Der gewollte Soldat und sein Wandel: Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65 9783486711820, 9783486588156

Theorie und Praxis der "Inneren Führung" der Bundeswehr bis 1964. Das Projekt untersucht zunächst das bei Au

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German Pages 542 [544] Year 2009

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Der gewollte Soldat und sein Wandel: Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65
 9783486711820, 9783486588156

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Nägler · Der gewollte Soldat und sein Wandel

Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt

Band 9

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Frank Nägler

Der gewollte Soldat und sein Wandel Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Umschlagabbildungen: Foto Der »Tag von Andernach«: Am 20. Januar 1956 begrüßte Bundeskanzler Konrad Adenauer die ersten Freiwilligen Soldaten der Bundeswehr. (Bundesregierung/Rolf Unterberg) Grafik Cover »Information für die Truppe« (BMVg/IFDT)

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich

© 2010 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht).

Redaktion und Projektkoordination: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam, Schriftleitung Koordination: Wilfried Rädisch Satz: Christine Mauersberger Umschlag: Maurice Woynoski Lektorat: Roland G. Foerster (Kenzingen) Druck: grafik + druck GmbH, München Bindung: Thomas Buchbinderei, Augsburg

ISBN 978-3-486-58815-6

Inhalt Vorwort VII I. Einleitung 1 1. Zur Fragestellung 1 2. Überlegungen zur Bearbeitung 15 II. »Staatsbürger in Uniform« die vor Rekrutierungsbeginn entwickelten Wunschbilder 31 1. Konturen des westdeutschen Soldaten im Spiegel der regierungsamtlichen Vorstellung: »Vom künftigen deutschen Soldaten« 33 2. Das Konzept Baudissins im Vergleich zur regierungsamtlichen Broschüre 58 3. Richtlinien des Personalgutachterausschusses 71 4. Zwänge und Impulse bis zum Beginn der Aufstellung 75 III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes in der >Ära Baudissin< im Einflussfeld von einsetzender Rekrutierung, weiterer konjunktureller Erholung und >Umrüstung< auf die >Qualitätsarmee< (bis Sommer 1958) 89 1. Die Stellung Baudissins und des Sachgebietes Innere Führung im neu geschaffenen Verteidigungsministerium und die Profilierung Karsts als mögliche Alternative 89 a) Stellung und Zuständigkeit der Unterabteilung 90 b) Gegner und Verbündete - Baudissins Sicht seiner Umgebung 101 c) Das Hervortreten inhaltlicher Differenzen zu Karst 125 2. Gesetze und Vorschriften zum Profil des Soldaten bis Sommer 1958.... 133 a) Soldatengesetz, Folgegesetze und -Verordnungen 136 - Regierungsentwurf und Schlussfassung des Soldatengesetzes ein Vergleich 136 - Behandlung des Soldatengesetzes in Kabinett, Bundesrat, Beamtenrechts- und Rechtsausschuss 143 - Beratung des Soldatengesetzes im Verteidigungsausschuss 162 - Die Einbürgerung des Soldaten im Spiegel der Folgegesetze 178 b) Erlasse und Vorschriften 200 - Besitz und Führen von Waffen außer Dienst 200 - Heiratsordnung 204 - Erziehungsleitsätze 209 - Grußordnung 219 - Innendienstvorschrift 225

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Inhalt

3. Der gewollte Soldat im Spiegel der Materialien zu Lehre und Bildung (»Information für die Truppe«, »Schicksalsfragen«, »Schriftenreihe Innere Führung«) a) Politische Bildungsarbeit im Selbstverständnis der Unterabteilung b) »Information für die Truppe« c) »Schicksalsfragen« d) »Schriftenreihe«, »Handbuch Innere Führung« 4. Die Atomwaffe im Kontext der frühen Inneren Führung 5. Das Aufwachsen der Streitkräfte 1956 bis 1958 a) Streitkräfteziele und Aufstellungskrise b) Verwerfungen im personellen Aufbau c) Rückwirkungen auf die innere Verfassung der Truppe und ministerielle Maßnahmen d) 1956 bis 1958 - Truppenaufbau und Staatsbürger in Uniform< IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld von Vollbeschäftigung, nachlassenden Spannungen und fortgesetztem Rekrutierungsbedarf ab Sommer 1958 1. Bedrohungswahrnehmungen sowie Rekrutierungspotenzial und -bedarf 2. Der Personalmangel und seine Folgen in der Truppe 3. Veränderungen hinsichtlich des Musters des Soldaten a) Das Drängen in den Führungsstäben von Heer und Bundeswehr auf eine Neuausrichtung b) Veränderung der Vorgesetztenverordnung c) Der vorläufige Verzicht auf die Wehrakademie d) Veränderungen bei der »Information für die Truppe« und die Traditionsfrage 4. Die Vermittlungsmuster in der Truppe, Krisen und die partielle Rückbesinnung auf das Reformkonzept unter Minister von Hassel a) Innere Führung und Schlagkraft aus Sicht der Truppe eine Momentaufnahme aus dem Jahre 1964 b) Der Verzicht auf Bemühungen zugunsten der Einführung des Allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses c) Nur begrenzte Ausweitung der Vorgesetztenkompetenzen und verstärkte Bemühungen um die Bildung des Vorgesetzten V. Schluss VI. Tabellarischer Anhang

469 485 493

Quellen und Literatur Abkürzungen Personenregister

511 527 531

235 240 248 260 264 269 290 291 302 314 335

339 339 350 395 395 407 424 442 460 460 466

Vorwort Im Jahre 2006 - noch im Umkreis des 50-jährigen Jubiläums der bundesdeutschen Streitkräfte - begründete das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) gemeinsam mit dem Oldenbourg Wissenschaftsverlag (München) eine neue Buchreihe unter dem Titel »Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland«, die seitdem stetig angewachsen ist. Der hier vorgelegte Band ist bereits der neunte innerhalb von rund drei Jahren. Thematisch ergänzt er in gewisser Weise den Eröffnungsband der Reihe von Bruno Thoß (NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960) und den sechsten Band aus der Feder von Wolfgang Schmidt (Integration und Wandel. Die Infrastruktur der Streitkräfte als Faktor sozioökonomischer Modernisierung in der Bundesrepublik 1955 bis 1975). Während Ersterer das Verhältnis von Bundesrepublik und Bundeswehr zum Bündnis thematisiert, wendet sich Letzterer auf wichtigen Feldern den Beziehungen zu, die sich zwischen den erst ein gutes Jahrfünft nach der westdeutschen Staatsgründung aufwachsenden Streitkräften einerseits und der bundesrepublikanischen Gesellschaft wie auch ihrem Staat andererseits entwickelten. Dagegen nimmt die vorliegende Studie den Birtnenbereich der frühen Bundeswehr in den Blick. Sie fragt nach den Konturen des »Staatsbürgers in Uniform«, wie sie sich nicht nur im Zuge der Planungen, sondern auch im Einflussfeld der während der Aufbaujahre erfolgten personellen Rüstung herausgebildet hatten. Indem die Arbeit so einen aspektreichen Beitrag zur Historisierung des Konzeptes der »Inneren Führung« leistet, kann sie vielleicht auch Anstöße zu einer im Lichte veränderter Einsatzbedingungen geführten Diskussion um die Aktualität dieses Kernkonzeptes bieten. Am Zustandekommen des vorliegenden Werkes waren viele Personen beteiligt, denen ich für ihre tatkräftige Mitwirkung danken möchte; an oberster Stelle dem Verfasser Frank Nägler, der eine anregende und neue Fragen stellende wissenschaftliche Arbeit vorgelegt hat. In Ubereinstimmung mit dem Autor möchte ich auch den Helfern danken, die das Manuskript gelesen und sein Entstehen begleitet haben. Stellvertretend für den zuständigen Forschungsbereich im MGFA seien hier nur die Herren Bruno Thoß, Dieter Krüger und Wolfgang Schmidt (jetzt Führungsakademie der Bundeswehr) genannt. Außerhalb des MGFA waren namentlich Freiherr von Rosen und Werner von Scheven

VIII

Vorwort

einbezogen, schließlich als Lektor Roland G. Foerster. Ihnen allen dankt der Verfasser stets wertvolle Hinweise und kollegialen Rat. Wenn er nicht in jedem Falle den Anregungen gefolgt ist, so legt er doch Wert auf die Feststellung, dass das Manuskript durch zahllose Hinweise nur hat gewinnen können und dass etwaige Schwächen einzig vom Verfasser zu vertreten seien. Vor der Manuskripterstellung lag die Sichtung von archivalischen Unterlagen. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller aufgesuchten Archive und Behörden stieß der Verfasser stets auf bereitwilligstes Entgegenkommen. Im Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i.Br., hat Cynthia Flohr immer wieder Zugänge erschlossen. Christine Mauersberger ist es zu danken, dass der dann verfasste Text eine ansprechende typografische Form gewonnen hat. Maurice Woynoski hat sich um den Coverentwurf gekümmert, Marina Sandig um die damit verbundene Bildrecherche sowie Wilfried Rädisch um die Koordination der Arbeiten in der Schriftleitung des MGFA. Ihnen allen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.

Dr. Hans Ehlert Oberst und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

I.

Einleitung

1. Zur Fragestellung Am 10. April 1965 wurde der NATO die 12. Panzerdivision unterstellt1. Damit durfte die Aufstellung eines aus zwölf Divisionen bestehenden Heeres im Wesentlichen als abgeschlossen gelten. Gleichzeitig mit den Heeresverbänden war bis 1965 eine taktische Luftwaffe und eine auf den Einsatz in Ost- und Nordsee zugeschnittene Marine geschaffen worden. Insgesamt war der Personalumfang der westdeutschen Streitkräfte, welche den eigentlich militärischen Teil der Bundeswehr neben der Bundeswehrverwaltung ausmachten2, von Ende 1956: 66 100 Soldaten bis Ende 1965: 440 800 Soldaten stetig angewachsen. Bis 1970 wurde bei nunmehr unstetigem Anstiegsverlauf der nicht mehr wesentlich über dieser Größe liegende Spitzenumfang von 462 700 Soldaten erreicht3, von 1972 bis 1985 bei Umfangsdifferenzen von maximal 7100 die Friedensstärke von 495 000 Soldaten angenähert4. Vergleicht man diese Zahlen mit den entsprechenden Ziel Vorstellungen der »Himmeroder Denkschrift« von 1950 oder mit dem wenig später vereinbarten Umfang des westdeutschen Beitrages zur EVG, so drängt sich bereits im Hinblick auf den Stand von 1965 der Eindruck einer cum grano salis - weitgehend bruchlosen Verwirklichung eines Anfang der 50er-Jahre ausgearbeiteten Programmes auf5. Schließlich war schon damals die 1

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Ausführlich gewürdigt mit Truppenpraxis, 9 (1965), 11, S. 821-942, im Besonderen mit dem dort abgedruckten Beitrag von Jürgen Bennecke, Von Andernach bis heute. Zehn Jahre Aufbau des Heeres, ebd., S. 883-890, hier S. 890. Vgl. hierzu die Trennung in Art. 87a GG (Aufstellung und Einsatz der Streitkräfte) und Art. 87b GG (Aufgaben der Bundeswehrverwaltung). Dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit entsprechend - vgl. etwa den Begriff »Führungsstab der Bundeswehr«, aus dem erst am 1.8.1965 der »Führungsstab der Streitkräfte« werden sollte - , werden in der Folge jedoch die Begriffe »Bundeswehr« und »Streitkräfte« synonym verwandt. Verteidigung im Bündnis, S. 465. Weißbuch 1985, S. 238 - 241. Vgl. dazu die Auffassung bei Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 37, der zu den 1950 angestellten »Überlegungen [...] in politischer, strategischer, operativer und ethischer Hinsicht« befand: »Die Ergebnisse zeugten von erheblicher Voraussicht und waren prägnant.« Den Eindruck einer mit dem dann in den 1970er-Jahren erreichten Aufwuchs verwirklichten Planung von 1950 legt auch ein Beitrag aus der Feder von Oberst i.G. a.D. Kurt Fett nahe, der immerhin in der Dienststelle Blank als Leiter der Unterabteilung M i litärische Planung* wirkte und bis zu seiner Ablehnung durch den Personalgutachterausschuss 1956 mit seiner Position als Chef des Stabes der Militärischen Abteilung als Kenner der Planungen zu den angestrebten Umfangen und Strukturen betrachtet werden kann.

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I. Einleitung

Rede von zwölf Divisionen, dazu von fliegenden Verbänden sowie einer Küstenvorfeldmarine und etwa einer halben Million Soldaten6. Was zunächst einmal als ein glatter Prozess erscheint, war indes mit zahlreichen Hindernissen und Verwerfungen belastet. Gerät die personelle Seite der westdeutschen Aufrüstung in den Blick, dann fallen Bedingungen auf, die in ihrer Verschränkung allesamt der Aufstellung westdeutscher Verbände im Wege standen. Dies gilt nicht nur für die auf außenpolitischer Ebene und im parlamentarisch-politischen Raum geführte Auseinandersetzung um die Frage, ob und in welchem Maße die Bundesrepublik rüsten solle. Es gilt gleichermaßen auch für den sich anschließenden Prozess der von den Streitkräften betriebenen Rüstung, deren personelle Komponente (im Unterschied zum materiellen Anteil) Gegenstand des nachfolgenden Beitrages ist. Dabei richtet sich das Augenmerk auf solche Aspekte der Rüstung, die in Anlehnung an eine von Michael Geyer gebrauchte Unterscheidung nicht der Zueignung, sondern der Aneignung von Rüstung zugeordnet werden können7. Die Zueignung von Rüstung, mithin die Bereitstellung von gesellschaftlichen Ressourcen für die Zwecke des Militärs, berührt das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Militär. Man könnte dies auch die von der Bundesrepublik unternommene Rüstung nennen. Die Ergebnisse dieser Rüstung, dass also z.B. eine bestimmte Anzahl von Menschen für die Erziehung und Ausbildung zum Soldaten bereitgestellt wird, gehen als Bedingung in die nachfolgende Rüstung der Streitkräfte, hier in einem streng genommen allerdings verkürzenden Verständnis: der Bundeswehr, zwar ein, sind aber von dem Vorgang der Aneignung, also besagter Erziehung und Ausbildung zum Soldaten, unterschieden. Im Zuge der Aneignung soll der eben erst Rekrutierte - im Regelfall der Ungediente, der bei Aufstellungsbeginn der westdeutschen Streitkräfte zumeist jedoch >kriegsgedient< war - zu einem ebenso einsatzwilligen wie einsatzfähigen Soldaten >herangebildet< werden. Wenigstens drei Bestimmungsgrößen scheinen für diesen Prozess maßgeblich zu sein: Zunächst das Kriegsbild, auf das der Einberufene vorbereitet werden soll, sodann Fähigkeiten und Einstellungen, mit denen er, aus der zivilen Gesellschaft kommend, dem Militär gegenübertritt, schließlich die rechtlichen und politischen Vorgaben und Wirkungsmöglichkeiten, die für den Soldaten in Staat und Gesellschaft vorgesehen sind. Wendet man sich vor diesem Hintergrund den im Vorfeld der Aufstellung in der Bundesrepublik gegebenen Verhältnissen zu, konnte das Ineinander dieser prägenden Faktoren durchaus Blockaden der Rüstung befürchten lassen. So waren die zu einem bundesrepublikanischen Verteidigungsbeitrag vor Aufstellungsbeginn angestellten ersten Überlegungen auf ein Kriegsbild bezogen, das im Wesentlichen die Erfahrungen vor allem der letzten Jahre des

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Vgl. Fett, Die Grundlagen, S. 173, 182-184; vgl. auch den Diskussionsbeitrag ebd., S. 200; zu Fett vgl. Krüger, Das Amt Blank, S. 187. Vgl. Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 174, wo der personelle Umfang allerdings lediglich für das Heer, hier 250 000 Soldaten, angegeben wird; sodann Α WS, Bd 2, S. 706 f. (Beitrag Meier-Dörnberg). Geyer, Deutsche Rüstungspolitik, S. 15.

I. Einleitung

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Zweiten Weltkrieges spiegelte. In bezeichnender Weise orientierte sich die 1950 im Kloster Himmerod zusammengestellte Denkschrift an den entgrenzenden Tendenzen des modernen, des industriellen Krieges. Entgrenzung meint hier zunächst in einem sehr wörtlichen Sinne die nachgerade weltweite Dimension des Konfliktes. Die »Betrachtungen zur operativen Lage der Bundesrepublik« gingen von einer Auseinandersetzung zwischen den beiden verbliebenen Weltmächten, zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, aus. Hierbei wurde im engeren Rahmen der Verteidigung Westeuropas ein Kampfgeschehen vorausgesetzt, das sich in der Nord-Süd-Ausdehnung vom Eismeer bis zur Mittelmeer-Region und auf der Ost-West-Achse von den Pyrenäen bis tief in die Sowjetunion hinein erstreckte8. Dieser bereits räumlich kaum mehr Ausweichmöglichkeiten belassenden Entgrenzung entsprach in einem weiteren, übertragenen Sinne sodann auch die Vergesellschaftung des Krieges, die Einebnung der hinsichtlich der Kriegführung zwischen ziviler Gesellschaft und Militär vormals noch bestehenden Schranken. So warnten die Experten fünf Jahre nach Kriegsende eindringlich vor der »Gefahr feindlicher Bombenangriffe gegen die Bevölkerung, die Industrie und die Verkehrswege der Bundesrepublik«, vor »Millionen in Bewegung« kommenden Westdeutschen, überhaupt vor einem Schlachtfeld Bundesrepublik9. Mehr noch als der passiven Einbeziehung der Bevölkerung galt die Sorge der Planer dem aktiven Einsatz der Gesellschaft, ihrer Mobilisierung für den Krieg. Ihre diesbezüglichen Überlegungen bezogen sich sowohl auf den Umfang als auch auf die Qualität der künftigen Streitkräfte. Wenngleich weit davon entfernt, an die Dimensionen der Kriegswehrmacht anschließen zu wollen - zwischen 1939 und 1945 hatten etwa 17 Millionen, mithin 21,5 Prozent der Reichsbevölkerung (1939 = 79 Millionen) als Soldaten in den deutschen Streitkräften gedient10 - , glaubten die Sachverständigen 1950 mit »etwa 250 000 Mann« allein für das Heer die aus ihrer Sicht damals gegebene »oberste Grenze der zumutbaren Leistungsmöglichkeit der Bundesrepublik« immerhin ausschöpfen und damit eine Wehrpflichtarmee empfehlen zu müssen11. Industrialisierung der Kriegführung bedeutete über diese quantitative Seite hinaus auch deren Technisierung. Einsatz und Betrieb eines vornehmlich aus Panzertruppen bestehenden Heeres, das u.a. durch eine taktische Luftwaffe unterstützt werden sollte, setzte ein Personal voraus, das bereits vorher schon in Schule und Berufsausbildung wesentliche Schlüsselqualifikationen erworben haben musste. So wurde nicht nur die »Fliegertruppe« als »technische Waffengattung« bezeichnet und gerade deren Bedarf an »Angehörigefn] technischer Berufe« angeführt, sondern es wurden auch in Bezug auf das Heer »Spezialisten

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Vgl. Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 1 7 0 - 1 7 3 . Ebd., S. 177 f., 1 7 2 , 1 6 9 . Vgl. Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd 2, S. 39, und Overmans, German and Austrian Losses, S. 295. Siehe zudem die Umfangsangaben in Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 5/1, S. 985 (Beitrag Kroener), die neben den Wehrmachtteilen Heer, Luftwaffe und Marine auch Waffen-SS-, Polizei- und sonstige Verbände einbeziehen und einen Umfang von rund 20 Millionen ergeben. Rautenberg/Wiggershaus, Die » H i m m e r o d e r Denkschrift«, S. 1 7 4 - 1 7 6 .

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I. Einleitung

aller Art« gefordert, die - sollte das Aufkommen an Freiwilligen hinter dem Soll zurückbleiben - sogar über ein »Notgesetz« verpflichtet werden müssten12. Nicht von ungefähr richteten sich die Planer 1950 bei der Bestimmung des westdeutschen Verteidigungsbeitrages neben klassischen militärischen, operativen Erwägungen nach der »personellen und industriellen Leistungsfähigkeit« der Bundesrepublik: Die drohende Neuauflage des letzten Weltkrieges vor Augen, verlangten sie die Einbeziehung der gesamten Gesellschaft in die Rüstungsanstrengungen - »das Ethos der Landesverteidigung« müsse, wie es in der wohl bündigsten Formulierung hieß, »das gesamte Volk erfassen«13. Die ins Auge gefasste Rekrutierung sah sich sonach in der Situation, im Hinblick auf den Fall eines künftigen totalen Krieges auf Angehörige einer Bevölkerung zurückgreifen zu müssen, die - in welchem Alter auch immer - eine frühere Variante eines solchen Krieges am eigenen Leibe erlebt hatten. Noch Mitte der 50er-Jahre galt dies für den jüngsten Freiwilligen, der bei Kriegsende immerhin schon sein siebtes oder achtes Lebensjahr vollendet haben mochte, ebenso wie für den noch zur Reaktivierung anstehenden Offizier des Ersten Weltkrieges. Diese Situation musste keineswegs eine eindeutige Haltung zum Militärdienst präjudizieren. Vielmehr durften für nahezu jede der zu erwartenden Einstellungen Widersprüche, zumindest Probleme vorausgesagt werden. Zwei wohl nicht seltene Muster mögen dies verdeutlichen. Auf der einen Seite war die Katastrophe des vom >Dritten Reich< geführten Krieges unübersehbar. Dieser Krieg hatte auch in Deutschland unerhörte Opfer gefordert und unermesslichen Schaden angerichtet. Wird bei den Angaben von dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 ausgegangen, so waren allein unter den Wehrmachtangehörigen 3,8 Millionen Tote zu beklagen. Der Bombenkrieg wie auch die auf dem Reichsgebiet in der Schlussphase des Krieges ausgetragenen Kämpfe hatten unter der Zivilbevölkerung einer halben Million Menschen das Leben gekostet, Flucht und Vertreibung aus dem Osten einer weiteren Million. Etwa 300 000 Deutsche sind der nationalsozialistischen Verfolgung zum Opfer gefallen14. Noch Mitte der 50er-Jahre waren die Spuren des Krieges im öffentlichen Leben der Bundesrepublik deutlich sichtbar. So zählte das Statistische Bundesamt Ende 1955 in der Bundesrepublik (unter Einschluss von West-Berlin) knapp 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte und mehr als 2,6 Millionen anspruchsberechtigte Hinterbliebene als Opfer beider Weltkriege15. Den Überlebenden des Zweiten Weltkrieges hatte es zudem in den ersten Nachkriegsjahren häufig genug am Notwendigsten gemangelt. Ungefähr 20 Prozent

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Vgl. ebd., S. 1 7 4 - 1 7 6 , 1 8 2 , 1 8 4 . Vgl. ebd., S. 1 7 4 , 1 7 0 (Zitate); vgl. auch S. 187. Angaben nach Schildt, Moderne Zeiten, S. 64; im Hinblick auf die Toten unter den Wehrmachtangehörigen jetzt deutlich höhere Zahlen bei Overmans, Deutsche militärische Verluste, S. 228, der 4,456 Mio. Todesfälle angibt. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 5/1, S. 985 (Beitrag Kroener), beziffert die Wehrmachtverluste auf insgesamt rund 4,3 Mio. Statistisches Jahrbuch 1956, S. 374; vgl. dazu Schildt, Moderne Zeiten, S. 64 f.

I. Einleitung

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der in den drei Westzonen gelegenen Wohnungen waren zerstört16. Hunger, Kälte und eine darniederliegende Wirtschaft hatten die Besatzungsbehörden vor ernste Versorgungsprobleme gestellt. Infolge millionenfacher Wanderungsbewegungen war es zu chaotischen Zuständen gekommen, der Lebens-, Arbeits· und Familienzusammenhang Vieler war zerrissen worden17. Zu den 9,4 Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen und zu denen, die den Folgen des Bombenkrieges hatten ausweichen und so die Verbindung zu ihrer angestammten Umgebung hatten aufgeben müssen, waren unmittelbar nach Kriegsende zwölf Millionen kriegsgefangene Wehrmachtangehörige gekommen. Mit der Trauer um den Verlust von Angehörigen, mit den Schäden an Leben und Gesundheit und mit den drückenden materiellen Lebensumständen verband sich sodann die seit Sommer 1945 selbst dem Schüler unmittelbar einsichtige Erkenntnis, einem geschlagenen Volk anzugehören. Die vollständige und unzweideutige politische und militärische Niederlage war durch die Auflösung der Wehrmacht, die Zerschlagung des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates, schließlich durch die von den Siegermächten vollzogene Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland vor aller Augen beglaubigt worden. Die Nürnberger Prozesse wie auch die Folgeverfahren hatten zudem die deutsche Gesellschaft mit den Verbrechen konfrontiert, in die eben nicht nur die Eliten verstrickt gewesen waren. Mit Hilfe einer je nach Besatzungszone mehr oder minder breit angelegten Umerziehungskampagne war der Versuch unternommen worden, die im Potsdamer Abkommen verabredete Entmilitarisierung und Entnazifizierung dauerhaft im Selbstverständnis der Deutschen zu verankern. Es war naheliegend, dass große Teile der westdeutschen Bevölkerung angesichts alles dessen den Militärdienst rundweg ablehnten. Im Oktober 1950 antworteten 49 Prozent der angesprochenen Männer auf die Frage, ob sie im Falle eines sowjetischen Angriffes bereit wären, »Soldat zu werden«, mit »Nein«, lediglich 38 Prozent erklärten demgegenüber ihre Bereitschaft, 13 Prozent waren unentschieden18. Eine ähnliche Umfrage, veranstaltet bereits in Erwartung eines baldigen Aufstellungsbeginns, dürfte für die Planer kaum ermutigender ausgefallen sein: Anfang 1955 wollte knapp die Hälfte der Befragten (47 Prozent) davon abraten, sich auf den Beruf des Soldaten einzulassen, und nur jeder Fünfte gab hierzu ein zuratendes Votum ab19. Wie würde man im Rahmen der vorgesehenen Wehrpflichtarmee den Einstellungen dieses Personenkreises Rechnung tragen können? Wie sollte es möglich sein, Menschen, die nach allem, was sie hatten erfahren müssen, den Krieg doch nur noch perhorreszieren konnten, nicht nur für den Dienst in den Streitkräften zu gewinnen, sondern auch zu ebenso einsatzfähigen wie einsatzwilligen Soldaten heranzubilden? Auf der anderen Seite musste auch in Anbetracht solcher Meinungsbilder für den Versuch einer neuerlichen personellen Rüstung nicht sogleich alles 16 17 18 19

Vgl. Schiidt, Moderne Zeiten, S. 48. Das Folgende nach ebd., S. 48 f., 65. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. 355. Α WS, Bd 3, S. 331 (Beitrag Ehlert).

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I. Einleitung

verloren sein. Immerhin hatte sich in beiden Fällen eine wenn auch knappe Mehrheit nicht eindeutig gegen den >Ruf zu den Waffen< ausgesprochen. Und die Haltung der westdeutschen Bevölkerung zu ihrer vor der Bundesrepublik gelegenen Vergangenheit war keineswegs so unzweideutig ablehnend, wie es der oben geschilderte Erlebniszusammenhang heute nahelegen mag. Jedenfalls vermitteln Erhebungen der frühen 50er-Jahre den Eindruck, dass die Menschen in Westdeutschland sich mehrheitlich noch nicht von ihrem vor 1945 gelegenen Lebensabschnitten zu distanzieren bereit waren. 1951 noch waren in einer vom Allensbacher Institut durchgeführten Befragung 44 Prozent der Erhebungsteilnehmer der Auffassung, Deutschland sei es zur Zeit des >Dritten Reiches< >am besten gegangene 43 Prozent gaben in diesem Kontext das Kaiserreich an, nur zwei Prozent demgegenüber die sich an das Kriegsende anschließende unmittelbare Gegenwart. Gleichzeitig erklärte eine überwältigende Mehrheit (80 von 110 Befragten) die ersten Nachkriegsjahre zu der für Deutschland schlechtestem Zeit, lediglich acht von 110 aber vergaben dieses Prädikat an die Zeit des Zweiten Weltkrieges, nur zwei von 110 an das >Dritte ReichKriegsverurteiltenVolksschichten< erfassenden Rekrutierung, die - kriegsbedingt sogar das Abitur als Bildungsvoraussetzung fallen gelassen, dafür aber spezifisch nationalsozialistische, >völkische< Auslesekriterien eingeführt hatte. Im gleichen Sinne war mit der Neufassung der Heiratsordnung die bislang beachtete Begrenzung auf die erwünschten Kreise< aufgebrochen und damit das gesellschaftliche Umfeld der Offiziere auf das >Volksganze< ausgedehnt worden. Gleichzeitig war das Aufstiegsprinzip der Anciennität von einer durchgängigen Leistungsbeförderung abgelöst worden. Zugang zum wie Aufstieg im Offizierkorps waren fortan ganz an dem Profil der im Fronteinsatz sich bewährenden kämpferischen Führungspersönlichkeit< ausgerichtet. Schließlich war die besondere, stärker individualistischen Normen verpflichtete Ehrauffassung des Offiziers, über die das Korps in eigener Zuständigkeit gewacht hatte, einem Normenkatalog gewichen, der an disziplinarrechtliche Muster angelehnt und auf das regimekonforme, unbedingte Funktionieren hin angelegt war. Mit all diesen Maßnahmen hatte die Wehrmacht die vormalige elitäre Absonderung des militärischen Standes zugunsten eines Aufgehens in der Volksgemeinschaft aufgegeben und damit zugleich sich den Bedingungen eines Krieges technisierter Massenheere angepasst. Die Wehrmacht war im Begriff gewesen, sich zu einer - obschon nationalsozialistischen - Volksarmee zu wandeln25. Wenn es nun also wieder um eine Rüstung im Hinblick auf einen totalen Krieg ging bot sich dann nicht der Brückenschlag in die eben nicht allein negativ, sondern auch positiv gedeutete Vergangenheit an26? Allerdings: So naheliegend eine möglichst enge Anlehnung an das jüngste deutsche Streitkräftemodell aufgrund seiner >Modernität< und Leistungsfähigkeit sowie in Anbetracht vielerorts noch vorhandener Dispositionen auch erscheinen mochte, gegen die umstandslose Anknüpfung an das >Muster Wehrmacht bildete die dritte oben erwähnte Bedingung personeller Rüstung - die für das Militär vorgesehene Rückbindung an den ihm sogar zeitlich vorausgelegenen neuen westdeutschen Staat - eine definitive Einrede. Die Bundesrepub25

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Kroener, Auf dem Weg; Kroener, Strukturelle Veränderungen; Förster, Vom Führerheer der Republik. Vgl. allgemein z u m U m g a n g der Veteranen mit ihrer Wehrmachtvergangenheit im Einflussfeld einer kritischen Öffentlichkeit Echternkamp, Arbeit am Mythos. Zu der hierbei im Hintergrund stehenden Lage der Funktionselite der Wehrmacht vgl. AWS, Bd 1, S. 5 7 7 - 7 3 5 (Beitrag Meyer); Meyer, Soldaten ohne Armee.

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I. Einleitung

lik Deutschland verstand sich gemäß ihrer Verfassung als radikaler Gegenentwurf zum >Dritten Reichnationalsozialistische Volksarmee< die Grundlage, indem sie genau jene Voraussetzungen verneinte, die zu einem guten Teil die Effektivität dieser Armee allererst ermöglicht hatten und die mit deren Modernisierung27 verschränkt waren. Die militärische Leistungsfähigkeit der in der Gesellschaft aufgehenden Massenarmee, oder anders: die bis dahin in der jüngeren deutschen Geschichte unerreichte Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg, war vor allem Ausfluss der totalitären Herrschaft. Ohne damals das ganze Ausmaß der >Wehrhaftmachung< im Rahmen der sich erst noch entfaltenden Gewaltherrschaft schon übersehen zu können, hatte bereits 1933 der Reichswehrminister General der Infanterie Werner von Blomberg unter Verweis auf die nationalsozialistische »Lehre von der Unterordnung des einzelnen unter das gemeinsame Ganze« einer Wesensverwandtschaft »der Totalität des Staates, die bis in die persönlichsten Dinge des einzelnen hineingreift [...,] mit den besten Grandsätzen deutschen Soldatentums« das Wort geredet28. Und in der Tat hatte der »Waffenstaat«29 in einem kaum mehr zu steigernden Ausmaß die personelle Rüstung für den totalen Krieg betrieben - nicht nur innerhalb, sondern gerade auch außerhalb der Streitkräfte30. Dieser auf den totalen Krieg hin angelegte Bedingungsrahmen einer Armee war nun zerschlagen, seine Wiedererrichtung - solange die Bundesrepublik Bestand hatte - ausgeschlossen. Der Staatszweck beließ einer Erziehung für den Krieg keinen Raum. Während so das Fundament, auf dem die Wehrmacht noch hatte aufruhen können, für die westdeutschen Streitkräfte wenigstens in Bezug auf spätere, immer weniger mit dem >Dritten Reich< in unmittelbare Berührung gelangte Rekrutenjahrgänge fortgefallen war, schied auch die Abkoppelung des Militärs von der Gesellschaft und damit der Rückgang hinter den von der Wehrmacht am Ende erreichten Integrationsstand als Option aus. Was aufgrund der Industrialisierung des Krieges und des damit korrespondierenden Kriegsbildes - jedenfalls bis in die Phase technisierter Wehrpflichtarmeen - ohnedies im Hinblick auf das Militär geboten war, nämlich dass es allein noch als eine integrierte Einrichtung einen sinnvollen Ort 27

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Hier als Anpassung an veränderte Anforderungen zu verstehen; vgl. den Eintrag zu »modernisieren« in Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, Bd 6, 3. Aufl., Mannheim 1999, S. 2622. Ansprache des Reichswehrministers, 22.9.1933, auszugsweise abgedr. bei Müller, Armee und Drittes Reich, S. 163. Zu den einschlägigen Einordnungen des >Dritten Reiches< vgl. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, S. 491-505 (Zitat S. 504); vgl. auch Nolte, Der europäische Bürgerkrieg, S. 535; Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 275 f. Zu dem totalitärer Herrschaft überhaupt innewohnenden unendlichen Prozess von Kampf und Vernichtung vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 860-864, 952 f. Vgl. dazu bereits die gedrängte Darstellung bei Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 284-298; zur personellen Rüstung des Deutschen Reiches auf breitester Quellengrundlage jetzt nahezu umfassend Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 5/1, S. 691 -1001 (Beitrag Kroener), in Verbindung mit Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 5/2, S. 775-1001 (Beitrag Kroener).

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einnehmen und nur noch in und mit, aber nicht mehr neben der Gesellschaft den Anforderungen seiner Funktion gerecht werden könne, das wurde noch zusätzlich bekräftigt durch jenen für die Bundesrepublik eigentümlichen Umstand, dass der Staat lange vor seinen Streitkräften geschaffen worden war. Der Rückzug auf eine gegenüber Gesellschaft und Staat eher isolierte Position, wie sie zeitweilig von der Reichswehr hatte behauptet werden können, war prima facie für die künftigen westdeutschen Streitkräfte kein gangbarer Weg, zumal sie sich nicht mehr als der Republik gleich ursprünglich betrachten konnten. Wie schwer es indes den mit ersten Überlegungen zum Neuaufbau von Streitkräften betrauten ehemaligen Soldaten nach dem Erlebnis von mitunter zwei >totalen< Kriegen fiel, sich auf die noch kaum gekannte bundesrepublikanische Ordnung einzustellen und dabei von der Attraktivität des Modells Wehrmacht zu lassen, zeigt einmal mehr der Blick auf die »Himmeroder Denkschrift«. Zu deren Verfasserkreis zählte der 1887 geborene und noch in das preußische Friedensheer eingetetene Generaloberst a.D. Heinrich von Vietinghoff (gen. Scheel) ebenso wie der Major i.G. a.D. Horst Krüger, der dem Geburtsjahrgang 1916 angehörte und seine Soldatenlaufbahn erst in der Wehrmacht begonnen hatte31. Gleich einleitend verwiesen die Autoren auf das Potenzial, das die Wehrmacht angesichts der Millionen von Kriegsgedienten in der deutschen Bevölkerung hinterlassen hatte. Obwohl sie erhebliche Zweifel an dem während der letzten Kriegsjahre erzielten Ausbildungserfolg hegten, attestierten sie »dem deutschen Volke« eine hinreichende »Wehrkraft« und gingen damit wenigstens für den Moment davon aus, dass militärische Fertigkeiten noch in genügendem Umfange gegeben seien. Allerdings stand in ihren Augen das »in weiten Kreisen noch zu beobachtende Fehlen eines Wehrwille[ns]« der Ausschöpfung der deutschen Kräfte entgegen. Die von ihnen für dieses Defizit angeführte Begründung ist bezeichnend für ihr Bemühen, wieder Anschluss an die Wehrmacht zu gewinnen. Denn für den Mangel wurde nicht etwa das Desaster des vom >Dritten Reich< entfesselten Krieges verantwortlich gemacht, sondern - geradezu in Umkehrung von Ursache und Wirkung - eine seit Kriegsende betriebene »Diffamierung«. Folgerichtig drangen die Verfasser der Denkschrift darauf, dass Regierung und Bundestag sich zu einer »Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten« herbeiließen. Ähnliches erwarteten sie von den Westmächten. Deren Bereitschaft, sich von den in den Kriegsverbrecherprozessen ergangenen Urteilen zu distanzieren und die Wehrmachtangehörigen zu rehabilitieren, galt nach der Denkschrift als Voraussetzung für den ins Auge gefassten Aufbau deutscher Truppen. Hierbei scheuten die Verfasser nicht davor zurück, Praktiken zu empfehlen, die in die Nähe einer diktaturgemäßen Meinungslenkung gerieten. So plädierten sie im Rahmen der an die westlichen Besatzungsmächte gerichteten Aufforderung, jede »Diffamierung des deutschen Soldaten« einzustellen, für »Maßnahmen zur Umstellung der öffentlichen Meinung« 32 . 31 32

Zum Teilnehmerkreis vgl. Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 189 f. Ebd., S. 168-170, 181.

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Dass der Brückenschlag in die Vergangenheit nicht allein auf das Bemühen beschränkt blieb, die Wehrmacht zu exkulpieren und mit der Nachkriegsgesellschaft zu versöhnen, sondern auch die Orientierung an vergangenen Mustern enthielt, zeigt sich sodann an den Vorstellungen zum künftigen Soldaten der Bundesrepublik. Gewiss - es fehlte nicht an Bekenntnissen zu einem Neuanfang im Zeichen der im Grundgesetz verankerten Werteordnung. Die Soldaten hätten »aus innerer Uberzeugung die demokratische Staats- und Lebensform zu bejahen« und sich »zu Europa und dem deutschen demokratischen Staat« zu bekennen; es müsse »ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute grundlegend Neues« geschaffen werden. Zweifel an der Substanz solcher Erklärungen aber mussten aufkommen, wenn die Verfasser gleichzeitig »dem berechtigten Wunsche nach dem hergebrachten Ansehen [!] des Soldaten in der Öffentlichkeit« Ausdruck verliehen oder »den soldatischen Erfahrungen und Gefühlen des deutschen Volkes« das Wort redeten. Dass der »Truppe« die »Schaffung eines europäischen Geschichtsbildes« zugemutet wurde, lässt ebenso Rückbezüge auf die der Wehrmacht zugedachte Erziehungsaufgabe sichtbar werden, wie die Forderung nach »planmäßige [r] Aufklärung und Erziehung des Volkes, besonders der Jugend«, zusammen mit der positiven Hervorhebung des »wahren Soldatentum[s]« gegenüber »Pazifismus, [...] Kriegsdienstverweigerung [immerhin 1949 dem Schutzbereich der Grundrechte zugeordnet, F.N.] und [...] Militarismus« als eine zwar noch um den zuletzt genannten Kontrastbegriff erweiterte, sonst aber kaum modifizierte Fortschreibung vormaliger Erwartungshaltungen an die Militärnähe der Gesellschaft wirkt. Und selbst die nach der von der Wehrmacht erreichten Integrationsstufe ohnedies sich von selbst verstehende Distanzierung, die Zurückweisung des >Staates im Staate< nämlich, büßt - soweit damit das Bekenntnis zur Demokratie hatte verbunden sein sollen - an Eindeutigkeit ein, sobald Einzelbestimmungen in den Blick geraten. Denn unter Missachtung des im Grundgesetz niedergelegten Parteienprivilegs wurde für die Truppe die »überparteiliche Haltung« reklamiert und in diesem Zusammenhang auch das Wahlrecht des Soldaten eingeschränkt33. Zu allem Überfluss verband sich mit der Einbeziehung in die neue, noch ungewohnte staatliche Ordnung eine durch den Ost-West-Konflikt und die Teilung bedingte durchaus problematische Frontstellung. Denn nachvollziehbare Sorge weckte bei den Verfassern schließlich die »wichtige Frage eines etwaigen Kampfes Deutscher gegen Deutsche«, was gleichzeitig einherging mit der immerhin angedeuteten Aufhebung der bis 1945 für ganze Generationen von Soldaten selbstverständlichen nationalen Letztbegründung ihrer beruflichen

33

Ebd., S. 185-187; zu diesem Abschnitt haben die Hrsg. 1977 bereits »das Nebeneinander von demokratischen Postulaten und vergangenheitsbelasteten Empfehlungen« angemerkt - vgl. ebd., S. 162 f., und AWS, Bd 1, S. 815 f. (Beitrag Rautenberg). Zur nationalsozialistischen >Wehrertüchtigung< vgl. die schon erwähnte geraffte Darstellung bei Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 284-298; zur politischen Erziehungsaufgabe der Wehrmacht vgl. Kroener, Strukturelle Veränderungen, S. 290, und Messerschmidt, Politische Erziehung der Wehrmacht.

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Raison d'etre in einem »übernationalen« Verband34. Greifbar wurde hier das Problem, nunmehr zusammen mit den Gegnern von gestern sich gegen die einstigen deutschen Kameraden wenden zu müssen. In der Bevölkerung vermutete Potenziale wie auch dort vorhandene widersprüchliche Einstellungen, politisch-rechtliche Vorgaben und von militärischen Sachverständigen skizzierte Konzepte schienen sonach in unterschiedliche Richtungen zu weisen: Auf der einen Seite Anleihen an das Modell der Wehrmacht, sodann die zunächst kaum veränderten Vorstellungen vom Kriege, schließlich vergangenheitsverhaftete Dispositionen in Teilen der Gesellschaft, nicht zuletzt bei den Veteranen. Auf der anderen Seite das verbreitete Erlebnis von Tod und Zerstörung, von Niederlage und Zusammenbruch wie auch die radikale Neubestimmung des Staatszieles und die Ablehnung alles Militärischen. Waren so schon Vorbereitung und Beginn der Rüstung für die neue »demokratische Volksarmee«35 von dem Nebeneinander von zumindest streckenweise Unvereinbarem belastet, so geriet deren weiterer Vollzug in das Einflussfeld tiefgreifender Veränderungen, welche den Streitkräfteaufbau nicht notwendig erleichtern mussten. Denn parallel zu der sich ab dem Amtsantritt von US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1953 immer deutlicher abzeichnenden Nuklearisierung der Bündnisstrategie36 kündigte sich etwa um die Mitte der 50er-Jahre ein Wandel an, der sowohl die Einstellungen und Orientierungen betraf, die in der westdeutschen Gesellschaft vorherrschten, als auch Veränderungen in dem dort vorfindbaren Angebot an militärisch nutzbaren schulischen und beruflichen Qualifikationen erwarten ließ. Mit jedem Jahr, das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verging, verringerten sich die Möglichkeiten, zur Deckung des Personalbedarfs auf das von der Rüstung des >Dritten Reiches< hinterlassene Erbe zurückgreifen zu können. Der Personalersatz musste absehbar zunehmend über die Rekrutierung von >Ungedienten< erfolgen. Geht man davon aus, dass moderne Streitkräfte auf ein hoch qualifiziertes, dabei nicht zuletzt gerade technisch vorgebildetes Personal angewiesen sind, dann gab es ab der Mitte der 50er-Jahre Verschiebungen, die sich für die personelle Rüstung zunächst einmal günstig auswirken konnten37: Zwischen 1950 und 1960 fiel in der Bundesrepublik der Anteil des primären Sektors (Land- und Forstwirtschaft usw.) an den Arbeitskräften um die Hälfte auf etwa 13,8 Prozent, während die Anteile des sekundären (warenproduzierendes Gewerbe) und des tertiären Sektors (Dienstleistungen mit Handel und Verkehr usw.) auf 49 bzw. 37,2 Prozent anstiegen. Damit verband sich nicht nur eine deutliche Zunahme des Segmentes der Industrie- und Handwerksarbeiter, sondern auch ein etwa seit 1955 zu beobachtender Trend zu höher qualifizierten 34 35

36

37

Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 187, 168, passim. Theodor Blank: Für eine demokratische Volksarmee. In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 178 vom 14.11.1952, S. 1575 f.; siehe auch Kroener, Strukturelle Veränderungen, S. 293. Α WS, Bd 3, S. 6 0 3 - 6 2 9 (Beitrag Greiner); Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 1 0 3 - 1 2 8 . Z u m Folgenden siehe Schildt, Moderne Zeiten, S. 5 5 - 6 3 .

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Stellen. Gleichzeitig hatte eine Bildungsexpansion eingesetzt, die in erster Linie die Mittelschule begünstigte - zwischen 1952 und 1960 sollte sich der Anteil der Mittelschüler auf 11,3 Prozent verdoppeln - , die sich aber auch in der Steigerung des gymnasialen Anteils von 11,7 auf 15 Prozent niederschlug. Gegenüber den Jugendlichen der ersten Hälfte der 1950er-Jahre waren die des zweiten Jahrfünfts hinsichtlich ihres Schulabschlusses bereits deutlich höher qualifiziert. Bei näherem Hinsehen wurden diese für die personelle Rüstung zunächst günstig erscheinenden Tendenzen beeinträchtigt, wenn nicht gar aufgehoben durch das gleichzeitige rasante Wachstum der Wirtschaft, das eben nicht nur einen strukturellen Wandel herbeiführte, sondern vor allem auch eine enorme Ausweitung der Beschäftigung zur Folge hatte. So ging die Arbeitslosenquote von elf Prozent im Jahre 1950 auf unter ein Prozent zu Beginn der 60er-Jahre zurück. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen lag 1960 mit 240 000 bereits unterhalb des damals auf 270 400 Soldaten angestiegenen Umfangs der noch im Aufwuchs befindlichen Bundeswehr 38 . Die Deckung des Personalbedarfs der Streitkräfte war damit einer zunehmend sich verschärfenden Konkurrenz vonseiten der zivilen Arbeitgeber ausgesetzt. Dabei setzten nicht nur die verfügbaren Haushaltsmittel den Anstrengungen der Bundeswehrführung Grenzen, sondern in die gleiche Richtung wirkte auch der sich im Verlauf der 50er-Jahre ebenfalls bereits abzeichnende Einstellungswandel in der westdeutschen Gesellschaft39. Gewiss war Vieles bis in die Spätzeit der >Ära Adenauer< nahezu unverändert geblieben. Politische Fragen stießen durchgängig auf verbreitetes Desinteresse. Auch genossen im Selbstbild der Westdeutschen »Fleiß, Arbeitsamkeit, Tüchtigkeit und Strebsamkeit« gleichbleibend große Wertschätzung, wobei allerdings »Ordnungssinn, Treue« - beides militärischen Bedürfnissen entgegenkommende Eigenschaften - sowie »Gutmütigkeit« an Bedeutung verloren 40 . Sodann hielt sich über die längste Zeit der 50er-Jahre eine von Vielen geteilte, zumindest latente Angst vor einem neuerlichen Krieg, die erst am Ende dieses Zeitraumes einer länger anhaltenden Zuversicht wich. Auf der anderen Seite aber kam es zu signifikanten Veränderungen hinsichtlich der Haltung zu einzelnen politischen Fragen, wenn auch nicht so sehr im Hinblick auf die diesen vorausliegenden »Denkmuster und Wertordnungen« 41 . Unverkennbar war der Attraktivitätsschwund der in die Zeit des Deutschen Reiches fallenden Vergangenheit. Anders als noch zu Beginn des Jahrzehnts gaben 1959 42 Prozent der Erhebungsteilnehmer die bundesrepublikanische Gegenwart als die Zeit an, in der es Deutschland am besten gegangen sei. Gleichzeitig fiel die Zahl derer, die einen >Hitler< wählen würden, von zwölf Prozent im Jahre 1953 auf 1960: sieben Prozent. Der zunehmende Abstand zu der vor der Bundesrepublik gelegenen Vergangenheit äußerte sich auch in den einschlägigen Verschiebungen des 38 39 40 41

Statistisches Jahrbuch 1961, S. 142; Verteidigung im Bündnis, S. 465. Das Folgende nach dem einschlägigen Kap. bei Schildt, Moderne Zeiten, S. 306-323, ergänzende Fundstellen werden gesondert angegeben. Zitate ebd., S. 314. Zitate ebd., S. 317.

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Meinungsbildes zu den Staatsfarben: Noch im Oktober 1951 gaben 47 Prozent der Befragten der Flagge >Schwarz-Weiß-Rot< den Vorzug, lediglich 18 Prozent sprachen sich für die Bundesfarben >Schwarz-Rot-Gold< aus, der Rest hatte hierzu >keine MeinungSchwarz-Weiß-Rot< auf 43 Prozent gesunken, die Verfechter von >SchwarzRot-Gold< lagen nunmehr mit einem Anteil von 38 Prozent fast gleichauf, 19 Prozent waren unentschieden. Sechs Jahre später, im November 1961, hatten sich die früheren Mehrheitsverhältnisse umgekehrt: 53 Prozent votierten für die Farben der Bundesrepublik, nur noch 26 Prozent für die des Bismarck-Reiches, immerhin noch 21 Prozent gaben >unentschieden< an43. Allerdings blieb die Haltung zum 20. Juli 1944, der Lackmustest für die dem Staat bzw. dem Einzelnen zugestandene Kompetenz, in bemerkenswerter Weise umstritten: Im Juni 1951 ergriffen 40 Prozent der Befragten Partei für die Widerstandskämpfer, keine Erinnerung hatten elf Prozent, drei Prozent schwankten in ihrem Urteil, 16 Prozent enthielten sich eines solchen und 30 Prozent gaben sich als Gegner des Widerstandes zu erkennen 44 . Fünf Jahre danach, im April 1956, wollten lediglich 18 Prozent »eine Schule nach einem Widerstandskämpfer« benennen, mit 49 Prozent war sogar knapp die Hälfte der Befragten dagegen, 33 Prozent waren unentschieden 45 . Im Februar 1960 hatte sich das Meinungsbild zwar wieder dem der frühen 50er-Jahre genähert, der Anteil derer, die eine Schule mit der Tradition des Widerstandes verbinden wollten, lag mit 25 Prozent aber immer noch deutlich unter dem 40 Prozent-Anteil derer, die ein solches Traditionsbekenntnis ablehnten 46 . Unerachtet dieser Ergebnisse war jedoch der Umschwung zugunsten einer wachsenden Bereitschaft, sich auf die Bonner Republik einzulassen, nicht mehr zu übersehen. Ebenso überwog auch die Westorientierung. Die demoskopischen Untersuchungen spiegeln ein eindrucksvolles Bekenntnis zu einem vereinigten Europa, wiewohl relativiert durch den gleichzeitig der Wiedervereinigung zugesprochenen Vorrang. So erklärten im Dezember 1956 75 Prozent der Befragten, sie wollten, gäbe es eine Abstimmung, »für [...] die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa stimmen«, im Oktober 1961 hatte sich dieser Anteil sogar auf 81 Prozent noch erhöht. Die Westoption schlug sich indessen nicht in einer entsprechenden Zustimmung zur westdeutschen Rüstung nieder. Wie bereits im Dezember 1956 sprachen sich im März 1961 von den jeweiligen Erhebungsteilnehmern lediglich 51 Prozent für die Beibehaltung der Bundeswehr aus, der Anteil derer, die für die Abschaffung plädierten, war gleichzeitig keineswegs dramatisch von 36 auf 29 Prozent gefallen, der Prozentsatz der Unentschiedenen von 13 auf 20 Prozent gestiegen47. An der Wende zu den 60er-Jahren - so 42 43 44 45 46 47

Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. 159. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958 -1964, S. 256. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. 138. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, S. 145. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958 -1964, S. 235. Ebd., S. 250 (Vorrang der Wiedervereinigung), S. 546 (Vereinigte Staaten von [West-] Europa), S. 470 (Bundeswehr).

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lassen sich die Anzeichen zusammenfassend deuten - war mit der Annäherung an den Westen der Durchbruch zu einem neuen »politischen Gesellschaftsmodell« erfolgt, in welchem »ökonomische Optimierung an die Stelle von politischem Irrationalismus und charismatischem Führungsstil« getreten war48. Auch diese Verschiebungen, die in die Aufbauphase der Bundeswehr fielen, konnten nicht ohne Rückwirkungen auf deren personelle Rüstung bleiben. Sie waren geeignet, eine ohnehin schon bestehende verwirrende Gemengelage von in ihren Auswirkungen einander kreuzenden, wenn nicht gar widerstreitenden Bedingungen noch einmal zu erweitern und die Rüstung mit neuen Maßgaben zu befrachten. Die personelle Rüstung war angesichts dieser Gegebenheiten mit einer beachtlichen Vermittlungsaufgabe konfrontiert. In zuspitzender Zusammenfassung lassen sich unter den Widersprüchen, denen sie dabei Rechnung tragen musste, folgende hervorheben: Die Rüstung wurde im Hinblick auf einen am Ende gar nuklearen totalen Krieg unternommen, was die Mobilisierung derselben westdeutschen Bevölkerung geboten erscheinen ließ, die schon der konventionellen Variante eines solchen Krieges doch nur schreckerfüllt gegenüberstehen konnte. Diese Bevölkerung war in Kriegs- und Nachkriegszeit durch Niederlage und Zerstörung, Not und Elend gegangen, und doch hatte das nationalsozialistische Regime in einem nennenswerten Teil von ihr in wie auch immer vermittelter Form Prägungen hinterlassen, die zumal in der frühen Bundesrepublik noch greifbar waren und zu denen auch militärnahe Verhaltensmuster zählten. Nur sehr zögerlich war die bundesrepublikanische Gesellschaft bereit gewesen, den ursprünglich von den Siegern auferlegten gründlichen Bruch mit der eigenen Vergangenheit einigermaßen konsequent zu vollziehen. Was indes die Wiederaufnahme der personellen Rüstung erleichtern konnte, musste nicht unbedingt zur Konsolidierung des westdeutschen Staates beitragen, wie umgekehrt die mit der allmählichen Eingewöhnung in die Bundesrepublik im öffentlichen Leben einhergehende Verdrängung militärisch nutzbarer Dispositionen bzw. eines immerhin militärisch nutzbaren Führungsstils durch die Orientierung am ökonomischen Kalkül Position und Aufgabe der mit dem Aufbau der neuen Streitkräfte betrauten alten Soldaten nicht eben einfacher gestaltet haben dürfte. Diese Soldaten wiederum, die ihrer beruflichen Erfahrung wegen für die neuerliche Rüstung gebraucht wurden, durften gerade die Quintessenz dieser Erfahrung - das Modell der in die >Volksgemeinschaft< integrierten Wehrmacht - nicht oder höchstens nur bedingt fruchtbar machen. Was in militärischer Sicht als Muster einer Rüstung für den >totalen Krieg< gelten konnte, musste zugleich als nationalsozialistisch kontaminiert und mithin in der übergeordneten rechtsstaatlichen Perspektive der Bundesrepublik als Unrecht angesehen werden. Darüber hinaus drohte die Rüstung selbst noch weitere Sprenglöcher in das überkommene Fundament ihres eigenen Legitimationsgefüges zu treiben. So wurde die nationale Rückbindung an Deutschland durch den Ost-West-Konflikt infrage gestellt. Aus Sicht des westdeutschen Veteranen 48

Schildt, Moderne Zeiten, S. 323 (Zitat unter Berufung auf Charles S. Maier); vgl. auch ebd., S. 447.

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der Wehrmacht, der selbst unter einem totalitären Regime gedient hatte, brachte die ideologische und machtpolitische Auseinandersetzung des >freien Westens< mit dem anderen, 1945 zu den Siegern zählenden totalitären Modell als deutsch-deutsche Konfrontation durchaus auch ehemalige Kameraden aus der Zeit der Wehrmacht in Frontstellung gegeneinander, während gleichzeitig die neuen Alliierten als gestrige Sieger wiederum Wehrmachtangehörige unter dem Vorwurf des Kriegsverbrechens nach wie vor in Gefangenschaft hielten. Und doch ist 1965 die 12. Division der NATO unterstellt worden. Wie hatte unter den geschilderten Umständen die personelle Rüstung der Bundeswehr überhaupt gelingen können?

2.

Überlegungen zur Bearbeitung

Im Grunde nimmt eine solche Frage zwei Problembereiche in den Blick: Zum einen geht es um die Wege, auf denen die Realisierung der personellen Rüstung versucht wurde, zum anderen um die Berechtigung, im vorliegenden Fall überhaupt von einem Gelingen zu sprechen, oder anders: um das Ausmaß des erzielten Erfolges. In beiderlei Hinsicht kommt der Betrachter nicht daran vorbei, sich mit den angestrebten Zielen der Rüstung auseinanderzusetzen. In welchem Umfang sollten Soldaten am Ende verfügbar sein, und welches Profil sollten sie aufweisen? Da hier die von der Bundeswehr und innerhalb ihres Bereiches betriebene Rüstung behandelt wird, steht die Frage nach dem gewollten Soldaten und seiner Wirklichkeit im Mittelpunkt der Betrachtungen. Damit rückt als zentraler Untersuchungsgegenstand die Innere Führung mit ihrem Modell des Staatsbürgers in Uniform49 in das Blickfeld. Denn die Erarbeitung eines verbindlichen Leitbildes des Soldaten war in der Dienststelle Blank wie im späteren Verteidigungsministerium in erster Linie die diesem Sachgebiet übertragene Aufgabe. Bereits am 10. Januar 1953 hatte Theodor Blank50 als »Ziel« aller »Arbeiten auf dem Gebiet Innere Führung« verfügt, »den Typ des modernen Soldaten zu schaffen und fortzubilden, der freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich ist«51. Mitte der 1960er-Jahre

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Zu der Einführung des Begriffes in den amtlichen Sprachgebrauch vgl. Rosen, Staatsbürger in Uniform, S. 149-151. Theodor Blank (1905-1972), Arbeiter, Konstrukteur, MdB 1949-1972 (CDU). Kriegsteilnehmer 1939-1945 (zuletzt Oberleutnant). 1950-1955 Beauftragter, später Bevollmächtigter des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der Alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen, 1955/56 Bundesminister für Verteidigung, 1957-1965 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1958-1969 Mitglied des Bundesvorstandes der CDU, 1958-1967 Stellvertretender Bundesvorsitzender und Mitglied des CDU-Präsidiums; nach Kanzler und Minister 1949-1998, S. 136-142. BA-MA, BW 9/411, fol. 24, Dienststelle Blank, Regelung der »Inneren Führung«, 10.1.1953, Hervorhebung im Original - Hervorhebungen, die im Original durch Fettdruck, Unter-

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( u n d d a m i t n o c h in z e i t l i c h e m Z u s a m m e n h a n g m i t d e m h i e r z u u n t e r s u c h e n d e n Z e i t r a u m ) k o n n t e d i e I n n e r e F ü h r u n g s o g a r als d i e d e r B u n d e s w e h r e i g e n e F o r m der Aneignung vorgestellt werden:

In d e r K o n s o l i d i e r u n g s p h a s e

Streitkräfte unterstrich der d a m a l i g e Generalinspekteur, General Ulrich

der de

M a i z i e r e 5 2 , in e i n e m ö f f e n t l i c h e n V o r t r a g i h r e B e d e u t u n g f ü r d i e p e r s o n e l l e Rüstung,

indem

er

sie als

»die Aufgabe

aller

Vorgesetzten«

bezeichnete,

» S t a a t s b ü r g e r z u S o l d a t e n z u e r z i e h e n , d i e f ä h i g u n d w i l l e n s sind, R e c h t u n d F r e i h e i t d e s d e u t s c h e n V o l k e s in d e r g e i s t i g e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g z u w a h r e n u n d z u fördern u n d i m K a m p f e mit der Waffe tapfer z u verteidigen«53. In w e l c h e m M a ß e ist also d e r B u n d e s w e h r - s o ließe sich d i e e b e n gestellte A u s g a n g s f r a g e a n d e r s fassen - d i e E i n f ü h r u n g d e s v o n d e r I n n e r e n F ü h r u n g beschriebenen Soldatenmodells gelungen? Hierzu hat eine z u n e h m e n d unübers c h a u b a r w e r d e n d e F o r s c h u n g 5 4 b e r e i t s z a h l r e i c h e , a l l e r d i n g s n i c h t in d i e s e l b e R i c h t u n g w e i s e n d e A n t w o r t e n v o r g e l e g t . Bietet d i e s s c h o n A n l a s s z u e i n e r n e u e r l i c h e n U n t e r s u c h u n g , s o soll d i e f o l g e n d e B e t r a c h t u n g z u A n h a l t s p u n k t e n für deren A u f b a u verhelfen. I m H i n b l i c k a u f d a s E n d e d e r sich bis in d i e 6 0 e r - J a h r e e r s t r e c k e n d e n A u f stellungsphase wird die Frage n a c h d e m Gelingen des Reformvorhabens zuw e i l e n bejaht. E i n e n s o l c h e n E i n d r u c k h i n t e r l ä s s t jedenfalls G e o r g M e y e r in seinem

1 9 9 3 v e r ö f f e n t l i c h t e n B e i t r a g , d e r t r o t z aller

Aufbauschwierigkeiten

d e m auf die Verrechtlichung der militärischen F ü h r u n g u n d auf die Integration

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53 54

Streichung, Sperrung oder veränderte Schrift ausgeführt wurden, werden hier einheitlich mit Kursivschrift gekennzeichnet. Karl Ernst Ulrich de Maiziere (1912-2006), 1930 Eintritt in die Reichswehr, 1933 zum Leutnant befördert, Verwendung in Infanterie-Einheiten, nach Generalstabslehrgang u.a. Verwendung in der Organisationsabteilung des Generalstabes des Heeres und in Divisionsstäben (1944 an der Ostfront verwundet), schließlich in der Operationsabteilung des Generalstabes des Heeres, als Oberstleutnant in Kriegsgefangenschaft geraten. Nach Entlassung Ausbildung und Tätigkeit als Buch- und Musikalienhändler. 1951-1955 Amt Blank, 1951 deutscher militärischer Delegierter bei den EVG-Verhandlungen; 1955 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Oberst, 1955-1958 Unterabteilungsleiter IV A, Beförderung zum Brigadegeneral 1956, 1958/59 Kommandeur der Kampfgruppe A 1 , 1959/60 Stellvertretender Kommandeur der 1. Panzergrenadierdivision, 1960-1962 Kommandeur der Schule für Innere Führung der Bundeswehr, Beförderung zum Generalmajor 1962, 1962-1964 Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr, Beförderung zum Generalleutnant 1964, 1964-1966 Inspekteur des Heeres, Beförderung zum General 1966,1966-1972 Generalinspekteur der Bundeswehr, 1971 in den Ruhestand verabschiedet; weitgehend nach Bradley/Würzenthal/Model, Die Generale und Admirale der Bundeswehr, Bd 3, S. 166 f.; vgl. auch Rautenberg, Ulrich de Maiziere. Maiziere, Erziehung zum Staatsbürger in Uniform, Zitat S. 67. Bereits 1980 verzeichnete eine dem »Ringen um die Innere Führung« gewidmete Studie im Literaturverzeichnis knapp 800 Titel - das einführende Geleitwort attestierte sogar die Berücksichtigung von »etwa zweieinhalbtausend Veröffentlichungen« (vgl. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. X, ferner die Bibliografie mit Ausnahme von Abschnitt VI, ebd., S. 376-404) - , und im März 2002 hat eine Nachfrage beim Fachinformationszentrum der Bundeswehr in Bonn ergeben, dass in dessen Datenbanken 2082 Dokumente allein unter dem Schlagwort >Innere Führung< zu diesem Zeitpunkt abgelegt waren (die freundliche Mitteilung danke ich dem Fachinformationszentrum der Bundeswehr, Dez. 3/Informationsvermittlung, Schreiben vom 19.3.2002).

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des Soldaten in Staat und Gesellschaft zielenden Konzept den wenngleich mühsam erarbeiteten Erfolg bescheinigt und als bleibendes Manko lediglich das Fehlen eines »deutlichen Verteidigungswillenfs] des Volksganzen« bemerkt55. Überwiegend ist dagegen von der Literatur für die Aufbauzeit der Bundeswehr zwar die institutionelle Sicherung des Staatsbürgers in Unifom in Gesetzgebung, Vorschriften und Einrichtungen (wie dem Amt des Wehrbeauftragten, der Schule der Bundeswehr für Innere Führung oder dem >Beirat für Fragen der Inneren Führungtraditionalistisches< Modell des Soldaten angestrebt worden sei, das sich in Vielem dem Muster der Wehrmacht annäherte61. Hinter diesem - wie zwar nicht durchgängig, aber überwiegend attestiert nur sehr eingeschränkten Gelingen, das mit mehr oder minder großen Einbußen an der Substanz des vorgesehenen Staatsbürgers in Uniform dessen ersten Einführungsversuch in die Truppe kennzeichnete, wird ein unterschiedliches Ursachengeflecht identifiziert. So ist die Rede von der mangelnden institutionellen Unterstützung der Inneren Führung während ihrer Konzeptionsphase noch in der Dienststelle Blank: im »Beginn« habe bereits der »Keim eines Mißerfolges« gelegen62. Sodann wird das Nebeneinander zweier Reformrichtungen angeführt, von denen nur eine, nämlich die sich mit »formaldemokratischen Ansätze[n]« begnügende, an ihr Ziel gelangt sei gegenüber dem vorläufigen Miss55 56

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Α WS, Bd 3, S. 951, 957, 1017-1019, 1127, 1157-1162 (Beitrag Meyer), Zitat S. 1161. Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 226 f.; Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 15; Α WS, Bd 1, S. 848 (Beitrag Rautenberg); Bald, Militär und Gesellschaft, S. 55; Bald, Graf Baudissin, S. 46 f.; Kutz, Militär und Gesellschaft, S. 281 -284. Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 224. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 92, 96 (Zitat); Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 224-236. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 97,107 (Zitate), auch S. 63. Α WS, Bd 1, S. 848 (Beitrag Rautenberg). Bald, Militär und Gesellschaft, S. 71 f., 74; Bald, Graf Baudissin, S. 44 f.; Kutz, Militär und Gesellschaft, S. 282 f., 290. Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 224-236, Zitat S. 236.

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erfolg der anderen um Baudissin, der in zunehmender Ausweitung seines emanzipativen Ansatzes schließlich »Streitkräfte als Demokratisierungsfaktor« begriffen habe. Zu sehr habe man auf das rationale Verhalten der Soldaten gesetzt, die überdies - soweit es sich um Veteranen handelte - in völliger Verkennung der Umstände davon ausgingen, dass die Wehrmacht des Krieges »in irgendeiner Form organisatorisch ohne Schwierigkeiten wieder erstehen könne«63. Auch kommt ein Faktorenbündel in den Blick, dem zugeschrieben wird, dass es nicht »zu einer echten Institutionalisierung der Maximen der Inneren Führung« gekommen sei: Desinteresse oder sogar Gegnerschaft bei den politisch Verantwortlichen, innermilitärisch »Untätigkeit und Widerstreben«, schließlich der »Avantgarde-Charakter der Inneren Führung«, die ihrer Zeit weit vorausgeeilt sei64. Wie auch immer bei der Würdigung der Faktoren, die für den häufiger diagnostizierten Fehlschlag des ersten Einführungsversuches des Reformkonzeptes verantwortlich gewesen seien, die Akzente im Einzelnen gesetzt werden, nahezu regelmäßig liegt dem zugrunde, dass von der Differenz des westdeutschen Soldatenmodells zu einer Ausrichtung an dem davor liegenden Modell der Wehrmacht, wenn nicht gar älteren Mustern ausgegangen wird. Die Behinderung der Reform steht in einem unübersehbaren Zusammenhang mit jenem »Grundproblem [...], daß die Bundeswehr mit ehemaligen Soldaten der Wehrmacht [habe] aufgebaut werden« müssen, die »alle durch das im Nationalsozialismus eingerichtete System der Indoktrinierung gegangen [seien], das eine Vielzahl zu Gesinnungs-Soldaten [...] verbogen« habe. So sei die frühe Durchsetzung der Reform an einer schon für die Himmeroder Tagung charakteristischen »Ambivalenz« gescheitert, mit der damals neben das »grundlegend Neue< der Reform« auch das »Wehrmacht-/Reichswehr-Muster« gestellt und »damit unverhohlen die Restauration als Morgengabe der Bundeswehr« präsentiert worden sei. Wenngleich nicht stets mit solcher Zuspitzung, bildet der mehr oder minder unüberbrückbare Unterschied, den das am Ende gar avant-

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AWS, Bd 1, S. 801, 848, 8 5 9 - 8 6 3 (Beitrag Rautenberg), Zitate S. 801, 860; vgl. auch Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 111, der in Bezug auf das Reformanliegen Indizien für die in ähnliche Richtung weisende Vermutung sieht, »daß Baudissin aus der Armee gern mittels der Inneren Führung einen Motor des sozialen Wandels gemacht hätte«. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 9 0 - 9 2 , 95, 9 7 - 1 0 4 , 1 0 9 - 1 1 1 , 156 f., 3 2 5 f.; Zitate S. 95, 101, 156. Den tieferen Grund für die Fehlentwicklungen liefert die zumindest durch »Indizien u n t e r m a u e r t e ] These v o m Avantgardecharakter der Inneren Führung«, nach der »die Baudissinsche Version der Inneren Führung [...] nicht einmal [...] eine signifikante Nähe zu umfassenden Teilbereichen« der westdeutschen Gesellschaft aufgewiesen, »vielmehr die Überzeugungen oder Wertbindungen einer liberalen Avantgarde oder Elite [zum Ausdruck gebracht habe], deren quantitativer Anteil an der Gesamtbevölkerung kleiner als 10 % [gewesen] sein dürfte«. Das Scheitern des der bundesrepublikanischen Wirklichkeit weit vorauseilenden liberalen Reformkonzeptes habe - so eine bemerkenswerte weitere Folgerung - allerdings zur Integration der Streitkräfte in die konservativere Gesellschaft beigetragen. Zitate ebd., S. 110, 3 2 5 - Hervorhebung im Original. Z u m innermilitärischen Widerstand gegen die Konzeption vgl. die Ausdifferenzierung von Abwehrhaltungen bei Bredow, Staatsbürger in Uniform, S. 323. Z u m Avantgarde-Charakter der Konzeption Baudissins vgl. auch Schlaffer, Die Innere Führung, S. 140.

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gardistische Modell gegenüber traditionalistischen Mustern aufgewiesen hat, den in der Sache liegenden Hintergrund für den bestenfalls nur begrenzten Erfolg des ersten Anlaufs65. Im Zusammenhang mit dieser Differenz erweckt der Literaturbefund bisweilen allerdings den Eindruck, dass der erste Einführungsversuch des Staatsbürgers in Uniform nur in einem Fehlschlag enden konnte. Denn das Reformvorhaben musste sich einer doppelten Vermittlungsaufgabe stellen: Es musste die Anforderungen, die sich aus dem freien Menschen, guten Staatsbürger und vollwertigen Soldaten ergaben, in dem Typ des modernen Soldaten weitestgehend aufeinander abstimmen, und es musste dabei auch den Menschen gerecht werden, die bei der Aufstellung für die Bundeswehr zur Verfügung standen. Die vorwiegend zur Kennzeichnung des Vorhabens gebrauchte Bezeichnung »Reform« trägt diesem Sachverhalt auch Rechnung, denn sie mutet (anders als die indessen ebenfalls geläufige Rede vom Neuanfang) dem Wortsinn nach nicht den radikalen Neubeginn zu, sondern legt stattdessen die Vermutung einer die Substanz wahrenden Modernisierung nahe66. Hält man sich nun zum Beispiel Rückblenden vor Augen, die aus vierzig- bis fünfzigjährigem Abstand erstellt worden sind, fällt es jedoch schwer, sich vorzustellen, wie die Innere Führung diese Aufgabe hätte bewältigen können. Hierbei ist es entscheidend, welche Züge des Reformmodells beleuchtet werden. Das wiederum erweist sich als maßgeblich für das Urteil über deren erstes Steckenbleiben. So hat Bald mit bilanzierendem Blick die Konzeption als den der Bundeswehr eigenen »Ausdruck für das Prinzip der demokratisch-pluralistischen Verfasstheit von Staat und Gesellschaft« vorgestellt67. Dabei findet sie ihren Niederschlag nach drei einander ergänzenden Seiten hin68. Zunächst in der »Demokratietauglichkeit des Militärs«: Ebenso wie die bewaffnete Macht in das politisch-rechtliche Gefüge der Republik unter demokratischem Vorzeichen eingeordnet wurde, sollte auch die Binnenstruktur des Militärs den grundsätzlich verpflichtenden liberalen Normen Rechnung tragen69. Sodann ging es darum, »das Militär bürgertauglich zu machen«: Nicht nur sollten die grundlegenden Freiheitsrechte dem Soldaten belassen, sondern dessen Karrierechancen in einer an Leistungs- und Bildungsprinzipien orientierten Ausgestaltung von Ausbildung und Auswahl auf eine für alle gleichermaßen gegebene und überprüfbare Basis gestellt und damit auch dem Wandel zur Industriegesellschaft entsprochen werden; gleichzeitig mit der deutlichen Abgrenzung gegen Letzt65

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Bald, Graf Baudissin, S. 34 (dort im Blick auf die Personalpolitik formuliert); Genschel, W e h r r e f o r m u n d Reaktion, S. 230; Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 4; Kutz, Militär und Gesellschaft, S. 2 8 1 - 2 8 4 , 290; Bredow, Staatsbürger in Uniform, S. 322 f. Vgl. Duden. Das große W ö r t e r b u c h der deutschen Sprache. Hrsg. v o m Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, Bd 7, 3. Aufl., Mannheim 1999, S. 3136. Dort heißt es z u m Eintrag »Reform«: »planmäßige N e u o r d n u n g , Umgestaltung, Verbesserung des Bestehenden«, wobei in einer erläuternden K l a m m e r hinzugesetzt ist: »ohne Bruch mit den wesentlichen geistigen und kulturellen Grundlagen«. Bald, Militär und Gesellschaft, S. 5 3 - 8 8 , Zitat S. 53; Bald, Die Bundeswehr, S. 13, 32 f. Bald, Graf Baudissin, S. 2 5 - 4 3 . Ebd., S. 2 8 - 3 1 , Z i t a t s . 30.

