdiger Schmidt-Grépály (Hg.), Nietzsche im Christentum. Theologische Perspektiven nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes, Basel 2004 (Beiträge zu Friedrich Nietzsche 8). (Beiträge, in denen die Wirkungsgeschichte der Religionskritik Nietzsches nachgezeichnet wird.)
Klaus Müller (Hg.), Natürlich: Nietzsche! Facetten einer antimetaphysischen Metaphysik, Münster 2002. (Sammelband mit Beiträgen zu zentralen Diskursen heutiger theologischer und philosophischer Nietzsche-Rezeption.)
Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – Weimar 2000. (Eine erste verlässliche Orientierung über zentrale Themen und Wirkungsgeschichte der Philosophie Nietzsches.)
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Gianni Vattimo, Nietzsche. Eine Einführung, aus dem Italienischen Übersetzt von Klaus Laermann, Stuttgart 1992. (Vattimo erschließt knapp und prägnant einen ‚postmodernen‘ und auf die Hermeneutik abzielenden Zugang zu Nietzsches Denken.)
Ulrich Willers, Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie. Eine theologische Rekonstruktion, Innsbruck – Wien 1988 (IThS 23). (Eine mustergültige theologische Beschäftigung mit einem Thema, das in diesem Artikel nicht hinreichend dargestellt werden konnte.)
„Zurück zu den Sachen selbst!“
Edmund Husserl Enrico Grube
Einführung Der österreichisch-deutsche Philosoph und Mathematiker Edmund Husserl (1859–1938) hat die gegenwärtige Theologie vor allem durch die von ihm begründete Phänomenologie beeinflusst, die sowohl als eine Methode des Philosophierens als auch als eine weltweite dynamische philosophische Bewegung verstanden werden kann, aus der wiederum Philosophinnen und Philosophen wie Edith Stein (1891– 1942), Martin Heidegger (1889–1976), Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) oder Emmanuel Levinas (1906–1995) hervorgingen, deren Entwürfe die Theologie bis heute prägen. Husserl entwickelte seine Methode zeitlebens weiter; und ein Großteil seines zu Lebzeiten veröffentlichten Werkes besteht aus einer Reihe immer neuer Ein- und Anleitungen zu dieser Methode. Diese Entwicklung kann in drei Phasen eingeteilt werden, mit denen sich jeweils drei zentrale Begriffe verbinden: Intentionalität, Epoché und Lebenswelt. Ich will die Phänomenologie Husserls anhand dieser drei Begriffe kurz vorstellen.
Intentionalität Die grundlegende Frage, die Husserls Denken umtreibt, ist – ganz in der neuzeitlichen Tradition von René Descartes (1596–1650) bis Immanuel Kant (1724–1804) – die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, insbesondere Erkenntnis aufgrund von Wahr-
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nehmung, sowie wissenschaftlichem und logischem Denken. Da ein Erkenntnisprozess immer der eines bestimmten Subjekts ist und psychologische Akte wie wahrnehmen, erinnern, glauben, überzeugt sein oder urteilen mit einbezieht, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Theorie der Erkenntnis nichts anderes ist als Psychologie. Selbst die Gesetze der Logik oder wissenschaftliche Modelle wären dann nichts anderes als psychologische Gesetze und Modelle: Es ginge auch in der Logik und Wissenschaft einfach nur darum, wie wir Menschen aufgrund unserer geistigen Beschaffenheit denken. Diese Position des Psychologismus hat der frühe Husserl scharf kritisiert, denn für ihn folgt daraus ein sich selbst widerlegender Skeptizismus: Wenn alle Gesetze und Modelle nur subjektive psychologische Gesetze sind, wie können wir sie dann überhaupt kommunizieren? Wie kann es dann überhaupt so etwas wie eine intersubjektive Bedeutung geben? Die Möglichkeit von Erkenntnis ist aber abhängig von der Existenz stabiler Bedeutungen, die unter mehreren Subjekten geteilt werden können. Also muss es Gesetze geben, die über individuelle psychologische Akte hinausgehen. Wie aber kann dieses Hinausgehen verstanden werden? In diesem Zusammenhang greift Husserl einen wichtigen philosophischen Terminus auf, den der Intentionalität, was hier nicht ‚Absicht‘ meint, sondern eine bestimmte Form der Gerichtetheit: Wenn ich glaube, dann glaube ich etwas. Wenn ich wahrnehme, dann nehme ich etwas wahr. Das gleiche gilt für lieben, fürchten, urteilen, nachdenken usw.: Ich liebe jemanden, ich fürchte etwas, ich urteile über einen Sachverhalt, ich denke über etwas nach. In all diesen Fällen muss der geistige Akt von dem Objekt unterschieden werden, auf das sich der Akt richtet. Dass das intentionale Objekt nicht einfach mit einem Objekt der Außenwelt gleichzusetzen ist, ist dadurch klar, dass ich ja auch über Dinge nachdenken kann, die nicht existieren, z. B. Einhörner oder Elfen. Und dass diese Objekte wirklich von geistigen Akten unterschieden werden müssen, zeigt Husserl anschaulich für den Fall der Wahrnehmung: Wenn ich z. B. einen Bleistift vor mir sehe, sehe ich immer nur einen bestimmten Teil des Stifts, der mir zugewandt ist. Ich sehe den Bleistift aus einer bestimmten Perspektive. Gleichzeitig kann ich unterscheiden zwischen dem Stift selbst und der Art und Weise, wie er mir erscheint – ich kann mir den ‚Rest‘ des Stifts hinzudenken. Das ist aber nicht so, wenn ich den Akt meines Sehens des Stifts selbst in den Blick nehme.
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Mein Bewusstsein bzw. Sehen des Stifts ist mir nicht aus einer bestimmten Perspektive gegeben. Es hat sozusagen keine ‚Rückseite‘. Der Bewusstseinsakt ist transparente Gerichtetheit auf ein perspektivisch abgeschattetes Objekt. Die Objekte unserer geistigen Akte gehen also über unsere subjektive Beschaffenheit hinaus. Husserl nennt sie deshalb auch ‚transzendente Objekte‘ (lat. transcendere – übersteigen). Seine Einsicht: Selbst unsere geistige Welt übersteigt immer schon unsere eigene individuelle Subjektivität.
Epoché Für Husserl besteht das gesamte Projekt der Phänomenologie in dem Versuch, möglichst voraussetzungsfrei zu denken; und dazu gehört zuallererst die Voraussetzung der Existenz einer geistunabhängigen Außenwelt, was Husserl unsere ‚natürliche Einstellung‘ nennt. Wie offensichtlich uns diese Annahme auch scheinen mag – Husserl besteht darauf, dass die natürliche Einstellung in einem rigorosen Denken zunächst suspendiert werden muss. Dies ist eine radikale Form der stoischen Praxis der Epoché, der Urteilsenthaltung, in der es keinesfalls darum geht, die Existenz der Außenwelt oder andere Grundannahmen des ‚gesunden Menschenverstandes‘ zu leugnen, sondern darum, sie in eine Analyse dessen, was unserem Bewusstsein eigentlich gegeben ist, nicht einzubeziehen. Ziel dabei ist, dass die Phänomene, also die Dinge, wie sie uns erscheinen, vorurteilsfrei und undogmatisch in den Blick geraten. Für Husserl ist klar, dass nur so objektive Wissenschaft begründet werden kann. Der Slogan der phänomenologischen Bewegung ist daher auch: ‚Zurück zu den Sachen selbst!‘ Gemeint ist hier kein kantisches ‚Ding an sich‘, sondern eine möglichst genaue und neutrale Inblicknahme der intentionalen Objekte als unhintergehbare Grundlage allen Wissens. Den Prozess, der zu dieser Betrachtung der Sachen selbst führt, nennt Husserl auch ‚transzendentale Reduktion‘, denn er führt uns zurück (lat. re-ducere) von der natürlichen Einstellung, dass wir es mit einer geistunabhängigen Außenwelt zu tun haben, hin zu den eigentlichen Grundlagen der Erkenntnis: den Bewusstseinsobjekten und dem Subjekt als Bedingung der Möglichkeit dieser Objekte. Das Subjekt ist hier ja nicht nur ein Objekt in der Welt, sondern zugleich Voraussetzung für Objekterkenntnis – wenngleich nicht im Sinne
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von Kants transzendentaler Subjektivität. Während Kants transzendentales Subjekt ein transpersonales, abstraktes Prinzip ist, das die Funktion hat, aus einer Vielzahl von gegebenen Daten Objekte zu konstruieren, ist es für Husserl dagegen das konkrete und endliche ‚empirische‘ Subjekt, das sowohl als Ursprung des intentionalen Bewusstseins Welterkenntnis ermöglicht als auch einen Körper hat und somit immer schon in die Welt eingebunden ist – ein Thema, das nach Husserl insbesondere Merleau-Ponty weiter entfalten wird. Einem Missverständnis muss hier sogleich vorgebeugt werden. In der Literatur finden sich bisweilen Bemerkungen wie: ‚In einer phänomenologischen Untersuchung geht es nur um die Beschreibung der Inhalte unseres Bewusstseins.‘ Das ist zwar richtig, könnte jedoch wiederum eine Art von Subjektivismus oder Psychologismus nahelegen – als ginge es nur um Beschreibung ‚innerer‘ psychischer Vorgänge. Wie bereits deutlich geworden sein sollte, ist genau das Gegenteil der Fall: Intentionale Objekte sind transzendent, d. h. übersteigen meine eigene Subjektivität. Sie sind intersubjektiv konstituiert: Ich kann die Inhalte meines Bewusstseins nur dann als stabile objektive Realität erfahren, wenn ich mich über diese Inhalte auch prinzipiell austauschen bzw. davon ausgehen kann, dass sie auch anderen möglichen Subjekten gegeben sein können. Die Phänomenologie versucht also, einen Mittelweg einzuschlagen zwischen einem naiven Realismus einerseits, der von einer klaren Unterscheidung von ‚innen‘ und ‚außen‘, Subjekt und Objekt ausgeht, und verschiedenen Spielarten des subjektiven Idealismus andererseits, für den die Objekte des Bewusstseins auf die Akte eines setzenden Ichs zurückführbar sind. Da nun bekanntlich Gott nicht direkt erfahrbar ist, sondern nur aufgrund seiner Spuren in der Welt und unserem Bewusstsein entdeckt werden kann, geht es in einer phänomenologischen Theologie darum, diese möglichen Bewusstseinsgehalte z. B. einer Gotteserfahrung oder der Erfahrung von Gnade oder Vergebung so herauszuarbeiten, dass ihre wesentlichen Strukturen zutage treten. Theologie heißt dann nicht etwa, ein System von Lehrsätzen über Gott zu begründen, sondern die Komponenten derjenigen Grunderfahrungen zu entdecken, die so etwas wie Glauben und religiöse Praxis erst ermöglichen. Einige ‚klassische‘ Themen, die in solchen Untersuchungen eine Rolle spielen, sind z. B. die Erfahrung des Anderen (Alterität) oder die Rolle des Leibes in der religiösen Erfahrung.
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Lebenswelt Mit dem Begriff der Lebenswelt bezeichnet Husserl die Welt der alltäglichen Erfahrung, in der uns intentionale Objekte gegeben sind – die Welt also, die in einer phänomenologischen Untersuchung zutage treten kann. Husserls Spätwerk ist von der Sorge geprägt, dass die kulturelle Dominanz der exakten Naturwissenschaften die Legitimität der lebensweltlichen Erfahrung immer mehr infrage stellt. Ihm zufolge ist der Siegeszug der Wissenschaften seit der Renaissance an ihre Fokussierung auf quantifizierbare Eigenschaften gebunden, was mehr und mehr dazu führt, dass nur noch diese Eigenschaften als objektiv oder wirklich gelten. Dies kann man bereits an John Lockes (1632–1704) Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften sehen. Locke zufolge sind primäre Eigenschaften, z. B. Form, Größe oder Gewicht, solche, die einem Objekt unabhängig von der Existenz von Subjekten zukommen, während sekundäre Eigenschaften, z. B. Farbe, Geschmack oder Geruch, solche sind, denen keine objektive, bewusstseinsunabhängige Realität zukommt, da ihr Vorhandensein an die Existenz von Erfahrungssubjekten gebunden ist. Husserl weist nun zunächst darauf hin, dass diese Reduktion des Wirklichen auf das Quantifizierbare sowie seine dogmatische Gleichsetzung mit Subjekt- bzw. Bewusstseinsunabhängigkeit mehr und mehr dazu führt, dass die Wirklichkeit aller Erscheinungen geleugnet wird: Als ‚wirklich‘ gelten nicht mehr die Eigenschaften, die uns in der Erfahrung gegeben sind, sondern allein diejenigen, die in der wissenschaftlichen Theoriebildung postuliert werden. Das Ergebnis hiervon ist schließlich eine Infragestellung der Wirklichkeit der gesamten Lebenswelt. Gegen diese Tendenz, die Husserl zufolge schließlich paradoxerweise zu einer Krise der Wissenschaften selbst führt, da sie geistlos und leer werden, argumentiert Husserl entschieden für die objektive Wirklichkeit der Erfahrungswelt. Zum einen darf diese ja, wie wir gesehen haben, in seinem Denken keinesfalls als ‚bloß subjektiv‘ gewertet werden, da die in der Erfahrung gegebenen Objekte die subjektiven Akte, durch die sie gegeben sind, gleichwohl transzendieren. Objektivität kommt also sowohl dem lebensweltlich als auch dem in der wissenschaftlichen Theorie Gegebenen zu, nur eben auf eine unterschiedliche Art und Weise. Zum anderen weist Husserl darauf hin, dass die Praxis der Wissenschaft selbst die Unterschei-
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dung zwischen bloßer Erscheinung und quantifizierbarer Wirklichkeit unterwandert. Schließlich beruht z. B. die chemische Forschung darauf, dass das Wasser, das sie untersucht, eben dasjenige ist, das ich trinken kann, oder die Physik darauf, dass die Raumzeit, die sie postuliert, eben diejenige ist, durch die ich mich bewege usw. Die Möglichkeit wissenschaftlicher Forschung insgesamt beruht auf der Identität ihrer Forschungsobjekte mit Objekten ‚subjektiver‘ Erfahrung, was wiederum die objektive Wirklichkeit dieser Objekte voraussetzt. Husserls Ins-Recht-Setzen der Lebenswelt gegenüber der Welt der Wissenschaft hat natürlich auch weitreichende Konsequenzen für die Frage nach der Legitimität religiösen Glaubens in einer von den Postulaten der Naturwissenschaften dominierten Welt. Da Gott kein quantifizierbares Objekt in seiner Schöpfung ist, kommt er natürlich auch in der Welt der Wissenschaft nicht vor. Für den Phänomenologen muss sich die Legitimität religiösen Glaubens anders ausweisen lassen – eben dadurch, dass es eine Art von Phänomenen gibt, die auf Gott verweisen. Aus diesem Grund rückt für spätere, theologisch interessierte Phänomenologen wie Jean-Luc Marion (* 1946) z. B. die phänomenologische Analyse von Offenbarungsereignissen ins Zentrum des Interesses. Edmund Husserl, Ausgewählte Texte, hg. von Klaus Held, Bd. 1: Die phänomenologische Methode, Stuttgart 1985; Bd. 2: Phänomenologie der Lebenswelt, Stuttgart 1986. (Eine zweibändige Zusammenstellung von Auszügen aus Husserls wichtigsten Texten. Die wohl beste Weise, mit Husserl zu beginnen.)
Robert Sokolowski, Introduction to Phenomenology, Cambridge 2000. (Eine leicht verständliche Einführung in das phänomenologische Denken, mit zahlreichen Beispielen und nützlichen Erklärungen zentraler Begriffe, ohne Erwähnung von Forschungsliteratur oder Zitaten.)
Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1985 (Stw 545). (Waldenfels ist einer der bekanntesten und kreativsten Phänomenologen im deutschsprachigen Raum. Dieses Buch ist ein Beispiel unter vielen aus seiner ertragreichen Arbeit, das zeigt, wie ein zentraler Begriff aus Husserls Phänomenologie produktiv weiterbearbeitet werden kann.)
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Dan Zahavi, Husserls Phänomenologie, übersetzt von Bernhard Obsieger, Tübingen 2009. (Exzellenter, gut lesbarer und relativ kurz gehaltener Überblick über die wichtigsten Begriffe, Thesen und Argumente in Husserls Gesamtwerk wie auch eine Darstellung einiger großer Forschungsdebatten über die Interpretation seines Werkes.)
Eine philosophische Kulturtheorie über den Menschen, der Bedeutung bringt
Ernst Cassirer Caroline Helmus
Wenn man etwas über die theologische Relevanz von Ernst Cassirer (1874–1945) sagen kann, dann wohl, dass er unterschätzt wird. Trotz seiner umfangreichen Studien u. a. über Nicolaus Cusanus (1401– 1464), René Descartes (1596–1650), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Immanuel Kant (1724–1804), Galileo Galilei (1564–1642), Isaac Newton (1643–1727) und Albert Einstein (1879–1955), die einen beachtenswerten Brückenschlag zwischen Geistes- und Naturwissenschaft ermöglichen und ihn damit zu einem interdisziplinären Denker par excellence machen, wird er in dieser Bandbreite in den gegenwärtigen Debatten der Theologie eher selten rezipiert. Dass jeder neue Gedanke bereits auf anderen Gedanken ruht, weil der Mensch in ein Netz von Bedeutungen hineingeboren wird, ist eine grundlegende Prämisse von Cassirers Denken. Es gehört zu seinen beachtlichen Leistungen, die These von den zwei Kulturen der Geistes- und der Naturwissenschaft widerlegt zu haben. Sein originäres Interesse an der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie führt ihn aber schließlich zu der Frage, wie sich Wirklichkeit konstituiert. Zusammengenommen mit der Einsicht in die epistemische Bedingtheit des Menschen und der daraus folgenden bedingten kulturellen Gestaltung der Wirklichkeit durch diesen gelangt Cassirer zu der Annahme der Konstruktion von Wirklichkeit, wodurch er sich auch in dieser Hinsicht als Vordenker zeigt. Sein dreibändiges Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen führt diese verschiedenen Interessen in einer Theorie der Kultur zu-
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sammen und weist den Menschen als denjenigen auf, der Bedeutung in die Welt bringt und derart die Wirklichkeit gestaltet. Gehörte Cassirer in der Zeit der Weimarer Republik zu den wichtigsten deutschen Philosophen, ist es vermutlich dem großen Einfluss der Schulen von Martin Heidegger (1889–1976), Gottlob Frege (1848–1925), Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und Theodor W. Adorno (1903–1969) auf die deutsche Philosophie, Cassirers früher Emigration im Jahr 1933 und seinem unerwarteten Tod im Jahr 1945 in New York geschuldet, dass sein innovatives Denken selbst innerhalb der Philosophie in Vergessenheit geriet. Der historische Einfluss seiner Zeit auf sein philosophisch-politisches Denken verweist erneut auf die theologische und praktische Relevanz. Denn trotz seiner Erfahrung, als jüdischer Gelehrter zunächst lange Zeit eine Professur an einer deutschen Universität verwehrt zu bekommen und dann mit der Machtergreifung Adolf Hitlers (1889–1945) sich selbst gezwungen zu sehen, aus der deutschen akademischen Laufbahn auszuscheiden, zeigt die von ihm gelebte Theorie sein Plädoyer für Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und die Pluralität menschlicher Selbst- und Weltdeutungen auf. Sein Ansatz einer symboltheoretischen Kulturtheorie wird nachfolgend skizziert.
Der Mensch als animal symbolicum – Cassirers Kulturphilosophie Als Schüler der beiden Neukantianer Hermann Cohen (1842–1918) und Paul Natorp (1854–1924) in Marburg und aufgrund seiner eigenen großen Kant-Studie sah sich Cassirer mit dem Vorwurf des Neukantianismus als einseitigem Denkstil konfrontiert, nicht zuletzt durch Heidegger und die Frankfurter Schule. Allerdings steht Cassirers Ansatz einer transzendentalen Verortung des Aufkommens und der Geltung von pluralen Kulturen im Gegensatz zur Fragerichtung der neukantianischen Ansätze im Sinne Kants, die sich der transzendentalen Begründung von Ethik und Erkenntnislehre zuwenden. Über seine Philosophie der symbolischen Formen nähert er sich der Pluralität von Kulturen und versteht diese als historisch bedingte und damit wandelbare Ausdrucksformen.
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Cassirer knüpft hierbei insofern an Kant an, als dass er aus der Kritik der reinen Vernunft den Gedanken übernimmt, dass menschliche Erkenntnis durch die Deutung der Welt geschieht und dabei Ordnungsmuster hervorbringt. Erkenntnis geht also nicht von der Welt aus, sondern der Mensch ordnet mittels Verstandesleistung das sinnlich Wahrgenommene. Dies erfolgt in einer doppelten Stoßrichtung: Einerseits wird das sinnlich Wahrgenommene dadurch verstehbar, dass es durch Verstandesleistung mit Bedeutung, z. B. einem Namen, verknüpft wird. Andererseits kann auch ein Gedanke erst dann ausgedrückt bzw. kommuniziert werden, wenn er sich mit einem sinnlichen Zeichen, z. B. einem Wort, verbindet. Dieses reziproke Verhältnis einer Verbindung zwischen sinnlichen Zeichen und geistiger Bedeutung ist für Cassirer die Grundstruktur unseres Bewusstseins. Der konkrete Vollzug dieser Verbindung ist allerdings ein offener und kein statischer Prozess. So kann ein sinnliches Zeichen mit vielfältigen Bedeutungen bzw. ein Bedeutungsgehalt auch mit vielfältigen sinnlichen Zeichen verbunden werden. Cassirer verweist auf das Beispiel einer geschlängelten Linie, die mit unterschiedlichen Bedeutungen verknüpft werden kann, z. B. einem Kunstwerk, einem religiösen oder mathematischen Zeichen. In seiner Bewusstseinstheorie geht Cassirer aber noch einen Schritt weiter bzw. – besser gesagt – er geht einen Schritt zurück, indem er nach dem transzendentalen Grund der Vieldeutbarkeit fragt: Wie kann es überhaupt sein, dass ein und dasselbe sinnliche Zeichen unterschiedlich gedeutet wird? Cassirer führt dies auf die epistemische Bedingtheit des Menschen, seine Standortgebundenheit, zurück. Für ihn vollziehen sich Bewusstseinsleistungen, also die Verknüpfungen eines Bedeutungsgehalts mit einem sinnlichen Zeichen, nicht im luftleeren Raum. Dieser Prozess vollzieht sich vielmehr im Wechselspiel mit anderen bereits vorgenommenen Deutungen. Der Mensch, der eine Deutung vornimmt, findet sich bereits in einer gedeuteten Welt wieder und verhält sich zu diesen Deutungen, indem sie bestätigt, widerlegt oder verändert werden. So entsteht im Laufe der menschlichen Kulturgeschichte eine Vielzahl von Deutungshorizonten wie die Naturwissenschaft, der Mythos, die Kunst, die Religion oder die Sprache. Beim Beispiel der geschlängelten Linie führt die Einbettung eines Menschen in einen religiösen Deutungshorizont wahrscheinlich zu einer religiösen Deutung, bei einer naturwissenschaftlichen Einbettung eher zu einer mathematischen
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Deutung etc. Mit diesem Moment wendet sich Cassirer gegen Erkenntnisvorstellungen, die einen einzig richtigen Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit als auch eine einzig richtige Erkenntnis der Wirklichkeit selbst annehmen. Die Deutungshorizonte bzw. – in Cassirers Terminologie – ‚symbolischen Formen‘ verschaffen dem Menschen Orientierung in der Welt, weil sie ihm Struktur geben, Komplexität verringern und derart den Menschen handlungsfähig machen. Da es aber nicht nur einen Deutungshorizont gibt, sondern eine Vielzahl, entsteht zugleich ein potenzieller Konflikt und zwar dann, wenn verschiedene, evtl. sich widersprechende Deutungshorizonte in der Wirklichkeitsdeutung eines Menschen zusammenkommen. Aber um einen Widerspruch zu erkennen, muss sich der Mensch zunächst der Vielfalt der Deutungshorizonte bewusst werden und damit realisieren, dass jede Erkenntnis über die Beschaffenheit der Welt mit der Deutung der Welt einhergeht. Das heißt, der Mensch ist zwar in einen Deutungshorizont eingebettet, er ist sich dieser Standortgebundenheit (zunächst) aber nicht bewusst. In einem kognitiven Entwicklungsschritt kann er sich als freiheitliches und aktives Subjekt die Welt erschließen und deuten. Insbesondere der Religion widmet sich Cassirer hier verstärkt. Denn kulturgeschichtlich vollzieht sie im Gegensatz zum Mythos nach Cassirer den Schritt, sich bestimmter Zeichen und Bilder bewusst zu bedienen und zugleich von dem nur vorläufigen Zeichencharakter zu wissen. Die Religion trüge als Deutungshorizont entsprechend zu dieser Bewusstwerdung selbst bei. Im Vordergrund seiner Kulturtheorie steht damit das aktive deutende Verstehen, das durch den menschlichen Geist aktive Gestalten der Welt. Der menschliche Verstand verleiht der Welt Ausdruck. Entscheidend ist für Cassirers Anthropologie und seinen ethischen Ansatz, dass Deutungen, die dem menschlichen Verstand entspringen und derart eine menschliche Leistung sind, es damit ermöglichen, dass sich der Mensch zu diesen Deutungen frei verhalten könne. Die Welt so und nicht anders zu deuten, ist damit einerseits ein Freiheitsvollzug, der Pluralität ermöglicht, und zum anderen ein Freiheitsvollzug, sich zu den pluralen Deutungen auch verhalten zu können. Wenn aber Freiheit der Grund für die vielfältigen Deutungen der Welt ist, ist damit jeder Deutungshorizont bzw. jede symbolische
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Form gleich gültig? Oder liegen Kriterien vor, die über die Angemessenheit einer Deutung entscheiden können? Cassirer knüpft hier an Kant an und geht davon aus, dass eine symbolische Form (1) vernünftig sein muss, d. h. in sich konsistent und kausal strukturiert. Cassirer geht hier über Kant hinaus, weil dieser dies nur naturwissenschaftlicher Erkenntnis zusprach, während Cassirer darauf insistiert, dass sich Kausalität in unterschiedlichen Modalitäten ausdrücken kann. Eine symbolische Form muss (2) kohärent sein, indem sie sich als pluralitätsfähig erweist und Integrationskraft hat. Sollte in einem Deutungshorizont ein ‚neues‘ sinnliches Zeichen auftreten, welches durch den Deutungshorizont nicht mit einer ‚geistigen Bedeutung‘ in Verbindung gebracht werden kann, zeigt sich der Deutungshorizont in diesem Punkt als unzureichend. Dieses Kriterium ist eng mit der Selbsterkenntnis der eigenen epistemischen Bedingtheit verbunden. Denn Deutungshorizonte erweisen sich als spezifische Betrachtungen der Welt, die entsprechend ihrer eigenen Bedingtheit in ihrer Urteilsfähigkeit über andere Deutungshorizonte selbst begrenzt sind. Ein naturwissenschaftlicher Deutungshorizont kann z. B. den Sterbeprozess erläutern, er kann aber keine Antworten auf die Frage nach einem Leben nach dem Tod bieten oder beurteilen – einerseits, weil er diese Frage nicht stellt, und andererseits, weil es religiösen Deutungshorizonten obliegt, Antworten auf diese Frage zu finden. Diese beiden Kriterien beurteilen die Angemessenheit eines Deutungshorizonts, ‚objektiv‘ die Welt zu erfassen, darin, inwiefern es ihm gelingt, eine konsistente und kohärente Orientierung in der Welt zu bieten. Schließlich ist es noch möglich, aus Cassirers Denken ein weiteres Kriterium abzuleiten, welches von ihm derart nicht konkret benannt wurde: die Verantwortbarkeit und gesellschaftliche Tragfähigkeit eines Deutungshorizonts. Das dritte Kriterium ist damit ein ethisches Kriterium (3). Im Anschluss an Kants Kritik der praktischen Vernunft wird die Gewährung und Bewahrung von Autonomiefreiheit zum entscheidenden Punkt für die ethische Vertretbarkeit eines Deutungshorizonts. Mein Bestreben, meine Freiheit von anderen anerkennen zu lassen, muss zum Bestreben führen, andere Freiheit ebenfalls anzuerkennen. Andernfalls würde man sich selbst in haltlose Widersprüche verstricken. Das Wissen um die eigene epistemische Bedingtheit meines von mir gewählten Deutungshorizonts
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wird derart zur ethischen Aufforderung, die pluralen Deutungshorizonte als solche anzuerkennen.