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bezüge von »nationalistisch-faschistischen Ideologien [...] wie Volk, Vaterland, Rasse oder Staat« sollten »Aufklärung, Information und rationale Elemente eines freiheitlichen und liberalen Verfassungspatriotismus [...] die Ausbildung bestimmen«70. Schließlich kam es nach diesem Verständnis dem Baudissins Handschrift tragenden Entwurf auf die »Friedenstauglichkeit des Militärs« an: Mit der Lösung von »den hergebrachten Kategorien der Sinnstiftung des Militärs« hat die Innere Führung das Militär als Instrument der Friedenswahrung gekennzeichnet, das - unter anderem durch den bewussten Verzicht auf ein »Feindbild« - so beschaffen sein sollte, dass selbst noch im Kriege der Weg zurück in den Frieden würde gegangen werden können. Das Kriegsbild war zwar nach Bald konstitutiv für das Konzept der Inneren Führung gewesen, das aber nur mit der Konsequenz, das Militär gänzlich in seiner Abschreckungsrolle aufgehen zu lassen71. Ein ähnliches Bild hat Kutz skizziert, als er - aus Anlass einer rückblickenden Würdigung sich auf Wesentliches beschränkend - durchaus auch im Hinblick auf den von Baudissin gewählten Ausgangspunkt des Kriegsbildes mit dessen Namen zuerst »die Demokratieverträglichkeit der Bundeswehr« verband und dem dann noch »die Vorstellung vom Soldaten für den Erhalt des Friedens« folgen ließ72. Demokratie-, Bürger- und Friedenstauglichkeit des Soldaten: In solcher Perspektive erscheint diese Innere Führung als etwas so grundlegend Neues, dass bei Bald stellenweise - und hier auch ganz konsequent - von »einefr] geistige[n] Revolutionierung des Militärs« die Rede ist73. Für Verbindungslinien zur Wehrmacht ist hier kein Platz, und wenn sie in der Betrachtung der wirklichen Bundeswehr erscheinen, stehen sie - wie oben bereits angedeutet - eben für die Dementierung und Pervertierung der Inneren Führung. So findet Bald hinsichtlich der ausgehenden 60er-Jahre eine Praxis der Inneren Führung vor, die bestenfalls »sozialtechnologisch im Sinne eines [doch immer schon geübten] kameradschaftlichen Umgehens in der Truppe aufgefaßt«74, zudem indes in Anlehnung an das Wehrmachtdenken verkehrt worden sei zur Förderung des »Kämpfertyp[s] mit der Betonung taktischer Kenntnisse« und zur Pflege eines den Gegensatz von >Abendland< und >Bolschewismus< hervorhebenden »Feindbildes«75. Nicht anders bilden für Kutz die in der tatsächlichen Bundeswehr der Aufbaujahre wirksamen Rückbezüge zur Wehrmacht die der Inneren Führung entgegengesetzte Seite der westdeutschen Streitkräfte: Der die Bundeswehr bis in deren Konsolidierungsphase hinein kennzeichnende Kompromisscharakter schlägt sich in seiner Sicht nieder in der Abgrenzung von Einflussbereichen, die entweder von den »Reformkräften« oder von den »überwiegend traditionalistischen Militärs« bestimmt wurden. Neben anderen Kompromissen erscheint 70 71 72

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Ebd., S. 31-38, Zitate S. 31 f., 33, 37. Ebd., S. 38-43, Zitate S. 40-42; Bald, Militär und Gesellschaft, S. 57. Kutz, Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken, S. 9; vgl. auch Kutz, Reform als Weg aus der Katastrophe, S. 76 f. Bald, Graf Baudissin, S. 41. Ebd., S. 44. Bald, Militär und Gesellschaft, S. 74.

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als Ausgleich für den von Baudissin im Verein mit der Rechtsabteilung und dem Verteidigungsausschuss erzielten Erfolg in der Wehrgesetzgebung sowie als Gegenleistung für »die prinzipielle und formelle Akzeptanz der Inneren Führung« die Interessenwahrung der »Traditionalisten« im Binnenbereich der Streitkräfte, wo sie »überlieferte Strukturen, Wehrmachtpersonal, Traditionalismen im Alltagsbetrieb und ihre moralische Lebenslüge von der Ehrenhaftigkeit [...] der Wehrmacht im Krieg [hätten] aufrecht erhalten« können76. Bis in die Krise der späten 60er-Jahre hatte demnach Baudissins »Konzept der Inneren Führung« gegen ein in der preußisch-deutschen Militärgeschichte gewachsenes Berufs- und Selbstverständnis »innermilitärisch keine Chance«. Seine Funktion bestand vielmehr in der Hauptsache darin, der bundeswehrkritisch gestimmten Öffentlichkeit gegenüber »die Armee als ganzes [zu] legitimieren«77. Allerdings fällt an der bisher referierten Deutung der Inneren Führung auf, dass sie das Konzept in der Integration der Bundeswehr in die freiheitliche Ordnung des bundesrepublikanischen Rechtsstaates mit dessen prinzipieller Friedensorientierung und in dessen pluralistische, am bürgerlichen Leistungsprinzip ausgerichtete Gesellschaft aufgehen lässt. Wenn dabei der Bezug zum Krieg aufgegriffen wird, geschieht dies im Hinblick auf die Aufgabe des Militärs, zu dessen Verhinderung beizutragen. Dies hat ohne Frage seine Berechtigung, handelte es sich bei den Angehörigen der westdeutschen Streitkräfte nicht nur ausweislich eines Sammelbandes mit Schriften aus berufener Feder um Soldaten für den Frieden78. Die Leistungen der Inneren Führung in einem Krieg treten in dieser Perspektive jedoch kaum in Erscheinung oder werden an das Ziel des Friedens zurückgebunden79. Was die Innere Führung zum militärischen Erfolg, zum Gelingen des Kampfes beitragen könnte, findet in der Regel wenig Beachtung, kommt eben nur an zweiter Stelle oder wird gar als etwas ihr Fremdes, mit ihr Konkurrierendes angesehen80. Diese Sicht zieht sich auch durch jüngere, breiter angelegte militärgeschichtliche Veröffentlichungen. So hat Ute Frevert das sich gründlich von Früherem unterscheidende Konzept der Inneren Führung unter dem Aspekt seiner Friedens- und »Demokratiefähigkeit« vorgestellt und dabei in vielleicht bezeichnender Weise von dem »Spagat« geschrieben, den die Innere Führung zur Besänftigung der um die »Schlagkraft« Besorgten zum einen und zum anderen der an der Demokratieverträglichkeit Zweifelnden habe vollführen müssen81. Darin mag sich noch ein Verständnis der Inneren Führung spiegeln, in dem das Konzept auf der einen 76 77 78 79

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Kutz, Militär und Gesellschaft, S. 282 - 284, Zitate S. 282 f. Ebd., S. 290. Baudissin, Soldat für den Frieden. In diesem Zusammenhang mag es bezeichnend sein, dass bei Kutz, Militär und Gesellschaft, S. 283 f., in der Gegenüberstellung der Reform- und der traditionalistischen Anteile am Gründungskompromiss der Bundeswehr die im engeren Sinne militärischen Handlungsfelder der Truppenführung unter dem Gegensatz »Abschreckungsstrategie« gegen »Kriegführungsstrategie« der traditionalistischen Seite zugeordnet werden. Dies gilt jedoch nicht durchweg für die Beiträge von Martin Kutz; vgl. Kutz, Historische Wurzeln. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 333 - 335, Zitate S. 335.

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Seite zwar nicht als Gegensatz zur Forderung nach militärischer Effektivität erscheint, in welchem diese Effektivität auf der anderen Seite aber auch nicht als ein dem Konzept aufgegebenes Problem auftritt. Dabei hatte der oben bereits zitierte Gründungserlass genau diese Aufgabe dem Sachgebiet Innere Führung gestellt: Es sollte den freien Menschen und guten Staatsbürger und eben auch den vollwertigen Soldaten zum Typ des modernen Soldaten vermitteln. Hätte sie dabei die dritte Seite des gewollten Soldaten vernachlässigt - ein Eindruck, den die bislang hier vorgestellte Akzentsetzung in der Literatur hervorrufen kann - , dann wäre ihr Bruch mit der Wehrmacht so eindeutig wie ihr von Teilen der Forschung bemerktes vorläufiges Scheitern in Anbetracht des Aufbaus mit Veteranen der Wehrmacht geradezu unausweichlich gewesen. Denn das Konzept hätte unerachtet seines Anspruches, den westdeutschen Soldaten umfassend abzubilden, mit der Maxime der Schlagkraft gerade jenes Element nicht ausgeprägt, das dem Veteranen der Wehrmacht aus seinem früheren Dienst wohl noch am vertrautesten war und dessen Ausbildung nach wie vor von ihm erwartet wurde. Bei der in der Forschung zwar nicht durchweg, aber eben auch anzutreffenden Vernachlässigung dessen, was die Innere Führung im Kriege zum Bestehen des Kampfes beitragen kann, erscheint das Scheitern in den 60er-Jahren nicht nur als plausibel, sondern es verstünde sich gleichsam von selbst, wobei dies nicht zuletzt einem Defizit des Konzeptes angelastet werden müsste. Aber wird dieses zwangsläufige Scheitern dem Konzept gerecht? Nach Auffassung der von konservativer, wenn nicht gar restaurativer Warte aus vorgetragenen Kritik gewiss: Ob nun in der bellizistischen Färbung der Beiträge von Werner Picht, der die 1954 bereits diskutierte Konzeption der Innere Führung als Dilettantismus abtat, welcher sträflich »den apriorischen Wesensgehalt des soldatischen Kämpfertums« vernachlässige82, oder mit dem militaristischen Tenor eines Hans Georg von Studnitz, der 1967 »die Selbstvergötterung des Bürgers« anklagte, die »zur Degradierung des Soldaten und [zu] einer Wehrgesetzgebung [geführt habe], die bürgerliche Schwächen der Armee injizierte«83, oder ob schließlich in der skeptischen Manier eines Winfried Martini, der 1958 das Widerstandsvermögen freiheitlich-demokratisch verfasster Gesellschaften bezweifelte, damit dem Staatsbürger in Uniform eine mangelnde Kampfmotivation unterstellte und die Bundeswehr auf ein innermilitärisches Motivationsgeflecht nach dem Muster der Fremdenlegion verwies84 - , regelmäßig zielte diese von außen an die Bundeswehr herangetragene Polemik oder auch Kritik auf die mit der Inneren Führung angeblich nur unzureichend ausgebildete

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Picht, Wiederbewaffnung, S. 54; vgl. auch Picht, Staatsbürger in Uniform?, insbesondere S. 5 6 - 6 1 , die Kritik des Staatsbürgers in Uniform, an dessen Stelle ebd., S. 60 f., der auf die zukünftige »Kampfwelt« geformte Soldat proklamiert wird, dem »die Verpflichtung auf das Bestehen einer wahrhaft apokalyptischen Situation, und damit auf die höchste Form sittlicher Freiheit« aufgegeben ist. Studnitz, Rettet die Bundeswehr!, S. 158. Martini, Wehrmotiv - heute.

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Schlagkraft der Truppe85. In der Bundeswehr sollte bereits während der Aufstellungsphase Heinz Karst zu einem der namhaftesten Kritiker der Konzeption Baudissins werden, der dann noch 1987 gegen die »konturlose >Integration der Soldaten in die Gesellschaft«< geschrieben hat, die »vielfach [...] als Annäherung an die zivile Arbeitswelt« begriffen worden sei, »anstatt an die Erfordernisse des Verteidigungsfalles«86. Nun kann sich nach einem Hinweis bei Winfried von Bredow zwar die tendenzielle Ausblendung des im Kriege gelegenen Anwendungsfeldes der Inneren Führung bis in das Amt Blank zurückverfolgen lassen. Dort habe man »ganz künstlich« zwischen äußerer, »mehr auf die Effizienz bezogener]« und innerer Führung getrennt, der die Verbindungen »zur zivilen Gesellschaft und zum politischen System, also die Grundsätze der Menschenführung, Normen für den internen Alltagsbetrieb sowie das Insgesamt der die parlamentarischdemokratische Kontrolle sichernden Gesetze und Regeln« zugewiesen worden seien. Bredows Beiträge selbst wie andere Forschungen zur Inneren Führung haben aber sehr wohl einen positiven Zusammenhang zwischen deren Prinzipien und der Leistung des Soldaten im Kriege betont87. Zudem täte man auch den Veröffentlichungen des hier bereits namentlich genannten Martin Kutz Unrecht mit der Mutmaßung, sie hätten die auf die Schlagkraft zielende Funktion der Inneren Führung übersehen. Schon nach der frühen Analyse von Franz Albrecht Klausenitzer ist es Anliegen der Inneren Führung, im Wege der größtmöglichen »Angleichung militärischer Strukturen an die Umwelt« dem »Soldaten die Identifikation mit der zu schützenden gesellschaftlichen Ordnung zu erleichtern und so seine Verteidigungsbereitschaft zu stärken«88. Und Kutz hat in einer 85

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Vgl. zu den eben genannten Autoren die Übersicht von Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 56-61. Fragen an die Begründer der Inneren Führung, S. 18; vgl. dazu schon Karst, Das Bild des Soldaten, S. 294 f. Bredow, Demokratie und Streitkräfte, S. 112 f.; ebd., S. 114, scheint sich Bredow dieser Unterscheidung anzuschließen, indem er der Inneren Führung folgende Aufgaben gestellt sah: Sie sollte »die Einordnung der Streitkräfte in die zivile Gesellschaft bewirken u n d sichern; innerhalb der Streitkräfte ein vernünftiges >Betriebsklima< schaffen; Signal und Barometer sein, nämlich dafür, daß bzw. wie stark die Demokratie-Kompatibilität der Bundeswehr ausgebildet ist«. Ebd., S. 115, deutet Bredow dann allerdings den Zusammenhang der Inneren Führung mit der »Kampfmotivation« an, der von ihm zehn Jahre zuvor sehr deutlich unterstrichen wurde; vgl. Bredow, Staatsbürger in Uniform, S. 321. Klausenitzer, Die Diskussion u m die Innere Führung, S. 162, siehe auch S. 214. Ähnlich sieht auch Ludwig von Friedeburg das Verhältnis von Schlagkraft und Innerer Führung; vgl. Friedeburg, Z u m Verhältnis von Militär und Gesellschaft, S. 40 f. Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 33-66, hier vor allem S. 35-38, 50, passim, identifiziert gleichfalls bei allem Vorrang des Kriegsverhinderungsbeitrages und bei aller Rückbindung an die demokratisch verfasste Industriegesellschaft in dem Gefecht ein Handlungsfeld der Inneren Führung und in dessen Bestehen eine Seite des Staatsbürgers in Uniform. Simon attestiert Baudissins »Konzeption der Inneren Führung«, sie habe die Forderung an die Bundeswehr, »sowohl effizient als auch demokratisch [zu] sein [,] auf einen gemeinsamen Nenner gebracht«, wobei er unter Effizienz - unbeschadet wiederum des übergreifenden Zusammenhanges des Beitrages z u m Friedenserhalt - gerade auch das militärische Wirken auf dem Gefechtsfeld begreift; vgl. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 32-41, Zitat S. 32; sodann auch AWS, Bd 1, S. 860 (Beitrag Rautenberg).

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anderen Veröffentlichung 1989 die schlechthin »konstitutive« Rolle des Kriegsbildes für die mit Baudissin identifizierte Reformkonzeption hervorgehoben und dabei durchaus die Leistung der Inneren Führung für die Schlagkraft, die indes immer noch aufgehoben erscheint in einer bis in den Krieg hinein sich erstreckenden Abschreckungskonzeption, vor Augen gehabt: Es war das von den gleichrangig dominierenden Einflussgrößen der militärisch nutzbaren modernen Technik (einschließlich, aber nicht allein der Kernwaffen) und der ideologischen Systemkonfrontation des Ost-West-Konfliktes geprägte Kriegsbild, was nach Kutz dem Staatsbürger in Uniform sein eigenes, in der politischen wie militärisch-fachlichen Qualität gelegenes Profil verliehen hat89. De Maiziere hat in späteren Jahren als Zeitzeuge auf einem Forum zur Weiterentwicklung der Inneren Führung an den Zusammenhang zwischen demokratischer Orientierung und Schlagkraft der Armee erinnert90, und jüngst erst hat Claus Freiherr von Rosen unter organisationswissenschaftlichem Blickwinkel über die Innere Führung Baudissins gehandelt und dabei wiederholt die charakteristischen Merkmale des Staatsbürgers in Uniform im Rahmen von dessen Einsatz im Kriege (nicht nur im Hinblick auf dessen Friedensfähigkeit) herausgearbeitet91. Wenn die Innere Führung demnach durchaus der Forderung nach militärischer Effektivität dienstbar gewesen ist, sagt dies hier allerdings noch nichts zu möglichen Verbindungslinien zur Wehrmacht. Nach wie vor können Balds Ergebnisse ganz zu Recht bestehen. Indessen muss das Aufwerfen einer auf solche Verbindungslinien zielenden Frage nicht mehr dermaßen abwegig erscheinen wie im Falle einer Inneren Führung, deren Maximen sich in der Bürger-, Demokratie- und Friedenstauglichkeit des Militärs erschöpfen. (Wenn man so will, schwindet das Selbstverständliche des Scheiterns.) Sollten sich bei einer Betrachtung des Reformmodells, die auch dessen Beitrag für das Bestehen im Kriege einbezieht, substanzielle Kontinuitätslinien zur Wehrmacht zeigen, ließe sich dann aber auch fragen, inwieweit mit dem Gegensatz von Traditionalismus und Reform das Steckenbleiben in den 60er-Jahren angemessen beschrieben ist, was schließlich dazu Veranlassung geben kann, den Charakter des Scheiterns noch einmal zu überdenken. Bei Kutz allerdings bleibt die Leistung der Inneren Führung für die Schlagkraft sowohl hinsichtlich der politischen als auch hinsichtlich der fachlichen Komponente des gewollten Soldaten das Gegenmodell zum traditionalistischen Soldaten der Wehrmacht92. Demgegenüber legen jedoch Erkenntnisse wie etwa die Uwe Hartmanns zu der späteren Wirkungsgeschichte der bereits in der Friedenswehrmacht entwickelten Militärpädagogik 89 90

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Kutz, Historische Wurzeln, S. 11,15-24, Zitat S. 17. Maiziere, Entstehung und Grundgedanken, S. 28 f.: »Wir glaubten aber auch, daß die Soldaten die Schwierigkeiten eines Gefechtes umso besser bestehen würden, je überzeugter sie davon waren, daß es eine erlebte freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung verdiene, sie auch unter Einsatz des Lebens zu verteidigen.« Rosen, Organisatorische Grundlagen der Inneren Führung, S. 41, 43 f., 46-49, passim.; vgl. auch Hartmann/Richter/Rosen, Wolf von Baudissin, S. 217. Kutz, Historische Wurzeln, S. 12 f., 30 f.

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Erich Wenigere trotz der bis 1945 zu beobachtenden Überlagerung durch die nationalsozialistische Indoktrination eine Abschwächung solcher Annahme konzeptioneller Diskontinuität nahe93. In die gleiche Richtung deuten schon frühere Beobachtungen von Rautenberg, der in dem Reformprogramm der Anfangsjahre neben Spuren eines »traditionellen Autonomiestrebens« sowohl hinsichtlich des militärischen Erziehungsanspruchs »eine nicht zu übersehende Kontinuitätslinie von der Wehrmacht zu den künftigen Streitkräften« als auch in der mit der Inneren Führung verbundenen Ideologie der >Freiheit< die Brücke zur Wehrmacht im Geiste des Antikommunismus geschlagen sah94. So wird es in der Folge zunächst darum gehen, sich der Konturen des gewünschten Soldaten zu versichern. Dabei erscheint es angebracht, nicht von vornherein nur von einem Reformkonzept auszugehen. Gewiss ist die Innere Führung mit keinem Namen so eng verbunden wie mit dem des Grafen Baudissin. Er gilt nach einem von der Literatur übernommenen Wort General Adolf Heusingers als deren »Vater«95. Desungeachtet hat de Maiziere in einer späten Rückblende zu verstehen gegeben, dass die Innere Führung nicht nur die Handschrift Baudissins trägt96. Und es ist bemerkenswert, dass mit Heinz Karst einer seiner frühesten Mitarbeiter sich zu einem seiner profiliertesten Kritiker entwickeln konnte97. Vorderhand könnte sich demnach die (allerdings noch genauer zu betrachtende) Schwierigkeit, den Staatsbürger in Uniform in die Bundeswehr einzuführen, auch verstehen lassen als ein Richtungsstreit innerhalb eines zumindest bei Aufstellungsbeginn noch nicht eindeutigen Reformprogramms. In der Literatur findet sich neben dem Ausgehen von nur einem Reformprojekt98 die Beschreibung wenigstens zweier Richtungen, deren »Unterschiede« anfänglich »bis zur Unkenntlichkeit« verschwimmen konnten99. Auch bestärkt die Beobachtung, dass von der Forschung der Kreis der Reformer recht unterschiedlich gezogen wird, die Vermutung eben nicht nur eines Reformprogramms: Unter den Verteidigungsministern wird Blank zum einen als engagierter Reformer vorgestellt100, zum anderen als derjenige, der sie wohl 93

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Hartmann, Erich Weniger, dort S. 202 und 206 der Hinweis auf die nur begrenzte Wirkung in der Wehrmacht. Α WS, Bd 1, S. 815 f., 836-839, 848 f. (Beitrag Rautenberg), Zitate S. 816, 837. Vgl. hier nur Bald, Graf Baudissin, S. 23, und Kutz, Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken, S. 9; auch jüngst Schlaffer/Schmidt, Einführung, S. 3. Maiziere, Entstehung und Grundgedanken, S. 22; gegenteilige Auffassung trotz aller Vorbehalte zumindest für die Planungsphase bei Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 34. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 41 f.; vgl. auch Kutz, Historische Wurzeln, S. 11, der die Identifikation des Konzeptes mit Baudissin unterstreicht, obschon Baudissins »späterer Kontrahent General Karst« zu dessen Mitarbeitern zählte. Bredow, Staatsbürger in Uniform, S. 319-323; Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 235, wo zu der »Innere[n] Führung [...] in der Planungszeit« ausgeführt wird, weder eine »Verschwörung« noch »offene Gegnerschaft«, »nicht permanente Ablehnung« und ebenso wenig »die Existenz eines Alternativkonzeptes« habe ihr Scheitern herbeigeführt, sondern fehlendes Interesse, andere Prioritäten und schließlich die Erwartung, dass die innere Ordnung der westdeutschen Streitkräfte sich mit deren Aufbau entwickeln werde. Α WS, Bd 1, S. 859 - 863 (Beitrag Rautenberg), Zitat S. 861. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 91, 97; Bald, Militär und Gesellschaft, S. 33.

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öffentlichkeitswirksam zu nutzen verstand, ihr gleichzeitig aber die notwendige Unterstützung versagte101. Franz Josef Strauß erscheint dem Reformkonzept gegenüber einmal als indifferent102, ein anderes Mal als feindlich eingestellt103. Das Urteil über Kai-Uwe von Hassel ordnet diesen als - wiewohl maßvollen Förderer104 oder als strikten Gegner der Reform ein105. Hinsichtlich der führenden Offiziere gilt Heusinger wiederum dem einen als zum Kreis um Baudissin gehörend, dem anderen hingegen als zu dessen Widersachern zählend. Als ähnlich umstritten erweist sich die Einordnung etwa von de Maiziere oder auch von Speidel106. Zusammen mit der noch im vierten Jahrzehnt der Bundeswehr getroffenen Feststellung, das »Reformkonzept Innere Führung [sei] seit seiner Entwicklung in den 50er-Jahren immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen und Kontroversen« gewesen107, beziehungsweise mit der bis heute anhaltenden Mehrdeutigkeit der Inneren Führung108 legen es alle diese Beobachtungen nahe, nach der Eindeutigkeit des bei Aufstellungsbeginn vorliegenden Musters des westdeutschen Soldaten zu fragen. Gleichzeitig bietet es sich unter dem Gesichtspunkt der der Inneren Führung gestellten Vermittlungsaufgabe an dieser Stelle an, den Überschneidungen des Musters mit dem vorangegangen Soldaten der Wehrmacht nachzugehen. So abseitig dieser Aspekt auch erscheinen mag, gewinnt er doch in dem Maße an Plausibilität, in dem die Wehrmacht als modern vorgestellt werden kann. Immerhin: Soweit die Einführung eines Leistungsprinzips, das Modell des politischen, in Gesellschaft und Staat integrierten Soldaten und die soziale Öffnung der Rekrutierungsbasis der Funktionselite zugunsten aller Schichten109 als sachgemäße Antworten auf die Erfordernisse eines industrialisierten Volkskrieges betrachtet werden können und Modernität in einem lediglich technischen Verständnis auf die möglichst verzugsarme Anpassung an die Forderungen der Gegenwart zurückgenommen wird, lässt sich der Wehrmacht dieses Attribut für die genannten Bereiche wohl nicht bestreiten. Nun fanden Planung und zu einem guten Teil auch Aufbau der Bundeswehr in einem Abschnitt der westGenschel, Wehrreform und Reaktion, S. 229 f. Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 102 f. 103 Bald, Militär und Gesellschaft, S. 34 f., 37; Bald, Graf Baudissin, S. 48. 104 Bald, Militär und Gesellschaft, S. 37 f. 105 Simon, Die Integration der Bundeswehr, S. 103. 106 So identifiziert Bald, Militär und Gesellschaft, S. 74, eine Gruppe prominenter Reformer: Neben dem »Spiritus rector [...] Graf Baudissin [...] die Generale Speidel, Heusinger, Graf Kielmansegg und de Maiziere«. Heusingers Rolle präzisierend, sieht Bald, Graf Baudissin, S. 23 f., 43, 4 6 - 4 8 , 50, diesen zwar in der Planungsphase noch eher verhalten das Reformvorhaben begleiten, dann aber ab 1959 insonderheit in Bezug auf Erziehungs- und Bildungsangelegenheiten überaus engagiert für die Reform wirken; vgl. dazu auch Bald, Die Bundeswehr, S. 49, 62 f. Dagegen Kutz, Militär und Gesellschaft, S. 283, der »die für das Verständnis der Traditionalisten Unzuverlässigen, allen voran Graf Baudissin, Graf Kielmansegg und Speidel«, abgrenzt gegen die in diesem Sinne »Zuverlässigen«: gegen »Heusinger, de Maiziere, Schnez, Grashey, Röttiger«. 107 Kolb, Konzeptionelle Probleme der Inneren Führung, S. 56. los Wiesendahl, Die Innere Führung auf dem Prüfstand, S. 2 0 - 2 3 . ίο? vgl. zu den genannten Feldern hier noch Förster, Die Wehrmacht im NS-Staat, S. 9 3 - 1 2 7 . 101

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deutschen Geschichte statt, für den die Forschung die Kennzeichnung »Modernisierung im Wiederaufbau« gefunden hat - ein Prozess, der in wesentlichen Teilen als »konservative Modernisierung« bezeichnet worden ist110. Könnte dementsprechend nicht auch das im Rahmen des Wiederaufbaus einer deutschen bewaffneten Macht von der Inneren Führung geschaffene westdeutsche Soldatenmodell als bloße Modernisierung des Vorgängermodells der Wehrmacht begriffen werden? Wenn es also zunächst um die Klärung der Eindeutigkeit dessen geht, was die Vorstellungen zum künftigen westdeutschen Soldaten vom Veteranen wie vom Ungedienten verlangten und was sie ihnen boten, ist gleichzeitig von Belang, bis zu welchem Grade sich dies als Modernisierung eines erprobten Musters verstehen ließ (Kapitel II). Allerdings waren die Arbeiten zu dem künftigen Staatsbürger in Uniform 1955 zwar auf programmatischer Ebene schon zu einem gewissen Abschluss gelangt, dessen grundlegende rechtliche Fixierung sollte aber noch die Zeit bis 1957/58 in Anspruch nehmen. Diese Zeitspanne fällt in etwa auch zusammen mit dem Wirken Baudissins im Verteidigungsministerium. Da dem für die Innere Führung zuständigen Unterabteilungsleiter eine bestimmte Konzeption der Inneren Führung zugeschrieben wird, erhebt sich die Frage, in welchem Umfang diese sich für die weitere Ausgestaltung des Modells des westdeutschen Soldaten als maßgeblich erwiesen hat. Angesichts der für die Zeit vor Aufstellungsbeginn in der Literatur anzutreffenden Diagnose mangelnder institutioneller Unterstützung wird hier zuerst die Position seiner Unterabteilung im Ministerium zu betrachten sein, dann deren Wirkung hinsichtlich der Ausformung des Staatsbürgers in Uniform. An dieser Stelle treten zwei Ebenen in das Blickfeld, auf denen die Verwirklichung des Modells in Angriff genommen wurde: die Beiträge der Unterabteilung zur Binnenverfassung der Streitkräfte und deren an die Truppe gerichtete publizistische Arbeit. Während für beide Bereiche die Frage der Konsequenz aufgeworfen ist, mit der eine bestimmte Vorstellung vom Soldaten oder auch alternative Muster umgesetzt wurden, bietet die Betrachtung der Arbeit an deren rechtlicher Fixierung Gelegenheit, in Zusammenhang mit dem der Konzeption Baudissins attestierten vorauseilenden Charakter deren Verankerung im parlamentarischen Raum nachzugehen, dem doch - tendenziell im Widerspruch zu dem festgestellten avantgardistischen Zug - gerade die nachhaltige Unterstützung der Konzeption bescheinigt wird. Der Aspekt der Vorauseile gerät dann noch einmal in den Blick, wenn es abschließend das Gewicht der aufwachsenden Truppe zu betrachten gilt, die sich aus gedienten Veteranen der Wehrmacht und Ungedienten zusammensetzte und die nicht selten als Ort des Widerstandes gegen die Innere Führung erscheint (Kapitel III). 110

Modernisierung im Wiederaufbau. Siehe dort vor allem den einführenden Beitrag von Sywottek, Wege in die 50er Jahre, ebd., S. 13-39, besonders S. 19, 33 f. Vgl. dazu auch den Uberblick bei Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß, S. 8 f., 12; danach bildet die »Modernisierung« zusammen mit dem noch stärker spezifizierenden Begriff »Liberalisierung« den Kernbegriff für jene außerordentlich verdichteten »Wandlungsprozesse«, die das erste knappe Vierteljahrhundert der Bundesrepublik kennzeichnen.

28

I. Einleitung

Der weitere Aufbau der Streitkräfte ging mit dem Wechsel der Ministerverantwortung von Franz Josef Strauß zu Kai-Uwe von Hassel über in die Konsolidierungsphase. Mitte der 60er-Jahre konnte nach etwa zehnjährigem Aufbau ein erstes Mal Bilanz gezogen werden. Was hatte von den ursprünglichen Vorstellungen sich verwirklichen lassen und auch Eingang in die Truppe gefunden? Und inwieweit hatte im Gegenzug der Truppenaufbau die Vorgaben des Anfangs verändert? Zu den bereits im vorangegangenen Kapitel ins Auge gefassten Feldern kommt hier noch am Beispiel der Wehrakademie die Frage der institutionellen Absicherung der Bildung des Staatsbürgers in Uniform hinzu (Kapitel IV). Der knappe Schluss (Kapitel V) wendet sich mit dem Aufgreifen der Modernisierungsfrage dem historischen Ort der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform zu. Neben einer Zusammenfassung deutet er Verschiebungen in dieser Konzeption an, die sich mit ihrer Entfernung von ihrem Entstehungszusammenhang eingestellt haben. Der Versuch, die Entwicklung des für den Soldaten vorgesehenen Profils im Zusammenhang mit der tatsächlich erfolgenden Rekrutierung nachzuzeichnen, kann auf ein umfangreiches gedrucktes Material von Gesetzen, Dienstvorschriften und ministeriellen Handreichungen zurückgreifen. Was deren Entstehungsgang anlangt, so steht hier neben den Protokollen des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages das bei der 1955 geschaffenen Abteilung IV (Streitkräfte) und bei dem ihr 1957 nachfolgenden Führungsstab der Bundeswehr (Fü B) angefallene Material im Mittelpunkt. Schließlich geht es um die von den Streitkräften betriebene personelle Rüstung. Innerhalb der Abteilung IV kommt der für die Innere Führung zuständigen Unterabteilung IV Β (UAbt. IV B) und der aus ihr hervorgegangen Unterabteilung Fü Β I eine besondere Bedeutung zu. Im Hinblick auf die Personalbedarfsdeckung sind darüber hinaus vor allem die Akten der 1955 eingerichteten Abteilung III (Personal) - ab 1959 dann Abteilung IV (Personal) - von Belang. Unter dem genannten Material stehen als eine schmale, aber immerhin - von wenigen Unterbrechungen abgesehen - über den gesamten Zeitraum reichende Basis die von der Abteilung IV (Streitkräfte), dann vom Fü Β zusammengestellten Zustandsmeldungen und -berichte zur Verfügung. Der Leiter der Abteilung IV (dann der Generalinspekteur) sammelte die Zustandsmeldungen und Beiträge der Teilstreitkräfte wie auch verschiedener nachgeordneter Bereiche, ergänzte sie ab Mitte 1958 mit einer gesonderten, mehr und mehr zusammenfassenden Stellungnahme111 und legte sie - nachdem sie anfänglich als Beitrag zum Halbmonatsbericht für das Bundeskanzleramt der Abteilung I zugegangen waren112 - ab Mitte 1956 über den Staatssekretär dem Minister vor113.

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112

113

BA-MA, BW 2/20036, fol. 1 f., Zustandsbericht Nr. 5/58, 11.9.1958, dort die noch knappe Stellungnahme. Die Zustandsberichte werden in der Folge mit der Abkürzung ZstBer. unter Weglassung des Kürzels Nr. zitiert. Vgl. BA-MA, BW 2/2008, fol. 2, 9, 17, Beiträge vom 11.4., 25.4. und 9.5.1956, dort die Anschreiben. BA-MA, BW 2/2008, fol. 34, 88, 133: ZstBer. 6/56 vom 14.6.1956 und ZstBer. 7/56 vom 12.7.1956 gingen unmittelbar an den Minister, ab ZstBer. 8/56 vom 13.8.1956 wurden die Berichte über den Staatssekretär vorgelegt.

I. Einleitung

29

Noch 1956 wurde die monatliche Berichterstattung eingeführt, die bereits 1958 einem zweimonatigen Intervall wich. 1959 wurden die Berichte nur noch vierteljährlich, 1960 dann im Abstand von jeweils vier Monaten, zwischen 1961 und 1963 halbjährlich und ab 1964 jährlich erstellt. Sie sollten, wie im Zustandsbericht der Bundeswehr Nr. 1/63 von Generalleutnant Friedrich Foertsch, dem Generalinspekteur, mahnend in Erinnerung gerufen wurde, »die Bundeswehrführung über Stand und Einsatzwert der Verbände informieren und als >Sprachrohr der Truppe< akute Nöte und Mängel darlegen«114. Unterschrieben von den Inspekteuren wie dann auch vom Generalinspekteur, bilden sie Einschätzung und Begehren der militärischen Führung ab. Bis 1958 kann darüber hinaus auf das Tagebuch der Abteilung II/IV (Streitkräfte) sowie auf die Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen zurückgegriffen werden. Besonders aussagekräftig für diesen Zeitraum ist sodann das von Graf Baudissin geführte, sehr detailreiche Tagebuch. Für die Zeit danach ist die Quellenlage nicht mehr so günstig. Ab 1959/60 können allerdings die Jahresberichte des Wehrbeauftragten herangezogen werden. Darüber hinaus liegen periodische Berichte und vor allem drei umfangreiche Studien der Personalabteilung des Verteidigungsministeriums zur Offizier- und Unteroffizierlage vor, die den Zeitraum bis zur Mitte der 60er-Jahre vollständig abdecken. Weiteres konnte einer Fülle von Einzelakten entnommen werden, die vor allem im BundesarchivMilitärarchiv, aber auch am Zentrum für Innere Führung verwahrt werden.

1,4

BA-MA, BW 2/2461, fol. 1, ZstBer. 1/63 vom 3.7.1963.

II.

»Staatsbürger in Uniform« die vor Rekrutierungsbeginn entwickelten Wunschbilder

Die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte mag viele Anfänge gehabt haben. Von dichtestem programmatischen Charakter bei zugleich weitester öffentlicher Verbreitung dürfte dabei zweifellos die im Juni 1955 vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung mit dem Rang einer »offiziösen Schrift«1 annoncierte Broschüre »Vom künftigen deutschen Soldaten« gewesen sein. Das Bild des geplanten westdeutschen Militärs gewann damit gleichsam die kurz vor Rekrutierungsbeginn gültigen amtlichen Züge 2 . Allerdings stellte sie nicht die einzige offizielle Auskunft zum künftigen Soldaten der Bundesrepublik dar. Von Gewicht waren daneben die Verlautbarungen und Schriften von Wolf Graf von Baudissin. Der 1907 geborene Major a.D. war 1951 zur Dienststelle Blank gestoßen und dort der für das Sachgebiet Innere Führung zuständige Referent geworden. Namentlich ihm war es zugefallen, vor der Öffentlichkeit, insonderheit aber im parlamentarischen Raum, vor dem Sicherheitsausschuss des Deutschen Bundestages3, die Überlegungen der Dienststelle Blank zum »Typ des modernen Soldaten« vorzustellen, »der freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich« sein sollte4. Und schließlich ließ sich auch den Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 115 vom 25.6.1955, S. 9 5 4 - 9 5 6 , ZitatS. 954. Vom künftigen deutschen Soldaten; zum politischen Zusammenhang der Veröffentlichung vgl. Α WS, Bd 3, S. 4 4 1 - 4 5 0 (Beitrag Ehlert). Ausschuss für Fragen der europäischen Sicherheit; Vorgänger: Ausschuss zur Mitberatung des EVG-Vertrages; Nachfolger: Ausschuss für Verteidigung. Wolf Graf von Baudissin (8.5.1907-5.6.1993), 1925/26 Studium der Rechts- und der Geschichtswissenschaften sowie der Nationalökonomie in Berlin; 1926 Eintritt in die Reichswehr, 1927-1930 landwirtschaftliche Lehre mit Abschluss und Aufnahme eines landwirtschaftlichen Studiums in München; 1930 Wiedereintritt in die Reichswehr; 1.4.1933 zum Leutnant befördert, Verwendung im Infanterieregiment 9, nach Generalstabslehrgang u.a. Verwendung im Truppengeneralstab einer Division und im Truppengeneralstab des II. Armeekorps, schließlich im Generalstab des Deutschen Afrikakorps; dort 1941 als Hauptmann in britische Kriegsgefangenschaft geraten; 1.4.1942 zum Major i.G. befördert; 1947 Entlassung aus der überwiegend in Australien verbrachten Kriegsgefangenschaft. Anschließend als Töpfer und ehrenamtlicher Mitarbeiter an Evangelischen Akademien tätig. 1951-1955 Angestellter in der Dienststelle Blank bzw. im Bundesministerium für Verteidigung; 1.11.1955-31.7.1958 Unterabteilungsleiter F ü B I ; Übernahme in die Bundeswehr als freiwilliger Soldat mit Ernennung zum Oberst am 25.1.1956 (Dienstverhältnis eines Berufssoldaten ab dem 26.7.1956); 1.7.1958-30.6.1961 Kommandeur der Kampfgruppe C bzw. der Panzerbrigade 4; 1.1.1960 Beförderung zum Brigadegeneral; 1.11.1961-31.8.1963 Deputy Chief of Staff Operations and Intelligence, Headquarters Allied Forces Central Europe;

32

II. »Staatsbürger in Uniform«

w e n i g später v o m P e r s o n a l g u t a c h t e r a u s s c h u s s a m 13. Oktober 1 9 5 5 beschlossen e n »Richtlinien« für die E i g n u n g s p r ü f u n g dienstjüngerer gedienter B e w e r b e r Verbindliches z u d e n K o n t u r e n d e s g e w ü n s c h t e n Soldaten entnehmen 5 . Die v o n Baudissin u n d v o m P e r s o n a l g u t a c h t e r a u s s c h u s s entwickelten Profile v e r d i e n e n mithin ebenso Berücksichtigung w i e überdies a u c h jene H e r a u s f o r d e r u n g e n , m i t d e n e n die E i n f ü h r u n g b e s t i m m t e r M u s t e r d e s Soldaten in der b e s o n d e r e n Situation d e s Aufstellungsbeginns konfrontiert w a r . Gleichwohl darf die B r o s c h ü r e hier an erster Stelle die A u f m e r k s a m k e i t bea n s p r u c h e n - nicht n u r w e g e n d e s sich an d a s g e s a m t e interessierte P u b l i k u m w e n d e n d e n Adressatenkreises, s o n d e r n a u c h d e s w e g e n , weil sich der Bundeskanzler w i e der Bundesminister z u ihr d u r c h ihre Unterschriften bekannt hatten. Sie konnte als die offizielle Bilanz einer ü b e r Jahre sich e r s t r e c k e n d e n Planungsarbeit aufgefasst w e r d e n u n d zugleich d a r ü b e r A u s k u n f t geben, in welc h e m M a ß e die in der » H i m m e r o d e r Denkschrift« n o c h aufgetretenen W i d e r s p r ü c h e hatten a u s g e r ä u m t w e r d e n können. Der U m s t a n d , d a s s die Schrift in der F o r s c h u n g g e r a d e a u c h i m Vergleich z u d e n Positionen Baudissins kontrovers beurteilt wird 6 , d e u t e t bereits jetzt auf eine abermalige ambivalente Ver-

27.11.1962 Beförderung zum Generalmajor; 1.9.1963-14.4.1965 Kommandeur des NATO Defence College; 1.9.1963 Beförderung zum Generalleutnant (temporary rank), 9.1.1964 Beförderung zum Generalleutnant; 15.4.1965-31.12.1967 Deputy Chief of Staff Plans and Operations, Supreme Headquarters Allied Powers Europe. In den Ruhestand am 31.12.1967 verabschiedet. Ab Oktober 1968 Lehrbeauftragter für moderne Strategie an der Universität Hamburg; 1971 Gründungsdirektor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg; 30.1.1979 Verleihung des Titels Professor; ab 1980 mit der Lehre an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg betraut; Juni 1986 Abschied von der Universität Hamburg und von der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Zu Baudissins Werdegang vgl. Hartmann/Richter/Rosen, Wolf von Baudissin, S. 211-216, und jüngst den gleichzeitig seine Bedeutung und Aspekte seines Werkes behandelnden Sammelband Wolf Graf von Baudissin, dort S. 235-238 die hier im Auszug wiedergebenen Lebens- und Laufbahndaten. Hiervon abweichende Angaben zu Verwendungszeiten und Beförderungsdaten (Aushändigung der Urkunde) danke ich dem freundlichen Entgegenkommen von Professor Dr. Claus Freiherr von Rosen. Zitat in Verfügung Blank, Az.: L/II-58/53 geh. vom 10.1.1953: Regelung der >Inneren Führungbewährten< Soldaten der Wehrmacht. Dies begründet hier einmal mehr die eingehendere Auseinandersetzung mit der Informationsbroschüre. In welchem Ausmaß war es in der noch jungen Nachkriegsdemokratie gelungen, dem kommenden Soldaten eine eigene, eben bundesrepublikanische Prägung zu verleihen, und welche Anteile hatten daran insonderheit die neue politische Ordnung und das hergebrachte Modell des Soldaten?

1.

Konturen des westdeutschen Soldaten im Spiegel der regierungsamtlichen Vorstellung: »Vom künftigen deutschen Soldaten«

Wie nicht selten bei amtlichen oder auch nur offiziösen Veröffentlichungen der Fall, erschien auch diese Informationsbroschüre ohne Verfasserangabe. Der in erster Linie an der Abfassung beteiligte Hauptautor lässt sich jedoch ermitteln. Nach eigenem wie auch fremdem Bekunden hatte vor allem Heinz Karst7 den Text zu vertreten. Der 1914 geborene und im Kriege zuletzt als Schulkommandeur verwendete Hauptmann a.D. war - wie es in einem vermutlich von Oberstleutnant a.D. Werner Drews, dem für Militärische Inlandsfragen< zuständigen Referatsleiter (II/2/Grp. 4), für Minister Blank zusammengestellten Papier hieß - »seit dem 30. Juli 1952 enger Mitarbeiter des Grafen Baudissin«, dessen Abwesenheitsvertreter, »an den Planungsarbeiten der Gruppe [Innere Führung], vornehmlich auf dem Gebiet Ausbildung und Erziehung, maßgeblich beteiligt« und so auch »Hauptautor der Schrift >Vom künftigen deutschen Soldatem«8. Mithin war Karst nicht der einzige Verfasser, was bei dem EntsteHeinrich Karl Hermann (Heinz) Karst (1914-2002), 1936 Eintritt in die Wehrmacht, 1939 zum Leutnant befördert, Verwendung u.a. in Infanterie- und Panzeraufklärungs-Einheiten, zuletzt Kommandeur der Heeresunteroffizierschule für Panzeraufklärer, als Hauptmann in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Nach Entlassung Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Universität Köln, Lehrer, 1950 Dolmetscherexamen, 1952-1955 Amt Blank. 1955 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Major, 1955-1957 Hilfsreferent in der Unterabteilung IVB, 1957/58 Lehrgruppenkommandeur an der Schule für Innere Führung der Bundeswehr, Beförderung zum Oberstleutnant 1958, 1958/59 Kommandeur Panzeraufklärungslehrbataillon 11, 1959-1963 Referent Fü Β I 4, Beförderung zum Oberst 1961, 1963-1967 Kommandeur Panzerbrigade 32, Beförderung zum Brigadegeneral 1965, 1967-1970 General Erziehungs- und Bildungswesen im Truppenamt, 1970 in den Ruhestand verabschiedet; weitgehend nach Bradley/ Würzenthal/Model, Die Generale und Admirale der Bundeswehr, Bd 2.2, S. 581-583. Angaben nach dem augenscheinlich für die Presse erstellten undatierten Lebenslauf »Porträt der Woche«, BA-MA, Ν Karst, 690/v. 9, sowie nach dem von II/2/Grp. 4-931-05 unter dem 12.9.1955 verfassten »Sprechzettel für den Herrn Minister zur >Denkschrift< Karst«, BA-MA, Ν Karst, 690/v. 186; vgl. zu Drews Krüger, Das Amt Blank, S. 186, 215, sowie unten Kap. III, Anm. 17.

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II. »Staatsbürger in Uniform

hungsgang einer amtlichen Druckschrift auch nicht anders zu erwarten war. Nach einer Ende November 1954 erteilten Weisung des Leiters der Militärischen Abteilungfortschrittlichen< Seiten hervorgehoben, welche mithin als Maßstab auch noch für die westdeutschen Streitkräfte genommen werden können. Sie reichen von der Einebnung ständischer Unterschiede im Rahmen der Offizierrekrutierung23

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Lehrgruppenkommandeur Schule der Bundeswehr für Innere Führung, 1970-1975 Leiter Schulstab Heeresoffizierschule III; Verabschiedung in den Ruhestand 1975. Dr. Horst Reger, nach Organisationsplan der Dienststelle Blank mit Stand 1.11.1954 Oberregierungsrat bei III/2, für 1956-1961 als Ministerialrat im Fernsprechverzeichnis des Bundesministeriums für Verteidigung geführt. Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/2, fol. 299 f., 304 f., 307, 313; Ν 717/3, fol. 36, 41 f., 55, 63 f., 68, 70-73, 76, 92, 95-98, 100, 105, 108 f. (Zitat), 111 (Zitat)-113, 116, 122, 124; Ν 717/4, fol. 140, Tagebuch Baudissin, Vermerke zwischen dem 30.5.1954 und dem 5.5.1955. Siehe unten Kap. II, Anm. 154. Den Hinweis danke ich der freundlichen Auskunft von Professor Dr. Claus Freiherr von Rosen. Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 7. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21, vgl. auch S. 25, 87 f. Ebd., S. 99.

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II. »Staatsbürger in Uniform«

über die praxisnahe Gefechts- und Schießausbildung24 bis hin zur technischfunktional bedingten Delegation von Entscheidungskompetenzen innerhalb einer modern ausgerüsteten >kleinen Kampfgemeinschaft^ die somit auch auf einen eher >partnerschaftlichen< Umgang angelegt gewesen sei25. Die Anknüpfung an frühere Muster greift allerdings auch weiter in die militärische Vergangenheit zurück. So wird der Reichswehr die Urheberschaft für die Einrichtung des Vertrauensmannes angerechnet26 und allen neueren deutschen Armeen die Offenheit auch für Streitkräfteexterne Impulse im Rahmen der Bildung von Offizieren und Unteroffizieren zugute gehalten27. Besondere Erwähnung findet die »Auftragstaktik«, die »von jeher eine Stärke der deutschen Gefechtsführung« ausgemacht habe28. Und schließlich wird am früheren deutschen Offizierkorps die Tradition des prüfenden, gewissensgebundenen und persönlich zu verantwortenden Gehorsams gerühmt, der allerdings »die Entwicklung im 20. Jahrhundert, besonders aber unter Hitler«, mit der Verengung auf den »Begriff des unbedingten Gehorsams« entgegengestanden habe29. Solche vorwiegend affirmative Sicht der Vergangenheit ist gewiss auch als ein Werben um die Angehörigen der ehemaligen Wehrmacht zu verstehen, auf deren Mitwirkung bei der Aufstellung neuer Truppen nicht verzichtet werden konnte30. Über den mit der bevorstehenden Rekrutierung der Veteranen absehbaren personellen Anschluss an bereits erprobte Muster hinaus verleiht deren amtliche Würdigung zweifelsohne dem Profil des künftigen Soldaten verbindliche Konturen. Hierzu macht die Schrift allerdings Vorbehalte geltend, die sich aus den besonderen Umständen ergeben, unter denen sich der kommende Aufbau vollziehen werde. Zu diesen haben die Verfasser die »Bürde einer kaum bewältigten Vergangenheit«, die Eingliederung in das »Bündnissystem der freien Welt«, den »nicht im Obrigkeitsstaat und nicht in einer Diktatur, sondern im freien Gemeinwesen unserer jungen Demokratie« gelegenen innerstaatlichen Rahmen und nicht zuletzt »das Bild des Krieges« gezählt31. In der Folge soll geprüft werden, inwieweit diese Bedingungen einen als Abweichung vom Bisherigen erkennbaren Niederschlag in dem von der Schrift festgehaltenen Wunschbild zum Militär der Bundesrepublik gefunden haben. Was die beim Staat - nicht etwa allein beim Militär - gesehene »Bürde« anlangt, so wird sie nur selten mit weiterführenden Angaben konkretisiert. Zuweilen wird die Last der deutschen Teilung angeführt32, mitunter auch der Mangel an demokratischer Übung eingeräumt33. Im Hinblick auf das >Dritte

24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Ebd., S. 91. Ebd., S. 86 f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 66. Ebd., S. 89. Ebd., S. 30. Vgl. auch verstreute Hinweise in der Schrift ebd., S. 73-76, 89. Ebd., S. 20 f., ZitateS. 21. Ebd., S. 11, 61. Ebd., S. 61.

II. »Staatsbürger in Uniform

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Reich< haben die Verfasser zudem dessen manipulative Propaganda34 und den Verlust an »Zivilcourage« beklagt, der mit der Tendenz zum >unbedingten Gehorsam< einhergegangen sei35. Hinsichtlich des engeren militärischen Bereiches wirken die Distanzierungen kaum nachdrücklicher. Ganz allgemein werden »Fehlentwicklungen in der militärischen Vergangenheit« eingestanden, die in der Truppeninformation behandelt werden sollten36. Gerade im »Ersatzheer« der alten Wehrmacht habe es zuweilen Fälle von »Schikane«, wiederum von »Fehlentwicklungen« gegeben37. In diesem Zusammenhang wird bemängelt, dass »Vorschriften in dem überstürzten Aufbau nach 1935 nicht mehr genügend beachtet« worden seien38. Es habe die Praxis des kommisshaften >Abrichtens< dort gegeben, »wo der Mensch nicht ernst genommen« worden sei39, »in schlecht geführten Truppenteilen« überdies einen »üble[n] Kasernenhofton«40. Abermals werden eigentümliche Umstände verantwortlich gemacht, wenn es heißt, der »Innere Dienst [sei] früher nicht selten schlecht gehandhabt [worden], besonders seit der schnellen Vermehrung der Wehrmacht ab 1935«41. Und die auch in der Vergangenheit dem Soldaten zugestandene Beschwerdemöglichkeit sei häufig genug als »so etwas wie autoritätswidrige Auflehnung« betrachtet und damit ausgehöhlt worden42. In der Regel zielen derartige Urteile auf ein Verhalten, welches von der früher schon vorhandenen Norm und auch sonst geübter Praxis abgewichen sei, nicht aber sind diese selbst Gegenstand der Kritik. Von der im Umkehrschluss abzuleitenden Entlastung der Reichswehr vor 1935 einmal abgesehen, werden die in der Friedenswehrmacht für Ausbildung und Erziehung geltenden »militärischen Vorschriften« ausdrücklich in Schutz genommen, jedenfalls seien sie »nicht [...] schlecht« gewesen43. Zudem sei die »Mehrzahl« der in der Wehrmacht dienenden Unteroffiziere »tüchtig, zuverlässig« gewesen und habe »im Kampf Hervorragendes geleistet«44. Frühere Entgleisungen mögen so zwar den Verfassern der Schrift Anlass geboten haben, beim Leser um Vertrauen für die kriegsgedienten künftigen Vorgesetzten einzukommen45, einen Bruch mit dem Vergangenen begründeten sie jedoch umso weniger, als die Verfasser mit überlagernden positiven Bezügen - wie oben bereits dargetan - nicht gespart haben. Nur eine Praxis, die Staat und Armee gleichermaßen angeht, wird unzweideutig als eine erhebliche historische Bürde erkennbar, deren Neuauflage es in Ubereinstimmung mit dem in der »Himmeroder Denkschrift« bekundeten 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 36. Ebd., S. 30. Ebd., S. 64. Ebd., S. 103. Ebd., S. 60. Ebd., S. 58. Ebd., S. 48. Ebd., S. 46. Ebd., S. 42. Ebd., S. 60. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 59 f.

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II. »Staatsbürger in Uniform«

Vorsatz augenscheinlich unter allen Umständen zu verhindern galt: Keinesfalls solle das künftige Militär sich am Modell des Staates im Staate orientieren, habe dieses doch, »wie die Geschichte [lehre], Spannungen [aufkommen lassen], die Volk und Armee zum Nachteil« geraten seien. Es ist die Maxime, »daß die bewaffnete Macht kein Sonderleben [...] führen« dürfe, dass sie im Gegenteil »lebendiges Glied des Volkes und des Staates« sein müsse, unter deren Vorzeichen die Verfasser der Schrift ein einziges Mal ausdrücklich vor »einer bequemen Restauration« gewarnt und damit gerade nicht die Position der späteren Wehrmacht angegriffen, sondern eher umgekehrt die diese kennzeichnende Absicht übernommen haben, mit einem Soldaten neuen Zuschnitts die Armee in der >Volksgemeinschaft< aufgehen zu lassen. Dass sich die Autoren hierbei an Gedankengänge streckenweise wortwörtlich angelehnt haben, die sich schon in einer Reichswehrvorschrift 1931 hatten finden lassen, als der Minister Wilhelm Groener wie auch der Chef des Ministeramtes, spätere Reichswehrminister und dann Reichskanzler, General Kurt von Schleicher, wenn auch nicht auf die Wehrmacht der Kriegsjahre, so doch immerhin bereits auf eine u.a. milizgestützte Verschränkung von Reichswehr und Gesellschaft hinarbeiteten, mag einmal mehr die Bereitschaft belegen, sich auf eine Kontinuität zu jüngeren deutschen Streitkräftemodellen einzulassen, so diese nur nicht mit dem Stigma der Entfremdung von Staat und Gesellschaft belastet waren. Das mehrfach bekräftigte Plädoyer für die wechselseitige Verflechtung von >Volk und Armee< wird jedoch nur hilfsweise mit der schlechten geschichtlichen Erfahrung aus der offensichtlich vor der Wehrmacht gelegenen Zeit begründet. Als eigentliche Motive werden vielmehr die Erfordernisse »des totalen Krieges», also das Kriegsbild, und das Demokratiegebot angeführt46. Ein ähnlich nachrangiges Gewicht scheint auch der zweiten der oben angeführten Bedingungen zugewiesen worden zu sein. Zwar wird die Eingliederung in ein umfassendes Bündnis auf der einen Seite zweifellos als von fundamentaler Bedeutung für die Größenordnung, die Zusammenstellung der Komponenten und die operative Führung des deutschen Beitrages angesehen47. Auf der anderen Seite aber soll die Integration erst auf der Ebene des »Armeestabtes], in einzelnen Fällen auch vom Korpsstab an aufwärts« wirksam werden, und die Struktur des deutschen Beitrages verrät die Anlehnung an die gewohnte Trennung in drei Wehrmachtteile: Die aus »Wehrpflichtigen und Freiwilligen« bestehende deutsche Streitmacht werde ein »voll motorisiert[es]« und u.a. über eine Panzerwaffe verfügendes Heer, sodann eine »neuzeitliche

46

47

Ebd., S. 19-22; die Warnung vor einer Restauration bezieht sich zwar auf die Traditionsfrage, diese wird hier aber unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Verflochtenheit von Armee und politischer Gemeinschaft abgehandelt; vgl. auch mit jeweils anderen Akzenten ebd., S. 7, 23-25, 26 f., 67, 86 f.; vgl. sodann Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 185. Augenscheinlich hat als Vorlage neben anderem der in der Zeit nach der Ära Seeckt erlassene Leitfaden für Erziehung und Unterricht, Teil I/A, hier vor allem S. 3, gedient; zu der unter Groener und Schleicher betriebenen Rüstungspolitik vgl. Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit, S. 286-297, passim. Vgl. Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 12-16.

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taktische Luftwaffe« und schließlich eine für den Einsatz im Küstenvorfeld ausgelegte Marine umfassen48. Ebenso enthält die Einteilung der vorgesehenen rund 500 000 deutschen Soldaten - darunter »28 000 Offiziere, 110 000 Unteroffiziere und 90 000 längerdienende Mannschaften«49 - in die einzelnen Dienstgrade und Laufbahnen50 keine signifikanten Abweichungen von früheren Strukturen. Hinsichtlich der Motivation der westdeutschen Soldaten wird zwar mehrfach mit dem Schutz >Europas< oder des >Abendlandes< auch der Bündnisrahmen aufgenommen. Schon das Vorwort des Ministers bezieht die »Freiheit [...] Europas« mit ein. Dabei relativiert aber die nicht selten vorgenommene gleichzeitige Verknüpfung mit der erwarteten »Liebe zu Vaterland und Heimat« das eigene Gewicht des darüber hinausgreifenden »Glaube[ns] an eine europäische Zukunft«51. Ohnedies erscheint die Berufung auf den übergeordneten Zusammenschluss - so sie nicht als Fortführung der von den Nationalsozialisten betriebenen Instrumentalisierung des >Abendlandes< gegen den >Bolschewismus< verstanden wird52 - wiederum aufgehoben in der Parteinahme für die Demokratie und im Kriegsbild. Abermals also hat es den Anschein, als falle diesen beiden das maßgebende Gewicht bei der Prägung des Profils des gewünschten Soldaten zu, sodass sich auch an ihnen die Wiederanknüpfung an die Vergangenheit oder der Bruch mit ihr entscheiden müsste. Die aus ihnen abgeleiteten Modelle zu den Streitkräften und den Soldaten müssen sich indessen nicht notwendig als deckungsgleich erweisen. Der Krieg, auf den man sich vorbereiten müsse und dessen >heiße< Erscheinungsform es mit Hilfe einer eigenen - hier noch konventionellen - Rüstung möglichst zu verhindern gelte53, wird von der Schrift der Kategorie des »totalen Krieges« zugeordnet54. Die Auswirkungen, die diese Klassifizierung auf das Bild des Soldaten gehabt hat, können fürs Erste auf einer technisch-funktionalen Ebene, sodann aber auch mit der Betrachtung der umfassenden Ausprägung des Krieges aufgesucht werden. So zeigen sie sich zunächst in der Einstellung des Soldaten auf ein partnerschaftliches Verhalten gegenüber der zivilen Umwelt wie in Anbetracht der Anforderungen, mit denen er sich im modernen Gefecht konfrontiert sehen werde. Aus besagter Erscheinungsform des Krieges im industriellen Zeitalter haben die Verfasser zum ersten gefolgert, dass sich die Armee nur mehr als Teil einer durch die gesamte Gesellschaft arbeitsteilig getragenen Rüstungs- und Kriegsanstrengung begreifen könne: »Mehr denn je [sei] eine moderne Truppe durch Forschung, Technik, Industrie und Verkehr unauflösbar in die arbeitsteilige 48 49 50 51 52

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Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 76 f. Ebd., S. 7 , 1 0 - 1 2 , Zitate S. 7 , 1 1 ; vgl. auch S. 23. Zu dem auch im >Dritten ReichAbendlandFreiheit< und >Demokratietotalitären< Gegenwelt erwehren müsse76. Angesichts jüngst erst im >totalen< Krieg gesammelter Erfahrungen war es keineswegs abwegig, hinter der an solche Lagerbildung anschließenden Vorstellung von einem Soldaten der Freiheit Vermittlungsprobleme zu vermuten, und nicht von ungefähr 68

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Aufzeichnung des Generalleutnants Liebmann über die Ausführungen des Reichskanzlers vor den Befehlshabern des Heeres und der Marine am 3.2.1933, gefertigt mit gleichem Datum, abgedr. bei Müller, Armee und Drittes Reich, S. 263. Vgl. dazu auch Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 216, dem die »Kontrolle des Soldaten durch das Parlament und die Kodifizierung seiner Rechte und Pflichten« zwar als »Neuerungen« erschienen, nicht »aber das Ideal eines Soldaten, der Befehlen aus Überzeugung gehorcht und mit Sinn für selbständiges Handeln kämpft«. Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 55. Ebd., S. 62. Ebd., S. 26. Vgl. Gespräch mit Wolf Graf von Baudissin, S. 222. Geheimer Erlass des Oberbefehlshabers des Heeres, Generaloberst Walther von Brauchitsch, über die Erziehung des Offizierkorps, 18.12.1938, abgedr. bei Müller, Armee und Drittes Reich, S. 180-182. Ansprache Adolf Hitlers vor Generalen der Wehrmacht, 30.3.1941, nach Tagebuchaufzeichnungen von Generaloberst Franz Halder. Siehe Halder, Kriegstagebuch, Bd 2, S. 335-337. Vgl. im Zusammenhang Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 9-12, 23 f., 27 f., 55, 65.

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haben in diesem Zusammenhang die Verfasser der Schrift einen erheblichen Argumentationsaufwand betrieben77. Denn der im Gefecht selbstständig getreu seinem Auftrag handelnde Soldat hatte sich zwar sehr wohl vereinbaren lassen mit dem fanatischen Einsatzwillen des für die Gemeinschaft kämpfenden politischen Soldaten, wie er in Deutschland zuletzt vom nationalsozialistischen Regime verlangt worden war78. Wie aber ließ sich in der einen Person der freie Mensch, der gerade nicht nach den Vorgaben und zum Wohle eines Kollektivs, sondern »nach eigenem Plan« sein Leben gestaltete79, und der Kämpfer denken, der sich mit der >Härte< eines im totalitären Staat am Ende gar fanatisierten Gegners würde messen können? Oder anders: Wie konnte der sich im Gefecht doch nur in den Grenzen militärischer Rationalität selbst bestimmende und dabei auf der Grundlage eines erteilten Auftrages, also eines Befehles, agierende Soldat mit dem autonomen Individuum vermittelt werden? Auf einer wiederum ersten Ebene lief die Antwort der Verfasser darauf hinaus, das Vorliegen eines Vermittlungsproblems - zumindest was das Wunschbild vom bundesrepublikanischen Soldaten betraf - im Grunde zu verneinen. Zwar räumten sie ein, dass das in Kernbereichen unaufgebbare Prinzip von Befehl und Gehorsam es den Streitkräften »für weite Strecken ihres Dienstes« nicht erlaube, »Befehlsverhältnisse auf parlamentarische Weise«, im Wege »freie[r] Meinungs- und Willensbildung« zu regeln80. Gleichwohl bestanden sie aber darauf, dass die innere Ordnung der Armee ein »Spiegelbild der staatlichen und sozialen Grundordnung« geben müsse81. In einer vielleicht noch weitergehenden Wendung dehnten sie jene das »Innere Gefüge der Wehrmacht eines freien Gemeinwesens« auszeichnende Maxime, nach welcher im Besonderen »die jungen Soldaten [...] Einschränkungen ihrer äußeren Freiheit im Wehrdienst nicht als Unfreiheit empfinden« dürften, augenscheinlich aus auch auf den Bereich des täglichen Dienstes, sollten die Soldaten doch »ihre militärische Ausbildung ohne grundsätzlichen Bruch zu ihrer zivilen Lebenswelt erfüllen können«82. Prinzipiell hätte sich nun besagter >Bruch< auf zweierlei Weise vermeiden lassen - einmal durch eine Angleichung oder wenigstens Annäherung der militärischen Praxis an zivile Verfahren und sodann mittels des umgekehrten Vorgehens. Manches spricht zunächst dafür, dass die Verfasser Letzterem den Vorzug gegeben haben. In der Schrift ist nicht selten von >Freiheit< die Rede, nahezu regelmäßig ist jedoch dabei eine Freiheit zur >Ordnung< gemeint. So ist es gerade die »freiheitliche Lebensform«, welche verlange, »daß der Mensch in [wenngleich, F.N.] 77

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Vgl. z.B. ebd., S. 2 2 - 2 5 , wo die Vereinbarkeit demokratisch-freiheitlicher mit militärischen Prinzipien auf dichtem Raum mit nicht weniger als drei eigenen Abschnitten thematisiert wird. Zum >politischen< Soldaten der Wehrmacht siehe Förster, Die Wehrmacht im NS-Staat, S. 37-39, 53-55, 60 f., passim. Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 10. Ebd., S. 22. Ebd., S. 21 f. Ebd., S. 25.

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freier Entscheidung seines Denkens und Gewissens sich dem Kräftespiel der Gemeinschaft« eben doch einordne83. Allgemein gelte, dass »Demokratie und Autorität, Freiheit und Bindung [...] keine Gegensätze« bildeten, sondern ganz im Gegenteil in einem engen wechselseitigen Bedingungszusammenhang stünden. Der »soldatische Dienst [unterscheide sich hiervon] nicht grundsätzlich, sondern nur stufenweise«84. Unversehens ist den Verfassern darüber der Gesetzesgehorsam zum in der Substanz identischen Seitenstück des militärischen Gehorsams geraten. Schließlich vermöge »[k]eine Familie, kein Verein oder Amt, kein Betrieb [...] zu bestehen, wenn seine Angehörigen nicht gehorchten«. Nicht anders sei in jeder staatlichen Ordnung den Bürgern die Pflicht zum »Gehorsam [...] gegenüber dem Gesetz« auferlegt, womit verglichen sich die »Anforderungen an den Soldaten« wiederum als von »nicht grundsätzlich anderer Natur« erwiesen. Und wie gerade »die freiheitliche Gemeinschaft [...] auf die einsichtige und freiwillige Einordnung der Mehrzahl ihrer Angehörigen« angewiesen sei, um der »Gefahr, den totalitären Weg einzuschlagen«, vorzubeugen, so sei auch - wiewohl mit stärkerem Nachdruck - zur Förderung der »Kampfgemeinschaft« vom Soldaten die »Einsicht in die Notwendigkeit strikten Gehorsams« mit dem Ergebnis »verantwortungsbewußter Einordnung« zu fordern85. Was eben noch eingeräumt worden ist, dass nämlich der militärische Gehorsamsanspruch im Unterschied zum Gesetzesgehorsam nur noch mittelbar an die politischen Teilhaberechte der vom Befehl Betroffenen zurückgebunden werden könne86, wird hier im Zuge der Rücknahme auf eine mehr nur graduelle Differenz zwischen beiden Sphären übergangen. Eine derartige Ausblendung partizipatorischer Elemente zugunsten militärnaher Strukturen darf als ein Indiz für die Anlehnung an konservative, autoritäre Denkmuster angesehen werden, für die sich weitere Hinweise unschwer auffinden lassen. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang unter anderem die prima facie einen zwiespältigen Eindruck hinterlassende Begründung der politischen Mitwirkungsrechte der Soldaten wie auch der Kontrast zwischen der dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung zugebilligten und der für den Militärdienst reklamierten Legitimationsgrundlage. So leiste der Soldat den »entscheidenden Beitrag seiner staatsbürgerlichen Mitverantwortung am Volksganzen [...] durch seine militärische Tüchtigkeit, Zuverlässigkeit und Disziplin«. Hierfür, also als Bestandteil seiner militärischen Qualifikation und Dienstleistung, müsse er »über politische Einsicht verfügen«. Auf diese Erklärung folgt gemäß der Erkenntnis, dass »Tun und Beispiel« in jedem Falle wirkungsmächtiger seien als »Unterricht und Theorie«, die Regelung der politischen Partizipation der Soldaten87. Mit anderen Worten: Nicht der Bürger als Rechtsträger, sondern die staatliche Funktion des Soldaten begründet hier dessen Teilhaberecht. In ähnlicher Weise wird das in Art. 4 Abs. 3 GG formulierte Recht, den Kriegsdienst zu 83 84 85 86 87

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 23, dazu auch S. 24 f., 28, 31, 57. S. 24. S. 28 f., auch S. 24. S. 22, zit. oben S. 43. S. 35 f., Zitate S. 35.

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verweigern, nicht etwa als Ausfluss der staatlicher Verfügung entzogenen Menschenwürde88 vorgestellt, sondern als beeindruckender »Akt staatlicher Toleranz« eingeführt89. Damit wird dem Kriegsdienstverweigungsrecht genau jene Dignität verwehrt, die ausgerechnet für den Militärdienst in Anspruch genommen wird, wenn es wenig später im Text heißt, dass - obgleich »der Wehrdienst eine staatsbürgerliche Pflicht« sei - »die soldatische Pflicht nicht allein aus dem Staatsbürgertum begründet werden« könne, sondern, »wie das Staatsbürgertum selbst, aus tieferen Quellen [...] - eben aus [...] religiösen und sittlichen Werten« herzuleiten sei90. Dem Kriegsdienstverweigerer dagegen sollte es zudem noch unter Berufung auf den »Gehorsam gegenüber den legitimen Mehrheitsentscheidungen« versagt bleiben, »die Verbindlichkeit eines einmal erlassenen Wehrpflichtgesetzes oder das Recht und die sittliche Pflicht des Staates zur Verteidigung« - wie die Verfasser in einer vielleicht missverständlichen oder zumindest mehrdeutigen, nichtsdestoweniger aber erhellenden Wendung befanden - auch nur »in Frage [zu] stellen«91. Die Zuweisung einer derartigen Vorrangstellung an den Staat und seine Ordnungsfunktion, die es erlaubt, solche etatistischen, autoritären Modelle in der Folge als konservativ zu bezeichnen92, spiegelte sich endlich auch in dem Wunschbild vom künftigen Soldaten selbst. Der »von den moralischen Energien der Demokratie durchdrungen[e]« Bürger, wie ihn die Schrift skizzierte, hatte es sich - »ganz gleich, ob in Zivil oder Uniform« - zur »Aufgabe« gemacht, gegen die der Demokratie drohenden »Gefahren« zu wirken: »Bedenkenlose Ichsucht, mangelnder Gemeinsinn und politische Gleichgültigkeit« galten ihm ebenso als zu bekämpfende Missstände wie die »materialistischen Lockungen« oder die »totalitären Versuchungen«93. »Gedankenloses Radiohören, zuviel Kino« wie auch alle anderen Formen »einer oft bedingungslosen Hingabe an das Gebotene« waren dem »Staatsbürger in Uniform« fremd94. Neben solcher Distanz zu einem durch Konsumorientierung wie durch das Streben nach dem Privaten vermeintlich gekennzeichneten Zeitgeist95 hatte er aber vor allem in 88

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Vgl. zum sachlichen Zusammenhang zwischen der Würde des Menschen und dem Kriegsdienstverweigerungsrecht das am 20.12.1960 gefällte Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, abgedr. in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd 12, S. 45-61, dort S. 53 f. Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 33. Ebd., S. 37. Ebd., S. 35. Mit solcher Priorisierung kann die Schrift auch als Zeugnis für den von Lenk, Zum westdeutschen Konservatismus, S. 637, passim, beschriebenen westdeutschen Konservatismus angesehen werden, insofern auch hier zumindest zwei von dessen drei »Grundentscheidungen [, nämlich] der Wertprimat übergreifender Ganzheiten [und das Verständnis von] >Freiheit< als Bindung« mit Händen zu greifen sind - Hervorhebungen im Original. Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 25 - 28, 57. Ebd., S. 67 f.; in der Schrift erscheint der Begriff »Staatsbürger in Uniform« nur in diesem Zusammenhang - insofern hat Rosen, Staatsbürger in Uniform, S. 150, ganz Recht, wenn er den normativen Begriff »Staatsbürger in Uniform« in der Broschüre vermisst. Vgl. dagegen die unten, S. 56 f. wiedergebenen, in damaligen Befragungen ermittelten hohen Ränge auch für Charaktereigenschaften, welche - wie >Pflichtbewusstsein< - eine starke Gemeinschaftsorientierung erkennen lassen.

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Schule wie Gesellschaft schon gelernt, dass mit der »erste[n] demokratische[n] Tugend [...] die Einordnung in das staatliche [freiheitliche] Gemeinwesen« angesprochen sei96, dass Freiheit ohne Bindung bloße »Willkür« bedeute97, dass es »die ständige Aufgabe aller Staatsbürger [sei], die gemeinsamen Vorstellungen [nicht nur, F.N.] von Recht, Freiheit und Menschenwürde, [sondern auch, F.N.] von Verantwortung und Gehorsam für sich selbst verbindlich zu machen«98 kurz (und nicht zu sehr zugespitzt): er hatte gelernt zu gehorchen. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses vom Bürger und Soldaten erstaunt nicht, dass sich für die Verfasser »Waffentechnik, Zwang der Taktik und politische Verantwortung [in ihren] Anforderungen an den Staatsbürger in Waffen« trafen99. Im Maße der Annäherung der gedachten staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik an militärkonforme Muster verschwand schließlich das Problem, das Mitglied einer freien Gesellschaft mit dem harten Kämpfer vermitteln zu müssen. Allerdings hatte in dieser Perspektive die Autonomie des Einzelnen viel von ihrer - in der Verfassung mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit immerhin vorgesehenen - prominenten Position eingebüßt, und die von der Schrift entworfene Kontrastfolie zum gewünschten Soldaten hätte der erwähnte Kurt Hesse nahezu bedenkenlos übernehmen können. Der hatte schon 1925 in Fortführung einer deutschen Zivilisationskritik, die zuvor bereits u.a. in Heinrich von Treitschke einen wirkungsmächtigen Propagandisten gefunden hatte100, Klage geführt über den seine Gegenwart bestimmenden »Materialismus« und über die Tendenz, im Banne des »Eigeninteresses« die »politische und persönliche Freiheit mehr und mehr [zu verwechseln], Freiheit vom Staate [zu suchen], anstatt in ihm frei sein zu wollen«101. Angesichts solcher Nähe des bisher vorgestellten Argumentationsstranges u.a. auch zu den Vorstellungen Hesses, dem es doch ebenfalls um einen selbstständig handelnden, die vielseitige militärische Technik beherrschenden, >staatspolitisch< einsichtigen »Einzelkämpfer«, Soldaten und »Staatsbürger« ging102, kann kaum von einer eigenen bundesrepublikanischen Prägung des Militärs gesprochen werden. Wohl nicht von ungefähr (und schlimmer noch) hatte ein eben erst in die Dienststelle Blank einberufener und dem Referat Inneres Gefüge zugeordneter Mitarbeiter bei der Durchsicht einer schon recht weit gediehenen Fassung der Schrift eingewandt, dass das dortige »Plakatieren des Demokratischen [...] die Gefahr fataler Ähnlichkeit zu NS-Brauchtum« bringe103. 96 97 98 99 100

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Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 36 (Zitat), 57. Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 28. Ebd., S. 25. Zur Vermengung etatistischer, gegen das bügerliche Erwerbsstreben gekehrter, bellizistischer Strömungen und zu der Rolle Treitschkes vgl. Janssen, Krieg, S. 600-604. Hesse, Von der nahen Ära, S. 39, 41; vgl. auch ebd., S. 13 f. Vgl. ebd., S. 21 f., 25, 3 2 - 3 4 . BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/3, fol. 36, 41, Tagebuch Baudissin, Vermerk Wangenheims zum »UR-Karst«, 2.8.1954; der Oberstleutnant a.D. Hellmuth Frhr. von Wangenheim hatte erst Mitte Juni 1954 den bevorstehenden Dienstantritt Baudissin mitgeteilt und seinen Dienst am 21.7.1954 in dessen Referat aufgenommen; vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin,

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In der Schrift werden jedoch auch noch die Umrisse einer anderen Antwort auf die Vermittlungsfrage erkennbar. Indem sie abweichend von den soeben vorgestellten Überlegungen gleichsam auf einer zweiten Ebene die auf ein fundamentales Gehorsamsprinzip gestützte militärische Funktion nicht als den sich von selbst verstehenden Ausgangspunkt, sondern unter Berücksichtigung der Autonomie des Einzelnen als begründungsbedürftigen Eingriff auswies, enthielt sie mit einer deutlichen Abgrenzung zu Früherem Elemente einer eigenen, bundesrepublikanischen Prägung des künftigen Soldaten. Im Unterschied zu Kurt Hesses Typ des initiativen, aktiven »Staatsbürgers]« und »willensvollen Soldaten«, welcher »den Krieg der Technik begriffen« habe, keines Befehles bedürfe, zudem - zum »Widerspruch« befähigt - in politischen Zusammenhängen zu denken und handeln geübt sei und - ohnedies ganz dem »Nutzen der Volksgemeinschaft« verpflichtet - »einmal freudig allen voran für das Vaterland sterben können« solle und wolle104, im Unterschied auch zu dem seine »Einsicht in die Notwendigkeit« eben des »unbedingte[n] Gehorsam[s]« beweisenden Soldaten, wie ihn das Reichswehrministerium 1931 vorgestellt hatte105, erst recht im Unterschied zu dem fanatischen Kämpfer< des >Dritten Reiches< gab das Wunschbild des Soldaten von 1955 auch einen jenseits von dessen militärischer Funktion gelegenen Eigenwert des Einzelnen zu erkennen. Dies ergab sich nicht allein aus einer Grundsatzerklärung, nach welcher das Militär - immer noch unter dem Vorbehalt der ihm »eigenen Gesetzmäßigkeit« - auf die Prinzipien der »Würde des Menschen« wie auch der »Rechtsstaatlichkeit« festgelegt sei106. Was ohne nähere Bestimmung noch bloßes Lippenbekenntnis hätte sein mögen, gewann nämlich Substanz durch die Nachordnung des Militärs und seine Ausrichtung auf den Zweck der Kriegsverhinderung. Weiterhin dementsprechend durch konkrete Begrenzungen der Zumutungen des militärischen Dienstes, insonderheit der Verfügungsgewalt der Vorgesetzten und durch die Förderung des eigenen Urteils des Soldaten, das sich auch auf die Frage der Legitimität und Legalität staatlichen Handelns erstrecken mochte. Schließlich erhielt es Gewicht durch einschlägige Sicherungen im Wege rechtsstaatlicher Verfahrensweisen. Bei aller Forderung nach »einer der Härte des Krieges angemessenen [d.h. >kriegsnahenHeiratsordnung< das Einbürgerungsanliegen der Reformkonzeption, indem es am Ende gar privilegierende Besonderheiten des Militärs - teilweise sogar in Abweichung von der Position des Grafen - allein noch im Rahmen unbedingter funktionaler Notwendigkeit gelten ließ. Gleichzeitig wurden an der getroffenen Regelung allerdings gleichermaßen die Grenzen des auch hier als Bezug herangezogenen beamtenrechtlichen Rahmens erkennbar.

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BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 88, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 7.9.1956, dort der Kommentar: »Törichter und leichtsinniger können wir auf die Vorfälle gar nicht reagieren. Der Soldat erhält seine Waffe zum Schutze der Mitbürger und nicht zu ihrem Morde. Ausserdem wird hier der einzelne Soldat in eine ausserordentliche Versuchung geführt; die Gerichte werden im Zweifelsfalle gegen ihn entscheiden.« - Hervorhebung im Original. BA-MA, [ohne Signatur], BMVtdg IV B, Sitzungsprotokoll der Routinebesprechung vom 12.3.1957, 15.5. [sie!, gemeint: 15.3.] 1957, Zitat S. 2. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/9, fol. 23, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 11.7.1957. BMVtdg FüStab BW-IV Β 1-62/57, 28.8.1957, VMB1. 1957, S. 602.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Heiratsordnung Dass für die Angehörigen der Bundeswehr keine Heiratsordnung verabschiedet wurde, war zunächst alles andere als selbstverständlich. So galten für die Beamten des Bundesgrenzschutzes durchaus noch einschränkende Heiratsbestimmungen. In Anlehnung an die Regelungen des »Deutschen PolizeibeamtenGesetzes« von 1937, das hinsichtlich der Eheschließungsbefugnis den für die Wehrmachtangehörigen geltenden Auflagen nicht unähnlich war, hatte das »Vorläufige Polizeivollzugs-Beamten-Gesetz« vom 6. August 1953 für den kasernierten BGS-Beamten die (pauschale) Heiratserlaubnis erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres oder nach der Ableistung des sechsten Dienstjahres vorgesehen. Unter dem Eindruck einer auch im parlamentarischen Raum zunehmenden Kritik an einer Einrichtung, die wie die vom Dienstherrn zu erteilende >Heiratserlaubnis< so offensichtlich das grundgesetzlich garantierte Recht auf die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« berührte, wurden in der Folge zwar die über die >Ehemündigkeit< (Vollendung des 21. Lebensjahres) hinausgehenden Altersbegrenzungen durch das Bundesinnenministerium Zug u m Zug abgesenkt - 1955 etwa war die »Heiratserlaubnis [nun schon] mit [dem] 25. Lebensjahr und bei guter Beurteilung« zu erteilen. Der grundsätzliche Anspruch des Dienstherrn, die Eheschließung jüngerer Polizeivollzugsbeamter von seiner Genehmigung abhängig zu machen, wurde aber bis zur Verabschiedung des »Bundes-Polizeibeamten-Gesetzes« vom 19. Juli 1960 aufrechterhalten 506 . Im Gegensatz dazu hatten die Dienststelle Blank bzw. das Bundesverteidigungsministerium wie auch der Gesetzgeber - wie es in einem im Herbst 1957 erstellten Gutachten der Rechtsabteilung hieß - zunächst »von einer Beschränkung der Heirat von Soldaten bewusst abgesehen« 507 . Gleichwohl stand das Thema der Heiratserlaubnis auf der Tagesordnung der die Innere Führung betreuenden Unterabteilung. Nachdem sich im Juli 1956 die zuständigen Referenten der Abteilungen >StreitkräfteHeerLuftwaffe< u n d >Marine< vorläufig darauf verständigt hatten, »das Heiratsalter der längerdienenden Soldaten auf 23 Lebensjahre festzusetzen« 508 bzw. die Heirat »in den ersten 2 - 3 Dienstjahren« zu untersagen, was Baudissin »sehr wohl mit Ausbildungsgründen, häufigen Versetzungen u n d Abwesenheiten« begründbar erschien, sonst aber »möglichst wenig [zu] regeln«, geriet die Frage einer Heiratsordnung nach der Einholung der Zustimmung Speidels zunächst auf die lange Bank509. Im Sommer 1957 hatte dann die neuerliche Diskussion einer Heiratsordnung beim Fü B510 zwei Stellungnahmen der Rechtsabteilung zur Folge. 506

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Zur Entwicklung der Heiratsbestimmungen für den BGS vgl. Dierske, Der Bundesgrenzschutz, S. 122 f.; zu den in der Friedens-Wehrmacht geltenden Bestimmung vgl. u.a. die Verordnung über das Heiraten der Angehörigen der Wehrmacht vom 1.4.1936, HVB1. 1936, Nr. 364, S. 121 f. BA-MA, BW 2/3940, Schreiben VIIIΒ 3 an Fü Β 2, Az.: VIIIΒ 3 2576/57, 7.11.1957, Zitat S. 1. BA-MA, [ohne Signatur], BMVtdg IV B, Sitzungsprotokoll der Routinebesprechung innere Führung< vom 17.7.1956, Zitat S. 1. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 23, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 24.7.1956 (Zitate); ebd., fol. 27, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 26.7.1956 (Einverständnis Speidels). Vgl. ebd., 717/8, fol. 185, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 11.6.1957.

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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Gleich eingangs unterstrich die erste vom 25. Juni, dass »Soldaten [...] die Ehe unter den gleichen Voraussetzungen wie jeder andere Staatsbürger eingehen [könnten], ohne an die Zustimmung des Disziplinarvorgesetzten gebunden zu sein«. Desungeachtet bezeichnete das Schreiben in der Folge Probleme, die sich wegen der auf die besonderen Anforderungen an die Stellung des Soldaten im Falle einer verfrüht geschlossenen Ehe oder einer bedenklichen Lebensführung des Ehepartners ergeben könnten. Zu hohe Verschuldung beim Eintritt in den Ehestand oder die Verbindung »mit einer übelbeleumundeten Frau [...] oder mit einer Frau, die einen anstössigen, unsittlichen Lebenswandel« führe, was jeweils die Verwendung des Soldaten einschränken könnte, schließlich der eine junge Ehe möglicherweise belastende häufige Standortwechsel während der ersten Dienstjahre wurden als Faktoren aufgelistet, die der Soldat »vor dem Eingehen von ehelichen Bindungen« berücksichtigt haben »sollte«. Laut dieser Stellungnahme blieben jedoch die Einwirkungsmöglichkeiten des Vorgesetzten auf die erzieherische, aufklärende oder belehrende Einflussnahme begrenzt511. Ein weiteres Schreiben der Rechtsabteilung vom 25. Juli listete illustrierende Beispiele für »verfrühte oder unerwünschte Heiraten« auf, versäumte dabei aber nicht die Warnung, dass es sich bei dieser Materie »vielfach um rechtliches Neuland« handele512. Mit den drei allerdings grundlegenden Unterschieden, dass weder ein besonderes Mindestheiratsalter noch die nach dessen Erreichen eintretende Bindung an die in der Regel dem Disziplinarvorgesetzten vorbehaltene Heiratserlaubnis noch die dem nationalsozialistischen Regime geschuldeten Ubernahmen rassenideologischer Diskriminierungen in den beiden Stellungnahmen aufgenommen wurden, griff die Rechtsabteilung damit zwar Bedingungen auf, die schon in den Heiratsordnungen der Wehrmacht, etwa in der vom 1. April 1936, enthalten waren. Diese hatten »als Voraussetzung für jede Heiratserlaubnis« seinerzeit u.a. verfügt, dass »die Braut einen einwandfreien Ruf genießt, selbst achtbar und staatstreu ist und einer achtbaren und staatstreuen Familie angehört, [dass] der Antragsteller und die Braut schuldenfrei sind [und] die Führung des Haushalts geldlich gesichert ist«513. Ebenso wie der bloße Hinweis auf die mögliche Gefährdung der jungen Ehe durch eine Heirat am Anfang der Laufbahn nur noch einen schwachen Anklang an das 1936 als strikte Grenze festgesetzte Mindestalter »des [vollendeten] 25. Lebensjahres oder 6. Dienstjahres« darstellte, wandelten aber die Stellungnahmen der Rechtsabteilung in abschwächender Weise die vormals geltenden Bedingungen für die einzuholende Heiratserlaubnis um in mögliche Anknüpfungspunkte für dienstliche Konsequenzen einer bereits vollzogenen Eheschließung, bei denen überwiegend auch nur an extreme Fälle gedacht wurde. BA-MA, BW 2/3940, Schreiben VIII Β 3 an IV Β 2, Az.: VIII Β 3 1427/57, 25.6.1957, Zitate S. 1; ebd., als Anl. beigefügt Schreiben VIII Β 3 an Fü Β 2, Az.: VIII Β 3 2576/57, 7.11.1957. 5.2 Ebd., Schreiben VIII Β 3 an IV Β 2, Az.: VIII Β 3 1427/57, 25.7.1957, Zitate S. 1, ebd., als Anl. beigefügt Schreiben VIII Β 3 an Fü Β 2, Az.: VIII Β 3 2576/57, 7.11.1957. so v g i . Verordnung über das Heiraten der Angehörigen der Wehrmacht, 1.4.1936, Ziff. 3, lit. b - d , HVB1. 1936, Nr. 364, S. 121; ebd., Ziff. 1, auch das nachfolgende Zitat. 5.1

206

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Vor diesem Hintergrund konnte der Bescheid der Rechtsabteilung immer noch als vergleichsweise zurückhaltend gelten. Dies konnte so gesehen werden, selbst wenn er an den Soldaten die Forderung richtete, er »soll[e] darauf achten, dass die Braut einen guten Ruf geniesst und aus einer ehrbaren Familie stammt«514, und selbst wenn der Bescheid mit einer solcher Eingrenzung der gesellschaftlichen Herkunft Erinnerungen an die Offizierrekrutierung unter Kaiser Wilhelm II. wecken mochte515. Schließlich verneinte die Abteilung - im Unterschied zu Baudissin - rundweg jede Möglichkeit eines auch nur begrenzten Heiratsverbotes. Gleichwohl schien der Bescheid nicht zu befriedigen. Aufgrund einer Weisung des Ministers Strauß, die dieser während einer Besprechung an der Schule für Innere Führung erteilt hatte, wurde die Rechtsabteilung neuerlich um gutachterliche Auskunft gebeten. Die Fragen, deren rechtliche Prüfung mit dem Schreiben des Fü Β veranlasst wurde, ließen dabei die Absicht vermuten, in teilweise doch stärkerem Maße an frühere Heiratsordnungen anzuschließen. So sollte die Rechtsabteilung Stellung nehmen zu der Möglichkeit der »Festsetzung eines Mindestalters für [freiwillige] Soldaten, die zu heiraten beabsichtigen«, und zu den Chancen einer »Beibringungspflicht von pol. Führungszeugnissen] oder [der] Heranziehung des Strafregisterauszugs der Braut [...] vor der Verlobung«516. Die Antwort der Rechtsabteilung ließ indes an Eindeutigkeit kaum zu wünschen übrig. Nachdrücklich wurde einmal mehr festgestellt, dass es »keine gesetzliche Grundlage« gebe, auf Grund derer es zulässig wäre, »die Heirat eines Soldaten von einer Genehmigung abhängig zu machen, oder gar, sie vor Erreichen eines Mindestalters zu verbieten«. Wer zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, der konnte dem Hinweis, dass der »Gesetzgeber [...] von einer Beschränkung der Heirat von Soldaten bewusst abgesehen« habe, unschwer die Prognose entnehmen, dass diesbezüglich wenig Aussicht auf eine Veränderung der gesetzlichen Grundlagen bestehe. Auch die weiteren Ausführungen konnten als eine Verteidigung der Privatsphäre des Einzelnen vor den Eingriffen des Dienstherrn aufgefasst werden. Zur Frage des polizeilichen Führungszeugnisses der Braut räumte das Gutachten zwar die Möglichkeit ein, die Verpflichtung zu einem derartigen Nachweis aus der dem Soldaten auferlegten Pflicht zur Wahrung des Ansehens der Bundeswehr und des Vertrauens abzuleiten, das in seine Stellung gesetzt werden können müsse. Sogleich aber folgte der Hinweis auf das dem entgegenstehende höherrangige Persönlichkeitsrecht der beiden Betroffenen, in dessen Licht das »Ansinnen«, 514

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BA-MA, BW 2/3940, Schreiben VIII Β 3 an IV Β 2, Az.: VIII Β 3 1427/57, 25.6.1957; ebd., als Anl. beigefügt Schreiben VIII Β 3 an Fü Β 2, Az.: VIII Β 3 2576/57, 7.11.1957. Vgl. z.B. den Erlass Kaiser Wilhelms II. über die Ergänzung des Offizierkorps anlässlich der Vergrößerung der Armee, 29.3.1890, auszugsweise abgedr. in Offiziere im Bild von Dokumenten, S. 197: »Neben den Sprossen der adligen Geschlechter des Landes, neben den Söhnen meiner braven Offiziere und Beamten, die nach alter Tradition die Grundpfeiler des Offizierkorps bilden, erblicke ich die Träger der Zukunft meiner Armee auch in den Söhnen solcher ehrenwerten bürgerlichen Häuser, in denen die Liebe zu König und Vaterland, ein warmes Herz für den Soldatenstand und christliche Gesittung gepflegt und anerzogen werden.« - Hervorhebungen im Original. BA-MA, BW 2/3940, Schreiben FüStab Bw Β 2 an VIII A, 29.10.1957.

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ein Führungszeugnis vorzulegen, »als unzumutbarer Eingriff in das Verhältnis der beiden Menschen, die es angeht«, erscheine. Ebenso stand die Auskunft zur Frage etwaiger Nachforschungen unter dem Vorzeichen einer Rechtsprechung, die »das Recht der Person auf Schutz vor Indiskretionen mehr und mehr« betone. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände oder Tatsachen könne sich die rechtliche Befugnis zur Nachforschung für den Dienstherrn ergeben. Dessen Möglichkeiten blieben - so das Gutachten - im Regelfall darauf beschränkt, vom Soldaten die Anzeige der Heiratsabsicht in angemessener Frist vor dem Termin zu verlangen; im Übrigen galt: »Dem berechtigten Anliegen, Soldaten von einer verfrühten oder unpassenden Heirat abzuhalten, kann nur durch Erziehung im Rahmen allgemeiner oder individueller Belehrung Rechnung getragen werden517.« Nach der im Zuge des Mitzeichnungsganges üblichen redaktionellen Überarbeitung erschien im Januar 1958 eine in der Substanz unveränderte Zusammenfassung der gutachterlichen Äußerungen der Rechtsabteilung als Erlass des Ministers. Als Grundsatz wurde das ungeschmälert auch dem Soldaten zustehende Recht der Eheschließung an den Anfang gestellt. Die sich anschließende Erinnerung an mögliche Konsequenzen einer verfrühten Eheschließung oder einer belastenden Partnerwahl stützte sich zwar auf eine Pflicht des Soldaten nämlich auf die gebotene Rücksichtnahme auf das Ansehen der Streitkräfte und auf die Vertrauensstellung des Soldaten bzw. Vorgesetzten - , die daraus folgenden Konsequenzen für den Einzelnen wurden jedoch von vornherein durch den Eingangssatz, es »sollte sich jeder Soldat [über das Folgende] klarsein«, abgeschwächt518. Wie die mit Grundsatzfragen befasste Unterabteilung der Personalabteilung wenige Monate später festhielt, war damit »klargestellt, dass hier keine rechtlichen Verpflichtungen begründet werden, sondern dass es sich um eine Leitlinie der Menschenführung handelt«519. Unter diesem Vorzeichen rief der Erlass sodann die drei bereits erwähnten Problembereiche in Erinnerung: teilweise dienstliche, vor allem aber häusliche Schwierigkeiten habe der Soldat bei einer zu hohen Schuldenlast und - infolge häufiger Abwesenheiten bei der Eheschließung während der ersten Dienstjahre zu gewärtigen. »Seine dienstliche Eignung - insgesamt oder hinsichtlich bestimmter Verwendungen« - werde möglicherweise infrage gestellt, sollte es sich herausstellen, »daß die «Braut [nicht] einen unangefochtenen Ruf genießt, [oder nicht] aus einer ehrbaren Familie stammt [oder gar, F.N.] Beziehungen zu staatsfeindlichen Kreisen« unterhält520. Hierzu bemerkte zwar der erwähnte Kommentar der Personalabteilung, dass diese »Leitlinie« ausschließlich »in extremen Fällen« rechtliche Erheblichkeit erlange. Bekräftigend konnte sie auch darauf verweisen, dass dies auch durch die vom Erlass hier vorgesehene »Gestaltung des Verfahrens« gewährleistet werde. Mit ihr wurde das Abverlangen eines Führungszeugnisses

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Ebd., Schreiben VIII Β 3 an Fü Β 2, Az.: VIII Β 3 2576/57, 7.11.1957. Erlass »Heirat von Soldaten«, BMVtdg Fü Β I 4, 10.1.1958, VMB1. 1958, S. 95 f., Zitat S. 95. BA-MA, BW 2/3940, Schreiben Ρ 11 an Fü Β 1, 24.3.1958, Zitat S. 1. Erlass »Heirat von Soldaten«, BMVtdg Fü Β I 4,10.1.1958, VMB1.1958, S. 95 f., Zitate S. 95.

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untersagt und sodann dafür Sorge getragen, »dass der nähere Bereich des Soldaten sich aus jeder Einmischung durch Ermittlungen herauszuhalten« habe und dass mögliche »Weiterungen« allein den »personalbearbeitenden Dienststellen«, den »Einleitungsbehörden« und gegebenenfalls auch den Truppendienstgerichten überlassen blieben. Gleichwohl schienen hier aber auch die Grenzen auf, die der Rahmen des Beamtenrechts der Entfaltung des Einzelnen setzte. Unter Berufung auf den von Kurt Behnke, immerhin dem damaligen Präsidenten des Bundesdisziplinarhofes, verfassten Kommentar zum Beamtenrecht behauptete die Personalabteilung in ihrer Bemerkung eine »Pflicht« des Staatsdieners, »dafür zu sorgen, dass die Verhältnisse in seiner Familie nicht seine Ehre und seinen Ruf beeinträchtigen»521. Mochte auch der Gesichtspunkt der militärischen Sicherheit begrenzte Eingriffe in die Sphäre Dritter als sachangemessen gerechtfertigt haben, so atmete doch die Vorstellung des für das Verhalten seiner Ehefrau verantwortlichen Staatsdieners noch viel von der hergebrachten Figur des männlichen >Haushaltsvorstandesextremer Fall· in Betracht gekommen wäre: Die Verlobung eines Oberleutnants mit einer Frau, die ein uneheliches Kind habe und deren Vater »nach der Kapitulation eine maßgebende Rolle in der KPD in Mittenwald gespielt« habe; die Eheschließung eines weiteren Oberleutnants mit einer Frau, zu der er vorher, noch als Zivilist - obwohl sie verheiratet gewesen - »ein jahrelanges Verhältnis gehabt« habe, die zudem »wegen Unterschlagung« rechtskräftig verurteilt worden sei, wobei er aus Mitteln dieser Unterschlagung auch unterstützt worden sei; die beabsichtigte Heirat eines in Ebd.; BA-MA, BW 2/3940, Schreiben Ρ 11 an Fü Β 1, 24.3.1958, Zitate S. 2 - 4 . Angaben nach Pauli, Das kriegsgediente Offizierkorps, S. 191. 523 Verteidigung im Bündnis, S. 464. 521

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Amerika diensttuenden Fahnenjunkers, dessen Braut »von ihm ein Kind« erwarte; schließlich ein älterer Fähnrich, dessen Frau als Hebamme »wegen Abtreibung verurteilt« worden sei524. Ein Grund indes, über die bestehende Erlassregelung hinauszugehen, war damit offenbar nicht gegeben. Der Erlass galt während der Aufbauphase unverändert fort und wurde am Übergang zur Konsolidierungsphase lediglich ergänzt durch Bestimmungen, die sich im Rahmen der Nachwuchsgewinnung für die Laufbahn der Unteroffiziere mit der Förderung junger Familien im Wege von Darlehensgewährungen beschäftigten525. Erziehungsleitsätze Um für den Einzelnen im Sinne Baudissins auch erfahrbar zu sein, bedurfte das gegenüber früheren Verhältnissen ungewöhnliche Freiräume belassende Soldatenbild einer entsprechenden Umsetzung durch die bundeswehrinternen Dienstvorschriften. Unter den Vorschriften, die bis zum Sommer 1958 als Erprobungsentwürfe oder in ihrer definitiven Fassung in die Truppe gelangten, setzten die »Leitsätze für die Erziehung des Soldaten« (ZDv 11/1) vom Februar 1957 gleichsam den grundlegenden Tenor für den Umgang zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Mehr als andere Vorschriften trugen diese »Leitsätze« einen programmatischen Charakter. Demgegenüber konkretisierten weitere Vorschriften stärker die dem Soldaten auf Schritt und Tritt begegnenden Strukturen und Abläufe des militärischen Dienstes. Insonderheit griffen die Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst« und die die äußerlichen Umgangsformen festlegende »Grußordnung« (Z.Dv. 10/4) reglementierend in den alltäglichen Dienst des Soldaten ein. Nachdem in der Dienststelle Blank die Grundsatzfrage, ob dem militärischen Vorgesetzten überhaupt eine Erziehungsaufgabe zufalle, gegen die ablehnende Auffassung von Ernst Wirmer, des mächtigen Leiters der >Zentral-< bzw. Allgemeinen AbteilungDeutsche Ausschuß für das Erziehungs- und BildungswesenDeutschen Bildungsrates< erleichterte außerhalb des Ministeriums die Herausgabe der »Leitsätze«. Denn dieses angesehene Gremium hatte nicht nur die Vorschrift Ende 1955 »grundsätzlich [...] gebilligt«, sondern über das hierbei auch einschlägige, dabei allerdings nicht die Verhältnisse in den Streitkräften eigens thematisierende »Gutachten zur politischen Bildung« (22. Januar 1955)531 hinaus am 5. Juli 1956 auch eine »Empfehlung aus Anlaß des Aufbaues der Bundeswehr« verabschiedet532. Von nicht zu überschätzender Bedeutung war in diesem Zusammenhang das Wirken von Professor Erich Weniger, Mitglied des d e u t schen Ausschusses< und Baudissins vertrauter Gesprächspartner, der sich bereits im Dienste der Wehrmacht militärpädagogischen Fragen zugewandt hatte533. Gerade die Verbindung jener Papiere mit den >Leitsätzen< hatte unter den und Angestellter diverser Firmen, 1951-1955 Amt Blank (Angestellter). 1955-1957 Unterabteilungsleiter in der Abteilung V (Heer) im Bundesministerium für Verteidigung, Beförderung zum Oberst 1955, 1957-1964 Leiter der Studiengruppe Heer an der Führungsakademie der Bundeswehr, Beförderung zum Brigadegeneral 1962; nach Krüger, Das Amt Blank, S.188. 529 Vgl. dazu die Sammlung von Entwürfen zu den »Leitsätzen für die Erziehung des Soldaten« sowie den einschlägigen Schriftverkehr in BA-MA, BW 2/731. Zur Entstehung der »Leitsätze« siehe jetzt auch Bormann, Die Erziehung des Soldaten, S. 117-123. 530 Angaben nach Handbuch Innere Führung - 1957, S. 99 f.; zum Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen und zu seiner allerdings schwierigen Stellung zwischen dem Bundesinnenministerium und der Kultusministerkonferenz siehe Kleemann, Der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen. 531 Gutachten zur Politischen Bildung und Erziehung (22.1.1955), Empfehlungen und Gutachten, S. 827-838. 532 BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/5, fol. 110, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 17.11.1955 (Zitat). Nach der dortigen Notiz war als Verfasser der »Empfehlung« der gleichzeitig auch dem Personalgutachterausschuss angehörende Göttinger Pädagoge und Professor Erich Weniger vorgesehen. Die vierseitige »Empfehlung des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus Anlaß des Aufbaues der Bundeswehr« vom 5.7.1956, die als eine Erweiterung der ursprünglichen Stellungnahme des >Ausschusses< zur ZDv 11/1 entstanden ist (vgl. Empfehlungen und Gutachten, S. 950), findet sich zusammen mit dem an den Obersten Graf Baudissin gerichteten Anschreiben vom 16.7.1956 in BA-MA, BW 2/1511; dort auch eine ausgedehnte Bezugnahme auf das »Gutachten zur politischen Bildung und Erziehung« vom 22.1.1955. Neben der unten angegebenen Fundstelle in der »Information für die Truppe« ist sie abgedr. in Empfehlungen und Gutachten, S. 929-933. Zusammen mit dem soeben erwähnten »Gutachten« ist sie nach ebd., S. 948-950, auch in der ZDv 11/1 publiziert. 533 Erich Weniger (1894-1961), Dr. phil., Pädagoge, als Kriegsfreiwilliger Teilnahme am Ersten Weltkrieg, zuletzt Leutnant, nach Studium und Habilitation Professur an der Pädagogischen Akademie in Kiel, dann Leitung der Pädagogischen Akademie in Altona, anschließend Leitung der Pädagogischen Akademie in Frankfurt a.M., 1933 Versetzung in den Schuldienst aus politischen Gründen, nach ausgedehnten Reserveübungen in der

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mit ihnen befassten Bundestagsabgeordneten nach dem Urteil Baudissins dermaßen »beruhigend und werbend gewirkt«, dass er gegen die Bitte von Schmückle zunächst keinesfalls auf die vorgesehene gemeinsame Veröffentlichung zugunsten einer rascheren Herausgabe der Vorschrift verzichten wollte534. Was allerdings die Akzeptanz der »Leitsätze« in Parlament und Öffentlichkeit erhöhen mochte, musste sich im Hause nicht notwendig gleichermaßen vorteilhaft auswirken. Denn als sich augenscheinlich dann doch die von Schmückle befürchteten Widerstände gegen die vorgesehene Zusammenführung in einer Publikation regten - so musste Baudissin Ende Januar 1957 feststellen, dass die seit dem 1. Dezember 1956 auf dem Wege zum Minister befindlichen »Leitsätze«, in denen auf »Gutachten und Empfehlung [...] als [der Vorschrift bereits beigegebene] Anlagen« hingewiesen worden war, im Ministerbüro in Verlust geraten waren 535 - , fand sich der Graf notgedrungen zu einem Kompromiss bereit: Nachdem sich die Herausgabe der Vorschrift nun schon verzögert hatte, erreichte Baudissin dann Mitte Februar die Frage von Bucksch, »ob die Erziehungsleitsätze auch ohne das Gutachten des deutschen [sie!] Ausschusses herausgehen könnten«? Wenn auch die Begründung, »letzteres sei nicht mehr rechtzeitig in genügender Anzahl zu beschaffen«, den Verdacht eines Vorwandes aufkommen lassen musste, riet Baudissin jetzt »zu sofortiger Ausgabe [zusammen] mit dem Hinweis auf die enge Zusammenarbeit mit dem Ausschuss«536. Dieser Hinweis fand sich dann auch als Absichtserklärung, die Beiträge des >Deutschen Ausschusses< beifügen zu wollen, in dem im September 1957 herausgegebenen »Handbuch Innere Führung«, das die »Leitsätze« in nahezu wortgleicher Fassung des Vorschriftenentwurfs vom Januar 1957 veröffentlichte 537 . Immerhin aber war die »Empfehlung« längst schon im

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Wehrmacht 1939 Einberufung zum Kriegsdienst (hauptsächlich befasst mit der pädagogischen Bildung). Nach Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1945 Leitung der Pädagogischen Hochschule in Göttingen, 1949 Professur an der Universität Göttingen, ab 1953 Mitglied im >Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und BildungswesenBeirat für Fragen der inneren Führung der Bundeswehr* berufen; Angaben nach Hartmann, Erich Weniger, S. 193-197. Vgl. vorstehende Anm. 532 und Hartmarai, Erich Wenigere Militärpädagogik, S. 16-42. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 98, 100, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 14. (Zitat) und 17.9.1956. Ebd., 717/8, fol. 56, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 24.1.1957. Der dem Minister zugeleitete Entwurf zur Z.Dv. 11/1 »Leitsätze für die Erziehung des Soldaten«, Januar 1957, findet sich in BA-MA, [ohne Signatur], Fü S I 3, Az.: 35-08-07 [Entwurf zum »Handbuch Innere Führung« - 1957 und zugehöriger Schriftverkehr], Zitat dort auf dem letzten, als »Vorbemerkung zu den Anlagen« gekennzeichneten Blatt. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 91, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 12.2.1957. Die »Leitsätze« sind unter dem Titel »Leitsätze für Menschenführer: Erziehung des Soldaten« abgedr. im Handbuch Innere Führung - 1957, S. 89-95. Der einzige substanzielle Unterschied der dort veröffentlichten »Leitsätze« zu der auf den Januar 1957 datierten Entwurfsfassung findet sich in Leitsatz Nr. 5, in dem die hergebrachten Vorstellungen verpflichtete Wendung des Entwurfs »Entschlossenheit zur Wehr« ersetzt wurde durch eine Formulierung, mit welcher der grundgesetzlichen Festlegung auf den bloßen Verteidigungszweck eindeutiger Rechnung getragen wurde: »Entschlossenheit zur Verteidigung«; vgl. ebd., S. 91, mit Entwurf zur Z.Dv. 11/1 »Leitsätze für die Erziehung des Soldaten«,

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ersten Heft 1/1956 der »Information für die Truppe« auf Anregung von Baudissin publiziert worden 538 . Der programmatische Charakter der Vorschrift wie auch die jedenfalls nicht auf vorbehaltlose Aufnahme hindeutenden Umstände ihrer Entstehung und Veröffentlichung legen es nahe, gerade bei den »Leitsätze[n]« nach einer möglichen Weiterentwicklung jenes Nebeneinanders der beiden Vermittlungsmodelle zwischen Soldat und Bürger zu fragen, das sich in der Schrift »Vom künftigen deutschen Soldaten« hat antreffen lassen. Zwangsläufig geraten dabei einschlägige Vorgaben der Wehrmacht, aber auch die vom >Deutschen Ausschuß< verabschiedete »Empfehlung aus Anlaß des Aufbaus der Bundeswehr« in das Blickfeld. Wie zuvor die Schrift von 1955, so waren auch die »Leitsätze« darum bemüht, die kämpferischen Eigenschaften des Wehrmachtsoldaten als Teil des für die Angehörigen der westdeutschen Streitkräfte geltenden Leitbildes zu erhalten. Nicht von ungefähr wirken daher die für die Bundeswehr verfassten »Leitsätze« über weite Strecken als Paraphrase der »Leitsätze« etwa von 1938539. Schon der viergliedrige Aufbau lässt an eine Entlehnung denken: Wie bereits 1938 folgt auf eine die Erziehungsaufgabe begründende einleitende Erklärung der Abschnitt über die »Ziele der Erziehung«, sodann der über den »Vorgesetzte[n] als Erzieher«, schließlich die Beschreibung der »Wege der Erziehung«540. Vollends deutlich wird die Vorlage bei der Betrachtung einzelner Formulierungen. Was die zu fördernden Eigenschaften des Soldaten anlangt, ist 1957 wie 1938 die Rede von »Willenskraft«, »Pflichtbewußtsein« und »Manneszucht«; wie ehedem werden »gegenseitiges Vertrauen zwischen Führern und Geführten« ebenso beschworen wie »[entschlossenes Handeln« als »das erste Erfordernis im Kriege« hervorgehoben. Wo nicht wörtlich übernommen, da scheint die Vorlage immer noch in der engen Anlehnung auf. Die damals geforderte »Härte« erscheint nunmehr in der Formel, dass der »Soldat [...] widerstandsfähig und spannkräftig, entbehrungsbereit und hart gegen sich selbst sein« müsse, und aus der früher verlangten »Bescheidenheit« ist die an die Soldaten der Bundeswehr gerichtete Forderung geworden, »bescheidenes Zurückstehen seiner Person hinter der Sache« zu üben. Nahezu wortgleich wurde un-

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Januar 1957, BA-MA, [ohne Signatur], Fü S I 3, Az.: 35-08-07 [Entwurf z u m »Handbuch Innere Führung« - 1957 u n d zugehöriger Schriftverkehr], dort S. 2 der »Leitsätze«. Vom Druckstück »Gutachten und Empfehlung« hieß es im Handbuch Innere Führung - 1957, S. 95: »Sie werden daher der [bereits erschienenen] ZDv. 11/1 [...] als Anlagen beigegeben.« BA-MA, BW 2/1511, Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- u n d Bildungswesen, Sekretär, an Baudissin, 16.7.1956, darauf hdschr. Vfg. Baudissin für Will, 20.7.1957. Der Abdruck erfolgte in Information für die Truppe, 1 (1956), 1, S. 28-32. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Leitsätze für die Erziehung u n d Ausbildung im Heere. In: Ausbildungsvorschrift für die Panzertruppe - H.Dv. 470/1 vom 2.10.1938, Berlin 1938, S. 7-26. Aufgrund der leichteren Erreichbarkeit werden in der Folge die für die Bundeswehr geltenden »Leitsätze« nach dem Abdruck im Handbuch Innere Führung u n d die »Empfehlung« des >Deutschen Ausschusses< nach dem Abdruck in der Information für die Truppe zitiert. Handbuch Innere Führung - 1957, S. 91-93; vgl. dazu Der Oberbefehlshaber des Heeres, Leitsätze für die Erziehung, S. 7,10 f.: »Einleitung« - »Ziele der Erziehung« - »Träger der Erziehung« - »Mittel der Erziehung«.

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ter »Kameradschaft« auch die Aufforderung begriffen, die Schwächen des weniger Leistungsfähigen auszugleichen, und der militärische Führer daran erinnert, dass »die Selbständigkeit nicht zur Willkür werden, Besserwissen den Gehorsam nicht gefährden« dürfe. Als Leitbild wurde hier wie dort ein Kämpfer umrissen, der »[v]om jüngsten Soldaten aufwärts [...] überall« im Sinne des Auftrages selbstständig trotz Gefahr als Teil seiner Truppe funktionsgerecht zu handeln verstand541. Wie ehedem - nur in anderer Reihenfolge - war der Offizier der »Führer, Ausbilder und Erzieher« der Soldaten, der mit ihnen »Gefahr und Entbehrung, Freud und Leid teilen«, der »den Weg zum Herzen seiner Soldaten finden« und der durch »Unteroffiziere und bewährte Mannschaften« unterstützt werden solle542. Mit solchen Ubernahmen unterschieden sich die »Leitsätze« von 1957 zunächst nicht von den Zielvorstellungen der Schrift von 1955, die gleichermaßen um den >harten< Soldaten kreisten, der auf unübersichtlichem Gefechtsfeld auch ohne Aufsicht, also auf sich allein gestellt oder im Verbund seiner Teileinheit oder Einheit >selbstständig< und auftragsgerecht agierte. Selbst noch die in der Literatur als Ausdruck eines >bildungsoptimistischen< Auftaktes zuweilen begrüßte grundlegende Erklärung, »[s]ittliche, geistige und seelische Kräfte bestimm[t]en, mehr noch als fachliches Können, den Wert des Soldaten in Frieden und Krieg«, fand sich in ähnlicher Form schon früher in der Wendung, dass »[n]eben der körperlichen und militärischen Ausbildung [...] die sittlichen und seelischen Kräfte des Soldaten seinen Wert im Kriege« bedingten543. Hierbei sind neben den Parallelen indessen auch die wesentlichen Unterschiede zwischen der Wehrmacht- und der Bundeswehrvorschrift nicht zu übersehen: 1957 waren die >geistigen< Kräfte und der Zustand des Friedens hinzugefügt worden. Und obschon für die »soldatische Erziehung« des westdeutschen Soldaten noch galt, sie finde ihre »stärkste Bewährung [...] im Kampf«, was sich als Umschreibung der früheren Maßgabe auffassen lassen mochte, »Richtschnur« für die Erziehungsarbeit »bilde[te]n die Forderungen, die der Krieg« stelle544, standen die »Leitsätze« der Bundeswehr unter einem fundamental anderen Vorzeichen als die der Wehrmacht. Denn an der den militärischen Erziehungsanspruch begründenden Stelle war der allein das Kollektiv gelten lassende »bedingungslos[e] Einsatz für das Lebensrecht und den Lebensraum der Nation« ersetzt worden durch die Ausrichtung an »Frieden und Freiheit des deutschen Volkes«. In Ubereinstimmung mit der normativen Grundentscheidung des Grundgesetzes wie des Soldatengesetzes sollte der Soldat der Bundeswehr »gemeinschaftlich mit den Soldaten der freien Welt die auf dem 541

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Handbuch Innere Führung - 1957, S. 91 Leitsätze für die Erziehung, S. 7-10. Handbuch Innere Führung - 1957, S. 92 Leitsätze für die Erziehung, S. 9 f. Handbuch Innere Führung - 1957, S. 91; die Erziehung, S. 7; zur Bewertung in der Handbuch Innere Führung - 1957, S. 91; die Erziehung, S. 7.

f.; vgl. dazu Der Oberbefehlshaber des Heeres, f.; vgl. dazu Der Oberbefehlshaber des Heeres, Der Oberbefehlshaber des Heeres, Leitsätze für Literatur siehe Bald, Graf Baudissin, S. 36 f. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Leitsätze für

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Recht begründeten Lebensordnungen« schützen. Der im Vergleich zu 1938 gänzlich andere Tenor fand sich dann auch in der Aussage, dass »[richtige Erziehung [...] rechtliches Denken und Achtung vor der Ehre und Würde des Menschen« wecke und wahre - wenngleich in diesem Zusammenhang auch die Verankerung »in der Ehrfurcht vor Leistungen und Leiden der Vergangenheit und in der Liebe zu Heimat und Vaterland« beschworen wurde. Wer wollte, der konnte in diesen Erklärungen eine eindeutigere Neubestimmung des Ortes des Soldaten lesen als in den entsprechenden Ausführungen der Schrift von 1955. Denn obwohl die »Leitsätze« damit ähnlich wie die »Vom künftigen deutschen Soldaten« handelnde Broschüre an Kollektive appellierten, erschienen diese nunmehr deutlicher als noch vor zwei Jahren zurückgebunden in den Zusammenhang einer ihnen noch vorausliegenden Orientierung an >Freiheit< und >Rechtzwingeunerbittliche Härte< und als Offizier in allem sich als »das Vorbild« seiner Unterstellten beweisen könne, 545

Der Oberbefehlshaber des Heeres, Leitsätze für die Erziehung, S. 7. In der Veröffentlichung z u m »künftigen deutschen Soldaten« haben die erwähnten Kollektive stellenweise einen nur mittelbaren Bezug zu Freiheit und Recht; vgl. Vom künftigen deutschen Soldaten, S. 11: »Niemand erwartet von den neuen Soldaten Hurrapatriotismus oder Kreuzzugsideen. Dies ist nicht der Sinn der Wiederbewaffnung. Erwartet wird nur die feste Entschlossenheit, zu verteidigen, was Generationen vor uns geschaffen haben [!] und was wir mühselig in den letzten Jahren wieder aufgebaut haben. Liebe zu Vaterland und Heimat, der Glaube an eine europäische Zukunft werden der Jugend die Kraft dazu geben.« Demgegenüber werden in den >Leitsätzen< von 1957 die Berufungen auf das Kollektiv regelmäßig dem Kontext von Freiheit und Recht ein- und nachgeordnet - Handbuch Innere Führung - 1957, S. 91: »1. Die Bundeswehr schützt Frieden und Freiheit des deutschen Volkes. Sie sichert gemeinschaftlich mit den Soldaten der freien Welt die auf dem Recht begründeten Lebensordnungen, die der europäische Geist seit Jahrhunderten formt. In diesem Auftrag soll der deutsche Soldat dienen, u m seine Familie, sein Volk und seine Heimat vor Unfreiheit und Unrecht zu bewahren [...] 3. Richtige Erziehung weckt und wahrt rechtliches Denken und Achtung vor der Ehre und W ü r d e des Menschen. Sie fordert Wahrhaftigkeit und stärkt das Gewissen. Sie wurzelt in der Ehrfurcht vor Leistungen und Leiden der Vergangenheit und in der Liebe zu Heimat und Vaterland.«

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Handbuch Innere Führung - 1957, S. 91; Der Oberbefehlshaber des Heeres, Leitsätze für die Erziehung, S. 8 f.

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sondern er wurde als der sich seiner eigenen Grenzen bewusste, gebildete, verlässliche Vorgesetzte vorgestellt, der sich redlich um seine Untergebenen bemühte und von sich selbst mehr als von diesen verlangte. Ganz in Ubereinstimmung mit dem Soldatengesetz wurde ihm zwar noch das »Beispiel«, nicht aber mehr das >Vorbild< zugedacht 547 . Auch hier lässt sich eine in Grenzen klärende Fortschreibung der 1955 eingenommenen Position ausmachen. Die in den »Leitsätze[n]« getroffene Feststellung: »[d]er Soldat ist Staatsbürger« schloss die zwei Jahre zuvor noch angeklungene Möglichkeit eines von dieser Aussage absehenden Umgangs mit ihm aus. In diesem Sinne haben die den »Leitsätze[n]« beigegebenen >Erläuterungenmateriellen< Streben der Jüngeren auch den »realistischen Sinn [für] den Wert des Geldes« oder »nicht anders als bei den Alten« - das durchaus anzuerkennende Verlangen »nach gesteigertem Lebensstandard« zu entdecken. Gleichermaßen positiv wurde auch ihre >nüchtern-sachliche< Grundeinstellung vermerkt. Immerhin fände man »junge Menschen, die zu Freiheit und Demokratie in einem weit klareren Verhältnis [...] als die meisten der Älteren« stünden 549 . Indem solche wenn auch von Widersprüchen nicht freie - Werbung für die Akzeptanz eines abweichenden Verhaltens der künftigen jungen Soldaten sich auf deren Perspektive einzulassen bemühte, signalisierte der Kommentar im Anschluss an die »Leitsätze« eine Akzentverlagerung zugunsten der >freiheitlichen< und zulasten der konservativen Interpretation des Staatsbürgers in Uniform. Deutlich ausgeprägte Unterschiede zwischen den Ausführungen von 1938 und 1957 fanden sich schließlich in dem Abschnitt zu den »Wege[n] der Erziehung«. Zuvor waren die »Forderungen des Krieges« der alleinige Maßstab, bildeten »Lebensweise und Umwelt des Soldaten« die ausschließliche »Grundlage«. Das »Vorbild des Erziehers« wurde - bis hin zum »Vorsterben« - zum M7

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Der Oberbefehlshaber des Heeres, Leitsätze für die Erziehung, S. 9 f.; Handbuch Innere Führung - 1957, S. 92 f. »Erläuterung der Leitsätze: Verantwortung weitergeben«, abgedr. in Handbuch Innere Führung - 1957, S. 97-123. Handbuch Innere Führung - 1957, S. 102-107, 110; auch S. 119: »Niemals darf [der Vorgesetzte] den Soldaten als Mittel z u m Zweck betrachten und behandeln. Die Würde des Menschen hat noch im Geringsten Anspruch auf Achtung und Ehre.«

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»wichtigsten] Erziehungsmittel« erhoben, und im Übrigen wurden fördernde und sanktionierende Eingriffe, »Lob« wie »Tadel«, als gleichrangige Maßnahmen ausgegeben. Selbst der Sport wurde nur als Vorübung des Krieges begriffen - er fördere »die Entwicklung der kämpferischen Persönlichkeit« und im »Soldaten das Männliche und Starke«550. Hierzu nahmen sich die »Leitsätze« der Bundeswehr geradezu als Kontrastprogramm aus: So sehr am Sport der »Wettkampf«, der Anreiz zu Selbstüberwindung und Selbstdisziplin, die Förderung des Mannschaftsgeistes hervorgehoben wurden, ihm eignete nun auch die Erziehung zur »Fairness«, und vor allem galt: Er dürfe den »Charakter des Spiels [...] nicht verlieren«, er wirke »entspannend«, und er »locker[e] den Ernst des Dienstes«. Hilfe, Förderung und Ermutigung waren - bei gleichzeitiger selbstkritischer Berücksichtigung der Möglichkeit eigenen Fehlverhaltens - die ersten Mittel der Wahl, wie generell »mit dem guten Willen und der Leistungsfreude der Soldaten gerechnet werden« solle. Selbstvertrauen und Selbstständigkeit sollten gefördert und immer wieder der Weg über die Einsicht des Untergebenen gesucht werden. Und an die Stelle des früher ausschließlichen Bezugsrahmens der bloß militärischen Umwelt war nun die gleichgewichtige Einbeziehung der zivilen Seite getreten: Nicht nur galt es, neben der »soldatischen Überlieferung« auch »die Erkenntnisse der allgemeinen Erziehungslehre« zu berücksichtigen, sondern gefordert wurde auch, »[w]o immer angängig [...] an Werte, Erlebnisse und Erfahrungen anzuknüpfen, die der einzelne Soldat aus Elternhaus, Schule und Beruf« mitbringe551. Wieder schien die Perspektive des in seinem Selbstvertrauen und in seinem Selbstwertgefühl zu bestärkenden jungen Staatsbürgers in Uniform auf, als der Kommentar der »Leitsätze« unter Verweis auf die bereits im Dezember 1955 herausgegebene ZDv 3/1 - »Methodik der Ausbildung« - »Lehrgespräch, Selbstarbeit [bzw. >Gruppenselbstarbeitfreiheitlichen< Vermittlung zwischen dem Bürger der Bundesrepublik und dem >harten Kämpfer< der Wehrmacht, was durch die beschriebenen Erziehungswege noch unterstrichen wurde. Insofern enthielten sie ein entschiedeneres Plädoyer für diese Vermittlungsvariante als die Schrift von 1955. Allerdings konnten die »Leitsätze« dabei augenscheinlich nicht auf ein Pathos verzichten, mit dem das Soldatische dann doch wieder überhöht wurde. So war die Rede davon, dass »[a]lle Soldaten - von der kleinen Gruppe bis zum großen Verband - [...] erfüllt sein [müssen] von den sittlichen Grundsätzen des freien Gemeinwesens, zu dessen Schutz sie berufen« seien. »Jeder Vorgesetzte« solle überdies »Sinn und Würde des soldatischen Auftrags« verstanden haben. Die »Leitsätze« liefen schließlich - so konnte man deren Anordnung und Aufbau immerhin entnehmen - auf die am Ende stehende Mahnung zu, dass »Liebe aus Gottesfurcht« erwachse. Diese Sprache, die dann noch neben Sätzen zu lesen war, in denen biedere Einsicht die Feder geführt haben mochte - »Phrasen machen unglaubwürdig, Ironie verletzt, Humor weckt Widerhall, Herzlichkeit verbindet« - , konnte einem konservativen, weil den militärischen Dienst der Sphäre des Nüchternen entrückenden Verständnis Vorschub leisten555. Hier mag neben dem Beweggrund politischer Opportunität auch ein inhaltliches Motiv dafür gelegen haben, dass Baudissin so sehr an einer Verbindung der »Leitsätze« mit der »Empfehlung« des >Deutschen Ausschusses< lag. Obwohl der Graf das den Tenor der »Leitsätze« treffende und als Vorlage zu der abgedruckten »Erläuterung« dienende Manuskript Wangenheims für den Einweisungslehrgang in Sonthofen, das in bezeichnender Weise mit der Erinnerung an die »Gottesfurcht« schloss, mit dem Vermerk »sehr einverstanden« aufnahm 556 , vertraute er seinem Tagebuch doch die »Auffassung [an], dass die Gottesfurcht besser herausgeblieben wäre«. Der Vermerk, mit dem er die Publikation der »Empfehlung« des >Deutschen Ausschusses< initiierte - »ausserdem könn[t]en wir die Dinge nicht besser sagen« galt demgegenüber offensichtlich uneingeschränkt 557 .

555 556

557

Schüler etwas nicht verstanden [...], so hat er sich sofort zu melden. Gemeldet wird durch kurzes Aufrichten des Oberkörpers.« Zitate H a n d b u c h Innere Führung - 1957, S. 92 f., 95. BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/3b, Ms Oberst Freiherr von Wangenheim: Erziehung des Soldaten - Erläuterung der >Leitsätze für die Erziehung des SoldatenDeutsche Ausschuß< mit seiner »Empfehlung« zum Anwalt konkreter Interessen des einzelnen jungen Soldaten. Weitgehend frei von überhöhendem Pathos stellte er gleich zu Anfang klar, dass »die gesellschaftlichen und politischen Ordnungen« um des Einzelnen willen eingerichtet seien. Sie müssten sich »des von der wehrfähigen Jugend geforderten Einsatzes wert« erweisen. Der die Entfaltungsmöglichkeiten jedes Einzelnen zum Ausgang nehmende Ansatz sah in der Sorge für »die besten erreichbaren Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten [...] zugleich die beste Vorbereitung auf den Waffendienst«. Anders ausgedrückt, geriete es dem Verteidigungsanliegen selbst zum Nachteil, falls die geforderten zusätzlichen Gelder für Bildung, Erziehung und Ausbildung der jungen Generation »zugunsten der Aufwendungen für die Bundeswehr« versagt würden558. Dieser Appell überstieg zwar den Kompetenzbereich der Bundeswehr und war an die politischen Entscheidungsträger der Republik gerichtet, mit seinen an Grundsätzliches, nämlich an die Staatszielbestimmung rührenden Herleitungen ließ er dabei aber umso deutlicher den mehr nur instrumentellen Charakter nicht nur der Streitkräfte, sondern darüber hinaus auch des Staates hervortreten. Die daraus abzuleitenden Konsequenzen für das Militär entsprachen dann auch ganz dem Modell des auch seiner eigenen Freiheit wegen dienenden Soldaten. Grundlegend für das Verständnis aller >Erziehung< in den Streitkräften sei die »Tatsache«, dass sie sich als Einflussnahme von »Erwachsene[n] auf Erwachsene« vollziehe. Schon der Umstand, dass das Wort >Erziehung< hierbei in Anführungszeichen gesetzt wurde, zeigte die Distanzierung von jedweder Art vormundschaftlicher Einwirkung an, und entsprechend der Baudissinschen Vorstellung von Partnerschaft ging Führung hier in einem Verhältnis zwischen Mündigen auf. Dies bedeutete für das Führungspersonal, dass angesichts der dem Militärdienst vorausgelegenen, »auf freiheitliche und demokratische Lebensführung gerichtete[n] Erziehung und Bildung« Vorgesetzte »ohne politische Bildung [ihren] Führungsaufgaben auch auf militärischem Gebiet nicht gewachsen« seien559. Ohne auf das der Reformkonzeption des Grafen zugrunde liegende Kriegsbild einzugehen, bekannte sich auch der >Deutsche Ausschuß< zu der Maxime einer »soldatischen Tüchtigkeit«, deren Grundlage die durch »Selbsterziehung« gewonnene Disziplin aus »Einsicht« desjenigen sei, der sich auch in der Truppe in seiner Persönlichkeit geachtet wisse. Die hierin aufschei-

558 559

Mitglied im >Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen< war der mit Baudissin in Vielem übereinstimmende Erich Weniger an beiden Texten beteiligt, was sich nicht zuletzt in der Hervorhebung von indirekter Erziehung durch die vom Vorgesetzten zu schaffenden Umstände und Selbsterziehung durch die bereits erwachsenen Soldaten spiegelte. Vgl. hierzu wie zu weiteren Überschneidungen seiner Militärpädagogik mit der Konzeption Baudissins, wie sie mit der Bedeutung der politischen Bildung, der Korrespondenz von Freiheit und Verantwortung, der Vereinbarkeit von »Demokratisierungspostulat« und »Kriegsorientierung« im Hinblick auf das initiative Handeln des Soldaten im Rahmen kleiner Kampfgemeinschaften gegeben waren, Hartmann, Erich Wenigere Militärpädagogik, S. 2 8 - 4 2 , Zitat S. 39. Information für die Truppe, 1 (1956), 1, S. 28. Ebd., S. 28 f.

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nende weitestmögliche Annäherung der militärischen Sphäre an die Strukturen einer freiheitlichen Ordnung brachte der Ausschuss sodann auch mit seiner Absage an jedwede >wehrgeistige< Vorbereitung oder >vormilitärische< Übung der Jugend zum Ausdruck. Als Bedingung für die Pflege »soldatischer Tradition« galt ihm deren Vereinbarkeit mit »Geist und Form der freiheitlichen Einrichtungen«. Dass der »Soldat auch während seiner Dienstzeit Bürger« sei, äußerte sich nach dem Plädoyer des Ausschusses nicht nur in der selbstverständlichen Gewährung staatsbürgerlicher Rechte, sondern eben auch in der sich nicht zuletzt im dienstlichen Alltag vollziehenden »politischen Bildung des Soldaten«560. Grußordnung Solche von Baudissin wohl nur zu gern begrüßte Stellungnahme des »Deutschen Ausschusses< und deren Veröffentlichung in der amtlichen Charakter tragenden »Information für die Truppe« leisteten der in den >Leitsätzen< der ZDv. 11/1 erkennbaren stärkeren Akzentuierung der >freiheitlichem Vermittlungsvariante zwischen Bürger und Soldat auf programmatischer Ebene nachdrücklich Vorschub. Aber wie war es um deren konkrete Umsetzung in den soeben erwähnten Alltagsbetrieb bestellt? Als eine auf den täglichen Umgang sich nachhaltig auswirkende Vorschrift begegnete dem Soldaten bereits recht früh - die erste Fassung stammte vom Dezember 1955, ergänzende Erlasse folgten 1956, 1958 und 1959 - die »Zentrale Dienstvorschrift Gruß und Anrede« (Z.Dv. 10/4), die als Vorläufervorschrift mit Ausnahme des die »Anrede« betreffenden Abschnittes bis 1964 gelten sollte561. Augenscheinlich war sie so bedeutsam wie umstritten. Was sich mit ihr (und mit den ihr verwandten, indes nicht in dem Maße in das alltägliche Dienstgeschehen eingreifenden Vorschriften zum Formaldienst wie zum Zeremoniell) verband, konnte nach einer Beobachtung in der Literatur im ersten Jahr der Bundeswehr für noch lange nicht befriedigend gelöst und so als Einfallstor rückwärtsgewandter Bestrebungen gehalten werden562. Immerhin war auch für die Parlamentarier des Sicherheits- bzw. Verteidigungsausschusses der von der Z.Dv. 10/4 erfasste Regelungsgegenstand wichtig genug, dass sie - wie oben erwähnt563 - in ihrer Einführung zum Soldatengesetz eigens auf eine möglichst restriktive Fassung der Grußpflicht drangen. Das besondere Augenmerk kam nicht von ungefähr, hatten sie sich doch noch lange vor den Beratungen dieses Gesetzes mit diesem Thema in einer gesonderten Sitzung befasst564. Schließ560 561

562 563 564

Ebd., S. 29 f. BA-MA, BW 2/11886, BMVtdg Fü Β I 3, Z.Dv. 10/4 »Gruß und Anrede«, 3. Entwurf September 1964, Deckblatt 2, dort Außerkraftsetzungsvermerk der Vorläufervorschrift vom Dezember 1955 und der Erlasse vom 25.5. und vom September (?) 1956 (VMB1. 1956, S. 5, 26); sodann ebd., BMVtdg Fü Β I 3, Anlage zu ZDv 10/4 vom 13.8.1958 und ebd., BMVtdg Fü Β 13, >Gruß ohne Kopfbedeckung< vom 8.1.1959. Zur Verbindlichkeit der Grußordnung vgl. auch Brandt/Reibert, Der Dienstunterricht im Heere, S. 8 9 - 9 4 . Vgl. Α WS, Bd 3, S. 968 f. (Beitrag Meyer). Siehe Kap. III, Anm. 270. Vgl. BA-MA, BW 1/54935, 2. Wahlperiode, 6. Ausschuß, Kurzprotokoll der 36. Sitzung, 30.3.1955, S. 5 - 7 ; BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/5, fol. 156, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 29.12.1955; ebd., 717/8, fol. 44, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.1.1957.

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lieh legen die Eintragungen in Baudissins Tagebuch wie keine zweite Quelle beredtes Zeugnis ab, einmal von dem Stellenwert, den diese Regelung des Umgangs der Soldaten untereinander offensichtlich genoss, und sodann von dem darüber geführten Streit. Unter dem 30. November 1955 vermerkte Baudissin, dass Heusinger das Thema »Gruss ohne Kopfdeckung [...] [s]ogar mit [dem General (U.S. Army) Alfred M.] Gruent[h]er«, dem damaligen SACEUR, besprochen habe565. Kaum einen Monat später soll de Maiziere von einer Sitzung des Militärischen Führungsrates berichtet haben, in der »das Problem der Anrede diskutiert worden [sei]. Die Generale hätten sich energisch dagegen verwahrt, dass innerhalb der Ranggruppen der nicht direkte Vorgesetzte mit Herr und Namen angeredet wird. Es sei unmöglich, dass ein Major einen Oberst nicht mit Dienstgrad anrede. Speidel habe auch scharf gegen die bisherige Regelung des Grüssens und des Vorgesetztenverhältnisses opponiert. Er habe sich auf derartige Dinge nicht eingelassen und halte sie nicht für bindend566.« Ein Vierteljahr nach dem Erlassdatum der Vorschrift sah sich Baudissin auf eine Rückfrage von Kusserow zu einer Detailregelung bezüglich des »Gruss[es] ohne Kopfbedeckung« veranlasst, diesen nämlich »durch Nicken ausführen zu lassen«567. Im Sommer beschäftigten ihn wiederum »die Sorgen Heusingers über die Grussordnung«568. Offenkundig galt es dem General im Sinne der »wohl überlegnen] [sie! Vermutlich gemeint: wohlüberlegten] und vom Parlament gebilligten]« Bestimmungen den Rücken zu stärken gegen die »Bedenken der Truppe«, welche »der Fremdheit dem Ungewohnten gegenüber und der Unkenntnis unserer Beweggründe« zuzuschreiben seien569. Auch in der Folgezeit rissen die Eintragungen, die von Widerständen aus der Truppe, aus dem Hause, selbst aus der eigenen Unterabteilung und von der sehr zögerlichen, halbherzigen, stellenweise dann ganz ausbleibenden Unterstützung Heusingers berichteten, nicht ab. Im September 1956 hieß es missbilligend von der Ausbildungseinrichtung der Luftwaffe in Uetersen, dort gelte »die Grusspflicht [...] wieder zu jeder Gelegenheit und in beliebiger Häufigkeit«570. Ende Oktober hielt Baudissin eine Mitteilung Schmückles fest, Oberst Bern von Baer, Chef des Stabes der Abteilung >HeerHeerPräsentierens< und des >Heraustretens der Wache< als Ehrenbezeugung geriet nun das Thema der »Handhaltung< zu einer Art Prüfstein für die Loyalität Heusingers gegenüber seinem Unterabteilungsleiter. Hatte der General dem Grafen sein Einverständnis mit der vorgeschlagenen »Grussordnung und Anrede« signalisiert573, so kamen Baudissin angesichts eines Heusinger zugeschriebenen Wohlwollens gegenüber dem vorschriftswidrigen Aufgreifen vormaliger Praktiken doch Zweifel zumindest an dem in diesen Angelegenheiten gegebenen Durchsetzungswillen seines Vorgesetzten. Die Mitteilung eines Bataillonskommandeurs, seine Truppe beherrsche die Präsentiergriffe »bis zum letzten Mann«, habe Heusinger mit »aufmunternd[em]Heraustreten< militärischer Wachen zur Erweisung militärischer Ehren« dann auch ausdrücklich verboten wurde, erst im August 1958 herausgegeben worden577. Noch nicht einmal innerhalb der eigenen Unterabteilung glaubte sich Baudissin von dem zuständigen Referenten, dem Oberstleutnant Hans Tänzler578, angemessen unterstützt579. Den in diesem Zusammenhang augenscheinlich verlässlichsten Parteigänger meinte er hingegen in Schmückle gefunden zu haben, wenngleich er auch den Zuspruch des Vizeadmirals Friedrich Rüge, immerhin eines Inspekteurs, dankbar registrierte580. Die Beobachtung, dass die spätestens im Frühjahr 1956 bereits verteilte Vorschrift581 auf einen offensichtlich verbreiteten Widerwillen stieß, dass immer neue Anregungen sie in Frage stellten582, dass noch 1958 sogar der Minister in einem Erlass ältere Praktiken ausdrücklich verbieten und auf den ersten Blick doch alles andere als wesentliche Neuerungen unterstreichen musste, braucht 577

Siehe BMVtdg Fü Β 13, »Handhaltung in der Grundstellung, Gruß ohne Kopfbedeckung, Antreten militärischer Wachen vor Vorgesetzten«, 13.8.1958, BA-MA, BW 2/3955, BMVtdg Fü Β I, Sammelband Innere Führung z u m Handgebrauch des Kommandeurs; auch in BAMA, BW 2/11886. Vgl. auch Text u n d Abbildungen in Der Dienstunterricht im Heere. Ausgabe für den Kanonier, S. 72-74, 94-99, mit Brand t/Reibert, Der Dienstunterricht im Heere, S. 130. 578 Der 1912 geborene Hans Tänzler war 1934 in die Reichswehr eingetreten. Bis Kriegsende war er z u m Major aufgestiegen u n d u.a. im Heerespersonalamt verwendet worden. Nach dem Kriege arbeitete er als »Schul- u n d Jugendfunkredakteur«. 1952 trat er in die Dienststelle Blank ein, betreute dort zunächst in Paris im Interimsausschuss das Sachgebiet Innere Führung u n d war nach der Rückkehr nach Bonn unter Baudissin für die Fragen der Soldatischen Ordnung< zuständig. Der von Blank unter dem 14.11.1955 in Kraft gesetzte »vorläufige Organisationsplan« des Verteidigungsministeriums führte ihn mit Stichtag 22.11.1955 bereits im Dienstgrad Oberstleutnant als Referent IV Β 1: >Soldatische Ordnung, Disziplin u. Rechtnach Dienst< - hier verfügten nur mehr die Disziplinarvorgesetzten über die Vorgesetzteneigenschaft - den lediglich >im Dienst< Befehlsbefugten die Ehrung durch den pflichtgemäßen Gruß einräumte. Die Grußpflicht der Bundeswehr blieb mithin im Grundsatz auf den überschaubaren funktionalen Zusammenhang der Einheit beschränkt und schrieb auch dem jüngsten Soldaten nicht vor, etwa den Stabsoffizier, der ein in derselben Kaserne untergebrachtes fremdes Regiment kommandierte, im Regelfall zu grüßen. Ganz anders waren dagegen noch die Bestimmungen der Wehrmacht ausgefallen, die dem Soldaten die >Ehrenbezeigung< gegenüber »allen Vorgesetzten in Uniform, einschließlich entsprechenden Angehörigen der Landespolizei sowie entsprechenden ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht, des alten Heeres und der 583

584

585

Vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g nur die einschlägigen Abschnitte in Der Dienstunterricht im Heere. Ausgabe für den Kanonier, S. 1 9 6 - 2 0 4 , mit den entsprechenden Ausführungen in Brandt/Reibert, Der Dienstunterricht im Heere, S. 1 3 0 - 1 3 9 . B A - M A , B W 2/11886, BMVtdg IV-IV Β 1, Z.Dv. 10/4 »»Grußordnung«, 23.12.1955, S. 1 f.; vgl. auch Brandt/Reibert, Der Dienstunterricht im Heere, S. 90. Damit befand sich die in der Dienststelle Blank entwickelte Planung in konzeptioneller Ubereinstimmung mit der Auffassung der mit den Fragen der »Soldatischen Ordnung< befassten Bundestagsabgeordneten. Vgl. BA-MA, B W 2/11888, Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit - Arbeitsgruppe I - , Bericht an den Vorsitzenden des Ausschusses, Richard Jaeger, 14.10.1954, S. 15: »Bezüglich der Grußpflicht stimmt die Arbeitsgruppe mit der Dienststelle Blank darin überein, daß die Grußpflicht aus der Natur des Vorgesetztenverhältnisses zu entwickeln ist.« - Hervorhebung im Original.

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alten Marine in Uniform«, zudem »Unteroffiziere [n] und Mannschaften« auch noch gegenüber in Uniform befindlichen »Wehrmachtbeamten im Offizierrang« zur Pflicht gemacht hatten586, was angesichts des geltenden allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses< mit einem erheblichen Aufwand verbunden gewesen war. Erwies sich so die »Grußordnung« als ein trotz vereinzelter >blinder< Stellen immer noch getreuer Spiegel des in der Anfangsphase der Bundeswehr eng am funktional Notwendigen orientierten Vorgesetztenverhältnisses, so gelang eine ähnliche Einebnung der militärischen Hierarchie mit der neuen Anrederegelung nur in bestenfalls begrenztem Maße. Noch im Frühjahr 1955 hatte sich der >Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit - allerdings gegen die Bedenken seines Vorsitzenden Jaeger - auf Anregung des Abgeordneten und Vizeadmirals a.D. Hellmuth Heye für eine unterschiedslose Anrede der Soldaten untereinander mit dem bloßen Dienstgrad unter Wegfall des Zusatzes >Herr< ausgesprochen587. Die ein egalitäres Grundverständnis wiedergebende Initiative sollte jedoch schon im Entwurf der »Grußordnung« vom Dezember 1955 von ebenso zivilen wie allerdings auch hierarchische Strukturen abbildenden Bestimmungen überlagert werden, mit denen dann auch ein früheres Votum der Parlamentarier - jedenfalls teilweise - zum Zuge gelangte588. So hatten nach der in Baudissins Unterabteilung erarbeiteten Z.Dv. 10/4 die »Vorgesetzten« wie auch die »Soldaten höherer Ranggruppen« überhaupt Anspruch auf die Anrede mit dem Dienstgrad unter Voranstellung des Zusatzes >Herrgeritten< habe, für längere Zeit Bestand haben sollte589. Allerdings wurde solche Ungleichbehandlung in gewissem Maße durch eine Reihe weiterer Regelungen gemindert: Immerhin wurde Raum für in besonderen persönlichen Verhältnissen begründete Anredeformen belassen, die auch die Möglichkeit des wechselseitigen >Du< einschlossen - dies unbeschadet der Warnung vor der »vorschnelle[n] Anbiederung« genau genommen auch »zwischen Vorgesetzten und Untergebenen im dienstlichen Verkehr«. Auch wurde »besonders zwischen Offi586 vgl. j j e r Dienstunterricht im Heere. Ausgabe für den Kanonier, S. 94 (Zitate)-100. 587

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BA-MA, BW 1/54935, 2. Wahlperiode, 6. Ausschuß, Kurzprotokoll der 36. Sitzung, 30.3.1955, S. 5 f. Vgl. BA-MA, BW 2/11888, Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit - Arbeitsgruppe I - , Bericht an den Vorsitzenden des Ausschusses, Richard Jaeger, 14.10.1954, dort S. 13: »Anrede[:\ Nach den Plänen der Dienststelle Blank soll der Untergebene den Vorgesetzten mit >Herr ... (und dem Dienstgrad^ anreden; der Vorgesetzte soll den Untergebenen mit dem Dienstgrad und dem Namen anreden. Die Arbeitsgruppe hält diese Regelung für zweckmäßig.« - Hervorhebung im Original. Während diese Bestimmung sich durchsetzen sollte, fand die nachfolgende Anregung, »daß der Vorgesetzte außerhalb des Dienstes den Untergebenen auch mit >Herr ...< anreden sollte«, zunächst keinen Eingang in die Vorschrift. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 45, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.1.1957; zum Bestand der ungleichen Anrede vgl. Brandt/Reibert, Der Dienstunterricht im Heere, S. 82 f.