Theologischer Ertrag Theologisch knüpft hier exemplarisch Michael Bongardt (* 1959) an und weist die Kulturphilosophie Cassirers als möglichen Entwurf für den interreligiösen Dialog auf. Den Menschen als denjenigen zu verstehen, der in einem freiheitlichen Vollzug Bedeutung in die Welt bringt und dadurch schon immer von Bedeutung, von Kultur umgeben ist, ist ebenso für die theologische Anthropologie als auch für ein transzendental-theologisches Denken resonanzfähig. Denn Cassirer zeigt die Begrenztheit des Verstehens und Deutens als endliche Dimension des menschlichen Daseins auf und weist sie als transzendentalen Grund eines jeden Freiheitsvollzugs auf. Folglich erweist sich Religion als eine mögliche Selbst- und Weltdeutung neben anderen. Ihr Spezifikum entspringt einem religiös bedingten Deutungs- und Orientierungsangebot, welches im Rahmen ihrer sinnstiftenden Weltdeutung Handlungsoptionen bzw. Handlungspraxen anbietet. Religion lässt sich hierdurch als praktische Metaphysik begreifen, die sich in einer Lebenspraxis manifestiert. Cassirers symboltheoretischer Ansatz, den Menschen als das Wesen zu verstehen, das Bedeutung bringt und den zugrunde liegenden Prozess der Kulturformung nach ihren transzendentalen Bedingungen zu hinterfragen, erweist sich auch für ein theologisches Denken als äußerst anschlussfähig. Michael Bongardt, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg 2000. (Ausführliche Auseinandersetzung mit Cassirers Kulturphilosophie im Anschluss an die Transzendentalphilosophie. Es wird aufgezeigt, wie es mit Cassirers Ansatz möglich ist, eine pluralismusfähige und zugleich relativismuskritische Position zu denken.)
Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929, Stuttgart 2018. (Spannende Reise in die ����er-Jahre und damit in die Zeit von Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger.)
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John Michael Krois, Cassirer. Symbolic Form and History, New Haven – London 1987. (Dieser Klassiker initiierte die philosophische Wiederentdeckung von Ernst Cassirers Denken.)
Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004. (Die Arbeit unternimmt den Versuch, Cassirers ungeschriebenem ethischem Ansatz nachzugehen, und zeigt die Bezüge zu Kants Ethik der Autonomie auf.)
Birgit Recki, Cassirer, Stuttgart 2013. (Ein Standardwerk innerhalb der einführenden Gesamtdarstellungen. Neben einer biografischen Verortung wird eine systematische Auseinandersetzung mit Cassirers Denken vorgenommen.)
Endlichkeit und die Frage nach dem Sinn des Seins
Martin Heidegger Thomas P. Fößel
Einer direkten und unkritischen Rezeption der heideggerschen Philosophie ist im gegenwärtigen theologischen Diskurs mit allergrößter Skepsis zu begegnen. Gründe für dieses Urteil sind seine nationalsozialistische Verstrickung – Martin Heidegger (1889–1976) tritt am 1. Mai 1933 als Rektor der Universität Freiburg ostentativ in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ein und bleibt ihr Mitglied bis zum Kriegsende –, seine gedankliche Nähe zur Ideologie des Faschismus und seine antisemitische Grundhaltung (‚Schwarze Hefte‘). Dabei ist davon auszugehen, dass die mit Faschismus und Antisemitismus eng verbundene, antimoderne und antidemokratische, technikfeindliche Grundintuition Martin Heideggers inhaltlich und methodisch nicht davon zu trennen ist, wie er seine philosophische Grundfrage konkret bearbeitet. Diese Grundfrage aber ist die Frage nach dem Sinn des Seins bzw. die Frage nach der Wahrheit des Seins. Gerade angesichts dieser problematischen Ausgangslage aber ist eine gleichermaßen kritische wie selbstkritische Auseinandersetzungen mit Heideggers Gedankenwelt im theologischen Diskurs aus unterschiedlichen Gründen unerlässlich. Heideggers Philosophie hat direkt oder indirekt großen Einfluss auf den philosophischen und kulturellen Diskurs der Spätmoderne genommen, in dem sich eben auch die gegenwärtige Theologie befindet. Dies gilt für durchaus sehr unterschiedliche Strömungen wie u. a. der Hermeneutik im Gefolge von Hans-Georg Gadamer, der
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postmodernen Philosophie Jacques Derridas und Michel Foucaults, des Existentialismus Jean-Paul Sartres, aber auch der Systemtheorie Niklas Luhmanns und der Frankfurter Schule bis hin zu Jürgen Habermas. Dabei ist zu sehen, dass die von Heidegger ausgehenden Impulse (sieht man von der Rezeption seines Hauptwerkes Sein und Zeit einmal ab) eher formalphilosophischer (methodischer) als materialphilosophischer (inhaltlicher) Natur sind. Dies gilt insbesondere auch für die Rezeption innerhalb der katholischen Theologie. Auch wenn die Phase einer unmittelbaren Heideggerrezeption im theologischen Diskurs spätestens in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts offensichtlich ein Ende gefunden hat, so bleibt sein – aus den oben genannten Gründen zu problematisierender – Einfluss auf die Theologie bis heute wirksam. Dies gilt gleichermaßen für die protestantische Theologie (Dialektische Theologie, kritische Rezeption durch Barth), die existenziale Interpretation (Rudolf Bultmann), die hermeneutische Theologie (Ernst Fuchs, Gerhard Ebeling), die heilsgeschichtliche Theologie (Wolfhart Pannenberg u. a.) wie für die katholische Theologie. In dieser zeigt sich der Einfluss u. a. in Überlegungen zur Religionsphilosophie und Religionsphänomenologie (Bernhard Welte, Johann Baptist Lotz, Klaus Hemmerle), vor allem aber in Karl Rahners früher Konzeption einer transzendentaltheologischen Glaubensverantwortung (Geist in Welt, Hörer des Wortes) und seiner theologischen, heilsgeschichtlich orientieren Daseins- bzw. Offenbarungsanalyse (‚übernatürliches Existential‘, Theologie des Todes). Charakteristisch für die katholische Rezeption ist allerdings, dass sie sich fast ausschließlich auf die Existentialanalyse von Sein und Zeit bezieht und deren Ergebnisse gegen Heideggers Intention einer theologischen Relecture unterzieht. Die Notwendigkeit, Heideggers Gedankenwelt aus theologischer Perspektive ideologiekritisch zu reflektieren, ergibt sich schließlich aus dem Werk selbst. Denn dieses weist in all seinen Phasen eine christlich-theologische bzw. mythisch-religiöse Grundierung auf, die leicht eine gefährliche Grundlage für kulturpessimistische und misanthropische Ideologien bieten kann. Diese Gefahr ist gerade deswegen gegeben, weil Heideggers neuheidnische, ‚auf dem Nullpunkt der Säkularisierung‘ (Habermas) stehende Gedanken- und Sprachwelt gerade von ihrer katholischen Herkunft her eine hohe Suggestionskraft für arationale bzw. anti-rationale, pseudoreligiöse Weltdeutungen entwickelt.
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Da die Frage nach der ‚Einheitlichkeit‘ des heideggerschen Werkes (verbunden mit dem sehr deutungsoffenen Begriff der ‚Kehre‘) nach wie vor kontrovers beantwortet wird, empfiehlt sich bei dessen Darstellung ein chronologisches Vorgehen. Martin Heidegger wächst in einem kleinbürgerlichen katholischen Milieu auf und beginnt seine akademische Laufbahn als Priesteramtskandidat mit dem Studium der Katholischen Theologie. Er bricht dieses Studium ab und schließt seine akademische Ausbildung in der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät ab. Als Privatdozent wird er Assistent bei dem bedeutenden Phänomenologen Edmund Husserl, dessen Lehrstuhl er übernimmt. Zwischenzeitlich kommt es zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann. Diese frühen werkbiographischen Hinweise sind für das Verständnis der heideggerschen Gedankenwelt wichtig, weil sich schon in ihnen die unterschiedlichen theologischen und philosophischen Quellen und Motivlagen finden lassen, aus denen sie sich zeitlebens speist: nämlich die Frage nach dem Sein jeweils und gleichzeitig in ontologischer, theologischer, metaphysischer, hermeneutischer und phänomenologischer Perspektive. Dieses Denken erschließt sich allerdings nur, wenn man sich zunächst auf dieses selbst einlässt. Das heißt: Man muss das heideggersche Seins-Denken begreifen als einen existentiellen, handlungsbezogenen Vollzug des menschlichen Daseins selbst, der unausweichlich (existential) ein zeitlich-prozesshafter ist. Für diesen geschichtlichen Denk-Vollzug ist wiederum kennzeichnend, dass in diesem das von ihm zu bedenkende Sein als ein unausweichlicher (deswegen transzendentaler und gleichzeitig transzendenter) Verstehenshorizont für den Denkvollzug selbst vorausgesetzt wird. Entsprechend waltet zwischen Denken (bzw. Philosophieren) und Sein eine unauflösliche dynamische Spannungseinheit von Nähe und Ferne, die denkerisch weder umfassend aufgelöst, noch sprachlich vollständig ausgedrückt werden kann. Genau dieses ‚sich im und als Sein vollziehende Seins-Denken‘ entwickelt Heidegger von Anfang an aber in dezidiert kritischer Distanz zu den bereits genannten Dimensionen der Philosophie und Theologie: der ontologischen, der metaphysisch-onto-theologischen, der metaphysisch-transzendentalphilosophischen und der hermeneutischen. Charakteristisch hierbei ist, dass diese unterschiedlichen Versuche des Seins-Denkens jeweils der Kritik einer phänomeno-
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logischen, d. h. wirklichkeitsbezogenen Betrachtung unterzogen werden, die alles (!) bisherige theologische oder philosophische Seins-Denken als defizitär und falsch ‚entlarvt‘. Dies ist nach Heidegger der Fall, weil in all diesen Denkbemühungen übersehen bzw. ‚vergessen‘ wurde, dass das faktische Dasein in seinem existentialen Bezug zum Sein dem in der Philosophie bedachten ‚Dasein‘ und ‚Sein‘ gegenüber sowohl ursprünglicher als auch umfassender ist. In Konsequenz dieser ‚Seinsvergessenheit‘ aber wurde – so Heidegger – die Struktur des Seins falsch gesehen und deswegen auch der Sinn des Seins in der gesamten menschlichen Geistesgeschichte verfehlt. Nur wenn man dieser Logik folgt, ist auch Heideggers ‚Gegenentwurf ‘ nachzuvollziehen: Wenn das Sein immer ursprünglicher und in dieser seiner bleibenden Transzendenz immer umfassender als das bedachte bzw. philosophierte ‚Sein‘ ist, dann kann ich die gerade in dieser Erkenntnis sich artikulierende Frage nach dem ‚Sinn des Seins‘ nur beantworten, wenn ich mich diesem Ursprung neu und radikal anders zuwende als es bislang geschehen ist. Dazu ist es notwendig, sich das bisherige, defizitäre ‚Seinsdenken‘ zunächst anzueignen, um es auf diese Weise gänzlich zu überwinden und in einem letzten Schritt zu zerstören. Mit anderen Worten: Der Sinn von Sein lässt sich nur auf dem Weg einer Destruktion gewinnen, in der vor allem die der faktischen Seinswirklichkeit gegenüber nachträgliche und falsche Subjekt-Objekt-Differenz der Transzendentalphilosophie nach Descartes und Kant überwunden wird. Positiver Inhalt dieser negativen Destruktion ist der Aufweis einer sogenannten ‚ontologischen Differenz‘, die zwischen dem ontischen Sein und dem einzelnen, ontologischem Seienden waltet und gerade so das eine Sein mit dem jeweils einzelnen Seienden in bleibender Differenzeinheit verbindet. Hinter der Rede von der ‚ontologischen Differenz‘ steckt ein schwerwiegendes erkenntnistheoretisches Problem jeder ontologisch bzw. metaphysisch konzipierten Philosophie: Einerseits nämlich kann ich von einem einzelnen Erkenntnisgegenstand (einem Seienden) nicht sprechen, ohne gleichzeitig von einem umfassenden Sein zu sprechen, das gewissermaßen alle einzelnen Seienden miteinander verbindet und gleichzeitig voneinander unterscheidet. Andererseits kann ich dieses ‚umfassende Sein‘ aber wiederum nicht wie ein einzelnes Seiendes betrachten. Denn sobald ich das tue, stellt sich ja wieder die Frage nach einem umfassenderen Sein und so fort. Genau diese Differenz zwischen dem Sein und Sei-
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enden aber, die immer gegeben, aber nicht vollständig ausgesagt werden kann, wurde – so Heidegger – in der philosophischen Tradition schlicht übersehen bzw. ‚vergessen‘. Der Vorwurf der ‚Seinsvergessenheit‘ an die gesamte abendländische Metaphysik (und Theologie) lautet dann aber, dass sie im Bedenken des Seins, dieses Sein nicht als ein je ursprünglicheres, transzendentes Sein, sondern immer schon als etwas Seiendes aufgefasst und somit falschen Kategorien unterworfen hat. Durch diese Ausblendung der ‚ontologischen Differenz‘ zwischen dem Sein und Seiendem aber wurde – so Heidegger – der ‚Sinn des Seins‘ immer schon in fundamentaler Weise verfehlt, weil die Strukturen des Seins von vornherein falsch bestimmt wurden. Dieser fundamentalen Kritik entsprechend bedarf es daher einem radikal neuen Seins-Denken und somit einer neuen Fundamental-Ontologie, die Heidegger mit seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) nach zehnjähriger Publikationspause vorlegt. Als Ausgangspunkt seiner ‚existentialen Analytik‘ wählt er im bewussten Gegensatz zum seiner Meinung nach zeit- und ortlosen ‚Subjekt‘ der Transzendentalphilosophie das menschliche Dasein in seiner faktischen, noch vorphilosophischen alltäglichen Existenz. Sodann bestimmt er sukzessive die Existentialien (Strukturen) dieses ausgezeichneten Daseins, das sein Leben im Gegensatz zu allen anderen Seienden aus der ‚ontologischen Differenz‘ heraus lebt und von daher den Sinn des Seins bedenken kann: Menschliches Dasein vollzieht sich zunächst grundlegend als ein ‚In-der-Welt-sein‘, worin es sich im Horizont des Seins um sich, seine nichtpersonale Umwelt (Ding) und seine personale Mitwelt (Mensch) sorgt. Diese Sorge, die allerdings nicht als ein sich bekümmerndes Sorgen, sondern vielmehr als ein tätiges Be-Sorgen des Alltags verstanden wird, ereignet sich keineswegs nur in der Zeit, sondern hat vielmehr selbst einen existential zeitlichen Charakter. Denn das einzelne Dasein in seiner jeweiligen ‚Jemeinigkeit‘ ek-sistiert immer als etwas aus der Vergangenheit Gewordenes, das sich in der Gegenwart auf die Zukunft hin entwirft. Somit wird die je aktuelle Sorge (als die operative, prozessuale Existenz des Daseins im Horizont des Seins) immer von allen drei Zeitdimensionen gleichzeitig bestimmt: dem Gewesenen, das für ein Heute wirksam bleibt, für das die Zukunft gleichzeitig absolut bestimmend ist. Diesen praktischen Lebens-Vollzug des Besorgens, der die faktische Geworfenheit (Sein-Müssen) des Daseins nie hinter
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sich lassen kann, bezeichnet Heidegger mit Blick auf das von der Zukunft her Zu-Kommende als existentialen Entwurf-Charakter des Sein-Könnens. Da es aber außerhalb des ‚In-der-Welt-seins‘ im radikalen Sinne nichts (auch keinen Gott!) gibt, ist dieses Sein-Können des Daseins radikal in die Immanenz seines zeitlichen, faktischen Lebens gestellt und darin vor die Wahl zwischen der Eigentlichkeit der Zeitlichkeit und uneigentlicher Verfallenheit in das jeweils gegenwärtige ‚Man‘ gestellt. Diese Immanenz, die freilich keinen theologischen Ort im Denken bzw. im ‚Sein‘ mehr zulassen kann, da dieser das Projekt einer Fundamentalontologie vollständig sprengen würde, hat ihrerseits einen individuell zeitlich-existentialen und gleichzeitig einen kollektiv geschichtlich-existentialen Charakter, der sich existentiell auszeitigt als ein ‚Sein zum Tode‘. Dieses durchaus ängstliche Vorlaufen auf den Tod (Grundbefindlichkeit der Angst) und damit die Zeit bzw. Zeitlichkeit des Daseins selbst schließlich eröffnet dem Dasein ‚seinen‘ Sinn und darin zugleich den Sinn des Seins. Dieser Sinn besteht in der Möglichkeit zu einem der Zeitlichkeit des Daseins entsprechenden (‚eigentlichen‘) Selbstvollzug: nämlich die Existenz bzw. das Existieren eines vom Tod her entschlossenen Daseins, das sich um sein Sein und so um das Sein selbst sorgt. Schon in seiner Antrittsvorlesung ‚Was ist Metaphysik?‘ (1929) auf dem Freiburger Philosophielehrstuhl deutet sich aber eine signifikante Veränderung des heideggerschen Denkens an. Dieses charakterisiert er selbst im Jahr 1946 mit dem schillernden Begriff der ‚Kehre‘ (Brief über den Humanismus). Bei dieser ‚Kehre‘ handelt es sich gleichwohl nicht um eine fundamentale Abkehr vom Seins-Denken, sondern um dessen Radikalisierung in Form einer Selbstinterpretation des bisherigen Denkvollzugs. Kennzeichnend für diese ‚Kehre‘ ist, dass der Fokus der Seinsanalyse vom menschlichen Dasein weg auf das Sein selbst gelenkt wird (statt von ‚Sein und Zeit‘ spricht Heidegger nunmehr von ‚Zeit und Sein‘). Während in Sein und Zeit – darin tatsächlich noch in transzendentalphilosophischer bzw. phänomenologischer Tradition stehend – das Dasein als erkenntnistheoretischer Ort der Freilegung des ‚Sinn des Seins‘ bestimmt wurde, verschiebt Heidegger diesen Ort nunmehr in das Sein selbst, das von sich her die Frage nach der ‚Wahrheit des Seins‘ im Denken hervorruft. In diesem radikalisierten Seinsdenken versteht Heidegger Wahrheit als Unverborgenheit und von daher als
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einen prozesshaften Selbstvollzug des Seins (und eben nicht des Daseins!) selbst. Auch wenn es das Sein selbst ist, das sich von sich her etwa in der Kunst oder der Sprache entbirgt oder verbirgt, bleibt doch der Mensch als ‚Offenheit‘ und ‚Lichtung‘ Ort bzw. Ereignis dieses Wahrheitsgeschehens. Dieses versteht Heidegger aber im Gegensatz zu Sein und Zeit nicht mehr vom Menschen her als Sinngeschehen eines sich um das Sein sorgenden Daseins, sondern radikal als (Wahrheits-) Ereignis des Seins selbst. In der Konsequenz spricht Heidegger deswegen auch nicht mehr vom Menschen aus gesehen von der ‚Seinsvergessenheit‘ des Daseins, sondern vom sich verbergenden Sein aus gesehen von der Seinsverlassenheit des Menschen. Dieser erscheint somit keineswegs mehr wie in der metaphysischen Tradition als ‚Herr des Seins‘, sondern lediglich als ‚Hirte des Seins‘, das sich im Ereignis (und nicht im menschlichen Dasein) zeigt oder eben verbirgt. Als ‚Hirte des Seins‘ versteht der Mensch allerdings die ‚Sprache als Haus des Seins‘ und kann so die ‚Wahrheit des Seins‘ fragmentarisch in Kunst und Dichtung entdecken. Er tut dies, indem er als Sterblicher im zentrumslosen Raum des sogenannten „Gevierts“, der sich „weltenden Welt“ (Der Hinweis, HGA 79, 20) zeitlich und zeitweilig wohnt: in seiner zeitlichen Endlichkeit ausgespannt zwischen Göttlichen und Sterblichen, zwischen Himmel und Erde. Nachvollziehbar sind diese eher dichterischen Überlegungen freilich nur, wenn man (wozu es keinen philosophisch zwingenden Grund gibt) bereit ist, sich auf die Hermetik der heideggerschen Gedankenwelt einzulassen, die sich insbesondere auf individualisierte und privilegierte Erkenntnisquellen beruft. Unabhängig davon aber wird deutlich, dass dieser aus dem Seinsdenken entwickelte Wahrheitsbegriff sich deutlich sowohl gegen einen idealistischen, als auch gegen einen modernen Wahrheitsbegriff abgrenzt. Ersterer nämlich hat Heideggers Ansicht nach durch die falsche Subjekt-Objekt Unterscheidung zu einer Entfremdung der Technik gegenüber dem im ‚Geviert‘ wohnenden Menschen geführt und so seine ‚Seinsverlassenheit‘ befördert. Zweiterer leidet daran, dass Heidegger den demokratischen Diskurs angesichts des sich selbst entbergenden bzw. verbergenden Seins nicht als Ort der Wahrheitsfindung akzeptieren kann. Dies gilt schließlich auch gegenüber jedem theologischen Wahrheitsbegriff, weil Heidegger trotz seiner zuweilen mythologisch-esoterischen Formulierungen („Das Seyn ist die Erzitterung des Götterns“ [Beiträge zur Philosophie, HGA 65, 239]) das Sein
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streng atheistisch und ohne jede Form von Kausalität (Schöpfungsgedanke) und Personalität (Offenbarungsgedanke) konzipiert. Weil theologische Aussagen aber auf Offenbarungsaussagen beruhen, spricht Heidegger ihr in Konsequenz auch jeden Wissenschaftscharakter ab. Die große Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Philosophie, Sprach- und Gedankenwelt Martin Heideggers in der spätbzw. postmodernen Geisteswelt ist gleichermaßen unbestreitbar wie umstritten. So ist sein Werk insbesondere nach Sein und Zeit dem Verdacht ausgesetzt, durchaus keine Philosophie (mehr) zu sein, weil es sich der Möglichkeit einer rationalen Verifikation- bzw. Falsifikation entzieht und damit zugleich jeder ethischen Beurteilung. Letzteres wiegt umso schwerer, weil bei Heidegger die Verhältnisbestimmung von Individuum und Sozialität im gesamten Werk unterbestimmt bleibt, woraus sich letztlich dann die Affinität zum Faschismus und Antisemitismus ableitet. Die Grundlage für diese Kritik bildet einerseits Heideggers eigentümlicher, äußerst origineller und gerade deswegen ideologieanfälliger Umgang mit der deutschen (!) Sprache und die darauf aufbauenden, sehr eigenwilligen Interpretationen von Texten bzw. kultureller und technischer Objektivationen mit klar antidemokratischer und antimoderner Tendenz. Aufgabe des gegenwärtigen theologischen Diskurses ist es von daher, ideologiekritisch zu prüfen, ob und ggf. wo diese Grundtendenzen über die theologische Heideggerrezeption in der Theologie selbst wirksam geworden sind. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Frage nach einem offenen oder aber auch latenten Antisemitismus. Oliver Jahrhaus, Martin Heidegger. Eine Einführung, Stuttgart 2004 (Reclams Universal-Bibliothek 18279). (Preiswerte, gut lesbare Einführung auch in die Rezeptionsgeschichte.)
Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963. (Zeitgenössische Einführung vor allem in das Frühwerk, die für die HeideggerRezeption in der katholischen Theologie sehr wirksam geworden ist.)
Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einführung, München 1989 (Piper 1057). (Immer noch lesenswerte, kritische Einführung in das Gesamtwerk aus theologischer Perspektive.)
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Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2005. (Umfassendes Wissenskompendium zu Werk, Biografie und Rezeption aus unterschiedlichen Perspektiven; Standardwerk.)
Peter Trawny, Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016 (Klostermann Rote Reihe 82). (Aktuelle, differenziert kritische Einführung nach Erscheinen der ‚Schwarzen Hefte‘.)
Richard Wolin, Heideggers ‚Schwarze Hefte‘. Nationalsozialismus, Weltjudentum und Seinsgeschichte, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 63 (2015) 379–410. (Differenzierte und äußerst kritische Auseinandersetzung mit dem Seinsdenken Heideggers; Pflichtlektüre.)
Der religiöse Denker als Seiltänzer
Ludwig Wittgenstein Klaus von Stosch
Einführung Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) wird vor allem aus drei Gründen in der gegenwärtigen Theologie rezipiert. Zunächst einmal bietet seine Religionsphilosophie interessante Impulse, um besser zu verstehen, wie religiöse Überzeugungen strukturiert sind. Dann ist es so, dass Wittgensteins Einsichten in das Funktionieren religiöser Sprachspiele für die Frage einer Verantwortung des Glaubens vor der Vernunft von großer Relevanz sind. Schließlich wird seine Philosophie verwendet, um eine differenzorientierte Theologie der Religionen stark zu machen oder komparative Denkbewegungen in der Theologie zu stärken. Wittgensteins Denken dient also im Gespräch der Religionen dazu, nach Wegen einer produktiven Bearbeitung von Dissensen zu suchen. Ich will diese drei Punkte nun näher entfalten, indem ich Wittgensteins philosophischen Ansatz vorstelle.
Wittgensteins philosophisches Programm Wittgenstein will in seiner Philosophie zunächst einmal einfach nur die Wirklichkeit beschreiben, wie sie ist. Er wehrt sich gegen metaphysische Systeme, die uns zu nicht nachprüfbaren Behauptungen veranlassen und die uns in seiner Wahrnehmung von dem wirklichen Leben fernhalten. Überhaupt ist er der Ansicht, dass die Philosophie vor ihm vor allem für Verwirrung gesorgt und mehr Denkkrankheiten hervorgebracht hat als wirklich hilfreiche Einsichten.
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Diese Verwirrungen und Denkkrankheiten will er heilen und für Klarheit im Denken sorgen. Wo diese Klarheit nicht zu erreichen ist, empfiehlt er, einfach gar nichts zu sagen. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (Wittgenstein, TLP, 7) – so lautet sein viel zitierter Schlusssatz in seinem Frühwerk, dem Tractatus logico-philosophicus. Da er selbst meinte, in diesem Frühwerk alle philosophischen Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben, zog er sich erst einmal aus der Philosophie zurück, um in Dorfschulen in Niederösterreich Kindern das Evangelium zu verkünden und sie in Mathematik fit zu machen. Leider hat er die meisten Kinder mit seiner großen, von Leo Tolstoi (1828–1910) inspirierten religiösen Inbrunst ebenso überfordert wie mit seiner an Gottlob Frege (1848–1925) und Bertrand Russell (1872–1970) geschulten Mathematik. Von daher kehrte er schon bald wieder zur Philosophie zurück, auch weil er mit seiner eigenen früheren Philosophie nicht mehr zufrieden war. So entwickelte er ab 1929 eine neue Form von Philosophie, die wie kaum eine andere das Denken des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat. Sie ist genauso wie seine Frühphilosophie zutiefst von dem Ziel beseelt, Götzen zu zerstören und für die richtige Haltung zum Leben zu werben. Wie nun kann man nach Wittgenstein Klarheit und Übersicht in dieser Welt gewinnen? Wie sollten philosophische Untersuchungen sich vollziehen? Sie sollten zuerst einmal beschreiben, was sie sehen. „Denk nicht, sondern schau!“ – lautet sein Motto (vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (= PU), 66). Und nach Wittgenstein lässt sich sehr deutlich sehen, dass menschliches Denken nicht ohne Einbettung in sprachliche Strukturen verstanden werden kann. Zumindest kann man nicht ohne Sprache vom Denken sprechen und über es nachdenken. Er radikalisiert somit die kopernikanische Wende Immanuel Kants (1724–1804), indem er nicht nur festhält, dass es keine subjektunabhängige Erkenntnis gibt. Zudem macht er darauf aufmerksam, dass sich jedes Subjekt immer schon in konkreten semantisch codierten Orientierungssystemen vorfindet und entwickelt. Deshalb interessiert er sich dafür, wie solche semantischen Codierungen funktionieren und wie Sprache uns hilft, Wirklichkeit zu verstehen. Dabei stellt er fest, dass sich unser Sprechen in Sprachspielen vollzieht. Der Begriff des Sprachspiels will unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, wie sehr und in wie vielfältiger Weise Sprache mit
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Tätigkeiten verwoben ist und wie sehr in ihr menschliche Kreativität zur Entfaltung kommt (vgl. Wittgenstein, PU, 7, 23). Sprachspiele (und damit menschliches Denken und die Wirklichkeit insgesamt) können demzufolge nur verstanden werden, wenn man sieht, in welchen Zusammenhang von Tätigkeiten sie hineingehören, ja, dass sie dieses Ineinander von Sprechen und Tätigkeit selber sind. Nur bezogen auf bestimmte Sprachspiele ist es also möglich, die Bedeutung von Worten zu klären und Wesentliches und Unwesentliches voneinander zu scheiden. Generell hält Wittgenstein es für illegitim, von einer bestimmten Sprache bzw. einem bestimmten Sprachspiel aus alle anderen einordnen und analysieren zu wollen. Vielmehr kommt alles darauf an, die Eigenlogik von Sprachspielen und ihre Verortung in der jeweiligen Praxis und Lebensform zu beachten.