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zieren gleicher Ranggruppen und gegenüber lebensälteren Untergeben« die zivilen Umgangsformen entsprechende Anrede mit >Herr< und Namen empfohlen590. Zunächst deutet die Beobachtung, dass selbst diese Anredebestimmungen unter den Vorbehalt des Vorläufigen gestellt werden mussten, auf Anpassungsschwierigkeiten der ehemaligen Wehrmachtsoldaten. Darauf weisen zudem der bereits erwähnte Widerstand etwa gegen die einheitliche Anrede unter Stabsoffizieren mit >Herr< und Namen und die spätestens 1959 zusammen mit der Stigmatisierung des >Du< erfolgte Durchsetzung der ungleichen Anrede zwischen Vorgesetzten und Untergebenen ebenso hin591, wie dies ganz allgemein das verbreitete Unbehagen an der »Grußordnung« anzeigt. Die Bestimmungen zum Innendienst scheinen indessen auf noch darüber hinausreichende Anpassungsprobleme zu verweisen. Innendienstvorschrift Im Februar 1958 erließ Heusinger die Innendienstvorschrift, die zuvor in zumindest drei Fassungen erarbeitet und teilweise erprobt worden war. In Ergänzung zu der schließlich herausgegebenen Vorschrift kann noch auf die Entwürfe vom Juli 1956 und vom Januar 1957 zurückgegriffen werden592. Einzelne Bestimmungen der Vorschrift - so nicht zuletzt die über Freizeit, Ausgang und Gestaltung des Wohnbereiches - lassen wichtige Aspekte des dem Soldaten zugestandenen Entfaltungsspielraumes erkennen. Überdies erlaubt der Tenor der von der Vorschrift getroffenen grundsätzlichen Aussagen Rückschlüsse auf das angestrebte Klima in der Truppe. Gleichzeitig können von einem Vergleich der einzelnen Ausgaben untereinander Hinweise auf etwaige Korrekturbestrebungen erwartet werden, die unter dem Eindruck eines zweijährigen Truppenaufbaus möglicherweise für erforderlich gehalten wurden. Auffällig ist zunächst, dass sich mit dem Stil auch der die Grundüberlegung der Vorschrift wiedergebende einleitende Bezugsrahmen innerhalb weniger Monate gewandelt hat. An die Stelle der etwas weiter ausholenden, sichtlich um nachvollziehbare Begründungen bemühten Einführung des Entwurfes von 1956 war schon im Jahr darauf eine sich auch in der Endfassung wiederfindende militärisch knappe Sprache mit einfachen Feststellungen und Anweisungen getreten. Fast schon entschuldigend und gleichzeitig werbend hatte es z.B. in Ziff. 4 der ersten Fassung geheißen: »Aufsicht und Anleitung in allen Zweigen des Inneren Dienstes sind zu Beginn der Dienstzeit unerläßlich. Sobald die Soldaten die nötigen Kenntnisse besitzen und in der Lage sind, gewisse Aufgaben des Inneren Dienstes selbsttätig zu übernehmen, sollen sie ihnen übertragen 590

591 5,2

BA-MA, BW 2/11886, BMVtdg IV-IV Β 1, Z.Dv. 10/4 »Grußordnung«, 23.12.1955, S. 7 f.; zur Praxis vgl. z.B. Zur Diskussion gestellt: Anrede der Feldwebel. In: Information für die Truppe, 3 (1958), 12, S. 562 f. Vgl. hierzu Brandt/Reibert, Der Dienstunterricht im Heere, S. 82 f. Vgl. BA-MA, BW 2/8215, Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956; Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957; ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958 mit Inkraftsetzungsvermerk Heusingers und Anschreiben Fü Β I an den Generalinspekteur, 6.2.1958; dort auch der Verweis auf eine Fassung vom 2.9.1957.

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werden. Nur so werden Selbständigkeit, Selbstvertrauen und Verantwortungsfreude gefördert 593 .« Demgegenüber formulierte die Fassung vom Januar 1957, die nahezu gleichlautend in die erlassene Vorschrift übernommen wurde, unter der korrespondierenden Ziff. 5 in lapidarer Kürze: »Während der allgemeinen Grundausbildung müssen die Soldaten auf allen Gebieten des Inneren Dienstes genau angeleitet werden. Sobald sie die nötigen Kenntnisse besitzen, sollen die Soldaten die Aufgaben selbständig übernehmen 5 9 4 .« Die in dieser Straffung aufscheinende inhaltliche Akzentverschiebung wird durch weitere Textvergleiche bestätigt. Von den in der Erstfassung gleich eingangs unterstrichenen Erziehungszielen der »Selbständigkeit und Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln« 595 , denen dort unerachtet des noch im Militärischen begründeten Zusammenhanges ein eigener und für die Gestaltung des >Irmeren Dienstes< maßgeblicher Stellenwert zuerkannt worden war, ist in den folgenden Entwürfen die bloße Instrumentalisierung zugunsten eines reibungsfreien Dienstablaufes geblieben. Der Soldat müsse »lernen, die immer wiederkehrenden Pflichten des Inneren Dienstes schnell, zuverlässig und selbständig zu erfüllen« 596 . Konkurrenzlos standen nun die um die »Pünktlichkeit« erweiterten Erziehungsziele »Ordnung, [...] Sauberkeit, Sparsamkeit und Anstand«, die sich damals nur noch in Grenzen mit dem bevorzugten Selbstbild der Deutschen vereinbaren ließen 597 , im Vordergrund 5 9 8 . Das den von Baudissin vertretenen partnerschaftlichen Ansatz kennzeichnende Ausgehen von dem »Willen zur Mitarbeit« und die hierfür ebenso charakteristische Ausrichtung des Binnenverhältnisses auf die »gute Zusammenarbeit« in dem Text von 1956 599 waren in der schließlich herausgegebenen Vorschrift auf den beim Soldaten zunächst anzunehmenden »guten Willen« reduziert worden 6 0 0 . Hatte schließlich der erste Entwurf auch die Perspektive des Einzelnen im Blick, als er die »Erziehung zu Ausdauer und Härte gegen sich selbst« als »Sache der Ausbildung« bezeichnete und davon den Inneren Dienst trennte, mit dessen rechter Gestaltung auch »Zeit gewonnen werden [könne], in der sich der Soldat entspannt«, so wiesen die späteren Ausgaben zwar immer noch auf das der Ausbildung zu überlassende Erziehungs-

BA-MA, BW 2/8215, Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 1 - Hervorhebung im Original. 594 Vgl. ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 1 - Hervorhebungen im Original, »genau« hdschr. gestrichen; ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, dort ohne Hervorhebungen und ohne »genau« auf S. 5 als Ziff. 5. 595 Ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 1, Ziff. 1. 596 Vgl. ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 1, Ziff. 2; ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 5, Ziff. 2. 597 Vgl. Schiidt, Moderne Zeiten, S. 314. 598 Vgl. die einzelnen Fassungen in BA-MA, BW 2/8215, Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 2, Ziff. 5, Januar 1957, S. 1, Ziff. 3 (Zitat); ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 5, Ziff. 3. 599 Ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 1, Ziff. 4 und 3. 600 Vg] ebd., ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 5, Ziff. 6; auch bereits in Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 1, Ziff. 6. Dort w a r allerdings in Ziff. 1 noch ein dann hdschr. gestrichener Hinweis auf die durch die Innendienstordnung zu erleichternde »Zusammenarbeit« enthalten. 593

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feld hin. Sie unterließen dabei aber jeden Hinweis auf eine anzustrebende Erholung des Soldaten601. Allerdings wurde in der letzten Fassung gleichzeitig die ursprüngliche Bestimmung, es sei »sicherzustellen, daß ungerechtfertigte Forderungen und schikanöse Behandlung der Untergebenen auf jeden Fall vermieden werden«, die im Januar 1957 als Verpflichtung gefasst worden war, derartige Missgriffe »zu verhüten«, zu einer auch das Fehlverhalten höherer Vorgesetzter einkalkulierenden eindeutigen Vorschrift verschärft: »Übertriebene und ungerechtfertigte Forderungen wirken als Schikane und sind daher verboten602.« Dem sich wandelnden Tenor, der an Stelle ziviler, betrieblicher Kooperationsmuster wieder die Betonung der auf den Befehl gegründeten Ordnung treten ließ, entsprach es, dass die in der Erstfassung dem Disziplinarvorgesetzten vorgeschriebene wöchentliche >Sprechstunde< später nur noch als eine Anregung auftauchte, die auch nicht mehr mit einem bestimmten Rhythmus verbunden wurde. Noch im November 1956 hatte Baudissin in der Diskussion um die Wehrbeschwerdeordnung vor dem Rechtsausschuss darauf hingewiesen, dass »der Kompaniechef [...] heute auf Grund der Vorschrift betreffend den inneren Dienst [...] verpflichtet [sei], in jeder Woche eine Sprechstunde abzuhalten. Zu dieser Sprechstunde könne jeder kommen, ohne irgendeinen anderen Vorgesetzten zu benachrichtigen603.« Diese mit der Ausschaltung des Dienstweges auch in dienstlichen Angelegenheiten quer zur militärischen Hierarchie liegende Verpflichtung - der Entwurf von 1956 hatte im Rahmen besagter Sprechstundenregelung »dienstliche [...] Anliegen« ausdrücklich einbezogen604 - war im Entwurf vom Januar 1957 zu einer bloßen, möglicherweise »zweckmäßigten]« Option mit einem nur noch auf »private Angelegenheiten« sich erstreckenden Vertrauensschutz geworden. Letztere Regelung fand bei gleichzeitiger weiterer Abschwächung des Vertrauensschutzes dann auch Eingang in die 1958 erlassene Fassung605. Ging der zunehmende Befehlscharakter der Innendienstvorschrift sonach einher mit einer stärkeren Orientierung der Innendienstabläufe an hierarchischen Strukturen, so kam es parallel dazu auch im Hinblick auf den außerdienstlichen Freiraum zu weiteren Einengungen. Alle Soldaten hatten zwar was nicht vergessen werden sollte - ein Recht auf Ausgang und Urlaub. Einmal 601

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603 604

605

Vgl. ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 2, Ziff. 7; Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 2, Ziff. 7; ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 6, Ziff. 7. Vgl. ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 1, Ziff. 4; Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 2, Ziff. 6; ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 6, Ziff. 6. Deutscher Bundestag, PA, 2. WP, 16. Ausschuß, Protokoll Nr. 160, 10.11.1956, S. 17. Vgl. BA-MA, BW 2/8215, Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 5, Ziff. 16: In der »einmal in der Woche, bei Bedarf auch häufiger« festzulegenden »Sprechstunde des Kompaniechefs« könne »jeder Soldat der Einheit ohne vorherige Anmeldung dienstliche oder private Anliegen vorbringen. Er ist nicht verpflichtet, anderen Vorgesetzten vorher oder nachher über Anlaß und Inhalt des Gespräches Meldung zu machen.« - Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 5, Ziff. 18, mit ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 13, Ziff. 31. Dort zum Vetrauensschutz: »private Angelegenheiten sind, soweit dies möglich und vertretbar ist, vertraulich zu behandeln« - dagegen davor: »vorgebrachte private Angelegenheiten bleiben vertraulich«.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

abgesehen von den Ansprüchen, die sich aus der Soldatenurlaubsverordnung vom Mai 1957 ergaben, wonach Freiwilligen gleich den Beamten jährlich mindestens 16 Werktage, Wehrpflichtigen im Grundwehrdienst »für jedes volle Vierteljahr ihrer Dienstzeit vier Werktage [als] Erholungsurlaub« zustanden606, hatten die Soldaten gemäß den Entwürfen von 1956 und 1957 wie nach der Vorschrift von 1958 nach Dienst auch während der Grundausbildung grundsätzlich »freien Ausgang«. Soweit sie dem »Zapfenstreich« unterworfen waren - dies waren sie in der Regel bis zum Ende ihres ersten Dienstjahres - , endete dieser nicht weiter genehmigungspflichtige Ausgang um 22.00 Uhr. Die Fassungen erweiterten auch in der Tendenz übereinstimmend die Ausgangsmöglichkeiten mit zunehmendem Dienstalter. Schon nach Abschluss der Grundausbildung hatten die Soldaten unter dem Vorbehalt des Widerrufes Nachtausgang über den Zapfenstreich hinaus. Allerdings verfuhren die späteren Fassungen hierbei durchaus restriktiver, was sich nicht nur in der fallweisen Verlegung des Ausgangsendes von ursprünglich 1.00 Uhr auf Mitternacht äußerte. So nahm die erlassene Vorschrift insofern eine Einschränkung vor, als die zuvor auch schon während des ersten Dienstjahres mögliche Ausdehnung des Nachturlaubs bis zum »Wecken« für kasernenpflichtige Soldaten fortan erst nach Ableistung des ersten Dienstjahres vorgesehen war. Darüber hinaus wurde der nach der Regelung von 1956 auch während der Grundausbildung mögliche Wochenendurlaub (vom Dienstschluss am Samstag, der regelmäßig für 12.00 Uhr festzusetzen war, bis Montag 1.00 Uhr) schon ab der Fassung von 1957 (bereits ohne die Festsetzung des Urlaubsbeginns auf 12.00 Uhr) jenen Soldaten vorbehalten, die die Grundausbildung beendet hatten. 1958 wurde diese Vorschrift auch für diese Gruppe noch dadurch verschärft, dass bis zum Abschluss des ersten Dienstjahres für den Wochenendurlaub nicht mehr die pauschale, also als Normalfall anzusehende Genehmigung hinreichte, sondern nun die besondere Urlaubserteilung aufgrund eines »begründeten Einzelantrag[es]« erforderlich war607. Baudissin selbst begründete die offensichtlich restriktivere Neufassung der von Heusinger schließlich gebilligten Innendienstvorschrift diesem gegenüber Anfang Februar 1958 mit der »Erweiterung der Möglichkeiten des Disziplinarvorgesetzten in der Überwachung der Freizeit«608. Gegenüber der im Bereich der Ausgangsregelung binnen zweier Jahre eingetretenen spürbaren Minderung individueller Freiräume schienen die gleichzeitigen Veränderungen hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten des Wohn606 Vgl. §§ 1, 4 der Soldatenurlaubsverordnung vom 20.5.1957, BGBl. 1957, Teil I, S. 529 f. (dort auch das Zitat); dazu die Erläuterungen in Taschenbuch für Wehrfragen, 3 (1959), S. 225 f., nach denen der Erholungsurlaub für Freiwillige alters- und dienstgradabhängig vom 19-jährigen Grenadier mit jährlich 16 Tagen (der »im Urlaubsjahr das 18. Lebensjahr« Vollendende hatte noch Anspruch auf 24 Tage) bis zum älteren Obersten mit jährlich 36 Tagen reichte. 607

608

Vgl. BA-MA, BW 2/8215, Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 8 f., Ziff. 3 0 - 3 4 ; Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 10-12, Ziff. 3 6 - 4 0 ; ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 15 f., Ziff. 37-41 und Anl. 7. Ebd., Anschreiben Fü Β I an Generalinspekteur, 6.2.1958, mit beigefügter Gegenüberstellung (Zitat).

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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bereiches, der in allen Fassungen übereinstimmend auf dem Niveau »einfachelr] Wohnlichkeit« gehalten werden sollte, eher marginal zu sein. Individuellen Wünschen bei der Stubenbelegung konnte im Einzelfall Rechnung getragen werden, bei der Ausgestaltung der Unterkunft waren Initiativen der Soldaten in den Grenzen des Geschmacks und des pfleglichen Umganges mit dem Material - sogar willkommen. Auch die Einrichtung des Schrankes sollte nicht bis ins letzte Detail geregelt werden, das Erscheinungsbild der Betten sollte ordentlich und auch einheitlich sein, ähnlich wie bei der Schrankordung seien hierbei nach der Formulierung von 1956 »Übertreibungen jedoch abzulehnen«, was auch in diesem Falle 1958 in ein eindeutiges Verbot gefasst wurde609. Zu einer Einordnung der die Entwicklung der Innendienstvorschrift kennzeichnenden Tendenzen kann der Vergleich verhelfen. Werden die für die frühe Bundeswehr geltenden Innendienstbestimmungen an vorangegangenen Regelungen etwa aus der Zeit des >Dritten Reiches< gemessen, so ist die deutliche Ausweitung der Freiräume des Einzelnen trotz zunehmender Einengungen nicht zu übersehen. Zwar räumten im Hinblick auf Zusammensetzung und Erscheinungsbild des Wohnbereiches die bundesrepublikanischen Bestimmungen dem westdeutschen Soldaten nur ein etwas größeres Maß an Gestaltungsmöglichkeiten ein, als es dem Angehörigen der Friedenswehrmacht zugestanden worden war. Dieser musste sich - nach den Ausführungen des »Reibert« von 1937 - z.B. nach einem vorschriftsmäßigen Bettenbau< und nach einer kompanieeinheitlichen Schrankordnung richten610. Ungleich ausgeprägter aber fielen die Unterschiede zu früheren Verhältnissen hinsichtlich des Ausgangs und des Urlaubes aus. Auch der jüngste Soldat der Bundesrepublik hatte im Gegensatz zu dem des Reiches einen Anspruch hierauf. Der seiner Wehrpflicht nachkommende Soldat der Wehrmacht konnte auf »Feiertagsurlaub [...] (Weihnachten, Ostern, Pfingsten)« hoffen, die keineswegs obligatorische Gewährung von »Sonntagsurlaub und Nachturlaub« sollte bereits abhängig von Leistung und Führung sein611. Darüber hinaus musste der junge Soldat der frühen Bundesrepublik sich zunächst auch in Bezug auf das Freizeitbudget ziviler Gleichaltriger nicht gerade benachteiligt vorkommen. Eine verbindlich zu leistende Anzahl von Dienst609

610 611

Vgl. ebd., Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Juli 1956, S. 12-15, hier die Ziff. 44, 46 (Zitat Hervorhebung im Original), 49 f. (Zitat); Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 16-20, hier die Ziff. 59, 61, 66, 68; ZD ν 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 19-23, hier die Ziff. 56, 58, 62, 64 (dort zur Forderung, das »Bett nach einem einheitlichen Muster in Ordnung zu halten[:] Übertriebene Anforderungen sind dabei verboten.«). Vgl. Der Dienstunterricht im Heere. Ausgabe für den Kanonier, S. 60, 64 f. So ebd., S. 111; vgl. dazu die Verordnung über den Urlaub der Soldaten der Wehrmacht, 28.8.1935, Nr. 3, Abs. 1: »Ein Anspruch auf Urlaub besteht nicht, jedoch soll in der Regel den Soldaten Erholungsurlaub in den Grenzen gewährt werden, die in Nr. 4 festgelegt sind. Dienstliche oder disziplinare Gründe können Ausnahmen hiervon bedingen.« Nach ebd., Nr. 4, Abs. 1 galt: »Soldaten im 1. Dienstjahr erhalten keinen Erholungsurlaub, jedoch soll ihnen in der Regel Sonderurlaub, insbesondere Feiertagsurlaub, gewährt werden.« In ebd., Nr. 4, Abs. 2a, wurde dann bestimmt: »Für die länger dienenden Soldaten darf jährlich Erholungsurlaub gewährt werden«, wobei dieser »im 2. Dienstjahr« auf 14 Tage begrenzt war (Verordnung über den Urlaub, 1935, S. 5 f.).

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

oder Arbeitsstunden haben die vorliegenden Fassungen zum >Inneren Dienst< nicht angegeben. Allerdings ist ihnen jeweils ein als »Richtlinie« oder »Muster« bezeichnetes Beispiel für den Dienstplan beigefügt, das Aufschluss über gängige Erwartungen hinsichtlich der täglichen Dienstzeit geben kann. So findet sich im Entwurf von 1957 ein Dienstplan, der den Tag mit dem >Wecken< um 6.00 Uhr beginnen und den Dienst um 18.00 Uhr enden lässt. Etwas weiter gespannt ist der Zeitrahmen der schließlich erlassenen Vorschrift: 1958 fand das >Wecken< bereits um 5.45 Uhr statt, ein Zeitpunkt für den Dienstschluss wurde anders als im Entwurf von 1957 nicht eigens angegeben. Da aber nach der um 18.15 Uhr endenden Befehlsausgabe, die bereits auf »den Dienst des nächsten Tages« bezogen ist, nur noch die bereits früher außerhalb der Dienstzeit gelegenen Termine folgten, kann von einem mit der Befehlsausgabe verbundenen Dienstschluss ausgegangen werden 612 . Demnach musste zumindest der junge Soldat an den von Montag bis Freitag gelegenen Werktagen mit einer Dienstzeit zwischen zwölf und zwölfeinhalb Stunden rechnen, zu denen etwa drei Stunden zählten, die für die Körperpflege, Mahlzeiten und Pausen vorgesehen waren. Mit diesem Aufwand fiel die Beanspruchung des jungen Soldaten keineswegs aus dem Rahmen der »arbeitsextensiven >Normalität< der 50er-Jahre«. Um 1955 hatten im landwirtschaftlichen Bereich beschäftigte Jugendliche tägliche »Arbeitszeiten« von »11 bis 12 Stunden«, in Industrie, Handel oder Dienstleistung tätige Jugendliche kamen hier auf immerhin noch »8 bis 10 Stunden«, lediglich »Schüler und Studenten mit 4 bis 8 Stunden am Tag« erschienen deutlich besser gestellt. Diese letztere Gruppe allerdings machte »1955 1,6 Prozent und [noch] 1960 [lediglich, F.N.] 2,5 Prozent der 20- bis 30-Jährigen« aus, während zwischen 1952 und 1960 der Anteil der Mittelschüler und Gymnasiasten unter den Sechzehnjährigen auch nur von vier auf sieben bzw. von neun auf 13 Prozent zugenommen hatte. Grob gerechnet waren Mitte der 50er-Jahre mehr als acht von zehn Jugendlichen mit Arbeitszeiten konfrontiert, die - zumal wenn die recht großzügig bemessenen Dienstunterbrechungen in Rechnung gestellt werden - das den jungen Soldaten Zugemutete nicht als außergewöhnlich erscheinen ließen613. Allerdings bahnten sich im Verlaufe des »letzten Drittens] der 50er-Jahre« bemerkenswerte Veränderungen an, insofern den Jugendlichen mit dem »beinahe überall wirksam werdenden Arbeitszeitverkürzungen und de[m] Übergang zur fünftägigen Arbeitswoche« in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zeitlich größere Entfaltungsräume eröffnet wurden 614 . Die wenn auch noch nicht signifikante, so tendenziell doch in den Textfassungen zum >Inneren Dienst< gegebene Ausweitung der täglichen Dienstzeit zwischen 1957 und 1958 wirkt hierzu als geradezu gegenläufige Bewegung. Trotz der erheblichen Besserstellung, die dem Soldaten der frühen Bundeswehr gegenüber dem der Wehrmacht im Bereich des >Inneren Dienstes< auch 612

613 6,4

Vgl. BA-MA, BW 2/8215, Z.Dv. 10/5 »Der Innere Dienst«, Januar 1957, S. 50-52 (Anl. 5); ZDv 10/5 »Der Innere Dienst«, Februar 1958, S. 13, Ziff. 31 (Zitat), S. 51-54 (Anl. 6). Angaben nach Schildt, Von der Not der Jugend, S. 335-339. Vgl. ebd., S. 343.

231

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

m i t d e r schließlich e r l a s s e n e n V o r s c h r i f t zuteil g e w o r d e n w a r , lässt d i e E n t w i c k l u n g d e r I n n e n d i e n s t v o r s c h r i f t alles in a l l e m z w i s c h e n 1 9 5 6 u n d 1 9 5 8 g e g e n d e n T r e n d d e r Z e i t e h e r e i n e E i n g r e n z u n g als eine A u s w e i t u n g d e r Entfaltungsmöglichkeiten

des

Einzelnen

erkennen.

Baudissin

hatte zwar

in

der

T e n d e n z p a r a l l e l e V o r g ä n g e w i e d e n V e r z i c h t a u f d i e u r s p r ü n g l i c h ins A u g e gefasste a b w e c h s l u n g s r e i c h e r e Möblierurig d e r U n t e r k ü n f t e z u g u n s t e n einer einheitlichen A u s s t a t t u n g o d e r die R ö t t i g e r i m A u g u s t 1 9 5 7 z u g e s c h r i e b e n e Initiative, » d a s s n u n m e h r alle Offiziere i m M i n i s t e r i u m U n i f o r m t r a g e n m ü s s [ t ] e n « , m i t M i s s f a l l e n a u f g e n o m m e n 6 1 5 . U n d e r w i d e r s e t z t e sich n i c h t o h n e E r f o l g m e h r als e i n m a l w e i t e r g e h e n d e n R e g l e m e n t i e r u n g s b e s t r e b u n g e n , w e l c h e d i e F r e i z e i t d e s S o l d a t e n betrafen 6 1 6 . D e n n o c h aber k o n n t e d i e r e s t r i k t i v e r e F a s s u n g

der

Innendienstvorschrift nicht o h n e Z u t u n d e s i m m e r h i n hierfür i m M i n i s t e r i u m

615

616

Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 113, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 27.2.1957: »Ich fahre [...] nach Duisdorf, wo eine Möbelausstellung für Kasernenausstattung stattfindet. Unseren Vorschlägen gemäss sind verschiedene Farbanstriche für Stuben und Möbel versuchsweise ausgeführt. Im grossen und ganzen scheint es geglückt zu sein. Das Kollektiv der Kasernen wird wohltuend individuell aufgelockert.« Keine zwei Wochen später heißt es ebd., fol. 136 f., Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 9.3.1957: »Pollmann berichtet von der Besprechung über die Möbelausstattung. Schrecklicherweise hat sich wieder die Ansicht durchgesetzt, daß alle Schränke, zumindest in der gleichen Kaserne, die gleiche Farbe haben müssten; auch hier konnten wir uns gegen die Lineartaktik nicht durchsetzen. Pollmann ist auf Richtlinien über die Bildausstattung der Kasernen angesprochen worden; auch hier spricht der Hang zur Sicherheit und nach Perfektion. Das einzige [,] was wir tun könnten, wäre der Hinweis, daß Bilder, die auf Staatskosten gekauft sind, sittlichen, politischen und künsterlichen [sie! wohl: künstlerischen] Maßstäben einigermassen entsprechen müssen.« - Hervorhebungen im Original. Zu dem Generalleutnant Röttiger, dem Inspekteur des Heeres, nachgesagten Antrag vgl. 717/9, fol. 76 f., Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 15.8.1957. Vgl. hierzu z.B. ebd., 717/7, fol. 49, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 9.8.1956, betr. das Verbot des Besuchs bestimmter Gaststätten, das Baudissin auf den Besuch in Uniform habe begrenzt wissen wollen; ebd., 717/8, fol. 211, 213, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 22.6.1957, betr. die Anregung, »die Geschwindigkeitsbegrenzung für Soldaten in ihren eig[e]nen Fahrzeugen festzusetzen«, wogegen sich Baudissin »[s]charf« ausgesprochen habe, und betr. den Wunsch des Ministers, »reglementierend in die Freizeit ein[zu]greifen«, wovor Baudissin >gewarnt< habe; mit Letzterem verbunden ebd., 717/9, fol. 36 f. und 69, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 22. 7. und 14.8.1957, betr. den Erlass »Dienstaufsicht und Freizeit«. Hier kommentierte Baudissin zustimmend Scherers Auffassung, »dass man möglichst wenig verbieten solle, jedenfalls nur ganz bestimmte, festumrissene Dinge für einen ganz bestimmten Personenkreis«. Sodann bemerkte Baudissin zu den Einlassungen des Angehörigen der Rechtsabteilung: »Auch sein Hinweis ist richtig, dass Ungehorsam gegen ausgesprochene Verbote zu leicht strafrechtliche Folgen haben kann; während das Nichtbefolgen von Empfehlungen und Ratschlägen nur beim Eintritt ganz bestimmter Folgen disziplinare Maßnahmen auslösen kann.« Der schließlich von Vizeadmiral Rüge unter dem 15.8.1957 unterschriebene Erlass, dessen Herausgabe offensichtlich auch von Baudissin betrieben worden ist, zielte im Nachgang zum Iller-Unglück - wie sich den darin unter Ziff. 6 als Beispiele angeführten konkreten Verbotsmöglichkeiten unschwer entnehmen lässt - dann auch ausschließlich auf die Unterbindung vermeintlich sportlichen, dabei aber leichtsinniger und gesundheitsgefährdender Forderungen, die entweder vom Soldaten selbst oder auch von Vorgesetzten ausgehen mochten. Siehe BMVtdg Fü Β IV Β 1, »Dienstaufsicht und Freizeit«, 15.8.1957, BA-MA, BW 2/3955, BMVtdg Fü Β I, Sammelband Innere Führung zum Handgebrauch des Kommandeurs. Siehe unten S. 326.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

federführenden Unterabteilungsleiters zustande gekommen sein. Hierbei sind die Kommentare bemerkenswert, die er in seinem Tagebuch sowohl zu dem Entstehungsgang der Vorschrift als auch zu den zuständigen Referenten festgehalten hat. Zunächst lag die Innendienstvorschrift in den Händen Tänzlers, der - von Baudissin einmal als »der längste Mitarbeiter« bezeichnet - bis in den Juni 1957 hinein dessen Unterabteilung angehörte. Er hatte die Fassungen vom Juli 1956 und vom Januar 1957 zu vertreten617. Spätestens im Juli 1957 hatte Major Egon Schütz618 die weitere Bearbeitung der Vorschrift übernommen619. Vor dem endgültigen Erlass im Februar 1958 war das zuständige Referat Fü Β I 3 von Oberstleutnant Otto Jans übernommen worden620. Während nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Innendienstvorschrift sich zwischen Baudissin und Tänzler (noch lange vor der Distanzierung von Karst) ein tiefgreifendes und augenscheinlich auch bleibendes Zerwürfnis einstellte, fielen die Urteile des Grafen über das Wirken der beiden anderen Mitarbeiter deutlich günstiger aus. Nachdem er noch Ende November 1955 die Arbeiten Tänzlers zum inneren Dienst< zustimmend kommentiert hatte, sah sich Baudissin kurz vor der Jahreswende 1955/56 unvermittelt in »eine scharfe Grundsatzauseinandersetzung« mit Tänzler gezogen, den er einer »tiefen Ablehnung der Demokratie« verdächtigte621. Die fortan immer wieder sich äußernde Unzufriedenheit mit Tänzlers Arbeit, bei der sich Baudissin wiederholt auch der Bestätigung durch andere versicherte622 und die schließlich in eine regelrechte Vertrauenskrise mündete623, bezog sich - neben Fragen der Grußordnung und der Zeremoniellregelung, hier erwecke Tänzler »unendlich viel alte[n] Zopf wieder zum Leben«624 - gerade auch auf die Innendienstvorschrift. In diesem Kontext meinte der Unterabteilungsleiter über seinen Referenten, er habe »noch nicht Seeckt

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Vgl. zum >Dienstalter< Tänzlers in dem von Baudissin geleiteten Sachgebiet ebd., Ν Graf Baudissin, 717/5, fol. 150, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 28.12.1955 (Zitat) und ebd., 717/8, fol. 161, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 3.6.1957; zu Tänzlers Zuständigkeit für die genannten Fassungen der Innendienstvorschrift vgl. u. a. ebd., 717/5, fol. 113, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 23.11.1955; 717/7, fol. 33, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 30.7.1956, und ebd., 717/8, fol. 44, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.1.1957. Ernst-Egon Schütz (geb. 1917, Weiteres nicht bekannt), Beförderung zum Major 1955, Beförderung zum Oberstleutnant 1959. Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/9, fol. 39, 53, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 23. und 29.7.1957. Vgl. BA-MA, BW 2/8530, Entwicklung der Organisation des BMVtdg unter besonderer Berücksichtigung der milit. Abteilungen, Anl. 21 b: Organisationsplan des BMVtdg (Stand 10.1.1958) - Blatt 2: Führungsstab der Bundeswehr. Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/5, fol. 150, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 28.12.1955. Einen Monat früher hatte Baudissin seinem Mitarbeiter in Bezug auf dessen Arbeit zum >Inneren Dienst< attestiert, sein >Merkblatt bekomme Form«; siehe ebd., fol. 113, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 23.11.1955. Vgl. ebd., fol. 156, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 29.12.1955; ebd., 717/8, fol. 44, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.1.1957. Vgl. ebd., 717/5, fol. 158, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 30.12.1955; ebd., 717/8, fol. 11, 60, 68, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 11., 26. und 31.1.1957. Vgl. ebd., 717/7, fol. 33, 175, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 30.7. (Zitat) und 22.11.1956; ebd., 717/8, fol. 47, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 23.1.1957.

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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innerlich überwunden« und sei nur sehr zögerlich bereit, die Veränderungen anzunehmen 625 . Ende Juli 1956 ordnete Baudissin eine neuerliche Prüfung der Innendienstvorschrift innerhalb der Unterabteilung an - »stilistisch und sachlich [seien] noch mehrere Holper darin« 626 - , und im Januar 1957 hielt er nach Rücksprache mit Wangenheim und Weber eine nochmalige Durchsicht des »Tänzler-Entwurf[s]« für geboten, werde dort doch »ein Ethos des Inneren Dienstes gepredigt und mancher Grundsatz der Inneren Führung missachtet«627. Erst Mitte Februar 1957 sah er nach einer weiteren Unterredung mit Tänzler Grund zu der Hoffnung, »dass nun endlich diese Vorschrift auf gutem Wege ist«628. Aber es sollte noch bis Ende Juli 1957 dauern, dass Baudissin zusammen mit Schütz die Schlussredaktion der Vorschrift in der Erwartung in Angriff nehmen konnte, »die ganze Sache noch bis Mitte August herausfzubekommen]« 629 . Es lässt sich zwar nicht entscheiden, ob die Fassungen der Innendienstvorschrift vom Juli 1956 und vom Januar 1957 die jeweils vor oder nach der von Baudissin veranlassten Überarbeitung entstandene Textversion wiedergeben 630 . Desungeachtet aber bleibt es bemerkenswert, dass die streckenweise weniger restriktiven Erstfassungen in der Zuständigkeit des >restaurativer< Neigungen verdächtigten Tänzler631 erarbeitet worden sind, während an der von Baudissin mitgetragenen, den Tenor der Reformkonzeption abschwächenden Schlussfassung Referenten mitgewirkt haben, deren Haltung und Arbeitsleistung Baudissin stellenweise sogar hoffnungsfroh begrüßt hatte632. Dies lässt mögliche Zusammenhänge mit der Rekrutierung umso naheliegender erscheinen, wofür schließlich auch die von Baudissin angeführte Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten des Disziplinarvorgesetzten als Indiz

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626 627 628 629 630

631 632

Vgl. ebd., 717/5, fol. 158, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 30.12.1955 (Zitat); ebd., 717/7, fol. 33, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 30.7.1956. Vgl. ebd., 717/7, fol. 33, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 30.7.1956. Ebd., 717/8, fol. 44, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.1.1957. Ebd., fol. 94, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 15.2.1957. Ebd., 717/9, fol. 39, 53, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 23. und 29.7.1957. Die Daten der Tagebucheintragungen sprechen zwar auf der einen Seite für einen Bearbeitungsstand vor der kritischen Prüfung Baudissins, auf der anderen Seite aber dürften die von Tänzler vorgelegten Texte auch das Ergebnis eines Diskussionsprozesses spiegeln, in dessen Verlauf die Vorschriftenentwürfe eine liberalere Prägung erhielten. So gab ein noch früheres Papier vom Februar 1955 deutlicher die Ablehnung demokratiekonformer Modelle zu verstehen, welche Baudissin bei Tänzler entdeckt zu haben meinte, als etwa der Entwurf vom Juli 1956. Denn der »Entwurf Merkblatt Der Innere Dienst« vom 3.2.1955 stellte das Erfordernis »strenger Ordnung« an die erste Stelle und leitete daraus recht konsequent die Grundzüge ab. Vgl. Entwurf Merkblatt Der Innere Dienst, 3.2.1955, Baudissin Dokumentation Zentrum bei der Führungsakademie der Bundeswehr, Ordner: Graf Baudissin Vorschriften u.a., Merkblätter IF 1956, dort vor Nr. 5 - Hervorhebungen im Original. Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 11, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 11.1.1957. U. a. vgl. zu Schütz ebd., 717/5, fol. 122, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 1.12.1955; ebd., 717/6, fol. 23, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 25.6.1956; ebd., 717/7, fol. 73, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 28.8.1956; ebd., 717/8, fol. 210, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.6.1957; zu Jans vgl. ebd., 717/8, fol. 196, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 15.6.1957; ebd., 717/9, fol. 53,92, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 30.7. und 26.8.1957.

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angesehen werden kann. Weiter unten wird noch einmal darauf zurückzukommen sein, wobei nach der Entwicklung der Innendienstvorschrift das Augenmerk nicht nur auf die Rekrutierung der in der Bundeswehr als Vorgesetzte tätigen ehemaligen Wehrmachtangehörigen, sondern gleichermaßen auch auf die Ungedienten zu richten sein wird. Jedenfalls fiel die im letzten Drittel der 1950er-Jahre zu verzeichnende Zunahme an Freizeit auch zusammen mit dem Auftreten »eine[r] neue[n] Jugendgeneration, [nämlich] der um 1940 geborenen«, der im Wesentlichen schon nach dem Kriege Aufgewachsenen633. Anders als bei ihren Vorgängern, die durch ihre Zeit »im Jungvolk, in der HitlerJugend, als Flakhelfer und z.T. im Volkssturm« geprägt waren und für die gleich den Erwachsenen »das weitgehende Fehlen eines politischen Interesses [...] zu Beginn der 50er-Jahre ebenso [kennzeichnend war] wie ausgeprägte autoritäre Sehnsüchte nach einem politischen Führer, der für Ordnung sorgte, nach Uniformen und soldatischen Tugenden«, begann die neue Jugendgeneration andere »Einstellungen« zu entwickeln als die Erwachsenen634. Vor diesem Hintergrund ist es nicht auszuschließen, dass sich die bislang nur in Ansätzen erkennbare Tendenz zu einem restriktiveren Dienstreglement am Ende als Reaktion zumindest auch auf das Auftreten dieser neuen Generation begreifen lässt, für die >staatsbürgerliche< wie auch >militärische< Notwendigkeiten nicht mehr selbstverständlich waren. Unbeschadet sich abzeichnender Akzentverschiebungen gilt es in Bezug auf die Anfänge festzuhalten, dass die Bestimmungen auf der Erlass- und Vorschriftenebene die Einbürgerungskonzeption, wie sie im Soldatengesetz und in den Folgegesetzen ihren Ausdruck fand, weitgehend folgerichtig in teils programmatische, teils ganz konkret den Alltagsbetrieb regelnde Vorgaben umgesetzt haben. Soweit es sich um Regelungsbereiche handelte, die eher an den Schnittstellen zur zivilen Gesellschaft angesiedelt waren, konnten anfangs deutlich spürbare oder sogar erfolgreiche Bestrebungen, die auf eine Sonderstellung des Soldaten zielten, noch während der Verwendung Baudissins im Ministerium im Sinne einer Einebnung der zivil-militärischen Unterschiede blockiert bzw. revidiert werden. In diesem Zusammenhang bewies die Rechtsabteilung eine zuweilen konsequentere Haltung als der für die Innere Führung zuständige Unterabteilungsleiter. Im Binnenbereich der Streitkräfte war es zunächst gelungen, in Übereinstimmung mit der Maxime, die Einschränkungen des Dienstes auf das funktional Notwendige zu begrenzen, den Freiraum des Einzelnen vergleichsweise weit zu fassen. Allerdings deutete sich für den Bereich des Innendienstes parallel zur aufwachsenden Bundeswehr eine zunehmend einengende Reglementierungstendenz an, die sowohl den Untergebenen als auch den Vorgesetzten betraf. Desungeachtet blieb der gewollte Bundeswehrsoldat dem Muster eines »eminent politischen]« Soldaten635 verpflichtet, der unter dem konstitutiven Vorzeichen des Systemkonfliktes auch in der täg633 634 635

Vgl Schildt, Von der Not der Jugend, S. 343. Vgl. ebd., S. 335-338 (Zitate), 343-348. Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung, S. 635.

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liehen Auseinandersetzung mit den Auflagen der Binnenverfassung der Streitkräfte erfahren können sollte, dass er auch seiner eigenen Freiheit wegen diente. Genau hierin lag ja - neben der durch die atomare Dimension des Kriegsbildes dann nachdrücklich eingeschärften Ausrichtung auf den Zweck der Kriegsverhütung - der Bruch mit dem Soldatenmodell der späten Wehrmacht. An die Stelle des damaligen, durchaus auch politischen Kämpfers im Dienste eines totalitären Regimes war unter Beibehaltung des auf dem Gefechtsfeld geforderten, bereits bewährten Profils der Kämpfer im Dienste des genauen Gegenteils getreten. Dem mit den geschilderten dienstlichen Strukturen bekräftigten Bruch mit der Vergangenheit sollte auf dem Gebiet der politischen Bildung< inhaltlich die grundsätzliche Offenheit gegenüber einem pluralistischen Meinungsbild entsprechen. Bis zu welchem Grade dieser Anspruch mit den von Baudissins Unterabteilung selbst bereitgestellten Materialien hat eingelöst werden können, soll im nächsten Abschnitt dargelegt werden, bevor Bedingungen und Verlauf der Rekrutierung jener in den Blick geraten, auf die hin die innere Verfassung der Bundeswehr angelegt und die Ausstattung mit den Bildungsmaterialien vorgenommen worden war.

3.

Der gewollte Soldat im Spiegel der Materialien zu Lehre und Bildung (»Information für die Truppe«, »Schicksalsfragen«, »Schriftenreihe Innere Führung«)

Die >Truppeninformation< entwickelte sich während der ministeriellen Verwendung Baudissins in dessen Augen zu einem der wichtigsten, wenn nicht gar zu dem wichtigsten Teilgebiet der Inneren Führung. Nicht nur die Häufung der auf einschlägige Veröffentlichungsvorhaben bezogenen Tagebucheintragungen, sondern auch die schon erwähnte intensive Auseinandersetzung um die Wahrung der bei seiner Unterabteilung liegenden ministeriellen Zuständigkeit können hierfür als Belege dienen. Auch lag diese Entwicklung nahe, eröffneten sich doch gerade auf dem Gebiet der >Information< eigene Gestaltungsmöglichkeiten, die in dem Maße in den Vordergrund treten konnten, in dem die Arbeit an den in Gesetzen und Vorschriften greifbaren Grundlagen zu einem vorläufigen Abschluss geführt wurden, in deren Zusammenhang die Unterabteilung IV Β bzw. der Fü Β I sich die Kompetenz in der Regel mit der Rechtsabteilung ohnehin hatte teilen müssen. Nicht von ungefähr wurde der 1958 eingerichtete >Beirat für Fragen der inneren FührungBeirat< gerichtete Ansinnen immerhin den in der Sicht Baudissins für eine Gesamtbilanz taugenden Stellenwert seiner Informationsarbeit. Im Verein mit den Zeugnissen des Grafen und seiner Mitarbeiter erlaubt es der Kommentar dieses Gremiums, die sehr anregende und in Vielem bereits erschöpfende Untersuchung von Siegfried Grimm (1970) zu überprüfen und im Hinblick auf Absichten, Initiativen, Verantwortlichkeiten und Ergebnisse zu erweitern. Grimm hat eine bis 1958 währende »Gründungsphase« der Bundeswehr ausgemacht, in der »eindeutig die Vorstellung [vorgeherrscht habe], dass der Erfolg der geistigen Rüstung an der Stabilität der Demokratie und dem Respekt vor der geistigen und sittlichen Autonomie des Soldaten hänge«. Nach der nicht zuletzt anhand der publizistischen Praxis der Unterabteilung verifizierten Beobachtung Grimms sei diese Phase dann der »psychologischen Kampfführung« gewichen, mit der »an die Stelle einer differenzierenden, das Urteil nicht vorwegnehmenden, sondern sachlich erst fundierenden Information die politische Schulung und die moralische Indoktrination« getreten sei639. Es liegt nahe, diesen Wandel mit der Versetzung Baudissins aus dem Ministerium in Verbindung zu bringen - schließlich hat Grimm diesen Prozess als Einflussverlust des »ursprünglichen, an den Namen Graf von Baudissins geknüpften Konzeptes« beschrieben640 - und ihn als Ausdruck der Konkurrenz zwischen jenen beiden Vermittlungsmustern des Soldaten mit dem Bürger zu begreifen, die bereits in der Schrift »Vom künftigen deutschen Soldaten« zu entdecken waren: Zwischen dem Soldaten, der - weil er gerade auch im Dienst die Achtung vor seinem Recht der Selbstbestimmung erfahren hat - auch seiner eigenen Freiheit wegen überzeugt dienen und notfalls kämpfen kann, einerseits und andererseits dem Soldaten, bei dem unter dem Primat militärischer Zuverlässigkeit die vorbehaltlose, ja unkritische Identifikation mit seinem Auftrag und Dienst vorausgesetzt und entsprechend gefördert wird. Dem auch seiner eigenen Freiheit wegen kämpfen könnenden Soldat entspricht das Vertrauen der Führung in dessen eigenständige Urteilsbildung. Nach der Unterscheidung Grimms spiegelt sich hierin die »objektive« Variante der »geistigen Rüstung«. Der »freiwillige und initiative Gehorsam« wird im Wege des Ausschlusses von Fremdbestimmung oder anders: durch die »Ubereinstimmung von Kollektivund Individualinteresse« realisiert, die der Einzelne aber auch erkennen können

638 639 640

rates für Fragen der inneren Führung am 27.6.1958 in Bonn, S. 3 f.; Ergebnis der Prüfung ebd., Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung im Bundesministerium für Verteidigung in Bonn am 10.10.1958, S. 5 - 1 4 . BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/10, fol. 188, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 29.5.1958. Vgl. Grimm,... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 62-68, 79-84, 228 (Zitate). Ebd., S. 228.

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muss. Dafür genügt nicht schon der Verweis auf die freiheitlich-demokratische Ordnung, sondern erst die an ihrem täglichen Vollzug überprüfbare freiheitlich-demokratische Herrschaftspraxis bietet die hinreichende Voraussetzung. Dieser mit dem mündigen Staatsbürger rechnende Ansatz setzt nicht nur auf eine mit der freiheitlichen Ordnung vereinbare Binnenverfassung des Militärs, sondern im Bereich der politischen Bildung und »Erziehung« auf die umfassende Information des Soldaten, auf die Nachvollziehbarkeit der Entscheidung für die demokratische Ordnung - dies nicht nur in der Argumentation, sondern auch im alltäglichen Erleben - und auf die Ermutigung zu eigenständigem, verantwortlichem Urteilen und Handeln 641 . Hingegen korrespondiert mit dem Modell des zur kritiklosen Akzeptanz militärischer Zumutungen bereiten Soldaten im Bereich der »geistigen Rüstung« gerade der Entzug des Urteils über die konkrete staatliche Praxis aus der Verfügung des einzelnen Soldaten. In der Unterscheidung Grimms entspricht dies der »subjektiven« Variante der »geistigen Rüstung«. Die Legitimität des Anspruches auf »freiwilligen Gehorsam« einfach voraussetzend, geht es diesem Ansatz vorwiegend darum, den Einzelnen für den »Autoritätsanspruch staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen« zu gewinnen. Die politische Bildungs- oder Erziehungsarbeit wird hier von dem Bestreben geleitet, Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Position zu zerstreuen, dem Soldaten den »Gehorsam als sittliche Leistung« vorzustellen und ihn davon zu »überzeugen«, dass die eigene »Führung« über eine zutreffende »Weltsicht« verfügt. Der »Erziehung [ist] hier nicht die Autonomie des Einzelnen, sondern die geistige Disziplinierung der Vielen zum Ziele gesetzt«. Die von einem Bewusstseins- oder Haltungsdefizit des einzelnen Soldaten ausgehende >subjektive< Variante schreibt dem für »geistige Rüstung< Verantwortlichen eine Art Vormundschaftsposition zu, die eine »patriarchalische« oder eine »totalitäre« Ausprägung finden kann642. Das Bekenntnis zu einer »geistigen RüstungAusschuß< die Erfordernisse einer die je individuellen »Leistungsmöglichkeiten« in Rechnung stellenden Methodik, der Beteiligung »intelligente[r] und sachlich vorgebildete[r] Soldaten« und der Bildungsqualifikation des »militärischen Lehrers«. Als Themenbereiche des »politische[n] Unterricht[es]« sollten vor allem Position und Stellenwert der Streitkräfte im westdeutschen Staat behandelt werden. Hier hatte der >Ausschuß< den mehr nur instrumenteilen Charakter des Militärs und die Rückbindung auch des »soldatische[n] Dasein[s]« an »die geistigen Gehalte der freiheitlichen Welt« vor Augen. In den Grenzen dieser Aufgabe sollte unter Wahrung der gebotenen parteipolitischen Neutralität auch in die politischen Gegebenheiten der Bundesrepublik eingeführt werden. Darüber hinaus sollte der Bündnisrahmen thematisiert werden643. Soweit befand sich der >Ausschuß< in recht genauer Übereinstimmung mit der Konzeption Baudissins644. Dass dieser Abschnitt der »Empfehlung« der >objektivengeistigen Rüstung< entspricht, wird vor allem dann deutlich, wenn der innere Zusammenhang des Papiers im Auge behalten wird. Denn gleich eingangs hatte der >Ausschuß< gefordert, dass sich der Staat »des von der wehrfähigen Jugend geforderten Einsatzes wert« erweisen müsse, was u.a. nur dadurch zu bewerkstelligen sei, dass auch schon vor dem Wehrdienst dem Einzelnen alle nur erreichbaren Entfaltungsmöglichkeiten geschaffen würden. Solche Rücksicht auf das Interesse der individuellen Person, welche die zu verteidigende freiheitliche Ordnung ganz konkret auch als solche erleben und dann auch erkennen können müsse, prägte dann auch den Tenor der Bemerkungen zur politischen Bildung. Nur mittelbar, nämlich außerhalb ihres eigentlichen Kontextes, wurde dabei die gehorsamserleichternde Funktion solcher Bildungsarbeit insofern thematisiert, als die Förderung individueller »Fähigkeiten und Interessen« zugleich auch als Gewinn an »militärischer Tüchtigkeit« angegeben und der aufgeklärten Selbstdisziplin das Wort geredet wurde645. Indessen kann dieser Verzicht auf die Diskussion militärischer Verwertbarkeit, die mit Bezug auf die Erfordernisse des permanenten Bürgerkrieges - des Kalten Krieges also wie auch des Gefechtsfeldes des modernen >heißen< Krieges von Baudissin durchaus geführt wurde, auch als Ausfluss professioneller Selbstbescheidung eines Gremiums von Pädagogen begriffen werden646. 643 644

645

646

Information für die Truppe, 1 (1956), 1, S. 30 f. Vgl. Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 41-43. Die dort gesehene Differenz, der >Ausschuß< habe einen engeren Themenkreis empfohlen als der Graf, sollte angesichts der in der Ausschussempfehlung enthaltenen Anknüfungsmöglichkeiten und in Anbetracht der sehr günstigen Aufnahme der »Empfehlung« durch Baudissin nicht überbetont werden. Siehe oben S. 210-212, 217. Information für die Truppe, 1 (1956), 1, S. 28, 30. Vor diesem Hintergrund m.E. doch zu zugespitzt Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 43, der nach den Ausführungen des >Ausschusses< den »politische[n] Unterricht jedenfalls nicht als Mittel gedacht [sieht], die Befehlsgebung zu erleichtern«. Letzteres auch von Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 42 f., als Möglichkeit angedeutet. Der Aspekt des Kriegsbildes erscheint bei ebd., S. 37-41, zu stark abgeblendet.

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Indem die »Empfehlung« die »Bildungsaufgabe des militärischen Lehrers« anerkannte, bestätigte sie einen Auftrag, der v o n Anfang an der Inneren F ü h r u n g zugeschrieben w o r d e n war 6 4 7 . Dass politische Bildung eine Aufgabe qualifizierter militärischer Vorgesetzter sei, w a r in den ersten Jahren des Truppenaufbaus nicht m e h r ernsthaft umstritten. Abzulesen ist dies nicht zuletzt an der Behandlung dieses Aspektes im Z u g e der Beratungen des Soldatengesetzes im Verteidigungsausschuss 6 4 8 . Der v o n Baudissin ausgetragene Streit u m die innerministerielle Zuständigkeit stellt hierzu keine Einrede dar. A u c h hatten die bereits vorgestellten Gesetze, Verordnungen, Vorschriften u n d Erlasse einen strukturellen R a h m e n bereitgestellt, der - soweit es die Bundeswehr anlangte - Vorkehrungen dafür schuf, dass im Sinne der >objektiven< Variante >geistiger Rüstung< sich der Staat mit seinen Streitkräften - u m es mit d e m W o r t der »Empfehlung« z u sagen - seiner Soldaten >wert< erweisen, dass der Soldat a u c h seiner eigenen Freiheit w e g e n dienen konnte. W i e w a r es d e m g e g e n ü b e r u m die korrespondierende publizistische Praxis bestellt, wie verstanden die in der Unterabteilung hierfür Verantwortlichen ihre Aufgabe u n d mit w e l c h e m Ergebnis k a m e n sie ihr nach? Grimm hat sich zur Darlegung der Position Baudissins auf den 1955 erfolgten Nachdruck einer kleineren, thematisch enger begrenzten Veröffentlichung des Grafen aus dem Jahre 1954 gestützt: Baudissin, Staatsbürgerliche Bildung in der Truppe, unter dem Titel des Erstdruckes »Staatsbürgerliche Bildung und Erziehung zur politischen Verantwortung in der Truppe« nochmals veröffentlicht in Baudissin, Soldat für den Frieden, S. 255-260 (zu den Druckorten siehe ebd., S. 322). Im gleichen Jahr hatte Baudissin in einem umfassender angelegten Vortrag über »Probleme praktischer Menschenführung in zukünftigen Streitkräften« referiert, der dann in »Politik und Zeitgeschichte«, der Beilage zum »Parlament«, veröffentlicht wurde. Der dort entfaltete Zusammenhang zwischen dem Kriegsbild und der politischen Bildung sei hier nur in aller Kürze noch einmal in Erinnerung gerufen (siehe auch oben S. 60 f. passim und unten die Ausführungen zu LION NOIR): Seine Gegenwart sah Baudissin geprägt durch den »permanenten Bürgerkrieg]« zwischen dem totalitären und dem freiheitlichen Lager. Hier genüge »keine verschwommene, theoretische Loyalität« mehr. Nur der, der den Wert einer freiheitlichen Ordnung selbst erfahren habe, sei standfest genug, in dieser und für diese Ordnung Verantwortung zu übernehmen. Dies gilt für den Kalten wie für den heißen Krieg, im Hinblick auf beide für die »aufgeklafften [...] begrifflichen, staatlichen, politischen und taktischen Fronten«. Auch auf dem modernen Gefechtsfeld, »auf das hin nun einmal der Soldat erzogen und ausgebildet werden» müsse, hätten »Waffentechnik und Waffenwirkung« die Grenzen der Beaufsichtigungsmöglichkeiten immer enger gezogen und so »die Verantwortung immer stärker nach unten verlagert«, nämlich auf partnerschaftlich kooperierende »Teams und kleine Gruppen«. So können »Streitkräfte im Interesse ihrer Schlagkraft« gar nicht anders, als sich der Aufgabe stellen, die Soldaten »zur politischen Verantwortung« zu erziehen. In diesem Zusammenhang ist »eine Information, die dem Pluralismus unseres Lebens Rechnung trägt [und über] die großen Zusammenhänge der militärischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwelt« unterrichtet, das notwendige Seitenstück der für das Bestehen im >Bürgerkrieg< wesentlichen und gerade auch im Militär durchzuführenden Übung in freiheitlicher politischer Praxis. Vgl. Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung, S. 635, 637-639 - Hervorhebungen im Original. 647

648

Information für die Truppe, 1 (1956), 1, S. 31 (Zitat); BA-MA, BW 9/411, fol. 24, Dienststelle Blank, Regelung der >Inneren Führunglnformation< [sei es], der Truppe die Kenntnis der Tatsachen und Ereignisse laufend zu vermitteln, die der Einzelne braucht, um seine Verantwortung als Soldat und Bürger zu kennen, zu verstehen und anzuerkennen« - Hervorhebung im Original. Siehe oben S. 163 f.; zur vorangegangenen Diskussion vgl. die Beobachtungen bei Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 36-52.

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Politische Bildungsarbeit im Selbstverständnis der Unterabteilung

Die im Rahmen der Inneren Führung anfallende Bildungs- und Informationstätigkeit lag in den Händen des Referates IV Β 3, das im Zuge der Umgliederung zum Fü Β I 6 wurde. Unter Baudissin als Unterabteilungsleiter leitete das Referat zunächst Major Dr. Günter Will. Ab August 1953 in der Dienststelle Blank und dem späteren Verteidigungsministerium tätig, zählte auch er zu den langjährigen Mitarbeitern des Grafen. Von diesem zunehmend geschätzt, wechselte er noch vor seinem Vorgesetzten in die Truppe, nachdem er die Leitung des Referates an Fregattenkapitän Dr. Walter Flachsenberg649 abgegeben hatte650. Auf ihn gehen wesentliche Beiträge und Impulse zur akademischen Gestaltung des Lehrbetriebes an der Schule für Innere Führung und später an der Stabsakademie zurück, die zu einer verantwortungsgerechten, wissenschaftlichkritischen Urteilsbildung verhelfen sollten und die als Vorgabe zwar noch kaum Eingang in die Schule für Innere Führung, dafür aber in die Stabsakademie fanden651. In die Zeit seiner ministeriellen Verwendung fielen schließlich auch die publizistischen Anfänge der Unterabteilung. Zunächst schrieb sich das Referat IV Β 3 einen Auftrag zu, der in der Grauzone zwischen manipulativer Informationssteuerung und das Urteil offen lassendem Informationsangebot angesiedelt erschien. Soweit es die Begründung der Informationsarbeit betraf, ließ das Referat in einem Papier vom Februar 1956 weder die angemessene zeitgeschichtliche Tiefe noch eine hinreichende 649

650

651

Robert Walter Flachsenberg (1908-1994), Dr. phil., 1928 Eintritt in die Reichsmarine, 1932 zum Leutnant z.S. befördert, Bord- und Landverwendungen, darunter 1940-1942 Kommandant U 71, zuletzt als Korvettenkapitän 1945 Chef der Entwicklungsabteilung (TWa II) im Oberkommando der Kriegsmarine. 1946-1949 Studium u.a. der Romanistik, Anglistik, Geschichtswissenschaften in Kiel mit Abschluss Promotion. 1950-1957 als Schriftleiter, später Leiter der Presse- und Informationsabteilung in einem Industrieunternehmen. 1957 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Korvettenkapitän, 1957-1961 Stv. Referent IV Β 3, später Referatsleiter IV Β 6 bzw. Fü Β I 6; Beförderung zum Fregattenkapitän 1957, Beförderung zum Kapitän z.S. 1958; 1961/62 Unterabteilungsleiter Fü ΜI, 1962-1965 Kommandeur Marineartillerieschule, 1965/66 Leiter Stammdienststelle der Marine, 1966-1969 Admiral Erziehungs- und Bildungswesen der Marine im Marineamt; Beförderung zum Flottillenadmiral 1966. 1969 in den Ruhestand verabschiedet; nach Bradley/Würzenthal/Model, Die Generale und Admirale der Bundeswehr, Bd 1, S. 567 f. Zu Wills Verwendung vgl. BA-MA, BW 2/1154, IV B-IV Β 3, Truppen-Information, 9.1.1957, Anl. 7, >PersonallageWeltbürgerkrieges< die Versuchung einer propagandistischen Nutzung der >totalitären< Kontrastfolie stets gegenwärtig war. Den hinsichtlich des Verursachers noch unbestimmten Verdacht vor Augen, die Informationsaufgabe abtreten zu müssen - »auch in General Heusingers Hirn [habe sich] immer mehr der Gedanke festgesetzt« hatte Baudissin Ende März 1956 Will beauftragt, in einem eigenen Schriftsatz die Information als integralen Bestandteil der Inneren Führung auszuweisen und dabei auch »die Grenzziehung zu 652

BA-MA, BW 2/1154, IV Β 3, Information, 21.2.1956.

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Drews« deutlich herauszuarbeiten653. In den daraufhin angestellten Überlegungen war von einer abgestuften Versorgung mit Information oder gar von einer Versorgung mit nicht zur Veröffentlichung gedachter Information nicht mehr die Rede. Stattdessen ging die »Truppen-Information« restlos in dem auf, was sich aus ihrer untrennbaren Einheit mit dem »staatsbürgerliche^] Unterricht [und der] Erziehung und Bildung« ergab. Unter Verweis auf den im kürzlich verabschiedeten Soldatengesetz erteilten Auftrag wurde sie ausschließlich als »Bildungsarbeit« vorgestellt und als »das wichtigste Mittel, um [...] Geist und Moral für die weltanschauliche Auseinandersetzung mit dem Totalitären zu stärken«. Die Abgrenzung zur Informationsarbeit der Drewsschen Unterabteilung ergab sich dabei schon anhand der unterschiedlichen Zielgruppen: hier der Truppe, dort der Öffentlichkeit. Allerdings wurde jener Ansatz, der von der den Pluralismus voraussetzenden politischen Bildung seinen Ausgang nahm und der mit dem gesetzlichen Verbot einseitiger Meinungsbegünstigung einherging, in diesen Positionsbeschreibungen bei aller Berufung auf die gesetzliche Grundlage noch nicht ausdrücklich bestätigt654. Auch war das dort umrissene Verständnis noch längst nicht Gemeingut innerhalb der Unterabteilung geworden. Denn in einer Sammlung von Vorträgen, die vor dem ersten >Offizierlehrgang< in Sonthofen im Frühjahr 1956 gehalten wurden, finden sich auch zwei Beiträge, welche die Truppeninformation zumindest streckenweise in einem Tenor vorstellen, der sich nur schwer mit dem Vorsatz möglichst umfassender Information und mit einer Ermutigung zu eigenem Urteil in Einklang bringen lässt. So hatte Karst offensichtlich Gelegenheit, in einem ausgedehnten Einführungsvortrag den Offizieren in Sonthofen auch die Truppeninformation unter dem Vorzeichen der in der Informationsbroschüre zum »künftigen Soldaten« greifbaren konservativen Sicht nahezubringen655: In der mündlichen Präsentation, welche die Feder der programmatischen Schrift des Vorjahres verriet, wurde die Information als die »im Spannungsfeld des Kalten Krieges« gebotene »ausdrückliche Deutung« eingeführt, die »gegen Propaganda und Agitation in der psychologischen Kriegführung« immunisiere. Gedacht als Vermittlung »elementare[r] Kenntnisse über Verfassung, Demokratie und staatsbürgerliche Pflichten und Rechte« wie auch als Unterrichtung über »bedeutsame Tagesereignisse«, erschien die Truppeninformation als Beitrag zur Integration in die westliche Staatengemeinschaft, als Mittel, die noch ungewohnte demokratische »Gemeinschaft verpflichtend zu machen«, als Brückenschlag zu dem »im 653 654

655

BA-MA, BW 2/1511, Baudissin an Will, 29.3.1956. Ebd., IV Β 3, Stichpunkte für Information bei IV B, 28.3.1956; IV B-IV Β 3, Entwurf. Die Truppen-Information als Mittel der Inneren Führung, 6.4.1956 (2 Fassungen); IV B-IV Β 3, Die Truppen-Information als Mittel der Inneren Führung, 17.4.1956 (Zitate); in der zweiten Fassung der vorangegangenen Entwürfe war noch nachdrücklicher die Rede von der »Situation des Weltanschauungskampfes«. Vgl. BMVtdg VI B-VI Β 2, Vortrag des Major Karst beim 1. Offizierlehrgang in Sonthofen, Anschreiben vom 14.6.1956 und Vortragsmanuskript, dort die Informationsaufgabe S. 2 7 - 3 3 irreführend unter der Zuständigkeit von IV Β 6 abgehandelt, BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 32; auch ohne Anschreiben in ebd., 493/v. 36.

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Schmelztiegel der Jahrhunderte geläuterte[n] militärische[n] Erfahrungsgut« wie auch zu »Tradition und Geschichtsverwurzelung«, schließlich als Hilfe zur »Besinnung« auf das grundlegende Bild des »gewissensgebunden[en] Menschen], der sich Gott verantwortlich und der Gemeinschaft verpflichtet weiß«656. Eine mit einem solchen Zungenschlag umrissene Informationstätigkeit war mehr Erziehung zum Dienst als eine für die freiheitliche Ordnung werbende Förderung eigener Urteilsbildung. Auch ein weiteres Vortragsmanuskript zielte zunächst in die gleiche Richtung, ließ dann allerdings eine überraschende Wendung erkennen. Den Ausgangspunkt bildete die Beobachtung, dass infolge der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzenden deutschen Katastrophen die »Wehrbereitschaft [...] erschüttert« sei. Angesichts dessen unterstrich der Beitrag als erste Aufgabe der Information das Ziel, die »Einsicht in die politische Notwendigkeit des Wehrdienstes« zu fördern. Das ideologische Konfrontationsmuster des Kalten Krieges im Verein mit den Bedingungen des modernen Gefechtsfeldes, die den mitdenkenden und selbstständig agierenden Soldaten erforderten, unterstrichen nur noch die Bedeutung einer politischen Bildung für die Streitkräfte. Anliegen der die Unterrichtung über das Tagesgeschehen ergänzenden »allgemeine[n] Information« sei es, den Blick dafür zu schärfen, »daß keiner Generation Mühsal und Leid erspart [worden] und daß Erfolge meist mit Leid und Rückschlägen verbunden« gewesen seien657. Soweit erschöpfte sich die Beschreibung der der Information zugedachten Aufgaben darin, die Verwendbarkeit des Soldaten auf dem Gefechtsfeld zu verbessern. Die mit solcher Instrumentalisierung einhergehende Ausblendung der Perspektive des betroffenen Einzelnen fand dann aber doch insofern Eingang in den Text, als aller »Inhalt« der Informationsarbeit an »die personale Freiheit, die Achtung vor der Würde des Menschen und das unabhängige Recht« als das tragende »gemeinschaftliche Kraftzentrum« zurückgebunden wurde. Eine Informationstätigkeit, die den Militärdienst aus dem Ziel der Friedenswahrung und der »Freiheit der eigenen Person« ableitete, korrespondierte immerhin ebenso mit dem eigenen Interesse des Staatsbürgers in Uniform, wie sich die Forderung, im Rahmen der politischen Bildung »die kritische Sonde an unsere Geschichte und unser bisheriges Geschichtsbild anzulegen«, von den eben erwähnten Karstschen Einlassungen deutlich abhob658.

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Vortrag Major Karst beim 1. Offizierlehrgang in Sonthofen, S. 26-30, BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 36. Grundzüge der Information in der Truppe (ungezeichnetes Vortragsmanuskript in der Sammlung der vor dem 1. Offizierlehrgang in Sonthofen gehaltenen Vorträge), S. 2 - 4 , BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 36. Ebd., S. 5 - 8 . Professor Dr. Claus Freiherr von Rosen danke ich den Hinweis, dass dieser zweite Vortrag von Günter Will gehalten wurde. Zieht man Wills spätere programmatische Ausführungen hinzu - unter Einschluss der postum publizierten Erklärungen zum »Umgang mit Information« (Will, Freiheit und Verantwortung, S. 133-142) -, so wird nicht zuletzt unter Berücksichtigung des ebd. eingeräumten Lernprozesses in dem ungezeichneten Vortragsmanuskript in der Tat jene für Will kennzeichnende Position bereits erkennbar, die der Achtung vor dem Informations- und Meinungsbildungsrecht des Anderen einen überragenden Stellenwert einräumt.

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Welche Schwierigkeiten es indessen bereitete, in der Situation des mit propagandistischen, agitatorischen Mitteln ausgekämpften Kalten Krieges den mündigen und damit auch gegenüber den eigenen Verhältnissen kritischen Staatsbürger nicht aus dem Blick zu verlieren, zeigte sich an der Frage des Umganges mit Material kommunistischer Provenienz. Als das Referat die Verteilung der Zeitschrift »Ost-Probleme« ankündigte, die - herausgegeben von der Botschaft der Vereinigten Staaten - Zeugnisse aus kommunistischer Feder zusammen mit eigenen Kommentaren veröffentlichte, sah es sich zu der nachdrücklichen Warnung veranlasst, kommunistische Texte nicht unkommentiert der Truppe zugänglich zu machen. Ein Auslegen der Zeitschrift etwa in Lesezimmern sei derzeit nicht ratsam. Als gehe es um die immunisierende Wirkung einer Schutzimpfung, wurde die Verteilung der Zeitschrift damit gerechtfertigt, dass das Vorenthalten einschlägiger Originale »unrealistisch und gefährlich« wäre, würde damit doch »illegal in die Truppe eingeschleustes kommunistisches Agitationsmaterial« nur an Attraktivität gewinnen und im Kriegsfall der einzelne Soldat dem psychologischen Angriff nachgerade »wehrlos« ausgeliefert sein. Erfolgversprechend sei hier allein die »vorbeugende« Gefahrenabwehr, die mit der Ideologie des Gegners gleichsam in sorgfältig bemessenen Dosen vertraut mache. Dies mochte auf eine Generation von ehemaligen Wehrmachtoffizieren berechnet gewesen sein, die im >Weltanschauungskampf< vielleicht erst noch an den Gedanken gewöhnt werden mussten, die Propaganda des anderen selbst verbreiten zu müssen. Das doktrinäre Schwarz-Weiß-Gemälde wurde jedoch seitens des Referates geradezu herausgefordert, als es vom »Einheitsführer« verlangte, »sich niemals auf die negative Darstellung des Kommunismus [zu] beschränken, sondern diesem immer zugleich die positiven Werte unserer freien Welt entgegen[zu]halten«659. Dieses empfohlene Vorgehen entrückte die eigene Ordnung der sie doch allererst auszeichnenden kritischen Diskussion und reduzierte sie auf die bloße Verneinung der totalitären Alternative. Und als Zeugnis eines Vertrauens in die Urteilsbildung der Soldaten kann die Empfehlung dieses Papiers jedenfalls kaum begriffen werden. Gleichwohl hatte sich das Selbstverständnis des Referates im Laufe des ersten Jahres immerhin der Auffassung des >Deutschen Ausschusses< von der politischen Bildungsarbeit und damit der objektiven Variante angenähert. In einer Aufgabenbeschreibung vom Januar 1957 diente die Truppeninformation nunmehr dem »Ziele [...], den Soldaten zu selbständiger Meinungsbildung zu befähigen«, wobei das Vorgehen »den differenzierten politischen Auffassungen in einem freiheitlichen Staat Rechnimg« tragen müsse. Diesem dem Auftrag des Gesetzgebers entsprechenden, eigentlichen Ziel waren die weiteren Begründungen nachgeordnet, denn diese wurden jetzt nur mehr als Widerlegung möglicher Einreden vorgetragen. Der Hinweis, dass unter den Gegebenheiten des modernen Krieges allein noch »der informierte Soldat« den Auftrag mit der gebotenen Selbstständigkeit erfüllen könne, erschien nicht mehr als eigenstän659

BA-MA, BW 2/1160, I V B - I V B 3 , Hinweise für die Verwendung kommunistischer OriginalDokumente bei der Truppen-Information, 22.8.1956, Zitate S. 2 - Hervorhebung im Original.

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diges Argument, sondern nur noch als Entkräftung jener Kritik, die in der die »Vielfalt der Meinungen« spiegelnden Informationsarbeit eine Gefährdung des militärischen Zusammenhaltes erblickte660. Diese Prioritätensetzung unterstrich noch einmal eindrucksvoll das im Herbst 1957 veröffentlichte »Handbuch Innere Führung«. Der von Will gänzlich neu gefasste Beitrag zur Truppeninformation661 hielt ein ausgedehntes Plädoyer für die »Entfaltung der Vielfalt«, »die Freiheit der Meinungsäußerung und die Freiheit in der Wahl der Informationsmittel«, nach der es auch dem Soldaten offenstehen müsse, »[s]elbst Sendungen aus dem totalitären Bereich der Welt [...] ab[zu]hören«. Dass der Soldat sich dem Auftrag der Friedens- und Freiheitssicherung gerade auch »für sich selbst« stelle, wurde abschließend bei den Ausführungen zu dem nahezu wortgleich aus der Aufgabenbeschreibung vom Januar übernommenen Ziel deutlich, »den Soldaten zu selbständiger Meinungsbildung zu erziehen und zu befähigen«. Die im Hinblick auf die Anforderungen der »psychologischen Kampfführung« und des »heißen Gefecht[es]« beabsichtigte Schulung der Urteilsfähigkeit des Soldaten wurde ausdrücklich als »vorletzte[s] Ziel der Truppen-Information« eingestuft. Diesem als dann »letzte[s] Ziel« vorgeordnet war »der Mensch«, der zum Schutz der freiheitlichen Ordnung verpflichtet - ein »Recht darauf [habe], von seinen Vorgesetzten [...] nicht belogen, sondern informiert zu werden«662. Welchen Niederschlag aber fand dieses Verständnis, das in den Anfangsjahren sonach zunehmend eher der >objektiven< Variante >geistiger Rüstung< entsprach, in den Veröffentlichungen des Referates, in dem mit Stand Januar 1957 unter Einschluss des Referenten und ohne Büro- und Schreibpersonal sieben Bearbeiter damit beschäftigt waren, »den Soldaten mit Ereignissen und Zusammenhängen von allgemeiner, besonders gegenwartspolitischer und auch zeitgeschichtlicher Bedeutung bekannt[zu] machen«663? In den Blick geraten hier die Zeitschrift »Information für die Truppe«, sodann die »Schriftenreihe Innere Führung« und das unter Einschluss des Registerbandes schließlich auf sechs

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BA-MA, B W 2/1154, IV B-IV Β 3, Truppen-Information, 9.1.1957, S. 1 f. Vgl. B A - M A , unverzeichneter Bestand Fü S I 3, Az.: 35-08-07, Schriftverkehr und korrigierte Manuskripte z u m »Handbuch Innere Führung«, Sachstandsvermerk Martin Koller, 20.11.1956: »Information: fertig im Umriss (Diskussion mit Dr. Will über Aufbau im Gange)« - Hervorhebung im Original. Handbuch Innere Führung - 1957, S. 1 4 1 - 1 5 8 , Zitate S. 1 4 5 - 1 4 7 , 157 f. B A - M A , B W 2/1154, IV B-IV Β 3, Truppen-Information, 9.1.1957, S. 2 (Zitat), und ebd., Anl. 7, >PersonallageÜber das Verhältnis der zivilen und militärischen Gewalt< an der Deutschen Hochschule für Politik gehalten wurden«, wobei hier nicht allein Wissenschaftler, sondern auch Politiker das Wort hatten. Aus diesen beiden Autorenkreisen kamen dann auch die Verfasser der 1959 und 1960 erschienenen letzten beiden Sammelbände, die das Handbuch inhaltlich auch unter Verwendung von Zweitdrucken abrundeten 667 . Während die redaktionelle Betreuung der »Information für die Truppe« für die ersten Jahrgänge in den Händen zweier Angestellter bzw. Beamter des Referates >Truppeninformation< lag, Dr. Heinz Hund 668 und Martin Koller669, Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung, 6 Bde. Hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Innere Führung, Tübingen 1957-1961. Vgl. auch für die im Folgenden mitgeteilten Einzelheiten zu den Veröffentlichungen Grimm,... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 62-68, 79-84, sowie die Angaben in dem dazugehörigen Apparat ebd., S. 254-257, 262-264. 665 Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 50, 55, 66, 72, 74, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 9.8. (Festlegung des Inhalts der ersten Nummer), 14.8. (Festlegung der Aufmachung), 23.8 (letzte Verbesserungen), 27.8. (in Vertretung des Staatssekretärs Genehmigung des ersten Heftes durch den Leiter Abteilung X, Verteidigungswirtschaft, MinDir Dr. Wolfgang Holtz), 29.8.1956 (vorliegende Unterschrift des Ministers). 666 p r a g e n z u m Bolschewismus; Krieg und Revolution; Wiederaufstieg aus Trümmern; Bundestag und Bundesrat; Der Staatsbürger in der demokratischen Gemeinschaft; Außenpolitik. Grundlagen und Möglichkeiten. 667 BA-MA, BW 2/1154, I V B - I V B 3 , Truppen-Information, 9.1.1957, Anl. 1; nach der dort vorgelegten Ubersicht sind - wie ein Vergleich mit dem Registerband (Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 6, S. VII-XII) ergibt - neun von den insgesamt 27 Beiträgen, die in den ersten beiden Bänden abgedr. worden sind, als Referate im Zuge der Sonthofener Kommandeur-Lehrgänge vorgetragen worden; vgl. dazu BA-MA, BW 2/16.293, Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung im Bundesministerium für Verteidigung in Bonn, 10.10.1958, S. 11; Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 3, S. 7 (Zitat). 668 Dr. Heinz Hund, Chefredakteur der »Information für die Truppe« 1956-1982. Ein engagierter, auch persönlich gefärbter vorläufiger Rückblick auf seine Redaktionstätigkeit findet sich in Hund, Information für die Truppe. 669 Vgl. im Zusammenhang BA-MA, BW 2/1154, IV B-IV Β 3, Truppen-Information, 9.1.1957, Anl. 7, >Personallageformalen< Kriterien sogleich solche zur inhaltlichen Einordnung der Texte anschließen. Im Vordergrund stehen dabei Hefte der »Information für die Truppe«. Denn eher noch als einzelne Beiträge zur »Schriftenreihe«, die in der Regel von jeweils einem Autor verfasst wurden, mehr noch auch als die »Schicksalsfragen der Gegenwart«, die bis 1958 mit den ersten drei Bänden zu einem großen Teil die Manuskripte bereits gehaltener Vorträge und Vorlesungen fremder Verfasser veröffentlichten, vermittelt die in der Unterabteilung Baudissins bzw. dem Referat Wills entstandene Zeitschrift ein authentisches Zeugnis von dem dort vorherrschenden Verständnis publizistischer Praxis. b)

»Information für die Truppe«

Hinsichtlich der in der »Information für die Truppe« präsentierten Themen ist in der Literatur in Anlehnung an die Schrift »Vom künftigen deutschen Soldaten« nach >AuslandskundeGeschichteStaatsbürgerkundeWehrkunde< und >Deutsche Frage< unterschieden worden673. Legt man diese Einteilung zugrunde, dann fallen zunächst die über drei Jahrgänge cum grano salis gleichbleibenden Anteile der einzelnen Bereiche auf, was angesichts der Abhängigkeit einer aktuellen Information von den weltpolitischen Wechselfällen überrascht. Der Bereich, bei dem es zwischen 1956 und 1958 zu den ausgeprägtesten Veränderungen kam, versammelte die von dem Raster nicht erfassten Beiträge, die im Wesentlichen den Blick in die Bundeswehr richteten. Dass der Anteil der Texte, die z.B. von dem Besuch beim Panzerlehrbataillon in Munsterlager, über das Verhältnis von Truppen- zu Generalstabsoffizieren oder über Initiativen im Rahmen der Freizeitgestaltung berichteten674, von 15 Seiten oder neun Prozent im Jahre 1956 über 87 Seiten (16 Prozent) 1957 auf 1958: 212 Seiten und damit 25 Prozent zunahm, spiegelte lediglich den Aufwuchs der Streitkräfte675. Gegenüber dieser Zunahme fielen die Verschiebungen in anderen Bereichen eher bescheiden aus. Die mit Schwerpunkt der >Deutschen Frage< gewidmeten Beiträge schwankten um einen Anteil von zehn Prozent676. Als ähnlich konstant erwies sich die Repräsentanz des Themenfeldes >WehrkundeStaatsbürgerkunde< bei einem guten Sechstel678, knapp gefolgt von geschichtlichen Themen679. Und selbst das Krisenjahr 1956 führte nicht zu einer dramatischen Erhöhung des Anteils der Beiträge, die dem Themenfeld >Auslandskunde< zuzuordnen waren680. Deren Anteil schwankte wie jener der >Wehrkunde< zwischen einem Viertel und einem Fünftel, sodass sich eine eindeutige Schwerpunktsetzung - nicht zuletzt in Anbetracht des Aufwuchses bundeswehrinterner Themen - zunächst nicht abzeichnete681. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn der etwas ausgefeiltere Zugang genutzt wird, für den sich der >Beirat für Fragen der inneren Führung< entschieden hat. In ihrem Gutachten vom 10. Oktober 1958 ordnete die aus seiner Mitte gebildete Kommission die Beiträge der »Information für die Truppe« nach den Bereichen >KommunismusInterne BundeswehrfragenFragen aus dem Bereich der NATOSonstige Außenpolitik^ Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte^ >MilitärgeschichteAussenpolitik< gewidmet« worden. Davon sei knapp die Hälfte auf das Thema >Kommunismus< entfallen. Zeitgeschichtliche Fragen, sodann die der politischen Bildung doch eigentlich zuzurechnenden innenpolitischen Themen, wirtschaftlichgesellschaftliche Fragestellungen und pädagogische Handreichungen fielen demgegenüber deutlich zurück682.

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1956: zehn Beiträge mit 30,5 S. (19 %) - 1957: 28 Beiträge mit 147,5 S. (27 %) - 1958: 24 Beiträge mit 158 S. (19 %). 1956: elf Beiträge mit 37,5 S. (23 %) - 1957: 13 Beiträge mit 75,5 S. (14 %) - 1958: 23 Beiträge mit 125,5 S. (15 %). 1956: sechs Beiträge mit 20 S. (12 %) - 1957: 6 Beiträge mit 37,5 S. (7 %) - 1958: 14 Beiträge mit 116,5 S. (14%). 1956: elf Beiträge mit 44 S. (27 %) - 1957: 27 Beiträge mit 135,5 S. (24 %) - 1958: 25 Beiträge mit 158 S. (19 %). Siehe auch Grimm,... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 64. BA-MA, BW 2/16.293, Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung im Bundesministerium für Verteidigung, Bonn, 10.10.1958, S. 5 f. Nach der dortigen Erhebung entfielen auf die einzelnen Bereiche >KommunismusInterne Bundeswehrfragen.: 20 Beiträge mit 109 S. (19%) - »Fragen aus dem Bereich der NATOc elf Beiträge mit 73 S. (12 %) - »Sonstige Außenpolitik.: sieben Beiträge mit 68 S. (11 %) - Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte.: fünf Beiträge mit 53 S. (8 %) - >MilitärgeschichteSerie Bundesländer.: vier Beiträge mit 33 S. (5 %) - »Deutscher Osten.: ein Beitrag mit 10 S. (1 %) - »Themen aus Wirtschaft und Gesellschaft«: vier Beiträge mit 25 S. (3 %) - »Pädagogische Hilfen«: drei Beiträge mit 19 S. (2 %) - »Sonstiges«: neun Beiträge mit 28 S. (4 %).

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Wenngleich die mit der Prüfung beauftragte Kommission des >Beirates< lediglich die ersten 14 Hefte des Jahrganges 1958 begutachtet hat, nährt eine solche Konzentration auf den ideologischen Gegenspieler den Verdacht, die Redaktion der »Information für die Truppe« habe der Versuchung nicht widerstehen können, von dem auf der anderen Seite gesehenen Kontrast ausgedehnten Gebrauch zu machen mit dem Ergebnis eines Schwarz-Weiß-Gemäldes. Ein entsprechendes Unbehagen lässt auch der im >Beirat< erstattete und dort übernommene Bericht erkennen: So unstrittig »die Bedeutung einer eingehenden Unterrichtung über die Gefahren des Bolschewismus« sei, so wenig dürfe doch unbeachtet bleiben, »dass auch andere Gefahren für die Demokratie in unserem Volke existent bzw. latent« seien683. Bei der damit aufgeworfenen inhaltlichen Prüfung kann der »Information für die Truppe« indessen bescheinigt werden, dass sie in ihren ersten Jahrgängen den Kommunismus nicht in die Position des einen, alles bestimmenden Gegenpols erhoben hat. Immerhin wurde in einem vergleichsweise ausführlichen Aufsatz das totalitäre System 1958 nicht nur am Beispiel der kommunistischen, sondern eben auch an dem der nationalsozialistischen Herrschaft dargestellt684. Ein Jahr zuvor erschien dieser doppelte, der Kontrastfolie >Sowjetsystem< die Ausschließlichkeit nehmende Bezug in der gleichzeitig selbstkritischen Anmerkung, dass bei »manchen Äußerungen, die sich mit dem Kommunismus beschäftigten, [...] einen das ungute Gefühl [beschleiche]: dasselbe hätte vor 20 Jahren im >Völkischen Beobachter stehen können, oder aber [...], mit ganz unwesentlichen Änderungen, im sowjetzonalen >Neuen Deutschland^85.« Überdies wurde nicht jede Entwicklung in der Sowjetunion - zu denken wäre hier an die Betrachtungen zur Kampagne gegen die Bürokratie686 - sogleich unter ein eindeutig negatives Vorzeichen gestellt. Und schließlich erschien in der »Information für die Truppe« damals auch nicht jeder Konflikt als Ausfluss der Ost-West-Konfrontation. Zwar wurde auch das Interesse der Sowjetunion als ein Faktor identifiziert, der den Nahost-Konflikt schüre, aber eben nur als ein Faktor unter anderen, die vor allem den Zusammenhang der Entkolonialisierung spiegelten687. Der Beitrag über die Zypern-Frage kam sogar gänzlich ohne einen Bezug zur Sowjetunion aus688. Die von der »Information für die Truppe« damals gezeichnete Weltsicht

BA-MA, BW 2/16.293, Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung im Bundesministerium für Verteidigung, Bonn, 10.10.1958, S. 5 f.; vgl. auch ebd., Stellungnahme des Beirats zu der politischen Information der Truppe zur Vorlage beim Bundesminister für Verteidigung - Entwurf des Unterausschusses »Information^ 25.11.1958. 684 Das totalitäre System. In: Information für die Truppe, 3 (1958), 6, S. 229-251, und Was ist eine totalitäre Partei?, ebd., S. 252 f. 685 Deutsche Sprache zwischen Amtsschimmel und Groschenroman. In: Information für die Truppe, 2 (1957), 4, S. 6-11, Zitat S. 10. 686 Chrutschschews Plan zur Dezentralisierung der sowjetischen Wirtschaft und was dahinter steckt. In: Ebd., 10, S. 16-23. 687 Vgl. Der Suez-Konflikt. In: Ebd., 1 (1956), 1, S. 23-27, und Spannungen in Nahost. In: Ebd., 4, S. 123-128. 688 Das Problem Zypern. In: Ebd., 3, S. 77-79. 683

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ging demnach - unbeschadet der vom >Beirat< angemerkten Schwerpunktsetzung - nicht in einem einfachen Schwarz-Weiß-Kontrast auf. Was das Kriterium der ausgewogenen Präsentation strittiger Sachverhalte anlangt, so fällt zunächst das Bestreben auf, der Position jeweils einer der beiden großen Volksparteien die der anderen gegenüberzustellen. Wo die Union vorgestellt wurde, durfte das Selbstzeugnis der SPD nicht fehlen689. Gewiss ist die Präsenz des Verteidigungsministers in der Zeitschrift nicht zu übersehen. Allein im Jahre 1958 war Strauß über das übliche Grußwort zum Jahreswechsel hinaus mit einem langen Interview und drei ausgedehnteren Beiträgen zu Wort gekommen 690 . In Fragen von zentraler Bedeutung - wie etwa der Auseinandersetzung um die Ausrüstung der Bundeswehr mit nuklearfähigen Trägersystemen - kamen jedoch die gegensätzlichen Standpunkte der damaligen politischen Debatte in jeweils angemessener Breite zur Sprache691. Damit korrespondierte inhaltlich eine Art Einführungskurs in die legitime Grundtatsache des politischen Pluralismus. Augenscheinlich musste Mitte der 50er-Jahre die Vorstellung, »das >Volk< sei von Natur aus >einigStalingrad< als Sichtbarwerden einer lange zuvor schon einsetzenden »Katastrophe« vorgestellt wurde, als Lehrstück über »die Grenzen des militärischen Gehorsams« unter einem längst als >verbrecherisch< erkennbaren und von Vielen so auch erkannten Regime und schließlich als Verpflichtung zum Schutze der menschlichen Würde und zur Wahrung des Friedens695. In die gleiche Richtung zielte das Eingeständnis, »Millionen von Europäern« hätten im Wehrmachtsoldaten nur »den Repräsentanten eines verbrecherischen Staates [erblicken können], der durch seinen Waffendienst die Vernichtung von Millionen von Menschen schützte und ermöglichte«696. Wenngleich solche Formulierungen noch davor Halt machten, unmittelbare Beteiligungen am Genozid zuzugeben, rückten sie doch die Wehrmacht dicht an eine schwerstkriminelle Staatsführung heran. Genau diese Nähe wurde auf der anderen Seite wiederum in Abrede gestellt, wenn etwa in zeittypischem Sprachgebrauch durchweg von den »Kriegsverurteilten« gesprochen wurde und die nach dem Kriege von den Gerichten zur Rechenschaft gezogenen Soldaten der »selbstverständlichen menschlichen Anteilnahme« gewiss sein durften, während umgekehrt der gegen sie erhobene Vorwurf als Unterstellung »angeblicher Kriegsverbrechen« recht unverblümt nämlich mit dem implizierten Vorwurf der Urteilswillkür - an die Justizbehörden zurückgegeben wurde 697 . Mit ähnlichem Ergebnis, wenn auch auf andere Weise, verneinte der 1958 aus Anlass des 20. Juli erfolgte auszugsweise Abdruck von Heusingers »Befehl im Widerstreit« die Verstrickung der Wehrmachtelite. Der in der »Information für die Truppe« erneut veröffentlichte Ausschnitt aus den 1950 erstmals publizierten szenischen Rekonstruktionen 698 gab nicht die vom Attentat unmittelbar handelnde, sondern die das Kriegsende verarbeitende Passage wieder. Darin ging es ausschließlich um die Verantwortung des militärischen Führers angesichts eines unabwendbaren militärischen Zusammenbruches 699 . Die den Kontext der militärischen Zweckfrage nicht verlassenden Überlegungen verfehlten jedoch, so begründet und gegenüber der leidenden eigenen Bevölkerung verantwortungsvoll sie auch immer vorgetragen werden mochten, die verbrecherische Dimension des nationalsozialistischen Krieges, die in den oben erwähnten Beiträgen immerhin angeklungen

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Der Ausbruch der November-Revolution 1918. In: Ebd., 3, S. 91 (Zitat)-94. Stalingrad. In: Ebd., 2 (1957), 3, S. 23-34, Zitate S. 24, 31 - Hervorhebung im Original. Landser 1945 - Staatsbürger in Uniform 1957. In: Ebd., 8, S. 2-4 (Zitat). Die deutschen Kriegsverurteilten. In: Ebd., 1, S. 30-32; vgl. zur Virulenz der Kriegsverbrecherfrage und zum Umgang mit ihr bis in die späteren 50er-Jahre Frei, Vergangenheitspolitik, S. 133-306. Heusinger, Befehl im Widerstreit. Zum 20. Juli. In: Information für die Truppe, 3 (1958), 10, S. 425-428 (Auszug aus Heusinger, Befehl im Widerstreit, S. 384-388).

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war und die in den Zusammenhang des Attentates eingefügt ist. Solche Verengung des Krieges wurde noch konsequenter vorangetrieben durch die 1958 aufgenommene Artikelserie »Der Soldat im modernen Gefecht«, die das Erlebnis im unmittelbaren Umkreis von Kampfhandlungen nicht im Wege nüchterner Analyse, sondern anhand einer packenden Erzählung nahezubringen suchte700. Dass indessen neben schon anspruchsvollerer Reflexion die Nähe zum trivialen Kriegsroman im Groschenheftformat zumindest nicht mit aller Konsequenz gemieden wurde und dass neben dem Eingeständnis der Verstrickung auch deren Ausblendung stand, spiegelt dabei ebenso wie das Sich-Einlassen auf die verschiedensten politischen Positionen ein breiteres Band der Mitte der 50erJahre in der Bundesrepublik für vertretbar gehaltenen Deutungen. So abseitig manche Passage heute auch wirken mag, lässt dies doch auch einen durchaus pluralistischen Ansatz erkennen. Bei dem dritten und letzten Kriterium - der Frage nach der das Vorurteil begünstigenden oder diesem entgegenwirkenden Form der Darstellung - kommen neben dem Grad ermöglichter Nachprüfbarkeit auch äußere Momente der Gestaltung in das Blickfeld. Von Anfang an hat sich die »Information für die Truppe« nicht als eine wissenschaftsnahe, geschweige denn als eine wissenschaftliche Zeitschrift verstanden. Nur in den seltensten Fällen wurden Aussagen mit einer entsprechenden Fundstelle belegt701. Allerdings wurden Beiträge häufiger mit dem Hinweis auf weiterführende Literatur abgeschlossen. Insbesondere der erste Jahrgang erweckt so den Eindruck einer gehobenen politischen Monatszeitschrift, etwa nach Art der »Frankfurter Hefte«. Dieses Erscheinungsbild wurde noch dadurch unterstrichen, dass das Layout noch ausgesprochen asketisch gehalten war. In den Heften wurde auf Illustrationen und Farbgebung verzichtet. Die Hervorhebungen im Text fielen sparsam aus, und die Einbandgestaltung bediente sich mit »drei pastellfarbene[n], nach links weisendefn] Keilefn]« auf hellgrauer Fläche einer sehr zurückhaltenden, abstrakten Symbolik, die als nach Westen gerichteter ideologischer Angriff gedeutet werden konnte702. Schon mit dem ersten Heft des nächsten Jahrganges wurde eine Entwicklung eingeleitet, in deren Verlauf der optischen Attraktivität ein zunehmend größeres Gewicht beigemessen wurde. Bei zunächst noch unveränderter Textgestaltung erwartete auf dem Einband auf nunmehr uniformgrauem Grund ein in >Rührt-Euch-Stellung< befindlicher Soldat unter Stahlhelm und Gewehr die 700 Angst. In: Ebd., 11, S. 501-504. Die unter dem Reihentitel »Der Soldat im modernen Gefecht« begonnene »Folge«, mit der »typische Erlebnisse, Reaktionen und Verhaltensweisen von Soldaten auf den Schlachtfeldern des letzten Krieges« dargestellt werden sollten (S. 501), orientierte sich am spannungsgeladenen Erlebnisbericht und wurde 1959 unter dem Titel »Der Soldat im Zweiten Weltkrieg« fortgeführt. Vgl. Vor dem Einsatz. In: Ebd., 4(1959), 12, S. 720-723. 701 Eines der wenigen Beispiele für die kaum befolgte Praxis der Nachweisführung liegt mit dem Beitrag »Die Partei sagt, was richtig und was falsch ist«. In: Ebd., 3 (1958), 11, S. 62-65, vor. Die dortige Angabe von Fundstellen ist zwar immer noch ungenau, letztlich aber hinreichend. 702 Schmidt, Die bildhafte Vermittlung, S. 172 f., Zitat S. 173; auch zu der auf Martin Koller zurückgehenden stilisierten Figur des Staatsbürgers in Uniform.

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nach wie vor durch Keile dargestellte > Attacken Das vierte Heft dieses Jahrganges brachte mit dem Portrait von Tschou En-lai (Zhou Enlai) erstmals eine Illustration703. In der darauffolgenden Ausgabe fand sich die erste Karikatur, in der dem >unterwühlenden< Gegner die Gestalt von Wühlmäusen, wenn nicht gar Ratten gegeben worden war704. Der Trend zu immer mehr Illustrationen - Grafiken, Zeichnungen, Fotografien oder auch Karikaturen - setzte sich im nächsten Jahrgang mit einem weiteren qualitativen Sprung fort, nämlich mit dem Übergang zur Farbe. Schon die Einbandgestaltung der ersten Nummer des Jahrgangs 1958 ersetzte die bisherige Grautönung durch einen grünen Grund, kontrastiert mit roter, weißer sowie schwarzer Schrift und z.T. gelber Konturierung. Weggefallen waren die Keile, geblieben der stilisierte Soldat mit Stahlhelm und Gewehr. Auch im Text hielt die Farbe ab dem zweiten Heft zunehmend Einzug, wobei die farbliche Hervorhebung noch nicht eindeutig der Kennzeichnung einer bestimmten Position diente, also z.B. >rot< weder durchgängig das gegnerische Lager noch >blau< das eigene signalisierte. Erstmals wurden 1958 auch die Anfangsbuchstaben einzelner Artikel zu einer eigenen, verzierenden Illustration gestaltet. Nicht auszuschließen ist es, im Gegenteil scheint es sogar nahezuliegen, dass auf die letzte Phase dieser Entwicklung der äußeren Gestaltung auch die Attraktivität eines hier bislang unbeachtet gebliebenen, damals noch ausgesprochen modernen Mediums abfärbte - der Film nämlich. 1958 entstand unter der Gesamtleitung von Hans-Ulrich Ahlefeld der Ausbildungsfilm »Was ist Innere Führung?«. Baudissin war von dem Ergebnis begeistert. Mit den kontrastreichen Stilmitteln des Zeichentrickfilms reklamierte der Streifen für sich - und für die Bundesrepublik und ihre Streitkräfte - die Modernität der 50er-Jahre, die von der Gegenwelt des vergangenen wie des gegenwärtigen totalitären Systems überdeutlich abgehoben erschien. Dabei präsentierte er »eine fast schon bizarr wirkende l:l-Animation«, die sich »extrem vereinfachte^] [...] graphischefr] Formen« bediente705. Was die werbende Suggestion eines populären Mediums an eindeutiger Botschaft für sich verbuchen mochte, lief indessen gleichzeitig auf eine drastische Reduktion der Komplexität706 hinaus. Indem die hiervon wohl kaum unbeeinflusste Zeitschrift sich an die Gestaltungsimpulse des im medialen Trend gelegenen Massenkommunikationsmittels anlehnte, das »sich wie kaum ein anderes Medium dazu eignete, das Selbstbild einer Armee zu transportieren« 707 , traten gestalterische Elemente zunehmend in den Vordergrund, womit die Nüchternheit der ersten Hefte einer auf den Affekt bezogenen Werbung zu weichen drohte. Während auf der Ebene der programmatischen Erklärungen zunächst zunehmend einer an der >objektiven< Variante >geistiger Rüstung< orientierten Bildungsarbeit das Wort geredet wurde, zeichnete sich hinsichtlich der Gestaltung der »Information für die Truppe« 703 704 705 706 707

Information für die Truppe, 2 (1957), 4, S. 13. Ebd., 5, S . l l . Siehe hierzu Protte, Auf der Suche, S. 590-597, Zitate S. 594. Ebd., S. 594. Schmidt, Krieg und Militär im deutschen Nachkriegsfilm, Zitat S. 447.

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eine Öffnung zugunsten manipulativer Optionen ab. Diese Tendenz fand jedoch augenscheinlich den Beifall des >Beiratesneutral< zu bleiben [...,] nur mit grösster Vorsicht« lasse sich die Zeitschrift auf zeitgeschichtliche Fragen ein. Hier drängte die Kommission auf »einen entschiedeneren Willen zur historischen Wahrheit«. Konkreten Anstoß nahm das Gremium an einem zwar in der Tat recht verunglückten Artikel, der gleich eingangs die Funktion von Parteien und Gewerkschaften mit einem defizitären Staatswesen in Zusammenhang gebracht und die herrschaftliche Seite mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Kirchenfürsten umstandslos in die Nähe moderner totalitärer Systeme gerückt hatte708. So ärgerlich aber der inkriminierte Beitrag auch war, griff die Hervorhebung der die Nüchternheit in den Hintergrund drängenden Gestaltung gleichzeitig mit dem Drängen auf eine >entschiedenere< Parteinahme, die schließlich nicht nur bei einem Aufsatz, sondern bei einer Vielzahl von Beiträgen vermisst wurde, doch eine Grundposition an, die zumindest die ersten, allerdings eben nicht mehr so eindeutig die ebenfalls noch unter Baudissin herausgebrachten späteren Hefte auszeichnete: Mit Nachdruck hatte der Graf selbst, der vor dem Erscheinen der ersten Nummern eigens auf die »äussere Aufmachung« der Zeitschrift Einfluss genommen hatte und so auch für deren zurückhaltendes Erscheinungsbild verantwortlich zeichnete709, seinen Mitarbeitern eingeschärft, »sich aller wertenden Urteile nach Möglichkeit zu enthalten; je nüchterner und sachlicher unsere Schilderungen [seien], desto mehr w[ü]rden sie überzeugen und desto weniger angreifbar sein«710. Damit ist die Frage des jeweiligen Anteils Einzelner an dem Erscheinungsbild des Periodikums aufgeworfen. Hatte Baudissin überhaupt schon die Informationsarbeit als Prüfstein für die gesamte Tätigkeit seiner Unterabteilung ausgewählt, so zeigte sich bei keiner zweiten Publikationsreihe das persönliche Engagement des Grafen deutlicher als bei der »Information für die Truppe«, und umso überraschender - aber auch umso kennzeichnender für die Einstellung des Grafen - wirkt zunächst die Kritik des >Beiratesmilitär-ideologischen< Vorgänge im kommunistischen Machtbereich und generell für die DDR sowie die unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete zuständig war, führte zu einem Auftrag an Hund, »etwas über die Sprache des Unmenschen [hier war nicht der Mitarbeiter gemeint, F.N.] in einem der nächsten Hefte zu schreiben«. Dem kam dieser augenscheinlich u.a. mit der bereits zitierten Passage zu der Nähe mancher eigener Ausführungen zu Texten im »Völkischen Beobachter« oder im »Neuen Deutschland« auch bald nach713. Ähnlich entschieden wie hinsichtlich der angezeigten >Nüchternheit< intervenierte Baudissin, der sich immer wieder zumindest in die Schlussredaktion einschaltete714, zugunsten der Ausgewogenheit. So wie er etwa Ende August 1956 darauf drang, dass einem Beitrag über den Evangelischen Kirchentag ein weiterer zum Katholischen Kirchentag an die Seite zu stellen sei, wollte er im Juni 1957 neben den Ausführungen von Carlo Schmid zur Frage atomwaffenfähiger Trägersysteme die von Eugen Gerstenmaier hierzu publiziert sehen715. Dass selbst der Kommission des >Beiratesum Sein oder Nichtsein geht< [,] alles nur Denkbare zu tun, hat sich tief eingefressen. Die Wurzeln sind sicher Unterlegeriheitsgefühl und stille Bewunderung für das Totalitäre bzw. die geringe Verhaftung im sächlichen. Naturgemäß haben die gleichen Menschen auch ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Vergangenheit - Nationalsozialismus und KZ's waren garnicht [sie!] so schlimm, die Juden sind nur eine kleine Minderheit - und zur Demokratie.« Ebd., 717/8, fol. 28, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 16.1.1957. Zu der - wie damals üblich - namentlich nicht gekennzeichneten auftragsgemäßen Replik siehe Deutsche Sprache zwischen Amtsschimmel und Groschenroman. In: Information für die Truppe, 2 (1957), 4, S. 6 - 1 1 . Vgl. hierzu BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 50, 55, 57, 66, 78, 127, 142, 166, 170, 189, 192, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 9., 14., 15., 23., 31.8., 3., 17.10., 13., 16.11., 3., 5.12.1956; ebd., 717/8, fol. 18, 151, 173, 176, 210, 220, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 14.1., 22.3., 5., 6., 21., 22., 26.6.1957; ebd., 717/9, fol. 50 f., 73, 85, 91, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 28., 29.7., 13., 22., 26.8.1957. Ebd., 717/7, fol. 78, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 31.8.1956; ebd., 717/8, fol. 176, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 6.6.1957. Ebd., 717/5, fol. 110, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 17.11.1955; vgl. ferner zur Übereinstimmung Baudissins mit Weniger ebd., 717/7, fol. 87, 150 f., Tagebuch Baudissin,

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sem Gremium >Zurückhaltung< und >Ausgewogenheit< in der Zeitschrift schon in einem Übermaß praktiziert erschienen, zeigt einmal mehr, dass in den ersten Jahrgängen auch auf Grund der Eingriffe des Grafen tatsächlich das Bestreben vorherrschte, das Urteil möglichst dem Leser zu überlassen (wiewohl die Aufmachung oder die 1958 begonnene Reihe der Kriegserlebnisschilderungen bereits in eine andere Richtung wiesen). Dies bedeutete allerdings nicht, dass die im Referat von Will für die »Information für die Truppe« zuständigen Mitarbeiter nur Ausführende der Entscheidungen des Unterabteilungsleiters oder seines für die programmatische Grundlinie in Vielem verantwortlichen Referenten waren. Einmal abgesehen von der Kritik am Stil des soeben erwähnten Hauptmanns scheinen sie von Baudissin häufiger zu ihren Initiativen ermutigt als bei ihren Arbeiten korrigiert worden zu sein. Vor allem zu dem in der Anfangszeit als Redakteur wirkenden Heinz Hund finden sich immer wieder zustimmende Eintragungen in Baudissins Tagebuch717. Während innerhalb der Unterabteilung - zuvörderst aber innerhalb des zuständigen Referates - Widerstände gegen Publikationsprinzipien, wie sie in dem gleich in der ersten Nummer abgedruckten Erklärung des d e u t schen Ausschusses< formuliert worden waren, in den ersten Jahren kaum zu gewärtigen waren, hatte es an einschlägigen Bedenken innerhalb des Ministeriums nicht gefehlt. Tendenziell lassen sich dabei zwei in charakteristischer Weise voneinander unterschiedene Kritikmuster ausmachen: Während die politische Leitung des Hauses in aktuellen Fragen den Soldaten vor Zweifeln gegenüber der westlichen oder der Regierungsposition bewahrt sehen wollte, nahmen die Repräsentanten der militärischen Führung eher am Umgang mit der militärischen Vergangenheit Anstoß. Mehr als einmal drängte der Staatssekretär auf ein einheitliches Meinungsbild718, und Strauß, der auch sonst während der Doppelkrise im Herbst 1956 sich nicht scheute, korrigierend in den Kommentar der »Information für die Truppe« einzugreifen, stieß sich nach dem Zeugnis Baudissins an einem Bericht, der »den in Ungarn einrückenden russischen Soldaten das Gefühl des Unbehagens« zugebilligt hatte. Hier kam dem Unterabteilungsleiter die Sorge, dass »dem Minister an schwarz-weiss-Zeichnungen und Verkürzungen aller Art gelegen« sein könnte719.

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Vermerke zum 6.9., 30.10.1956; ebd., 717/8, fol. 59 f., Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 25.1.1957; ebd., 717/9, fol. 58, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 1.8.1957. Zu Erich Weniger und der Wirkung seiner militärpädagogischen Überlegungen in Wehrmacht und Reichswehr siehe bei Hartmann, Erich Weniger, S. 197, den Hinweis auf die in sachlicher Ubereinstimmung gründende enge Beziehung zwischen Weniger und Baudissin. Vgl. z.B. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 23, 57, 66, 192, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 24.7., 15., 23.8., 5.12.1956; ebd., 717/9, fol. 85, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.8.1957. So in der Frage der Ausstattung der Bundeswehr mit nuklearfähigen Trägersystemen und in der der Wehrpflichtdauer; vgl. BA-MA, BW 2/2053, fol. 44, Büro Staatssekretär, Kurzprotokoll über die 101. Abteilungsleiterbesprechung am 15.4.1958, 16.4.1958, Ziff. 2; BW 2/2050, fol. 159, Büro Staatssekretär, Kurzprotokoll über die 39. Abteilungsleiterbesprechung am 1.8.1956, Ziff. 4. Zum Eingriff in die Feder Baudissins siehe BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 175, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 22.11.1956; zum Übrigen vgl. ebd., fol. 186, Tagebuch

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Auf der anderen Seite konnte der Minister in scheinbar bestem Einvernehmen mit Baudissin reagieren, wenn es darum ging, die deutsche Militärgeschichte trotz der Bedenken etwa von Heusinger oder Speidel kritisch zu reflektieren. Dass der Graf die Differenz zwischen dem Minister und dessen erstem militärischen Berater zugunsten der kritischen Auseinandersetzung zu nutzen verstand, unterstreicht wiederum den nicht unerheblichen Anteil, der ihm selbst an dem Ergebnis der Informations- und Bildungsarbeit zugebilligt werden kann. So hatte Heusinger sich im Frühjahr 1957 gegen die Veröffentlichung eines Artikels gesträubt, der die Frage der Bedeutung von >Verrat< und >Sabotage< für die Niederlage des >Dritten Reiches< behandelte720. Gewiss war dieses Thema gerade auch für die jetzt den Aufbau der Bundeswehr betreibenden Angehörigen der ehemaligen Wehrmacht, die bis zu deren Untergang physische Verletzungen, Erniedrigungen, Beschädigungen des Selbstwertgefühls und andere psychische Verwundungen davongetragen, darüber hinaus schweren materiellen und persönlichen Verlust erlitten haben mochten, mit quer zueinander liegenden Empfindungen belastet: Wie sollte sich der Veteran des >FrankreichFeldzuges< oder der >Weserübungverraten< hatte? Oder wie erst sollte der Teilnehmer am >Ostfeldzug< über die >Rote Kapelle< denken, die für die sowjetische Führung gewirkt hatte? Konnte der Soldat der Bundeswehr dem Angehörigen der Militäropposition noch anrechnen, dass er für das >freiheitliche< westliche Ausland und - als der am Ende hingerichtete Mitverschwörer des 20. Juli - für ein »besseres Deutschland< gehandelt hatte, so hatte der Oberleutnant der Luftwaffe Harro Schulze-Boysen im Verein mit dem Beamten des Reichswirtschaftsministeriums Arvid Harnack nicht nur zum Sieg des einen totalitären Regimes über das andere, sondern auch zum schließlichen Vordringen der Roten Armee und damit der sowjetischen Herrschaft bis tief nach Deutschland hinein beigetragen. Der letztlich doch veröffentlichte Beitrag reagierte hierauf mit einer zwar feinen, nichtsdestoweniger aber eindeutigen Unterscheidung: »Formaljuristisch« nur galt das Vorgehen Osters als »Landesverrat« - diese entlastende Einschränkung jedoch wurde dem »Verrat« des »Oberregierungsrats im Reichswirtschaftsministerium Harnack und eines Offiziers des Reichsluftwaffenministeriums mit Namen Schulze-Boysen« nicht zuteil721. Mehr noch indessen trat diese Differenzierung hinter der zentralen Aussage des Aufsatzes zurück, die jeglichen nennenswerten Einfluss von Verrat und Sabotage auf den Ausgang des Krieges in den Bereich der Legendenbildung verwies und so einer Baudissin, Vermerk zum 3.12.1956 (Zitat). Stein des Anstoßes war vermutlich die Feststellung, »daß die Sowjettruppen, die zu Zeugen der Volkserhebung geworden waren, als unzuverlässig in die Sowjetunion abgezogen werden mußten«; vgl. Die Ereignisse in Polen und Ungarn. In: Information für die Truppe, 1 (1956), 4, S. 116-121, dort S. 121. 720 Welche Auswirkungen hatten Landesverrat und Sabotage auf die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg? In: Information für die Truppe, 2 (1957), 4, S. 24-30. 721 Ebd., S. 25 f.

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etwaigen Neuauflage der >Dolchstoßlegende< von vornherein wehren wollte. Trotz dieser klar erkennbaren Zielrichtung des Beitrags, trotz der vorgenommenen Unterscheidung, trotz auch der für die ehemaligen Soldaten der Wehrmacht sehr schonenden abschließenden Schuldzuweisung an die »verbrecherische [...] Politik Hitlers und seiner verantwortungslosen politischen [!] Führungsgruppe«, die nicht zuletzt in einem Maße militärisch Unerfüllbares gefordert habe, dass es »ein Wunder [sei], dass der deutsche Soldat diesen mörderischen Kampf bis 1945 hat durchstehen können«722, lehnte Heusinger anfänglich den Artikel rundweg ab - »man solle nicht Wunden aufreissen, die gerade zu heilen begännen«723. Erst nachdem Baudissin vom Sohn des ermordeten Angehörigen des Widerstandes, dem Oberstleutnant Joachim Oster, die Unbedenklichkeit der seinen Vater betreffenden Passagen versichert worden war und Heusinger selbst sich bei den zum Lehrgang in Adenau weilenden Kommandeuren hatte rückversichern können, war der Weg für den weiteren Genehmigungsgang des Artikels frei724. Was Baudissin in diesem Zusammenhang seinem Vorgesetzten attestierte, er »schreckfe] vor aller Problematik in Bezug [sie!] auf die Vergangenheit zurück«, habe sogar »Angst« vor ihr725, glaubte er in Grenzen auch bei Speidel entdecken zu können, als dieser den oben angeführten Artikel zu Stalingrad nach den Aufzeichnungen des Grafen mit dem Kommentar ablehnte, die »Information sei für derartige Themen nicht ernst genug, ausserdem dürfe man die Truppe nicht mit der Vergangenheit belasten«726. Von Strauß konnte Baudissin dagegen eine ganz andere Reaktion notieren und sie sogleich für eine weitere Auseinandersetzung mit der militärischen Vergangenheit nutzen. Der Minister hatte nämlich nicht nur dem »SabotageArtikel« vorbehaltlos zugestimmt, er hatte darüber hinaus auch eine ergänzende »Darlegung der Dolchstoss-Legende« verlangt727. Zusammen mit dem damals als Dozent an der Schule für Innere Führung eingesetzten Hans-Adolf Jacobsen 728 gelang es offensichtlich Baudissin dann noch, in den veröffentlichten Artikel eine schon ausgedehntere Betrachtung zu jener »leichtfertige[n] Vergewaltigung der historischen Wahrheit, die durch ihre politische Zweckbestimmtheit vor allem Hitler eine günstige Kampfesparole« geboten habe, einzufügen und damit in dem Artikel die oben beobachtete Zielrichtung in nur wün722 723

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Vgl. ebd., S. 29 f. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 131,134, Tagebuch Baudissin, Vermerke z u m 7. und 8. (Zitat) 3.1957. Ebd., fol. 139, 145, Tagebuch Baudissin, Vermerke z u m 11. und 18.3.1957. Ebd., fol. 131,134, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 7. und 8.3.1957. Ebd., fol. 83, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 7.2.1957. Ebd., fol. 151, Tagebuch Baudissin, Vermerk z u m 22.3.1957. Hans-Adolf Jacobsen (geb. 1925), Dr. phil., Hochschullehrer, 1956-1961 an der Schule der Bundeswehr für Innere Führung, 1961-1964 Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ab 1964 Lehrbeauftragter, ab 1966 Dozent, schließlich von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1990/91 ordentlicher Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn; weitgehend nach Kürschners Deutscher Gelehrtenkalender 2001. Bio-bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart, Bd 1, 18. Ausg., München 2001, S. 1399.

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sehenswerter Deutlichkeit hervortreten zu lassen729. Auch auf solche Weise trugen gewiss nicht zuletzt der Unterabteilungsleiter, sein Referent und überwiegend auch dessen Mitarbeiter dazu bei, dass den Lesern der »Information für die Truppe« auch kritische Positionen nicht vorenthalten blieben. Unter Baudissin bewies die Zeitschrift dabei ihren pluralistischen Ansatz, indem sie in größerer Bandbreite den in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre für vertretbar gehaltenen Auffassungen gegenüber offen war. Auch enthielt sie sich einer die Einseitigkeit begünstigenden Schwerpunktsetzung. Allerdings drohte ihr Erscheinungsbild zunehmend durch verflachende, gleichzeitig nicht mehr mit dem Argument, sondern mit dem Affekt werbende Trends hinsichtlich des Inhalts sowohl als der Aufmachung beeinträchtigt zu werden.

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»Schicksalsfragen«

Letzteres galt für die »Schicksalsfragen« nicht. Der graue Einband mit der schwach aufgeprägten Kontur des in >Rührt-Euch-Stellung< unter Helm und Gewehr befindlichen Soldaten, der zum Markenzeichen der Inneren Führung geworden ist, sowie der Verzicht auf Illustrationen ließen die einzelnen Bände nahezu ausschließlich durch ihre Texte wirken. Gleichzeitig ermöglichte bei nicht wenigen Beiträgen ein wissenschaftlicher Apparat - oder doch zumindest die Angabe benutzter bzw. weiterführender Literatur - es dem Leser, die getroffenen Aussagen nachzuprüfen. Im Zentrum der Betrachtungen standen zeitgeschichtliche Fragen sowie das Militarismusproblem, insonderheit soweit es die deutschen Verhältnisse betraf. Über letzteres Thema wurde nicht nur in dem eigens ihm gewidmeten dritten Band gehandelt (»Uber das Verhältnis der zivilen und militärischen Gewalt«), auch Beiträge in den anderen Bänden waren hierfür einschlägig730. Die damit einhergehende Dominanz einer zuvörderst innenpolitischen Perspektive gelangte auch darin zum Ausdruck, dass der Registerband zu dem Begriffsfeld >Militär< Stichworte auf wenigstens einer Spalte auflistete, und dabei allein unter dem Stichwort »Militarismus« 29 Seitenverweise, während sich zur »Strategie« insgesamt - von »Stratege, im Generalstab« bis »Strategisches Denken (Moltke)« - fünf Seitenverweise und zur »Taktik« einer fanden. Immerhin gab das Stichwort zu den Nuklearwaffen (»Atombomben«) 19 Fundstellen an, was allerdings allein schon durch die gut 100 Verweise zum Begriff »Offizierskorps« [sie!] bei Weitem in den Schatten gestellt wurde731. 729

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Welche Auswirkungen hatten Landesverrat und Sabotage auf die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg? In: Information für die Truppe, 2 (1957), 4, S. 29. So etwa die Beiträge von Gerhard Oestreich, Soldatenbild, Heeresreform und Heeresgestaltung im Zeitalter des Absolutismus. In: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 1, S. 295-321, und von Gerhard Ritter, Der 20. Juli 1944. In: Ebd., S. 349-381; der Aufsatz von Helmut Krausnick, Die Wehrmacht im Dritten Reich 1933-1939. In: Ebd., Bd 2, S. 282-329; die Ausführungen von Erich Weniger, Die Gefährdung der Freiheit durch ihre Verteidiger. In: Ebd., Bd 4, S. 349-381. Ebd., Bd 6, S. 28, 71, 77, 99 f. Nicht zuletzt dies untermauert die Beobachtung von Rautenberg, Die Bundeswehr, S. 136 f., nach welcher zulasten der »Kriegsführungsdimension«

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Als Sammlung vorwiegend wissenschaftlicher Ausarbeitungen höchst unterschiedlicher Autoren spiegelte das Reihenwerk zudem eindrücklicher noch als die Zeitschrift die Bandbreite zeitgeschichtlicher bzw. politischer Positionen. Nicht von ungefähr kamen die »Schicksalsfragen« nach der Literatur der Einlösung des Anspruches der >objektiven< Variante politischer Bildung noch am nächsten732. Wer wollte, der konnte dort anhand der Beiträge von Gerhard Ritter und etwa Hans Herzfeld die mit den kontroversen Militarismus-Deutungen einhergehenden unterschiedlichen historiografischen Ansätze nachverfolgen733. Gleichzeitig wurden den Angehörigen ehemaliger deutscher Streitkräfte auch deutlich voneinander abweichende Interpretationen jenes Zusammenhanges angeboten, in welchem sie selbst einmal gewirkt hatten. So lieferte der von Baudissin als Lehrkraft durchaus geschätzte Hermann Aubin 734 in seinem Aufsatz nicht nur ein Geschichtsbild, das noch sehr den Bemühungen einer schon im 19. Jahrhundert betriebenen Historiografie verpflichtet war, der politischen Gestalt der aus dem >Germanentum< hervorgegangenen >deutschen Nation< eine möglichst weit in die Vergangenheit zurückreichende historische Tiefe zu verleihen. Vielmehr behauptete er auch einen über Jahrhunderte gewachsenen Beruf Deutschlands, »zur Festigung der [>abendländischenErhebungen< des »deutscheln] Volk[es]« im 10. Jahrhundert, der Hussiten im 15. Jahrhundert, die der Europäer und so auch der Preußen gegen Napoleon sowie der Polen gegen einen so vorgestellten »barbarischen Osten« im 19. Jahrhundert vorangehen ließ, sah Aubin Entwicklungsmöglichkeiten angedeutet, deren Verwirklichung Ostmitteleuropa »zu einer höheren und friedlichen Ordnung [...] hätte führen können«. Dies wäre zugleich auch »einer Stärkung der abendländischen Gemeinsamkeit an dieser Gefahrenfront zugute gekommen«. Vor diesem Hintergrund erscheint der eigentliche Frevel Hitlers als die >Verkehrung< des hier Angelegten. Mit seinem Trachten »nach gewaltsamer Beherrschung Europas«

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das Integrationsthema die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit der Bundeswehr beherrscht habe. Vgl. Grimm,... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 63-66, 79 f. Hans Herzfeld, Staats-, Gesellschafts- und Heeresverfassung. In: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 3, S. 9 - 2 6 ; Gerhard Ritter, Der 20. Juli 1944. In: Ebd., Bd 1, S. 349-381. Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 114 f., Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 28.2.1957: »Der Lehrplan für den ersten Lehrgang findet nicht meine Billigung. Weber hat viel zu viel Korriphäen [!] (Guardini, Thielicke, usw.) in Vorschlag gebracht [...] Ich halte es für besser, schlichter anzufangen und höchstens je Lehrgang einen der Grossen [sie!] zu bitten. Diese sollten aber in erster Linie aus den Sonthofener, besser Siegburger Professorenkreisen ausgesucht werden: diese Herren kennen unsere Absichten und unser Publikum, haben ein gewisses Anrecht vor andern, ausserdem wird das Handbuch leichter von Menschen gelesen, die einige der Autoren persönlich kennen. Ich schlage daher vor, Aubin für diesen ersten Lehrgang zu verpflichten« - Hervorhebung im Original. Die Verbindung zu Hermann Aubin ist möglicherweise durch Günter Will vermittelt worden, der 1952 mit einer Arbeit bei Aubin promoviert worden war; vgl. Will, Freiheit und Verantwortung, S. 21, 23.

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habe er dem außerhalb des Abendlandes stehenden Russland den »Vormarsch [...] über Zwischeneuropa hinweg« geebnet und damit die dort gelegenen Länder einer »tief nach Asien hineinreichenden« Macht ausgeliefert, die »sich in schärfster Absage an die Lebensformen und Werte des alten Europa von diesem« gelöst habe und »die entschlossener, zielklarer und härter als je eine Macht in Europa nicht allein Oberhoheit ausüben, sondern die unterworfenen Völker bis in ihren inneren Kern umgestalten« wolle735. Mit dieser Deutung736, die kein Wort über den deutschen Überfall auf die Sowjetunion verlor und diesen höchstens zwischen den Zeilen mit dem Hinweis auf Hitlers Versuch »gewaltsamer Beherrschung« ansprach, mochte sich zwar nicht der am Feldzug gegen Polen beteiligte, wohl jedoch der an der späteren Ostfront eingesetzte Soldat der Wehrmacht als durch eine säkulare abendländische Aufgabe< legitimiert begriffen haben. Dem standen sehr anders gestaltete Zugänge gegenüber. Bei Karl Dietrich Bracher beispielsweise zeigte sich der Ausschnitt aus der jüngsten deutschen militärischen Vergangenheit mit einem ganz anderen Gesicht. In der die Rolle der »Armee zwischen Republik und Diktatur« ausleuchtenden Perspektive konnte sich der vormalige Reichswehr- bzw. Wehrmachtangehörige - so er sich nicht zum Umkreis des Widerstandes rechnen durfte - in keiner >Verteidigungsrolle< aufgehoben wissen. Wer hier die militärische Führung nach Identifikationsmöglichkeiten durchmusterte, sah sich auf die unter bundesrepublikanischem Vorzeichen wenig trostreichen Alternativen verwiesen, die Bracher mit dem Phasenverlauf angeboten hatte, »zunächst unter Seeckt in einer bewußten und selbstbewußten Distanz zur zivilen Gewalt gehalten [worden], in der Staatskrise seit 1930 dann erneut zur politischen Eigenmacht aufgestiegen [zu sein] und schließlich mit Blomberg an der Spitze sich 1933 dem nationalsozialistischen Staat willig zur Verfügung gestellt« zu haben737. Wie auf zeitgeschichtlichem Feld, so boten die »Schicksalsfragen« auch auf dem Terrain des aktuellen politischen Streites unterschiedliche Ortsbestimmungen an. Zwar fand sich - wie in der noch längst nicht zur Selbstverständlichkeit gewordenen Bundesrepublik auch nicht anders zu erwarten - kein Beitrag, der den westdeutschen Staat von linker oder gar rechter Warte aus einer fundamentalen Kritik unterzogen hätte. Immerhin schloss der dritte Band der »Schicksalsfragen« aber mit zwei von Politikern verfassten Beiträgen zu der auch nach Aufstellungsbeginn 1956 strittigen Größe und Gestalt der zukünftigen Bundeswehr738. Obwohl die beiden Beiträge aus der Feder von Dr. Richard 735

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Hermann Aubin, Abendland, Reich, Deutschland und Europa. In: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 1, S. 29-63, Zitat S. 37 - Hervorhebung im Original, S. 43 f., 48 f., 51 f. (Zitat), 5 6 - 6 3 (Zitate 57 f., 59-62). Zu der hier aufscheinenden Nachkriegsperspektive Aubins, in der die vormals herausgehobene Position des deutschen Volkes lediglich eingebettet in einen europäischabendländischen Zusammenhang präsentiert wird, vgl. Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 584-620; siehe hierzu auch Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß, S. 21 f. Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Armee zwischen Republik und Diktatur (1918-1945). In: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 3, S. 95-120, Zitat S. 119. Vgl. dazu Α WS, Bd 3, S. 514-552 (Beitrag Ehlert).

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Jaeger und von Fritz Erler über weite Strecken den Konsens zwischen Regierung und Opposition spiegelten, soweit es in erster Linie die innere Verfassung der Streitkräfte und deren politische Kontrolle betraf 39 , war in den Ausführungen des Sozialdemokraten auch der Vorbehalt der Partei erkennbar, die - vor Bad Godesberg - noch keineswegs ihren Frieden mit dem Beitrag der Bundesrepublik zur westlichen Verteidigungsgemeinschaft gemacht hatte. Auch wenn Erler die Vertrags- und Gesetzestreue der SPD unterstrich, ließ er doch auch den anderen politischen Willen durchblicken, der im Falle entsprechend geänderter Mehrheitsverhältnisse und einvernehmlicher Revision der Verträge wenn nicht die Armee überhaupt, so doch die Bündnisarmee immer noch zur Disposition stellen mochte740. Die ausgedehnte Diskussion gegensätzlicher und zugleich an der Substanz der Bundeswehr rührender Standpunkte konnte der Leser schließlich zu der Frage des Umfanges der Streitkräfte - hier bestritt der Sozialdemokrat die vom Regierungslager reklamierte > Verpflichtung^ eine halbe Million Soldaten aufzustellen - und im Zusammenhang mit der von der Opposition bekämpften Wehrpflicht nach verfolgen741. Wie bei den zeitgeschichtlichen Themen konnte auch in aktuellen militärpolitischen, wenngleich nicht militärstrategischen Fragen sich jeder - soweit seine Position sich nur in den Rahmen des Grundgesetzes einfügen ließ - von einzelnen Artikeln bestätigt fühlen. Das Votum der Zeitgenossen fiel - bei grundsätzlich zustimmendem Tenor indessen trotz dieses ausgeprägt pluralistischen Ansatzes keineswegs uneingeschränkt positiv aus. Die über die »Schicksalsfragen« berichtende Kommission des >Beirates< stützte ihr Gutachten auf die drei bis 1958 erschienenen Bände und kam hier doch zu recht unterschiedlichen Bewertungen. Während der dritte Band, der die an der >Deutschen Hochschule für Politik< veranstaltete Ringvorlesung »Uber das Verhältnis der zivilen und militärischen Gewalt« abdruckte, vom Berichterstatter, Erich Weniger, als »ausgezeichnet gelungen« gewürdigt wurde, verdienten die beiden anderen Bände, in denen u.a. die Sonthofener Vorträge nachlesbar waren, aufgrund ihrer Verschiedenheit »an Qualität und Wirkung« lediglich das Prädikat »durchaus brauch[bar]«. Gleichwohl betonte der Kommissionsbericht nachdrücklich das Erfordernis, diese »>GrundlagenforschungPropagandaBeirates< an, sich ganz allgemein »weniger [...] der (zwangsläufig parteipolitisch gesteuerten) staatspolitischen Augenblickskonzeption« zuzuwenden »als vielmehr [...] der demokratisch-rechtsstaatlichen Dauerordnung«. Die Kommission ließ zwar unerwähnt, an welcher Veröffentlichung sie sich bei ihrem Verbesserungsvorschlag gestoßen hatte. In Anbetracht des präsentierten Programmes fällt es jedoch nicht schwer, in der Reihe »Bundesrepublik« gleich deren erstes Heft, den als eine einzige Erfolgsgeschichte von Adenauers Westintegrationspolitik wirkenden Rückblick »Wiederaufstieg aus Trümmern«, als das corpus delicti zu identifizieren. Allerdings boten andere Hefte dieser Reihe - so beispielsweise das zu »Bundestag und Bundesrat« - über weite Strecken, wie vom >Beirat< angemahnt, auch bloßes Grundlagenwissen zur westdeutschen parlamentarischen Demokratie. Dessen Monita zielten denn auch deutlicher auf die »roten Informationshefte«. Hier werde »ein (entscheidender) Gegner absolutgesetzt«, was »wirkliche und mögliche Gegner anderer Herkunft« aus dem Blickfeld treten lasse. Zudem drohe die >GefahrKampfmethoden< [...] vom Gegner« zu übernehmen. Schließlich plädierte die Kommission dafür, nicht das >WogegenWofür< das Bild bestimmen zu lassen743. Diese Kritik wurde vom Plenum des >Beirates< in der Schlussdiskussion noch einmal unterstrichen744. Zum Teil waren die im Kommentar enthaltenen Warnungen berechtigt. So wurde im zweiten Heft der Reihe, »Krieg und Revolution«, Lenin mit Worten charakterisiert, die mit der Mischung aus dem kulturellen, sozialen und rassistischen Ressentiment nur das angstbesetzte Vorurteil mobilisieren konnten: 742

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BA-MA, BW 2/16.293, Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Fragen der Inneren Führung im Bundesministerium für Verteidigung, Bonn, 10.10.1958, S. 11 f. Ebd., S. 9 f. Ebd., S. 13 f.

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»Verschwörertum, eiskalte Berechnung, Instinkt für die Macht und demagogische Massenfaszination machten diesen halbasiatischen Intellektuellen zu einem der größten Revolutionäre der Weltgeschichte.« Vor dem Hintergrund solchen partiellen Rückgriffes auf - nicht nur, aber auch - nationalsozialistische Argumentationsmuster fiel dann auch die abschließende Erinnerung an den »Nationalsozialismus als verwandte Spiel [art]« wenig überzeugend aus, und der »Kommunismus« war - wovor der >Beirat< gewarnt hatte - mit dessen eigener Methode als der Feind schlechthin vorgestellt worden: »Er zerstört auch den Menschen als Person745.« Demgegenüber bot das erste, von Hund verfasste und von Baudissin redigierte und begrüßte Heft746 unter dem Titel »Fragen zum Bolschewismus« - wie auch die Literatur hervorgehoben hat - immerhin im Westen gewonnene Forschungsergebnisse zum Kommunismus mit zurückhaltendem, differenzierendem Kommentar747. Für den vorliegenden Zusammenhang ist das »Handbuch Innere Führung« zwar nur bedingt einschlägig. Die Würdigung der »Schriftenreihe« wäre aber unvollständig, würde es hier nicht auch noch Berücksichtigung finden. Bemerkenswert ist es an dieser Stelle weniger wegen der zumeist schon in anderem Kontext referierten Inhalte. Dagegen wirft sein Entstehungsgang ein vielleicht bezeichnendes Schlaglicht auf die äußeren Schwierigkeiten, mit denen die Unterabteilung auch auf dem Felde ihrer eigenen Veröffentlichungen in den ersten beiden Jahren der Bundeswehr ringen musste. Im September 1956 hatte Martin Koller angeregt, die von Mitarbeitern der Unterabteilung im Mai in Sonthofen vor dem ersten Lehrgang für Stabsoffiziere und Generale bzw. Admirale748 gehaltenen Vorträge in Buchform zu veröffentlichen. Von Baudissin war dieser Vorschlag gerne aufgenommen worden, der den Anregenden dann auch mit den editorischen Arbeiten betraute. Aus der damit verbundenen Absicht, das Buch noch im gleichen Jahr herauszugeben, wurde indessen nichts749. Angesichts der in der Unterabteilung herrschenden Arbeitsbelastung waren von den schließlich vorgesehenen zehn Abschnitten des Bandes noch Mitte November lediglich fünf druckreiF50. Erst am 11. April 1957 konnte das Genehmigungsexemplar auf den Dienstweg gebracht werden, der einmal beim Minister enden sollte. Bis zum Juli allerdings war es unauffindbar geworden. Daraufhin erfolgte unter dem 27. Juli eine Ersatzvorlage, auf die Heusinger mit der Ankündigung gründlicher Prüfung reagierte. Die sich angesichts solcher Mitteilung einstellende Besorgnis Baudissins sollte sich indessen als unbegründet erweisen. Zum einen meldete der Generalinspekteur lediglich auf zwei Seiten in 18

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Krieg und Revolution, S. 5, 25, 27. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 23, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 24.7.1956. Vgl. Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 66 f.; Bezugnahme auf Fragen zum Bolschewismus. Hinweise zu den ersten beiden Lehrgängen in Α WS, Bd 3, S. 716, 796 (Beitrag Greiner). BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 88, 110, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 7., 22.9.1956. BA-MA, unverzeichneter Bestand Fü S I 3, Az.: 35-08-07, Schriftverkehr und korrigierte Manuskripte zum »Handbuch Innere Führung«, Sachstandsvermerk Martin Koller, 20.11.1956.

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Einzelpunkten Bedenken an, die z u m Teil auch nur das freundliche Lektorat bezeugten. Z u m anderen erübrigte sich das weitere Betreiben dieser Ersatzvorlage a m Ende dann doch, als nämlich das erste Exemplar, das zunächst auf d e m W e g e zwischen Staatssekretär und Minister liegengeblieben war, ohne Beanstandungen v o m Minister a m 9. A u g u s t wieder zur Unterabteilung gelangte, sodass die Veröffentlichung im September 1957 erfolgen konnte 7 5 1 . Im » H a n d b u c h Innere Führung« w a r e n mit fast der Hälfte seines Umfanges Beiträge abgedruckt, mit denen der Graf selbst entweder seine Gesamtkonzeption oder wichtige Teilaspekte daraus vorgestellt hatte 7 5 2 . Sein Kerngedanke, dass im »permanenten Bürgerkrieg« unter der M a x i m e »höchster Schlagkraft« nur der auch innerhalb des Dienstes durch ein möglichst freiheitliches Binnengefüge für den westdeutschen Rechtsstaat gewonnene Staatsbürger in Uniform auch als kriegstüchtig qualifiziert sei, erhielt damit einmal mehr die amtliche Beglaubigung: » N u r w e r realiter erfahren und erlebt hat, dass die demokratischen 751

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Vgl. zu dem Vorgang BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/9, fol. 25, 51, 60, 64, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 11., 29.7., 2. und 9.8.1957, sowie BA-MA, unverzeichneter Bestand Fü S I 3, Az.: 35-08-07, Schriftverkehr und korrigierte Manuskripte zum »Handbuch Innere Führung«, Schreiben IV Β an Minister a.d.D., 27.7.1957, und >Bemerkungen< Heusingers vom 31.7.1957; Veröffentlichungsdatum nach Handbuch Innere Führung - 1957, S. 1 (Impressum). Unter den zwölf Textbeiträgen des Handbuches, das einschließlich Inhaltsverzeichnis, Trennblättem und Register 191 Seiten zählte, nahmen allein schon drei aus der Feder Baudissins stammende Großbeiträge 73 Seiten in Anspruch: »Situation und Leitbild - Staatsbürger in Uniform« (Handbuch Innere Führung - 1957, S. 15-46; vgl. Vortrags-Ms., BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 36, IV Β Oberst Graf Baudissin, Sonthofen, o.D., »Situation und Leitbild des Soldaten«); »Soldatische Tradition - In der Gegenwart« (Handbuch Innere Führung - 1957, S. 47-79; vgl. Ms. BA-MA, unverzeichneter Bestand Fü S13, Az.: 35-08-07, Schriftverkehr und korrigierte Manuskripte zum »Handbuch Innere Führung«, Wolf Graf von Baudissin, »Soldatische Tradition und ihre Bedeutung in der Gegenwart«); »Der 20. Juli 1944 - Gedanken zum Widerstand« (Handbuch Innere Führung - 1957, S. 79-88, nach Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 105, eine Überarb. Fassung von Graf Baudissin, Gedanken zum 20. Juli, ca. 1957). Nach freundlicher Auskunft von Prof. Dr. Claus Frhr. von Rosen hat Baudissin auch den Beitrag »Der Eid: Vor der letzten Instanz« (Handbuch Innere Führung -1957, S. 7-13) verfasst; vgl. dazu auch z.T. gleichlautende Passagen bei Wolf Graf von Baudissin, Ansprache zu einer Vereidigung. In: Truppenpraxis, 1 (1957), 1, S. 3 f. Weitere Beiträge stammen u.a. von Wangenheim (Leitsätze für Menschenführer - Erziehung des Soldaten, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 89-96, und Erläuterung der Leitsätze, ebd., S. 97-124; vgl. BA-MA, unverzeichneter Bestand F ü S I 3, Az.: 35-08-07, Schriftverkehr und korrigierte Manuskripte zum »Handbuch Innere Führung«, Sachstandsvermerk Koller, 20.11.1956) sowie von Will (Truppen-Information - Gegenteil von Propaganda, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 141-158; vgl. BA-MA, unverzeichneter Bestand F ü S I 3 , Az.: 3508-07, Schriftverkehr und korrigierte Manuskripte zum »Handbuch Innere Führung«, Sachstandsvermerk Koller, 20.11.1956). Nach Mitteilung von Prof. Dr. Claus Frhr. von Rosen stammt der Beitrag Truppen-Betreuung und Freizeitpflege - Sorge um den Menschen, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 159-166, von Othmar Pollmann; Gruppenselbstarbeit: Vertrauen schenken, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 125-140, von Hans Richter (Haus Schwalbach); Zusammenfassung: Innere Führung, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 167-174, vermutlich von Heinz Karst; vgl. BA-MA, unverzeichneter Bestand Fü S13, Az.: 35-08-07, Schriftverkehr und korrig. Manuskripte zum »Handbuch Innere Führung«, Sachstandsvermerk Koller, 20.11.1956; Baudissin, Nie wieder Sieg, dort die Bibliografie S. 272-312, hier S. 278 f.

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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Grundwerte mehr sind als papierene Grundgesetzartikel, dass sie Verbindlichkeiten für den Staat und seine Organe bedeuten - nur der wird sie verwirklichen und schützen helfen753.« Das »Handbuch Innere Führung« spiegelte folgerichtig auch hinsichtlich des Verständnisses von politischer Bildung< den Baudissin zugeschriebenen >objektiven Ansatzkaltes< oder als >heißes Gefechtobjektive< Charakter politischer Bildung keineswegs verloren. Was Selbstverständnis und Bildungsarbeit der Unterabteilung und hier zunächst des zuständigen Referates anlangte, war dort durchaus das Bemühen erkennbar geworden, der [Baudissin,] Situation und Leitbild - Staatsbürger in Uniform, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 15-46, dort S. 17, 20, 23-25, 38, 42 f., Zitate S. 17, 24 - Hervorhebung im Original; vgl. die sehr ähnliche Vorlage: Vortragsmanuskript IV Β Oberst Graf Baudissin, Situation und Leitbild des Soldaten (Sonthofen Mai 1956), S. 1, 3 - 6 , 13 f., 16 f., BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 36. 754 Vgl. Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 5 9 - 6 2 (Zitat); zu Wills Beitrag siehe oben S. 245. 755 Vgl. Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 37-41. Bei den dort beschriebenen »Intentionen Baudissins< findet das Kriegsbild keine Berücksichtigung. 756 Begriffe nach dem von Baudissin verfassten Abschnitt: Situation und Leitbild - Staatsbürger in Uniform, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 15-46, dort S. 34-37. 757 BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/9, fol. 44, Tagebuch Baudissin, Schreiben Leiter IV Β [Graf Baudissin] an Leiter IV, 3.8.1956. 758 Ebd., 717/8, fol. 6, Tagebuch Baudissin, Entwurf »Jahresbericht Innere Führung 1956«. 759 Ebd., 717/9, fol. 71, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 13.8.1957. 753

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geistigen und sittlichen Autonomie des einzelnen Soldaten Rechnung zu tragen. Noch ging es nicht um jene »Psychologische Rüstung«, die an der Wende zu den 60er-Jahren in die »Nähe [...] zum Prinzip der politisch-weltanschaulichen Schulung und zur ideologischen Indoktrination« geraten760 sollte und der ein späterer Nachfolger von Will im Fü B, Oberst Wolfgang Schall761, 1961 programmatischen Ausdruck geben würde. Schall wollte durch die Psychologische Rüstung das Bewusstsein von den »Vorzüge[n]« der eigenen Lebensordnung an der Kontrastfolie des Bolschewismus entwickelt, sowie gleichzeitig dessen Kampfmethoden wie die psychische Belastung des nuklearen Gefechtsfeldes vermittelt sehen762. Jedenfalls kann hier festgehalten werden, dass in der Summe bis 1958 der >objektive< und der >subjektive< Ansatz politischer Bildung legt man die publizistische Praxis der Unterabteilung zugrunde - zwar schon nebeneinander lagen, das deutliche Übergewicht aber noch bei der ersten Variante zu finden war. Lediglich in der »Schriftenreihe Innere Führung« haben sich beide Ansätze in etwa gleicher Ausprägung nachweisen lassen. Die bis zu dieser Stelle vorgetragene Bewertung stützt sich auf nachweisbare Absichten und deren Umsetzung, die nach Themen und Methoden im Wesentlichen den Neuanfang unter demokratisch-rechtsstaatlichem Vorzeichen in einer historischen Weltlage spiegelten, die nach dem vorherrschenden Tenor durch die Auseinandersetzung zwischen der >freiheitlichen< und der totalitärem Ordnung schlechthin - also in deren links- wie rechtsextremer Gestalt gekennzeichnet war. Noch kaum berücksichtigt ist hierbei die nukleare Dimension. Es wäre zu erwarten, dass für das Wirken der Unterabteilung sich diese zweite grundlegende Neuerung, die als >Nuklearisierung der Kriegführung< doch zumindest gleichrangig zu jenem neuen Beginn unmittelbare Folgen für das Kriegsbild zeitigen musste, mit ähnlichem Gewicht ausgewirkt hat. Wie hat die Innere Führung demnach das neue Element der Atomwaffe rezipiert?

760 761

762

Grimm,... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 73-84, Zitat S. 77. Wolfgang Schall (1916-1997), Dr. phil., in der Wehrmacht bei Kriegsende Major i.G., 1957 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Major, nach Tätigkeit u.a. beim Militärischen Abschirmdienst 1957-1959 Verwendung im Stab Alliierte Landstreitkräfte EuropaMitte, Beförderung zum Oberstleutnant 1957, 1959-1961 Kommandeur des Panzergrenadierbataillons 293, 1961-1965 Referent Fü Β I 6, Beförderung zum Oberst 1962, 1965-1966 Stellvertretender Brigadekommandeur, Beförderung zum Brigadegeneral 1965, 1966-1968 Kommandeur der Panzerbrigade 24, 1968-1971 Unterabteilungsleiter Fü Η II bzw. Stabsabteilungsleiter Fü Η III; 1971 in den einstweiligen Ruhestand verabschiedet. Vgl. hier Schall, Psychologische Rüstung als Führungsaufgabe, S. 125 f.

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

4.

269

Die Atomwaffe im Kontext der frühen Inneren Führung

Wenngleich Baudissin schon vor Aufstellungsbeginn die Atomwaffe in seine Überlegungen einbezogen hatte763, scheint er erst im Frühjahr 1957 in die Lage versetzt worden zu sein, die Folgen, die sich aus dem Ort dieser Waffe in den Einsatzplänen der NATO für die Bundesrepublik ergaben, abschätzen und vor diesem Hintergrund deren Potenzial im Hinblick auf das Profil des gewollten Soldaten angemessen berücksichtigen zu können764. Gewiss finden sich in seinen Zeugnissen auch schon im ersten Jahr der Bundeswehr Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen seiner Konzeption und einer nuklearen Kriegführung. So hat er aus einer am 16. August 1956 gehaltenen Unterabteilungsleiterbesprechung der Abteilung IV die Mitteilung de Maizieres mitgenommen, die »Standing Group habe beschlossen, vor 1960 keine Änderung im Operationsplan eintreten zu lassen. Die atomaren Waffen brächten keine Revolution, sondern nur eine Evolution.« In gewissem Gegensatz zu der von Baudissin hier unkommentiert gelassenen Verneinung der revolutionären Qualität der neuen Waffe stand die vom Grafen bei dieser Gelegenheit festgehaltene Sorge de Maizieres, »dass die Abt. V [Heer] in keiner Weise genügend Konsequenzen zöge aus der atomaren Entwicklung. Man täte noch immer, als ob man zweispurig fahren könne.« Baudissin hatte diese Kritik augenscheinlich aufgegriffen, zum einen mit einem allgemeiner gehaltenen Seitenhieb gegen die bei der Abteilung >Heer< vermutete Rückwärtsgewandtheit - er »warf [...] nochmals das Thema >Wachkompanie< auf, dessen Bedeutung [...] angesichts der atomaren Fragen nur surrealistisch gesehen werden könne« zum anderen mit dem Vorwurf, »dass ausserdem noch die Abteilung V keine Konsequenzen aus dem Kalten Kriege zu ziehen gewillt sei«765. Der hier nur angedeutete Zusammenhang zwischen der Atomwaffe, der Führung des Kalten Krieges und der Wendung gegen >restaurative< Strömungen findet sich nochmals in dem von Baudissin paraphierten Entwurf zum »Jahresbericht Innere Führung 1956«. Dort sah er sich einer Ablehnungsfront gegenüber, die »romantische, idealistische, feudale, obrigkeitsstaatliche und totalitäre Vorstellungen« gegen das >Weltanschauliche< in der Inneren Führung bündele und dabei die »Veränderung der Aufgabe des Soldaten im Zeitalter weltweiter geistiger und möglicherweise atomarer Auseinandersetzung« leugne766. Sehr deutliche Konturen gewann indes dieser Zusammenhang ab März 1957, als Baudissin sowohl mit der sogenannten >Atomdienstverweigerung< Röttigers, der inzwischen als Generalleutnant die Leitung der Abteilung V übernommen hatte, als auch mit der Stabsrahmenübung LlON NOIR konfrontiert wurde. Dabei überrascht fürs Erste eine gewisse Unbefangenheit des Grafen im argumentativen Umgang mit der neuen Waffe. 763 Yg[ Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung, S. 635, und Baudissin, Staatsbürgerliche Bildung in der Truppe, S. 5. 764 Vgl. dazu auch AWS, Bd 3, S. 9 1 1 - 9 1 7 (Beitrag Meyer). 765 BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 58, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 16.8.1956. 766 Ebd., 717/8, fol. 2, Tagebuch Baudissin, Entwurf »Jahresbericht Innere Führung 1956«.

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Der noch nicht wiederverwendete General der Panzertruppe a.D. Hans Röttiger767 hatte 1956 in der Oktober-Ausgabe der Zeitschrift »Wehrkunde« einen Beitrag veröffentlicht768, der im Rahmen eines Plädoyers für eine Wehrpflichtarmee von etwa 500 000 Mann den Kritikern eines solchen Streitkräfteumfangs, die in der Regel nur noch einen Krieg unter atomaren Bedingungen für möglich und darum allein noch eine kleine Berufsarmee für geeignet hielten, u.a. vor Augen führte, welche Optionsverengung und welche Verantwortung sie mit ihrer Reduktion auf den nuklearen Waffeneinsatz den militärischen Entscheidungsträgern zumuteten. Im Falle eines konventionell geführten, auf die zahlenmäßige Überlegenheit bauenden Angriffes könne das kleinere Berufsheer nur noch mit nuklearen Waffen verteidigen und müsse damit das Odium der Eskalation auf sich nehmen. Angesichts seiner Kenntnis der Waffenwirkung und eingedenk der vor dem alliierten Militärtribunal deutlich gewordenen Mitverantwortung der militärischen Führung sei es dann »immerhin fraglich [...], ob ein seiner Verantwortung bewußter Soldat [...] sich stets bereit finden [werde], den Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit seinem Namen zu decken oder auch nur >mitzudeckenHeer< verantwortlichen Offiziers zur >Atomdienstverweigerung< diskutierte und auch die Medien das Thema aufgriffen, sah sich Baudissin zur Vorlage eines klärenden Erlassentwurfes veranlasst769. Die Stichpunkte des in Rücksprache mit dem damals noch in der Abteilung >Heer< verwendeten Schmückle von Baudissin erarbeiteten Papiers decken sich weitgehend mit dem Tenor des von Heusinger wenig später in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Militärischen Führungsrates herausgegebenen Erlasses. Für die Skizze des Erlasses übernahm Baudissin den von Röttiger ja gerade verneinten Standpunkt, dass sich nun »auch für den Letzten [herausgestellt habe], dass ein Krieg ohne Atomwaffen nicht mehr denkbar« sei. Damit stelle sich jedoch keineswegs die Gehorsamsfrage neu. Denn »das ethische Problem der Befehlsverweigerung aus Gewissenszwang [sei] mit dem Soldaten als Menschen mit Gewissen unauflösbar verbunden« und treffe »immer wieder« ein. 767

768 769

Hans Röttiger (1896-1960), 1914 Eintritt in die Kgl. Preußische Armee, Beförderung zum Leutnant 1915, Übernahme in die Reichswehr, nach Truppen-, darunter auch Chefverwendung sowie Generalstabsausbildung Verwendung im Generalstab des Heeres, während des Zweiten Weltkrieges Chef des Generalstabes in verschiedenen Korps, dann beim Panzerarmeeoberkommando 4, schließlich 1943-1945 bei den Heeresgruppen Α und C, zuletzt als General der Panzertruppe; 1945-1948 in britischer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft. 1956 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Generalleutnant, ab 1957 Inspekteur des Heeres, 1960 im Amt verstorben; weitgehend nach Hammerich/ Kollmer/Rink/Schlaffer, Das Heer, S. 706. Röttiger, Umrüstung und Atomdienstverweigerung; dort auch das nachfolgende Zitat. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 148, 151, 153, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 20., 22., 25.3.1957.