Autonomie der Sprachspiele? In der Wittgensteinrezeption ist dieses Beharren auf der Autonomie der Sprachspiele oft als Relativismus kritisiert worden. Wenn etwa Religion als Sprachspiel angesehen wird, hätte seine These zur Folge, dass die verschiedenen Religionen einfach nebeneinanderstehen, ohne dass es zu einem sinnvollen Diskurs oder einem Ringen um die Wahrheitsfrage kommen könnte. Wittgenstein behauptet aber nirgends, dass Religionen als Sprachspiele oder Lebensformen angesehen werden können. Er will auch nicht sagen, dass sprachspielübergreifendes Verstehen unmöglich ist. Er will nur zeigen, wie schwierig dieses Verstehen ist und wie wichtig es ist, bei solchen Verstehensversuchen jeweils die Eigenlogik und Praxisbezogenheit der Sprachspiele zu bedenken. Der Eigenlogik von Sprachspielen kann man dadurch nachgehen, dass man die Regeln zu dechiffrieren versucht, die in ihnen wirksam sind. Denn Sprachspiele sind wie andere Spiele auch immer regelgeleitet. Allerdings sind uns diese Regeln oft nicht bewusst, sodass sie nur an unserer Praxis sichtbar werden. Die Regeln, die wir in vielen verschiedenen Sprachspielen jeweils in ihrer Weise befolgen und die dabei unsere eingefleischten Handlungsweisen bestimmen, bezeichnet Wittgenstein als grammatische Sätze. Sie konstituieren unser Weltbild und zeigen, woran sich ein Mensch orientiert. Wie gesagt dürfen sie nicht von der jeweiligen Lebenspraxis des Men-
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schen gelöst werden, sondern können nur durch sie und in ihr erschlossen werden. Gerade in seiner letzten Lebensphase beschäftigt sich Wittgenstein sehr intensiv mit diesen grammatischen Sätzen, die all unserem Denken und Tun zugrunde liegen und die unsere menschliche Identität konstituieren. Es handelt sich dabei um Sätze, die jedem Begründungsversuch bereits voraus- und zugrunde liegen, weil ihre ernsthafte Bezweiflung pragmatisch unmöglich ist. Als Beispiele nennt Wittgenstein Sätze wie ‚Die Erde hat bereits vor meiner Geburt existiert‘ oder ‚Dies ist eine Hand‘ beim Zeigen auf die eigene Hand. Natürlich kann es Konstellationen geben, in denen mir auch solche Gewissheiten fraglich werden. Aber solange wir als Menschen normal funktionieren, werden wir hier keine ernsthaften Zweifel hegen. Jedenfalls wird es schwierig sein, noch an irgendetwas zu glauben, wenn man bezweifelt, dass meine Hand eine Hand ist. Wittgenstein kommt es darauf an, dass die Gewissheit an dieser Stelle zuallererst praktisch konstituiert ist. Ich tippe mit meiner Hand diesen Text, ich lenke mein Fahrrad, ich begrüße Menschen, ich kratze mich mit ihr etc. In all diesen Handlungen setze ich, dass es diese Hand gibt und ich mit ihr handeln kann. Ich erhandle mir die Gewissheit ihrer Existenz also, sie wird nicht theoretisch sichergestellt. „Im Anfang war die Tat“, wie Wittgenstein mit Goethe sagt (vgl. Wittgenstein, ÜG, 402). Postliberale Theologen haben versucht, Wittgensteins Analysen zu nutzen, um auch religiöse Gewissheiten mit der Dignität grammatischer Sätze auszustatten und damit jeden Zweifel an ihnen für praktisch irrelevant zu erklären. Sie würden dann sagen, dass tiefreligiöse Menschen so sehr aus ihrem Glauben leben, dass für sie ein Zweifel an der Existenz Gottes genauso durch die eigene Lebenspraxis ausgeschlossen ist wie die Tatsache, dass ich auf eine Hand zeige, wenn ich auf meine Hand zeige. Dabei übersehen sie allerdings, dass Referenzen auf etwas Unbedingtes niemals zweifelsfrei durch Praxis hergestellt werden können. Von daher ist ihr Vorhaben apologetisch unbrauchbar. Nichtsdestotrotz ist es richtig und auch von Wittgenstein erkannt worden, dass religiöse Überzeugungen wie alle menschlichen Ideen in Sprachspielen artikuliert werden und nur in ihnen verstanden werden können. Ebenso zutreffend ist, dass religiöse Menschen Glaubenssätze oft auch als Regeln von Sprachspielen verwenden. Sie
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sind also nicht nur an Praxis ablesbar, sondern haben auch für Praxis normative Bedeutung. Ihre Bedeutung lässt sich in jedem Fall erst durch den Blick auf menschliche Praxis und Sprachspielzusammenhänge erheben.
Inspirationen für Glaubensverantwortung und Religionstheologie Diese Einsicht ist nun sowohl für die Glaubensverantwortung als auch für den interreligiösen Dialog ausgesprochen bedeutsam. Die Wahrheit der Aussage, dass beispielsweise Christus der Herr ist, lässt sich nicht sprachspiel- und praxisunabhängig untersuchen, weil ihre Bedeutung nicht ohne diesen Bezug feststeht. So würde ich beispielsweise wie viele andere Christen denken, dass das Herrsein Christi bedeutet, dass man anderen Menschen dienen soll und dass Christi Herrschaft gerade im Dienst besteht. Wenn etwa ein Kreuzritter dagegen den Schlachtruf ‚Christus ist der Herr‘ ausruft, bevor er dem vermeintlich Ungläubigen den Schädel einschlägt, wird deutlich, dass er diesen Satz ganz anders versteht als ich. Seine andere Interpretation zeigt sich in seiner Praxis und wahrscheinlich wird er auch andere theologische Theorien als ich verwenden. Aber dennoch unterschreibt er denselben Glaubenssatz. Auch im Islam ist es derzeit so, dass manche fundamentalistischen Auslegungen von Koranversen dazu verwendet werden, um die Tötung von Andersgläubigen zu legitimieren. Wittgenstein kann hier helfen, zu unterscheiden, wie diese Verse ursprünglich im Koran funktionieren und welche neuen Funktionen und Bedeutungen sie in den verschiedenen Sprachspielen von fundamentalistischen und nichtfundamentalistischen Muslimen bekommen. Im interreligiösen Dialog kommt also alles darauf an, nicht mit Worten zu fuchteln, sondern zu schauen, welche Praxis jeweils in den Worten erhandelt wird. Wittgensteins Denken kann hier zu Differenzierungsleistungen befähigen, stellt aber auch Mittel bereit, Unterschiede zu würdigen oder zumindest auszuhalten. Denn wenn ich fremde Glaubenssätze in ihrer regulativen Kraft würdige, kann ich zu einer Wertschätzung von Andersheit kommen, die zugleich die Verbindlichkeit der eigenen befolgten Regeln nicht infrage stellt. Regeln sind nämlich wahrheitsneutral, und ihre Kraft zeigt sich in der
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jeweiligen Praxis der unterschiedlichen Sprachspiele. Deshalb kann ich ihre Stärke anerkennen und doch zugleich über semantische Inhalte streiten und um die Wahrheit ringen. Dafür muss aber die regulative Ebene verlassen und der Grund eines konkreten Sprachspiels betreten werden. Das bedeutet, dass die Ergebnisse dieses Ringens um die Wahrheit niemals definitiv und endgültig sein werden und immer neu in neue Sprachspiele übersetzt werden müssen. Ihre hermeneutische Vorläufigkeit ändert aber nichts an ihrer Wahrheitsfähigkeit, sodass Wittgensteins Denken durchaus auch für eine Verantwortung des Glaubens vor der Vernunft verwendet werden kann. Es kommt dann nur darauf an, den eigenen Glauben in allen Lebensformen und Sprachspielen artikulieren zu lernen bzw. mit der Glaubenspraxis in allen Zusammenhängen des Lebens glaubwürdig präsent zu werden. Gorazd Andrejč, Wittgenstein and Interreligious Disagreement. A Philosophical and Theological Perspective, Basingstoke 2016. (Sehr gelungene Übersicht zur theologischen Wittgensteinrezeption aus Sicht einer liberalen evangelischen Theologie mit Aufweis der Relevanz Wittgensteins für die Bearbeitung interreligiöser Dispute.)
Gorazd Andrejč / Daniel H. Weiss (Hg.), Interpreting Interreligious Relations with Wittgenstein. Philosophy, Theology and Religious Studies, Leiden – Boston 2019 (Philosophy of Religion 9). (Facettenreiche Aufsatzsammlung zur Bedeutung der Philosophie Wittgensteins für interreligiöse Beziehungen.)
Fergus Kerr, Theology after Wittgenstein, London 21997. (Recht traditionell orientierte katholische Wittgensteinrezeption in thomistischer Prägung.)
George A. Lindbeck, Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter. Mit einer Einleitung von Hans G. Ulrich und Reinhard Hütter, aus dem amerikanischen Englisch von Markus Müller, Gütersloh 1994 (TB 90). (Einflussreichste Wittgensteinrezeption im Kontext postliberaler Theologie, die oft rezipiert wird, um christliche Geltungsansprüche mit der Vielfalt der Religionen zu versöhnen, dabei aber die allgemeinverbindlichen semantischen Gehalte christlicher Theologie unterbestimmt.)
Dewi Z. Phillips, Wittgenstein and Religion, New York 1993 (Swansea Studies in Philosophy). (Bekannteste Wittgensteinrezeption in der Religionsphilosophie, eines der Gründungsdokumente der Wittgensteinianer, dem oft fideistische Tendenzen vorgeworfen werden.)
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Hilary Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart 1997 (Reclams Universal-Bibliothek 9660). (Sehr wichtige jüdische Wittgensteinrezeption zur Erneuerung philosophischen und theologischen Denkens, die zeigt, wie man Wittgenstein mit dem amerikanischen Pragmatismus versöhnen kann.)
Klaus von Stosch, Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz. Untersuchungen zur Verortung fundamentaler Theologie nach Wittgenstein, Regensburg 2001 (RaFi 7). (Katholische Wittgensteinrezeption in kritizistischer Tradition, die sich um eine umfassende Auswertung seines Spätwerks für theologische Interessen bemüht.)
Denken am Abgrund des Daseins
Die französische Existenzphilosophie Aaron Langenfeld
Einführung Der Existenzphilosophie, die zugespitzt auch als Existenzialismus zusammengefasst wird, geht es in ihren Untersuchungen (wie der Begriff bereits vermuten lässt) um das Dasein – das Dasein der Welt im Allgemeinen und des Menschen im Besonderen. ‚Was hat es mit dem Dasein auf sich?‘ ‚Wie kann der Mensch mit ihm umgehen?‘ Bereits hier wird in einem ersten Sinne deutlich, dass existenzphilosophische Denkansätze eine große Relevanz für die Religion besitzen können, insofern diese versucht, die Möglichkeit einer rationalen Antwort auf die angedeuteten Sinnfragen an das Dasein zu profilieren. In diesem Bemühen ist sie auf philosophische Denkangebote (positiv und negativ) angewiesen. In den verschiedenen existenzphilosophischen Ansätzen findet sich eine Vielzahl solcher Angebote, die selbst nicht nur die Annahme beanspruchen, einen unverstellten Blick auf das menschliche Dasein zu erreichen, sondern die darin mitgesetzten Probleme und Fragen auch selbst beantworten zu können. Zweitens ist die Religion folglich in dem Sinne von der Existenzphilosophie herausgefordert, dass sie – wenigstens in Teilen – alternative Weltdeutungen anbietet, die an religiösen Überzeugungen selbst Kritik üben. Im Vordergrund der großen existenzphilosophischen Ansätze steht dabei die auf unterschiedliche Weise erörterte und mit unterschiedlichen normativen Konsequenzen versehene Abgründigkeit der Konfrontation des Daseins mit dem Nichts bzw. der (potenziellen) Absurdität der Existenz. In diesem Kontext tritt besonders eine moralische Verschärfung der Theodizeeproblematik in den Vordergrund, die den dritten Anknüpfungspunkt für eine religiöse bzw. theologische Reflexion bietet. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich ausschließlich mit dem sog. ‚französischen Existenzialismus‘. Dieser ist nicht grundsätzlich verschieden von deutscher Existenzphilosophie, setzt aber tendenziell andere Schwerpunkte als etwa Martin Heidegger (1889–1976)
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oder Karl Jaspers (1883–1969), die dennoch wichtige Referenzpunkte für die im Folgenden vorgestellten Philosophinnen und Philosophen sind. Von besonderer Relevanz sind weiterhin die Überlegungen von Søren Kierkegaard (1813–1855), Friedrich Nietzsche (1844–1900) und Edmund Husserl (1859–1938), die in je unterschiedlicher Gewichtung rezipiert werden. Schließlich ist die Einwirkung der existenzialistischen Literatur, insbesondere der Romane von Fjodor Dostojewski (1821–1881) und Leo Tolstoi (1828–1910), kaum zu unterschätzen.
Die Absurdität des Daseins: Albert Camus Albert Camus (1913–1960) gilt als ein Hauptvertreter des französischen Existenzialismus. Auch wenn er oftmals erst in zweiter Reihe hinter Jean-Paul Sartre (1905–1980) genannt wird, dessen philosophisches Werk als die eigentliche Grundlagenarbeit der gesamten Strömung betrachtet wird, scheint sein Denken – gerade für religiöses Denken – gegenwärtig eher anschlussfähig, was wohl auch in seiner eigenen analytischen Schärfe begründet ist, die im Gegensatz zu Sartre nicht auf eine spezifische Methode beschränkt ist. Camus geht philosophisch aufs Ganze. In seiner frühen Schrift Der Mythos des Sisyphos wirft er als erstes und wichtigstes philosophisches Problem die Frage nach dem Selbstmord auf. „Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.“ (Camus, Mythos, 11) Camus fordert also die Frage heraus, welche Gründe der Mensch dafür angeben kann, warum er lebt bzw. warum er leben will. Kann er keine Gründe benennen, bleibt als rationaler Ausweg eigentlich nur der Selbstmord. Die Dramatik dieser Einsicht gründet bei Camus in einer phänomenologischen Beschreibung der Entfremdungserfahrung des Subjekts von der Welt. Mitten im Alltag trifft Menschen plötzlich die Frage nach dem Warum: ‚Warum gehe ich jeden Tag zur Arbeit?‘ ‚Warum stehe ich jeden Morgen auf?‘ Ist
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die Frage aber erst einmal in der Welt, verschwindet sie nicht mehr, vielmehr infiziert sie alle Bereiche, auf die der Mensch sich in seinem Denken beziehen kann – eben bis zur äußersten Frage: ‚Warum lebe ich überhaupt?‘ Der Mensch sucht – so Camus – eine rationale Struktur in der Welt, die einen Grund für sein Dasein verbürgen könnte. Er sucht eine Sinnstruktur, auf die er seine eigene Existenz gründen könnte. Nur die Welt scheint einen solchen Grund nicht aufzuweisen. Weil der Mensch alles, was ist, auf einen Grund hin befragen kann, er diesen Grund selbst aber nicht findet, rutscht die Gesamtheit des Daseins ins Zufällige, Endliche, Absurde. „Das Absurde entsteht aus diesem Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schweigen der Welt.“ (ebd., 41) Ist die Wirklichkeitsstruktur aber erst einmal als absurd erfasst, stellt sich die Frage nach dem Selbstmord in voller Härte: Gibt es einen Grund zu leben, wenn nichts, das ist, meinem Dasein einen Sinn verbürgt? Camus versucht eine ‚Lebensregel‘ zu finden und siedelt sie ganz in der Tradition Nietzsches an. Im Dasein geht es nicht mehr um eine Ethik der ‚Qualität‘, sondern um eine Ethik der ‚Quantität‘. Man soll also nicht möglichst gut, sondern möglichst viel leben und das Dasein voll ausschöpfen. Der Selbstmord wäre hingegen wie der religiöse Glaube, den Camus übrigens als philosophischen Selbstmord bezeichnet, Leugnung der absurden Struktur der Welt, der krampfhafte Versuch, den unüberbrückbaren Riss zwischen menschlichen Sinnfragen und einer schweigenden Welt zu kitten. Den Grund für sein Dasein findet der Mensch vielmehr im situativen Glück. Berühmt geworden ist in diesem Sinne der letzte Satz des Essays: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (ebd., 160) Sisyphos, von den Göttern verurteilt, auf ewig einen Stein auf einen Berg zu rollen, der auf der anderen Seite wieder herunterrollt, wird zum Sinnbild des in einer absurden Tätigkeit gefangenen Menschen. Glück findet Sisyphos und also auch der Mensch im Allgemeinen in der freien Annahme seines Schicksals, die zum Protest gegen die Götter wird, die ihn doch eigentlich verzweifelt sehen wollten. In dem Moment, an dem der Stein den Berg herabrollt, hat Sisyphos gewonnen und kann sich seines Daseins freuen. „Sisyphos lehrt uns die höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. […]
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Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ (ebd., 160) Verdeutlicht wird dieser Gedanke durch Camus’ Roman Der Fremde, in dem der zum Tode verurteilte Protagonist Meursault eine letzte Indifferenz gegen die Absurdität des Daseins erreicht und vor der Vollstreckung des Urteils nahezu auf die Verachtung der Menschen bei der Hinrichtung hofft – denn sie sind Teil einer Welt, von der er weiß, dass er nichts von ihr zu erwarten hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Camus aufseiten der Résistance gegen das Naziregime gekämpft hat, ändert sich sein Denken an entscheidenden Stellen fundamental. Der philosophische Essay Der Mensch in der Revolte geht nicht mehr von der Frage des Selbstmords, sondern von der Problematik des Mords aus. Offenkundig unter dem Eindruck der Gräuel des Kriegs kommt Camus zu der Einsicht: „Wenn man an nichts glaubt, wenn nichts einen Sinn hat und wenn wir keinen Wert bejahen können, ist alles möglich und nichts von Wichtigkeit. Ohne Für und Wider hat der Mörder weder unrecht noch recht. Man kann die Verbrennungsöfen schüren, so wie man sich der Pflege Leprakranker widmet. Bosheit und Tugend sind Zufall oder Laune.“ (Camus, Mensch, 15 f.) Camus muss also eingestehen, dass eine reine Ethik der Quantität indifferent gegenüber dem Leid anderer Menschen, gegenüber dem Mord am anderen werden muss. In diesem Sinne verklammert er die Überlegungen zum Absurden mit der geschichtlichen Wirklichkeit des Leids und folgert, dass, wer den Selbstmord als verzweifelten Versuch der Überwindung des Absurden ablehnt, auch den Mord ablehnen müsse. Denn wer den Selbstmord ablehnt, erkennt das Leben als Gut an, das zugleich allen Menschen zukommt. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass Camus sich von Nietzsche distanziert und die Frage nach der Möglichkeit eines sittlichen Handelns in der Welt stellt, die nur von der Anerkenntnis des Lebens als gemeinsame Grundlage der ‚menschlichen Natur‘ und der Empörung gegen das Leid in der Welt getragen wird. Er findet den entsprechenden Gedanken in der Revolte: „Die Revolte keimt auf beim Anblick der Unvernunft, vor einem ungerechten und unverständlichen Leben.“ (ebd., 22) Wer aber revoltiert, der nimmt zugleich in Kauf, dass er in seinem Handeln gegen das Leid wiederum Leid verursacht und der Mensch so dazu verdammt ist, „zu töten, oder einem Totschlag beizustimmen“ (ebd., 22). Das berühmteste Beispiel für dieses Dilemma ist bekanntlich das Problem des Tyrannenmordes, der zum
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Schutz des Lebens vieler das Leben eines anderen opfert. Wie also kann der Mensch in einer an sich sinnlosen Welt, in seinem Handeln einen Wert behaupten, den er durch sein Handeln wieder aufzuheben droht? Im Essay selbst leistet Camus einen philosophisch mäßig überzeugenden Versuch, im ‚mittelmeerischen Denken‘ ein Prinzip zu entdecken, das Schuld und Unschuld des Menschen im Maß hält. Die eigentliche Dramatik des Problems, wie mit sittlichem Sollen, Schuld- und Leiderfahrung umzugehen ist, zeigt sich vielmehr in Camus’ wohl bedeutendstem Roman Die Pest. Im Kampf gegen die lebensvernichtende Seuche, die mit dem Todesurteil, das über jeden Menschen praktisch schon gesprochen ist, identifiziert werden kann, verzweifeln die Hauptfiguren an der Frage nach Sinn und Unsinn ihres Tuns. Die unbedingte Aufforderung, den anderen nicht seinem Todesschicksal zu überlassen, kollidiert mit der Wirklichkeitserfahrung massenhaften Sterbens. So treibt Camus einen der Protagonisten zur Frage: „Kann man ein Heiliger ohne Gott sein, das ist das einzige konkrete Problem, das ich heute kenne.“ (Camus, Pest, 290) Kann man also wirklich bedingungslos für das Leben einstehen, wenn ich die Opfer der Geschichte gleichzeitig doch einer letzten Sinnlosigkeit preisgebe? Camus flüchtet aber keineswegs zurück in den Glauben, der für ihn doch wieder nur der verzweifelte Versuch der Ignoranz des Absurden wäre. Er verschreibt sich vielmehr einer ‚metaphysischen Revolte‘, die Gott als Adressaten eines Protestes setzt, den es wahrscheinlich gar nicht gibt (wobei Camus hier streng agnostisch bleibt). Der Protest gegen das Leid in der Welt wird zum Protest gegen einen Gott, für den es angesichts seines Schweigens besser ist, wenn es ihn nicht gibt. Genau hier setzt die scharfe moralische Kritik jeder Theodizee an: Camus gibt die Möglichkeit durchaus zu, dass Gott tatsächlich existiert, aber er weigert sich, im Angesicht des Leidens Unschuldiger Zuflucht zum Glauben an diesen Gott zu nehmen. In diesem Sinne ist nicht der Mensch, sondern Gott Rede und Antwort schuldig, warum die Welt so ist, wie sie ist, und jede theologische Reaktion auf Camus wird sich dieser Frage nicht entziehen können. Ebenso maßgeblich dürfte sein Beharren darauf sein, dass sich der Sinn der Welt in der Welt erkennen lassen müsste, wenn es ihn gibt. Das bleibt eine fundamentale Herausforderung für jede Theologie der Offenbarung, die Gottes Selbstmitteilung in der Geschichte in der Welt behauptet.
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Absolute Freiheit: Jean-Paul Sartre Sartres philosophische Reflexionen sind ungleich ausführlicher als diejenigen Camus’, was sich schon an seinem tausendseitigen Hauptwerk Das Sein und das Nichts veranschaulichen lässt. Seine Überlegungen sind von hoher Relevanz für die Anthropologie, auch wenn sie sich zunächst als umfassende Ontologie verstehen wollen. Im Zentrum steht für ihn der Mensch, der unbedingt zur Freiheit gerufen und verdammt ist. Als Existierender muss der Mensch notwendig handeln und sieht darin, dass aller Sinn, den er seinem Handeln gibt, aus ihm selbst hervorgeht. Daher ist er zuletzt eine „nutzlose Passion“ (Sartre, Sein, 1052). Am besten lässt sich sein anthropologischer Ansatz anhand der Zentralbegriffe des eben benannten Textes verdeutlichen: ‚An-Sich‘, ‚Für-Sich‘, ‚Für-Andere‘ und ‚Freiheit‘. Die hermeneutische Voraussetzung der Betrachtung ist eine phänomenologische Methodik, d. h. die konsequente Verweigerung, ein Sein hinter dem Sein, ein ‚wahres Wesen‘ hinter den Phänomenen zu sehen, wie Sartre es der metaphysischen Tradition Platons (428/27–348/47 v. Chr.), aber im Grunde auch der transzendentalen Philosophie im Gefolge Immanuel Kants (1724–1804) unterstellt. Vielmehr gilt: „Das Sein ist. Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist.“ (ebd., 44) Der Begriff des ‚An-Sich‘ beschreibt das Sein hinsichtlich seines bloßen phänomenalen Daseins. Es ist in diesem Sinne bedeutungslos. Wenn Menschen beispielsweise ein Gebäude errichten, dann erhält das Sein die Bedeutung des Gebäudes erst durch den Menschen. ‚An sich‘ hat das Sein einfach nur eine andere Gestalt angenommen. Der Mensch ist hingegen nie einfach nur etwas, sondern er ist immer schon über sein bloß substanzielles Dasein hinaus. Immer, wenn er versucht, sich auf etwas festzulegen, ist sein Wesen nicht gänzlich in dieser Bestimmung erfasst. Wenn er z. B. sagt ‚Ich bin ein Kellner‘, dann ist dies immer falsch, weil der Mensch nicht nur ein Kellner ist, sondern eben immer noch mehr. In diesem Sinne lässt sich der Mensch nicht auf eine Essenz feststellen, er existiert vielmehr, d. h., er transzendiert alles Seiende, indem er sich
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selbst aus dem ‚An-sich‘ heraushebt. Der Mensch ist nie, was er ist (‚Kellner‘), sondern immer das, was er nicht ist. Dieser Gedanke, dass die Existenz des Menschen seiner Essenz vorausgeht, gibt dem Existenzialismus seinen Namen. Der Mensch, der eben nicht ‚ansich‘ ist, ist vielmehr ‚für-sich‘, d. h., er steht in einer Distanz zum Sein, das ihm zum Objekt seiner Möglichkeiten wird. Dies darf nun allerdings nicht als Plädoyer für freie Selbstentfaltung missverstanden werden. Freiheit gibt es erst da, wo das Sein nicht einfach ist, sondern wo ein Mangel an Sein herrscht. Als freies Wesen ist der Mensch ein Wesen, das Möglichkeiten abwägen kann. Möglichkeiten gibt es aber nur da, wo das Wirkliche (noch) nicht ist. Insofern mangelt es dem Menschen an Sein, was ihn zum Handeln und zum möglichen Scheitern im Handeln verdammt. Daher ist für Sartre das Handeln-Können untrennbar mit der Angst vor dem Scheitern verbunden. An dieser Stelle setzt im Übrigen auch ein gewichtiges religionskritisches Argument Sartres an. Wenn der Mensch im ‚Für-Sich-Sein‘ um die Möglichkeit des Seins und damit auch um die Möglichkeit seines eigenen Nicht-Seins weiß, lässt sich dann von Gott noch im Sinne eines personalen Daseins sprechen? Wenn Gott nämlich – wie der Mensch – sein eigenes Nicht-Sein als wirkliche Möglichkeit bedenken könnte, würde er zum Teil einer unendlichen Fragenkette nach dem Ursprung des Seins, auf die er eigentlich die Antwort sein sollte. Für Sartre ist damit schon hinreichend bedacht, dass die Idee Gottes widersprüchlich ist. Auch wenn man so weit keineswegs gehen muss, scheint das Argument religionsphilosophisch verhältnismäßig wenig bedacht. Der Mensch ist aber nicht nur ‚für sich‘, sondern er ist immer auch ‚für andere‘. Sartre selbst benennt das Beispiel eines Mannes, der aus Eifersucht am Schlüsselloch seine Frau beobachtet. Im Moment der Handlung ist er ganz bei bzw. für sich; er ist nahezu identisch mit seinem Tun. Sein Bewusstseinsinhalt ist das, was er tut, ohne dass er davon noch einmal Bewusstsein hätte. Wenn jetzt eine andere Person plötzlich im Treppenhaus auftaucht und den Mann sieht, verändert sich der Bewusstseinsinhalt schlagartig. Vermittelt durch den Anderen erblickt der Mann nicht mehr bloß die Welt, sondern sich selbst als Teil der Welt – er schämt sich seiner Handlung. Das ‚Für-Andere-Sein‘ besteht folglich wesentlich im Objekt-Werden für den Anderen und im Widerstand des Menschen, der ‚für sich‘
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gerade kein Objekt, sondern immer mehr ist, sich verobjektivieren zu lassen. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen bilden diese Dialektik ab, Subjekt und erfasstes Objekt in der Welt zugleich zu sein. Im ‚Blick‘ des anderen bleibt dem Menschen am Ende nichts als die Gewissheit seiner bloßen Existenz ‚für sich‘, wie Sartre in seinem Roman Der Ekel den Protagonisten Roquetin eindrucksvoll beschreibt: „Mein Denken, das bin ich: Deshalb kann ich nicht aufhören. Ich existiere, weil ich denke […]. Ich bin es, ich bin es, der mich aus dem Nichts zieht, nach dem ich trachte: der Haß, der Abscheu zu existieren, das sind wiederum nur Arten, mich existieren zu machen, in die Existenz einzutauchen.“ (Sartre, Ekel, 159) So lange der Mensch ist, kann er seiner Existenz nicht entfliehen. Existieren bedeutet aber, ‚Ich‘ zu sein, zu denken, zu handeln und einer Welt ausgeliefert zu sein, in der nichts die Existenz begründet. Im Gegensatz zur christlichen Existenzphilosophie ist es auch nicht der Andere, durch den diese Begründung offenbar wird. Dieser ist – im Gegenteil – vielmehr die Ursache des Übels, in Distanz zum Sein zu existieren, und letztlich unerreichbares Objekt, das sich allen Versuchen widersetzt, als Subjekt anerkannt zu werden. Für den Anderen ist das Ich immer nur Objekt, immer nur das, was es ist, während im ‚Für-Sich‘ der Mensch gerade nicht ist, was er ist. Der Andere wird in dieser Wahrnehmung im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle für den Menschen, wie Sartre in seinem Drama Geschlossene Gesellschaft beschreibt. Der jeweils Andere ist es, der den Menschen von seiner Einheit mit dem Sein trennt und zum Objekt seiner selbst macht. Gibt es also nichts, was die Existenz des Menschen begründet, ist jeder Wert, den man dem Leben beimisst, willkürlich, d. h. von der Freiheit des Menschen abhängig: „Folglich ist meine Freiheit die einzige Grundlage der Werte, und nichts, absolut nichts rechtfertigt mich, diesen oder jenen Wert, diese oder jene Werteskala zu übernehmen. Als Sein, durch das die Werte existieren, bin ich nicht zu rechtfertigen. Und meine Freiheit ängstigt sich, die unbegründete Begründung der Werte zu sein.“ (Sartre, Sein, 106) Der Mensch ist also am Ende zu einer Wahl verurteilt, die selbst nicht nochmal gerechtfertigt sein kann. Er existiert und ist in diesem Dasein durch nichts begründet und auch durch nichts in der Welt begründbar. Wie schon bei Camus liegt genau hier die große Herausforderung, die Sartre für die Religion darstellt: Wenn die Existenz des Menschen nicht aus der Welt begründbar ist, kann es nicht dennoch
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etwas in der Welt geben, das diese Begründung symbolisch und anfanghaft realisiert? Kann es nicht eine jeder Wahl vorausliegende Wirklichkeitserfahrung geben, die zur Übernahme der eigenen Existenz befähigt und gerade darin die Distanz zum ‚An-Sich-Sein‘ (situativ und deutungsoffen) überwindet?