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Dieser »Konflikt häng[e] jedoch nicht mit einer speziellen Waffe zusammen, man [könne] Gewissensbisse haben, jemand mit blossen Händen zu erwürgen, mit dem Dolch zu erstechen, auf ihn mit herkömmlichen oder atomaren Waffen zu schiessen; für moderne Soldaten [bestehe] kein Zweifel, dass Krieg atomar geführt werden [könne]; daher [sei] Gehorsam nicht von dieser grundsätzlichen Frage abhängig«770. Genau wie in den Notizen Baudissins festgehalten, nahm der von Heusinger unter dem 8. April 1957 ausgefertigte Erlass zunächst die »Unterscheidung von Widerstand, Kriegsdienstverweigerung und Befehlsverweigerung« vor, indem er gleichzeitig deren moralische Voraussetzungen bzw. die hierfür in der Bundesrepublik geltenden rechtlichen Bestimmungen darlegte, um daran anschließend davon das grundsätzlich Andere einer Situation abzuheben, in der die Ausführung eines rechtmäßigen Befehls zum Waffeneinsatz aus Gewissensgründen verweigert würde. Sinngemäß folgte an dieser Stelle der von Baudissin skizzierte Gedankengang, der schließlich in der Feststellung gipfelte, dass die »Verweigerung eines Befehls, mit dem der Einsatz atomarer Waffen verbunden ist, [für den Soldaten] kein neuartiges Problem dar[stelle], solange die Anwendung nicht völkerrechtlich untersagt« wäre771. Die hier betont rechtspositivistisch angelegte Perspektive, die in bemerkenswerter Weise keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Hand- und der Atomwaffe gelten und die Frage der über Generationen wirkenden Konsequenzen unberücksichtigt lässt, mochte es Baudissin erleichtert haben, in der nuklearen Waffe ein ganz zentrales Argument für den von ihm mit der Reformkonzeption umrissenen bundesrepublikanischen Soldaten zu sehen und davon auch unumwunden Gebrauch zu machen. Als er Anfang März in die Übungslage LlON NOIR eingewiesen wurde, »zeigt[e] sie [ihm zwar] in erschütternder Klarheit, was ein moderner Krieg eigentlich bedeut[e]« - nämlich »Millionen von Flüchtlinge[n], Versorgungsschwierigkeiten aller Art, ausradierte (>levelledim seeligen Stande bleibenLLON NOIRHeer< Kritik an dem offensichtlich sehr raschen Rückgriff auf Atomwaffen durch Verbände der U.S. Army geübt, die solche Waffen auch in Fällen eingesetzt hätten, in denen die eigenen Absichten nach deutscher Ansicht auch mit konventionellen Mitteln hätten erreicht werden können. Großstädte zählten ebenfalls zu den Zielen nuklearer Waffen (vgl. ebd., S. 36, sodann im Bericht zur Territorialen Verteidigung, S. 54). Bei AWS, Bd 3, S. 744 (Beitrag Greiner), fin-

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Solche katastrophale Dimension des >heißen< Krieges verband Baudissin mit dem grundlegenden ideologischen Konfrontationsmuster, um aus dieser Verbindung dann den von ihm vorgestellten durch und durch politischen Soldaten als den unter den Bedingungen der Bundesrepublik einzig kriegstauglichen abzuleiten. In seinem Resümee stellte er den zutiefst ideologischen »Charakter heutiger Kriege« an den Anfang. So gehe es »nicht mehr um territoriale Ziele«. Vielmehr entspringe der »blutige Konflikt [...] ideologischen Spannungen«, was die gänzliche Entgrenzung der Gewaltanwendung zur Folge habe: Ebenso wie der »Unterschied zwischen Soldaten und Nicht-Kombattanten« verschwunden sei, so gebe es auch keine zeitlichen und räumlichen Begrenzungen des Kampfgeschehens mehr, so seien auch die vormals verlässlichen Zuordnungen ganzer Staaten zu den Parteien der Auflösung verfallen. Bei dem modernen Krieg handele es sich »um eine totale Auseinandersetzung zweier Lebensanschauungen, die mit allen Mitteln, auf allen Lebensgebieten und jenseits aller gewohnten Unterscheidungen und Grenzen ausgetragen« werde778. Zunächst konnte das aus dem Kriegsbefund abgeleitete Soldatenbild den damaligen Lesern vertraut erscheinen: Dass der einzelne Soldat als Funktionsträger innerhalb eines Militärapparates, der angesichts aufgelöster Fronten Verantwortung immer weiter nach unten delegiert hatte, immer unersetzbarer geworden war, war zuvor schon andernorts unterstrichen worden. Auch sollte die Einsicht wenig Überraschung hervorgerufen haben, dass der Soldat stärkeren Belastungen ausgesetzt sein werde. Provokanter dürfte demgegenüber jene Ableitung gewirkt haben, nach der ausgerechnet die Nuklearwaffe den Soldaten Baudissinscher Provenienz nachgerade gebot. Denn nicht nur war der Soldat im atomaren Krieg - in kleiner Gruppe oder im Team kämpfend - der Aufsicht (sonach auch helfender Führung) entzogen, nicht nur stand er unter dem Eindruck der ebenso unheimlichen wie gewaltigen Gefährdungen, die von der Nuklearwaffe ausgingen; er wusste auch, dass das, was früher für die Verteidigung geradezu sinnstiftend war, weil es durch sie geschützt erscheinen konnte - Angehörige, Familie, Heimat - , gleichermaßen zum Objekt der Kampfhandlungen geworden war wie er selbst. Schlimmer noch, jetzt konnte alles dies sogar der eigenen Waffenwirkung ausgesetzt sein: Ein »heutiger Krieg [spiele sich] inmitten der Zivilbevölkerung ab. Fernkampfmittel, Flugzeuge und Partisanen mach[t]en den Schutz von Heimat, Heim und Familie illusorisch; die eigene Gefechtsführung [gefährde] oder [vernichte] nicht nur den Gegner779.« Wiewohl hier eher vorsichtig umschrieben, beließ damit die unterschiedslos Zivilbevölkerung und Armee treffende Gewalt der Atomwaffe dem militärischen Handeln nur noch eine Letztbegründung: Da die traditionelle Berufung

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det sich die Angabe eines angenommenen Einsatzes von etwa 100 eingesetzten sowjetischen und 108 eingesetzten westlichen Atomwaffen; nach Thoß, NATO-Strategie, S. 353, wurden bei der Übung 128 Kernwaffendetonationen auf dem Gebiet der Bundesrepublik angenommen. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/467, Handakte Lion Noir, Auswertung des LlON NOIR unter dem Gesichtspunkt der Inneren Führung, 3. Entwurf, S. 13 f. - Hervorhebung im Original. Ebd., S. 14 f.

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auf die vertrauten, von Baudissin indessen längst schon in Zweifel gezogenen Kollektive - Familie, Heimat, Volk, Vaterland - nicht mehr taugte, weil diese Gemeinschaften nunmehr ebenso gefährdet erschienen wie der Soldat auf dem Schlachtfeld, ja sogar der eigenen Verteidigung zum Opfer fallen konnten, überdies auch kein überwachender Vorgesetzter mehr das auftragsgerechte Handeln des Einzelnen zu gewährleisten vermochte, ließ sich - so die Logik Baudissins - das, »was seit je das Truppengefüge verlässlich« gemacht habe, nämlich: »gegenseitiges Vertrauen«, nur noch auf eines gründen: »Halt kann nur die feste Überzeugung vom Wert und von der Kraft dessen geben, was es zu verteidigen gilt, und das Wissen um die Bedrohung der menschlichen Existenz durch das Totalitäre780.« Zu verteidigen war demnach, ganz gemäß der Bedingung des >WeltbürgerkriegesWeltbürgerkriegesfreiheitliche< Ordnung. Die schonungslose Analyse des Potenzials der modernen Massenvernichtungswaffe bot somit die Möglichkeit, herkömmliche Begründungszusammenhänge für die Aufgabe des Soldaten der Sinnlosigkeit zu überführen und damit gegen die von Baudissin beobachteten Widerstände gegen das Weltanschauliche< der Inneren Führung vorzugehen. Die hieraus abzuleitenden Folgerungen konnten als eine einzige Rechtfertigung der Konzeption Baudissins aufgefasst werden. An erster Stelle betrafen sie den Vorgesetzten: Der »Offizier [müsse] einen klaren Standort in unserem Staat, unserer geistigen und geschichtlichen Welt und gegenüber dem Bolschewismus finden«, andernfalls werde er »der Bürgerkriegssituation [!] nicht gewachsen sein, die einen möglichen Krieg der Zukunft bestimmen« werde. In diesem Kontext fiel im »derzeitigen >FriedenKalten Krieg< vorbereitet werden, der im Kriegsspiel bis an das Ende der dem sowjetischen Angriff vorgelagerten Spannungsphase reichte781. Nicht von unge-

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Ebd. - Hervorhebung im Original. Ebd., S. 16 f. - Hervorhebung im Original. Recht deutlich kommt in dieser Betrachtung zum Ausdruck, dass der Bürgerkrieg auch den Waffenkrieg prägt, der permanente Bürgerkrieg also - wie sich auch dem Wortsinn entnehmen lässt - das heiße Gefecht einschließt, nicht also nur mit dem Kalten Krieg identisch ist. Andere Auffassung bei Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. 38, und augenscheinlich auch in dem Band Graf von Baudissin.

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fähr lag daher die eigentliche Bewährungsprobe der »Menschenführung« in der Spannungszeit. Als während eines halben Jahres der >Kalte Krieg< fortgesetzt verschärft wurde, hatte sie »ihre härteste Prüfung zu bestehen«. In dieser lang anhaltenden Spannungsphase, in der die Ängste vor der drohenden Gefahr wie in der Bevölkerung, so auch bei deren Angehörigen in der Truppe zunahmen, war im Sinne jenes Überzeugtseins von der Sache der >Freien Welt< Glaubwürdigkeit geboten. Dabei musste die Frage nach »dem Sinn einer Verteidigung und damit des Soldatseins schlechthin« ihre Antwort im »gesamtein] Dienst« finden. Baudissin nannte hier stellvertretend zentrale Elemente der Militärreform - »die Handhabung der Disziplinargewalt, die Beschwerdeentscheide, die Truppen-Information«, zuletzt auch die Betreuung. Der alltägliche Dienst war so nur das militärische Segment jener »staatlichen Wirklichkeit«, die angesichts des Fortfalls herkömmlicher Letztbegründungen allein noch dem »Verteidigungswille[n]« Bestand verlieh782. Die propagierte >Einbürgerung< des Soldaten, die Verrechtlichung seines Status, sein Anspruch auf eine politische Bildung, die ihn zu kritischem Urteil befähigte, die ihm zugestandenen Freiräume, so auch die sehr zurückhaltende Vorgesetztenverordnung: Alle diese zahllosen Neuerungen hinsichtlich der Stellung des Soldaten waren in diesem Gedankengang unter dem Zwang der Atombombe darauf angelegt, dass der Soldat auch seiner eigenen Freiheit wegen dienen konnte und so über das einzig noch tragende Motiv verfügte, das ihm im atomaren >Weltbürgerkrieg< noch zuverlässig seinen Auftrag erfüllen ließ. Erschien auf diese Weise die Atomwaffe als wirkungsmächtige Argumentationshilfe für den auch seiner eigenen Freiheit wegen kämpfen könnenden Soldaten, so ist die Frage aufgeworfen, wie konsequent sowohl das Potenzial dieser neuen Waffe als auch deren Zusammenhang mit der Inneren Führung den Soldaten vor Augen geführt wurden. Gerade im Sinne der oben umrissenen >objektiven Variante* politischer Bildung wäre eine umfassende Aufklärung auch über die für die Bundesrepublik schier apokalyptischen Dimensionen eines nuklearen Waffeneinsatzes zu erwarten gewesen. Zumindest den mit der Stabsrahmenübung befassten Offizieren scheinen Baudissin und seine Mitarbeiter die Konsequenzen eines nuklearen Waffeneinsatzes nicht vorenthalten zu haben. Von fünf der erwähnten improvisierten Lagen griff eine die Entscheidungssituation zwischen der Katastrophenhilfe für eine von Atomwaffen getroffene Stadt und der Sicherstellung der Einsatzfähigkeit der eigenen Truppe auf. Eine weitere behandelte das Problem der Führung von Truppen, die einem Atomwaffeneinsatz ausgesetzt waren783. An der Schule der Bundeswehr für Innere Führung wurde im Rahmen der Offizierlehrgänge der LlON NoiR behandelt, wenn auch die Reaktionen der Lehrgangsteilnehmer etwa mit dem Ruf nach der Mobilisierung der Gesellschaft und dem Verlangen nach einem ausrei-

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Als Mensch hinter Waffen, wo S. 46 von der Hrsg. der permanente Bürgerkrieg als »Vorstufe« vom heißen Gefecht abgehoben wird; dagegen Kutz, Historische Wurzeln, S. 17, 22. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/467, Handakte Lion Noir, Auswertung des LlON NOIR unter dem Gesichtspunkt der Inneren Führung, S. 7 f. - Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., Anl. 1 -5, zu den verschiedenen Entwürfen, S. 14 f.

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chenden Schutz der Zivilbevölkerung nicht immer zur Zufriedenheit des Grafen ausfielen 784 . Auf der anderen Seite kennzeichnete zwar der von der Unterabteilung >Führung< (IV A) im Ministerium erarbeitete Bericht »Erfahrungen >LlON NoiR«< bereits 1957 die »Planung des Einsatzes von großkalibrigen Atomwaffen auf große Städte im eigenen Land« vor dem Hintergrund der »beschlossenen >stay at home policy< [als] ein besonders schwerwiegendes psychologisches Problem« 785 . Eine nachhaltige Wirkung in den Streitkräften ist aber offenbar nicht eingetreten. Unter dem 5. November 1957 hielt Baudissin in einem Vermerk zur Herbstübung des Heeres bedauernd fest, dass zwar »Ansatzpunkte für psychologische Kampfführung in der Truppe [...] in der Ausgangslage mit Einsatz nuklearer Waffen [wenn auch nur, F.N.] durch den Gegner« gegeben gewesen seien. Zur Reaktion aber musste er bemerken, dass dies »nicht für die Truppe wirksam« geworden sei: »Keiner der angesprochenen Offiziere und Soldaten hatte sich über diese Fragen Gedanken gemacht 786 .« Und wie zur Bestätigung sollte erst 1962 der Inspekteur des Heeres sich zu der Feststellung veranlasst sehen, dass die »Fragen der atomaren Kriegführung mit all ihren Konsequenzen [...] stärker als bisher in das Bewußtsein der Truppe gerückt« seien. Im Zusammenhang mit »konkrete[n] Maßnahmen im zivilen und militärischen Bereich« wie auch im Kontext von »Sinn und Ethik des Soldatseins [stellten insbesondere] die Offizieranwärter und jungen Offiziere [...] Fragen von bemerkenswerter Klarheit«. Ursächlich hierfür seien die Verteilung der HDv 100/2 »Führungsgrundsätze des Heeres für die atomare Kriegführung. Truppenführung 1960« (TF 60), deren Richtlinien noch 1961 Eingang zunächst in die Offizier- und die lehrgangsgebundene Ausbildung und sodann ab April 1962 in die Gesamtausbildung des Feldheeres gefunden hätten, sowie Presseartikel zur nuklearen >ApokalypseLlON NOIRKurlandPlans and Policy < bei SHAPE, Beförderung zum General 1 9 6 1 , 1 9 6 1 - 1 9 6 3 Generalinspekteur, 1963 in den Ruhestand verabschiedet; nach Bradley/Würzenthal/Model, Die Generale und Admirale der Bundeswehr, Bd 1, S. 577-579. 784 785

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Schule für Innere Führung z.Z. [!] untersucht [werde], wie diesen Fragen aus Sicht der Inneren Führung zu begegnen« sei789. Mit anderen Worten: Nach der eigenen Bewertung der militärischen Führung hatte jene eingehende Auseinandersetzung mit den Konsequenzen einer atomaren Kriegführung, die bei dem aufgeklärten Soldaten des Reformkonzeptes zu erwarten gewesen wäre, erst mit fünfjähriger Verspätung begonnen. Dass demnach in den ersten Jahren der Bundeswehr die intensivere Beschäftigung mit den Folgen eines nuklearen Waffeneinsatzes trotz des Stellenwertes dieser Waffe im Begründungszusammenhang der Inneren Führung vielerorts ausblieb, ist gewiss auf ein vielschichtiges Ursachengeflecht zurückzuführen. Angeführt werden kann die Abneigung namentlich der älteren, noch von der Reichswehr und der Friedenswehrmacht geprägten Offiziere, sich überhaupt auf Fragen der atomaren Kriegführung einzulassen790. Zweifellos zählte zu dem Ursachenbündel auch das Erfordernis der militärischen Geheimhaltung. Der Rückschlüsse auf operative Planungen der NATO und Einblicke in die sehr begrenzte Einsatzfähigkeit der im Aufwuchs befindlichen Bundeswehr erlaubende und darum damals als >Geheim< eingestufte umfassende Erfahrungsbericht zu LlON NOIR, der von de Maizieres Unterabteilung IV Α im Sommer 1957 vorgelegt und in dem unter anderem sehr offen das Problem des Atomwaffeneinsatzes gegen Ballungszentren im eigenen Land angesprochen worden war, sollte allein schon vor diesem Hintergrund lediglich bis hinunter zu den Wehrbereichskommandos und den Divisionsstäben verteilt werden. An den Schulen sollte »die Einsichtnahme den Kommandeuren und Lehrern vorbehalten« bleiben791. Desungeachtet informierte das Ministerium nicht nur in Lehrgängen, sondern selbstverständlich auch in Vorschriften und anderen offiziellen Verlautbarungen sowie Informationsschriften über die besonderen Aspekte eines Krieges unter Verwendung von Atomwaffen. Noch außerhalb der unmittelbaren Verantwortung ministerieller Stellen, aber immerhin betreut von dem militärnahen Darmstädter Verlag >Wehr und Wissen< hatte 1955 die Übersetzung einer amerikanischen Ausbildungshilfe den Einsatz von Atomwaffen bei Landoperationen vorgestellt und dabei die unheimliche Seite der neuen Waffe, die Wirkung der Strahlung, bis hin zu der Erklärung verharmlost, dass neue »Behandlungsmethoden für die Strahlungskrankheit [...] ermutigende Erfolge erzielt« hätten. Heute würden die »geheimnisvollen und furchteinflößenden Wirkungen der Strahlung [...] als heilbar angesehen«792. Ganz so weit ging ein Anfang 1956 in der Abteilung >Heer< vorliegender Entwurf eines »Atom-Merkblatt[es] für den deutschen Soldaten« 789

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BA-MA, BW 2/2459, B u n d e s m i n i s t e r i u m f ü r Verteidigung, FüB-FüB IV 1, ZstBer. 1/62 (Stichtag: 1.3.1962), 22.6.1962, d o r t fol. 1 - 1 4 , Zitat fol. 2 f. Pauli, Das kriegsgediente Offizierkorps, S. 211 f., verweist hier auf die Erfahrungen, welche die Schule d e r B u n d e s w e h r f ü r Innere F ü h r u n g Ende der 1950er- u n d A n f a n g der 1960er-Jahre g e s a m m e l t hatte. BA-MA, BW 2/2574, Bundesminister f ü r Verteidigung, Fü Β, IV Α 2-Tgb.Nr. 1329/57, 25.7.1957, E r f a h r u n g e n >LlON NoiRHeilbarkeit< der >Strahlungskrankheit< in Aussicht gestellt. Der Verweis auf die »meist übertrieben[e]« Darstellung der radioaktiven Wirkung der Atomwaffe fand sich auch in der Überarbeitung der ZDv 3/3 »Verhalten des einzelnen Soldaten im Atomkrieg«. Allerdings stand für die korrigierte Fassung die stets allgegenwärtige Präsenz dieser Waffe nunmehr außer Frage, wenn sie feststellte, dass in »einem künftigen Kriege [...] überall und zu jeder Zeit damit zu rechnen [sei], daß Atomkampfmittel eingesetzt« würden 794 . Damit stellte sie das ab März 1956 bestehende Nebeneinander zweier Führungsvorschriften des Heeres, die den atomaren Krieg unverbunden neben dem konventionellen thematisierten, infrage795. Und als schließlich die Auseinandersetzung um die Ausrüstung der Bundeswehr mit nuklearfähigen Trägersystemen im Frühjahr 1958 dem Höhepunkt entgegenstrebte und am 10. März 1958 mit der Gründung der Bewegung >Kampf dem Atomtod< einen neuen Grad gesellschaftlicher Mobilisierung erreicht hatte, sah sich der Generalinspekteur einmal mehr veranlasst, zur Frage der nuklearen Kriegführung Stellung zu nehmen. Sein zur Kenntnis »alle[r] Offiziere« gegebener Erlass vom 2. April 1958 ließ diesmal an Deutlichkeit nichts vermissen. Nachdem er unter Verweis auf die aggressiven politischen Ziele des kommunistischen Blocks und unter Hervorhebung von dessen konventioneller Überlegenheit und nuklearen Rüstungsanstrengungen das Ziel militärischer Abschreckung unterstrichen sowie das Vorhaben einer Ausstattung der Bundeswehr mit nuklearfähigen Trägersystemen erklärt hatte, ließ Heusinger keinen Zweifel mehr an den vor793

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BA-MA, BW 2/1945, Schindler an Leiter Abt. Heer, 2.1.1956, Entwurf »Atom-Merkblatt für den deutschen Soldaten«, S. 1 - Hervorhebung im Original. Ebd., Bundesminister für Verteidigung, V A 6, 23.10.1957, »Verhalten des einzelnen Soldaten im Atomkrieg« ZDv 3/3, S. 3 f. Vgl. BA-MA, BHD 1, HDv 100/1 »Grundsätze der Truppenführung des Heeres« (T.F./G.), März 1956, Vorbemerkung mit dortigem Verweis auf die gesonderten »Führungsgrundsätze des Heeres im Atomkrieg«. Nach der Beobachtung von Werner von Scheven sei diese »Zweigleisigkeit« aufgrund der noch zu lückenhaften Kenntnisse zur taktischnuklearen Kriegführung in dem Bewusstsein eingerichtet worden, »damit nur eine Notlösung für die Ubergangszeit« zu schaffen. Erwartet worden sei die dann allerdings kaum einlösbare »Kombination der konventionellen und der atomaren Führungsgrundsätze«. Vgl. Werner von Scheven, Die Truppenführung. Zur Geschichte ihrer Vorschrift und zur Entwicklung ihrer Struktur von 1933 bis 1962. Eine Untersuchung der taktischen Führungsvorschriften des deutschen Heeres von der HDv 300 (1933/34) bis zur HDv 100/1 (1962), Ms Hamburg 1962 (Archiv der Lehrgangsarbeiten der Führungsakademie der Bundeswehr, Nr. JA 0388), S. 8 f.

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gangslosen katastrophalen Folgen eines atomaren Gefechtes auf dem Gebiet der Bundesrepublik: »Der Krieg mit atomaren Waffen würde grundsätzlich anders sein als alle bisherigen Kriege einschließlich des Zweiten Weltkrieges. Ein solcher Krieg [könne] ganze Landstriche und Bevölkerungsteile weitgehend vernichten.« Zuvörderst den militärischen Vorgesetzten werde mit der Maxime der Kriegsverhinderung im Wege der nuklearen Abschreckung die »Spannung zwischen Friedenswillen und Verteidigungsbereitschaft« zugemutet. Der Offizier müsse diese indes nicht nur aushalten, er müsse auch den qualitativen Sprung hin zum nuklearen Kriegsbild in Führung und Ausbildung umsetzen. Der nicht zu Ubertreibungen neigende Heusinger unterstrich mehr als zwei Jahre nach Aufstellungsbeginn die Dramatik der Veränderung: »Diese Aufgabe ist dringend796.« Dass trotz eines solchen Appells, dessen Tenor sich grundlegend von der im Erlass von 1957 verfolgten Kontinuitätslinie unterschied, sich auch 1962 noch in den Beobachtungen des Inspekteurs des Heeres ein Defizit in der Auseinandersetzung mit den Konsequenzen eines nuklearen Waffeneinsatzes spiegeln konnte, lenkt den Blick auf die ganz allgemein der Ausbildung und Bildung gewidmeten Publikationen des Ministeriums. Soweit sie außerhalb der Verantwortung Baudissins erschienen, lässt sich in der Tat ein bemerkenswert nachrangiger Stellenwert der Kernwaffe beobachten. So widmete der erste Jahrgang der sich an den Unteroffizier wendenden Zeitschrift »Wehrausbildung in Wort und Bild« von 480 Seiten lediglich zehn dem Zusammenhang nichtkonventioneller Kampfmittel, wovon allein acht sich mit Beachtenswertem im Rahmen der Dichtigkeitsprüfung der ABC-Schutzmaske befassten, also mit einem in die vornukleare Zeit zurückreichenden Ausbildungsthema. Lediglich auf zwei Seiten wurde der Nuklearwaffeneinsatz insofern thematisiert, als in Schutzmöglichkeiten gegen die Kernwaffenstrahlung im Wege des Eingrabens eingewiesen wurde 797 . Würde man bei dem hier ins Auge gefassten Leserkreis auch keine Konfrontation mit Fragen der Verantwortbarkeit eines nuklearen Waffeneinsatzes erwarten dürfen, so überrascht doch die geradezu beiläufige Vorbereitung auf dessen unmittelbare Folgen für den Soldaten auf dem Gefechtsfeld. Überdies fand das nukleare Kriegsbild in der für den Offizier bestimmten »Truppenpraxis« auch keine eingehendere Berücksichtigung. Der erste Jahrgang bot in dem 480 Seiten umfassenden allgemeinen Teil auf gerade drei Seiten eine knappe Einführung in die Druck-, Hitze- und Strahlenwirkung einer Kernwaffe, wobei die Angaben auf den damals bereits sehr niedrigen Sprengkraft von 20 Kilotonnen (KT) beschränkt blieben. Auch ein weiterer Beitrag über die >Schild-Schwert-Doktrin< der NATO verzichtete darauf, auch nur andeu796

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BA-MA, BW 2/20206, Bundesminister für Verteidigung, Fü Β I 4/6, 2.4.1958, Folgerungen aus einer etwaigen atomaren Bewaffnung der Bundeswehr für die Führung der Truppe. ABC-Ausbildung. Die Dichtigkeitsprüfung im ABC-Übungsraum. In: Wehrausbildung in Wort und Bild, 1 (1958), 5, S. 187-189; Grenadiere in der Verteidigung. Schutz gegen Kernwaffenstrahlung. In: Ebd., 7, S. 246 f.; Dichtigkeitsprüfung im ABC-Übungsraum, ebd., 11, S. 422-426.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

tungsweise auf die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes für die Bundesrepublik einzugehen798. Die im ersten Jahrgang noch mit gesonderter Paginierung gedruckten Sonderteile der Teilstreitkräfte waren kaum auskunftsfreudiger gehalten. In dem immerhin 148 Seiten starken Heeresteil fand die Kernwaffe bestenfalls en passant Erwähnung, so etwa, als die Einsatzdoktrin der Feldartillerie vor der Folie moderner Entwicklungen erörtert wurde799. Im Luftwaffenteil konnte der Leser viel über die Fortschritte der Flugkörpertechnik, aber so gut wie nichts über die Wirkung der von ihnen ins Ziel gebrachten Sprengköpfe erfahren, und die Marineführung hielt es augenscheinlich für richtiger, dem Publikum das Marine-Ehrenmal Laboe unter dem Motto Admiral Scheers: »Für deutsche Seemanns-Ehr' - Für Deutschlands schwimmende Wehr - Für beider Wiederkehr!« nahezubringen, als sich Fragen des Kernwaffeneinsatzes in küstennahen Gewässern zuzuwenden800. Auch im zweiten Jahrgang der »Truppenpraxis« blieb es bei einer eher sporadischen Thematisierung der nuklearen Waffenwirkung. Wieder wies ein Beitrag in die Strahlenwirkung ein - diesmal aus Anlass einer Vorstellung der »Dosimetrie« - , und im Übrigen begnügte sich die Zeitschrift in der Regel mit der Vorstellung neuer strategischer Trägersysteme801. Ausgerechnet ein Artikel zur Modellgestaltung bei Planspielen schien der Thematisierung der Wirkung eines Kernwaffeneinsatzes - angesichts dessen »unsere Vorstellungskraft den tatsächlichen Verhältnissen« doch >nachhinke< - noch am nächsten gekommen zu sein, indem darin praktische Hinweise für die Herstellung von >AtompilzModellen< gegeben wurden, die möglichst eindrücklich und maßstabsgerecht über die Radien der bei der Truppe eingetretenen Ausfälle informieren sollten802. Die als Sonderdruck dem Jahrgang 1958 beigefügte Abhandlung von Karst über »Tradition im Atomzeitalter« beschwor zwar an vereinzelter Stelle in bildhafter, damit gleichzeitig verfremdender Sprache »das Gorgo[nen]antlitz eines möglichen Atomwaffenkrieges«, verzichtete aber auf dessen weitere Vertiefung, um in der Kritik der gegenwartsverhafteten Konsumgesellschaft fortzufahren. Im Übrigen zitierte der Beitrag einen Gewährsmann aus der Welt des Geistes und der Wissenschaften nach dem anderen, von Karl Jaspers über Pas-

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Eberhard Krauss, Einführung in das Wesen der ABC-Abwehr. In: Truppenpraxis, 1 (1957), 2, S. 6 6 - 6 8 ; Bernd Klug, Die strategische Lage der Bundesrepublik Deutschland und der deutsche Verteidigungsbeitrag zur NATO, ebd., 3, S. 83 f. Karl Kurz, Entwicklungswege der Artillerie. In: Truppenpraxis, 1 (1957), 4, Sonderteil Heer, S. Η 144 f. Paul Reibisch, Das Marine-Ehrenmal Laboe. In: Truppenpraxis, 1 (1957), 10, Sonderteil Marine, S. Μ 20 f.; ferner den Marineteil wie auch den Luftwaffenteil insgesamt, ebd., 9, Sonderteil Luftwaffe, S. L 1 -58, und ebd., 10, Sonderteil Marine, S. Μ 1 -40. Otfried Messerschmidt, Strahlenmeßgeräte und ihre Anwendung im Atomkrieg. In: Truppenpraxis, 2 (1958), 5, S. 3 1 8 - 3 2 0 ; vgl. ferner Friedrich Kraus, U-Boote als Raketenträger. Geburt einer neuen Strategie?, ebd., 7, S. 537 f., und Georg W. Feuchter, Bomberentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, ebd., 11, S. 845-847, ebd., 12, S. 9 2 8 - 9 3 1 . Vgl. Hellmut Füssel, Planspiele auf einem Geländerelief unter Verwendung von verschiedenen Modellen (2. Teil). In: Truppenpraxis, 2 (1958), 12, S. 931-935, hier S. 932 f.

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cual Jordan zu Hermann Heimpel, von Theodor Litt über Helmut Schelsky und Ortega y Gasset bis Max Weber usw.803. Lagen diese ministeriellen Veröffentlichungen noch außerhalb der Zuständigkeit Baudissins, so galt dies selbstredend nicht für die Aussagen, die in den von seiner Unterabteilung betreuten Publikationen formuliert worden waren. Ergab sich wenigstens hier ein anderes Bild? Eine Durchsicht zunächst der fünf Textbände der »Schicksalsfragen« lässt keine prominentere Position der Atomwaffe erkennen, als dies in den soeben referierten Zeitschriften der Fall war. Auch hier findet die Atombombe mehr nur beiläufig Erwähnung und erscheint darüber hinaus in einem strategiefremden und die Verteidigung der Bundesrepublik kaum berührenden Zusammenhang. Sie wird erwähnt im Kontext der Wissenschaftsgeschichte804, philosophischer Gegenwartsdiagnose 805 und der Auseinandersetzung mit der marxistisch-leninistischen Kriegstheorie806. Auch wird sie angeführt als Instrument politischer Willensdurchsetzung 807 , als Vergleichsgröße zu den deutschen »Wunderwaffen« des Jahres 1945808, im Hinblick auf die zivil-militärischen Beziehungen in den Vereinigten Staaten809 oder auf völkerrechtliche Betrachtungen zum Zusammenwachsen zu der einen Welt810. Ferner wird sie im Rahmen der Rechtfertigung eines großen Milizheeres der Schweiz im Atomwaffenzeitalter 811 oder der auf die Abschaffung der Waffe zielenden Außenpolitik Indiens812 angesprochen. Nur manchmal ist - wenn auch recht abstrakt - von der »furchtbaren Drohung des atomaren Vernichtungskrieges« 813 die Rede, was an einer Stelle eine etwas konkretere Gestalt gewinnt, wenn auf den »Abgrund etwa zwischen den Erfahrungen der Ostfeldzüge im letzten Krieg und dem drohenden Atomkrieg« hingewiesen wird, der »vermutlich nicht geringer [sei] als etwa der zwischen ritterlichen Feldzügen

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Heinz Karst, Tradition im Atomzeitalter, Beilage der Truppenpraxis, 2 (1958), 1, S. 1-16, Zitat S. 8. Leo Brandt, Phasen der technischen Entwicklung unserer Zeit. In: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 5, S. 46-59, hier S. 47, 53, 57; Brinkmann, Donald, Mensch und Technik. In: Ebd., Bd 5, S. 60-82, hier immerhin mit Verweis auf das Vernichtungspotenzial S. 64, 66, 75, 78. Theodor Litt, Wie versteht unser Zeitalter sich selbst? In: Ebd., Bd 1, S. 9-28, hier S. 18. Martin Draht, Die sowjetische Gesellschaftslehre unter Berücksichtigung ihrer Revolutionstheorie. In: Ebd., S. 145-182, hier S. 159. Carlo Schmid, Die Souveränität im modernen westeuropäischen Staat. In: Ebd., Bd 4, S. 43-110, hier S. 45. Hans Buchheim, Grundlagen und politische Entwicklung des Dritten Reiches. In: Ebd., Bd 2, S. 114-157, hier S. 155. Ernst Fraenkel, Das Verhältnis der zivilen und militärischen Gewalt in USA. In: Ebd., Bd 3, S. 139-173, hier S. 161. Gerhard Leibholz, Volk, Nation und Staat im 20. Jahrhundert. In: Ebd., Bd 1, S. 64-90, hier S. 80. Walther Hofer, Das schweizerische Milizsystem. In: Ebd., Bd 3, S. 174-194, hier S. 192 f. Heinz Lehmann, Das neue Indien. In: Ebd., Bd 2, S. 330-353, hier S. 350 f. Friedrich Wagner, Deutschland und Frankreich. Ihr geschichtliches und politisches Verhältnis. In: Ebd., Bd 4, S. 324-348, hier S. 345.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

und den ersten Kriegen mit der Feuerwaffe«814. Dass in den »Schicksalsfragen« die Auswirkungen einer nuklearisierten NATO-Strategie für die Bundesrepublik höchstens am Rande und hier auch nur in sehr versteckter Form greifbar waren, war jedoch nur in Grenzen der Unterabteilung des Grafen anzulasten, da sie hier von Fremdbeiträgen abhängig war. Anders verhält es sich dagegen mit der »Information für die Truppe« und mit dem »Handbuch Innere Führung«. Im ersten Jahrgang der Zeitschrift wurde, was angesichts der durch den >Radford-Plan< hervorgerufenen Aufregung in Bonn nicht befremdet815, wesentlich eingehender, als dies in den »Schicksalsfragen« der Fall war, die Nuklearrüstung des Bündnisses und insonderheit der Vereinigten Staaten thematisiert. Abgesehen von sporadischen Hinweisen auf die »neuen Waffen, die Großkriege auch für den >Sieger< außerordentlich verlustreich« machen würden816, widmeten sich allein fünf Beiträge dem atomaren Abschreckungs- und Kriegführungspotenzial der NATO. Unter diesen berichteten zwei Artikel über die atomaren Systeme des amerikanischen Heeres. Während der Bericht über den neuen Divisionstyp >Pentana< [sie!] mit trockener Nüchternheit Gliederung und Ausrüstung eines »für konventionelle wie für atomare Kriegführung« geeigneten Verbandes auflistete817, feierte die Übersetzung einer Rede des amerikanischen Heeresministers Wilbert M. Brucker eine Armee, die mit Rücksicht auf den Abschreckungszweck »unter allen Umständen zu kämpfen und zu siegen« verstehe. Besonders vermerkt wurde hierbei, dass zu deren Ausrüstung beispielsweise neben »dem 28cm-Atomgeschütz, einer hervorragenden Waffe von großer Zerstörungskraft«, auch die »mächtige Atom-Artillerie-Rakete, >Honest Johnumgerüstete< Luftlande-Division der amerikanischen Armee. In: Information für die Truppe, 1 (1956), 4, S. 101-103. Mit dem in dem Zeitschriftenbeitrag als »Pentana«-Division bezeichnenten Verband war die in fünf Kampfgruppen gegliederte »Pentomic Division« - 101. Airborne Division der U.S. Army (Truppenversuch 1956) - gemeint, der eine besondere Eignung für das Gefecht unter nuklearen Bedingungen zugeschrieben wurde; vgl. Rink, Strukturen, S. 427 f. Ein Amerikaner über die amerikanische Armee. In: Information für die Truppe, 1 (1956), 5, S. 164-168, Zitate S. 165, 167.

III. B e m ü h u n g e n um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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ford-Plan referierte über das diesem zugrunde liegende Kalkül, unter dem Zwang langfristig erschwinglicher Verteidigungsausgaben konventionelle Truppenstärke durch nukleare Feuerkraft zu ersetzen, wies auf den Charakter einer verantwortungsbewussten, gleichwohl bloßen Planung hin und versicherte schließlich, dass selbst bei deren Realisierung sich »nichts an der strategischen Konzeption« ändern werde819. Auch ein weiterer, auf die friedenssichernde Funktion des nuklearen Abschreckungs- und Kriegführungskonzeptes der NATO eingehender Artikel verschwieg die Westdeutschland betreffenden möglichen Auswirkungen der Reaktion des Bündnisses, die »im Falle eines sowjetischen Angriffs der bolschewistischen Diktatur ein Ende bereiten würde«; hieß es doch, die »Bundesrepublik [sei aufgrund fehlender militärischer Fähigkeiten] an der Durchführung eines solchen vernichtenden Gegenschlages weitgehend unbeteiligt«820. Zwar bezog sich diese Einlassung auf die aktive militärische Teilhabe, da Weiteres zur Einbeziehung der Bundesrepublik aber nicht ausgeführt wurde, konnte - wer wollte - zwischen den Zeilen dem Text auch die Suggestion westdeutscher Nichtbetroffenheit entnehmen. Nur an einer Stelle wurden die Konsequenzen für die westdeutsche Gesellschaft immerhin angedeutet, nämlich im Rahmen einer neuerlichen Betrachtung zu dem von der NATO betriebenen »ständigen Ausbau der Atom-Kampfmittel«. Hier wurde nicht nur die Forderung erhoben, dass auch die Truppen der nicht über Nuklearwaffen verfügenden Mächte für die Führung einer »atomaren Auseinandersetzung« ausgelegt sein müssten, sondern es müsse »auch die zivile Verteidigung [...] auf die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes ausgerichtet werden. Gerade hier bleibt noch sehr viel tun821.« Indem diese Bewertung gleichzeitig mit dem Problem des Schutzes der Zivilbevölkerung noch zu behebende Defizite anmahnte, ließ sie indes auch die prinzipielle Möglichkeit eines solchen Schutzes vermuten. In gewisser Hinsicht mochte sich der erste Jahrgang der »Information für die Truppe« das Aussparen von Fragen eines nuklearen Gefechtsfeldes Bundesrepublik noch erlaubt haben können. Zwar hatte längst schon das Luftmanöver CARTE BLANCHE stattgefunden. Noch aber durfte man - zumindest in größeren Kreisen des militärischen Führungskorps - die Illusion pflegen, mit der Aufstellung westdeutscher Truppen werde sich das Szenario ändern. Weder hatte Strauß schon in der NATO auch für die Bundeswehr die Ausrüstung mit nuklearfähigen Trägersystemen gefordert - dies sollte 1956 erst auf der DezemberSitzung des NATO-Rates geschehen - noch hatte die Stabsrahmenübung LLON NOIR bereits Einblicke in den Kriegsverlauf unter Einbeziehung von Bundeswehrsoldaten eröffnet822. Unter gleichen Bedingungen war das »Handbuch Innere 819 820 821 822

Der >Radford-PlanReappreisal< [sie!]. In: Ebd., 1 (1956), 5, S. 1 4 0 - 1 4 2 , Zitat S. 140 f. N a c h BA-MA, BW 2/2574, BMVtdg IV A 3, Erfahrungen aus Stabsübung Lion Noir - Landesverteidigung (Vortragsnotiz für Bundeskabinett), 30.4.1957, S. 1, wurde erstmals deutsches militärisches Führungspersonal umfassend mit den seitens des Bündnisses vorausgesehenen »Bedingungen einer möglichen Kriegslage« vertraut gemacht. Vgl. zu der Neigung deut-

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Führung« zusammengestellt worden. Obwohl es erst im Frühjahr 1957 auf seinen - dann unerwartet langen - Weg zum Minister gebracht werden konnte, lagen wichtige Beiträge Ende 1956 schon vor. »[AJufgebaut auf den im Mai und Juni 1956 in Sonthofen während des ersten Offizierslehrganges gehaltenen Referaten«, spiegelte der im September 1957 veröffentlichte Band daher kaum die im Zuge von LION NOIR gewonnenen Einsichten823. Lediglich in zwei von insgesamt zwölf Einzeltexten fand die nukleare Dimension überhaupt auch nur Erwähnung. Die von Baudissin verfassten Betrachtungen zu »Situation und Leitbild« und zur »Soldatische[n] Tradition« erwähnten sie als bloße Grenzmarkierung auf dem Weg von der Antike zur Moderne, »von Troja bis Hiroshima«, dann bei einer weiteren Gelegenheit gerade nicht im Kontext des >heißen GefechtesKalten KriegesHandbuches< keineswegs deren Behandlung. Uber die bloße Nennung der Atomwaffe hinausgehende Darlegungen zu den mit ihr zusammenhängenden Fragen fanden sich in immerhin zehn von 15 Ausgaben. Dabei schlossen die Ausführungen zunächst an den Tenor der Berichterstattung des Vorjahres an. Das erste Heft legte im Rahmen einer Bewertung sowjetischer Abrüstungsinitiativen die friedenssichernde Funktion des überlegenen westlichen Atomwaffenarsenals dar und druckte Auszüge aus einer päpstlichen Verlautbarung, der sich trotz der Drohung eines Atomwaffeneinsatzes die Legitimation eines Verteidigungskrieges entnehmen ließ829. Die im vierten Heft veröffentlichten Ausschnitte aus einer Rede des SACEUR, General Lauris Norstad, betonten nicht nur die »atomare Schlagkraft« des Westens und dessen Fähigkeit, in einem Atomkrieg zu »siegen«, sondern sie verhieß auch allen Staaten des Bündnisses die wirksame »Verteidigung« des eigenen Territoriums, den Schutz »vor einer Invasion«. In Ergänzung zu solcher Ausblendung des potenziellen >Schlachtfeldes Bundesrepublik wurde abschließend der Zugang aller NATO-Streitkräfte zu nuklearfähigen Trägersystemen angedeutet 830 . Die nächsten beiden Ausgaben führten die nukleare Kampfkraft strategischer Einsatzverbände, hier vor allem jener der Vereinigten Staaten, vor Augen, so die der Flugzeugträgerkampfgruppen des SACLANT831 und die der strategischen Bomberflotte, deren Leistungen - unterstützt durch vergleichsweise aufwendige Illustrationen - mit immer neuen Superlativen gerühmt wurden 832 . Erstmals in der folgenden Ausgabe deutete sich ein veränderter Zungenschlag an. In den übersetzten Auszügen aus dem britischen Verteidigungsweißbuch833 war das Eingeständnis nachzulesen, dass es keinen zuverlässigen Schutz gegen sowjetische Bomberflotten geben werde, die das britische Mutterland mit Wasserstoffbomben angriffen. Galt dies bereits für den vom Kontinent abgesetzten zweitstärksten Partner im Bündnis, wie viel bedrohter musste dem Leser in der Bundesrepublik das eigene Land erscheinen, das zumindest gleicherma828

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Günter Will in dem Beitrag Truppen-Information - Gegenteil von Propaganda, Handbuch Innere Führung - 1957, S. 158. Die neuesten sowjetischen Abrüstungsvorschläge. In: Information für die Truppe, 2 (1957), 1, S. 7-9; Aus der Weihnachtsbotschaft des Papstes, ebd., S. 33-36, besonders S. 34 f. Aus einer Ansprache von General Norstad. In: Ebd., 4, S. 34-36. Die Verteidigung des Atlantik. In: Ebd., 5, S. 1-6, besonders S. 4 f. SAC - die amerikanische Fernbomberflotte. In: Ebd., 6, S. 5-11. Der neue britische Verteidigungsplan. In: Ebd., 7, S. 1-5, folgende Zitate S. 3.

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ßen mit der Aussicht auf eine »Atomschlacht« konfrontiert wurde, für die die Rheinarmee »mit atomtragender Raketenartillerie ausgerüstet werden« sollte. Noch deutlicher wurden die Konsequenzen eines nuklearen Gefechtes für beide deutschen Staaten mit der achten Nummer, die mit der Antwort der Bundesregierung auch die Einzelpunkte der >Großen Anfrage der SPD zur Frage der Atomwaffen wiedergab. Zwar sprach der Verteidigungsminister über weite Strecken zu dem Ziel der Abrüstung und zu seinem Credo der im Wege nuklearer Abschreckung zu bewerkstelligenden Kriegsverhinderung. Im Hinblick auf nukleare amerikanische Gefechtsfeldwaffen in der Bundesrepublik versuchte der Redetext des Ministers, deren Einsatzspektrum auf »den äußersten Fall der Notwehr als Abschreckungsmittel« zu begrenzen. Auch vermied er die direkte Antwort auf die Frage, ob im Rahmen von LlON NOIR »der beiderseitige Einsatz von nuklearen Waffen in beiden Teilen Deutschlands Bestandteil der Übung« gewesen sei. Die Rede war vom angenommenen »schlimmsten Fall·, verklausuliert hieß es, der Gegner habe »Waffen aller Art eingesetzt« und das Bündnis habe den »deutschefn] Verteidigungsbeitrag in vollem Umfang noch nicht berücksichtigt«. Aber gerade die unverkennbar ausweichende Beantwortung, die augenscheinlich sogar das Wort >Nuklear-< oder >Atomwaffe< scheute, musste den Leser auf das in der Frage angesprochene Problem stoßen. Und wenngleich ein wirksamer Bevölkerungsschutz suggeriert wurde, mochte der Soldat der Bundeswehr wenigstens zwischen den Zeilen doch »die Schrecken eines modernen Krieges« erahnen834. Trotz aller auch an anderer Stelle greifbaren Verhüllungstendenzen - das glatte »Nein!« auf die Frage nach einem regierungsseitig im Bündnis vorgetragenen Atomwaffenbegehren traf zwar dem Buchstaben nach den Sachverhalt, verschwieg aber den geäußerten Wunsch nach Trägersystemen835 - wurde hier in Ansätzen die Betroffenheit der Bundesrepublik durch die Nuklearstrategie des Bündnisses erkennbar. Sie wurde in der folgenden Ausgabe auf der einen Seite noch eindringlicher vor Augen geführt, auf der anderen Seite dann aber auch in den Hintergrund gedrängt. So wurden dort unter der Rubrik »Dokumente« Auszüge aus der Aussprache veröffentlicht, die sich an die von Strauß vorgetragene Regierungserklärung anschloss, darunter neben der Wortmeldung von Eugen Gerstenmaier auch die von Carlo Schmid. Vor allem Letzterer erinnerte das Plenum unter Bezugnahme auf LlON NOIR daran, dass im Falle eines Krieges binnen kürzester Frist die Zerstörung eines Ballungszentrums wie Frankfurt zu gewärtigen sei, »daß eine einzige taktische Atomgranate die Sprengkraft der Bombe von Hiroshima« habe und dass, sollten »hüben und drüben nur je hundert Schuß aus den taktischen Atomkanonen abgefeuert werden« - eine Annahme, die recht dicht am Übungsszenario lag - , »die biologische Substanz unseres Volkes schlechthin« nicht erst im Zuge eines >strategischen< Kernwaffenkrieges »vernichtet werden 834

835

Die Erklärung der Bundesregierung zur Atomfrage. In: Ebd., 8, S. 26-40, Zitate S. 32, 34; vgl. dazu auch AWS, Bd 3, S. 742 f. (Beitrag Greiner). Die Erklärung der Bundesregierung zur Atomfrage. In: Information für die Truppe, 2 (1957), 8, S. 37; vgl. AWS, Bd 3, S. 743 (Beitrag Greiner), und Bald, Militär und Gesellschaft, S. 58 f.

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würde«: »Auch ein taktischer Atomkrieg [...] würde Deutschland auf jeden Fall zerstören836!« Während der abgedruckte Debattenbeitrag die apokalyptischen Folgen auch der eigenen Kernwaffenschläge offen beim Namen nannte, wurde in derselben Ausgabe diese Botschaft in zwei Berichten wieder relativiert. Ein Beitrag rückte die im April 1957 sehr deutlich in der Öffentlichkeit geäußerte Sorge vor den ja auch von Schmid genannten möglichen Konsequenzen der Atomwaffenrüstung in den Zusammenhang propagandistischer Machenschaften des Ostens837. Anknüpfungspunkte boten als an sich redlich betrachtete Initiativen wie das »Göttinger Manifest der 18 Atomwissenschaftler« vom 12. April, eine Botschaft von Papst Pius XII. vom 14. April und eine am 23. April über den Rundfunk verbreitete Erklärung des Nobelpreisträgers Albert Schweitzer. Ein weiterer Artikel griff einmal mehr das Problem des zivilen Bevölkerungsschutzes auf. Bezeichnenderweise ging dieser in der bereits vom »letzten Krieg« bekannten Vorsorge gegen den »moderne[n] Luftkrieg« auf. Der »radioaktive Niederschlag< wurde zwar angesprochen, ein Eingehen auf die in Ballungszentren besonders dringlichen Schutzmöglichkeiten dagegen aber vermieden. Ebenso wenig kam der Einsatz taktischer Atomwaffen im Zuge von Bodenoperationen zur Sprache, geschweige denn das eigene atomare Feuer. In dem für die >Stay-at-homeLeistungsschau< des Westens immerhin mit einem Hinweis auf die »wahrscheinlich fürchterliche[n] Zerstörungen« im eigenen Lande, die ein nuklearer Schlagabtausch hervorrufen würde, um dann den auf die Kriegsverhinderung abzielenden Abschreckungszweck hervorzuheben843. Die damit einhergehende affirmative Wiedergabe der >Schild-Schwert-Doktrin< fand sich im Wesentlichen in wiederum zwei Beiträgen, wobei die hier abgedruckte Einlassung des SACEUR, »defensive Atomwaffen zur Stärkung der Verteidigungskraft der Bundeswehr [seien] absolut unentbehrlich [...] - zum Schutz der Bundesrepublik«, abermals in charakteristischer Weise die Kriegsfolgen für den so >Geschützten< abblendete844. Das Verschweigen dieser Konsequenzen kennzeichnete auch die abgedruckten Ausführungen des Verteidigungsministers in der Haushaltsdebatte 1958. Strauß ließ hier »Verteidigung« restlos in der »Abschreckung des Gegners« aufgehen. Die Ausstattung der Bundeswehr mit nuklearfähigen Trägersystemen diskutierte er in den Kategorien erforderlicher »Wirksamkeit« und unterstellter, von ihm verneinter Beiteiligung an einem »atomaren Wettrüsten«, nicht aber vor dem Hintergrund etwaiger Kriegsfolgen eines Kernwaffeneinsatzes845. Auf deren gänzliche Verneinung lief die auszugsweise Wiedergabe einer unerachtet nur eingeschränkter Übertragbarkeit als »vorbildlich« bezeichneten amtlichen norwegischen Anweisung für den Verteidigungsfall hinaus. In diesem Text war von Kernwaffen an keiner Stelle auch nur die Rede - lediglich ein angehängtes Zitat von Feldmarschall Bernard L. Montgomery brachte sie wieder ins Spiel846. Gleichzeitig erschienen die im Vorjahr angeschnittene Frage des Zivilschutzes im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen nicht als ein Problem der Kriegführung, sondern als eines von Regierungskonferenzen847. Die von der SPD in den Bundestag eingebrachte Initiative einer Volksbefragung zur AusDeutsche Offiziere erleben Fort Benning. In: Ebd., 3 (1958), 8, S. 351-359, dort insbesondere S. 358 f. 843 Die NATO. In: Ebd., 16, S. 741-761, dort S. 747 f. (Zitat); auch Großbritannien und die Verteidigung der freien Welt, ebd., 4, S. 177-180. 844 General Norstad zur Frage der Atomwaffen. In: Ebd., 5, S. 221-228, hier vor allem S. 225 f., und Indirekte Verteidigung - der Auftrag der Bundeswehr, ebd., 14, S. 625-630. 845 Verteidigungsminister Strauß zur wehrpolitischen Lage. In: Ebd., 15, S. 737-740. 846 Wenn es zum Kriege kommen sollte. In: Ebd., 5, S. 181 (Zitat)-187. 847 Das Rote Kreuz im Atomzeitalter. In: Ebd., 3, S. 107-110. 842

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stattung in Deutschland stationierter Streitkräfte des Bündnisses mit Atomwaffen gab nicht noch einmal Anlass zu eingehenderer, über das Schlagwort hinausreichender Reflexion über die Betroffenheit Deutschlands von der NATOStrategie, sondern zum Für und Wider dieses Vorstoßes nach Maßgabe der Verfassungsbestimmungen 848 . Schließlich suchte ein letzter Artikel unter Berufung auf einen sowjetischen Text, der von der operativen und taktischen Führung eines Angriffes unter Verwendung von Atomwaffen handelte, die Verantwortung für einen etwaigen »atomaren Angriffskrieg« der anderen Seite zuzuschreiben, nicht ohne gleichzeitig dieselbe Quelle als Zeugen für die Möglichkeit eines »weitgehende[n] Schutz[es] gegen die Folgen einer atomaren Explosion« zu bemühen 849 . Zieht man an dieser Stelle einmal Bilanz, so stellt sich ein zwiespältiger Eindruck ein. Im Gegensatz zu allen anderen hier vorgestellten Veröffentlichungen des Ministeriums hat die »Information für die Truppe«, an der Baudissin seine eigene Leistung ja immerhin gemessen sehen wollte, dem nuklearen Thema gerade auch 1957 einen vergleichsweise breiten Raum gegeben. Dass die Zeitschrift des Ministeriums dabei die regierungsamtliche Position zur Abschreckungsdoktrin und zur >Schild-Schwert-Doktrin< wiederholt den Soldaten vorgestellt hat, sollte nicht weiter erstaunen. Schon eher irritieren könnte der auf den großen nordamerikanischen Verbündeten übertragene >Waffenstolzbeeindruckenden< westlichen Kernwaffenarsenals, welche die möglichen Kriegsfolgen für die Bundesrepublik nicht reflektierte. Aber wiewohl auch andere Artikel die unverkennbare Tendenz spiegelten, die Frage des nuklearen Gefechtsfeldes Bundesrepublik auszublenden, wurde - eingerahmt von solchen Beiträgen - doch auch die Sicht der sozialdemokratischen Opposition publiziert, die genau diese Problematik unter Einschluss der Fragen des eigenen atomaren Feuers beim Namen genannt hatte. Insofern hatte die Unterabteilung des Grafen vor dem eigenen Aufklärungsanspruch nicht versagt. Sie ermöglichte auch einen anderen Zugang zu dem Atomwaffenthema als jenen, den der Bundeskanzler im April 1957 der Öffentlichkeit nahelegte, indem er die »taktischen Atomwaffen« mit verharmlosendem Zungenschlag als »ja beinahe normale Waffen« bezeichnete850. Allerdings blieben derartige Erinnerungen, die sich als Gegenrede zu den Einlassungen Adenauers verstehen ließen, auch in der »Information für die Truppe« eher punktuell, und im Laufe des Jahrganges 1958 verflüchtigten sie sich. Auch schien es nicht ratsam gewesen zu sein, die intern von Baudissin

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Zur Volksbefragung. In: Ebd., 7, S. 313-319. Wer rüstet für den atomaren Angriffskrieg. In: Ebd., 17, S. 863 f. Konrad Adenauer in dem notorisch gewordenen Presseinterview vom 5.4.1957: »Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie, und es ist ganz selbstverständlich, daß bei einer so starken Fortentwicklung der Waffentechnik, wie wir sie leider haben, wir nicht darauf verzichten können, daß auch unsere Truppen - das sind ja beinahe normale Waffen - die neuesten Typen haben und die neueste Entwicklung mitmachen.« Zit. nach Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd 10, S. 16.

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hergestellte Verbindung zwischen dem nuklearen Gefechtsfeld und einer im >Weltbürgerkrieg< auf den Verfassungspatriotismus hin orientierten Inneren Führung offener zu verdeutlichen. Dieser für die Konzeption des Grafen so wesentliche Blick auf die zu erwartende Realität stellte wohl doch eine Überforderung des Soldaten dar, der unter ohnehin so veränderten Umständen hatte gewonnen werden müssen. Hier war augenscheinlich die Grenze dessen erreicht, was dem zu rekrutierenden Personal an >Aufklärung< hatte zugemutet werden können, wie darüber hinaus in dem Abflauen des Interesses an der Nuklearfrage tendenziell auch ein Abbild der Rezeption in der Truppe gesehen werden könnte, die offenbar erst 1962 wieder eindringlicher mit der Möglichkeit eines atomaren Ernstfalles konfrontiert wurde. Bis zu welchem Grade diese Soldaten dem im Zeichen der Baudissinschen Konzeption entwickelten und durch das Normengerüst wie auch weitgehend durch die Praxis der Unterabteilung bestätigten Profil entsprachen bzw. dieses anspruchsvolle Modell überhaupt aufnehmen konnten oder Anlass zu einer Veränderung der Konturen gaben, ist Gegenstand des nachfolgenden Teilkapitels.

5.

Das Aufwachsen der Streitkräfte 1956 bis 1958

Die Bereitschaft oder auch das Vermögen der westdeutschen Soldaten, das in den gesetzlichen und ministeriellen Vorgaben gefasste Muster auch umzusetzen wenn man so will: deren Qualität hing keineswegs zuletzt mit dem Verhältnis der geforderten zu der tatsächlich aufgestellten Quantität deutscher Truppen zusammen. Jede Unterdeckung im Bereich der Vorgesetzten und der für fachliche Schlüsselfunktionen vorgesehenen Soldaten barg die Gefahr der Uberbeanspruchung des auf den Dienstposten vorhandenen Personals in sich. Gleichzeitig konnte sich dies auch nachteilig auf dessen Qualifikation auswirken - sei es, dass bereits die Eingangsvoraussetzungen abgesenkt, oder sei es, dass die im Dienst vorgesehene weiterführende Ausbildung dem Personal vorenthalten wurde. In den Blick gerät hier also zunächst der geplante Umfang der künftigen Streitkräfte. Dieser hatte anfangs recht ehrgeizige Dimensionen angenommen, war aber noch 1956 infolge einer einschneidenden Aufstellungskrise zurückgenommen worden. Diese Aufstellungskrise hat in der Literatur bereits eingehende Darstellung gefunden 851 . Dennoch wird sie hier noch einmal etwas ausgedehnter behandelt, nicht nur wegen ihrer Konsequenzen für die personelle Rüstung, sondern auch deswegen, weil sie einen Einblick in das fast schon chaotische Aufstellungsgeschehen vermittelt. Zunächst geht es um den Wandel der Zielvorgaben und im Anschluss um dessen Auswirkungen auf die Rekrutierung. Deren Erfolg bzw. Misserfolg soll sodann hauptsächlich für die Gruppe der Offiziere näher beleuchtet werden, um Zusammenhänge mit der anschlie851

Vgl. hier vor allem ΑWS, Bd 3, S. 750-844 (Beitrag Greiner).

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ßend betrachteten inneren Verfassung der Streitkräfte herstellen zu können. Am Ende sollen Aufbaugeschehen und Rekrutierungsergebnis noch einmal in Beziehung gesetzt werden zu den ministeriellen Bemühungen um die Einführung eines Musters des Soldaten, das nach dem Bisherigen dessen freiheitlicher Vermittlung mit dem Bürger recht nahe kam. a)

Streitkräfteziele und Aufstellungskrise

Der Aufstellungsbeginn am 2. Januar 1956 stand zunächst noch unter dem Vorzeichen ambitionierter Umfangsplanungen zu den neuen deutschen Streitkräften. Ein Planungspapier des von dem Obersten Bern von Baer geleiteten Sonderausschusses^ der das Aufstellungsvorhaben mit dem Augenmerk auf dessen fortschreitende Realisierungsmöglichkeiten betreute, ließ die westdeutsche Armee Ende des Monats planerisch für den 31. Dezember 1959 einen Umfang von 583 200 Soldaten erreichen, wovon 457 500 auf das Heer, 80 200 auf die Luftwaffe, 30 500 auf die Marine, schließlich 15 000 auf die Territoriale Organisation entfallen sollten852. Damit lagen die Zielgrößen noch weitgehend im Bereich dessen, was die deutsche Seite im September des Vorjahres der NATO als deutschen Beitrag für die Zeit nach Abschluss der Aufstellung versprochen hatte. Gegenüber dem am 16. September 1955 zum Annual Review Questionaire (ARQ) gemeldeten Zahlenwerk - damals sollten 460 000 Heeressoldaten zusammen mit 80 000 Soldaten der Luftwaffe, 35 000 Seeleuten und 30 000 Mann für die Territoriale Organisation einen Endumfang von 605 000 deutschen Soldaten ergeben853 - erschien das Vorhaben als »im wesentlichen nicht geändert«. Zwar gab es bereits Einbußen, nämlich die die NATO weniger berührenden Einschnitte im Bereich der Territorialen Organisation und eine - indes nur für diese kleinste Teilstreitkraft beträchtliche - Verringerung bei der Marine. Im Übrigen aber musste lediglich der Aufstellungsplan des Heeres für das Jahr 1956 gestreckt werden. Allerdings sah sich der damalige Leiter IV schon veranlasst, bei den betroffenen Abteilungen des Hauses die Realisierungsmöglichkeiten abzufragen854. Bereits wenige Wochen später waren mit einer Entscheidung des Ministers vom 20. März diese Pläne überholt, denn Blank verlangte, die Rücknahme des Aufstellungszieles auf 500 000 Soldaten zu prüfen. Daraufhin verfügte der Staatssekretär Rust am 28. März ein neues Planungsgerüst, dessen Umrisse am gleichen Tag der Leiter IV festhielt. Bei einer Gesamtstärke von 499 711 Soldaten sollten nunmehr dem Heer 335 000, der Luftwaffe 76 201, der Marine unverändert 30 500 Mann Ende 1958 zur Verfügung stehen, weitere 48 010 Solda852

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BA-MA, BW 2/2747, fol. 20, Abt. IV - Sonderausschuß von Baer, 31.1.1956, Aufstellungsplanungen betreffend, Anl. 3. BA-MA, BW 2/2787, fol. 311, 319-324, Bundesminister für Verteidigung, II/3/Grp. 2-20, 16.9.1955, Erläuterungen z u m ARQ 1955. BA-MA, BW 2/2747, fol. 6, Abt. IV - Sonderausschuß von Baer, 31.1.1956, Aufstellungsplanungen betreffend, S. 1.

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ten sollten zu diesem Zeitpunkt in der Territorialen Organisation, in der Heimat-Verteidigung und im Ministerium wie auch im nachgeordneten Truppenamt Verwendung finden. Immerhin ließen sich trotz dieses tiefen Einschnittes in die Planung nach Auffassung Speidels die NATO-Verpflichtungen noch erfüllen855. Wie General Laegeler, der kommissarische Leiter der Abteilung >Heerinformellen Unterrichtung< in dieser Zielvorgabe »noch nicht die Endlösung« gesehen wissen

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BA-MA, BW 2/2722, fol. 74, Handakte Heusinger, Notiz über die Sitzung des Bundesverteidigungsrates am 9.11.1956. BA-MA, BW 2/2475, IV D 2, 25.7.1956, Militärische Gesamtplanung betreffend, Anl. 1. Ebd. BA-MA, BW 2/2722, fol. 74, Handakte Heusinger, Notiz über die Sitzung des Bundesverteidigungsrates am 9.11.1956. BA-MA, BW 2/2475, Der Bundesminister für Verteidigung IV D, 12.12.1956, Aufstellungsplanung 1957. Ebd., 23.5.1957, Aufstellung der Bundeswehr bis 31.3.1959. BA-MA, BW 2/2488, Der Bundesminister für Verteidigung FüStab Bw-D2, 5.11.1957, Organisatorische Ziele für die vorläufige Endplanung und den AR 57, II. Teil.

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wollte868, lag diese von Strauß vorgegebene Zielgröße - am 5. November 1957 bezeichnet »als vorläufiges organisatorisches Endziel« - mit rund 350 000 Soldaten, die 1963 bereitstehen sollten, nur unwesentlich darüber869. Diese Umfangsplanung deckte sich weitgehend mit der in Anlehnung an die MC 70 - also an das die >Mindestanforderungen< für den Zeitraum 1958 bis 1963 festlegende Planungsdokument der NATO870 - vorgenommenen vorläufigen Endplanunggehobene Unteroffiziere^ 16 500 >einfache Unteroffiziere< und 56 000 Mannschaften. Ebd., fol. 99 f., Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 31. Besprechung, 8.6.1956. Ebd., fol. 103 f., Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 32. Besprechung, 13.6.1956. Ebd., fol. 134 f., Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 35. Besprechung, 7.7.1956. BA-MA, BW 1/15737, Bundesminister für Verteidigung, III, 9.7.1956, Vermerk die Erfüllung des 96 000-Mann-Programms betreffend, auch für das nachfolgende Zitat - Hervorhebungen im Original. Ebd. auch ein zweiseitiger Aktenvermerk III Β 2, 13.6.1956, aus dem die frühzeitig sich selbst noch unter den Vorgaben des 96 000-Programms abzeichnende >Kopflastigkeit< bzw. >Überalterung< der Streitkräfte erhellt. Während 1956 die Stellen der Stabsoffiziere zu 100 % und die der Hauptleute zu 80 % besetzt werden könnten, sei dies bei den Leutnanten nur bei 4 0 - 5 0 % der Fall. Ein ähnliches Missverhältnis wurde für die Unteroffiziere gesehen.

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Dienstes891 sich auswirken konnte - über die Möglichkeiten einer entsprechenden rechtlichen Regelung wurde Mitte August noch nachgedacht892 - , schnellten jedoch die Bewerberzahlen in die Höhe. Zwar hatte Gumbel Ende Juli angesichts des wöchentlich »sich konstant zwischen etwa 1000 und 1300« Bewerbungen haltenden Aufkommens immer noch Grund zu der pessimistischen Prognose, »von den [für August vorgesehenen] 10 000 Mann [lediglich] etwa 3500 stellen zu können«893. Aber gerade in diesem Monat sollten - wie es der »Tätigkeitsbericht der Annahmeorganisation« im Rückblick festhielt - die »Bewerbungen [U]ngedienter [...] auf über 14 000, d.h. fast auf das Dreifache der Vormonate« ansteigen. Diese überraschende Entwicklung schrieb die Arinahmeorganisation den »umfangreiche[n] Werbemassnahmen« zu und den »grössten Erfolg [...] hierbei eine[r] Anfang August angelaufene[n] Zeitungswerbung« 894 . Bereits am 23. August war die Wende erkennbar geworden. In der Abteilungsleiterrunde regte sich vorsichtiger Optimismus. Eingedenk der »in der letzten Zeit erheblich« vermehrten Bewerbungen Ungedienter könne »jetzt damit gerechnet werden [...], daß etwa bis Mitte Januar [1957] die für den 31.12. geforderten 96 000 Mann zur Verfügung stehen können«895. Schon in der nächsten Besprechung hielt Gumbel »die zur Erfüllung der personellen Aufstellungsplanung bis Ende 1956 erforderlichen Einberufungen (monatlich ca. 13 000) für gesichert«. Der vermutlich nicht ganz ohne Genugtuung auf den Stand des am 3. September erreichten Umfangs (43 540 Soldaten) und der Einberufungen (55 571) verweisende Leiter der Personalabteilung gab nun den >Schwarzen Peter< an die Liegenschaftsabteilung. Gerade auch hinsichtlich »der Unterbringung [...] der aufzustellenden Bundeswehrteile [...] wies [er] mit Nachdruck auf die Notwendigkeit entsprechender Maßnahmen hin, um das einberufene Personal - besonders im Hinblick auf die kältere Jahreszeit - zu verkraften«. Hier aber zogen schon dunklere Wolken auf, denn auch im Verhältnis zu den Alliierten beklagte man die »zähfließenden Verhandlungen«. Noch indessen schien sich eine Lösung in Gestalt kurzfristig herzustellender »Feldhäuser« anzubieten, die schon Ende August für die zum 1. April 1957 einrückenden »40 000 Rekruten« vorgestellt worden war896. 891 892

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Vgl. Taschenbuch für Wehrfragen, 2 (1957/58), S. 200. BA-MA, BW 2/2050, fol. 177, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 41. Besprechung, 15.8.1956. Ebd., fol. 156, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 38. Besprechung, 25.7.1956. BA-MA, BW 21/52, Tätigkeitsbericht der Annahmeorganisation, 30.4.1957, S. 44; vgl. auch ebd., S. 63, wonach das Bewerberaufkommen Ungedienter zwischen Sommer 1956 und Frühjahr 1957 folgende Entwicklung nahm: Juni 1956 - 5500; Juli 1956 - 5600; August 1956 - 14 400; September 1956 - 13 900; Oktober 1956 - 11 900; November 1956 - 7300; Dezember 1956 - 4500; Januar 1957 - 7800; Februar 1957 - 6800; März 1957 - 5100. Den Einbruch ab November 1957 schrieb der Bericht »der verlangsamten Aufstellung und abklingenden Werbemassnahmen« zu. BA-MA, BW 2/2050, fol. 185, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 42. Besprechung, 23.8.1956. Ebd., fol. 189 f., Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 43. Besprechung, 7.9.1956; zur letzten Sitzung im August siehe ebd., fol. 184, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 42. Besprechung, 23.8.1956.

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Bereits in der darauf folgenden Woche war der Offenbarungseid der Liegenschaftsabteilung kaum mehr zu umgehen. Der am 14. September vorgelegte Zustandsbericht (der Bundeswehr) monierte in dem Heeresteil nicht nur mangelhafte sanitäre Einrichtungen - so kam in einer Schleswiger Liegenschaft nur ein Waschbecken auf 40 Soldaten, was immerhin nicht mehr so alarmierend klang wie die im Juni gemeldete »Seuchengefahr«897 - , sondern er ließ auch eine Befürchtung, die noch vor Einsetzen des deutlich erhöhten Bewerberaufkommens formuliert worden war898, nun zur Gewissheit werden: Unter Hinweis auf die nunmehr so gut wie erschöpfte »Aufnahmefähigkeit der Unterkünfte« bei allen drei in Aufstellung befindlichen Grenadierdivisionen rechnete der Bericht des Heeres schon für den 1. Dezember eine Lücke an Unterbringungsmöglichkeiten von 9200 Plätzen aus, dies auch in dem Fall, dass 3300 von französischen Truppen belegte Plätze frei würden899. Für die am gleichen Tag versammelte Abteilungsleiterrunde, in der sich auch den geladenen Kommandeuren Gelegenheit zu eingehendem Bericht bot, besserten sich selbst für die Zeit danach die Aussichten nicht: Zum 1. April 1957 fehlten »49 Kasernen«. Selbst wenn geplante Aushilfen rechtzeitig griffen, bliebe immer noch ein Defizit von »36 Kasernen« oder »ca. 30 000 Plätzefn]«. Allein in intensiven Verhandlungen vorwiegend mit dem britischen Verbündeten, der zur Räumung seinerseits genutzter Kasernen bewegt werden sollte, sah man noch einen Weg900. Indes erfüllten sich diese letzten Hoffnungen nicht. Noch Mitte Oktober war die termingerechte Übergabe der besonders kritischen 10 000 britischen Unterbringungsplätze in weite Ferne gerückt, was der Entscheidung für ein amerikanisches Panzer-Modell und gegen die englische Konkurrenz zugeschrieben wurde901. Die Unterbringungsfrage war »zum >Problem Nr. 1Stammnormvon oben< eingestellt worden war911, nun reichlich vorhanden. Hinsichtlich der für die innere Verfassung der Streitkräfte zentralen Gruppe der Offiziere hatte Oberst Ernst Ferber, Unterabteilungsleiter in der Personalabteilung, die >Kopflastigkeit< in einer eindrucksvollen Gegenüberstellung auf den Punkt gebracht: Im Sommer 1957 klagte er, dass es »nur 4-500 Kompaniechefstellen [gebe], für die etwa 2000 Hauptleute und 1000 kriegsgediente Oberleutnante zur Verfügung ständen«, zudem »1700 Stabsoffiziere« bei 80 Bataillonskommandeurstellen912. Dies verschärfte noch ein Problem, das den Aufbau von Streitkräften nach einer über zehnjährigen militärfreien Zeit ohnedies belastete: Da »hauptsächlich nur [kriegsgediente] Offiziere der Geburtsjahrgänge 1913-1920 [für den Aufbau] zur Verfügung standen [,] war das Offizierkorps bereits von Anfang an überaltert«913. Wenn auch der Anteil der älteren Stabs-

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Vgl. BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58: »Die prozentualen Anteile der Offiziere an den Gesamtstärken sollten nach den Planungen beim Heer 5,0 %, bei der Luftwaffe 9,4 % ab Mai 1964 8,8 %, bei der Marine 11,4 %, insgesamt bei der Bundeswehr 6,5 %, die der SanOffz einheitlich 0,6 % betragen.« BA-MA, BW 21/52, Tätigkeitsbericht der Annahmeorganisation, 30.4.1957, S. 45 f. Zu dem bereits früh durchlöcherten Aufbaukonzept vgl. AWS, Bd 3, S. 666, 704 f., 791 f. (Beitrag Greiner); dazu auch für die größte Teilstreitkraft Heer BA-MA, BW2/1936a, Abt. V/4, Tgb.Nr. 176/56, 28.2.1956, Das Anlaufen der Ausbildung. Nach diesem >Drehbuch< waren zunächst Kommandeure, Generalstabsoffiziere, Lehrgruppenleiter und Lehroffiziere von Mai bis Juni 1956 in Sonthofen einzuweisen, gleichzeitig das Rahmenpersonal der Truppenschulen und der Lehrtruppen zu formieren und in der zweiten Jahreshälfte die Ausbildung der Kader für die Feldtruppen zu beginnen. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/9, fol. 57, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 1.8.1957; vgl. auch ebd., fol. 45, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 24.7.1957. BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 57.

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Offiziere, die in Stäben und Ämtern außerhalb der Truppe zu verwenden waren, in der Bundeswehr gegenüber den Verhältnissen vor 1914 deutlich und gegenüber den Verhältnissen in der Wehrmacht immerhin noch spürbar größer ausfiel914, wurde diese strukturelle Entlastung doch auch wieder dadurch wenigstens teilweise kompensiert, dass die früher bestehende Möglichkeit, ältere Offiziere mit administrativen Aufgaben zu betrauen, durch die im Grundgesetz vorgenommene Einrichtung einer eigenen, zivilen Wehrverwaltung nunmehr weggefallen war. Zunächst machte sich die Überalterung vor allem bei den Hauptleuten bemerkbar. 1957 hatte diese Dienstgradgruppe ein Durchschnittsalter von 40,8 Jahren. Bei einem regelgerechten Altersaufbau rechnete in den Anfangsjahren der Bundeswehr die Personalabteilung mit einem Durchschnittsalter von nur 38,6 Jahren. Mithin waren die Hauptleute mit mehr als zwei Jahren Differenz bereits überaltert. In den Folgejahren sollte sich der Abstand zum gewünschten Durchschnittsalter noch vergrößern, bis er schließlich 1961/62 mit einem tatsächlichen Durchschnittsalter von 42,4 Jahren die größte Abweichung von der Norm aufwies915. Günstiger sah es demgegenüber vor allem anfangs bei den Stabsoffizieren aus. Die Majore und Oberstleutnante des Jahres 1957 lagen mit dem Alter von durchschnittlich 43,9 bzw. 46,7 Jahren sogar unter der Norm von 44,4 bzw. 47,2 Jahren. Allerdings wuchsen auch diese Dienstgrade in die Überalterung hinein. Am Übergang zur Konsolidierungsphase, 1964, betrug das Durchschnittsalter der Majore 46,6, das der Oberstleutnante 49,9 Jahre916. Von Anfang an lagen schließlich die Obersten mit ihrem Altersdurchschnitt zunächst ein halbes, dann zwei Jahre über dem Normalter (50,2 Jahre)917. Indessen war das Offizierkorps nicht nur >überaltertkriegsgediente Offiziere< eingestellt918. Erst nach und nach konnte sich das Offizierkorps auch aus nicht mehr kriegsgedienten Jahrgängen ergänzen. Um es wiederum am Beispiel der größten Teilstreitkraft zu verdeutlichen: 1956 unterschied die Abteilung >Heer< bei der Offizierausbil914

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Vgl. BMVtdg P i l l Az.: 16-10-01, 1.6.1967, Die Personallage der Offiziere in der Geschichte und in der Bundeswehr (1967), S. 111-116; nach ebd., S. 116, betrug der Anteil der in Stäben und Amtern verwendeten Stabsoffiziere (Generale) in der Preußischen Armee (1869): 1 9 , 4 % (7,8%), im Reichsheer (1922-1932): 4 6 , 4 % (27,3%), im Heer der Wehrmacht (1938): 55,7 % (26,2 %) und im Heer der Bundeswehr (1966): 61,7 % (37,2 %). BA-MA, Β WD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 70 f.; der tatsächliche Altersdurchschnitt betrug bei den Hauptleuten 1957: 40,8 - 1958: 40,7 - 1959: 41,1 - 1960: 41,4 - 1961: 42,4 - 1962: 42,4 1963: 42,0 - 1964: 42,3 Jahre. Ebd.; der Alterdurchschnitt betrug bei den Majoren/Oberstleutnanten 1957: 43,9/46,7 1958: 44,5/47,2 - 1959: 44,9/47,8 - 1960: 44,8/48,0 - 1961: 44,5/47,5 - 1962: 45,8/49,3 - 1963: 45,8/49,1 - 1964: 46,6/49,9 Jahre. Ebd.; bei den Obersten betrug der tatsächliche Altersdurchschnitt 1957: 50,8 - 1958: 51,7 1959: 52,2 - 1960: 51,8 - 1961: 51,2 - 1962: 52,3 - 1963: 51,6 - 1964: 52,3 lahre. Vgl. die Aufstellung ebd., S. 88. Danach wurden 1955/56: 8140, 1957: 1560, 1958: 1166, 1959: 1104, 1960: 822, 1961: 479, 1962: 141 und 1963 schließlich 26 kriegsgediente Offiziere in die Bundeswehr übernommen.

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dung eine Übergangs- und eine endgültige Planung. Für die Übergangszeit waren folgende Fristen geplant: Die noch 1956 in die Ausbildung eingesteuerten Offizieranwärter sollten nach einer 14-monatigen Ausbildungszeit zum Leutnant befördert werden. Danach sollten die Ausbildungszeiten Zug um Zug verlängert werden. Die zum April bzw. Oktober 1957 eingestellten Offizieranwärter sollten nach 18 bzw. 21 Monaten ihre Beförderung erhalten, ihre Nachfolger des Einstellungsjahres 1958 nach 24 bzw. 30 Monaten und zum 1. Juli 1959 eingestellte Offizieranwärter nach 33 Monaten. Mit dem Ende der Übergangsphase sollten die zum 1. Oktober 1959 eingestellten Offizieranwärter erstmalig die endgültige Regelausbildung von drei Jahren bis zur Beförderung zum Leutnant durchlaufen919. Tatsächlich standen dem Heer die ersten >ungedienten< Leutnante nach einer insgesamt 17-monatigen Ausbildungszeit am 1. Juni 1957 zur Verfügung920. Wird der Ausbildungs- und Verwendungsvorlauf in Rechnung gestellt, der bis zur Beförderung zum Hauptmann von Soldaten ohne Vordienstzeiten zu durchlaufen war, dann wird das Gewicht deutlich, das den Veteranen auch noch Anfang der 1960er-Jahre in der Truppe gegenüber ungedienten Vorgesetzten zufiel. Für den ungedienten Truppenoffizier betrug dieser Vorlauf sieben Offizierdienstjahre. Selbst wenn dazu berücksichtigt wird, dass zwar nicht für die Berufsoffizieranwärter der Marine, grundsätzlich aber für die Offizieranwärter in Heer und Luftwaffe die Ausbildungszeit auf 24 Monate abgesenkt wurde sowie für Angehörige der >weißen Jahrgänge< (1927-1936), dann auch für die Jahrgänge 1925 bis 1934 eine Offizierdienstzeit bis zur Beförderung zum Hauptmann von nur drei Jahren vorgesehen war921, stellte die Gruppe der wiederverwendeten Offiziere noch Ende 1961 die bei Weitem überwiegende Mehrheit der 11 884 Offiziere vom Hauptmann einschließlich aufwärts922 - also von 18 176 Offizieren (ohne Sanitätsoffiziere)923 mit gut 65 Prozent nahezu zwei Drittel des gesamten Offizierkorps. Die Heterogenität dieser Mehrheit hatte Oberst Heinz-Joachim MüllerLankow, Lehrgruppenkommandeur an der Schule für Innere Führung und 1962/63 der für die Innere Führung zuständige Unterabteilungsleiter, in einem

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Vgl. BA-MA, BW 2/1164, Schreiben Abt. V, V A-V A 5 an Abt. III, 18.6.1956, Ausbildungsplanung betreffend, Übersicht in Anl. 1. Vgl. ebd., Schreiben Bundesminister für Verteidigung V, V A (Ausb.)-V A 5 an alle Kommandeure, 19.2.1957, Verwendung der jungen Offiziere betreffend. Vgl. Taschenbuch für Wehrfragen, 1 (1956), S. 214; Taschenbuch für Wehrfragen, 4 (1960/61), S. 220; BA-MA, BW 2/860, Bundesminister für Verteidigung III-III Β 1, 6.9.1957, Vorläufige Richtlinien für die Beförderung von Offizieren, S. 5 f. Bis 1964 war die Ausbildungs- und Dienstzeit bis zur Ernennung zum Offizier für alle Zeitoffiziere und die Berufsoffiziere des Heeres und der Luftwaffe auf 24 Monate, für die Berufsoffiziere der Marine auf 33 Monate festgelegt worden; vgl. BA-MA, Β WD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 36, und die Übersichten in Taschenbuch für Wehrfragen, 5 (1963/64), S. 1 1 5 , 1 4 2 , 1 6 2 f. Zusammenstellung nach einer Tabelle im Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0. BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58.

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Mitte Dezember 1961 vor dem Truppenamt gehaltenen Vortrag 924 recht trennscharf charakterisiert: Nach nahezu sechs Jahren des Aufbaus sah er die Bundeswehr weit entfernt von dem angestrebten »ausreichend homogenefn] Offizierkorps« 925 , im Gegenteil zerfiel dieses in vier deutlich voneinander abgrenzbare Gruppen: Neben den nach seiner Auffassung zur Zuversicht berechtigenden jungen Leutnanten der nicht mehr kriegsgedienten Generation waren dies die >älteren Stabsoffiziere^ die >jüngeren Stabsoffiziere< und die »Kriegsoffizier[e]« 7 die ihrerseits aus zwei Teilgruppen bestanden - die im Kriege ohne eine Friedensausbildung zum Offizier Beförderten und ehemalige Unteroffiziere mit einer Vordienstzeit vor dem Kriege 926 . Den von ihrem Dienst in der Reichswehr geprägten älteren Stabsoffizieren, zu denen er sich selbst zählte und deren Lebensalter bei Aufstellungsbeginn zwischen Mitte 40 und Mitte 50 gelegen hatte, hielt er »eine ausgesprochene Friedensausbildung« zugute, sodann Bildung, gesellschaftliche Gewandtheit, auch »Sinn für Maß, Grenze und geistige Zucht«. Dem so beschriebenen konservativen >Herrn< fiel allerdings in Anbetracht seiner hergebrachten Distanz zur Politik nach der Beobachtung Müller-Lankows die Anpassung an die grundlegend gewandelten gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten schwer. Dennoch und unbeschadet bereits spürbarer physischer Grenzen attestierte er diesen älteren Stabsoffizieren, dass »sie als Kommandeure ihre Stellung gut bis sehr gut« ausfüllten 927 . Als von ganz anderem Schlage erscheinen in der Analyse Müller-Lankows die jüngeren Stabsoffiziere, also die 1956 zwischen 35- und 45-Jährigen. Militärisch sozialisiert in der Friedenswehrmacht, verfügten auch sie noch über

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Heinz-Joachim Hermann Otto Müller-Lankow (1910-1979), in die Bundeswehr als Oberstleutnant eingestellt, Beförderung zum Oberst 1957. Im Anschluss an Kommandeurverwendungen in der Truppe von 1959-1962 Lehrgruppenkommandeur an der Schule für Innere Führung der Bundeswehr, dann 1962-1963 Unterabteilungsleiter Fü Β I; 1968 als Brigadegeneral aus dem aktiven Dienst entlassen. Angaben nach Bradley/Würzenthal/ Model, Die Generale und Admirale der Bundeswehr, Bd 3, S. 335-337. Zu Müller-Lankow und zu dem von ihm gehaltenen Vortrag vgl. sodann AWS, Bd 3, S. 864 f., 995, 1006-1012 (Beitrag Meyer). Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 17; eingeleitet wird die Betrachtung mit S. 16 f.: »Die Homogenität des Offizierkorps ist noch nicht annähernd sichergestellt. Es muss sogar ernsthaft gefragt werden, ob wir überhaupt schon von einem Korps mit Korpsgeist reden können. Die Bildungsbreite reicht vom Vollstudium bis zum Volksschüler.« - Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 10-17, und ein ungezähltes Blatt mit statistischer Übersicht. Angelehnt an die von Müller-Lankow für die Schule der Bundeswehr für Innere Führung vorgenommene Differenzierung unterscheidet Pauli, Das kriegsgediente Offizierkorps, als Gruppen die »reichswehrgeprägten Offiziere«, die »Vorkriegsoffiziere«, die »Kriegsoffiziere« und schließlich die »Volksoffiziere und Tapferkeitsoffiziere«. Ebd., S. 26-131, findet sich eine eingehende Darlegung von Herkunft, Werdegang, beruflicher Sozialisation und Mentalität dieser Gruppen mit der Kennzeichnung charakteristischer Unterschiede (Zusammenfassungen ebd., S. 54-56, 76-78, 126-131). Ebd., S. 323, bietet eine Zusammenstellung der aus den unterschiedlichen Sozialisationen resultierenden Vorbehalte der einzelnen Offiziergruppen gegeneinander. Ebd., S. 11 f. - Hervorhebung im Original.

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»eine gute OffiziererZiehung«, seien zudem gegenüber der Technik aufgeschlossener als die Alteren, auch aktiver, drängender und hätten ihre bittere persönliche Desillusionierung über das >Dritte Reich< überwiegend in eine innere Bindung an den westdeutschen Staat umgemünzt. Augenscheinlich aber hatten die Wirren von Krieg und Nachkriegszeit ein mit der militärischen (wie auch rechtsstaatlichen) Ordnung schwer verträgliches Element der »Großzügigkeit« in ihr Verhalten gebracht, welches sich mitunter in »mangelnde[r] Vorschriftentreue und sogar mangelndefm] Gehorsam« äußere. Müller-Lankows Urteil über deren Eignung als »Bataillonskommandeure« fiel daher mit »gut« etwas zurückhaltender aus928. Geradezu gespalten war dagegen die Bewertung der nächstjüngeren Gruppe, der sogenannten Kriegsoffiziere. Den im Kriege bewährten, 1956 »noch mit jugendlichem Schwung« wieder Soldat gewordenen Karriereoffizieren rechnete er zwar Erfahrung und Sinn für das Wesentliche an, kritisierte aber deren Geringschätzung einer soliden »Friedensausbildung«. Fiel in der Tendenz das Zeugnis hier noch günstig aus, so galt dies keineswegs für die andere Teilgruppe. Den aus dem Unteroffizierkorps häufig ihrer Tapferkeit wegen Aufgestiegenen fehle es mehr noch als den anderen Kriegsoffizieren »an gediegener Schulbildung«. Normalerweise »ohne Abitur«, seien sie zum abstrakten Denken nicht befähigt. Gerade sie »klammerten] [...] sich z.T. besonders stark an alte Vorstellungen und kapselt[en] sich ab«. Bei allem Verständnis für deren Schicksal und auch Leistung hätte der Schlussbefund kaum nachteiliger ausfallen können: »Diese Gruppe bedarf daher auf Grund ihrer besonderen Situation und Kriegsbewährung einer besonderen Aufmerksamkeit. Dies gilt umso mehr, als der grössere Teil der heute als Chef eingesetzten Offiziere nicht oder nur knapp den Mindestanforderungen entspricht.« Kaum freundlicher hieß es dann: »Natürlich sind die zu diesem grösseren Teil zu rechnenden Chefs nicht alles totale Versager. Sie sind auf Teilgebieten brauchbar. Durch scharfe Dienstaufsicht können Mindestleistungen erzwungen werden929.« Das Bildungs- und damit Qualifikationsdefizit dieser Gruppe der Kriegsoffiziere, die ihre Orientierung in der Vergangenheit suchten, schlug sich auch in der Statistik nieder: Von 139 Offizieren im Generalsrang hatten 129 (92,8 %) das Abitur, weitere zehn die Mittlere Reife. Ein ähnlich hohes Bildungsniveau wies zudem die Gruppe der Obersten auf: Von 548 hatten 502 (91,6 %) das Abitur, 34 (6,2 %) die Mittlere Reife und lediglich zwölf (2,2 %) den Volksschulabschluss. Auch von den 1653 Oberstleutnanten, die zumindest teilweise wie die Obersten zu den älteren Stabsoffizieren rechneten, hatten noch 1394 (84,4 %) die Hochschulreife, 208 (12,6 %) die Mittlere Reife und nur 51 (3,1 %) den Volksschulabschluss. Demgegenüber fiel das Bildungsniveau der Majore (jüngere Stabsoffiziere) bereits signifikant ab. Unter 3411 hatten 337, also zehn Prozent, nur die Volksschule besucht. Ein knappes Viertel (834, also 24,4 %) verfügte über die Mittlere Reife, etwa zwei Drittel (2240, also 65,7 %) konnten das 928 929

Ebd., S. 12 - Hervorhebung im Original. Ebd., S. 13 -15 - Hervorhebung im Original.

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Abitur vorweisen. Bei der Gruppe der Hauptleute verdoppelte sich dann aber noch der Anteil der Volksschulabgänger: Von 6133 hatten 1168 (19 %) den Volksschulabschluss, 2249 (36,7 %) die Mittlere Reife und noch nicht einmal die Hälfte, nämlich 44,2 % (2716) das Reifezeugnis. Bei den meist erst in der Bundeswehr Soldat gewordenen Leutnanten stieg der Anteil der Abiturienten wieder auf knapp drei Viertel an930. Das eklatante Bildungsdefizit der Hauptleute wog umso schwerer, als aus dieser Gruppe noch Ende 1961 »die Masse der KpChefs«, also der Disziplinarvorgesetzten, gestellt wurde931. Die in erster Linie mit der Umsetzung der Inneren Führung beauftragte Personengruppe war sowohl auf dem Feld der geistigen Rüstung< - etwa mit den Angeboten der »Schicksalsfragen« - als auch hinsichtlich der zentralen Erziehungsaufgabe932 augenscheinlich überfordert933. Darüber hinaus ließ der Bericht Müller-Lankows auch ein gerüttelt Maß an Disziplinlosigkeit erkennen, die nicht nur auf die Chefs beschränkt blieb: Innerdienstliche Rückwärtsgewandtheit oder auch Geringschätzung für die Friedensausbildung auf deren Ebene entsprach bei den jüngeren Kommandeuren die erwähnte >Großzügigkeit< in der Beachtung von Befehlen und Vorschriften, was sich schließlich auch bei den jungen Leutnanten in den Bemerkungen spiegelte, ihr »Sinn für institutionelle Autorität [sei] noch nicht ausreichend entwickelt«, und sie schlügen »relativ leicht bei der Ausbildung über die Stränge«934. Gleichwohl unterstrich die zusammenfassende Bewertung: »Unsere Stützen sind die Kommandeure, unsere Hoffnung die Leutnante«935, dass das größte Defizit bei der Gruppe der kriegsgedienten Hauptleute gesehen wurde. Bei diesem Bericht Müller-Lankows handelt es sich an dieser Stelle zwar um einen Vorblick auf die spätere Entwicklung der Bundeswehr, auf die im weiteren Zusammenhang noch einmal zurückzukommen sein wird. Auf der anderen Seite aber dürften die Chefs und jungen Bataillonskommandeure von 1961, von denen die überwiegende Mehrzahl zwischen 1956 und 1958 in die Bundeswehr 930

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Ebd., Tabelle ohne Seitenzählung (zu S. 14). Von den 5708 Oberleutnanten/Leutnanten hatten 4199 (73,6%) das Abitur, 1298 (22,8%) die Mittlere Reife und 211 (3,7%) den Volksschulabschluss. Das Manko einer ungleichmäßigen und teilweise deutlich defizitären Schulbildung kennzeichnete auch noch die Situation in der Konsolidierungsphase der Bundeswehr, auch wenn die Zahlen hier schon etwas günstiger ausfielen. Nach BMVtdg Ρ II 1 Az.: 16-10-01, 1.6.1967, Die Personallage der Offiziere in der Geschichte und in der Bundeswehr (1967), S. 134 f., betrug der Anteil der Berufsoffiziere der Bundeswehr mit Reifezeugnis (bzw. mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium) im Februar 1967 nach Dienstgraden: General - 96,9 % (16,6 %), Oberst - 91,1 % (20,3 %), Oberstleutnant - 74,3 % (19,4 %), Major - 57,2 % (12,8 %), Hauptmann - 60,2 % (2,0 %), Oberleutnant - 79,2 % (0,2 %), Leutnant - 90,2 % (0,2 %). Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 13. Ebd., S. 14. Vgl. zu der Überforderung der ehemaligen Kriegs- und Tapferkeitsoffiziere (im Gegensatz zu den durch Reichswehr und Friedenswehrmacht geprägten Offizieren) durch die intellektuellen Ansprüche der Inneren Führung Pauli, Das kriegsgediente Offizierkorps, S. 325-331, 392 f., 404 f. Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 15 f. Ebd., S. 17.

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eingetreten war, in den ersten drei Jahren der Bundeswehr entweder ebenfalls schon Disziplinarvorgesetzte oder doch wenigstens Zugführer gewesen sein936. Auch wenn sich innerhalb von fünf Jahren Einstellung und Haltung der Betroffenen geändert haben konnten, so bleibt doch wenigstens das Manko einer hinter die Erwartungen zurückfallenden Bildung. Mehr noch aber beeindrucken die Überschneidungen des Berichtes von Müller-Lankow mit Beobachtungen, die Graf Baudissin am Ende des ersten Aufstellungsjahres festgehalten hatte. Denn die Perspektive, aus der heraus der Lehrgruppenkommandeur fünf Jahre später berichten sollte, dürfte sich kaum mit derjenigen Baudissins in Deckung befunden haben. Müller-Lankow nämlich zögerte im genauen Gegensatz zu Baudissin nicht, eine zumindest militärnahe Gesellschaft als Voraussetzung für ein befriedigendes inneres Gefüge der Streitkräfte anzusehen: »Alle Bemühungen des Soldaten bleiben Flickwerk, wenn sich unser Volk nicht auf die elementaren Grundlagen der Verteidigung und des Soldatentums besinnt.« Augenscheinlich war ihm die möglichst freiheitliche Rechtsordnung nicht Ermöglichung des gewünschten Soldaten, sondern dessen ausgesprochene Behinderung: »Gesetzeslage und geistige Situation in der Bundesrepublik Deutschland setzen der Schlagkraft der Truppe Grenzen937.« Dennoch fielen die Betrachtungen zu den die innere Verfassung der Streitkräfte prägenden kriegsgedienten Vorgesetzten, die Baudissin um die Jahreswende 1956/57 angestellt hatte, nur wenig anders aus als die später von Müller-Lankow vorgelegten, was angesichts des sehr unterschiedlichen Blickwinkels die Feststellungen zum Rekrutierungsergebnis nur unterstreicht. Baudissin hatte nach etwa einem Jahr Aufstellung in zwei Papieren eine Bilanz zu der Entwicklung der Inneren Führung gezogen938. Unter dem 10. November 1956 hatte er einen »Zustandsbericht über die Innere Führung« verfasst, der - unterschrieben und mit einer Tagebuchnummer versehen - offensichtlich auch auf dem Dienstweg Speidel vorgelegt, daneben auch Heusinger zur Kenntnis gebracht wurde939. Im Entwurf dem Tagebuch beigefügt war sodann ein zwischen Mitte Dezember und Anfang Januar 1956/57 abgefasster »Jahresbericht Innere Führung 1956«940. In dem im Urteil zurückhaltender formulierenden »Zustandsbericht« nahm Baudissin die spätere Differenzierung Müller936

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Nach der oben bereits angeführten Aufstellung in BA-MA, Β WD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-1001 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 88, waren von den insgesamt 13 438 wiederverwendeten Offizieren 6 0 , 6 % 1955/56, 1 1 , 6 % 1957, 8,7 % 1958, 8,2 % 1959, 6,1 % 1960, 3,6 % 1961, 1 % 1962 und 0,2 % 1963 eingestellt worden, mithin im Zeitraum 1955/56 bis 1958 bereits 81,1 %. Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 41 f. vgl. hierzu auch Rosen, Erfolg oder Scheitern der Inneren Führung, S. 208-210. Vgl. BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 11, IV B-1831/56, Zustandsbericht über die Innere Führung, 10.11.1956. Zur Vorlage vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/7, fol. 168, 181, 183, Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 14., 29. und 30.11.1956. Ob Baudissin die beabsichtigte Vorlage beim Minister hatte herbeiführen können, muss hier offen bleiben. Vgl. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 2 - 6 , Tagebuch Baudissin, Jahresbericht Innere Führung 1956, auf den unter dem Sammeleintrag 16.12.1956-10.1.1957 (ebd., fol. 1) verwiesen wird. In der Diagnose weitgehend ähnlich ebd., 717/9, fol. 84, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 21.8.1957.

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Lankows hinsichtlich der kriegsgedienten Offiziere vorweg: die »über 50Jährigen«, die »noch von Stilformen und Führungsauffassungen der Reichswehr geprägt« seien, gefolgt von den »40-50-Jährigen«, die sichtlich noch die »Friedensausbildung der Vorkriegswehrmacht« erfahren hätten, schließlich die »unter 40-Jährigen«, welche »ihre soldatische Erfahrung ausschliesslich an der Front gewonnen« hätten. Angesichts solch unterschiedlicher Prägungen ging Baudissin so wenig wie ein halbes Jahrzehnt nach ihm Müller-Lankow von einem homogenen Offizierkorps aus. Auch schlug sich in Baudissins Augen der Mangel an einer soliden Friedensausbildung, der bei den jüngeren Gruppen festzustellen war, in entsprechenden Defiziten im Hinblick auf die vorschriftenkonforme Führung nieder: »Selbst [!] bei jüngeren Stabsoffizieren fehlt eine fundierte Erfahrung in der Erziehung und Ausbildung von jungen Soldaten [...] So ist [...] nicht mehr überall der Unterschied zwischen Erziehungsmassnahmen und Disziplinarstrafen selbstverständlich941.« Und wie Müller-Lankow gerade in dem mittleren Segment der noch in der Friedenswehrmacht Offizier gewordenen jüngeren Stabsoffiziere bei aller attestierter >Großzügigkeit< die den militärischen und politischen Neuerungen noch am ehesten zugewandte Gruppe identifizieren sollte, erkannte fünf Jahre vor ihm Baudissin in dieser Gruppe die größte Aufgeschlossenheit für das Innovative: Seine im Ton schärfer gehaltene Bilanz des »Jahresbericht[es]« bezeichnete zuvörderst die »Generation der Majore und Oberstleutnante« als den Kreis, der seinem Projekt zu den dringend benötigten »Bestätigungen aus der Truppe« verhalf942. Gleichzeitig schilderte sein »Zustandsbericht« eine verbreitete Rückwärtsgewandtheit in der »Ausbildungs- und Erziehungsarbeit«, eine ausgeprägte Scheu, »Neuland zu betreten«, bzw. die »Begnügung im Überholten«. Dazu kamen erschwerend im Rahmen »politischer Bildung« die fehlende Erfahrung 941

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BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 11, IV B-l 831/56, Zustandsbericht über die Innere Führung, 10.11.1956, S. 2 - Hervorhebung im Original. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 2, Tagebuch Baudissin, Jahresbericht Innere Führung 1956. Hier indes könnte es sich auf der Seite Baudissins streckenweise um eine Fehlinterpretation dessen handeln, was unlängst bei Naumann, Generale in der Demokratie, S. 93, als »modernistischer Brückenschlag zwischen industriegesellschaftlichen und militärischen Paradigmen« gerade auch in Bezug auf diese Offiziergeneration beschrieben worden ist. (Die Einteilung der Offiziergenerationen ist bei Müller-Lankow, Baudissin und Naumann zwar nicht genau deckungsgleich, weist aber noch hinreichende Überschneidungen auf. Mit ihrer von der Einteilung Müller-Lankows mit einer - hier jedoch für vernachlässigbar gehaltenen - Differenz von bis zu fünf Jahren abweichenden Generationszuschreibung gelangt die Analyse Baudissins recht dicht an die Einteilung heran, die bei Naumann, Generale in der Demokratie, S. 30-33, anzutreffen ist.) Immerhin war in der Akzentuierung von »Funktionalität, Kompetenz und Effektivität« unter den Bedingungen des industrialisierten Volkskrieges, die nicht zuletzt bei dieser Generation junger, noch in die Friedenswehrmacht eingetretener Stabsoffiziere der frühen Bundeswehr vorzufinden war, eine wenn auch überaus ambivalente »fragile Verständigungsbasis« im Hinblick auf die Innere Führung angelegt (vgl. ebd., S. 91-93, 121-124, Zitate S. 91, 93). Hierfür können auch die (vordergründige) Übereinstimmung der Bewertungen von Baudissin und Müller-Lankow sowie das oben geschilderte verzögerte Aufbrechen der Konkurrenz zwischen dem autoritären und dem freiheitlichen Modell einer Vermittlung zwischen Bürger und Soldat sprechen.

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»in der pädagogisch-geschickten Behandlung staatsbürgerlicher Fragen«, die »innere Unsicherheit« hinsichtlich der Position des westdeutschen Soldaten in der Auseinandersetzung mit dem totalitären Lager und eine ebensolche »Unsicherheit, auch im Grundsätzlichen«, auf dem Feld der zeitgemäßen Menschenführung. Den von ihm gesehenen Mangel in den Köpfen der Vorgesetzten unterstrich der Graf dort noch einmal mit dem Satz: »Die Situationsänderung ist vielfach nicht voll erfasst oder mit dem Anziehen der Uniform wieder vergessen worden.« Allerdings schob er hier noch Vieles auf die widrigen Umstände, angefangen von den dürftigen materiellen Voraussetzungen »auf den Gebieten der Unterbringung, Bekleidung, Besoldung, Versorgung und Fürsorge« (die nach verbreiteter Auffassung »zu Lasten des Ressorts Innere Führung« gingen) über die zum Teil noch fehlenden rechtlichen Unterlagen und Hilfen der Führung bis hin zu dem Missverhältnis zwischen eingeräumter Zeit und zu bewältigenden Neuerungen. Den guten Willen stellte sein »Zustandsbericht« nicht in Abrede943. Genau diesen zog allerdings sein »Jahresbericht« in Zweifel, wenn es dort hieß, dass »die weniger Bereiten vor vollendete Tatsachen zu stellen« seien. Vorgesetzte hätten die Erfahrung machen können, »dass man nicht nur ungestraft gegen Vorschriften der Inneren Führung Verstössen [könne], sondern dass die offene Ablehnung der Konzeption wie bestimmter Einzelregelungen ganz opportun [sei], ja teilweise zum Stil« werde, und dass für »viele [...] wenigstens der Soldat noch weiter die >gute alte Zeit< verkörpern und weiterführen« solle944. Auch spürten die Soldaten, »dass es vielen ihrer Vorgesetzten gar nicht ernstlich um diese Fragen« der Inneren Führung gehe, dass die Reform noch zur Disposition stehe. Angesichts von »Herkunft und Haltung eines grossen [sie!] Teils der Freiwilligen [dürfe] deren Hoffnung nicht verwundern, zumindest die Truppenpraxis wieder nach alter Art zu gestalten«945. Wenngleich Baudissin in seinen beiden um die Jahreswende 1956/57 gefertigten Bestandsaufnahmen, in denen er einmal mehr für »neue Wege zur Wahrung der Menschlichkeit, zur Stärkung des Freiheitsbewusstseins und zur Weckung des Verantwortungsgefühls« gerade im Sinne des militärischen Auftrages warb946, das Bildungsdefizit der kriegsgedienten Oberleutnante und Hauptleute nicht thematisierte, spiegelte die von ihm vorgenommene Einteilung des Offizierkorps zusammen mit dem beobachteten Defizit an Vorschriftentreue und der nur auf die jüngeren Stabsoffiziere weniger zutreffenden Rückwärtsgewandtheit in den Grundzügen jene Diagnose, zu welcher der von ganz anderer Warte aus das Personal bewertende spätere Nachfolger gelangen sollte. 943

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BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 11, IV B-1831/56, Zustandsbericht über die Innere Führung, 10.11.1956, S. 1 - 6 - Hervorhebung im Original. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 2, Tagebuch Baudissin, Jahresbericht Innere Führung 1956. Ebd., fol. 4, Tagebuch Baudissin, Jahresbericht Innere Führung 1956 - Hervorhebung im Original. BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 11, IVB-1831/56, Zustandsbericht über die Innere Führung, 10.11.1956, S. 6.

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Unter strukturellen Gesichtspunkten wirkten sich Überalterung und mangelnde Qualifikation hinsichtlich der physischen947, der intellektuellen, schließlich überhaupt der professionellen Anforderungen umso nachteiliger aus, als gleichzeitig die bestehende Lücke bei den jungen oder zumindest jüngeren Leutnanten und Oberleutnanten erst mit mehrjähriger Verzögerung geschlossen werden konnte. Bereits im März 1957 hielt die Zustandsmeldung des Heeres warnend fest, dass ein »empfindlicher Mangel an Leutnanten und Oberleutnanten bei der Feldtruppe [...] das Erreichen der Ausbildungsziele« gefährde. Hinzu komme die Belastung der Einheitsführer durch administrative Aufgaben, was zu einer Einschränkung ihrer »Erziehungs- und Ausbildungsaufgaben« führe948. Nach der Einberufung der ersten 8000 Wehrpflichtigen für die größte Teilstreitkraft hieß es lapidar, der »Mangel an Leutnanten in Zugführerstellen [bleibe] weiterhin bestehen und [sei] zunächst nicht zu beheben«949. Wie zur Bestätigung klagte im Mai 1957 wiederum in der Hauptsache das Heer, dass das Fehl »an jungen Offizieren und häufiger Wechsel in der OffizierstellenBesetzung (bedingt durch Abgaben zu Neuaufstellungen) [...] sich besonders auf die Rekrutenausbildung nachteilig ausfwirkten]«. Bei damals lediglich 53 Berufsoffizierbewerbern (in Anbetracht der zum Herbst eingeplanten 870) schien die Zukunft kaum Linderung der Personalnöte zu verheißen950. Die bereits Anfang Juni 1956 von Gumbel geäußerten Sorgen hinsichtlich des Offiziernachwuchses und der jungen Offiziere hatten augenscheinlich nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Es sollten sich zwar 1957/58 insgesamt 12 968 Bewerber für die Offizierlaufbahn interessieren. Tatsächlich aber konnte der jährliche Ergänzungsbedarf der Streitkräfte von 2342 Berufs- und Zeitoffizieranwärtern (mit einer Verpflichtungszeit von mindestens drei Jahren), also von als geeignet geprüften und dann zum Eintritt auch bereiten Bewerbern, 1957 nur mit 1759 und 1958 nur mit 1561 EinSteuerungen in die Laufbahngruppe gedeckt werden, wovon immerhin auf das Heer 1957: 965 und 1958: 696 Einstellungen entfielen951. Allerdings waren aus der Sicht von 1957 zumindest in den nächsten zwei

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Müller-Lankow hatte vor allem bei den Kommandeuren deutliche Anzeichen einer verbreiteten gesundheitlichen Erschöpfung gesehen; vgl. Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 11-13. Dies wurde auch schon von Baudissin in Ansätzen bemerkt; vgl. BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 11, IV B-1831/56, Zustandsbericht über die Innere Führung, 10.11.1956, S. 3. BA-MA, BW 2/20032a, ZstBer. 3/57, 25.3.1957, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 4 ) . Ebd., ZstBer. 4/57, 26.4.1957, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 7 ) . Vgl. BA-MA, BW 2/20031, ZstBer. 5/57, 29.5.1957, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-19). Nach BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 82, ergab sich für die Bewerbungen im Hinblick auf die gesamte Bundeswehr folgende Entwicklung: 1957: 6875 - 1958: 6093 (3626 Abiturienten, 2467 mit Mittlerer Reife); nach ebd., S. 86, entfielen von den Einstellungen als Offizieranwärter auf die Luftwaffe 1957: 617 und 1958: 642, wozu zwei Übernahmen aus dem Unteroffizierkorps rechneten, auf die Marine 1957: 177 und 1958: 223. Zur weiteren Entwicklung siehe unten S. 344-346.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Jahren selbst dann, wenn sich das Aufkommen an ernsthaft interessierten und qualifizierten Bewerbern deutlich erhöht hätte, schon allein aufgrund der Ausbildungszeiten keine tiefgreifenden Besserungen zu erwarten. Auch im Sommer und Herbst 1958 sollten die Teilstreitkräfte - und hier abermals in erster Linie das Heer, aber auch sehr deutlich die Luftwaffe, gefolgt von der Marine - über das Fehl an jungen Offizieren Klage führen. »Nach wie vor bleib[e] der Mangel an Oberleutnanten und Leutnanten in Zugführerstellen das dringendste Problem« - so das Heer zum 1. August, was zum 1. November als »unverändert« dargelegt wurde952. Die Aushilfen, mit denen dem 1959 zu erwartenden Fehlbestand von 2500 und dem für 1961 prognostizierten Fehlbestand von 4066 Offizieren allein im Bereich des Heeres entgegengewirkt werden sollte - genannt wurden Wiederverwendungen im Dienstgrad Hauptmann bis Oberstleutnant, Umschulungen, Versetzungen aus Behörden und die Beförderung von weit überdurchschnittlichen Unteroffizieren953 - konnten den Engpass bei den jungen Zugund Kompanieoffizieren allesamt kaum beseitigen. Unterdessen aber nahm der Umfang der Bundeswehr zwar langsamer als noch am Aufstellungsbeginn vorgesehen, aber immerhin doch stetig zu. Anfang Januar 1957 waren die Streitkräfte bei 67 971 Soldaten angelangt954, erreichten Anfang April einen Umfang von 94 271 Soldaten, darunter 8397 Wehrpflichtige955, und lagen Anfang Juli bei 99 989 Soldaten956. Ein Jahr später, am 1. August 1958, dienten in der Bundeswehr bereits 156 741 Soldaten, unter ihnen jetzt schon 36 093 Wehrpflichtige957. Auch vom Unteroffizierkorps konnte kaum eine Entlastung hinsichtlich der beim Offizierkorps gegebenen Überalterung und der Qualifikationsdefizite erwartet werden. Zum einen war diese Laufbahngruppe ab 1957 chronisch unterbesetzt. Der geplante Anteil an der Gesamtstärke der Streitkräfte von 31,4 Pro952

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BA-MA, BW 2/20036, ZstBer. 5/58, 11.9.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 1 2 ) ; vgl. aber auch ebd., S. 13 f. (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 13-22), und ebd., Anschreiben zum ZstBer. 5/58, FüB IV 1 Az.: 11-72-03, 11.9.1958. Vgl. ferner BA-MA, BW 2/20036, ZstBer. 6/58, 13.12.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 1 6 ) ; vgl. sodann ebd., S. 17 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 17-26), und ebd., S. 27 (Zustandsmeldung Marine, S. 27-40). BA-MA, BW 2/20036, ZstBer. 5/58, 11.9.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 1 2 ) . Nach BA-MA, BWD13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 85, wurden aus dem Unteroffizierkorps als Offizieranwärter (Heer/Luftwaffe/Marine) übernommen: 1957: 0 - 1958: 2 (0/2/0) - 1959: 36 (25/9/2) - 1960: 48 (34/10/4) - 1961: 67 (42/21/4) - 1962: 73 (59/4/10) - 1963:101 (67/21/13) und bis September 1964: 71 (40/21/10). BA-MA, BW 2/20032a, ZstBer. 1/57, 17.1.1957 (Stichtag: 4.1.1957), Anl. 1: Personalübersicht, S. 7. Zum weiteren Aufwuchs bis zum Stichtag 4.3.1957 vgl. Tabellen 10 - 1 2 im Anhang. Ebd., ZstBer. 4/57, 26.4.1957 (Stichtag: 4.4.1957), Anl. 1: Personalübersicht, S. 7; siehe auch Tabelle 13 im Anhang. Nach BA-MA, BW 2/20031, ZstBer. 5/57, 29.5.1957 (Stichtag: 4.5.1957), Anl. 1: Personalübersicht, S. 7, waren es zum Stichtag 95 377 Soldaten, nach ebd., ZstBer. 6/57, 29.6.1957 (Stichtag: 4.6.1957), Anl. 1: Personalübersicht, S. 8, waren es zum Stichtag 97 004 Soldaten; siehe Tabellen 14 f. im Anhang. BA-MA, BW 2/20031, ZstBer. 7/57, 26.7.1957 (Stichtag: 4.7.1957), Anl. 1: Personalübersicht, S. 8. Zur weiteren Aufschlüsselung vgl. Tabelle 16 im Anhang. BA-MA, BW 2/20036, ZstBer. 5/58,11.9.1958 (Stichtag: 1.8.1958), Anl. 1: Personalübersicht, S. 8. Siehe dazu Tabelle 17 im Anhang.

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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zent wurde 1957 mit 29 836 Unteroffizieren und damit 24,4 Prozent und 1958 mit 39 213 Unteroffizieren und mithin 22,4 Prozent deutlich verfehlt958. Zum anderen wurde auch hier zunächst Personal der ehemaligen Wehrmacht rekrutiert. Auch wenn die Übernahme von BGS- und Bereitschaftspolizei-Angehörigen und eine frühere Beförderung der Ungedienten gegenüber den Verhältnissen im Offizierkorps einen etwas günstigeren Altersaufbau mit sich gebracht haben mochten, blieb für lange Zeit eine signifikante Überalterung in Gestalt eines über zehnjährigen Alterssprunges zwischen jüngeren und älteren Unteroffizierdienstgraden959. Diesmal unter Einbeziehung des Unteroffizierkorps fasste Oberst Freiherr von Wangenheim, damals bereits ein langjähriger Mitarbeiter Baudissins, seine Eindrücke, die er bei einem Besuch von fünf Bataillonen gewonnen hatte, Anfang Juni 1958 so zusammen, dass sie sowohl als ein Echo auf die früheren Berichte des Grafen als auch als eine vorweggenommene Bestätigung der Einschätzung Müller-Lankows wirken können. Während die älteren Unteroffiziere in seinen Augen mehr nur als »Versorgungsanwärter« angesehen werden müssten, ließen die jüngeren bei allem Engagement »die Dienst- und Lebenserfahrung« vermissen. Wieder waren es die Bataillonskommandeure mit einem in der Friedenswehrmacht erworbenen Erfahrungsschatz, auf die sich die Erwartungen richteten960. Deren Arbeit wurde indes durch die veränderten Umstände des Aufstellungsmodus noch zusätzlich erschwert. An die Stelle eines in etwa parallelen Aufbaus der Großverbände >von oben< war im Verlaufe des Jahres 1956 ein Aufstellungsverfahren getreten, bei dem durch Teilung hinreichend starker, auch von >unten aufgewachsener< Verbände neue Truppenteile formiert wurden. Hier hatte sich der Engpass der verfügbaren Unterbringungsmöglichkeiten bereits früher als beim anzustrebenden Gesamtumfang ausgewirkt, indem er die örtliche Verdichtung der Aufstellung auf wenige personalstarke Verbände nahelegte961. Die Konsequenz für das Führungspersonal war in einer oben zi958

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BMVtdg Ρ III 1 Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 27 f.; zur weiteren Entwicklung siehe unten S. 346-348. Vgl. BMVtdg Ρ III 1 Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 27, 29, 33. Danach schlugen sich die in der Altersstruktur erkennbaren Brüche des Neubeginns vor allem in den elf Jahren nieder, die 1963 das Durchschnittsalter der Oberfeldwebel (41,5 Jahre) von dem der Feldwebel (30,4 Jahre) trennte. So gehörten immerhin auch 27 % der Unteroffiziere damals den >weißen Jahrgängen< an, 28 % zählten zu den kriegsgedienten Jahrgängen und 45 % kamen aus den Geburtsjahrgängen ab 1937. Demgegenüber waren die Brüche im Offizierkorps schärfer ausgeprägt. Nach BA-MA, Β WD 13/106, P i l l 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 69 f., betrug 1964 die durch den Neuaufbau bedingte Altersdifferenz zwischen den Hauptleuten (42,3 Jahre) und den Oberleutnanten (27,9 Jahre) 14,4 Jahre. Gleichzeitig hatten 53,3 % aller Offiziere noch der Wehrmacht angehört, zu den Jahrgängen ab 1936 rechneten 35,5 %, aber nur 11,2 % stammten aus den für Offizierlaufbahn relevanten > weißen JahrgängenMarineunpolitischen< Oberbefehlshaber, die Verneigung vor den >Nur-Soldaten< Raeder und vor allem Dönitz, auf ausgedehnte Kritik gestoßen966. Nicht ganz so weite Kreise sollte eineinhalb Jahre später der Tagesbefehl des Kommandeurs der 1. Luftlandedivision, Oberst Bern Oskar von Baer, ziehen. Dieser hatte aus Anlass des Jahrestages des deutschen Angriffes auf Kreta unter dem 20. Mai 1957 wiederum unter gänzlicher Ausblendung des politischen Kontextes »in Ehrfurcht jenes tapferen und opfervollen Kampfes der alten deutschen Fallschirmtruppe« gedacht, die Operation als kriegsgeschichtliche Pionierleistung gerühmt und für den Truppenteil der Bundeswehr mit dem »>Tag der Luftlandetruppe< [die] Verpflichtung« eingefordert, »die sich aus dem Vorbild der alten deutschen Fallschirmtruppe« in Verbindung mit dem von ihm nicht näher definierten eigenen Auftrag ergebe. Insonderheit Gumbel hatte daraufhin dafür gesorgt, dass Baer in die Stellvertreterposition gerückt wurde 967 . Solche Vorgänge, dazu die alsbald in der Truppe um sich greifenden Versuche, Brücken zu früheren deutschen Streitkräften zu schlagen, sollten zwar schon erste ministerielle Reaktionen hervorrufen, die dem drohenden Wildwuchs zu wehren suchten und die dann die lange Diskussion um den Traditionserlass einleiteten968. Akutere Sorgen waren aber im Hinblick auf den täglichen Dienstbetrieb angezeigt, in dem das massierte Gewicht mitgebrachter beruflicher Erfahrung auf das von Baudissin selbst noch Ende November 1956 angeAnsprache KzS Zenker, 16.1.1956, abgedr. in: Marinezeitung »Leinen los!«, Februar 1956, S. 227 f.; auch abgedr. in Germania auf dem Meere, S. 203 f. 966 Vgl. BA-MA, BW 2/2382, Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, 6. Ausschuß, Kurzprotokoll Nr. 68, 19.1.1956, S. 5; Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, 140. Sitzung, 18.4.1956, S. 7207-7235; dort insbesondere die Rede von Carlo Schmid, S. 7207-7212. Zur politischen Debatte um die Rede Zenkers vgl. Krüger, Das schwierige Erbe (2005); überarbeitete Fassung von Krüger, Das schwierige Erbe (1997), S. 28-33 (dort auch ein Auszug der Rede). 967 Bern Oskar von Baer (1911-1981), 1930 Eintritt in die Reichswehr, Beförderung zum Leutnant 1934, Verwendung in Infanterieverbänden, während des Zweiten Weltkrieges nach Generalstabsausbildung in Stabsverwendungen, zuletzt als Oberstleutnant, später als Oberst Chef des Generalstabes Fallschirmpanzerkorps >Hermann Göringbedächtigeren< kriegsgedienten Unteroffiziers und der Übereifer des >Härte< einfordernden jüngeren ehemaligen Polizeibeamten auf die Bereitschaft von Rekruten, die freiwillig sich der besonderen Herausforderung der Luftlandetruppe gestellt hatten988. Das Grundmuster dieser Konstellation begegnet auch auf der Ebene des Offizierkorps. Mit seinem nachdrücklichen Verbot hatte der Kommandeur auf eine im Februar von Leutnant Otto Dieter Dietrich im Rahmen der Unterführerausbildung vorgenommene Illerdurchquerung reagiert. Dietrich war zusammen mit dem ebenfalls 1934 geborenen Leutnant Klaus Hilbig der mit Abstand jüngste Offizier des Bataillons. Von dem nächstälteren Offizier trennten beide ein ganzes Jahrzehnt. Dietrich wie Hilbig waren zuvor BGS-Beamte gewesen und hatten am 1. August 1956 ihre Beförderung zum Leutnant erhalten989. Die eigenmächtige Aufnahme der Flussüberquerung in das Ausbildungsprogramm im Februar hatte Dietrich »mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Ausbildung zur Härte begründet«. Wiewohl Dietrich selbst - anders als später Julitz durch die Pionierausbildung beim Bundesgrenzschutz für die Leitung eines derartigen Unterfangens hinreichend qualifiziert erschien und dies auch durch eine ganze Reihe einschlägiger Sicherheitsvorkehrungen (die von seinen Nachahmern bezeichnenderweise unterlassen wurden) bewiesen hatte, glaubte sich der Kommandeur vor dem Hintergrund der genossenen eigenen Friedensausbildung zum Einschreiten genötigt. Der 1916 geborene Genz war 1935 in die Wehrmacht eingetreten, dort 1938 zum Leutnant, 1944 zum Major befördert worden und hatte in den letzten beiden Kriegsmonaten ein Regiment geführt. 986

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Ebd., fol. 17, Major Ernst-Egon Schütz, IV Β 1, Bericht über die Eindrücke beim IllerProzeß am 20., 21. und 23.8.1957, 24.8.1957. Ebd., Bundesminister für Verteidigung VIII-191/57, Bericht der vom Herrn Bundesminister für Verteidigung eingesetzten Kommission zur Untersuchung des Illerunglücks am 3. Juni 1957,17.7.1957, S. 18 f., 25 f., und ebd., Anl. 5, S. 2. Zur »Mentalität« dieser Truppe vgl. ebd., S. 19 f. Zu den Personalien des Offizierkorps siehe ebd., Anl. 5 und 6. Der nächstältere Offizier war Oberleutnant Gerhard Hirsch, Jahrgang 1924.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Nach Auffassung des ehemaligen Fallschirmjägeroffiziers standen »die Risiken [...] in keinem Verhältnis zu dem Gewinn an Übung«, wobei er hier angesichts der Temperaturverhältnisse im Winter vor allem an Erkältungskrankheiten dachte. Unterstützung fand der Kommandeur, der nicht nur mit einem Verbot, sondern auch mit »eine[r] scharfe[n] Verwarnung des ausbildenden Offiziers« reagiert hatte, wohl nicht zufällig wiederum bei einem älteren Offizier, nämlich seinem Divisionskommandeur, dem Obersten von Baer, der unbeschadet seiner bereits erwähnten Rhetorik offenbar die in den Grundsätzen der Friedensausbildung erkennbare Güterabwägung teilte990. An dem Unglück waren indessen weder der Kommandeur noch der Lehrgangsoffizier der im ersten Quartal vorgenommenen Unteroffizierausbildung unmittelbar beteiligt gewesen. Sie fiel zunächst in den Verantwortungsbereich des Chefs, Oberleutnant Sommer, der 1940 in die Wehrmacht eingetreten und in den letzten Kriegswochen zum Leutnant befördert worden war. Im Kriegseinsatz bewährt, mit der Friedensausbildung aber noch nicht so recht vertraut, erweckte der 36 Jahre alte Offizier bei der Untersuchungskommission zwar den Eindruck eines besorgten, fürsorglichen Soldaten. Die Kommission setzte aber hinzu, dass er über seiner Verwaltungsaufgabe und in seinem Bestreben, auch mit seinen »Untergebenen in gutem Einvernehmen zu leben, [...] des Mindestmasses [sie!] an realistischer Einsicht in die überall vorhandenen Schwächen entbehrt[e], dessen ein guter Vorgesetzter« bedurfte. Wenn auch Abiturient, erschien er ihr nach »Bildung und Intelligenz [...] eher etwas unter als über dem Durchschnitt«. Bei ihrer Einschätzung konnte sich die Kommission auch auf die Auskunft des Bataillonskommandeurs, der Sommer im unteren Drittel seiner Chefs einstufte, und auf die Verwendungsempfehlung der im August 1956 erstellten Beurteilung berufen, die ihn vorerst nicht für eine Chefstelle hatte vorgesehen wissen wollen, was allerdings durch die bereits zuvor verfügte Versetzung hinfällig geworden war. Zu ihrer Bewertung war die Kommission gewiss auch unter Würdigung des Verhaltens des Chefs am 3. Juni gelangt. Nach seinem Dienstplan hatte Sommer sich selbst als Leitender der Geländeausbildung eingeteilt. Zur Erledigung administrativer Aufgaben war er dann aber zunächst in der Kaserne verblieben und hatte den verfügbaren dienstältesten Zugführer, einen Feldwebel, mit seiner Vertretung beauftragt. Aufgrund der im Übungsgelände angetroffenen Lage hatte dieser dann den Übungsraum der Kompanie so gelegt, dass der 4. Zug in die Nähe der Iiier geführt wurde. Allerdings hatte der Chef nach seinem Eintreffen im Gelände persönlich den Zug im ursprünglich so nicht vorgesehenen Geländeabschnitt üben sehen. Jedoch hatte er daraus keine Konsequenzen für seine Dienstaufsicht gezogen. Noch vor dem Unglück hatte er das Übungsgelände wieder in Richtung Kaserne verlassen. Die Kommission sah darin »eine Verkennung der Bedeutung des Geländedienstes und der Verpflichtung durch den Dienstplan«991.

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Vgl. ebd., S. 12 f., 14 f. (Zitat), 30 (Zitat). Ebd., S. 4 f., 17 f. (Zitat), 28 f. (Zitat), Anl. 5, S. 1, sowie Anl. 6, S. 1.

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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Wie sein Unterführer Schäffler hatte Sommer denen, die Initiative entwickelten, einen weiten Raum belassen. Gleich jenem hatte er - wie neun weitere von insgesamt 21 Offizieren des Bataillons - nur die Kriegsausbildung in der Wehrmacht erhalten. Ein solches Gewährenlassen mochte sich im Kriege auszahlen. Es stieß in der Friedensausbildung, in der keine Erfordernisse des Einsatzes die Rücksicht auf die Gesundheit der Unterstellten relativieren konnten, dann an seine Grenzen, wenn Ausbilder der >Härte< wegen sich zur Überforderung Untergebener verleiten ließen. Dynamische und dabei deutlich jüngere Vorgesetzte, die aus den Polizeiverbänden des Bundes oder der Länder kamen und den Einsatz im Kriege nicht mehr erlebt hatten, neigten nach den Vorgängen im Luftlandebataillon 19 dazu, dieser Versuchung nachzugeben. Einem Stabsoberjäger Julitz im Unteroffizierkorps entsprach im Offizierkorps der Leutnant Dietrich, der zwar im Februar wesentlich aufwendigere Sicherheitsvorkehrungen für die eigentliche Durchquerung des Flusses getroffen, dabei aber augenscheinlich das nicht unbeachtliche Erkältungsrisiko auf die leichte Schulter genommen hatte. Anders als im Unteroffizierkorps der Kompanie stellte im Offizierkorps des Bataillons diese Gruppe allerdings noch eine eindeutige Minderheit dar. Neben den bereits erwähnten beiden Leutnanten hatten nach der Aktenlage bestenfalls noch der Sanitätsoffizier sowie zwei weitere, als >kommandiert< geführte Offiziere, zu denen im Untersuchungsbericht nichts Näheres ausgeführt ist, zuvor keinen Dienst in der Wehrmacht geleistet (was in den beiden letzten Fällen angesichts der Dienstgrade Oberleutnant bzw. Hauptmann äußerst unwahrscheinlich ist). Deren Friedensausbildung hatten jedoch lediglich der Kommandeur, sein Vertreter, drei der sechs Chefs sowie ein weiterer Offizier durchlaufen. Einzig Offiziere wie der glänzend beurteilte Kommandeur schienen mit ihrer Energie, soliden Ausbildung und Erfahrung den Anforderungen des Truppenaufbaus zu entsprechen. Der 1916 geborene Genz hatte sich nicht nur im Kriege als Ritterkreuzträger »hochbewährt«, er konnte mit seinem Erfolg im Zivilberuf und seinen beeindruckenden Fremdsprachenkenntnissen als überdurchschnittlich intelligent und von seiner Persönlichkeit her geradezu als Idealbild eines Bataillonskommandeur vorgestellt werden992. Aber schon der Sachverhalt, dass bereits auf der Ebene der Chefs die Weitergabe des Verbotes nachlässig gehandhabt und im gesamten Offizier- und Unteroffizierkorps die Verbindlichkeit etwa des Dienstplanes unterschiedlich beurteilt wurde, zeigt die aus den voneinander abweichenden militärischen Prägungen hervorgegangene Differenz im jeweiligen Dienstverständnis. In geradezu typischer Weise hatte das Iller-Unglück vorangegangene und spätere Diagnosen von Baudissin, Wangenheim und Müller-Lankow bestätigt, wobei allerdings dem Kommandeur nicht die von 1961 seiner Offiziergruppe attestierte >Großzügigkeit< nachgesagt werden konnte: Chefs, die hinter den Erfordernissen ihres Dienstposten zurückblieben, ältere Unterführer, deren Vorschriftenkenntnis unzureichend war und die sich ihrer Dienstaufsichtspflicht 9,2

Vgl. zur Personallage im Bataillon hinsichtlich der Offiziere ebd., S. 24, und Anl. 6. Zur Beurteilung des Kommandeurs vgl. ebd., S. 16 f. (Zitat), Anl. 5, S. sowie Anl. 6, S. 1.

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nicht im erforderlichen Umfang stellten, junge Vorgesetzte, die über das Ziel hinauszuschießen neigten, und schließlich die Kommandeure, die (was MüllerLankow allerdings nur mit Einschränkungen feststellen sollte) allein noch als verlässlich erschienen. Noch in einer weiteren Hinsicht konnten die Umstände des Unglückes als Illustration eines für die frühe Bundeswehr charakteristischen Defizites gesehen werden. Wie die Streitkräfte in ihren Zustandsmeldungen beklagt hatten, litt die Ausbildung vor allem auch unter dem Fehl an jungen Offizieren. Auch im Luftlandebataillon 19 fehlten bei 21 zur Verfügung stehenden Offizieren nach dem Soll noch elf. Wie der Untersuchungsbericht ausgerechnet hat, hätte dies nach Abzug des für den Bataillonsstab vorzusehenden Personals für fünf der sechs Kompanien drei und für eine Kompanie zwei Offiziere ergeben. Ein solcher Personalbestand wäre in den Augen der Kommission »ausreichend« gewesen, wenn dieses auf dem Papier vorhandene Ist nicht noch durch Kommandierungen und Urlaubsabwesenheiten deutlich gemindert worden wäre, sodass am 3. Juni 1957 für sechs Kompanien faktisch lediglich sieben Offiziere vorhanden waren, darunter für die betroffene 2. Kompanie nur der Disziplinarvorgesetzte993. Nun stellt sich allerdings in Anbetracht des eben Ausgeführten die Frage, was mit einem höheren Bestand gerade an jungen Offizieren in Zugführerstellungen gewonnen gewesen wäre. Bei Leutnant Dietrich handelte es sich gewiss nicht um einen Ausnahmefall. Major Karst hatte Anfang Oktober 1956 über die Lehrgangsteilnehmer an der Heeresoffizierschule I in Hannover und an der Truppenschule für Pioniere in München berichtet, »[njicht wenige [...] verl a n g t e n schärfere Anforderungen, härtere Ausbildung, festere Umgangsformen und einen klaren militärischen Umgangston«. Das Bedürfnis eines hergebrachten soldatischen Verhaltens, das er mit einschlägigen Zitaten junger Soldaten belegen konnte994, hatten auch andere beobachtet - so in Vertretung des Referenten IV Β 2 etwa der Major Dr. Benno von Knobelsdorff-Brenkenhoff, der unter dem 7. März 1957 die mit einem Augenzwinkern praktizierte Einführung des vorschriftswidrigen antreibenden >Marsch, Marsch< beim Formaldienst festhielt995. Müller-Lankow sollte später von einem >Über-die-Strängeschlagen< reden. Auch blieb solche Orientierung an einer herkömmlichen Praxis keineswegs auf das Heer beschränkt. Beispielsweise begehrten die Offizieranwärter der Crew 4/57 in einer nach fünfmonatiger Dienstzeit Mitte September 1957 abgefassten eingehenden Betrachtung durchaus ernsthaft, hier nun »hinsichtlich der militärischen Ordnung und Disziplin härter angefaßt [zu] werden«. Viel hätten sie »von alten Offizieren und Unteroffizieren [gehört], wie gut und zweckmäßig manche >preußische< Kleinigkeit im äußeren Dienstbetrieb« gewesen sei. Ohne sich sogleich zu >Preußen< wandeln zu wollen, ließen diese

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Vgl. ebd., S. 21 f. Major Karst, IV Β 2, 1.10.1956, Bericht über Lehrgänge an der Heeresoffizierschule I, Hannover, und der Truppenschule für Pioniere, München, in der Zeit vom 17.9.-27.9.1956, besonders S. 1 (Zitat), S. 6, in BA-MA, Ν Karst, 690/v. 38. BA-MA, Ν von Wangenheim, 493/v. 1, IV Β 2 an Leiter IV B, 7.3.1957, S. 2 f.

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Marineoffiziere von morgen ihre Sympathie für diese »zweckmäßige[n] Dinge« sehr deutlich erkennen996. Der Untersuchungsbericht zum Iller-Unglück räumte selbst ein, dass »freilich auch ein junger Offizier der Versuchung, aus sportlichem Ehrgeiz leichtfertig zu handeln, ebenso erliegen [könne] wie der Stabsoberjäger Julitz «. Dennoch glaubten die Kommissionsmitglieder unter Verweis auf die doch »umfassendere Ausbildung« des Offiziers sich zu der Feststellung berechtigt, »daß die Wahrscheinlichkeit, daß ein junger Offizier in völlig extremer Weise von seinem angesetzten Dienst abweicht, [...] geringer« sei997. Schon allein angesichts der deutlich höheren Lehrgangszeit des Offiziers - 1957 belief sich der lehrgangsgebundene Anteil im Heer bei Unteroffizieren auf drei und Feldwebeln auf sechs, bei Zeitoffizieren dagegen auf zwölf und Berufsoffizieren sogar auf 18 Monate998 - lässt sich diese Erwägung nicht von der Hand weisen, wenngleich bei einem größeren Zulauf jüngerer Offiziere vermutlich keine stärkere Orientierung an der Konzeption Baudissins zu erwarten gewesen wäre. Bei aller Rücksichtslosigkeit gegenüber später eventuell eintretenden gesundheitlichen Folgen einer winterlichen Illerdurchquerung hatte Leutnant Dietrich überdies immerhin wichtige Sicherheitsvorkehrung während des Überganges getroffen. Nicht zu Unrecht forderte die Kommission daher, dass in Ausbildungseinheiten neben dem Chef eine »Effektivbesetzung mit mindestens 2 Kompanieoffizieren [...] gesichert sein« müsse999. Noch bevor der Untersuchungsbericht fertiggestellt worden war, hatte der Minister diese Empfehlung bereits übernommen. In einer aus Anlass des Unglückes anberaumten Besprechung verfügte er u.a., aus dem Ministerium wie den Dienststellen des nachgeordneten Unterstützungsbereiches vorerst 200 Offiziere - »Dienstgrade möglichst Major, Hauptmann, Oberleutnant« - zur Heerestruppe zu kommandieren, um in allen Einheiten stets neben dem Disziplinarvorgesetzten einen weiteren Offizier, sofern Wehrpflichtige ausgebildet würden, den Einheitsführer und zwei weitere Offiziere tatsächlich auch vor Ort verfügbar zu haben1000. Darüber hinaus stellte das Ergebnisprotokoll fest, dass die >Vorfälle< - inzwischen war es bei einem in Amberg stationierten Panzerbataillon zu einem weiteren Unglücksfall gekommen, bei dem aufgrund eines vorschriftswidrigen Umganges mit Blindgängern ein Soldat umgekommen und

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»Überlegungen der Crew 4/57«, Bremerhaven, 12.9.1957, Zitat S. 3; die Überlassung dieser Betrachtungen danke ich dem freundlichen Entgegenkommen von Flottillenadmiral a.D. Klaus-Peter Niemann. BA-MA, BW 2/2572, Bundesminister für Verteidigung VII1-191/57, Bericht der vom Herrn Bundesminister für Verteidigung eingesetzten Kommission zur Untersuchung des Illerunglücks am 3. Juni 1957,17.7.1957, S. 22 f. Vgl. zu den damaligen Ausbildungsgängen im Heer Taschenbuch für Wehrfragen, 2 (1957/58), S. 108-112. BA-MA, BW 2/2572, Bundesminister für Verteidigung VIII-191/57, Bericht der vom Herrn Bundesminister für Verteidigung eingesetzten Kommission zur Untersuchung des Illerunglücks am 3. Juni 1957,17.7.1957, S. 23. Ebd., fol. 24-28, IV B, 2.7.1957, Ergebnisse der Ministerbesprechung am 22.6.1957, fol. 27.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

vier weitere verletzt worden waren1001 - »ein bedenkliches Mass [i.e. Maß] an Ungehorsam und Unbedenklichkeit gegenüber Befehlen [hätten] deutlich« werden lassen. Als Konsequenz hieraus sollten zuvörderst den Vorgesetzten ihre Pflichten, darunter nicht zuletzt die Gehorsams- und Dienstaufsichtspflicht, vor Augen geführt und sie zu einem klaren, eindeutigen Gebrauch der Befehlssprache angehalten werden1002. Der Auftrag hierzu erging an Baudissin, der zu der Besprechung des Ministers mit Abteilungsleitern unter Einschluss der Inspekteure, mit den Korps- und Divisionskommandeuren sowie den Schulkommandeuren hinzugezogen worden war und dabei für sein Sachgebiet eine vermehrte Aufmerksamkeit geglaubt hatte registrieren zu können1003. Die im Zusammenhang mit dem IllerUnglück herausgegebenen Erlasse schärften zum einen die Pflicht zur Dienstaufsicht ein, die im Sinne des vorbeugenden Gesundheitsschutzes sich gerade auch auf riskante Unternehmungen während der Freizeit erstreckte1004. Zum anderen war nach dem Unglück, aber noch vor der Ministerweisung ein Erlass von Heusinger unterschrieben worden, der auf die Herausbildung einheitlicher Grundsätze im Offizierkorps zielte und dabei nachdrücklich deren Gehorsamspflicht gegenüber Gesetzen, Vorschriften und Befehlen, sodann deren Verantwortung für erteilte Befehle, schließlich die von ihnen zu fordernde >Wahrhaftigkeit< in Erinnerung rief. Mit diesen rechtlich relevanten Forderungen verband der Erlass überlieferte Einstellungen, mit denen den Kommandeuren die Erziehung des Offizierkorps zu einer bescheidenen, ritterlichen, humorvollen und engagierten Lebensführung und Dienstgestaltung ans Herz gelegt wurde1005. Mit allen diesen Maßnahmen konnten naturgemäß weder die Unruhe, die im Zuge der aufstellungsbedingten Personalfluktuation aufkam, noch das grundlegende Fehl an jungen Offizieren vorerst beseitigt werden, wie die oben angeführten Zustandsmeldungen aus dem Jahre 1958 erkennen ließen. Allerdings zeichnete sich 1958 hinsichtlich der Besonderen Vorkommnisse eine erste Entspannung ab. Denn in den drei Monaten von Mai bis einschließlich Juli 1958 war die Rate, die zum gleichen Zeitpunkt des vorangegangenen Jahres bei 40 Soldaten je Fall gelegen hatte, wieder auf knapp 64 Soldaten je Fall zurückgegangen, was im darauffolgenden Quartal von August bis einschließlich Oktober mit einem Verhältnis von knapp 81 Soldaten je Fall in der Tendenz bestätigt 1001 v g l dazu BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 197, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 15.6.1957. BA-MA, BW 2/2572, fol. 2 4 - 2 8 , IV B, 2.7.1957, Ergebnisse der Ministerbesprechung am 22.6.1957, fol. 25. iocs V g l d a z u BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 208-213, 215 f., Tagebuch Baudissin, Vermerke zum 21., 22., 24.6.1957; vgl. auch ebd., fol. 227, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 28.6.1957. 1004 Vgl. BA-MA, BW 2/2572, fol. 19-22, Bundesminister für Verteidigung, Fü Β, IV Β 1, 15.8.1957, Dienstaufsicht und Freizeit betreffend, dort bes. fol. 20 f. loos Ygj Bundesminister für Verteidigung, Fü Β, IV Β 2, »Richtlinien für die Erziehung des Offizierkorps«, 15.6.1957, BA-MA, BW 2/3955, BMVtdg Fü Β I, Sammelband Innere Führung zum Handgebrauch des Kommandeurs. 1002

32 7

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

wurde 1006 . Welchen Anteil an dieser Verbesserung die einzelnen Maßnahmen des Ministeriums hatten, ist unklar. Ganz ohne Einfluss dürften aber weder die vermehrten Besetzungen der Offizierdienstposten (wenn auch mit älterem Personal), die das Heer sehr rasch in Angriff genommen hatte1007, noch die zur Dienstaufsicht und zum Gehorsam gegenüber den Bestimmungen ermahnenden ministeriellen Weisungen gewesen sein. Soweit Letztere unter dem Gesichtspunkt der Fürsorge die Freizeit des Soldaten berührten, wurde der weite Spielraum, den ihm die innere Verfassung der Bundeswehr anfänglich belassen hatte, der Tendenz nach eingeengt. Auf die hier ebenfalls einschlägige, parallele Entwicklung, welche die Vorschrift zur Regelung des >Inneren Dienstes< genommen hatte, konnte oben schon hingewiesen werden. Wenngleich diese zwar auch den Vorgesetzten, mehr indessen aber den Untergebenen zu betreffen schien, boten die ersten Wehrpflichtigen, low Übersicht über die Besonderen Vorkommnisse (BV) nach den Meldungen des Fü Β I, BAMA, BW 2/20036, ZstBer. 5/58, 11.9.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 35 f.; ebd., ZstBer. 6/58,13.12.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 48 f. Zustands- SelbstKraftfahrzeugtötungen/ Unfälle im/ bericht Stichtag Versuche außer Dienst/ Flugzeugunfälle/ sonstige Unfälle im Dienst 5/58 1.8.1958 6/58 1.11.1958

1007

Gehorsamsverweigerungen/Angriffe gegen Vorgesetzte/sonstige Verstöße gegen die Disziplin

Fälle von eigenmächtiger Abwesenheit und Fahnenflucht

11/23

46/72/19/18

48/6/11

30/k.A./12

177

7/30

56/75/17/10

27/6/11

14/7/13

162

Zustande- Fälle von Diebstahl bericht und Einbruch/ Stichtag Kameradendiebstahl/ Unterschlagungen 5/58 1.8.1958 6/58 1.11.1958

Zusammenstöße mit Zivilpersonen/Angehörigen alliierter Streitkräfte/Schädigungen des Ansehens der Bundeswehr

Sittlichkeitsdelikte/sonstige Straftaten von Soldaten

bedeutsame Gesamt- Umfang Soldaten Sachschäden/ zahl BV Streit- je BV Vorkommnisse kräfte (jährlich) von geringerer Bedeutung

40/16/6

17/k.A.

31/32

615

156 741

63,7

14/6/9

15/20

22/8

529

170 562

80,6

Zu den Streitkräfteumfängen siehe Tabellen 17 f. im Anhang; für die Berechnung der Soldaten je BV (jährlich) wurde der Umfang des jeweiligen Stichtages sowie die Anzahl der für den vorangegangenen Dreimonatszeitraum gemeldeten BV berücksichtigt, wobei die positiven Leistungen, das Auftreten der Sowjetischen Militärmission und die an Soldaten verübten Vergehen und Verbrechen, welche hier als nicht oder kaum einschlägig betrachtet werden können und die auch zuvor keine signifikante Rolle gespielt hatten, nicht eingerechnet wurden. Vgl. BA-MA, BW 2/20031, ZstBer. 7/57, 26.7.1957, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 5 ) .