Existenzphilosophie und Geschlecht: Simone de Beauvoir Die Philosophie Simone de Beauvoirs (1908–1986) ist thematisch mit den zuvor skizzierten Ansätzen stark verwandt und von diesen beeinflusst. Zentrale Themen sind hier ebenfalls eine zur Freiheit bestimmte Existenz, die sich zugleich der Angst vor ihrem Nicht-Sein ausgesetzt sieht, und die Frage, wie diese Existenz als eigene vom Subjekt übernommen werden kann, ohne an den Aporien eines von Gott gelösten Daseins zu scheitern. Wie auch für Camus und Sartre spielt für de Beauvoir dabei das literarische Schaffen eine gewichtige Rolle. In diesem Akt emanzipiert sich der Mensch von seinem unausweichlichen Ende, im kreativen Hervorbringen, dem intensivsten Ausdruck von Freiheit, wird ein kontrafaktischer Sinn gesetzt. Selbst da, wo Endlichkeit und Absurdität Thema des Schreibens sind, wie eines von de Beauvoirs Hauptwerken, Alle Menschen sind sterblich, schon im Titel erkennen lässt, setzen Schriftstellerinnen und Schriftsteller einen neuen Anfang, erproben ihre Freiheit, können dem glücklichen Sisyphos ähnlich werden. Es wäre nun allerdings falsch, wollte man de Beauvoir als ‚bloß‘ literarische Aufbereitung der theoretischen Arbeiten Camus’ und Sartres begreifen. Vielmehr kann ihre bahnbrechende gendertheoretische Studie Das andere Geschlecht als einer der wirkmächtigsten existenzialistischen Texte überhaupt gelten. Sartre hatte zwar aufgewiesen, inwiefern das Sein ‚für andere‘ zu einer gegenseitigen Verobjektivierung führt, insofern der jeweils andere schlicht Sein in der Objektwelt ist. Dabei bedachte er allerdings nicht die geschlechter-
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bedingte Asymmetrie in diesem Objektivierungsgeschehen. So scheint es nämlich faktisch so, dass Frauen insofern zum Objekt gemacht werden, als dass diese versuchen, sich aus dem Blick des Mannes zu verstehen. Sie sind in diesem Rollensystem keine freien Subjekte, sondern sie machen sich selbst zu Objekten männlicher Betrachtung. Die Frage, die bei Sartre und Camus völlig unterbestimmt bleibt und die nun in den Blick kommt, lautet nunmehr nicht nur, wie man sein Dasein als Mensch, sondern wie man sein Dasein als Frau bzw. als Mann als solches annehmen kann, wie man also Subjekt seiner eigenen Daseinsdeutung werden kann. De Beauvoir wendet hier Nietzsches genealogische Methode an, um auf blinde Flecken im existenzphilosophischen Denken selbst hinzuweisen und dasselbe konsequent fortzubestimmen. Man wird ihr dabei nicht gerecht, wenn man dies als diskursspezifische Detailfrage begreifen würde. In einer umfassenden Perspektive wird die Frage nach der Geschlechterrolle eher zur theoriekritischen Position für eine geschichts- und politikbewusste Philosophie. Und genau hier wird de Beauvoir in besonderer Weise relevant für theologisches Denken, das sich über die Strukturen aufklären muss, in denen es sich vollzieht.
Christliche Existenzphilosophie (Gabriel Marcel und Simone Weil) Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die Rezeption der christlich geprägten, französischen Existenzphilosophie in der Theologie bis heute recht dünn ist. Begründet werden kann es wohl aber damit, dass zentrale Gedanken in anderer Form etwa über Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger Einzug in den deutschsprachigen theologischen Diskurs erhalten haben. Dennoch soll zum Schluss ein kurzer Seitenblick auf diese Strömung geworfen werden. Gabriel Marcels (1889–1973) Denken ist geprägt von einer Reflexion der Begriffe ‚sein‘ und ‚haben‘ (so auch der Titel seines Hauptwerks Sein und Haben). Der Mensch versucht nach Marcel über sein Dasein im Modus des Habens zu ver-
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fügen, dabei hat er sein Sein nicht aus sich selbst. Der Mensch ist zunächst einmal, er existiert. Im Unterschied zu Camus, Sartre und de Beauvoir läuft dieses Sein allerdings nicht auf ‚das Absurde‘ oder eine ‚nutzlose Leidenschaft‘ hinaus, sondern es kann sich in der Liebe zum ‚Du‘ transzendieren und Sinnerfüllung finden. In der Liebe zum Anderen ist unbedingter Sinn gesetzt, wie ein berühmtes Zitat deutlich macht: „Einen Menschen lieben heißt: du aber wirst nicht sterben.“ (Marcel, Geheimnis, 79) Ausgedrückt ist damit, dass im Modus der Liebe ein Sinnversprechen gesetzt ist, das zugleich schon jetzt gegenwärtig und noch ausstehend ist. Darin wird aber der christliche Offenbarungsgedanke thematisch, der Christus als Realsymbol der Bejahung des Menschen durch Gott deutet, die zwar endgültig, aber noch nicht vollendet ist. Vermittelt durch die Begegnung mit dem ‚konkreten Du‘, welche die Liebe als Sinngrund des Seins identifiziert, wird Gott als das transzendente, ‚absolute Du‘ mitgesetzt. Während also für Camus das Verhältnis von Welt und Mensch absurd war, weil die Welt den Sinnansprüchen des Menschen nicht letztgültig entsprechen konnte, behauptet Marcel, diese Entsprechung sei in der Liebe gegeben, die das Dasein gerade nicht absurd, sondern noch angesichts des Todes sinnvoll mache. Ähnliche Gedanken finden sich schließlich auch bei Simone Weil (1909–1943), die noch stärker als Marcel der christlichen Mystik zugewandt ist. Was bei Marcel der Versuch ist, sich selbst zu haben, wird bei Weil als das Gesetz der Schwerkraft bestimmt, dem das Gesetz der Gnade (dementsprechend lautet der Titel ihres Werkes Schwerkraft und Gnade) gegenübersteht. Dieses Gesetz anzunehmen, bedeutet vor allem, einzusehen, dass das Dasein und die Freiheit (einschließlich der Fähigkeit, zu lieben) dem Menschen geschenkt sind. So liebt der Mensch nicht aus sich heraus, sondern er aktualisiert ein Vermögen, das ihm zuvor schon gegeben ist. Diese Abkünftigkeit ist für Weil aber eben kein Indiz für die Absurdität der Existenz, sondern für ihre Sinnhaftigkeit. So besteht der Fehler des agnostischen bzw. atheistischen Existenzialismus darin, am ‚Ich‘ festhalten zu wollen und sich gerade die Verfügtheit des Daseins nicht einzugestehen. In der Annahme der Abkünftigkeit des eigenen
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Daseins ist hingegen implizit die Überwindung des ‚Ich‘ schon mitgesetzt: Ich gehöre mir nicht, sondern ich bin von woanders her und ich kann Sinnerfüllung nur darin finden, sein zu wollen, wie ich gesollt und gewollt bin. Wo für Camus, Sartre und de Beauvoir das literarische Schaffen zur sinnschaffenden Flucht aus der drohenden Absurdität wird, begreift Weil ästhetische Erfahrungen vielmehr als mögliche Orte der Gottesbegegnung, als Orte also, an denen die erlebte Schönheit einen tragenden Daseinssinn eröffnet. Sarah Bakewell, Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails, München 22016. (Sehr gut lesbare, narrativ gestaltete Einführung in alle wichtigen Akteure nicht nur des französischen Existenzialismus, die zugleich einen Überblick über dessen geschichtliche Entwicklung gibt.)
Aaron Langenfeld, Das Schweigen brechen. Christliche Soteriologie im Kontext islamischer Theologie, Paderborn u. a. 2016 (Beiträge zur komparativen Theologie 22), bes. 158–181. (Versuch einer theologisch produktiven Auseinandersetzung mit Camus, die dessen existenzphilosophischen Entwurf als Ausgangspunkt einer theologischen Anthropologie nimmt und soteriologisch fruchtbar machen will.)
Annemarie Pieper, Albert Camus, München 1984 (Beck’sche schwarze Reihe 507 / Große Denker). (Ein Klassiker und guter Einstieg in das Denken Camus’.)
Heinz Robert Schlette, Mit der Aporie leben. Zur Grundlegung einer Philosophie der Religion, Frankfurt a. M. 1997. (Konstruktiver Versuch einer gegenwärtigen Religionsphilosophie in existenzphilosophischem Profil.)
Martin Suhr, Jean-Paul Sartre zur Einführung, Hamburg 42012 (Zur Einführung). (Exzellente Einführung in Sartres Denken, die zugleich einen sehr guten Einblick in die Ansätze des Existenzialismus insgesamt gibt.)
Hansjürgen Verweyen, Das fremdartige Glück absurder Existenz: Albert Camus, in: Klaus Held / Jochem Hennigfeld (Hg.), Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, Würzburg 1993, 365–381. (Pointierte Einführung in die Herausforderung existenzphilosophischer Reflexion in der Tradition Camus’ für die Theologie. Eine wichtige und kontroverse Rezeption in der Gegenwart.)
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Stefanie Völkl, Gotteswahrnehmung in Schönheit und Leid. Theologische Ästhetik als Lesart der Logik der Liebe bei Simone Weil und Hans Urs von Balthasar, Freiburg – Basel – Wien 2016 (FThSt 181). (Umfassende neue Studie, die eine fruchtbare Verknüpfung existenzialistischer Reflexion im Ausgang von Simone Weil mit einer der wichtigsten Strömungen theologischen Denkens im ��. Jahrhundert versucht.)
Brücken bauen in Philosophie und Glaube – christliche Existenz in pluraler Welt
Edith Stein Tonke Dennebaum
Im Leben und Denken Edith Steins (1891–1942) verbinden sich verschiedene Linien, die in der Rezeption oft getrennt voneinander betrachtet werden. Wer sich für Edith Steins frühe phänomenologische Schriften interessiert, lässt ihre geistlichen Texte meist am Rande liegen, und wer ihre Thomas-Studien analysiert, hat wenig Sinn für ihr (gesellschafts-)politisches Denken oder ihren Glaubensweg. Diese sachliche Beschränkung ist einerseits notwendig, andererseits droht dabei das Verständnis verlorenzugehen, dass die großen Themen bei Edith Stein nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern Erfahrungswelt und theoretische Reflexion aufs Engste korrelieren. Glaube, Leben und Denken bedingen einander. Vor diesem Hintergrund bringt die Theologie gute Voraussetzungen mit, um die Philosophin Edith Stein von ihrem Grundanliegen her zu verstehen.
Korrelation von Biografie, Philosophie und Spiritualität Geboren in Breslau, studierte Edith Stein zunächst ebendort bei Neukantianern wie Richard Hönigswald (1875–1947) und Eugen Kühnemann (1868–1946) sowie dem Begründer der experimentellen Psychologie, William Stern (1871–1938), bevor sie sich entschieden von diesen ab- und der Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) und Adolf Reinachs (1883–1917) in Göttingen zuwandte. In Husserls Methodik fand sie eine Antwort auf die ungelöste Spannung zwischen dem kantischen Kritizismus der zeitgenössischen Schulphilosophie und dem erfahrungsbasierten Arbeiten der Naturwissenschaften. Hinzu kam, dass Edith Stein in Göttingen Gelegenheit hatte, Vorlesungen bei Max Scheler (1874–1928) zu hören und dabei mit dem Ansatz konfrontiert wurde, dass der Atheismus – auch ihr eigener – die Folge eines rationalistischen Vorurteils sein könne. Edith Steins steiler studentischer Karriere – schon nach
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einem Semester in Göttingen erbat sie von Husserl ein Staatsexamens- und Dissertationsthema – folgte eine Reihe persönlicher Krisen, die zum Teil der allgemeinen Notsituation des Ersten Weltkriegs geschuldet waren (mehrere Kommilitonen und auch akademische Lehrer wie Reinach fielen im Feld, sie selbst litt unter ihren Erfahrungen in einem Kriegslazarett), teils aber auch mit dem unglücklichen Verlauf privater Beziehungen zu tun hatten (etwa ihrer Liebe zu Roman Ingarden). Mit der Überwindung dieser Krisen fand sie zu einem vertieften Verständnis des philosophischen Fragens nach Gemeinschaft und grundsätzlich nach menschlichen Relationen (1916 Abschluss ihrer Dissertation Zum Problem der Einfühlung). Zudem benannte sie erstmals das Desiderat, dass die Anthropologie die Untersuchung religiösen Erlebens miteinzuschließen habe. Auch ihr persönlicher Glaubensweg nahm Gestalt an; 1922 empfing sie die Taufe und konvertierte vom Judentum zum Katholizismus. In der Folgezeit übersetzte sie John Henry Newman (1801– 1890) (u. a. Die Idee der Universität, 1923) und Alexandre Koyré (1892–1964) (Descartes und die Scholastik, 1923) sowie vollständig die Quaestiones disputatae de veritate (1926–1929) des Thomas von Aquin (1225–1274). Bei letztgenannter Arbeit ging es nicht um eine bloße Übersetzung, sondern eine Übertragung, die vom traditionellen neuscholastischen Duktus abweicht und die wechselseitige Diskursfähigkeit von Thomas’ Philosophie und Husserls Phänomenologie aufzeigt. Als Scharniere, die beide Systeme verbinden, identifiziert sie beispielsweise die formallogische Präzision, die Ablehnung des skeptischen Relativismus und den methodischen Leitbegriff der intentio bzw. Intentionalität, der über Husserls Lehrer Franz Brentano (1838–1917) Eingang in die Phänomenologie gefunden hat. Auf katholischer Seite rief Steins Thomas-Übersetzung kontroverse Reaktionen hervor. Ihr Mentor Erich Przywara (1889– 1972), aber auch Martin Grabmann (1875–1949) oder Josef de Vries (1898–1989) äußerten sich ausgesprochen zustimmend, Laurentius Siemer (1888–1956) kritisch. Edith Stein diskutierte ihre Thesen
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1932 bei einer Tagung der Societé Thomiste in Juvisy bei Paris mit Étienne Gilson (1884–1978), Jacques Maritain (1882–1973) und anderen. Klar ist, dass ihre Zuordnung (vgl. ihren Text Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas von Aquino, 1929) sowohl die Thomisten forderte als auch innerhalb der Phänomenologie auf eine spezifische Interpretation setzt. So vertritt sie in der IdealismusRealismus-Debatte die Position der Seinsunabhängigkeit der dinglichen Welt vom Bewusstsein, orientiert sich aber weiterhin an Husserls Konstitutionstheorie des Bewusstseins. Auch in anderer Hinsicht stand die Phänomenologin Edith Stein im Dialog mit der Thomas-Forschung ihrer Zeit. In ihrem Hauptwerk Endliches und ewiges Sein, das in den Jahren 1935 bis 1937 und somit nach ihrem Eintritt in den Kölner Karmel entstand, greift sie die Idee der Christlichen Philosophie auf, die vor allem im französischsprachigen Thomismus diskutiert wurde. Dabei geht es, dem Ideal des perfectum opus rationis folgend, darum, „die Gesamtheit dessen, was natürliche Vernunft und Offenbarung uns zugänglich machen, zu einer Einheit zusammenzufassen“ (Stein, Endliches, 33). Das Opus konnte wegen Edith Steins jüdischer Herkunft allerdings nicht gedruckt werden, obwohl es verlagsseitig bereits vollständig gesetzt worden war. Als es 1950 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, traf es nicht mehr den Nerv der Zeit. Zwar verstand Edith Stein die Theologie ausdrücklich nicht als geschlossenes Gedankensystem, sondern als sich geschichtlich entfaltende und fortschreitende Aneignung des depositum fidei, doch wirkt der Ansatz der Christlichen Philosophie bei oberflächlicher Betrachtung wie eine christlich-theologische Introspektion, die im Diskurs rasch an Grenzen stößt. Umgekehrt ließe sich einwenden, dass Edith Steins exakte Unterscheidung von natürlicher Wissenschaft und Theologie transparent macht, an welcher Stelle und warum sie religiöse Aspekte in ihre Argumentation einfließen lässt. Zudem befragt sie auch klassische philosophisch-theologische Zusammenhänge auf ihre Stichhaltigkeit hin. So ist sie zwar von der rationalen Plausibilität des Gottesglaubens überzeugt, nicht aber von seiner logischen Beweisbarkeit im thomistischen Sinn. Auf den Punkt gebracht: Als Phänomenologin untersucht Edith Stein die Dinge so, wie sie dem Bewusstsein kenntlich werden; als Gläubige setzt sie den Glauben voraus.
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Edith Stein als Theologin Beginnend mit ihrer ersten religionsphilosophischen Schrift Freiheit und Gnade (1921) gewinnen spezifisch theologische Inhalte bei Edith Stein zunehmend an Kontur. In Texten verschiedenster Gattung greift sie theologisch relevante Themen auf und arbeitet sie in Teilen näher aus. Das gilt insbesondere für die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Bund, die Relationalität von individueller Freiheit und göttlicher Führung sowie die theologische Umsetzung von Aspekten der Gemeinschaftsfrage in Begriffen wie Hingabe, Stellvertretung oder Kreuzesnachfolge. Dabei bleibt sie auf Tuchfühlung mit der zeitgenössischen säkularen Philosophie. Endliches und ewiges Sein liest sich als von der christlichen Anthropologie geprägter Gegenentwurf zur Existenzialphilosophie Martin Heideggers (1889–1976). Hinzu kommt eine bemerkenswerte Wendung: Das für Edith Stein lange allein maßgebliche thomistisch-aristotelische Modell tritt mehr und mehr in den Hintergrund und wird durch die Auseinandersetzung mit einem stärker augustinisch geprägten Denken bis hin zu Ansätzen einer negativen Theologie ergänzt, etwa in ihren Arbeiten zu Dionysius Areopagita und Johannes vom Kreuz (1542–1591). Die Frage nach der gemeinschaftlichen Konstitution des Menschseins bleibt dabei weiterhin ihr großes Thema.
Alter und Neuer Bund: religionstheologische Fragen im Vorgriff auf Nostra aetate Edith Stein hat in ihrem Elternhaus die Erfahrung eines gelebten, wenn auch nicht sehr ausgeprägten jüdischen Glaubens gemacht. Als Jugendliche entschied sie sich dezidiert gegen ein religiöses Leben, begegnete der Frömmigkeit ihrer Mutter aber zeitlebens mit Respekt. Erst mit der Hinwendung zum Christentum wurde sie sich ihres Jüdischseins wieder stärker bewusst. Für ihre Spiritualität spielte das von Beginn an und später zunehmend eine Rolle. In einigen ihrer privaten Texte ist die Problematik der Religionstheologie spürbar. So schreibt sie mit Blick auf ihren damals todkranken Lehrer Husserl, der evangelisch getauft, aber religiös nicht praktizierend war, dass Gottes Barmherzigkeit nicht an die Grenzen der sichtbaren Kirche gebunden sei. Noch weitgehender formuliert sie nach dem
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Tod ihrer Mutter, diese sei nun ihre treueste Fürsprecherin bei Gott – weil sie bis zu ihrem Lebensende die Gebote des Judentums treu beachtet habe. Wie lassen sich diese Anmerkungen mit der christozentrischen Frömmigkeit Edith Steins und der zeitgenössischen Ekklesiologie und Soteriologie in Einklang bringen? Die steinsche Argumentation hierzu erfolgt – in einer ganzen Reihe einschlägiger Texte und Textpassagen – auf mehreren Ebenen. Zum einen knüpft sie an das in der Zwischenkriegszeit verbreitete Bild der Kirche als mystischem Leib Christi an und verzichtet auf jede exklusivistische Interpretation desselben. Zum anderen betont sie in für die damalige Zeit untypischer Weise die fundamentale Verbindung von Christentum und Judentum, etwa in Bezug auf die persönliche Frömmigkeit Jesu oder auch die spätere Liturgie der Kirche (vgl. Das Gebet der Kirche, 1936). Mit Erik Peterson (1890–1960) hebt sie hervor, dass auch der Christ kein Vollbürger des himmlischen Jerusalem, sondern stets nur Pilger auf dem Weg zur ewigen Heimat sei. Hinzu kommt: Schon die Stammeltern Adam und Eva seien im Besitz der Urstandsgnade und Glieder des mystischen Leibes Christi gewesen. Das Bild einer körperschaftlich verfassten, heilsexklusiven Kirche steht vor diesem Hintergrund im Widerspruch zum universalen Heilswillen Jesu Christi. Stattdessen unterstreicht Edith Stein die eine Heilsgeschichte der ecclesia ab Abel, die sich als sichtbare und unsichtbare Kirche konstituiert. Vom göttlichen Strahl getroffen, seien lebendige Bausteine zu einer zunächst unsichtbaren Kirche zusammengefügt worden. Nicht die äußere Kirchenzugehörigkeit sei letztlich entscheidend, sondern das innere Leben (vgl. Verborgenes Leben und Epiphanie, 1940). Schon 1938 schreibt sie mit Blick auf das vorjesuanische Judentum, dass Gott sein Volk trotz aller Untreue nicht verworfen habe. Das Heil, so ist sie überzeugt, kommt von Jesus Christus. Dessen mystischer Leib besteht nicht nur aus der sichtbaren Kirche, sondern umfasst das ganze Menschengeschlecht. Damit nimmt Edith Stein eine religionstheologisch inklusivistische Position ein, mit der sie Inhalte des Zweiten Vatikanischen Konzils, vor allem in Nostra aetate und Lumen gentium, antizipiert. Schon in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts war es ihr Anliegen, einen Beitrag zu leisten, dass die Kirche ihr Bewusstsein für ihre eigenen Wurzeln und ihre Herkunft erneuert.
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Sophie Binggeli, Edith Steins Beiträge zur Theologie Israels, in: Andreas Speer / Stephan Regh (Hg.), ‚Alles Wesentliche lässt sich nicht schreiben‘. Leben und Denken Edith Steins im Spiegel ihres Gesamtwerks, Freiburg i. Br. 2016, 445–462. (Hinführung zur aus dem Judentum kommenden christlichen Spiritualität Edith Steins mit ihren geistlichen, kirchlichen und politischen Konsequenzen.)
Tonke Dennebaum, Freiheit, Glaube, Gemeinschaft. Theologische Leitlinien der Christlichen Philosophie Edith Steins, Freiburg i. Br. 2018. (Fragt nach der theologischen Relevanz des Schrifttums Edith Steins und interpretiert Werk und Biografie. Untersucht u. a. die Kontinuität der Heilsgeschichte von Altem und Neuem Bund sowie Edith Steins kreuzestheologische Interpretation des Gemeinschaftsbegriffs.)
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Unerbittliches Licht. Versuche zur Philosophie und Mystik Edith Steins, Dresden 2015. (Von Grund auf überarbeitete Einführung in das Denken Edith Steins [Erstfassung: ����], u. a. mit Einordnung in die religiösen Aufbrüche der ����er-Jahre und Kapiteln zur Frauenfrage, geistlichen Führung und Mystik.)
Alasdair MacIntyre, Edith Stein. A Philosophical Prologue, London – New York 2007. (Untersucht Edith Steins Verständnis von Individuum und Gemeinschaft. Geht biografisch vor und hat auch politische Dimensionen im Blick.)
Hans Rainer Sepp, Edith Steins Position in der Idealismus-RealismusDebatte, in: Beate Beckmann-Zöller / Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hg.), Edith Stein. Themen – Kontexte – Materialien, Dresden 2015, 17–27. (Erläutert die Position Edith Steins in der Frage der idealistischen oder realistischen Interpretation von Husserls Phänomenologie.)
Andreas Speer, Edith Steins Thomas-Lektüren, in: Ders. / Stephan Regh (Hg.), ‚Alles Wesentliche lässt sich nicht schreiben‘. Leben und Denken Edith Steins im Spiegel ihres Gesamtwerks, Freiburg i. Br. 2016, 40–62. (Bietet einen guten Einblick in Edith Steins Rezeption des Thomas von Aquin.)
Drei Denker der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin Edmund Arens
Einführung Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hat der christlichen Theologie in verschiedener Hinsicht zu denken gegeben. In Ansätzen einer auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Veränderung gerichteten Politischen Theologie hat die Frankfurter Schule beträchtliche Resonanz gefunden. Dabei sind vor allem deren religions- und vernunftkritische Reflexionen, ihre Aufmerksamkeit auf die Leidenden und Opfer der Geschichte sowie ihr Eintreten für Gerechtigkeit und Solidarität virulent geworden. Dass die unorthodox marxistischen Exponenten der Frankfurter Schule ihre Kritik an entscheidenden Stellen mit markanten theologischen Motiven, Bildern, Begriffen und Denkfiguren in Verbindung gebracht haben, hat ihre theologische Rezeption und bisweilen Vereinnahmung zum einen erleichtert und zum anderen für eine andauernde Diskussion über das Verhältnis von Kritischer Theorie und Theologie gesorgt. In theologischen Konzeptionen bleibt umstritten, ob es sich bei der Kritischen Theorie selbst um eine dem biblischen Bilderverbot verpflichtete negative, implizite bzw. inverse Theologie handelt. Die von deutschen Juden seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts zunächst angesichts der Gefahr des Nationalsozialismus, dann von dessen Herrschaft und schließlich nach der Katastrophe von Auschwitz vielstimmig formulierte Kritische Theorie stellt eine Philosophie dar, die als kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft ihre eigenen historisch-politischen Bedingungen reflektiert. Dies geschieht im Interesse, Möglichkeiten der Kritik und Abschaffung von Herrschaft sowie der Errichtung einer freien, gerechten, solidarischen Gesellschaft zu eruieren. Dabei verbleibt die Kritische Theorie bei der Negation des Bestehenden; sie verweigert sich jeder Utopie
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einer befreiten Zukunft. Sie richtet ihren Blick insbesondere auf die Dialektik der Aufklärung, deren Versprechen nicht verwirklicht sind, sondern die vielmehr in Barbarei umgeschlagen ist.
Max Horkheimer: der Gründervater Max Horkheimer (1895–1973), der 1930 auf den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an die Universität Frankfurt berufen wurde und im folgenden Jahr das Direktorium des an sie angegliederten Instituts für Sozialforschung übernahm, war der Gründungsvater, Patriarch und Namensgeber der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Diese stellte sich selbst die Aufgabe, in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie und anderen Wissenschaften den „Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn“ (Horkheimer, Lage, 3) zu klären. In Horkheimers Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) tritt eine auf die Realisierung von Vernunft abzielende Konzeption von Philosophie zutage, welche sich gegen das zeitenthobene Systemdenken der Philosophie wie gegen den nur scheinbar neutralen konformistischen Positivismus der Einzelwissenschaften richtet. Das kritische Denken ist laut Horkheimer darauf aus, über die Spannung zwischen dem Individuum und der durch die Ökonomie bestimmten Gesellschaft real hinauszugelangen. Es ist dabei von einem praktischen Interesse an vernünftigen Zuständen geleitet, aus dem heraus die Kritische Theorie die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung hin zum Richtigen einer Gesellschaft ohne Unrecht reflektiert. Angesichts der bedrohlichen Entwicklungen der 1930er-Jahre mit dem Siegeszug des Faschismus in Europa, der Spaltung und Schwächung der Arbeiterbewegung, der Degeneration der Russischen Revolution in den Stalinismus und der erzwungenen Flucht
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der Mitglieder der Frankfurter Schule ins Exil sahen sich deren Exponenten zu einer Verschärfung ihrer Gesellschafts- und Vernunftkritik veranlasst. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der beginnenden Judenvernichtung verfassten Horkheimer und Theodor W. Adorno (1903–1969) gemeinsam das Schlüsselwerk der Kritischen Theorie: die Dialektik der Aufklärung (1944). Darin legen sie eine Genealogie der Vernunft vor, die sich aus Naturzusammenhängen zu befreien sucht, aber als eine solche, die vom Willen zur Selbstbehauptung getrieben ist und Natur beherrschen will, selbst zur Herrschaft über die erste und zweite Natur wird: Als Herrschaftsinstrument erstrecke sich die Vernunft nicht nur auf die verdinglichte äußere Natur, sondern zugleich auf die Natur der Menschen. Der emanzipatorische Anspruch der Aufklärung dementiert sich damit selbst. Was als Emanzipation aus naturwüchsigen Abhängigkeiten gedacht war, schlägt aufgrund der Selbstverdinglichung des Denkens in Natur um. Mit der Dialektik der Aufklärung intendieren Horkheimer und Adorno, eine Selbstreflexion der Aufklärung anzustoßen. Ihre Kritik der Instrumentalisierung der Vernunft ist von dem Gedanken geleitet, dass das wahre Anliegen des Geistes gerade die Negation der Verdinglichung sei. An der Lektüre des OdysseusMythos der Odyssee entfalten Horkheimer und Adorno die Dialektik von Mythos und Aufklärung. Für sie ist bereits der Mythos Aufklärung „und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (Horkheimer/Adorno, Dialektik, 6). Mit Blick auf das sich gerade in katastrophischen Zeiten artikulierende Bedürfnis nach ‚Positivem‘ verweisen Horkheimer und Adorno für ihre Weigerung, ein solches zu benennen, auf die jüdische Religion. Letztere knüpfe Hoffnung allein an das Verbot, das Falsche als Gott und die Lüge als Wahrheit anzurufen. Rettung liege allein in der Abwendung von allem falschen Glauben, und Erkenntnis liege in der Denunziation des Wahnsinns. Das mit diesen Worten artikulierte jüdische Bilderverbot wird dem antijüdischen christlichen Willen zum Heil und vermeintlichen Wissen um das Heil entgegengestellt. Im christlichen Drang zum Positiven auf Kosten der Anderen erkennen Horkheimer und Adorno die Wurzel des Antisemitismus. Diejenigen, welche „das Christentum als sicheren Besitz sich einredeten, mußten sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten“ (ebd., 160 f.). Die christliche Judenfeindschaft soll laut
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den beiden Kritischen Theoretikern bestätigen, dass das christliche Ritual von Glauben und Geschichte recht habe, indem der Antisemitismus dieses Ritual an jenen vollstrecke, die eben solches Recht verweigern. Antisemitismus ist Produkt der und Produzent von Verblendung. Zu antisemitischem Verhalten komme es in Situationen, in denen verblendete, ihrer Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen würden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bringt Horkheimer seine radikal vernunftskeptische Konzeption auf den Begriff der Kritik der instrumentellen Vernunft (zuerst englisch 1947). Der späte Horkheimer sieht in Religion etwas bewahrt, ohne das es weder Wahrheit noch Moral noch Sinn gebe. In seinem aufsehenerregenden Interview Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen (1970) äußert er die Auffassung, das Wissen um die Verlassenheit des Menschen sei nur möglich durch den Gottesgedanken, nicht aber durch die Gewissheit Gottes. In der Religion seien die Wünsche, Sehnsüchte und Anklagen unzähliger Generationen bewahrt. Theologie bedeutet für den Frankfurter Philosophen das Bewusstsein davon, dass die Welt nicht das Letzte ist und das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge. Theologie erscheint ihm als Ausdruck einer Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge. Aber in der verwalteten Welt mit ihrer Geschäftigkeit und durchrationalisierten Totalverwaltung, so lautet das resignative Fazit des Kritischen Theoretikers Horkheimer, werde man das Theologische abschaffen, womit das, was wir ‚Sinn‘ nennen, verschwinde.
Theodor W. Adorno: der Meisterdenker Theodor W. Adorno, der Meisterdenker der ersten Generation der Frankfurter Schule, formuliert in den Minima Moralia (1951) in aphoristisch zugespitzter Form Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Untertitel). Anhand von messerscharfen Miniaturen und Modellen aus der Philosophie, Psychologie, Literatur, Musik, Religion und anderen Bereichen des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens führt er sein negativ-dialektisches Denken literarisch brillant vor Augen. Vor dem Hintergrund der Kritik des Ganzen als des Unwahren und der Erfahrung, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, kommen Mikroorganismen der Herrschaft, des Unrechts, der
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Unterdrückung sowie der Verdinglichung zur Sprache. Gegenüber der dem Identitätszwang unterliegenden Totalität erscheinen für Adorno Kunstwerke und dialektisch gewendete theologische Motive wie das jüdische Bilderverbot oder die Auferstehung des Fleisches als Figuren der Rettung. Der ‚Zum Ende‘ überschriebene letzte Aphorismus der Minima Moralia umkreist eingangs konjunktivisch das rettende Potenzial von Philosophie: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“ (Adorno, Minima, 333) In seinem philosophischen Hauptwerk Negative Dialektik (1966) entfaltet Adorno sein Denken in Auseinandersetzung mit der traditionellen Philosophie im Sinne einer materialistisch-antisystemischen Philosophie des Nichtidentischen, die mit der bis Platon (428/27–348/47 v. Chr.) zurückreichenden Absicht bricht, durch dialektische Negation ein Positives herstellen zu wollen. Ontologische Entwürfe phänomenologischer Konzeptionen, welche sich an angeblich invarianten und unableitbaren ontologischen Bedürfnissen orientierten, denunziert Adorno als in einem Verblendungszusammenhang verstrickte Gestalten des Identitätsdenkens. Gegenüber dem identifizierenden Begriffsdenken mit seinem Totalitätsanspruch unterstreicht er den Vorrang der Objekte, durch den die Dialektik materialistisch wird. Ist Identität mit einer konstituierenden Subjektivität verknüpft, so hat Adorno jene Nichtidentität im Blick, „zu der nicht allein das Bewußtsein, sondern eine versöhnte Menschheit zu befreien wäre“ (Adorno, Dialektik, 191). In seiner Metakritik der praktischen Vernunft konstatiert Adorno bei Immanuel Kant (1724–1804) die Fiktion positiver Freiheit und bescheinigt dessen Freiheitsphilosophie der Vernunft die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung. An Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) Philosophie kritisiert der Frankfurter Philosoph die Parteinahme für das Allgemeine, den Identitätszwang des idealisti-
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schen Geistes sowie die falsche Hypostasierung des Geistes. Adorno erkennt bei Hegel ein begriffliches Totalitätsdenken, das die Totalität des realen geschichtlichen Leidens verkenne. Die Totalität des Leidens werde von Hegel geradezu zur Positivität des sich durch die Geschichte hindurch verwirklichenden Absoluten verklärt. Wenn schon, dann wäre Adorno zufolge der Weltgeist als permanente Katastrophe zu definieren. Und die Aufgabe der Philosophie erkennt er statt in totalisierender Spekulation darin, Leiden beredt werden zu lassen. Im Schlusskapitel der Negativen Dialektik spricht Adorno eingangs Auschwitz an, den Mord an Millionen durch Verwaltung, und er stellt die Frage nach dem Leben nach Auschwitz. Adolf Hitler (1889–1945) habe den Menschen „einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (ebd., 358). Nach Auschwitz habe auch kein theologisches Wort unverwandelt ein Recht. Adorno thematisiert zudem das Verhältnis von Theologie und Metaphysik. Letztere sei gegenüber der ersten historisch später, sie säkularisiere Theologie aber nicht einfach in den Begriff, sondern bewahre in ihrer Kritik an jener zugleich Theologie auf, indem Metaphysik das als Möglichkeit freilege, was Theologie Menschen aufzwinge. Wiederum kommt Adorno auf das Bilderverbot zu sprechen, welches sich einst auf die Nennung des göttlichen Namens erstreckt habe, sich unterdessen freilich verschärft habe, denn Hoffnung auch nur zu denken, frevele an ihr und arbeite ihr entgegen. Ungeachtet aller Säkularisierung und Entmythologisierung hält Adorno die ihm zufolge davon nicht getroffene Erfahrung fest, „daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre“ (ebd., 395). Gilt der vom Systemzwang beherrschten, auf absolutes Wissen zielenden spekulativen Metaphysik seine dialektisch-materialistische Kritik, so hält Adorno gleichwohl die Möglichkeit metaphysischer Erfahrung offen. Er deutet in die Mikrologie eingewandertes, negativ-metaphysisches, konstellatives Denken, welches das hilflos Vereinzelte, das Geringste und Schäbigste in den Blick nimmt und damit identitätssprengend agiert, als solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.
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Wie Nichtidentisches nichtidentifizierend und nichtbegrifflich gedacht werden kann, zeigt Adorno in der posthum veröffentlichten Arbeit Ästhetische Theorie (1970). In Kunstwerken erschließe sich das Nichtidentische und Nichtbegriffliche über die Konstellation der Begriffe. Durch dieses Verfahren könne es gelingen, die Möglichkeit des Neuen zu entdecken. Der Wahrheitsgehalt der hergestellten Kunstwerke, die gleichwohl nicht im Gemachten aufgehen, durchbreche den Zusammenhang des Verdinglichten und konvergiere darin mit dem Erkenntnisziel von Philosophie. Das Durchbrechen des begrifflich-identifizierenden Denkens tritt laut Adorno am klarsten in der intentionslosen Sprache der Musik zutage, in der die Kraft zur Negation des Negativen nicht ebenso gefesselt sei wie in der Realität. „Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.“ (Adorno, Theorie, 200)
Walter Benjamin: eine wichtige Randfigur Walter Benjamin (1892–1940) war in institutioneller Hinsicht zeitlebens eine Randfigur der Frankfurter Schule. Dennoch hatte er immensen Einfluss auf die Philosophie Adornos, und seine geschichts-, kultur-, kunst-, sprach- und medientheoretischen Schriften wurden und werden nach seinem Tod breit rezipiert. Der frühe Benjamin vertrat im Theologisch-Politischen Fragment (ca. 1920/21) einen mystischen Messianismus, demzufolge die Ordnung des Profanen auf das Messianische zu beziehen sei, wobei das Reich Gottes nicht Ziel, sondern Ende der Geschichte sei. Dann wandte er sich dem historischen Materialismus zu, in dessen Geist er das Projekt einer Archäologie der Moderne in Angriff nahm, das als Das Passagen-Werk (1982) Jahrzehnte nach seinem Tod publizierte Passagen-Projekt. Darin versuchte er, in Gestalt einer materialen Geschichtsphilosophie das Paris des 19. Jahrhunderts mittels einer Collage zahlreicher Notizen und Exzerpte als Hauptstadt und Allegorie der Moderne herauszustellen. 1937 führte Benjamin mit Horkheimer eine briefliche Debatte über die Abgeschlossenheit bzw. Unabgeschlossenheit der Geschichte. In einem Horkheimer zur Veröffentlichung angebotenen Aufsatz hatte er davon gesprochen, dass für den historischen Materialisten das Werk der Vergangenheit nicht abgeschlossen sei. Horkheimer
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hatte darauf geantwortet, das vergangene Unrecht sei geschehen und abgeschlossen, und gegen Benjamin eingewandt, letzten Endes sei seine Aussage theologisch. Benjamins letzter, später von Adorno publizierter Text, die Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940), bietet eine bis aufs Äußerste verdichtete Komprimierung seiner katastrophisch-apokalyptischen Geschichtsauffassung, die nicht nur dem siegreichen Faschismus, sondern auch dem fortschrittsgläubigen Konformismus der Sozialdemokratie sowie dem dogmatischen Marxismus, der von Gesetzen der Geschichte ausgeht, konfrontiert wird. In einer Reihe von dialektischen Denkbildern bringt Benjamin seine Wahrnehmung des Fortschritts als Katastrophe und der Tradition der Unterdrückten als Gegenbild zur Siegergeschichte zum Ausdruck. Der in These 9 bedachte ‚Engel der Geschichte‘, vor dem der Trümmerhaufen der Geschichte zum Himmel wachse, möchte wohl verweilen und die Toten wecken, werde aber von dem ihm vom Paradies her entgegenwehenden Sturm in die Zukunft getrieben. Für historische Materialisten stelle sich die Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten und den dialektischen Tigersprung ins Vergangene zu wagen. Im ‚Eingedenken‘ komme eine schwache messianische Kraft zum Zuge, auf die die Vergangenheit Anspruch habe. In seinen zeittheoretischen Reflexionen kontrastiert Benjamin die leere, homogene Zeit mit der aufblitzenden ‚Jetztzeit‘ als Modell der messianischen Zeit. Zu den denkwürdigsten dialektischen Denkbildern gehört das in der ersten These beleuchtete Verhältnis von historischem Materialismus und Theologie. Es ist das Bild von dem in einem Schachautomaten verborgenen buckligen Zwerg, der es als Meister im Schachspiel möglich gemacht habe, dass der Automat jedes Spiel gewann. Als Gegenstück in der Philosophie gilt Benjamin: „Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“ (Benjamin, Begriff, 693)
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Der bucklige Zwerg der Frankfurter Schule spricht dem materialistischen Geschichtsschreiber im Augenblick der Gefahr die Gabe zu, „im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ (ebd., 695) Edmund Arens / Ottmar John / Peter Rottländer, Erinnerung, Befreiung, Solidarität. Benjamin, Marcuse, Habermas und die politische Theologie, Düsseldorf 1991. (Aus drei Dissertationen bei Metz entstandener Band, der Phasen und Perspektiven der Kritischen Theologie in ihrer theologischen Herausforderung und Bedeutung reflektiert.)
Christopher Craig Brittain, Adorno and Theology, London – New York 2010 (Philosophy and Theology). (Hervorragende Einführung in Adornos Werk, die ausführlich dessen theologische Rezeption behandelt und dabei u. a. auf Helmut Peukert und Andreas Pangritz eingeht.)
Hans Martin Dober, Die Moderne wahrnehmen. Über Religion im Werk Walter Benjamins, Gütersloh 2002 (PThK 8). (Stellt minutiös die Wahrnehmung des Religionsproblems in Benjamins Schriften dar und macht deren im Medium der Kunst artikulierte ästhetische Dimension und ästhetisch-theologische Relevanz deutlich.)
Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977. (Zentrales Werk der Politischen Theologie von Metz mit zahlreichen inhaltlichen und sprachlichen Bezügen zu Benjamin und Adorno, die für eine apokalyptische politische Theologie fruchtbar gemacht werden.)
Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie. Ein Versuch über das Projekt einer ‚impliziten Theologie‘ bei Barth, Tillich, Bonhoeffer, Benjamin, Horkheimer und Adorno, Tübingen 1996. (Prägnante theologische Annäherung an die Frankfurter Schule und deren ‚implizite Theologie‘ auf der Folie der theologischen Fraglichkeit ‚expliziter Theologie‘ bei zeitgenössischen Theologen.)
Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung. Mit einem Vorwort zur Neuauflage und einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M. 32009 (Stw 231). (Entwickelt aus der Debatte zwischen Benjamin und Horkheimer über die Unabgeschlossenheit der Geschichte heraus eine wissenschaftstheoretische Grundlegung fundamentaler Theologie.)
Der Philosoph der Anderheit
Emmanuel Levinas Erwin Dirscherl
Die Bedeutung des Denkens von E. Levinas für die Katholische Theologie Das Denken von Emmanuel Levinas (1906–1995) ist vom Geschehen der beiden Weltkriege, des Naziterrors und der Shoah, in der fast seine ganze Familie ausgelöscht wurde, gezeichnet. Er ringt angesichts des unfassbaren Leidens, der massenhaften und mörderischen Vernichtung menschlichen Lebens mit den Fragen nach Gott, dem Menschen und dem Guten. Damit wird deutlich, dass aus systematisch-theologischer Sicht die Theodizeefrage ebenso dramatisch berührt wird wie die Gotteslehre, Anthropologie und Ethik. Im Kontext einer Theologie nach Auschwitz, die nach der Katastrophe der Shoah nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann, wird Levinas zu einem unverzichtbaren und gesuchten Gesprächspartner. Er lehrte Philosophie an den Universitäten Nanterre und Sorbonne in Paris und wurde weltweit nicht nur als Philosoph, sondern auch als bedeutender Vertreter des christlich-jüdischen Dialogs wahrgenommen. Papst Johannes Paul II. (1920–2005) lud ihn mehrfach nach Rom ein, Papst Franziskus (* 1936) kennt das Denken von Levinas auch über die befreiungstheologische Rezeption.
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Biblisches Menschenbild: Sich-Verlassen in der Zeit Levinas ist inspiriert von der Bibel Israels und dem hebräischen Denken, das der Zeitlichkeit und körperlichen Verfasstheit des sterblichen Menschen anders auf der Spur bleibt als die griechische Philosophie mit ihrer Rede von einer unsterblichen Seele. Er verglich diese beiden Denkformen gerne mit Abraham und Odysseus. Abraham verlässt das sichere Zuhause und zieht in die Ferne, ohne auf eine Rückkehr zu spekulieren. Odysseus verlässt ebenfalls seine Heimat und erlebt viele Abenteuer, aber er kehrt wieder zurück. Er steht für den Menschen, der als reflektierendes Subjekt verstanden wird, das in der Selbstreflexion und im Selbstbewusstsein immer wieder auf sich zurückkommt und alles in das Eigene hineinholt. Abraham hingegen repräsentiert für Levinas die biblische Anthropologie, aus deren Sicht der Mensch durch die Zeit geht und auf eine Verheißung Gottes hin in eine offene Zukunft hinauszieht, wie im Exodus. Das Sich-Verlassen ist für Levinas die leibhaftige Bewegung der Transzendenz, des Sich-Überschreitens auf Gott und den Nächsten hin. Der Mensch ist ‚inkarniertes Bewusstsein‘. Der Körper ist das Organ der Transzendenz, denn das Fleisch des Menschen wird Wort, wenn wir uns in der Sprache dem anderen Menschen mitteilen. Im Sagen geschieht die leibhaftige Nähe zwischen uns, ich gebe mich dem Anderen, ich ex-poniere mich und setze mich ihm aus bis hin zur Verletzbarkeit und möglicherweise zur Gabe meines Lebens. Was bedeutet es, wenn einer für den Anderen stirbt, um ihn zu retten? Die Beziehung zum Anderen geht mir unter die Haut, bis in das Herz und in das Gewissen hinein.
Die Suche nach der Bedeutung des Lebens: Passivität und Sinnlichkeit Levinas rezipierte die Phänomenologie, die er bei Martin Heidegger (1889–1976) und Edmund Husserl (1859–1938) in Freiburg während seines Studiums kennengelernt hatte. Er ging von den dramatischen Erfahrungen seiner Zeit aus und fragte nach deren Bedeutung für den Menschen. Levinas nimmt die Frage Heideggers nach dem Sinn des Seins auf. Es gibt ungezählte Möglichkeiten, das, was zwi-
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schen den Menschen geschieht, zu deuten – wie finde ich die ursprüngliche Bedeutung? Ist die Bedeutung, die ich suche, mir vorgegeben oder kommt sie erst durch meine Reflexion zustande? Die Frage nach dem Ursprung der Bedeutung verbindet Levinas mit Husserl, der die Methode der Reduktion (Zurückführung) nutzte, um den Sachen auf den Grund zu gehen und zu einer Urimpression gelangte, die am Anfang unserer Erfahrungen steht und die Bedeutung der Sinnlichkeit herausstellt. Es hat einen Sinn, dass wir Sinne haben, denn sie bedeuten, dass wir Entscheidendes von außen empfangen. Unser Körper ist uns gegeben, wir sind geboren worden: Das alles geschah ohne unser Zutun. Unser Leben entspringt nicht unserer Freiheit, sondern kommt von einem Anderen her. Der Ursprung meines Lebens ist mir diachron entzogen, d. h., er liegt vor meiner Zeit. Levinas spricht von einer grundlegenden Passivität des Menschen, die dem Gegensatz von aktiv und passiv vorausgeht, und verbindet diesen Gedanken mit der Frage nach der Schöpfung durch Gott.
Anderheit und Bilderlosigkeit angesichts der Einzigkeit Gottes und des Menschen Diese Frage zielt in eine Dimension jenseits von Raum und Zeit, jenseits des Seins. Jetzt müssen wir mehr denken, als wir denken können. In diesen Bereich der Metaphysik (d. h. über das Physikalische hinausgehend) vorzustoßen, ist einem synchronisierenden Bewusstsein verschlossen, das gerne alles in seine Zeit und seine Vorstellung hineinholen möchte, getreu dem Motto: Der Andere oder Gott sind genau so, wie ich es mir denke. Levinas widerspricht: Sie sind nicht so, wie Du es Dir ausdenkst. Es gilt eine Diachronie, eine Trennung in der Zeit, zu beachten, die dazu führt, dass ich mich der Fremdheit des Anderen nicht bemächtigen kann. Levinas bringt den Dekalog ins Spiel: Du sollst Dir kein Bildnis machen! Das bedeutet, dass ich Gott und den anderen Menschen nicht auf das Bild zurechtstutzen darf, das ich mir von ihnen mache. Das verrät deren Würde, Einzigkeit und Geheimnishaftigkeit und beraubt sie ihrer Anderheit, ja übt Gewalt auf sie aus. Diese Überlegungen werden nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Religionspädagogik aufgenommen. Gebe ich dem anderen Menschen die Chance, das Bild, das ich von
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ihm habe, zu verändern? Nehme ich von Gott nur das an, was in mein Bild von ihm passt? Oder lasse ich mich auf ein Geschehen der Transzendenz und Offenbarung ein, in dem der Andere und Gott mir überhaupt erst zugänglich werden, wenn ich mich mit ihnen auf den Weg durch die Zeit begebe? Verlasse ich mich auf den Anderen und auf Gott, von denen ich die Bedeutung meines Lebens als einzigartiges und unersetzbares Individuum empfange?
Vorüberziehen des Unendlichen in der Zeit: der Spur Gottes folgen Transzendenz bedeutet ein Geschehen zwischen uns und Gott, in das wir von Anfang an mit Leib und Seele hineingezogen sind. Die Seele deutet Levinas als rätselhafte Beziehung des Menschen zu Gott, zum Unendlichen. Diese Beziehung geht uns als Gnade voraus, wir können sie erst im Nachhinein reflektieren und zur Sprache bringen. Es gibt eine Verspätung und Zeitverzögerung zwischen dem, was uns unmittelbar in der Gegenwart passiert, und unserem Nach-Denken darüber, das die Bedeutung des zuvor Geschehenen finden will und dazu der Erinnerung bedarf. Transzendenz passiert, sie geht vorüber in der Zeit, so wie es vom Vorüberzug Gottes an Mose in Ex 33 erzählt wird. Pessach bedeutet ein Vorübergehen Gottes in der Zeit, das unsere Zeit unendlich öffnet. Für Levinas liegt in der Rede vom Unendlichen eine doppelte Bedeutung. In der französischen Sprache bedeutet ‚in-fini‘ sowohl ‚im Endlichen‘ als auch ‚nicht endlich‘. Spürt man diesem Wort nach und verbindet es mit der Lektüre der Bibel, dann hat der Unendliche als unverfügbar entzogener Schöpfer eine unmittelbare Beziehung zum Endlichen. Levinas arbeitet als Lehrer des Talmud und der rabbinischen Tradition auch mit den Methoden der jüdischen Schriftauslegung (daher wird er auch in der Exegese wahrgenommen) und verfasst neben seinen philosophischen Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit sowie Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht eine Reihe bedeutender Talmudauslegungen. Die Sprache und die Worte je neu auf ihren Sinn hin zu befragen und ihre Uneindeutigkeit ernst zu nehmen – das macht die Ruhelosigkeit seines fragenden Denkens aus. So hält Levinas die fragile Spannung der biblischen Gottrede aus, die von der Immanenz Gottes in der Schöpfung und zugleich
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von seiner Transzendenz gegenüber der Schöpfung Zeugnis ablegt. Nähe und Entzogenheit Gottes geschehen in der Nähe und Entzogenheit des Nächsten, mit dem wir auf asymmetrische Weise konfrontiert sind. In persönlichen Gesprächen und Interviews fasste Levinas auf humorvolle Weise sein Denken gerne in einem Satz zusammen: „Nach Ihnen, meine Dame/mein Herr.“ „Après vous, Madame/Monsieur“. Levinas will zeigen, dass der Andere schon vor mir in der Welt ist, wenn ich auf die Welt komme. Ich bin Nachkomme, ich folge Menschen nach, ich bin nicht der Erste. Wer ist der Andere und woher kommt er? Wenn wir der Spur Gottes nachgehen, dann begegnen wir dem Anderen, der uns von Gott her entgegenkommt, uns anbefohlen wurde und uns beansprucht. Levinas hat die Verbindung von Gottesund Nächstenliebe betont und in einer Auslegung von Mt 25,40 gesagt, dass dies wörtlich wahr ist: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Auch wenn Levinas als Jude nicht an Jesus Christus als Messias im christlichen Sinn glaubte, konnte er die Menschensohnrede vom Weltgericht in Mt 25 doch so deuten, dass wir das, was wir einem Menschen leibhaftig geben, Gott geben und, was wir einem Menschen verweigern, Gott verweigern. Die Gegebenheit unseres Lebens befähigt uns zum Geben. Das bedenkt der aktuelle Gabediskurs in der Theologie.
Nachdenken über Inkarnation im jüdisch-christlichen Kontext: Ethik und Verantwortung Es ist spannend, dass sich bei aller Differenz Juden und Christen zutiefst nahe sind, weil beide auf ihre Weise Gottes- und Nächstenliebe unvermischbar und untrennbar verbinden. In einem bedeutenden Aufsatz mit dem Titel Ein Gott Mensch? (Un Dieu homme?) hat Levinas ausgeführt, wie er im Unterschied zu einer christlichen Rede von der Menschwerdung Gottes von Inkarnation sprechen will. Er deutet jeden Menschen als Stellvertreter des Anderen, jeder ist in eine Verantwortung für alle eingesetzt und genau darin besteht die messianische Berufung jedes Menschen durch Gott. Auch wenn der Dritte, die Gemeinschaft, hinzutritt, die mich in der Berufung zur Gerechtigkeit aus Gnade entlastet, darf ich meine Verantwortung nicht vergessen und sagen: Soll sich doch der Dritte um den Anderen
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kümmern! Dann wird die Gesellschaft inhuman. Jeder lebt seine unmittelbare Beziehung zum Unendlichen als nicht stillbare Sehnsucht nach dem Guten jenseits des Seins, der mich zum Nächsten führt. Denn die Beziehung zu Gott lässt sich nicht in ein Wissen oder eine Rede vom Sein (Ontologie) auflösen, sie geschieht als körperliche Nähe, die die Ethik zur ersten Philosophie werden lässt. Die Schöpfung verstanden als creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts), die in einer unvordenklichen Vergangenheit geschieht (d. h. in einer Vergangenheit, an die wir uns nicht erinnern oder denken können), eröffnet für uns Zeit und Raum, sodass sich das Leben zwischen uns entfalten kann. Die absolute Differenz zu Gott ist keine negative Größe, sondern eröffnet diesen Zeit-Raum der je eigenen Verantwortung, in der wir frei auf das Wort Gottes antworten, der uns schon zuvor grundlos aus Gnade erwählt und bei unserem Namen gerufen hat. Was bedeutet die Rede von einer grundlosen Gnade für unsere Begründungsverfahren? Gott hinterlässt seine Spur im Angesicht des Anderen, das uns beansprucht und uns zuruft: Du sollst/darfst nicht töten! Das bedeutet für Levinas: Wir haben eine unablässige Verantwortung für das Leben des Anderen, über den wir nicht verfügen können. Er erinnert an Immanuel Kant (1724–1804), der betont hat, dass der Andere nie Mittel zum Zweck für uns sein darf. Die Idee des Unendlichen wird, anders als bei René Descartes (1596–1650), ethisch gewendet und führt zur universalen Verantwortung. Die Bedeutung jedes Menschen kommt von einem Jenseits her, von ‚Jenem‘ (Ille), der die unvergleichbare Einzigkeit und Würde jedes Menschen stiftet, die nicht unserer Verfügung unterliegt. Damit zeigt uns Levinas, was die Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen bedeutet. Die Offenbarung Gottes geschieht durch den, der sie empfängt. Im Sinne der prophetischen Tradition der Bibel kommt Gott den Menschen in den Fremden, Erniedrigten und Armen nahe. Gott erscheint als erniedrigte Transzendenz, als demütige und verfolgte Wahrheit. Inkarnation bedeutet dann, an die äußerste Grenze der Geschöpflichkeit zu gehen, bis zu jener unvordenklichen Vergangenheit der Schöpfung, wo dem Menschen eine unendliche Verantwortung als Gabe von Gott geschenkt und zugetraut wurde: Was einer tut, kann für alle bedeutsam sein. Einzigkeit und Universalität sind für Levinas untrennbar verbunden, jeder von uns ist dazu berufen, die universale Verantwortung für die Welt zu tragen. In der heutigen
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globalisierten und vernetzten Welt sind diese Überlegungen von hoher Relevanz. Hat mein Handeln weltweite Auswirkungen, etwa wenn ich hier billige Klamotten kaufen will und das nur tun kann, weil anderswo in der Welt Kinder oder Erwachsene ausgebeutet werden? Wie weit reicht meine Verantwortung? Levinas provoziert und sagt, dass ich Leibbürge (frz. otage) des Anderen bin, wie in eine Intrige hineingezogen, aus der ich mich nicht lösen kann. Hier stellt sich die Frage nach meiner universalen Verantwortung und meiner Schuld. Aber der Andere eröffnet mir auch den Raum der Liebe und des Genießens, der Versöhnung und Befreiung von einer Selbstsorge, in der ich nur um mich kreise. Wir müssen ein Leben riskieren, das uns in seiner Fragilität und Ambivalenz immer wieder neu zur Deutung herausfordert. René Dausner, Christologie in messianischer Perspektive. Zur Bedeutung Jesu im Diskurs mit Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben, Paderborn 2016 (Studien zu Judentum und Christentum 31). (Dausner rezipiert den Gedanken der Messianität bei Levinas, um ihn für den jüdisch-christlichen Dialog und für eine nicht antijüdische Christologie fruchtbar zu machen, die bei aller Einheit die bleibende Differenz zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus ernst nimmt.)
Erwin Dirscherl, Die Bedeutung der Nähe Gottes. Ein Gespräch mit Karl Rahner und Emmanuel Levinas, Würzburg 1996 (BDS 22). (Ein inszenierter Dialog zwischen dem katholischen Theologen Karl Rahner und Emmanuel Levinas versucht zu zeigen, dass es bei allen Differenzen auch bedeutende grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen jüdischem und christlichem Denken gibt. Die Nähe Gottes hat eine ethische, d. h. die Beziehung zum Anderen betreffende Bedeutung.)
Norbert Fischer / Jakub Sirovátka (Hg.), Für das Unsichtbare sterben. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas, Paderborn u. a. 2006. (Beiträge von Theologen und Philosophen zeigen die Bedeutung der Rezeption des Denkens von Emmanuel Levinas für ihre Disziplinen auf.)
Carsten Lotz, Zwischen Glauben und Vernunft. Letztbegründungsstrategien in der Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas und Jacques Derrida, Paderborn u. a. 2008. (Eine Arbeit, die Levinas mit theologischen hermeneutischen Debatten verbindet und sich die Frage stellt, inwiefern in der Theologie eine bruchlose, auf Gott bezogene Letztbegründung der Wirklichkeit möglich ist.)
Christian Rößner, Der „Grenzgott der Moral“. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von
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Emmanuel Levinas, Freiburg i. Br. – München 2018 (Phänomenologie / Kontexte 26). (Rößner deutet Levinas als „außergewöhnlichen Leser Kants“, der u. a. die ethische Valenz des Eschatologischen, die auch bei Kant gegeben ist, radikalisiert und in der Tradition des kategorischen Imperativs steht.)
Stephan Trescher, Leiblichkeit und Gottesbeziehung. Eine Strukturanalyse ausgehend von Fichte und Levinas, Freiburg i. Br. – München 2018 (Scientia & Religio 15). (Trescher spürt der Frage nach der Bedeutung des Leibes für die Gottesbeziehung nach und will zu deren Beantwortung Phänomenologie (Levinas) und Transzendentalphilosophie (Fichte) in einen fruchtbaren Dialog bringen, wobei vor allem die Spannung zwischen Exponiertheit bzw. Passivität und Freiheit bzw. Aktivität in den Fokus gerät.)
Josef Wohlmuth (Hg.), Emmanuel Levinas. Eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn u. a. 21999. (In diesem Band findet sich neben theologischen Beiträgen zu ‚Ästhetik und Sprache‘, ‚Schöpfung aus dem Nichts‘, ‚Der Mensch als Subjekt‘, ‚Messianismus und Christologie‘ auch die Dokumentation zu einem spannenden Gespräch mit Emmanuel Levinas, das Teilnehmer:innen des Oberseminars von Josef Wohlmuth ���� in Paris geführt haben.)
Politische Phänomenologie und der Sinn menschlichen Handelns
Hannah Arendt Julian Tappen
Einerseits die Arbeit am Begriff nicht zu scheuen und andererseits zugleich den Durchgang durch die Wirklichkeit der Erfahrung konstitutiv für die philosophische Reflexion zu setzen: Gerade in dieser – letztlich und nicht nur in dieser Hinsicht Immanuel Kant (1724–1804) verpflichteten und zugleich unnachahmlich gegenwartsbezogenen – Art zu Philosophieren liegt für die Theologie ein enormes Potenzial, das die Beschäftigung mit Hannah Arendt (1906–1975) reizvoll macht. Ihr politisch-philosophisches Denken lässt sich weder einer philosophischen Strömung oder politischen Bewegung im engeren Sinne zuordnen, noch hat sich durch ihr Wirken selbst so etwas wie eine theoretische Schule entwickelt. Ein Schlüssel zum Verständnis der Kernthesen ihres umfangreichen Werks, das von aktuellen essayistischen Einlassungen über historisch-politische Untersuchungen bis hin zu überaus anspruchsvollen philosophischen Reflexionen reicht, ist daher ohne Rekurs auf ihr bewegtes Leben ‚in finsteren Zeiten‘ kaum zu gewinnen.
Leben und Werk Geboren als Tochter jüdischer Eltern, aufgewachsen in Königsberg, entwickelt Arendt früh Interesse an klassischer Philologie und Philosophie. In fachlicher wie persönlicher Hinsicht prägen sie die intensiven Beziehungen während ihres Studiums vor allem bei Martin Heidegger (1889–1976) in Marburg und ihrem Doktorvater Karl Jas-
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pers (1883–1969) in Heidelberg, dem sie bis zu seinem Tod freundschaftlich eng verbunden bleibt. Auch wenn die in ihrer Dissertation schon angelegten Motive (existenzielle Zeitstruktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Natalität; Gemeinschaft) als Vorarbeiten zu ihrem späteren Werk gelesen werden können, so emanzipiert sich Arendt doch nach dessen Erscheinen von der den Liebesbegriff bei Augustin (1929) noch bestimmenden Existenzphilosophie heideggerscher Prägung. Abgeschreckt von der allzu willfährigen Gleichschaltung weiter Teile der intellektuellen akademischen Elite, wendet sie sich von der Universität ab und zieht damit auch Konsequenzen aus dem Bewusstwerden der politischen Bedeutung ihrer Zugehörigkeit zum Judentum. In der Folge politisiert sich Arendt über die kritischzustimmende Auseinandersetzung mit der zionistischen Bewegung und engagiert sich in verschiedenen jüdischen Organisationen zuerst in Berlin, dann nach der Machtergreifung Adolf Hitlers (1889–1945) in Paris. In dieser Zeit setzt sich Arendt über die Arbeit an der Biografie Rahel Varnhagen (abgeschlossen 1938 in Paris, veröffentlicht 1958, als Habilitationsschrift anerkannt erst 1971) mit der Geschichte der jüdischen Minderheit in Europa auseinander, indem sie die Unterscheidung von bewusstem, außerhalb der Gesellschaft stehendem Paria und zwar assimiliertem, aber dennoch stets diskriminiertem Parvenu entfaltet. Nach der Emigration 1933 wird Arendt 1937 staatenlos und verliert damit, wie sie später formulieren wird, ihr ‚Recht, Rechte zu haben‘. Erst 1951 wieder konnte sie die US-amerikanische Staatsangehörigkeit annehmen. Getrennt von ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher (1899–1970) erleidet Arendt Wochen der Gefangenschaft in einem französischen Internierungslager, bevor ihnen die Flucht in die USA gelingt. Nach Anstellungen als Lektorin und später als Dozentin erfährt die Welt im Winter 1942/43 von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Fortan widmet sich Arendt der Rekonstruktion derjenigen vor-totalitären Verhältnisse, die zur nationalsozialistischen (und stalinistischen) Herrschaft geführt hatten. Erfahrungsgesättigt und minutiös recherchiert, identifiziert sie in The Origins of Totalitarianism (1951) / Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Imperialismus als deren konkrete, historische Bedingungen. Insbesondere die Beschreibung der Ent-Individualisierung und Vermassung der Bürger:innen zum manipulierbaren
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‚Mob‘ bilden die Erfahrungsgrundlage für einen der Kernbegriffe ihres gesamten Denkens: Pluralität. Das ‚radikal Böse‘, mit dem sich Arendt hier konfrontiert, verleugnet und setzt diese Bedingung menschlichen Handelns außer Kraft und schafft damit die Voraussetzung zur „Massenfabrikation von Leichen“ (Arendt, Elemente, 921) sowie für den Zusammenbruch von Moral überhaupt. Die Durchsetzung totalitärer Herrschaft verläuft parallel zur schrittweisen Entrechtung und Tötung der der Ideologie zum Opfer fallenden Menschen. Am Beispiel der Verfolgung der Jüd:innen in der totalen Herrschaft des Nationalsozialismus lassen sich nach Arendt drei Stadien unterscheiden: Nachdem eine Minderheit zunächst nur bestimmter Rechte, dann ihres legalen Status schlechthin beraubt ist, wird sie – dem der totalen Herrschaft essenziell zugehörenden Terror ausgesetzt – als moralische Person vernichtet, insofern ihr faktisch die Wahl zwischen Gut und Böse nicht mehr zur Verfügung gestellt ist und etwa bloß noch die Frage gestellt werden kann, Freunde oder Familie zu verraten. Schließlich erproben die Konzentrationslager den Versuch der „Transformation der menschlichen Natur selbst“ (ebd., 940 f.): Als Individuum getilgt, dem Ablauf des Lagers um den Preis der Spontaneität total unterworfen und durch buchstäbliche Gleichförmigkeit zur bloßen Nummer degradiert, ist den Opfern der totalitären Herrschaft jede Macht zu handeln genommen – sie werden ‚überflüssig‘ und als solche schließlich ermordet. Meinungsstark und nicht unumstritten ergreift Arendt auf Grundlage ihrer Forschung auch Partei in der politischen Debatte um die Gründung des Staates Israel, wobei sie die Idee eines einheitlichen jüdischen Nationalstaates ablehnte, dessen Möglichkeit sie – selbst zu diesem Zeitpunkt noch immer staatenlos – nur auf Kosten des vollen Bürgerstatus’ der in Palästina lebenden arabischen Bevölkerung verwirklicht sah. Im denkenden Durchgang durch die politische Wirklichkeit selbst drängt sich Arendt also das menschliche Handeln als philosophisches Problem auf, dem sie sich in der als philosophisches Hauptwerk angesehenen Schrift The Human Condition (1958) / Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960) widmet und von den Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens unterscheidet. Zur Zeit der Abfassung des Manuskripts dieses Werks hatte sich die Situation der ‚Neuankömmlinge‘ Arendt-Blücher in den USA nach emotional wie finanziell har-
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ten Jahren stabilisiert, Arendt nahm Vortragstätigkeiten und Gastprofessuren u. a. in Princeton, Berkeley und an der University of Notre Dame wahr. In der Vita activa entwickelt sie eine Handlungstheorie, die eingebettet ist in eine Untersuchung dessen, was Menschen ‚tun, wenn sie tätig sind‘. Arendt identifiziert drei Konstellationen, unter denen sich menschliches Leben vollzieht, die drei qualitativ voneinander unterschiedene Tätigkeitsweisen bedingen. Die Bedingung des Arbeitens ist das Leben selbst, das ein Tätigsein zur Selbsterhaltung erfordert. ‚Weltlichkeit‘ bedingt die Tätigkeit des Herstellens von Artefakten. Handeln schließlich findet seine notwendige und hinreichende Bedingung in der Tatsache der Pluralität gesellschaftlichen Zusammenlebens. Nur wenn und weil Menschen einander ähneln und doch voneinander unterschieden sind, lässt sich sprechend und handelnd in den Weltverlauf eingreifen. Besonders das Handeln wurzelt dabei noch einmal in einer alle Bedingungen noch gründende Voraussetzung, die Arendt ‚Natalität‘ nennt: Menschen kommen durch Geburt zur Welt. Gemäß des von Arendt oft zitierten Diktums ‚Werde, was du bist!‘ sind Menschen aufgefordert, diese Anfänglichkeit des eigenen Daseins handelnd in die Tat zu setzen. Als Neuanfang entspricht solch kreatives und (im engeren Sinne) spontanes Handeln dem kantischen Freiheitsbegriff als dem Vermögen, „aus eigener Initiative etwas Neues anfangen“ zu können. Im selben Maße aber sind freie Handlungen eingelassen in ein ‚Bezugsgewebe‘, d. h. die der Pluralität geschuldeten Absichten und Zwecke anderer Akteur:innen. Die Unabsehbarkeit der eigenen Handlung im Bezugsgewebe, die – einmal gesetzt – weder kontrolliert noch widerrufen werden kann, erfordert dabei zwei spezifische Formen der Handlung zur beständigen Möglichkeit, ‚neu zu beginnen‘. Versprechen und Verzeihen als die Exempla menschlichen Handelns schlechthin schaffen ‚Inseln des Voraussehbaren‘ und entlasten von den Folgen der in der Vergangenheit gesetzten Handlung und gewähren den anderen die Freiheit, je neu zu handeln. Hier verortet Arendt zudem die genuin politische Dimension menschlicher Aktivität. Nur im ‚Zwischen‘ der Pluralität menschlicher Personen entsteht ein Raum, in dem gemeinsames Handeln ermöglicht wird. Wo dies geschieht, entsteht eine im engeren Sinne politische ‚Handlungsmacht‘, die Arendt vom instrumentellen Charakter der Gewalt unterscheidet.
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1961 eröffnet sich für Arendt die Möglichkeit, den Jerusalemer Prozess gegen den Organisator und Verantwortlichen der Deportationen des NS-Staates, Adolf Eichmann (1906–1962), als Berichterstatterin für ein US-amerikanisches Magazin zu verfolgen. Aus ihren Beobachtungen geht Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil (1963) / Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen (1964) hervor, das eine scharfe, lang anhaltende Kontroverse über den von ihr eingeführten Begriff der ‚Banalität des Bösen‘ sowie die Rolle der sog. Judenräte in der Verfolgung der europäischen Jüd:innen auslösen sollte. Mit Arendts Urteil über Eichmann, dem sie eine Unfähigkeit des Denkens und Urteilens bescheinigt, das ‚banale‘ Unvermögen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ist der Weg gewiesen in Arendts Spätwerk und die zweite große (unvollendete) philosophische Schrift The Life of the Mind (1978) / Vom Leben des Geistes (1979), dessen drei Teile die vita contemplativa in der Einheit von Denken, Wollen und Urteilen reflektieren. (Den dritten Teil konnte Arendt nicht mehr schreiben.) Wiederum schließt erst die Konfrontation mit der politischen Wirklichkeit die Möglichkeit deren philosophischer Durchdringung auf. In diesem letzten Werk ist es näherhin die Frage, ob das Denken, das zweckfreie Zwiegespräch mit sich selbst, geradezu verhindern kann, dass Menschen das Böse tun. Arendt kann von diesem Werk allein die ersten beiden Bände in zwei Vorlesungsreihen in Schottland entwickeln, bevor sie 1975 an einem Herzinfarkt stirbt. Arendts Denken gleicht einem mäandernden Fluss, der in seinen Wendungen und seinem weiten Ausgreifen in die verschiedenen Landschaften noch derselbe Fluss bleibt, in dessen Strom all das aufgenommen, was die vorgängigen Bedingungen seines Flusslaufes gewesen ist. Die Texte Arendts sind bei aller thematischen Weite keine disparaten Texte, sondern innerlich verbunden in der Frage nach dem Sinn menschlichen Handelns. Letztlich denkt und schreibt Hannah Arendt in ihrer eigenen Art phänomenologisch: Nur im Durchgang durch die Erfahrung erschließt sich der Sinn unserer geteilten Welt. Darin unterwarf sie sich keiner vorgeformten Philosophie, sondern dachte – um ihren eigenen Ausdruck zu verwenden – ‚ohne Geländer‘.
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Theologische Bedeutung Weil Arendts Thesen und ihre besondere Sensibilität für die politische Gegenwart bis heute nichts an ihrer Dinglichkeit verloren haben, bieten sie zugleich eine Fülle von Anknüpfungspunkten für eine Theologie, die nach den Zeichen der Zeit forscht. Dabei hinkt die theologische Rezeption der philosophischen und politikwissenschaftlichen Wiederentdeckung Arendts der letzten Jahre noch hinterher. Das ist insofern verwunderlich, als Arendts eigener Bezug auf religiöse Gehalte durchaus die Form hat, die Jürgen Habermas (* 1929) später als Übersetzungsleistung einfordern wird. Perlentauchend nach den ungehobenen Schätzen der Tradition findet sie etwa in der Genesis die Dimension des Anfang-Setzens, die eine Handlung als solche auszeichnet. Damit ist zugleich eine jüdisch-messianische Tradition aufgerufen, so etwa im Zitat von Jes 9,5: „Denn ein Kind wurde uns geboren […]“. Diese Spur verfolgt sie auch innerhalb der christlichen Tradition weiter, wenn sie auf die Entdeckung der Bedeutung des Verzeihens im Handeln Jesu hinweist. In sozialethischen Fragestellungen sind heute etwa Arendts Beitrag zum Menschenrechtsdiskurs aufgenommen worden, auch ihre Thesen zu Migration und Flucht haben nicht zuletzt aufgrund der gegenwärtigen politischen Verhältnisse theologisch Gehör gefunden. Systematisch-theologisch bietet neben Arendts Überlegungen über das Böse vor allem die Vita activa vielversprechende Anknüpfungspunkte für theologische Reflexionen. Besonders ihr Handlungsbegriff kann dabei mit Arendt über sie hinaus zur Erhellung der Rede vom Handeln Gottes aus Freiheit bedacht und über die Unterscheidung von Macht und Gewalt näher konturiert werden. Zudem lässt sich ihr Begriff des Verzeihens in den zeitgenössischen eschatologischen Vergebungsdiskurs einspeisen. Im Akt des Verzeihens nämlich, so Arendt, kommt dem Verzeihenden die eigentümliche Macht zu, in das Schöpfungswort Gottes mit einzustimmen. Im Akt des Verzeihens ereignet sich gleichsam eine creatio nova. Grundsätzlich steckt in den einschlägigen theologischen Disziplinen die Rezeption der (politischen) Philosophie Arendts noch immer in den Anfängen. So entwickelt sich in jüngerer Zeit erst ein zunehmend lebhafter theologischer Diskurs um Arendt, von dem noch spannende Impulse erwartet werden dürfen.
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Richard J. Bernstein, Denkerin der Stunde. Über Hannah Arendt, aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, Berlin 2020. (Leicht zugängliche Einführung in das politische Denken Arendts, dessen Relevanz an drängenden politischen Gegenwartsfragen diskutiert wird.)
Peter Gratton / Yasemin Sari (Hg.), The Bloomsbury Companion to Arendt, London 2020 (Bloomsbury Companions). (Umfassendes Handbuch, das den – vor allem politisch-philosophischen – Stand der Arendt-Forschung dokumentiert. Mit Informationen zu Einzelschriften, Referenzen und zentralen Konzepten.)
John Kiess, Hannah Arendt and Theology, London – New York 2016 (Philosophy and Theology). (Bisher einzige breitere Studie über die Potenziale der Philosophie Arendts für die Theologie, in der besonders das Böse, die Sorge um die Welt und das Handeln sowie Arendts Spätwerk Beachtung finden.)
Christa Schnabl, Das Moralische im Politischen. Hannah Arendts Theorie des Handelns im Horizont der theologischen Ethik, Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Forum interdisziplinäre Ethik 23). (Sehr genaue Lektüre der handlungstheoretischen Grundbegriffe vor allem in der Vita activa und bislang einzige deutschsprachige moraltheologische Monografie zu Arendt.)
Julian Tappen, Hoffen dürfen. Fundamentaleschatologische Überlegungen zu einer zeitgemäßen Eschatologie der Versöhnung, Regensburg 2020 (RaFi 74), bes. 157–170. (Fundamentaltheologische Rezeption des Begriffs des Verzeihens zur Erhellung des ureigenen eschatologischen Gehalts christlicher Hoffnung.)
Saskia Wendel, Vergebung und Zusage. Hannah Arendts Begriff des Handelns und seine Bedeutung für die Bestimmung des Handelns Gottes, in: ZKTh 135 (2013) 414–432. (Eine der wenigen systematisch-theologischen Rezeptionen der zentralen Begriffe von Handeln, Macht und Vergebung aus der Vita activa.)
Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, aus dem Amerikanischen von Hans Günther Holl, Frankfurt a. M. 1986. (Umfassende, textbezogene Biografie, verfasst von einer Schülerin Arendts – Standardwerk zu Werk und Person.)
Vermittelte Zugänge zu Selbst und Welt
Paul Ricœur Veronika Hoffmann
Das Werk von Paul Ricœur (1913–2005) überspannt mehr als ein halbes Jahrhundert. In dieser Zeit hat er nicht nur eine große Bandbreite von Themen bearbeitet, sondern sich dabei auch von verschiedensten theoretischen Perspektiven anregen lassen. So hat er sich unter anderem mit politischer und analytischer Philosophie, mit Psychoanalyse, Literaturwissenschaft, Recht und Geschichtstheorie befasst. Das lässt zum einen den Stil von Ricœurs hermeneutisch orientierter Phänomenologie erkennen, die nicht von markanten Thesen und polemischen Abgrenzungen gekennzeichnet ist, sondern sich eher im Gespräch mit anderen Positionen herausschält – und dementsprechend eine geduldig mitgehende Lektüre erfordert. Zum anderen hat das zur Folge, dass aus seinem Werk vielfach je bestimmte Teilzusammenhänge für bestimmte Fragen rezipiert werden, weniger das Werk als Ganzes. Für die folgende Darstellung bedeutet das, dass sie nur begrenzt synthetisieren kann und sich auf einige zentrale Themenfelder beschränken muss. Auch die theologische Rezeption hat Schwerpunkte gesetzt. Diese wurden zum Teil dadurch begünstigt, dass Ricœur selbst sich zwar ausschließlich als Philosoph verstand, aber immer wieder auch Themen seines christlichen Glaubens behandelt hat, insbesondere im Blick auf die Hermeneutik der Bibel. So wird Ricœurs Symbol-, Metaphern- und Gleichnistheorie in der Theologie vielfach aufgegriffen. Darüber hinaus dient seine Rede vom ‚Konflikt der Interpretationen‘ in fundamentaltheologischen Begründungsdiskursen als ein Modell, um die Plausibilitätsstruktur des christlichen Glaubens insbesondere angesichts reduktionistischer Alternativen zu formu-
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Paul Ricœur
lieren. Und seine Hermeneutik des Selbst wird als anthropologische Basis z. B. für Überlegungen zur Struktur der Offenbarung und zum Selbstverständnis des glaubenden Subjekts herangezogen. Theoretisch kleinräumigere, aber zum Teil markante Zugriffe betreffen u. a. seine Überlegungen zum Zeugnis, zu Gabe und Anerkennung, zur Symbolik des Bösen, zum Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik und zum Verzeihen. Als ein Grundcharakteristikum ricœurschen Denkens lässt sich die Ablehnung jeder Form von ‚absolutem Ausgangspunkt‘ verstehen. Weder kann das Subjekt ‚bei sich‘ beginnen noch ist ihm die Welt einfach ‚gegeben‘. Das bedeutet umgekehrt weder eine Zersplitterung des Subjekts noch ein radikal konstruktivistisches Wirklichkeitsverständnis, sondern führt auf Wege eines vermittelten Zugangs zum Anderen, zur Welt und zu sich selbst. Werkchronologisch ein erstes Mal deutlich erkennbar ist das in Ricœurs Überlegungen zur Symbolik des Bösen (frz. 1960). Über die grundsätzliche Fehlbarkeit des Menschen hatte Ricœur zuvor noch reflexionsphilosophisch nachgedacht. Das Geheimnis des tatsächlichen Bösen ist einem solchen direkten Zugriff jedoch entzogen. In die Lücke tritt das Symbol, das ‚zu denken gibt‘, wie ein berühmtes Diktum Ricœurs lautet: Das Symbol geht einerseits dem philosophischen Diskurs voraus, ‚gibt‘ ihm ‚vor‘, woran er sich denkerisch abarbeitet. Aber es ‚gibt‘ eben auch etwas, woran das Denken anknüpfen kann, sodass symbolische Darstellung und begriffliche Klärung spannungsreich zusammengehören. Aus einer Methode für den ‚Grenzfall‘ des Zugangs zum Bösen wird in der Folgezeit für Ricœur eine Grundeinsicht. So ist auch seine Text- und Metaphernhermeneutik davon geprägt, dass wir keinen unmittelbaren, sondern immer einen durch Interpretation vermittelten Zugang zur Welt und zu uns selbst haben. Diese Vermittlung stellt jedoch keine Verfälschung, sondern eine Erschließung dar. Einen Text versteht Ricœur deshalb nicht als das Derivat eines Gespräches, sondern als eine eigene Größe mit eigenen Möglichkeiten. Durch die Distanz vom Autor und die Loslösung aus einem konkreten Kontext ist der Text in der Lage, eine eigene ‚Welt‘ zu entwerfen, in die der Leser eintreten kann. Dieser wird, indem er den Text interpretiert, seinerseits vom Text geprägt: Verstehen heißt ‚SichVerstehen vor dem Text‘.
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In analoger Weise gilt für die Metapher, dass sie keine ‚uneigentliche Rede‘ ist – eine Art sprachliche Dekoration, deren Unschärfe idealerweise vollständig in begrifflich-präzise Rede zu überführen wäre. Vielmehr stellt sie eine schöpferische Sprachform dar, bei der zwei semantische Felder aufeinandertreffen, die sich auf der wörtlichen Sinnebene nicht verbinden lassen und so den Leser oder Hörer auffordern, einen neuen, metaphorischen Sinnzusammenhang zu suchen (Die lebendige Metapher, frz. 1975). Eine Metapher ist nicht vollständig durch begriffliche Rede ersetzbar, weil sie, ähnlich dem Symbol, auf einen dem Begrifflichen nicht direkt zugänglichen Bereich zielt. Ebenso wie das Symbol verschließt sie sich deshalb aber keineswegs der Interpretation und der begrifflichen Klärung, sondern fordert sie gerade, ohne dass die Spannung zwischen Vereindeutigung einerseits und dem ‚Mehr-Sagen‘ andererseits aufgelöst würde. Ricœurs Metapherntheorie ist insbesondere in der biblischen Theologie vielfach verwendet worden, um mit ihr die neutestamentlichen Gleichnisse zu erschließen, und auch Ricœur selbst hat dazu Überlegungen vorgelegt. Ähnlich wie in seiner Deutung der Polyphonie biblischer Gottesrede Gott als einer benannt wird, der nicht in einem einzelnen Namen zu erfassen ist, richten sich die Gleichnisse Jesu auf das Reich Gottes als den in vielfältiger Weise angezielten, aber nicht erreichbaren und begrifflich einholbaren Fluchtpunkt. Neben diesen Formen einer Hermeneutik, die vorrangig die Kreativität und Erschließungskraft der Sprache zur Geltung bringt, findet sich bei Ricœur eine weitere, diesmal konfliktive hermeneutische Grundfigur, die gerade auch in der Theologie einflussreich geworden ist: der ‚Konflikt der Interpretationen‘. Ricœur hat ihn zunächst in Auseinandersetzung mit der freudschen Psychoanalyse herausgearbeitet (Die Interpretation, frz. 1966), seine Bedeutung reicht aber erheblich weiter. So sind beispielsweise auch Karl Marx (1818–1883) und insbesondere Friedrich Nietzsche (1844–1900) als ‚Meister des Zweifels‘ zu verstehen. Deren ‚Hermeneutik des Verdachts‘ zielt nicht auf die sich eröffnende Wahrheit des zu Interpretierenden, sondern will diesem vielmehr entlocken, was es gerade zu verbergen sucht: Was sich als Sinnstruktur darstellt, hat in Wirklichkeit seine Wurzel im Begehren; das Symbol ist ein Symptom.
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Ricœur sucht nach Möglichkeiten, diesen Konflikt fruchtbar zu machen, ohne ihn vorschnell zu entschärfen. Indem er einerseits die Kritik der Verdachtshermeneutik beispielsweise an religiösen Idolisierungen ernst nimmt, andererseits aber die Notwendigkeit bestreitet, bei einem regressiven Zweifel stehenzubleiben, zielt er auf die Möglichkeit einer ‚zweiten Naivität‘. Diese lässt sich erreichen, wenn man die ‚erste Naivität‘ aufgegeben und die ‚Wüste der Kritik‘ durchschritten, sich der Wahrheit der ‚Hermeneutik des Verdachts‘ gestellt hat, ohne sie für die einzige Wahrheit zu halten. Die theologisch vielfach aufgegriffene Rede von der ‚zweiten Naivität‘ ist freilich nicht so misszuverstehen, dass Ricœur damit den stabilen Endpunkt einer hermeneutischen Bewegung angäbe, die sich nur kurzzeitig von der Kritik hätte irritieren lassen. Er betont vielmehr das unaufhebbar konfliktive Verhältnis zwischen einer ‚Hermeneutik des Sinns‘ und einer ‚Hermeneutik des Verdachts‘. Es gibt im ‚Konflikt der Interpretationen‘ mögliche Klärungen durch die wechselseitige Kritik ebenso wie begrenzte argumentative ‚Gewinne‘ im Blick auf eine angemessenere Interpretation der Wirklichkeit, aber keinen definitiven Sieg. Mit Ricœurs Freud-Interpretation gesprochen: Dass unsere Ideale nichts weiter sind als beschnittene Wünsche, kann nie definitiv ausgeschlossen werden. Die anthropologische Grundierung von Ricœurs Denken tritt in seinem späten, wohl bedeutendsten Werk Das Selbst als ein Anderer (frz. 1990) deutlich zutage. Ricœur entwickelt hier eine ‚Hermeneutik des Selbst‘, die in gewisser Weise wiederum aus einem Konflikt der Interpretationen erwächst. Dieser besteht zwischen den ‚Philosophien des Cogito‘, die im Gefolge René Descartes’ (1596–1650) bei einem seiner selbst gewissen Subjekt beginnen, und denen des ‚AntiCogito‘, insbesondere bei Nietzsche. Während Descartes Ricœur zufolge nur eine punktuelle Identität ohne Geschichte und Veränderung erreicht, betrachtet es Nietzsche noch als die letzte große Illusion, sich ein ‚Subjektsubstrat‘ als Basis aller Denkakte einzubilden. Ricœur will gegen die Überschätzung des Subjekts auf der einen und seine Unterschätzung auf der anderen Seite das Selbst als ein implizites denken, das nicht der Ausgangs-, sondern der Endpunkt der Reflexion ist. Die Frage nach dem Selbst beantwortet er deshalb auf dem Weg über eine mehrfache Frage nach dem Wer: ‚Wer spricht?‘, ‚Wer handelt?‘, ‚Wer erzählt?‘, ‚Wer ist das Subjekt der moralischen Zuschreibung?‘.
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Das Erzählen ist in diesem Zusammenhang insofern von besonderer Bedeutung, als Ricœur die Identität des Selbst als eine narrative versteht. Er greift dabei auf frühere Überlegungen zur Bedeutung der Narrativität für das Verständnis von menschlicher Zeit und Geschichte (Zeit und Erzählung I–III, frz. 1983–1985) zurück: Wer jemand ist, wird deutlich an der Geschichte, die er über sich erzählt. Diese Geschichte kann grundsätzlich verschieden erzählt werden, und sie verändert sich durch je neue Ereignisse, die möglicherweise sogar ihre bisherige Kohärenz bedrohen. Darüber hinaus entwickelt Ricœur, um mit dem Problem der Zeit für die personale Identität umzugehen, einen doppelten Identitätsbegriff: Während die ‚Selbigkeit‘ (idem) zeitliche Kontinuität als Gegenteil von Veränderlichkeit bezeichnet, bezieht die ‚Selbstheit‘ (ipse) solche Veränderlichkeit gerade in die Identität der Person ein, z. B. im Halten eines Versprechens. In der berühmt gewordenen letzten Abhandlung des Buches markiert Ricœur das Selbst schließlich als eines, das zutiefst durch Andersheit berührt und geprägt ist. Diese Andersheit kommt in drei Modalitäten vor: derjenigen des eigenen Leibes, der einerseits ein Teil meiner selbst, andererseits ein Körper unter anderen Körpern in der Welt ist; derjenigen des anderen Menschen, der mir weder als ein Alter Ego noch als ein radikal Fremder begegnet; und derjenigen des Gewissens, das aus mir stammt und mir doch entzogen ist und mich ungefragt in die Pflicht nimmt. In seinen letzten großen Werken hat Ricœur sich mit Fragen zu Gedächtnis und Vergebung (Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, frz. 2000) sowie zur Anerkennung (Wege der Anerkennung, frz. 2004) noch einmal neuen Themen und Diskursen zugewandt. Aber auch hier bleibt die Fluchtlinie seines Denkens erkennbar: Nicht nur zu sprechen, sondern zu handeln, zu erzählen und moralisch Verantwortung zu übernehmen, kennzeichnet ein Selbst, das sich in diesen Vollzügen artikuliert und gewissermaßen findet. Auch Versprechen, Verzeihen, Anerkennen, Geben und Empfangen sind Figuren, in denen sich das Menschsein in seinen Möglichkeiten wie seinen Begrenztheiten ausdrückt und verwirklicht.
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Paul Ricœur
Jens Mattern, Ricœur zur Einführung, Hamburg 1996 (Zur Einführung 119). (Eine klassische Einführung in Ricœurs Werk aus philosophischer Perspektive. Leider gibt es keine Neuauflage, sodass die letzten zehn Jahre von Ricœurs Werk fehlen.)
Stefan Orth / Peter Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg i. Br. – München 2004. (Entstanden aus einer Tagung zu seinem ��. Geburtstag, werden hier einige Schlaglichter auf Ricœurs Gesamtwerk gesetzt: von den Anfängen seines Denkens bis zu Kernpunkten seines letzten Buches, die Ricœur selbst referiert.)
Stefan Orth / Peter Reifenberg (Hg.), Poetik des Glaubens. Paul Ricœur und die Theologie, Freiburg i. Br. – München 2009. (Ein empfehlenswerter Band für die Frage, welche Bedeutung Ricœurs Werk für die Theologie hat.)
David Pellauer, Ricoeur. A Guide for the Perplexed, London 2007 (Guides for the Perplexed). (Pellauer ist ein exzellenter Ricœur-Kenner, und der Band ist ausdrücklich als ein erster, einfacher Zugang zum umfangreichen und vielschichtigen Werk Ricœurs geschrieben. Etwas Vergleichbares sucht man auf Deutsch bisher vergebens.)
Paul Ricœur, Eine intellektuelle Autobiographie (1995), in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übersetzt und hg. von Peter Welsen, Hamburg 2005, 3–78. (Hier gibt Ricœur selbst einen vergleichsweise leicht zu lesenden Überblick über seinen Denkweg – allerdings fehlen auch hier die letzten zehn Jahre.)
Autonome Freiheit und die Frage nach Gott
Transzendental- und Bewusstseinsphilosophien im 20. Jahrhundert Magnus Lerch Grundzüge und theologische Bedeutung der erneuerten Transzendentalphilosophie(n) Im 20. Jahrhundert nehmen die Vertreter einer Transzendental- und Bewusstseinsphilosophie ein kritisch-konstruktives Verhältnis zur Geschichte dieser Philosophietradition ein und entsprechen auf diese Weise der Selbstreflexivität des transzendentalen Verfahrens. Die gültigen Einsichten der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804) und des Deutschen Idealismus werden aufgenommen, zugleich aber deren Problemüberhänge bearbeitet. So bleibt einerseits die aus der kopernikanischen Wende folgende Weichenstellung maßgeblich, dass die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des theoretischen Erkennens und praktischen Handelns auf Strukturen im menschlichen Subjekt zurückzuführen sind. Dementsprechend ist jeder Anspruch auf Objektivität, Wahrheit und Geltung vor dem Forum der autonomen Vernunft des Subjekts zu verantworten. Aber Autonomie (Selbstbestimmung) ist nicht Autarkie (Selbstgenügsamkeit). In verschärfter Form reflektieren die im Folgenden vorgestellten Konzepte Endlichkeit, Geschichtlichkeit und Intersubjektivität der Vernunft. Von dieser Basis aus ergeben sich neue Zugänge zur Gottesthematik. Denn gerade in dem Maße, in dem Vernunft sich als autonome weiß und das kritische Fragen nach ihren Voraussetzungen nicht abbricht, geht ihr die Angewiesenheit auf einen unverfügbaren Grund jenseits ihrer selbst auf. Das führt nicht zu einer Erneuerung der Gottesbeweise (deren kantische Kritik wird vielmehr für gültig befunden) – wohl aber zur anthropologischen Verortung der Frage nach Gott: sei es in der Freiheit des Menschen (Hermann Krings), im menschlichen Selbstbewusstsein (Dieter Henrich) oder in den pluralen und konfliktreichen Weisen der Selbst- und Welterfahrung (Richard Schaeffler).
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Transzendental- und Bewusstseinsphilosophien im 20. Jahrhundert
Für die Theologie ergibt sich die Chance, die Autonomie als Grundprinzip der Moderne sowie ihrer Denk- und Lebenswelten anzuerkennen und in eins damit auch die methodische Autonomie der Philosophie – um gerade von hier aus (also ohne theologische Vorentscheidungen) die Gottesfrage als dem Menschen wesentliche zu erweisen und so in ihrer theoretischen Vernünftigkeit und universalen Bedeutsamkeit zu sichern (das klassische Anliegen der sog. ‚natürlichen Theologie‘). Angesichts des autonom-philosophischen Ansatzpunktes ergibt sich eine deutlichere Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie, Vernunft und Offenbarung, Wissen und Glaube im Vergleich zu dezidiert transzendentaltheologischen Entwürfen (wie demjenigen Karl Rahners). Aus dieser Unterscheidung folgt jedoch keine Beziehungslosigkeit. Vielmehr rückt die konkrete Geschichte als der entscheidende Ort der Offenbarung und des Heils ins Zentrum, an dem erfüllt und überboten wird, was Vernunft nur postulieren kann: dass Gott als absoluter Sinngrund im Endlichen offenbar und wirksam wird und aus seiner Zuwendung sich der Mensch neu bestimmen kann.
Hermann Krings: Transzendentale Freiheitslehre Hermann Krings’ (1913–2004) Transzendentalphilosophie ist an Immanuel Kant und dem Frühwerk von Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814) orientiert: an Fichte insofern, als sie Freiheit als unhintergehbare Möglichkeitsbedingung aller menschlichen Vollzüge, als Wurzel von Vernunft, Moralität und Identität begreift; an Kant, weil Freiheit in dieser Prinzipienfunktion nur zu denken und nicht zu erkennen ist. Sie ist weder ableitbar, noch kann sie zum Aufbau eines (idealistischen) Deduktionssystems beansprucht werden, in dem die Einheit von Vernunft, Sinn und Wirklichkeit apriorisch gesichert ist. So legt Krings eine Theorie transzendental unbedingter, aber endlicher Freiheit zugrunde. Diese ist ge-
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prägt von inneren Spannungen und Ambivalenzen, die nicht aufgelöst werden dürfen, sondern kritisch bedacht werden müssen. Dies gilt schon für den elementaren Begriff von Freiheit, für den die Unterscheidung von Form und Gehalt wichtig ist. Diese Unterscheidung impliziert eine doppelte Perspektive auf die eine, tatsächlich existierende menschliche Freiheit. Unter der formalen (transzendentalen) Perspektive kommt Freiheit als Fähigkeit der Selbstbestimmung in den Blick. Zu ihr gehört das Sich-öffnen- und Sich-entschließen-Können bzw. die Reflexion, Affirmation oder Negation. Auf dieser logisch-formalen Ebene beschreibt Krings die Freiheit als ‚unbedingt‘. Damit meint er nicht, dass wir absolut frei sind (das wäre vielmehr ein widersprüchlicher Gedanke, wie gleich deutlich werden wird). Wir werden geprägt durch genetische, kulturelle und soziale Zusammenhänge. Die formale bzw. transzendentale Unbedingtheit unserer Freiheit bezeichnet ‚nur‘ die Möglichkeit, dass wir uns zum Faktum dieser Prägungen und Bestimmtheiten in ein Verhältnis setzen können, sodass diese nicht länger als reine (naturale oder ‚schicksalhafte‘) Notwendigkeiten erscheinen, sondern von uns reflektiert und kritisiert werden können. Formal unbedingt ist die Freiheit nur insofern, als sie in den Bedingungen, in denen sie sich vorfindet, nicht restlos aufgeht. Freiheit bliebe aber ‚leer‘ und bestimmungslos, wenn sie sich nicht ‚für etwas‘ öffnen und entschließen würde, konkreten Bezug nimmt auf die Zusammenhänge, in die sie eingebunden ist. Das, worauf das freie Subjekt Bezug nimmt bzw. wofür es sich entschließt, nennt Krings ‚Gehalt‘. Hiermit ist das ‚Andere‘ gemeint, also jedes Seiende, das einen Eigenstand gegenüber der Freiheit besitzt und so ‚Gegen-Stand‘ bzw. personales ‚Gegenüber‘ sein kann. Ohne einen solchen Gehalt bliebe Freiheit gestaltlos, unbestimmt, gesetzlos. Selbstbestimmung (‚Autonomie‘ im Sinne der ‚Selbstgesetzgebung‘ freier Vernunft) impliziert also begründete Selbstbegrenzung. Krings will mit der Doppelperspektive auf die Freiheit (formale und materiale Dimension des Freiheitsvollzugs) zwei wesentliche Strukturmomente zusammenhalten, deren Isolierung die Freiheit entweder in subjektivistische Willkür oder vormoderne Autoritätshörigkeit abgleiten lässt. Freiheit ist einerseits von dem Missverständnis der Willkür und Ungebundenheit abzugrenzen, sie kann nicht ohne Bindung an (und Prägung durch) einen ‚Gehalt‘ gedacht werden. Andererseits kann Bindung (an Personen, Überzeugungen
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oder Institutionen) nicht ohne die freie Zustimmung des Menschen gedacht werden, sie muss als menschenwürdige Bindung immer auch Selbstbindung sein. Deshalb ist von jeder konkreten Bindung und materialen Bedingung das unverwechselbar Eigene, die Autonomie des Menschen, zu unterscheiden – als das transzendental Unbedingte, das zugleich die Würde, Unvertretbarkeit und Einmaligkeit des freien Subjekts anzeigt. Das Subjekt muss von jeder seiner Realisierungsgestalten transzendental differenziert bleiben, obwohl diese zugleich die Bedingung dafür darstellen, dass Freiheit überhaupt konkret werden kann. Menschliche Freiheit existiert in der Spannung von Unbedingtheit und Bedingtheit, von „erfüllte[r] und unerfüllte[r] Offenheit zugleich“ (Krings, Handbuchartikel, 129), die aber um der Freiheit willen nicht zu einer der beiden Seiten hin aufgelöst werden darf. Krings betont daher des Öfteren, dass ‚Freiheit‘ zwar ein kritischer, nicht relativierbarer Prinzipienbegriff ist, an dem faktische Handlungen und politische wie religiöse Systeme auszurichten sind, aber kein zu realisierendes Ziel der Geschichte darstellt – und auch nicht darstellen darf. Andernfalls würde eine der beiden Dimensionen des beschriebenen Spannungsverhältnisses verabsolutiert und damit Freiheit letztlich selbst negiert: Entweder Freiheit soll im Sinne der Bindungs- und Bedingungslosigkeit ohne System und Gesetz realisiert werden (Diktatur oder Anarchie); oder das System selbst wird als ungebrochene Realisierungsgestalt der Freiheit begriffen und mit ihr identifiziert. Dann muss der Staat die Rechte und Freiheiten des Individuums einziehen und wird notwendigerweise totalitär (Kommunismus). Demgegenüber wird die „Vernunft […] darauf bestehen müssen, dass lineare Lösungen des Problems von System und Freiheit abstrakt sind und dass sie als Grundlage konkreten Handelns sowohl die Freiheit wie das System pervertieren. Die Vernunft vermag jedoch einzusehen, dass die Aporie der Garant der Freiheit in praktischen Systemen ist“ (Krings, System, 38). Für den freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat ist konstitutiv, dass er die Spannung, den Widerspruch zwischen Unbedingtheit der Freiheit und deren geschichtlich-politischer Vermittlungsgestalt nicht ausschließt, sondern gerade institutionell zur Geltung bringt, z. B. im Instrument der politischen Opposition, der Rede- und Pressefreiheit oder der Freizügigkeit.
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Doch ist Freiheit als Kriterium des Denkens und Handelns nur dann vollständig beschrieben, wenn man die ihrer Struktur inhärente, oberste moralische Norm beachtet: Der freie Mensch entspricht sich selbst nur dann, wenn er die Freiheit des Anderen unbedingt achtet und anerkennt. Freiheit wird von vornherein als ein Kommunikationsbegriff verstanden: Bei-sich-Sein und Sein-beim-Anderen entsprechen sich. Erst wenn ich vom Anderen Anerkennung, Zuspruch und Ermutigung zum Selbstsein erfahre, werde ich zur Übernahme der eigenen Freiheit und Verantwortung befähigt – und umgekehrt: Nur, wo ich den Anderen nicht nur auf Distanz formal respektiere, sondern mit aktivem Interesse an dessen Subjektwerdung seine Freiheits- und Gestaltungsmöglichkeiten zu stärken versuche, entspreche ich mir selbst. Diese phänomenologisch oft beschriebene Erfahrung – und von Kant im berühmten ‚Kategorischen Imperativ‘ zum Ausdruck gebrachte Einsicht – will Krings transzendentallogisch im Rekurs auf das Freiheitsprinzip begründen, und zwar mittels zweier Schritte. Gemäß dem Autonomieprinzip, das Freiheit zum Orientierungsmaßstab macht, ist, erstens, das Kriterium für die Suche nach dem adäquaten Gehalt die Freiheit selbst: Der erfüllende Gehalt für Freiheit ist Freiheit. Das wäre eine Tautologie, wenn nicht, zweitens, die schon benannte Unterscheidung von Form und Gehalt beachtet würde. Freiheit als erfüllender Gehalt muss das in Eigenstand Verschiedene gegenüber der eigenen Freiheit sein. Also ist erst die Freiheit des Anderen in ihrer Unbedingtheit der angemessene Gehalt des Sich-Öffnens der eigenen (formal unbedingten) Freiheit. Von der Ethik aus öffnet sich die Gottesfrage. Denn der Anspruch auf Anerkennung der anderen Freiheit ist zwar unbedingt. Aber auch er kann nur bedingt realisiert werden und nur begrenzt Gestalt annehmen, weil die strukturelle Differenz von formaler Unbedingtheit und materialer Bedingtheit konstitutiv für die endliche Freiheit ist. Empirisch veranschaulicht, bleibt die konkrete Handlung stets hinter der definitiven Bejahung zurück, die Menschen füreinander und für sich selbst erhoffen. Insofern weist die Anerkennung endlicher Subjekte über sich hinaus, sie „verweist durch den ihr innewohnenden Charakter der Unbedingtheit strukturell auf unbedingte und vollkommene Freiheit als das schlechthin Erfüllende endlicher Freiheit“ (Krings/Simons, Gott, 637). Gott wird nicht bewiesen, sondern die Idee Gottes wird als Implikat des endlichen Frei-
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heitsvollzugs verstanden, weil die für ihn konstitutive Offenheit auf andere Freiheit die Offenheit auf Gott hin impliziert. An diesem Punkt markiert Krings selbst die Anschlussstelle für eine Theologie der Offenbarung, die Jesu Geschichte als die freie Selbst-Eröffnung Gottes und seines unbedingten Entschlusses für uns deutet.
Dieter Henrich: Existenziale Metaphysik bewussten Lebens Dieter Henrich (1927–2022) setzt nicht primär bei der Freiheit, sondern beim Selbstbewusstsein des Menschen an – d. h. bei dem Phänomen, dass in allen meinen Erkenntnissen, Erfahrungen und Handlungen ich mir irrtumsimmun meiner selbst bewusst bin als das Subjekt, das diese Akte vollzieht bzw. dem bestimmte Ereignisse widerfahren. Gerade dieses uns im Alltag so selbstverständlich vertraute und in der Moderne seit René Descartes (1596–1650) zum erkenntnistheoretischen Grundprinzip avancierte Phänomen ist es nun aber, das in theoretischer Hinsicht die philosophische Reflexion in Fragen und Probleme verwickelt, die letztlich in die Gottesfrage münden. In praktisch-existenzieller Hinsicht geht es Henrich um eine Philosophie des ‚bewussten Lebens‘, die daran orientiert ist, dass unser Leben uns nie einfach nur geschieht, sondern dass wir es zu führen und deshalb auch in seiner bleibenden Fraglichkeit zu deuten haben. „Verhalten und Verstehen bedingen und durchdringen sich, so dass sich aus ihrer Interdependenz Lebensideale, Lebensstile und Lebenswege geradezu konstituieren.“ (Henrich, Inflation, 219 f.) Über mehrere Jahrzehnte hinweg zieht sich wie ein roter Faden durch Henrichs umfangreiches und weitverzweigtes Werk das Bemühen, spontanes Aufkommen, innere Struktur und bleibende Ambivalenz des menschlichen Selbstbewusstseins zu klären. Dabei überlagern sich philosophiehistorische und -systematische Überlegungen. Denn Henrich entwickelt seine Theorien im Rahmen des
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Großprojekts der ‚Konstellationsforschung‘, das bisher vernachlässigte Kontexte und Debattenlagen in der formativen Phase des Deutschen Idealismus freilegt (unter Einbezug z. B. von persönlichen Briefen oder dokumentierten Gesprächen, Rezensionen und Werkfragmenten). Von Henrichs ‚Gesprächspartnern‘ soll hier nur Friedrich Hölderlin (1770–1843) herausgegriffen werden, dessen durch Henrich wieder in den Mittelpunkt des Interesses gestellte kleine Skizze Urtheil und Seyn wohl am bedeutendsten für Henrichs eigenen Subjektund Gottesbegriff ist – und zugleich die sachliche Differenz zu Krings’ Ansatzpunkt markiert, die wiederum Konsequenzen von theologischer Relevanz nach sich zieht. Was Henrich mit Hölderlin eng verbindet, ist die Frage nach dem Grund der Einheit des Selbstbewusstseins. Um den Sinn dieser Frage zu verstehen, muss man sich zunächst klar machen, dass die explizite, alltägliche Gegebenheitsweise unseres Ich- und Selbstbewusstseins eine reflexive ist: Ich weiß von mir. Es liegt also eine Form von ‚Wissen‘ vor. Wissen aber ist zweistellig, weil durch die Differenz von Subjekt und Objekt bestimmt: Gewusst wird ‚etwas‘ (Objekt) von ‚jemandem‘ (Subjekt). Nun ist aber das Sich-selbst-Wissen des Ich von seinem Wissen um ‚Anderes‘ (um Gegenstände oder Personen) darin fundamental unterschieden, dass Ersteres durch höchste Einheit geprägt ist: In meinem Selbstbewusstsein weiß ich von mir, weiß um nichts anderes als eben um mich und meine Existenz. Morgens vor dem Spiegel ist mir intuitiv klar: Ich bin ich, d. h. Denkender und Gedachtes, (Ich-)Subjekt und (Ich-)Objekt sind identisch, stellen eine Einheit dar, die uns in keinem anderen Fall von ‚Wissen‘ gegeben ist. Aber da ich eben um mich weiß und jede Form von Wissen zweistellig ist, sind Ich-Subjekt und Ich-Objekt doch auch zu unterscheiden. Wo ich mich als derselbe erkenne, nehme ich zu mir eine Distanz ein, trete logisch in Differenz zu mir. Unser bewusstes Leben ist dadurch charakterisiert, dass wir in einer Selbstbeziehung, einem Selbstverhältnis stehen, in dem Einheit und Differenz gleichursprünglich gegeben sind. An dieser Stelle bricht die entscheidende Frage auf: Welcher Grund geht dieser Differenz-Einheit, wie sie in unserer Selbst-Einheit (unserem Selbstbewusstsein) vorliegt, noch voraus? Existenzieller gewendet: Wer oder was garantiert eigentlich, dass ich morgens beim Aufstehen noch derselbe bin wie am Vorabend während des Einschlafens?
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In der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie finden sich zwei unterschiedliche Antwortstränge. Kant, Fichte (und Krings) etwa folgen einem egologischen Modell, das das reflexive Sich-Wissen des Ich auf ein prä-reflexives Ich transzendental zurückführt, das logisch (nicht: zeitlich) allem Wissen (auch dem Sich-selbst-Wissen) vorausgeht. Hölderlin und Henrich folgen einem nicht-egologischen Modell: Der Grund des Ich kann nur ich-los und über-personal gedacht werden. Henrich geht davon aus, dass im Fall einer personalen Bestimmung des Grundes sich das Problem nur wiederholen würde: Die Annahme eines personalen Grundes würde erneut die Frage nach dem Grund seiner Ich-Struktur aufwerfen (also nach dem Grund des Grundes) und so in den infiniten Regress führen. In Abgrenzung hiervon entwickelt Henrich seine Theorie vom ich-losen ‚Grund im Bewusstsein‘, aus der eine Priorisierung monistischer Hochreligionen folgt. Deren Leitgedanken einer letzten und alle Differenzen in sich begreifenden All-Einheit folgt Henrich in der Verhältnisbestimmung von Grund und Begründetem, Absolutem und Endlichem, Gott und Mensch. Unsere Selbsttätigkeit ist durchgängig ermöglicht und getragen von einem göttlichen Grund, der ihr „nicht als ein Anderes gegenübersteht, sondern in ihr gegenwärtig und operativ ist“ (Henrich, Anfänge, 168). Mit dem All-Einheits-Prinzip soll ein Aufgehobensein des Endlichen im Absoluten zur Geltung gebracht werden, das die Freiheit des Menschen nicht negiert, sondern gerade permanent bewirkt. Weil der Grund keine personale, von der menschlichen Freiheit verschiedene Ursache ist, wirkt er nicht ‚von außen‘ auf sie ein – eine solche Annahme verortet Henrich vielmehr aufseiten theistischer Gottesbegriffe und problematisiert deren Konsequenz einer möglichen Heteronomie des Menschen durch göttliches Handeln. Dagegen bestimmt Henrichs monistisches Konzept den göttlichen Grund als ‚Innengrund‘ der Freiheit, der ihr zugleich immanent und entzogen ist. Er ist nicht als ein personales Gegenüber, sondern „eher […] als ein Geschehen zu denken, und zwar deshalb, weil er nur als solches unser eigenes Leben einschließen kann“ (Henrich, Gedanken, 191). Ihm kann der Mensch entsprechen im kontemplativen Dank, der sich auf das Lebensganze, das letztendliche Getragen- und Geborgensein auch in der Not erstreckt, ohne personal adressiert werden zu müssen. Der Grund lässt sich nicht in eine direkte Präsenz bringen, gegenständlich erkennen oder gar beweisen – und ermöglicht durch dieses ‚Zugleich‘ von An-
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wesenheit und Abwesenheit die Selbstbestimmung des Menschen. Daher hält Henrich auch mit Hölderlin (und Kant) daran fest, dass das Postulat vom ‚Grund im Bewusstsein‘ nicht in Wissen überführbar ist. Von Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) System unterscheidet sich Henrich zwar in diesem Punkt; er stimmt mit dessen idealistischem Zentralaxiom aber darin überein, dass das Endliche nur Implikat des Absoluten sein kann. Demnach gehört es zum Begriff Gottes als des ‚wahrhaft Unendlichen‘ und Absoluten, dass dieses an keinem ‚Anderen‘ eine Grenze haben und daher per definitionem nichts ‚außer‘ oder ‚neben‘ dem Absoluten existieren kann. Endliches kann nur so gedacht werden, dass es im Absoluten aufgehoben ist – gerade um es in seinem Eigen-Sein denken zu können und nicht als Schein entlarven zu müssen: „Wenn also nicht nur von dem einen Absoluten, sondern auch von Endlichem muss gesprochen werden können, dann wird das Endliche dem Binnenbereich des Absoluten zugeschrieben werden müssen“ (Henrich, Endlichkeit, 97).
Richard Schaeffler: Transzendentale Theorie dialogischer Erfahrung Das Grundanliegen Richard Schaefflers (1926–2019) besteht darin, eine erneuerte Form der Transzendentalphilosophie zu konzipieren, die die Geschichtlichkeit der Vernunft, ihrer Ideen, Begriffe, Anschauungs- und Denkformen zur Geltung bringt – und sich gerade darin positiv beziehen kann auf die christliche Theologie, deren Ursprung ebenfalls wesentlich geschichtlich, weil in Offenbarung gegründet ist. Mit Kant will Schaeffler an der zentralen Einsicht der transzendentalen Wende zum Subjekt festhalten, der zufolge keine Erkenntnis von Gegenständen bzw. Erfahrung von Wirklichkeit ohne unser Zutun – unsere Vernunft und Freiheit – zustande kommt. Über Kant hinaus – und unter Einbezug der Phänomenologie wie der Sprachphilosophie – geht es Schaeffler darum, zu zeigen, dass die Vernunft durch die Wirklichkeit des Gegenstandes herausgefordert, kritisiert und so verändert werden kann, dass aus dieser Begegnung neue Formen des Anschauens und Denkens entstehen, die dann wiederum Möglichkeitsbedingungen aller weiteren Erfahrungen sind. Schaeffler ist also insofern auf zentrale Problemstellungen der Moderne und
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Spätmoderne bezogen, als er einen ‚dritten Weg‘ gehen will: jenseits eines Selbstgesprächs der Vernunft, in dem die Vernunft in der Geschichte letztlich nur ihre eigenen, inneren Gesetzmäßigkeiten sukzessive durchschaut (für Schaeffler die ‚Schlagseite‘ der Philosophie Hegels, die das Wesen des Geistes als notwendiges Deduktionsprinzip der Geschichte begreift), dadurch aber von vornherein resistent ist gegenüber dem Überraschenden, das unser Urteil hinterfragt; aber auch jenseits eines Schweigens, in dem Vernunft die Wirklichkeit nur noch als das Absurde erfährt (Albert Camus), dadurch aber vor ihr resigniert und sich kein Urteil mehr zutraut. Der ‚dritte Weg‘ zwischen einem überraschungsresistenten Selbstgespräch und einem urteilsresignativen Schweigen lautet ‚Dialog‘. Schaefflers Hauptwerk mit dem Titel Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit will Erfahrung als geschichtlich bedingte, wechselseitige Beziehung von Vernunft und Wirklichkeit begründen. So kommt der Bezug der Vernunft auf Wirklichkeit nicht ohne ihre eigenen Strukturen, Anschauungs- und Denkformen zustande, mit denen sie einen ‚Kontext‘ aufbaut, innerhalb dessen ein ‚Anspruch‘ des Wirklichen überhaupt vernehmbar wird (fehlt dieser Kontext, so ‚sagt uns‘ das Begegnende nichts, es bleibt für uns ‚stumm‘). Zugleich sind die Anschauungs- und Denkformen bereits ‚Antwort‘ auf einen ‚Anspruch‘ der Wirklichkeit. Denn Letzterer erweist sich gerade inmitten unserer Antwort als je größer gegenüber unserer Antwort: Veritas semper major. Subjekt und Objekt, Vernunft und Wirklichkeit stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Freisetzung und Bezogenheit. Der Gegenstand steht als das bleibend Wider-Ständige entgegen, das nicht jenseits, sondern in den subjekthaften Akten des Anschauens und Denkens zur Geltung kommt: „als ihr kritisch-vorantreibendes Moment“ (Schaeffler, Einübung, 122). Dieses kritische Wechselverhältnis bedeutet, dass das in der Erfahrung Erkannte in dem Maße ‚Objektivität‘ und ‚Wahrheit‘ beanspruchen kann, als es kommende eigene und fremde Erfahrungen auslegen kann und umgekehrt in deren Licht selbst neu ausgelegt werden kann. „Objektivität als ‚Geltung für immer und alle‘
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ist der hermeneutische Anspruch der einmal gemachten Erfahrung, alle anderen auszulegen und durch sie ausgelegt zu werden. Darum wird der hermeneutische Wechselbezug zur Bewährungsprobe beanspruchter Objektivität“ (ebd., 128). Die Bewährungsprobe erfolgt im Raum der Kommunikationsgemeinschaft und also der Sprache. Daher muss sich eine transzendentale Theorie dialogischer Erfahrung auch der Phänomenologie und Sprachphilosophie öffnen. Aber eine Bewährungsprobe enthält keine Erfüllungsgarantie. Von woher legitimiert sich das Vertrauen in die Einheit der Wahrheit, wenn diese nicht sichergestellt, sondern nur erhofft werden kann – aber auch erhofft werden muss, wenn Erfahrung nicht unmöglich sein soll (als unabschließbares Wechselverhältnis von Antwort des Subjekts und Anspruch der Wirklichkeit)? Mit diesem Problem der diachronen Variabilität von Erfahrungen und Geltungsansprüchen korreliert das Problem ihrer synchronen Pluralität: Bereits hier und jetzt ist der gleiche Gegenstand konfligierenden Deutungen ausgesetzt, d. h. auf wissenschaftliche, ethische, ästhetische oder religiöse Weise erfahrbar. Keine dieser Zugangsweisen ist privilegiert, sie sind aber auch nicht voneinander zu trennen, sondern interferieren (z. B. kann ein Biologe zugleich einen wissenschaftlichen und ethischen Anspruch der Wirklichkeit vernehmen). Die Frage wiederholt sich: Wie kann angesichts der Tatsache, dass uns die Wirklichkeit nur in der ‚Brechung‘ durch verschiedene Linsen begegnet, sie uns doch als Einheit inmitten aller Vorläufigkeit und Pluralität erscheinen? Indem, so Schaefflers Antwort, die Vernunft das Postulat entwickelt, dass der Anspruch des Wirklichen zugleich die Gegenwartsgestalt eines göttlichen Anspruchs ist: In unseren vorläufigen Urteilen und verschiedenen Erfahrungswelten kommt gerade in dem Maße ein göttlicher Anspruch zur Erscheinung, in dem durch die je größere Wahrheit der Wirklichkeit Subjekte aus ihren Befangenheiten und Vor-Urteilen befreit werden und die Wirklichkeit des ‚Anderen‘ (des ‚Objekts‘) in Eigenstand freigesetzt wird, also ihre (dem Subjekt) wider-stehende Wahrheit erneut zur Geltung bringt: Inmitten der Veritas semper major zeigt sich der Deus semper major; Wirklichkeits- und Gottesbezug sind eng verbunden, sodass es möglich wird, „Spuren des göttlichen Wirkens in jeder Begegnung mit den Gegenständen unserer Erfahrung zu entdecken“ (Schaeffler, Freiheit, 80). Gott ist also der Garant dafür, dass die Einheit der
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Wahrheit nicht in eine Vielzahl unverbundener Auffassungen über sie zerfällt, sondern inmitten der Erfahrung antizipatorisch präsent ist, sich als die je größere Wahrheit – und so immer wieder neu – selbst erweist. Und Gott ist zugleich Grund für die existenzielle Hoffnung, dass das Subjekt auch dort es ‚selbst‘ (mit sich identisch) bleibt, wo es die ‚Welt nicht mehr versteht‘, also Konflikte, Brüche und Abgründe erfährt, die ihm nicht integrierbar in sein bisheriges Selbst- und Weltverhältnis erscheinen – sodass es davon bedroht ist, seine Geschichte nicht mehr erzählen, sondern nur noch deren unverbundene Elemente aufzählen zu können. Das Thema ‚Gott‘ gehört somit nicht in einen Sonderbereich der Realität, sondern ist eng an die Erfahrung von Wirklichkeit überhaupt gekoppelt. Zwar bringt Schaeffler im Vergleich zu Kant die Gottesfrage argumentationslogisch ‚früher‘ zur Sprache (nämlich nicht erst im Rahmen des ethischen Handelns). Aber Kants Grenzziehung zwischen Wissen und Glaube bleibt maßgeblich, sodass auch die Beziehung von Philosophie und Theologie als hermeneutisches, konstruktiv-kritisches Wechselverhältnis bestimmt wird: Die Philosophie erarbeitet einen Gottesbegriff von universaler Bedeutung für den Menschen und kritischer Orientierungsfunktion für die Theologie; diese wiederum erschließt religiöse Erfahrung, ohne die philosophische Vernunftpostulate dem Verdacht bloßer Konstruktion ausgesetzt sind: „Vernunftpostulate ohne religiöse Erfahrung sind leer, d. h. ohne die sie erfüllende Beziehung zur Wirklichkeit des Heiligen, das sie ‚fordern‘ ; religiöse Erfahrung ohne Vernunftpostulate ist blind, d. h. ohne Bewusstsein von der universalen Bedeutung ihres speziellen Erfahrungsgehalts“ (Schaeffler, Einübung, 192 f.). Magnus Lerch, Selbstmitteilung Gottes. Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie, Regensburg 2015 (RaFi 56). (Zu den Chancen und Grenzen des transzendentalen Freiheitsdenkens in Bezug auf den theologischen Schlüsselbegriff der ‚Selbstmitteilung Gottes‘.)
Klaus Müller, Gott jenseits von Gott. Pladoyer für einen kritischen Panentheismus, hg. von Fana Schiefen, Münster 2021. (Gott als Innengrund des freien Ich: Vermittlung zwischen Monotheismus und AllEinheits-Denken unter Einbeziehung der Bewusstseinsphilosophie von Dieter Henrich.)
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Bernhard Nitsche, Endlichkeit und Freiheit. Studien zu einer transzendentalen Theologie im Kontext der Spätmoderne, Würzburg 2003 (Religion in der Moderne 8). (Analyse der unterschiedlichen theologischen Rezeptionsfiguren des transzendentalen Denkens, die zudem postmoderne Einsprüche berücksichtigt.)
Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, 2 Bde., Freiburg i. Br. 2011. (Die Beziehung von Gott und Mensch als Freiheitsgeschehen: umfassende theologische Übersetzung des christlichen Glaubens in die Moderne auf der Basis der Freiheitslehre von Hermann Krings.)
Thomas M. Schmidt / Siegfried Wiedenhofer (Hg.), Religiöse Erfahrung. Richard Schaefflers Beitrag zu Religionsphilosophie und Theologie, Freiburg i. Br. 2010; Bernd Irlenborn / Christian Tapp (Hg.), Gott und Vernunft. Neue Perspektiven zur Transzendentalphilosophie Richard Schaefflers, Freiburg i. Br. – München 2013 (Scientia & Religio 11). (Beide Sammelbände eignen sich sowohl als Einführung in Schaefflers umfangreiches Werk als auch zur Auseinandersetzung mit dessen philosophischen und theologischen Potenzialen.)
Saskia Wendel, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020. (Neuansatz eines subjekt- bzw. freiheitstheoretischen Glaubensverständnisses, der die Debattenlagen der vergangenen Jahre innerhalb bewusstseins- und transzendentalphilosophisch ansetzender Theologien einbezieht.)
Drei Namen für ein neues Verständnis von Sprache
Hilary Putnam, Donald Davidson und Robert B. Brandom Martin Dürnberger
Analytisches Philosophieren – systematisch und historisch Analytische Philosophie ist ein Etikett, das zumindest zweifach verwendet wird: für einen bestimmten philosophischen Stil und als philosophiehistorisches Label. In erstgenannter Hinsicht bezeichnet es eine vor allem im angelsächsischen Raum verbreitete Art und Weise, zu philosophieren. Als charakteristisch gelten terminologische Präzision, klare Problemformulierung, akkurate Analyse relevanter Begriffe bzw. ihres Gebrauchs, Fokus auf die argumentative Validität von Positionen und Gründen (und weniger auf deren historische, politische oder soziale Voraussetzungen oder Implikationen), forcierte Transparenz in der Diskussion von Argumenten (ohne Scheu vor formallogischer Rekonstruktion und technischen Apparaten). Dieser Stil hebt sich in klassischer Lesart von anderen ab, die Positionen eher historisch, politisch, sozial, existenziell situieren bzw. essayistisch, literarisch, hermeneutisch entwickeln, mithin von philosophischen Traditionen, die man als kontinental bezeichnet: Metaphysik, Idealismus, Hermeneutik, Phänomenologie, Existentialismus, Poststrukturalismus und -moderne, Kritische Theorie u. a. Solche Oppositionen liefern grobe Orientierungen, sind aber nicht immer aussagekräftig, weil analytische Philosophie historisch betrachtet selbst Transformationen unterworfen war und sich manche Frontlinien aufweichten oder -lösten – die Rede von postanalytischer Philosophie adressiert genau das. Das legt den Blick auf die philosophiehistorische Verwendung des Labels nahe. In dieser Hinsicht bezeichnet der Begriff eine bestimmte philosophische Strömung bzw. ein Bündel philosophischer Ansätze, die ab Ende des 19. und vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus auftritt. Eine Möglichkeit, die-
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ses Auftreten einzuordnen, bietet folgendes Narrativ: Immanuel Kants (1724–1804) transzendentale Wende zeichnete das Subjekt als philosophische Instanz aus, in dessen kritischer Reflexion Möglichkeitsbedingungen unserer Vernunfttätigkeiten freizulegen sind. Der sog. Linguistic Turn, die Wende zur Sprache, die von analytischer Philosophie wesentlich geprägt ist, ist in dieser Linie lesbar: Wer Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis, Moral u. a. rekonstruieren will, hat insbesondere Reflexion auf Sprache zu betreiben – denn sie ist ein wesentliches (oder gar das entscheidende) Apriori einer Vernunft, die stets begrifflich und sprachlich operiert. Was immer sie nämlich denkt, erkennt und beurteilt, denkt, erkennt und beurteilt sie vermittels jener Kategorien, die Sprache zur Verfügung stellt, und kein Argument kommt ohne Begriffe aus, mit denen wir kommunizieren – Rationalität ist sprachlich verfasst. Folglich sind Erkenntnisund Vernunftkritik als Sprachkritik zu betreiben: Nicht mehr transzendentale Erhellung des Subjekts, sondern Analyse von Sprache und ihrer Begriffe erscheinen als primäre philosophische Aufgaben. Analytische (oder – wie sie daher mitunter auch bezeichnet wurde – sprachanalytische) Philosophie lässt sich hier situieren: Wenn Philosophie ihre Fragen (etwa: Was ist Wahrheit? Was ist gut? Gibt es Gott? Welchen ontologischen Status haben Zahlen? Was ist der Mensch? u. a. m.) zu klären versucht, kann sie dies nicht anders als im Medium der Sprache – und dann sind Reflexion auf und Analyse von Sprache unabdingbar: Welche Verwendungsweisen von ‚ist‘ gibt es – worin unterscheiden sie sich? Was bedeuten Begriffe wie ‚Sein‘, ‚Nichts‘ oder ‚Gott‘ – und worauf beziehen sie sich? Wie lassen sich Argumente logisch rekonstruieren – und welche Sprache ist für welche Fragestellung angemessen? Welche unterschiedlichen Bedeutungen hat der Begriff ‚gut‘ – und worauf referiert er? Was bedeutet es überhaupt, dass Begriffe etwas bedeuten – und wie kann man sinnlose Aussagen von sinnvollen unterscheiden? Analytische Philosophie ist in ihren geschichtlichen Ursprüngen an Fragen wie diesen verortet und darum bemüht, Präzision und Wissenschaftlichkeit des Philosophierens zu sichern. Sie ist – oftmals am Ideal logischer und mathematischer Sprachen orientiert – eine Art Instrumentenkunde: Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Werkzeuge, mit denen wir epistemisch, argumentativ, moralisch operieren (nämlich: Sprache, Begriffe und ihre Bedeutungen), und reflektiert, wie mit diesen Werkzeugen präzise gearbeitet werden kann.
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Für einen Kurzüberblick über verschiedene Etappen analytischen Philosophierens ist die Orientierung an einer exemplarischen Leitfrage sinnvoll. Die Frage nach der Bedeutung von ‚Bedeutung‘ ist eine solche Schlüsselfrage: Was ist Bedeutung – und was bedeutet es, dass Zeichen etwas bedeuten? Gottlob Frege (1848–1925), der mit George Edward Moore (1873–1958) und Bertrand Russell (1872– 1970) zu den Stammvätern analytischer Philosophie gehört, weist in dieser Frage die Intuition zurück, Bedeutungen seien mentale Größen im Kopf des Verstehenden. So wie sich Mathematik nicht psychologisieren lässt, gilt das auch für die Bedeutung eines Satzes: Sie ist wie seine Wahrheit eine unabhängig vom Subjekt existierende Größe. Frege verknüpft Bedeutungs- und Wahrheitsbegriff in einer sog. wahrheitskonditionalen Semantik: Um zu wissen, was ein Satz bedeutet, muss man die Bedingungen kennen, unter denen er wahr ist. Bedeutungen existieren also eigenständig jenseits der Zeichen (die sie codieren), Sachverhalte (auf die sie verweisen) und Vorstellungen (die sie geistig hervorrufen). Exemplarische Folgefragen dieser Position sind etwa: ‚Wo‘ existieren diese Größen – und wie stehen unsere sprachlichen Praktiken in ‚Kontakt‘ zu ihnen? Wie ist die Bedeutung von Sätzen zu bestimmen, die auf keine Tatsachen referieren und nicht wahr sein können (etwa: ‚Gib mir bitte das Salz!‘ oder ‚Sherlock lebt mit Watson zusammen‘) – und wie funktioniert Bedeutung ‚zwischen den Zeilen‘ ? Und wie lassen sich Fälle erklären, in denen ohne Sätze höchstbedeutsam gesprochen wird, etwa beim Small Talk in Großraumdiscos: ‚Du hier? Lässig!‘, ‚Mmh?‘, ‚Ja, später, gerne!‘, ‚Wie bitte?‘, ‚Bei Dir?‘, ‚Autsch!‘ Ab den 1930ern wird der sog. Logische Positivismus/Empirismus einflussreich, dessen Programm wesentlich vom sog. Wiener Kreis um Moritz Schlick (1882–1936) formuliert wird, zu dem u. a. auch Otto Neurath (1882–1945) und Rudolf Carnap (1891–1970) gehören. Die Gruppe ist wissenschaftstheoretisch orientiert – Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Denken im Tractatus logico-philosophicus ist hier idealtypisch – und interessiert sich für die Möglichkeit einer Idealsprache, die präzises Denken und Forschen ermöglichen soll. Relevant ist vor allem der Umbau der wahrheitskonditionalen in eine verifikationistische Semantik: Was sinnvolle von sinnlosen Aussagen unterscheidet, ist der Umstand, dass sinnvolle Aussagen empirisch verifiziert bzw. falsifiziert werden können. Die religionskritische Relevanz dieses Sinnkriteriums ist offenkundig: Vor ihm bestehen weder
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metaphysische (‚Das Nichts nichtet‘) noch religiöse Aussagen (‚Gott liebt mich‘). Folgeentwicklungen setzen sich unterschiedlich von dieser Strömung ab: Willard Van Orman Quine (1908–2000) kritisiert subtil ‚Dogmen des Empirismus‘, vor allem die empiristische Idee, eine einzelne Tatsache könnte einen einzelnen Satz verifizieren/falsifizieren (während in Wahrheit stets Aussagensysteme vor dem Tribunal der Erfahrung stehen). Der späte Wittgenstein hingegen bringt eine andere Intuition ein: Wer einen Begriff verstehen will, muss wissen, nach welchen Regeln er verwendet wird. Dazu muss er Fälle überschaubarer sprachlicher Praxis (Sprachspiele) analysieren, deren Vielfalt keine umfassende Theorie erlaubt. Diese Position ist nicht an einer formalen Idealsprache, sondern der Alltagssprache interessiert (die in der sog. Ordinary Language Philosophy Reflexionsgegenstand ist, der zweiten großen Strömung analytischen Philosophierens neben der idealsprachlichen) und stellt nicht mehr den Wahrheits-, sondern den Begriff des Regelfolgens ins Zentrum, d. h. die Pragmatik und ihre Normativität.
Zwischenreflexion An diesem Punkt bietet sich zum einen eine Auskunft auf die Frage an, in welchem Sinn analytische Philosophie theologisch von Interesse ist. Hier ist vorab nüchtern festzuhalten: Zug zu Klarheit, Orientierung an systematischen Problemstellungen, Transparenz in Terminologie und Argumentation sowie ‚Instrumentenkunde‘ im beschriebenen Sinn ist für jedwede Reflexion und Argumentation relevant, auch theologische. Die analytische Religionsphilosophie der letzten Jahrzehnte kann als Beispiel gelten, wie analytische Präzision Reflexionen auf den Allmachtsbegriff, Gottes Verhältnis zur Zeit, die Gottesbeweise oder Theodizee geprägt und vorangetrieben hat. Auch Analytic Theology ist im deutschen Sprachraum ein Label, das immer präsenter wird. Diese allgemein positive Auskunft darf konkrete Spannungen nicht übersehen lassen, etwa dass analytische Philosophie in einer wichtigen Phase religionskritisch auftrat. Wenn etwa im Logischen Positivismus Verifizierbarkeit als Kriterium für Sinnhaftigkeit gilt, müssen religiöse Aussagen (die quasi nichts in der Welt bestätigen oder widerlegen kann) sinnlos sein. Diese Ver-
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engung wird oft analytischem Denken als solchem angelastet und u. a. auf dessen mangelnde geschichtliche, soziale oder existenzielle Sensibilität rückgeführt: Der analytische Philosoph sei wie ein Chirurg – fasziniert von der Präzision seines Skalpells schlage er ungeachtet der konkreten Krankheit stets einen operativen Eingriff vor. Allerdings gilt: abusus non tollit usum – falscher Gebrauch ist kein Argument gegen den analytischen Stil selbst. Übersieht man dies, läuft man Gefahr, den Wert eines analytisch geschulten Blicks zu verkennen; dieser hat zwar kein Monopol auf bestimmte Fragen, ist aber darauf geeicht, manche besonders hartnäckig zu stellen: Werden Begriffe präzise eingeführt und konsistent verwendet? Wie funktioniert ein vorgebrachtes Argument formal? Welche ontologischen Verpflichtungen geht man mit einer Prämisse ein? Zugleich darf man nicht übersehen, dass Kritik an derlei Verengungen stets auch aus den ‚eigenen‘ Reihen erfolgte – und genau dafür steht auch das (noch uneinheitlich gebrauchte) Präfix post.
… und postanalytische Anschlussperspektiven Dieses soll nun zum anderen im Folgenden im Blick sein. Anders als in früheren Phasen, die forcierte Sprach- und Begriffsanalyse bei relativer Abstinenz von metaphysischen Fragen und Distanz zu anderen Traditionen geprägt hatte, zeigen sich nämlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei analytisch geprägten DenkerInnen kritische Auseinandersetzung mit eigenen Leitmotiven (etwa der empiristischen Variante analytischer Philosophie), neue Sensibilität für Metaphysik (etwa in der Realismus-Frage) sowie die Öffnung für andere Strömungen, insbesondere zum Pragmatismus. Herrschte früher mitunter das Klischee, analytische Philosophie vergesse über der Begriffsanalyse die Dinge selbst, rücken gerade postanalytisch das Verhältnis von Sprache und Welt bzw. die Welt und ihre Erkennbarkeit verstärkt in den Fokus. Im Folgenden sollen daher exemplarische Vertreter (post-)analytischen Philosophierens nicht zuletzt in der Frage nach diesem Verhältnis näher in den Blick kommen.
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Hilary Putnam: interner Realismus Hilary Putnam (1926–2016) und sein Denken lassen sich hier weder angemessen darstellen noch würdigen. Er arbeitete zu Fragestellungen mathematischer Logik, der Bedeutungs- und Wissenschaftstheorie, des Pragmatismus u. v. m., in späteren Jahren auch zu jüdischer Religionsphilosophie – und gelangte sogar zu populärkultureller Bekanntheit (vor allem durch sein Gedankenexperiment Gehirne im Tank). Ein exemplarisches Motiv, an dem sich Putnams Denken in einer philosophisch grundsätzlichen Frage nachvollziehen lässt, ist der sog. Realismus. In den 1950/60ern war Putnam metaphysischer Realist: Es gibt eine von uns unabhängige Welt, deren Beschaffenheit unsere darauf bezogenen Überzeugungen entweder wahr oder falsch macht, wobei nur eine einzige Beschreibung der Realität wahr ist – und diesen Realismus legte Putnam materialistisch-szientistisch aus. Freilich war Putnam zugleich religiös interessiert (er wurde später praktizierender Jude), was sein Unbehagen am Ideal einer naturwissenschaftlichen Einheitswissenschaft stimuliert haben mag. Seine Kritik daran und am metaphysischen Realismus als solchem ist aber rein philosophisch: In den 1970ern entwickelte er zwei Argumente zugunsten eines sog. internen Realismus. Das sog. modelltheoretische Argument geht alltagsnah übersetzt vom Fall aus, dass zwei Theorien einen Phänomenbereich unterschiedlich oder widersprüchlich beschreiben mögen (etwa als Teilchen oder Wellen), aber gleich gute Erklärungskraft haben können. Wenn aber zwei widersprüchliche Theorien den Phänomenbereich gleich gut erklären, gleich elegant sind, gleich valide Prognosen zulassen etc., ist es sinnlos, zu behaupten, nur Theorie 1 sei wahr, weil nur sie die Realität an sich beschreibe, Theorie 2 jedoch nicht, weil sie diese Realität an sich verfehle – vielmehr ist es sinnvoll, von zwei gleichermaßen wahren Theorien zu sprechen. In einem solchen Verständnis ist Wahrheit dann aber nicht mehr radikal von uns un-
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abhängig, sondern hängt prinzipiell mit unseren Erkenntnis- und Forschungspraktiken zusammen – Theorie 2 würde ja von uns deshalb als ebenfalls wahr anerkannt, weil sie uns im erforschenden Umgang mit der Welt gleich gute Dienste leistet (und die Idee eines an sich deshalb irrelevant wäre). Entsprechend plädiert Putnam für einen sog. epistemischen Wahrheitsbegriff: Wahrheit ist ideale rationale Akzeptierbarkeit – nicht eine an sich bestehende Relation zwischen Überzeugungen und Tatsachen. Auch das sog. begriffsrelative Argument zielt in diese Richtung: Man stelle sich ein Zimmer mit einem Stuhl, einem Tisch mit Lampe und einem Notizbuch vor und frage sich, wie viele Gegenstände sich im Raum befinden. Die Antwort ist keineswegs trivial, weil unklar ist, ob etwa die Seiten des Notizbuchs eigene Gegenstände sind oder eine festmontierte Lampe Teil des Tisches ist oder nicht. Das hängt vom verwendeten Beschreibungssystem ab – was heißt, dass es „zur Beantwortung dieser Frage offenbar einer Konvention bedarf “ (Putnam, Repräsentation, 197), die menschengemacht ist. Diese Position ist szientismus-kritisch (es gibt mehrere valide Beschreibungen, nicht bloß eine wissenschaftliche), lizenziert bei Putnam aber auch keinen Relativismus, sondern führt ab den 1990ern zu einem robust rationalistischen Pragmatismus. Folgt man Putnams Denken weiter, lässt sich im Übrigen eine Annäherung an einen naiven Realismus feststellen, der Wahrheit und ideale rationale Akzeptabilität wieder klar trennt: Unsere Argumente mögen noch so stichhaltig sein, es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass wir unsere prinzipielle Fallibilität hinter uns lassen könnten.
Donald Davidson: Kritik am Konzept des Begriffsschemas Auch für Donald Davidson (1917–2003) gilt, dass eine angemessene Darstellung und Würdigung hier unmöglich sind, umso mehr, als er seine handlungs-, wahrheits-, sprachtheoretischen Positionen kleinteilig in Artikeln vorstellt. Sprachphilosophisch arbeitet er eine Bedeutungs- als Interpretationstheorie aus, die nicht die Sprachgemeinschaft und ihre Regeln, sondern den individuellen Sprecher und seine Interpretationen in den Mittelpunkt rückt.
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Es liegt nahe, sein Denken in einer Frage im Kontext des internen Realismus zu fokussieren: Wie mächtig ist das konventionelle Moment, das Putnam in seinem begriffsrelativen Argument im Blick hatte? Die Frage ist für den Lingustic Turn allgemein relevant: Determiniert die ansozialisierte Sprache die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren? Bestimmen die Begriffe unsere Erfahrung – oder können Erfahrungen unsere Begriffe revidieren? Davidson beschäftigt sich mit dieser Frage u. a. in einem prominenten Artikel: In Was ist eigentlich ein Begriffsschema? (1974) kritisiert er das sog. dritte Dogma des Empirismus, den Dualismus von Schema und Inhalt. Gemeint ist die These, dass die Wirklichkeit (als Inhalt) in unterschiedlichen, widersprüchlichen Kategoriensystemen (Schemata) erfasst werden könne; deshalb etwa ließen sich die (fiktiven) 40 Inuitbegriffe für Schnee nicht in alpine Schneetermini übersetzen. Aussagen verhalten sich in dieser Lesart relativ zu einem Begriffsschema – und relativ zu unterschiedlichen Schemata sind verschiedene, inkommensurable Wahrheiten möglich. Davidson hält das für eine berauschende, aber problematische Theorie. So bestreitet er, dass tatsächlich gefunden werden könne, was gefordert ist, nämlich: ein Begriffsschema, das (a) wahre Sätze zu formulieren erlaubt und (b) unübersetzbar ist. Diese Position hängt u. a. mit Überlegungen zu Situationen radikaler Interpretation zusammen, i. e. Situationen des Erstkontakts ohne gemeinsame Sprache – etwa zwischen Raumfahrerin und Alien. Soll Verstehen möglich sein, muss Erstere Davidson zufolge wohlwollende Unterstellungen machen: Kreischt das Alien ‚j!