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

die zum 1. April 1957 eingezogen worden waren, der militärischen Führung allerdings kaum Anlass zu Klage oder Besorgnis. Fast schon euphorisch hielt das Heer im Zustandsbericht vom 29. Mai 1957 fest, die »Wehrpflichtigen mach[t]en nach Leistung und Einsatzfreudigkeit einen guten, zum Teil sehr guten Eindruck«1008. Eine von Baudissins Unterabteilung im Jahr darauf herausgegebene Merkschrift ließ zwar durchblicken, dass diese Bewertung nicht mehr im gleichen Maße für die im Herbst eingezogenen Wehrpflichtigen gelten könne1009, im Großen und Ganzen aber schilderte sie den »junge[n] Soldat[en]« von 1957 als leistungswilligen, anpassungsbereiten, seinen Offizieren bald vertrauenden Untergebenen. Für dessen weitgehende Akzeptanz militärischer Verhaltensmuster erscheint es bezeichnend, dass die Schrift im Hinblick auf die Wirkung von Disziplinarstrafen »die Furcht vor dem Strengen Verweis« hervorheben konnte, durch den sich so gut wie >alle Soldaten< »vor der versammelten Kompanie blamiert« fühlten. Der sich im letzten Drittel der 1950er-Jahre anbahnende Einstellungswandel unter den Jugendlichen war hiernach falls überhaupt, so nur in Ansätzen greifbar. Das hauptsächliche Defizit bei den Rekruten bestand aus Sicht der Unterabteilung weder auf dem militärischen Ausbildurigsgebiet noch in Erziehungsproblemen, sondern im mangelnden Interesse an politischen Fragen1010. Demgegenüber bereiteten die Ausbilder offensichtlich weit größere Sorgen, wie sich den oben angeführten zahlreichen Zeugnissen entnehmen lässt. An sie waren schließlich die auf dem Erlasswege herausgegebenen Ermahnungen zur Vorschriftentreue und Dienstaufsicht adressiert. Insbesondere an den Disziplinarvorgesetzten hatten sowohl die zur inneren Verfassung der Streitkräfte getroffenen Regelungen als auch die im Rahmen der Bildung des gewollten Soldaten herausgegeben Druckschriften sehr hohe Anforderungen gestellt, mit denen ein nicht unerheblicher Teil zumindest der älteren Oberleutnante und Hauptleute augenscheinlich überfordert war. Durchgreifende Besserung konnte auf längere Sicht nur von der Bildung in erster Linie des nachwachsenden Offizierkorps erwartet werden. Die bis zum Weggang Baudissins hierbei unternommenen Anstrengungen waren jedoch keineswegs ermutigend. Gewiss, die Offizierschulen der Teilstreitkräfte hatten Zug um Zug den Ausbildungsbetrieb aufgenommen. Das Heer hatte am 2. Juli 1956 den ersten Lehrgang an der Heeresoffizierschule I in Hannover begonnen1011, die Luftwaffe konnte - wenn auch unter Schwierigkeiten - den Lehrbetrieb ihrer Offizierschule im Oktober/November aufnehmen1012, und an der damals fast schon traditionsrei1008

1009 1010

1011

1012

Ebd., ZstBer. 5/57, 29.5.1957, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-19). Der junge Soldat 1957, S. 3. Ebd., S. 30 (Zitat), S. 38 f.; vgl. zur eher politikfernen, anpassungsbereiten Jugend in der Zeit der frühen Bundeswehr Wiesendahl, Jugend und Bundeswehr, S. 133-137. BA-MA, BW 2/2008, ZstBer. 7/56, 12.7.1956, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 5 ) . Nach ebd., ZstBer. 10/56, 15.10.1956, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 15 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 15 f.), hatte zum 3.10.1956 die »Ausbildung der Schüler [...] noch nicht begonnen werden« können; die dann mit ebd., ZstBer. 11/56, 17.11.1956, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 18 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 18-20), nach dem Stichtag

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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chen Marineschule Mürwik waren die Offizieranwärter zum selben Stichtag 6. November in der Ausbildung, nachdem sie zuvor bereits ihr Bordpraktikum absolviert hatten1013. Gleichzeitig waren an der Schule für Innere Führung »die ersten Lehrgänge angelaufen«1014. Zur Führungsakademie in Bad Ems konnte im Mai 1957 die Aufnahme eines zunächst nur mit Heeresoffizieren belegten Lehrganges gemeldet werden1015. Jedoch sollte sich gerade am Beispiel der Führungsakademie zeigen, dass der für die komplexen Anforderungen der Ost-WestKonfrontation politisch umfassend gebildete Generalstabsoffizier, der in den Planungspapieren und -vermerken der Gründungsjahre beschrieben und bei den Festreden in Bad Ems am 15. Mai vom Minister wie vom Generalinspekteur gefordert worden war, als Zielvorstellung erst noch durchzusetzen war gegen ein von den Teilstreitkräften gepflegtes Leitbild, das demgegenüber an der Ausrichtung des General- und Admiralstabsdienstes an dem Profil des militärischen Spezialisten orientiert blieb. Die Verfechter der Reform - in dieser Beziehung allen voran Heusinger, Graf Kielmansegg und Speidel, die manchmal auch Strauß für sich zu gewinnen vermochten - konnten nur mühsam den teilstreitkraftübergreifenden Bildungsanteil gegen den Widerstand der dem Fü Β bzw. der Streitkräfteabteilung benachbarten militärischen Abteilungen bzw. Führungsstäbe durchsetzen. Welche Hürden auf diesem Felde im Mai 1957 noch zu nehmen waren, ließ sich schon daran erkennen, dass nach einer damals getroffenen Verabredung im Rahmen der Generalstabs- und Admiralstabsausbildung unter dem Dach der Führungsakademie eine Heeres-, Luftwaffen- und Marineakademie voneinander getrennt bestehen sollten. Damit waren der teilstreitkraftübergreifenden Bildungskomponente enge Grenzen gezogen. Selbst die Zusammenführung der separaten Akademien an einem Ort war keineswegs selbstverständlich. Erst nach hinhaltendem Widerstand der Luftwaffe konnte ab 1957 überhaupt von einem gemeinsamen Ausbildungsort ausgegangen werden1016. Kaum anders lagen die Verhältnisse auf dem Sektor der Stabsoffizierausbildung: Auch hier erschwerte das Beharren der Teilstreitkräfte auf einer im Wesentlichen militärfachlichen Qualifikation des jeweiligen Stabsoffiziers die Einrichtung einer teilstreitkraftübergreifenden, die berufsbezogene Bildung akzentuierenden Stabsakademie der Bundeswehr, die schließlich erst 1967 den Lehrgangsbetrieb aufnehmen konnte1017. 6.11.1956 gemeldete Ausbildungsaufnahme stand noch unter dem einschränkenden Vorbehalt, dass die »angeforderten Lehrer für die Fächer Erdtaktik, fremde Mächte, ABCAbwehr, Kriegsgeschichte und Rechtswesen [!] [...] noch nicht eingetroffen« seien. 1013 Ebd., ZstBer. 11/56, 17.11.1956, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 21 (Zustandsmeldung Marine, S. 21-23). 1014 Ebd., S. 24 (Zustandsmeldung Territorialorganisation, S. 24-26). 10,5 BA-MA, BW 2/20031, ZstBer. 5/57, 29.5.1957, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 35 f. (Zustandsmeldung Territorialorganisation, S. 35-38). 1016 Ygi hierzu zunächst Bald, Generalstabsausbildung in der Demokratie, S. 55-82; zu den Positionen von Strauß, Heusinger, Speidel und Graf Kielmansegg vor allem ebd., S. 55-53; zu der am 25.5.1957 getroffenen Festlegung zugunsten der Kollozierung der >Akademien< der Teilstreitkräfte innerhalb der Führungsakademie siehe ebd., S. 78, und ferner die Organisationsübersichten ebd., S. 227-230. 10,7 Zur Anlage der Stabsakademie der Bundeswehr, zu ihrem von den Ausbildungsgängen der Teilstreitkräfte abweichenden, in der berufsbezogenen Bildung liegenden Schwer-

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Dieser Verengung auf das militärische Handwerk an der höchsten Ausbildungseinrichtung entsprach ein paralleler Vorgang gleich am Anfang der Offizierlaufbahn. Die für die Bildung des Offiziernachwuchses zentrale Wehrakademie, deren Lehrplan die »Weiterbildung der jungen Offiziere auf wissenschaftlicher Grundlage in Geschichte, Staatsbürgerkunde, Soziologie, Naturwissenschaften, Wehrgeographie, Geopolitik, Sprachen, Auslandskunde, Politik und Wirtschaft« vorsehen sollte, existierte 1957/58 nur als Absichtserklärung1018. Auch war ein Ausgleich hierfür nicht absehbar. So besagten die »Richtlinien« des Heeres für die Fähririchlehrgänge der aufgrund des Mangels an Zeitoffizieranwärtern überraschend wichtig gewordenen Reserveoffizieranwärter1019, dass auf die Unterrichtung der >Methodik< ganz zu verzichten und die Unterweisung im Sachgebiet der Inneren Führung auf das für den Zugführer Notwendige »zu beschränken« sei. Allein noch »die Menschenführung im Gefecht und die psychologische Kampfführung [!] sowie die wichtigsten Bestimmungen der Wehrgesetzgebung und des Kriegsvölkerrechts« waren hier am Platze1020. Darüber hinaus war - blickt man noch einmal auf die andere Seite des Karrierespektrums - der Einweisungslehrgang für die Spitzendienstgrade in Sonthofen nach zwei Durchläufen in dieser Form eingestellt worden1021. Indes handelte es sich bei diesen etwa vierwöchigen Einweisungen um ein im Vergleich zu der ursprünglichen Planung bereits deutlich verkürztes Programm. Schon diese Planung hatte mit einem ausgedehnteren, auf rund zwei Monate angelegten Lehrgangsprogramm sehr zum Missfallen Baudissins für »die eigentlichen Fragen [...] kaum 3 Wochen«1022 geboten. Hier hatte sich die Gruppe Ausbildung mit ihren Vorstellungen gegenüber der Gruppe Inneres Gefüge durchgesetzt:

1018

1019

1020

1021

1022

punkt und zu den Widerständen von Heer, Luftwaffe und Marine siehe Rosen, Bildungsreform und Innere Führung, S. 1-7, 44-47, 55 f., 105-107,129-151, 285-300, passim. Vgl. BA-MA, BW 2/1857, Schreiben Abt. II [Finanzen und Haushalt] an Staatssekretär, 25.4.1957, Anl. 1, S. 6; siehe auch Taschenbuch für Wehrfragen, 2 (1957/58), S. 111. Vgl. BA-MA, BW 2/1164, Schreiben FüStab H-A 5 an Abt. III, 12.10.1957, worin festgestellt wird, dass »statt der angeforderten 500 Bewerber für die Laufbahn des Offiziers auf Zeit nur 110 Zeit-OA im Oktober 57 [hätten] eingestellt werden können«, wohingegen »das Aufkommen von ROA nicht nur unerwartet hoch, sondern auch von überraschend guter Qualität« sei. Ebd., Bundesminister für Verteidigung, Fü Η IV 3, Az.: 32-03-05-30, 12.2.1958, Richtlinien für die Durchführung von Fähnrich-Lehrgängen (Res.) an den Truppenschulen. BA-MA, BW 2/2008, ZstBer. 11/56, 17.11.1956, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 24 (Zustandsmeldung Territorialorganisation, S. 24-26): Zu dem den »Lehrgang Gesamtstreitkräfte< durchführenden »Lehrstab A« wurde dort mitgeteilt, dass der »3. Lehrgang beim Lehrstab Α abgesagt« worden sei. In Vorbereitung befanden sich dann nur noch >KurzlehrgängeFührungRechtMenschenführung< und »Stellung der Bundeswehr zur und in der Öffentlichkeit« auf bloße zwei Wochen. Fragen der Inneren Führung im engeren Sinne konkurrierten dabei mit Vorträgen zur >triphibischen Kriegführung*, militärischen Territorialorganisation*, >Physik und Technik der Atomwaffen*, auch zu >Raketenwaffen< oder zur >Finanzplanung der Bundeswehr*. Ihr Anteil schmolz unter dieser Konkurrenz auf zwei Vormittage und drei Nachmittage zusammen1026. Soweit erkennbar, haben schließlich auch zentrale Ausbildungsgrundlagen, die außerhalb der Zuständigkeit Baudissins entstanden, die Einführung des politischen Soldaten der Inneren Führung nicht erleichtert, obwohl doch dieses Soldatenmodell nicht zuletzt angesichts der atomaren Dimension für die westlich orientierte Bundesrepublik als bar jeder Alternative angesehen werden konnte. In den die eigentliche Truppenführung behandelnden Heersdienstvor1023 Vgl. zu der Differenz zwischen der Gruppe Ausbildung und der Gruppe Inneres Gefüge und zu der Durchsetzung jener Gruppe gegenüber dieser Rosen, Das Ausbildungsmodell der Gruppe »Inneres Gefüge«, S. 131 -139. 1024

1025 1026

BA-MA, BW 2/1936a, fol. 1 -32, Abteilung V [Heer], 28.2.1956, Das Anlaufen der Ausbildung, fol. 7 f. BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/9, fol. 84, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 21.8.1957. Unter Einschluss von Rechtsfragen; vgl. BA-MA, BW 2/866, IV D 7, 5.12.1956, Durchführungsbefehl Lehrgänge Gesamtstreitkräfte; ebd., IV D 7, 21.12.1956, Vortragsplan für den ersten Kurzlehrgang vom 7.-19.1.1957.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Schriften über die Führung des Gefechtes fand die dem Staatsbürger in Uniform eignende spezifische Kriegstüchtigkeit zunächst aber so gut wie keinen Niederschlag. Jedenfalls widmeten diese für die Führung der Truppe so bedeutenden Dienstvorschriften - augenscheinlich außerhalb des engeren Zusammenhanges mit der Inneren Führung stehend - der politischen Qualität des Soldaten kaum ein Wort1027. Für die »Grundsätze der Truppenführung des Heeres« (T.F./G.) vom März 1956 (HDv 100/1), welche die konventionelle Gefechtsführung abhandelte, bildeten »Aufklärung, Schwerpunktbildung und Reserven« neben »Absicht und Aufträgen« die »wichtigsten Grundpfeiler jeder [!] Führung«1028. Wenngleich die Vorschrift an mehr als einer Stelle die Führungseinwirkung der Vorgesetzten auf die Untergebenen thematisierte - so etwa, wenn die »Befehlstechnik« angesprochen1029 oder das Führungsverhalten der »Führer aller Grade« zum Beispiel bei der Verfolgung1030 umrissen wurde schuf sie an keiner Stelle eine Verbindung zum Konzept der psychologischen Kampfführung Baudissins1031. Und der Vorblick auf die Nachfolgevorschrift, die »Truppenführung« (TF) vom August 1959, zeigt, dass auch sie trotz verbaler Zugeständnisse dieses Defizit keineswegs beseitigte. Wie 1969 treffend bemerkt worden ist, sollte die »Komponente Menschenführung erst nach und nach« ihren Niederschlag in den Truppenführungsvorschriften des Heeres der Bundeswehr finden, ein aus damaliger Sicht nur »allmählich« vorangekommener Klärungsprozess, bei des-

Zur Tradition, in der diese Dienstvorschriften standen, und zu deren weiterer Entwicklung vgl. im Überblick Scheven, Die Entstehungsgeschichte der Heeresdienstvorschriften. Dieser Beitrag kann als Kurzfassung einer Lehrgangsarbeit betrachtet werden, die 1969 erstellt wurde: Scheven, Die Truppenführung. Zur Einordnung der Führungsvorschriften in die nationale Entwicklung und die der Allianz vgl. Hammerich, Kommiss kommt von Kompromiss, S. 98-100,114 f. 1028 BA-MA, BHD 1, HDv 100/1 »Grundsätze der Truppenführung des Heeres« (T.F./G.), März 1956, S. 13, Nr. 14 - Hervorhebung im Original. 1029 Ebd., S. 11, Nr. 11: »Gute Befehlstechnik gehört [...] zur Führungskunst. Befehle dürfen nicht schematisiert werden. Sie müssen die Persönlichkeit und den Willen des Truppenführers widerspiegeln. Andererseits sollen sie sich der Persönlichkeit des Unterführers anpassen und die Lage und Leistungen seiner Truppe in gerechtem Maße würdigen. Dabei spornt Anerkennung meist mehr an als Tadel.« - Hervorhebung im Original. 1030 Ebd., S. 49, Nr. 126: »Alle Führer haben die Truppe vorzureißen«; ebd., S. 49 f., Nr. 128: »Der Truppenführer ist berechtigt, unmöglich Erscheinendes zu fordern; Kühnheit und Rücksichtslosigkeit müssen ihn gleicherweise leiten. Jeder muß sein Letztes hergeben«; ebd., S. 51, Nr. 132: »Die Führer aller Grade gehören weit nach vorn. Rasche und wendige Befehlsgebung ist notwendig. Dies gilt insbesondere für den Truppenführer. Er hält die Verfolgung in Schwung und setzt die Verfolgungsspitzen rechtzeitig zur Überholung an.« - Hervorhebung im Original. 1031 Deren schlechthin grundlegende rechtsstaatliche bzw. verfassungspatriotische Ausrichtung ist gut zu unterscheiden von Feststellungen wie in ebd., S. 115, Nr. 324: »Der Kampf im Kessel hat seine eigenen Gesetze. Meist werden nur erfahrene, kampfkräftige und fest in der Hand der Führung befindliche Truppen die seelische Belastung eines Kampfes im Kessel überstehen und trotz dieser Lage einsatzbereit bleiben. Feindlicher Propaganda und zersetzenden Gerüchten ist entgegenzutreten. Scharfe Disziplin und richtige psychologische Beeinflussung sind unerläßlich. Die Persönlichkeit gewinnt, wie in jeder schwierigen Lage, an Bedeutung; sie wird zum Träger des Kampfwillens und des Kampfes selbst.« - Hervorhebung im Original. 1027

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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sen Umsetzung man angesichts einer nach wie vor zu beobachtenden Tendenz zur »Überbewertung der mit der Taktik zusammenhängenden Aufgaben und Tätigkeiten« augenscheinlich auch Ende der 1960er-Jahre noch nicht »zur letzten Konsequenz« vorgedrungen war1032. Zwar räumte die Nachfolgevorschrift nunmehr der »psychologischen Kampfführung« neben der »Logistik« einen »große[n] Einfluß« ein1033. Von den 393 Nummern aber griffen nicht einmal zehn diesen Aspekt auf, wobei es zum einen um die Beurteilung des Gegners und die Einwirkung auf ihn ging1034, zum anderen um die Abwehr gegnerischer Zersetzungsbemühungen, die über weite Strecken als Aufgabenfeld des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) vorgestellt wurde. Nur an einer Stelle schimmerte etwas von dem auch seiner eigenen Freiheit wegen kämpfen könnenden Soldaten durch, als nämlich, nachdem in formelhafter, lapidarer Kürze auf das »Vertrauen zur politischen und militärischen Führung« sowie auf die »Uberzeugimg von Rechtmäßigkeit und Gelingen des Verteidigungskampfes« hingewiesen worden war, das Gebot unterstrichen wurde, »die Truppe rechtzeitig und wahrheitsgetreu [zu] unterrichte[n]«1035. Nicht die innerhalb des Militärs gelebte rechtsstaatliche Praxis, sondern »Vertrauen, Kameradschaft und Manneszucht« wurden als Garanten der Loyalität der Truppe angesichts des gegnerischen psychologischen Angriffes angesehen1036. Damit korrespondierte das Bild eines militärischen Vorgesetzten, von dem an einer Stelle zwar auch »Bildung« erwartet wurde, der sich im Wesentlichen aber auf seine überlegene, ausgeprägte Führerpersönlichkeit stützte, die entschlossen und beispielgebend mitriss, die kühn zupackte, so oft wie möglich den Angriff suchte und auch scheinbar Unmögliches verlangte1037. Nicht also kam es hier auf den partnerschaftlich agierenden Vorgesetzten an, sondern auf den Führer, der aufgrund von Willenskraft und Ausstrahlung die Untergebenen gewann und dessen Bild durchaus auch patriarchalische Züge aufweisen durfte. Dadurch, dass er »führen kann, beherrscht und maßvoll bleibt, Gerechtigkeit und Geduld übt und unermüdlich für seine Truppe sorgt«, sicherte sich dieser Vorgesetzte, der »Führer« eben1038, nach der Führungsvorschrift des Heeres das Vertrauen der Untergebenen. Das mochte sich mit der konsequent rechtsstaatlichen Gestaltung des Dienstes zwar noch vereinbaren lassen, dennoch aber blieb diese gänzlich unerwähnt und rückte damit aus der ihr von io32 Werner von Scheven, Die Truppenführung, S. 41 f. loss BA-MA, BHD 1, »Truppenführung« (TF), August 1959, S. 1, Vorbem., Ziff. 1. 1034 1035

1036 1037

1038

Ebd., S. 20, Nr. 34; ebd., S. 28, Nr. 45; ebd., S. 153, Nr. 271. Ebd., S. 20, Nr. 34 (Zitate); ebd., S. 8 0 - 8 2 , Nr. 1 4 5 - 1 4 8 . In ebd., S. 82, Nr. 148, wird dieses Informationsgebot allerdings gerade auch als Belehrung begriffen: »Nur die nie ermüdende Aufmerksamkeit aller Führer und Soldaten sowie ständige Unterrichtung und Belehrung der Truppe (Nr. 34) können vor Schaden bewahren. Alle verdächtigen Wahrnehmungen sind sofort und auf kürzestem Wege der nächsten MAD-Dienststelle zu melden.« - Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 28, Nr. 147. Vgl. ebd., S. 6, 8 - 1 0 , 14, 114, 1 3 2 - 1 3 4 , 151 f., 157, Nr. 5, 9 - 1 5 , 26, 207, 236 f., 268 f., 276, passim, Zitat S. 9, Nr. 10. Ebd., S. 7 - 9 , Nr. 8 - 1 2 , Zitate S. 7 f., Nr. 8 f.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Baudissin für das Bestehen der Kampfsituation zugewiesenen Position einer schlechthin zentralen Voraussetzung. Demgegenüber räumten die »Führungsgrundsätze des Heeres für die atomare Kriegführung. Truppenführung 1960« (TF 60) vom April 1961 dem freiheitlich-rechtsstaatlichen Fundament des Staatsbürgers in Uniform einen schon breiteren Raum ein. Nicht nur fand das allein noch in »Recht und Freiheit« gelegene Verteidigungsmotiv zusammen mit der Maxime der Kriegsverhinderung gleich eingangs ausdrückliche Erwähnung1039, nicht nur rückten die jetzt ausgedehnteren Anweisungen zu »Psychologische[n] Führungsaufgaben«, die deutlich abgesetzt von dem Aufgabenbereich des Militärischen Abschirmdienstes thematisiert wurden, schon dichter an die Forderung heran, den Dienst als Segment rechtsstaatlicher Wirklichkeit zu gestalten und so den Soldaten für die freiheitliche Seite zu gewinnen (ohne allerdings sich zu dieser Grundforderung zu bekennen)1040. Auch hob sie die für alle Kriegshandlungen zentrale Leitlinie der »Wahrung des Rechtes« nachdrücklich hervor1041. Gleichzeitig aber griff die Vorschrift mit ihren Feststellungen über »Soldatisches Führertum« in wesentlichen Teilen das bereits in den früheren Anweisungen entfaltete Musterbild einer militärischen Führerpersönlichkeit auf, die unabhängig von den besonderen Gegebenheiten der bundesrepublikanischen Grundordnung Bestand zu haben und für den Erfolg ausschlaggebend zu sein schien1042. So wirkte dieses Nebeneinander von hergebrachter militärischer Führerfigur und handlungsbegründender wie doch auch leitender politischer Letztbegründung als Seitenstück jener versuchten Quadratur des Kreises, auf die das Bemühen der Vorschrift hinauslief, das ebenso komplexe wie mit ungeheurer Vernichtung drohende Geschehen auf einem nuklearen Gefechtsfeld begrifflich in Handlungsanweisungen fassen1043. Vor diesem Hintergrund einer auf nahezu allen Ebenen (die anfangs doch nur spärlichen Zugeständnisse in den Truppenführungsvorschriften des Heeres eingeschlossen) zu beobachtenden Nachrangigkeit jenes Themenfeldes, mit dem das neue, >freiheitlicheWeltbürgerkrieges< und des für den Raum der Bundesrepublik einzukalkulierenden nuklearen Gefechtes reflektierte, war eine rasche Einführung des Reformkonzeptes kaum zu erwarten.

d)

1956 bis 1958 - Truppenaufbau und Staatsbürger in Uniform
Weltbürgerkrieges< pluralistisch angelegtes Programm Rechnung zu tragen versucht. Insofern hatte er die ihm gegebenen Möglichkeiten des Einflusses auch in ein entsprechendes Ergebnis umzusetzen verstanden. Wenn die geschilderten Anzeichen nicht trügen, dann ist dieser Rahmen schon dem zwischen 1956 und 1958 rekrutierten Personal wohl doch ein wenig zu weit gewesen. Einen keineswegs geringen Anteil an diesem Missverhältnis hatten die nahezu chaotischen Bedingungen des Aufbaus vor allem im ersten Jahr der Streitkräfte. Das zunächst sehr schleppende Bewerberaufkommen Ungedienter, das damals mehr mit fehlender Ansprache als mit zu knapp bemessenem Bewerberpotenzial zusammenhing, nötigte zur Hintanstellung qualitativer Kriterien. Als die Werbung gezielt eingesetzt wurde, zeitigte sie unerwartet gute Ergebnisse. Nur konnten diese wegen der unzureichenden Unterbringungsmöglichkeiten nicht genutzt werden. Die damit im Zusammenhang stehende Aufstellungskrise mit den am Ende deutlich abgesenkten Streitkräfteumfängen bescherte der Bundeswehr eine noch größere Überalterung ihres Funktions- und Schlüsselpersonals, als dies aufgrund der zehnjährigen Rüstungspause ohnedies schon gegeben war. Dessen Bildungsdefizite und aus Vorverwendungen mitgebrachte Einstellungen, streckenweise begünstigt durch das Fehlen der auf den Staatsbürger in an akademischen Strukturen beobachten, die den anspruchsvollen Anforderungen der unter nuklearen Bedingungen ausgetragenen ideologischen Konfrontation hätten gerecht werden können; siehe Kutz, Deutsche Soldaten, S. 184-188, und - mit Hinweisen auf die schon vor dem Aufstellungsbeginn vorgenommenen Kürzungen - Rosen, Das Ausbildungsmodell der Gruppe »Inneres Gefüge«, S. 139-143. Der Prozess der Verengung des in Aussicht genommenen Projektes akademischer Bildung auf das militärische Handwerk sollte sich später auch an dem Vorhaben der Wehrakademie zeigen; siehe unten Kap. IV.3.C.

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III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

Uniform zugeschnittenen neuen Vorschriften, haben in der Truppe die Orientierung an dem Modell des gerade auch seiner eigenen Freiheit wegen dienenden Soldaten erschwert und mit der Ausrichtung an vormals geübter Praxis der mehr autoritären Vermittlung von Bürger und Soldat Vorschub geleistet. Gefördert wurde diese Entwicklung durch die von hochrangigen Offizieren ohne Bedenken vorgenommene Anknüpfung an die Wehrmacht. In der Truppe kam die Anpassungsbereitschaft der ersten jungen Soldaten der Orientierung an vor der Bundeswehr gelegenen Praktiken der Menschenführung noch entgegen. Das an ihnen beobachtete Desinteresse an politischen Fragen musste zudem die Aussichten schmälern, zu dem kriegstüchtigen, weil politisch bewussten Staatsbürger in Uniform zu gelangen. Für die oben behandelte konzeptionelle Entfremdung zwischen Baudissin und Karst wirkte der Truppenaufwuchs insoweit als Katalysator, deren zunehmende Schärfe erscheint nachgerade als dessen Konsequenz. Bei der Betrachtung der in der Truppe geübten Praxis dürfen allerdings weder die weiteren, abermals aufstellungsbedingten Verwerfungen noch die an die Vorgesetzten herangetragenen außerordentlichen dienstlichen Belastungen übersehen werden. Als sich ausweislich der Besonderen Vorkommnisse der innere Zustand der Streitkräfte 1957 einem Tiefpunkt näherte, war dies weniger das Ergebnis eines bestimmten, quer zur Inneren Führung liegenden Führungsverständnisses, sondern mehr Ausfluss der Heterogenität der hier einschlägigen Vorstellungen. Sie (und nicht nur die eine Wirklichkeit etwa des BGS) belastete zusammen mit der personellen Unterdeckung und der kurzen Verweildauer auf den Dienstposten die Binnenverfassung der Bundeswehr. Deren Führung antwortete darauf einerseits mit dem in vereinheitlichender Absicht unternommenen Versuch, den geltenden Vorgaben der Gesetze, Vorschriften und Befehle Nachdruck zu verschaffen. Insofern konnte diese Reaktion dem Projekt Baudissins nur zugute kommen. Andererseits aber zielten die ergriffenen Maßnahmen eher auf eine Angleichung der Sollvorgabe der Inneren Führung an das Ist der Rekrutierten als auf eine Vorbereitung des Personals auf den Staatsbürger in Uniform Baudissins. Wie auf dem Gebiet der Vorschriften sich bereits am Ende der >Ära Baudissin< erste Anzeichen einer beginnenden Einengung und zunehmender Reglementierungen zeigen sollten, so mag auch etwa die 1958 in der »Information für die Truppe« zu beobachtende Rücknahme der Diskussion sehr kontroverser Fragen wie der nuklearen Strategie des Bündnisses begriffen werden als Reaktion auf den mit einem Pluralismus in grundlegenden Fragen schwerer zurechtkommenden Vorgesetzten. Die Führung der Bundeswehr reagierte auf die Probleme des überhasteten Truppenaufbaus mit der behutsamen Anpassung der den Dienst betreffenden Regelungen. Sie nahm sich dagegen nicht des Bildungsproblems an. Die Weichen, die vorerst im Rahmen der Bildung vor allem des Offizierkorps in den ersten Jahren der Bundeswehr gerade auch unter dem erheblichen Druck der Personalnot gestellt wurden, ließen keine kurzfristige Besserung erwarten. Jedenfalls war die offensichtliche Nachrangigkeit, die dem Themenfeld der Inneren Führung hierbei zugedacht wurde, wenig geeignet, ein auf das Handwerk-

III. Bemühungen um die Verfestigung eines neuen Leitbildes

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lich-Militärische begrenztes Berufsverständnis, das dann auch gut mit zumindest obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen zusammengehen mochte, zugunsten des politischen Soldaten der Bundeswehr zu überwinden. Alles dies bedeutete noch keine Absage an jenen Soldaten, der, weil er im Dienst auch seine eigene Freiheit erfahren hatte, den Anforderungen der ihrem Wesen nach zutiefst ideologischen und dabei auch militärischen Konfrontation gerecht werden konnte. Als Norm war er eingeführt worden, und die Publizistik des Fü Β I war ihm bislang gerecht geworden. Als eine starke Stütze hatte sich der parlamentarische Raum erwiesen. Allerdings war die dortige Umsetzung des Musters in ein gesetzliches Normengerüst nicht immer von der konsequenten Übernahme der Logik des Baudissinschen Modells begleitet gewesen. Diese unbeschadet der parlamentarischen Unterstützung zu treffende Feststellung kann als ein Indiz für den avantgardistischen Charakter der Inneren Führung Baudissins angesehen werden, dessen Erhärtung im Hinblick auf die weitere Entwicklung hier jedoch noch abgewartet werden muss. Denn wie belastbar der politisch-parlamentarische Pfeiler der Inneren Führung war oder wie tief dieses Modell des kriegstüchtigen, weil für die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch eigene Erfahrung gewonnenen Soldaten bei den Mandatsträgern verankert war, musste sich zeigen, falls die bislang schon widrigen Umstände anhielten, das anspruchsvolle Modell der Vermittlung zwischen Bürger und Soldat weiter unter Druck geriet und Baudissin als konzeptioneller Vordenker nicht mehr verfügbar war, um die innere Einheit der Konzeption weiter zu gewährleisten. Wie sich der weitere Aufbau der Bundeswehr auf die Konkurrenz zwischen freiheitlichem und obrigkeitsstaatlichem Vermittlungsmodell auswirkte, ist Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld von Vollbeschäftigung, nachlassenden Spannungen und fortgesetztem Rekrutierungsbedarf ab Sommer 1958 Der Blick auf die ersten beiden Aufstellungsjahre der Bundeswehr hat erhebliche Belastungen offenbar werden lassen, die sich aus den ungünstigen Umständen der Aufstellung sowie den quantitativen und - zum Teil damit zusammenhängenden - qualitativen Rekrutierungsdefiziten für die Einführung des Staatsbürgers in Uniform in die Truppe ergaben. Anfänglich waren diese Defizite selbst verschuldet. Allerdings zeichneten sich Veränderungen in der Gesellschaft ab, die sich nachteilig auf die Bedarfsdeckung auswirken konnten. Der erste Abschnitt wird sich der weiteren Entwicklung der Bedarfsdeckung vor dem Hintergrund der für sie maßgeblichen Faktoren zuwenden (IV.1.). Anschließend werden die Konsequenzen der mehr oder eben auch minder gelungenen Rekrutierung für die Truppe beleuchtet (IV.2.), um daran anschließend auf verschiedenen Feldern den Veränderungen hinsichtlich des Musters des gewollten Soldaten nachzugehen (IV.3.). Eine nach dem Wechsel im Ministeramt von Strauß zu Hassel vorgenommene Bestandsaufnahme aufgrund der spektakulären Krisensymptome gibt dann noch einmal Gelegenheit, die Konkurrenz zwischen den beiden Vermittlungsmodellen zu beleuchten (IV.4.).

1.

Bedrohungswahrnehmungen sowie Rekrutierungspotenzial und -bedarf

Der weitere Aufbau der Bundeswehr wurde in einer Zeitspanne vorangetrieben, die durch eine ganze Reihe von internationalen Krisen geprägt war. Stichwortartig sei hier nur an die mit dem sowjetischen Ultimatum vom 27. November 1958 beginnende Berlin-Krise, an den am 13. August 1961 aufgenommenen Mauerbau oder an die sich ab dem 22. Oktober 1962 dramatisch zuspitzende Kuba-Krise erinnert. Trotz solcher bedrohlichen Konfrontationen ging in der westdeutschen Gesellschaft die Angst vor einer kriegerischen Verwicklung im längerfristigen Trend zurück. Fühlten sich im Juli 1952 und im Oktober 1954 noch annähernd zwei Drittel der vom Allensbacher Institut für Demoskopie Befragten durch die Sowjetunion bedroht, so war dieser Anteil im April 1956

340

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

und im März 1958 auf eine Größenordnung von etwa 50 Prozent zurückgegangen1. Der noch spezifischer gefassten Einschätzung, »daß die Russen in Europa einen Krieg anfangen könnten«, mochten sich im November 1960 nur zwölf Prozent der Erhebungsteilnehmer anschließen, während 50 Prozent davon ausgingen, dass »die Russen [...] von sich aus nicht angreifen« würden2. Parallel dazu hatte das Vertrauen in das westliche Bündnis offensichtlich zugenommen. »Mehr Vorteile« von der NATO erwarteten im November 1955: 52 Prozent, dann im April 1959: 58 Prozent, schließlich im September 1963: 67 Prozent, während über den gleichen Zeitraum der Anteil derer, die >mehr Nachteile< befürchteten, sich von 18 auf neun Prozent halbierte3. Gleichzeitig mit der nach dem Einbruch des >Sputnik-Schocks< (4. Oktober 1957) wieder wachsenden Zuversicht hinsichtlich der militärischen Leistungsfähigkeit der Vereinigten Staaten schien auch die Vorstellung von der Kriegsverhinderung im Wege der Abschreckung an Boden gewonnen zu haben. Auf die Frage, wer in einem neuen Weltkrieg größere Aussicht habe, den Sieg davonzutragen, die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion oder keiner von beiden, ergaben sich zwischen 1954 und 1963 folgende Verschiebungen: Nach dem Start des sowjetischen Erdsatelliten brach das Vertrauen in die amerikanische Überlegenheit von 43 Prozent im September 1954 auf 22 Prozent im November 1957 zwar ein und erholte sich anschließend schrittweise auf 32 Prozent im Oktober 1963. Entscheidend aber ist, dass sich die Zweifel am nordamerikanischen Verbündeten nicht in die Erwartung eines sowjetischen Sieges ummünzen ließen: Diese ging nahezu kontinuierlich von 22 Prozent im September 1954 auf elf Prozent im Oktober 1963 zurück. Was demgegenüber annähernd stetig zunahm, war die Auffassung, dass keiner als Sieger hervorgehen würde - nämlich von 15 Prozent im September 1954 auf 34 Prozent im Oktober 19634. Die Einsicht, dass ein militärischer Lösungsversuch keine gewinnbringende Option bieten werde, korrespondierte mit der zurückgehenden Sorge vor einem sowjetischen Angriff. Vor diesem Hintergrund schob sich das konfliktträchtige Thema der Wiedervereinigung zwischen Oktober 1951 und Januar 1963 deutlich vor die Sorge um den Erhalt des Friedens; zunächst mit 18 bzw. 17 Prozent in der Dringlichkeit etwa gleich bewertet, lag dann jenes Problem mit 31 Prozent deutlich vor diesem mit 15 Prozent. Mochte dieser Meinungswandel schon - wie sich stel1

2 3 4

Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-1964, S. 559; danach glaubten sich durch die Sowjetunion bedroht im Juli 1952: 66 %, im Oktober 1954: 64 %, im April 1956: 45 % und im März 1958: 51 % der Befragten. Ebd., S. 559. Ebd., S. 539; im April 1959 gaben lediglich 7 % die Erwartung von >mehr Nachteilen< an. Ebd., S. 556; im Einzelnen nahmen den Sieg der USA an: 43 % (September 1954) - 22 % (November 1957) - 27 % (Dezember 1958) - 21 % (August 1960) - 27 % (Oktober 1961) 32 % (Oktober 1963); von einem Sieg der Sowjetunion gingen aus: 22 % (September 1954) - 20 % (November 1957) - 16 % (Dezember 1958) - 17 % (August 1960) - 14 % (Oktober 1961) - 11 % (Oktober 1963); keinen Sieger erwarteten: 15 % (September 1954) - 26 % (November 1957) - 28 % (Dezember 1958) - 32 % (August 1960) - 38 % (Oktober 1961) 34 % (Oktober 1963).

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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lenweise unten noch zeigen wird - manchem Planer im Verteidigungsministerium Kopfzerbrechen bereiten, so verwies ein damit einhergehender Prioritätenwechsel auf ein noch handfesteres Problem. Denn gleichzeitig hatte zwischen Oktober 1951 und Januar 1963 die Zahl derer, die die »Verbesserung der Wirtschaftslage« als die vordringlichste Aufgabe bezeichneten, von 45 auf 21 Prozent abgenommen 5 . Genau darin spiegelte sich das westdeutsche >Wirtschaftswunder< mit allen seinen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und damit auch das Rekrutierungspotenzial. Allein schon hinsichtlich des Angebotes auf dem Arbeitsmarkt stand der weitere Ausbau der Bundeswehr unter einem sehr belastenden Vorzeichen. Im ersten Aufstellungsjahr hatte Blank noch erklären können, dass das erforderliche Personal zur Verfügung gestanden hätte, wären nur auch entsprechende Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden gewesen. Allerdings hatte sich bereits Mitte der 1950er-Jahre jener Trend zur Vollbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt abgezeichnet, der die Rekrutierung hinreichend qualifizierten Personals für die Streitkräfte zunehmend unter Druck geraten ließ. Während 1950 noch die Zahl aller Erwerbstätigen bei 20,376 Millionen und die der Arbeitslosen bei 1,584 Millionen gelegen hatte, was einer Arbeitslosenquote von 7,21 Prozent entsprach, hatte sich die Schere zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen 1955 bereits deutlich vergrößert: 23,23 Millionen Erwerbstätigen standen erstmals weniger als eine Million, nämlich 935 000 registrierte Arbeitslose gegenüber, was einem Absinken der Quote auf nur noch 3,87 Prozent gleichkam. Dieser von Beginn an kontinuierliche Prozess setzte sich auch in den Folgejahren fort. 1960 fiel die Zahl der Arbeitslosen auf 271 000 und lag 1965 bei nur noch 147 000. Der Umfang der erwerbstätigen Bevölkerung nahm demgegenüber stetig zu, von 1960: 26,247 Millionen auf 1965: 27,153 Millionen, womit sich die Arbeitslosenquote noch einmal von 1,02 Prozent auf 0,54 Prozent verminderte 6 . Betrachtet man nur das männliche Segment des Arbeitsmarktes und dabei lediglich die abhängig Beschäftigten, dann ergab sich für die Planer im Verteidigungsministerium kaum ein trostreicheres Bild: Zu den unter dem Beschäftigungsaspekt besonders günstig gelegenen Stichtagen zum jeweiligen 30. September standen 1955: 12,026 Millionen Beschäftigten 225 100 Arbeitslose bei einer Quote von 1,8 Prozent gegenüber, 1956 dann 12,454 Millionen 179 700 (1,4%), 1957: 12,56 Millionen 189 500 (1,5%), 1958: 12,793 Millionen 160 700 (1,2 %) und 1959: 13,039 Millionen Beschäftigten 100 400 Arbeitslose, was eine Arbeitslosenquote von 0,8 Prozent ergab7. Auch hier setzte sich der Trend un5 6

7

Ebd., S. 482. Angaben (ohne Prozentangaben) nach Statistisches Jahrbuch 1966, S. 148. Dabei werden regelmäßig Jahresdurchschnittswerte genannt, bis 1956 ohne Einbeziehung von Berlin. Während von 1950 bis 1965 die Zahl der Erwerbstätigen ununterbrochen zunahm, ging die Zahl der registrierten Arbeitslosen bis 1957 fortgesetzt auf 759 000 zurück, stieg im Jahr darauf geringfügig auf 780 000 an, fiel dann wieder kontinuierlich auf 1962: 154 000, wuchs im Folgejahr nur unerheblich auf 186 000, um dann über 169 000 (1964) auf 147 000 abzufallen. Angaben bezogen auf das Bundesgebiet ohne Berlin und Saarland nach Statistisches Jahrbuch 1960, S. 146, wobei die Zahlen zu den Beschäftigten vom Verf. auf- bzw. abgerundet wurden.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

gebrochen fort: Am 30. September 1960 kamen im Bundesgebiet (ohne Berlin) auf 64 568 männliche Arbeitslose 311 499 offene Stellen für Männer 8 , zum gleichen Zeitpunkt 1965 standen deutlich mehr offenen Stellen, nämlich 376 402, nur noch 53 535 arbeitslosen Männern zur Verfügung (Bundesgebiet unter Einschluss von Berlin: 56 813 männliche Arbeitslose auf 389 594 offene Stellen)9. Auch ein Blick auf den nach Berufssparten gegliederten Arbeitsmarkt ergab keine günstigere Lage. Die technisierte Armee brauchte Fachpersonal aus technischen oder techniknahen Berufen. Dort indes gestaltete sich das Verhältnis von männlichen Arbeitslosen zu für diese geeigneten offenen Stellen noch dramatischer: Zum 30. September 1960 waren in industriellen, handwerklichen und technischen Berufen 37 486 männliche Arbeitslose registriert. Für den gleichen Zeitpunkt gab die Statistik 270 721 offene Stellen an10. Kamen damals also ganz allgemein auf jeden männlichen Arbeitslosen knapp fünf offene Stellen, so verbesserten sich dessen Aussichten in den technischen und techniknahen Berufen auf gut sieben offene Stellen je registriertem Arbeitslosen. Fünf Jahre später hatte sich die Relation von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für die Streitkräfte keineswegs verbessert. Zum Stichtag 30. September 1965 kam in industriellen, handwerklichen und technischen Berufen, diesmal unter Einrechnung von Berlin, auf 36 336 männliche Arbeitslose das Angebot von 327 142 Stellen11, was ein Verhältnis von einem Arbeitssuchenden zu neun einschlägigen offenen Stellen ergab. Schon im Sommer 1960 sah sich vor diesem Hintergrund die Personalabteilung zu der Feststellung genötigt, dass »die Lage in den für die Bundeswehr interessanten technischen Berufen aller Art« >besonders angespannt sei12. Hand in Hand mit der sich in den Arbeitsmarktdaten niederschlagenden wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik bahnte sich auch ein Einstellungswandel in der Gesamtbevölkerung an, der auf eine zunehmende Entfernung der Gesellschaft vom Militär hindeutete. Bei der Frage nach den »besten Eigenschaften der Deutschen« behaupteten »Fleiß, Tüchtigkeit, Strebsamkeit« zwar 1962 einen gegenüber 1952 noch nicht wesentlich geminderten 8 9

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Statistisches Jahrbuch 1961, S. 150. Statistisches Jahrbuch 1966, S. 159; 1964 kamen nach ebd. in den Bundesländern unter Einschluss von Berlin 63 692 männliche Arbeitslose auf 386 354 offene Stellen. Nach Statistisches Jahrbuch 1964, S. 155, standen am 30.9.1963 im gesamten Bundesgebiet (einschl. Berlin) 63 580 männlichen Arbeitslosen 373 275 Stellen offen; gem. Statistisches Jahrbuch 1963, S. 143, trafen zum 30.9.1962: 55 332 männliche Arbeitslose auf 365 063 offene Stellen; laut Statistisches Jahrbuch 1962, S. 152, waren am 30.9.1961 im Bundesgebiet (ohne Berlin) 57 886 männliche Arbeitlose und 346 972 für sie geeignete offene Stellen registriert. Errechnet nach Statistisches Jahrbuch 1961, S. 150; Angaben beziehen sich auf das Bundesgebiet ohne Berlin. Statistisches Jahrbuch 1966, S. 159, unter Abgleich der Berufsgruppen und Berufsabteilungen in Statistisches Jahrbuch 1961, S. 150, und in Statistisches Jahrbuch 1966, S. 159. BA-MA, BW 1/6685, Bundesminister für Verteidigung, Ρ III 3, Az.: 03-06-05, 7.6.1960, Antwortvorschlag für Teil V der NATO-Jahreserhebung betreffend, S. 1. Diese Einschätzung wurde auch angesichts weit weniger dramatischer Arbeitsmarktdaten vom Februar 1960 formuliert, nach denen in den technischen und techniknahen Berufen zwei offene Stellen auf jeden Arbeitslosen kamen.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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Spitzenplatz. Waren diese Merkmale nicht nur für den wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch noch für die militärische Auftragserfüllung nutzbar, so zeigte sich indes bei den eindeutiger zu militärischen Pflichten passenden Eigenschaften ein deutlicher Einbruch: »Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Gründlichkeit, Sauberkeit [...] Treue, Gutmütigkeit, Gutwilligkeit [...] Ausdauer, Zähigkeit, Mut, Tapferkeit, soldatische Fähigkeiten« - für alle diese Merkmale konnte im Rahmen der Erhebung ein zum Teil empfindlicher Rückgang in der Wertschätzung der Deutschen beobachtet werden. Dagegen lagen 1962 »Offenheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit« mit der doppelten Nennhäufigkeit vor den ausgesprochen militärischen Tugenden13. Zu diesem gesamtgesellschaftlichen Wandel kam noch eine jugendspezifische Veränderung hinzu. Mit der Wende zu den 60er-Jahren konnte der Aufstieg einer jugendlichen Protestkultur beobachtet werden, die sich mit provokativem Gestus gerade auch gegen die Welt des Militärs wandte14. Zweifellos hatte Müller-Lankow dieses gesellschaftliche Phänomen vor Augen, als er in dem bereits angeführten Vortrag vor dem Truppenamt im Dezember 1961 zu den Abiturienten anmerkte, sie seien »äusserst kritisch«. Auf der einen Seite fänden sich unter ihnen zwar jene, »die am klarsten >Ja< zur Verteidigung sagen«. Gleichzeitig machte er auf der anderen Seite unter den Abiturienten »erschreckend viele [aus], die die ganze Zersetzung der Verteidigungsmoral in sich aufgenommen haben«. Er beschrieb sie als »das Produkt von Fehlinformation und unterbliebener bzw. wehrfeindlicher Erziehung«15. Welche Auswirkungen hatten abnehmende Bedrohungswahrnehmung, Vollbeschäftigung, sich verändernde Einstellungen und eine zunehmende Ablehnung des Militärs unter den Jugendlichen auf die Personalbedarfsdeckung der im Aufwuchs befindlichen Streitkräfte? Blickt man zunächst auf die Personalbedarfsdeckung des Offizierkorps, dann überrascht nach dem Bisherigen weniger der Mangel als das Ausmaß der dann doch erfolgten Rekrutierung. Nach einer Mitte der 60er-Jahre festgehaltenen Beobachtung der Personalabteilung war in einem fast schon säkularen Trend das Interesse der jeweiligen Abiturientenjahrgänge von der Zeit vor den Kriegen bis in die Aufbauphase der Bundeswehr gleich geblieben: Nicht ganz fünf Prozent aller Abiturienten bemühten sich erfolgreich um die Einstellung 13

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Nach Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-1967, S. 156, entfielen 1952 bzw. 1962 von insgesamt 162 bzw. 133 % auf Fleiß, Tüchtigkeit, Strebsamkeit 72 bzw. 71 %, auf Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Gründlichkeit, Sauberkeit 21 bzw. 1 2 % , auf Treue 11 bzw. 4 %, auf Gutmütigkeit, Gutwilligkeit 12 bzw. 3 %, auf Ausdauer, Zähigkeit 8 bzw. 4 % und auf Mut, Tapferkeit, soldatische Fähigkeiten 7 bzw. 3 %. Die 1952 noch nicht erhobenen Eigenschaften Offenheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit kamen 1962 auf einen Anteil von 6 %. Die für 1952 bzw. 1962 gegebene Differenz von 31 bzw. 30 % entfiel auf weitere, hier weniger relevante Eigenschaften. Die weiter oben angeführten Ergebnisse von 1957 können nicht ohne Weiteres für einen Vergleich herangezogen werden, da sowohl die Fragestellung anders gefasst wurde als auch die Gruppierung der Eigenschaften abweichend erfolgte; vgl. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-1964, S. 190. Siehe hierzu Siegfried, Vom Teenager zur Pop-Revolution, bes. S. 600-603. Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü , Z.U.A. 0.2.1.0., S. 21.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

als Offizieranwärter, wobei um die 14 Prozent Interesse zeigten und etwa sieben Prozent sich bewarben. Wie die Personalabteilung in diesem Zusammenhang Ende 1964 vermerkte, könne der »jährliche Bedarf [...] an Offizieranwärtern [...] fast voll gedeckt werden«16. Ganz so günstig schienen sich Bewerberaufkommen und Einstellungsquote jedoch nicht entwickelt zu haben. Denn auch nach 1958 setzte sich der bis dahin enttäuschende Bewerbertrend fort. Die Zahlen fielen 1959 gegenüber dem Vorjahr noch um ein gutes Viertel auf mehr nur 4453 Bewerber, erreichten 1961 mit 3565 Bewerbern einen vorläufigen Tiefstand und stiegen dann auf 1963: 3874. Die Anzahl der sich bewerbenden Abiturienten ging gleichzeitig kontinuierlich von 1958: 3626 auf 1961: 2095 zurück und verharrte in dieser Größenordnung, während die Anzahl der Bewerber mit Mittlerer Reife bereits 1960 den Tiefstand mit 1405 Bewerbern erreicht hatte, dann aber stetig auf 1963: 1767 Bewerber zunahm17. Der jährliche Ergänzungsbedarf der Bundeswehr von 2342 Berufs- und Zeitoffizieranwärtern mit einer Verpflichtungszeit von drei und mehr Jahren konnte damit nicht gedeckt werden. Denn zwischen 1959 und 1964 blieb es bei der jährlichen Einstellungsquote von gut eineinhalbtausend Zeit- und Berufsoffizieranwärtern, die bereits 1958 erreicht worden war18. Dieses magere Rekrutierungsergebnis wurde allerdings durch Bewerbungen von Grundwehrdienstleistenden und Freiwilligen mit einer zweijährigen Verpflichtungszeit sowie durch Übernahme besonders geeigneter Unteroffiziere in die Offizierlaufbahn aufgebessert. 1958 sollte sich dies allerdings nur marginal auswirken. Mit zwei Übernahmen aus dem Unteroffizierkorps in die Laufbahn der Truppenoffiziere der Luftwaffe betrug die Anzahl der Offizieranwärter in der Bundeswehr im dritten Aufstellungsjahr 1561. Im Jahr darauf stieg sie um etwa ein Drittel auf 2085 Offizieranwärter, was vor allem auf die für geeignet erachteten Bewerbungen aus der Truppe zurückzuführen war. Bis 1964 blieb es bei in etwa gut 2000 Offizieranwärtern jährlich, wozu ab 1962 auch vermehrte Übernahmen von geeigneten Unteroffizieren vor allem im Heer beitrugen. Damit konnte dem Bedarf der Streitkräfte an Offizieranwärtern insgesamt zu 87 Prozent entsprochen werden, wobei das Heer mit nur 82 Prozent gegenüber der vollständigen Deckung des Marinebedarfes und der Deckung von 90 Pro16

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BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 80. Nach ebd., S. 82, ergab sich für die Bewerbungen für die Laufbahn des Truppenoffiziers im Hinblick auf die gesamte Bundeswehr folgende Entwicklung: 1958: 6093 (3626 Abiturienten, 2467 mit Mittlerer Reife) - 1959: 4453 (2733 Abiturienten, 1720 mit Mittlerer Reife) - 1960: 3798 (2393 Abiturienten, 1405 mit Mittlerer Reife) - 1961: 3565 (2095 Abiturienten, 1470 mit Mittlerer Reife) - 1962: 3902 (2217 Abiturienten, 1685 mit Mittlerer Reife) - 1963: 3874 (2107 Abiturienten, 1767 mit Mittlerer Reife). Für 1964 konnte Ende des Jahres aufgrund bereits vorliegender Bewerbungen von einer Stärke von 4300 (2200 Abiturienten, 2100 mit Mittlerer Reife) ausgegangen werden, was nahezu den Gleichstand zwischen Bewerbern mit Abitur und solchen mit Mittlerer Reife bedeutete. Nach ebd., S. 83, konnten als Offizieranwärter in die Bundeswehr (Heer/Luftwaffe/Marine) eingestellt werden: 1958: 1559 (696/640/223) - 1959: 1503 (617/654/232) - 1960: 1545 (584/685/276) - 1961: 1519 (618/650/251) - 1962: 1722 (751/726/245) - 1963: 1683 (712/693/ 278) und 1964: 1583 (704/601/278).

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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z e n t d e s L u f t w a f f e n b e d a r f e s d i e g r ö ß t e n Defizite a u f w i e s 1 9 . H i n z u k a m e n n o c h Ü b e r n a h m e n v o n R e s e r v e o f f i z i e r e n in d a s a k t i v e D i e n s t v e r h ä l t n i s . 1 9 6 1 w u r d e n 8 6 Ü b e r n a h m e n v o l l z o g e n , 1 9 6 2 : 1 7 1 u n d 1 9 6 3 : 192 2 0 . E r s t d a d u r c h g e l a n g es, d e n j ä h r l i c h e n E r g ä n z u n g s b e d a r f d e r Streitkräfte a n n ä h e r n d z u e r f ü l l e n (Soll: 2342 - 1961: 2 1 1 3 , 1 9 6 2 : 2 2 4 7 , 1 9 6 3 : 2173). D a s i m G r u n d e d e f i z i t ä r e A u f k o m m e n k o n n t e n u r t e i l w e i s e d u r c h d i e Eins t e l l u n g k r i e g s g e d i e n t e r Offiziere a u s g e g l i c h e n w e r d e n . M i t d e r e n a u s g e d e h n ter E i n b e z i e h u n g in d i e R e k r u t i e r u n g w u r d e d i e für d i e g e s a m t e B u n d e s w e h r g e l t e n d e S t a m m n o r m v o n 6 , 5 P r o z e n t - b e z o g e n a u f d i e j e w e i l i g e Ist-Stärke bis 1 9 5 8 , als sie sich m i t 1 3 0 3 4 O f f i z i e r e n a u f 7 , 5 P r o z e n t belief, z w a r d e u t l i c h übertroffen 2 1 . A b e r selbst d i e a u f g r u n d d e s s p ä t e s t e n s z u r J a h r e s m i t t e 1 9 5 8 absehbaren Mangels an jungen Offizieren22 n o t g e d r u n g e n fortgesetzte A n w e r b u n g a u s d i e s e r O f f i z i e r g r u p p e - in d e n d r e i J a h r e n v o n 1 9 5 8 bis 1 9 6 0 l a g d i e jährliche E i n s t e l l u n g K r i e g s g e d i e n t e r n o c h in d e r G r ö ß e n o r d n u n g v o n 1 0 0 0 Offizieren - konnte d a n n nicht verhindern, dass die S t a m m n o r m ab 1959 nicht m e h r e r r e i c h t w u r d e u n d 1 9 6 2 m i t 1 9 9 1 3 T r u p p e n o f f i z i e r e n u n d d a m i t 5,1 P r o z e n t a u f e i n e n T i e f s t s t a n d fiel 2 3 . D a m a l s fehlten d e r B u n d e s w e h r n a h e z u ein Viertel,

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Nach ebd., S. 84-87, wurden - aufgeschlüsselt nach Heer/Luftwaffe/Marine - als Offizieranwärter aus der Truppe (Wehrdienstleistende und Zeitsoldaten) eingesteuert 1959: 348/145/53 - 1960: 416/82/67 - 1961: 289/108/44 - 1962: 188/63/30 - 1963: 142/38/17 und bis September 1964: 157/44/15. Gleichzeitig wurden - wiederum aufgeschlüsselt nach Heer/ Luftwaffe/Marine - aus dem Unteroffizierkorps als Offizieranwärter übernommen 1958: 0/2/0 - 1959: 25/9/2 - 1960: 34/10/4 - 1961: 42/21/4 - 1962: 59/4/10 - 1963: 67/21/13 und bis September 1964: 40/21/10. Zusammen mit den eingestellten ungedienten Bewerbern betrug die Anzahl der ihre Ausbildung aufnehmenden Offizieranwärter demnach (Aufschlüsselung nach Heer/Luftwaffe/Marine) 1958: 1561 (696/642/223) - 1959: 2085 (990/808/ 287) - 1960: 2158 (1034/777/347) - 1961: 2027 (949/779/299) - 1962: 2076 (998/793/285) 1963:1981 (921/752/308) und bis September 1964: 1870 (901/666/303). Ebd., S. 89; hierbei entfielen auf Heer/Luftwaffe/Marine 1961: 61/25/0 - 1962: 101/68/2 1963: 152/25/15. 1964 wurden bis September 153 Ubernahmen von Reserveoffizieren (113/32/8) in das Dienstverhältnis eines Zeit- oder Berufssoldaten vollzogen. Ebd., S. 58; die entsprechenden Daten für 1956: 8034 Offiziere (entsprechend 12,2 %) und für 1957: 11 062 Offiziere (entsprechend 9,0 %). Vgl. die Empfehlung in BA-MA, BW 2/20036, ZstBer. 5/58, 11.9.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2-12), wo zur Deckung des erwarteten Fehls von 1959: 2500 Offizieren und 1961: 4066 Offizieren allein im Heer u.a. »die Einstellung von etwa 1000 Offizieren aus dem Zivilleben vom Hauptmann bis zum Oberstleutnant« als Aushilfe angegeben wurde. BA-MA, Β WD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58; danach dienten in der Bundeswehr (ohne Sanitätsoffiziere) 1959: 14 897 Offiziere (entsprechend 6,0 %), 1960: 16 784 Offiziere (entsprechend 6.2 %), 1961: 18 176 Offiziere (entsprechend 5,6 %), 1963: 21 474 Offiziere (entsprechend 5.3 %) und zum 7.10.1964: 22 531 Offiziere (entsprechend 5,3 %; die dortige Angabe von 22 668 Offizieren beruht auf einer fehlerhaften Addition - vgl. auch ebd., S. 79). Zur Rekrutierung kriegsgedienter Offiziere vgl. ebd., S. 88, und oben, Kap. III, Anm. 918. Für 1962 vgl. auch die Angaben in den beiden Zustandsberichten, die - zu allerdings anderen Stichtagen - ein nur in Grenzen günstigeres Bild vermitteln. Nach der Aufstellung in BAMA, BW 2/2459, Bundesministerium für Verteidigung, FüB-FüB IV 1, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anlage 1: Personalübersicht, S. 2, betrug am 7.3.1962 in der Bundeswehr unter Einschluss von Wehrübenden und Sanitätsoffizieren der Anteil der Offiziere 5,96 % (vgl. unten, Ta-

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

nämlich 22,5 Prozent, des Solls an Offizieren. In den beiden folgenden Jahren zeichnete sich hier zwar eine leichte Entspannung ab. Dennoch blieb ein gravierendes Defizit, sodass zum 7. Oktober 1964 der Bundeswehr noch 16,6 Prozent des im Stellenplan nachgewiesenen Offizierkorps fehlten24. Schärfer noch indes als bei der Nachwuchsgewinnung für die Laufbahn der Offiziere wirkte sich an der Wende zu den 60er-Jahren der Umstand der Vollbeschäftigung bei der Rekrutierung des Unteroffiziernachwuchses aus. Wie die Personalabteilung im Mai 1960 in einem Aktenvermerk über den Zusammenhang des Personalbedarfs der Streitkräfte und der allgemeinen Lage auf dem Arbeitsmarkt notierte, sei der »Freiwilligenzustrom für die Bundeswehr [...] in den letzten Jahren fortlaufend zurückgegangen«, wobei besonders der Nachwuchs an Unteroffizieren und technisch vorgebildeten Fachkräften infolge des reichen Angebotes an offenen Stellen ausgeblieben sei. Abgesehen von im Allgemeinen zufriedenstellenden Verhältnissen bei der Marine - der kleinsten Teilstreitkraft - bestand bei Heer und Luftwaffe eine derartige Mangelsituation, dass in den Jahren 1959 und 1960 die Forderungen des Heeres »nur zu etwa 35 %«, die der Luftwaffe »zu etwa 55 %« abgedeckt werden konnten. Demgegenüber habe sich der »Bedarf an Offizieranwärtern [...] zu 65-75 %« erfüllen lassen25. In der Tat war das Interesse für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr im Rahmen der Mannschafts- und Unteroffizierlaufbahn gegen Ende der 1950erJahre unter dem Eindruck der konjunkturellen Entwicklung deutlich zurückgegangen. Die Anzahl der zur Einstellung gelangenden ungedienten Bewerber nahm von 1956: 35 500 auf 1957: 38 200 nur noch geringfügig zu, brach dann 1958 um fast die Hälfte, nämlich auf 21 000 Einstellungen ein, blieb im folgenden Jahr bei dieser Größe, ging 1960 dann noch einmal auf 19 300 zurück und erreichte 1961 mit 18 100 Einstellungen einen vorläufigen Tiefstand. Dieser wäre noch niedriger ausgefallen, wäre nicht als Konsequenz aus dieser das Aufstellungsvorhaben bereits gefährdenden Entwicklung 1960 die Möglichkeit eines zweijährigen freiwilligen Dienstes bei sofortiger Zahlung eines Gehaltes anstelle des Wehrsoldes eingeführt worden. Damit nämlich konnten 2400 Freiwillige mit einer Verpflichtungszeit von zwei Jahren zusätzlich zu den sonst

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belle 28). Dieses gegenüber dem Bericht der Personalabteilung auffällig günstigere Verhältnis wird jedoch durch den nachfolgenden und eingehender differenzierenden Zustandsbericht wieder deutlich relativiert. Nach BA-MA, BW 2/2460, Bundesministerium für Verteidigung, FüB-FüB IV 1, ZstBer. 2/62 (Stichtag: 7.10.1962), 4.1.1963, Anlage 1: Personalübersicht, S. 2, dienten in den Streitkräften zum Stichtag wiederum unter Einschluss von Wehrübenden 21 984 Offiziere (dazu 973 Sanitätsoffiziere). Von den insgesamt 395 052 Soldaten stellten sonach die Truppenoffiziere 5,56 %. Klammert man die Wehrübenden aus, dann verringerte sich der Offizieranteil an 389 233 Soldaten im Oktober mit 20 398 Truppenoffizieren auf 5,24 % (vgl. Tabelle 29). BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 79. Seinerzeit betrug das Soll 27 000 Offiziere, wovon 14 660 auf das Heer, 8680 auf die Luftwaffe und 3660 auf die Marine entfielen. Mit einem Ist von 12 572 Offizieren trug das Heer einen Fehlbestand von 14,2 %, die Luftwaffe mit 7044 Offizieren ein Fehl von 18,8 % und die Marine mit 2915 Offizieren ein Defizit von 20,4 %. BA-MA, BW 1/6685, Ρ III 3, 24.5.1960, Vermerk über die Arbeitsmarktlage insbesondere hinsichtlich der Fachkräfte soweit die den Bedarf der Streitkräfte berühren.

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nur 15 700 Längerdienenden gewonnen werden. Auch der in den beiden folgenden Jahren zu verzeichnende Anstieg eingestellter Zeitsoldaten auf 1962: 25 500 und 1963: 28 400 war im Wesentlichen den 11 000 bzw. 10 500 Freiwilligen mit zweijähriger Verpflichtungszeit zuzuschreiben26. Indessen war die Einstellung ungedienter Freiwilliger nicht die einzige Ressource, aus der die Streitkräfte langfristig ihren Bedarf an Unteroffizieren decken konnten. Von in etwa gleichem Gewicht waren die Weiterverpflichtungen von Grundwehrdienstleistenden. So wurden z.B. 1961 14 400 Soldaten für die Übernahme in den Status eines Zeitsoldaten gewonnen, 1962 waren es sogar 31 900. Aber auch hier stand die lediglich zweijährige Dienstzeit im Vordergrund. Denn 1961 stellten die Verpflichtungen für die zweijährige Dienstzeit mit 10 600 Fällen gut zwei Drittel der Ubernahmen, 1962 mit 27 700 knapp 87 Prozent27. Eher nachrangig waren demgegenüber die Ergänzungen aus dem Kreis der Bundeswehrreservisten, die zwischen 1959 und dem Sommer 1963 unterhalb von 1000 Einstellungen jährlich blieben28. Während die Gruppe der als Zeitsoldaten gewonnenen Mannschaften - die mit besonderen Schlüsselqualifikationen auch mit höherem Mannschaftsdienstgrad eingestellt werden konnten - den größten Anteil der künftigen Unteroffiziere stellte, bestand eine letzte Ergänzungsquelle in der Weiterverpflichtung von Unteroffizieren. 1963 betrug die Weiterverpflichtungsquote mit einer Größenordnung von 3000 etwa ein Drittel der ausscheidenden Unteroffiziere29. Alles in allem fehlten somit der Bundeswehr auch in der Bilanz des Jahres 1963 trotz einer hinreichenden Anzahl Freiwilliger angesichts von deren kurzer Verpflichtungszeit von zwei Jahren die längerdienenden Unteroffiziere30. Damit weitete sich die Lücke im Unteroffizierkorps zu noch weit dramatischeren Dimensionen aus als im Offizierkorps. Nach einer Angabe der Personalabteilung vom Herbst 1963 lag damals die Stammnorm für Unteroffiziere bei 31,4 Prozent - gerechnet auf die Gesamtstreitkräfte. Diese Relation wurde nur 1956, im Jahr der KaderaufStellung, mit 36,2 Prozent erreicht. Schon im folgen26

27 28

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Angaben nach BMVtdg Ρ III 1 Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 38. Zu dem Hintergrund der Einführung des zweijährigen Dienstverhältnisses vgl. ebd., S. 15: »Die Dienstzeit von zwei Jahren ist 1960 zugelassen worden, weil der Bedarf an Freiwilligen nur zu 5 0 - 6 0 v.H. gedeckt werden konnte. Der Grundwehrdienst dauerte damals nur 12 Monate.« Mit Stand Sommer 1963 galten als Mindestverpflichtungszeit bei Heer und Luftwaffe zwei, bei der Marine drei Jahre. Angaben nach ebd., S. 38. Nach ebd., S. 39, wurden aus dem Kreis bereits aus der Bundeswehr ausgeschiedener Wehrpflichtiger und Soldaten auf Zeit wieder eingestellt (aus der Zahl eingereichter Bewerbungen) 1959: 250 (835) - 1960: 484 (1408) - 1961: 890 (2302) - 1962: 792 (2442) und im ersten Halbjahr 1963: 449 (1136). Vgl. dazu die Angaben in ebd., S. 41 f., die jedoch nicht ganz eindeutig sind: Zwar heißt es dort, im ersten Halbjahr 1963 hätten sich von 8744 Unteroffizieren, deren Verpflichtungszeit vor dem Ende gestanden habe, 2777 weiterverpflichtet; die ohne weitere Zeitangabe zur näheren Aufschlüsselung beigefügte Tabelle gibt hier allerdings 9533 vor der Entlassung stehende Unteroffiziere der Bundeswehr und 3584 Weiterverpflichtungen an. Ebd., S. 39: »Obwohl das Aufkommen an Freiwilligen zahlenmäßig befriedigt, reicht der Anteil der Soldaten, die sich für längere Zeit verpflichten, nicht aus.«

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den Jahr sackte sie auf 24,4 Prozent ab und war 1962/63 bei 23 Prozent angelangt31. Ende 1963 hätten in der Bundeswehr nach dem Stellenplan 132 000 Unteroffiziere dienen sollen. Im August betrug das Ist jedoch nur 92 700, wobei die Erwartung der Personalabteilung, dieser Umfang werde sich bis Jahresende nur geringfügig verschieben, sich als zutreffend erweisen sollte. Tatsächlich verfügte die Bundeswehr am 7. September 1963 unter Einschluss von Wehrübenden über 94 276 und am 7. März 1964 über 94 993 Unteroffiziere. Dies bedeutete nach der Prognose der Personalabteilung vom Herbst 1963 einen Fehlbestand von 29,8 Prozent32 - ein gegenüber der Mangellage bei den Offizieren nahezu verdoppeltes Defizit. (Schlimmer noch, war in Anbetracht der demografischen Entwicklung eine Besserung auch nicht zu erwarten. Während die für die Wehrpflicht in Frage kommenden Jahrgangsstärken bis zum Geburtsjahrgang 1941 deutlich über 400 000 lagen, wurde diese Marke vom Jahrgang 1942 an nicht mehr erreicht, ja sogar mit Größenordnungen im Bereich von 300 000 weit verfehlt33.) Eindrucksvoll belegte diese Entwicklung die Stichhaltigkeit zumindest eines der Argumente, mit denen die Bundesregierung 1956 die Einführung der Wehrpflicht begründet hatte, wobei gleichzeitig mit der Personalgewinnungsnot auch die Grenzen der Wehrpflichtaushilfe auf dem Sektor des längerdienenden Vorgesetzten- und Funktionspersonals erkennbar wurden. Noch im Hinblick auf eine Truppenstärke von 500 000 Soldaten (die allerdings nicht, wie seitens der Bundesregierung reklamiert, vertragsmäßig gefordert war) hatte die Broschüre zur Wehrpflichtfrage vor dem Hintergrund der Personalgewinnungsprobleme sehr deutlich zu verstehen gegeben, »es [sei] ausgeschlossen, daß die 270 000 Planstellen der Wehrpflichtigen mit Freiwilligen besetzt werden könn[t]en«. Schon die geforderte Präsenzstärke zwang demnach zur Wehr31

32

33

Ebd., S. 27 f.; 1956 war das Unteroffizierkorps auf 23 944 Soldaten angewachsen. Bis 1963 war keine durchgreifende Besserung zu verzeichnen. So dienten in der Bundeswehr 1957: 29 836 Unteroffiziere (31,4 %) - 1958: 39 213 (22,4 %) - 1959: 58 462 (23,5 %) - 1960: 71 336 (26,4 %) - 1961: 80 726 (24,8 %) - 1962: 89 725 (23,0 %) - August 1963: 92 643 (23,0 %). Auf der Grundlage der Angaben in BA-MA, BW 2/3110, Militärischer ZstBer. 2/63, 2.12.1963 (Stichtag: 7.9.1963), Anl. 1: S. 2 (Stärkemeldung Bundeswehr), verfügten die Streitkräfte zum Stichtag über 23 729 Offiziere (davon 1049 Sanitätsoffiziere), was bei einer Gesamtzahl von 399 205 Soldaten auf einen Anteil von 23,6 % hinauslief (vgl. Tabelle 31). Ein halbes Jahr später hatte sich dieses Verhältnis noch verschlechtert; vgl. BA-MA, BW 2/3111, Militärischer ZstBer. 1/64, 4.6.1964 (Stichtag: 7.3.1964), Anl. 2: S. 4 (G 1Stärkemeldung Bundeswehr); danach verfügten die Streitkräfte zum Stichtag über 25 280 Offiziere (davon 1084 Sanitätsoffiziere), was bei einer Gesamtzahl von 412 910 Soldaten einen Anteil von 23 % ergab (vgl. Tabelle 32). BMVtdg Ρ III 1 Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 35. Die geringfügige Differenz zu ebd., S. 27, der Angabe für den Stichtag 7.8.: 92 643 ließ sich nicht klären. Nach einer Übersicht in BMVtdg Ρ III 1 Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 40, entwickelten sich die Geburtsjahrgänge, aus denen Freiwillige mit dem Eintritt in die Wehrpflicht rekrutiert werden könnten, so, dass die Schmälerung dieser Basis absehbar war. Unter der männlichen Bevölkerung entfielen auf die Jahrgänge 1938: 435 000 - 1939: 470 000 - 1940: 464 000 - 1941: 440 000 - 1942: 357 000 - 1943: 369 000 - 1944: 345 000 - 1945: 273 000 - 1946: 305 000 - 1947: 325 000 - 1948: 350 000 1949: 365 000 - 1950: 363 000.

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pflicht, wobei die Erklärung der Bundesregierung damals noch ergänzend die Notwendigkeit hervorhob, Reserven bilden zu können34. Wie treffend diese Einschätzung war, zeigte schließlich das Unvermögen, in ausreichender Zahl Längerdiendende für jene Streitkräfte zu gewinnen, deren Umfang zunächst sogar auf etwa zwei Drittel der ursprünglichen Stärke begrenzt worden war. Mit Hilfe der Wehrpflicht wuchs indessen die Bundeswehr von Ende 1958 bis Ende 1965 von 170 562 auf 440 807 Soldaten scheinbar kontinuierlich weiter auP5. Welche Auswirkungen hatte bei solcher Ausweitung des Umfanges die geschilderte Mangelsituation bei Offizieren und Unteroffizieren auf die innere Verfasstheit der Bundeswehr und auf die weitere Ausprägung des Musters des gewünschten Soldaten? Um hier einen Zusammenhang herstellen zu können, bedarf es noch eines genaueren Blickes in die Bereiche, auf welche die Überlegungen zum >Typ des modernen Soldaten< in erster Linie zielten, in die Truppe also - und hier vor allem in das zwölf Divisionen umfassende Feldheer, dessen Aufstellung bis 1964/65 angesichts der gegenüber dem Bündnis eingegangenen Verpflichtungen eindeutigen Vorrang genoss vor den in nationaler Verfügungsgewalt verbliebenen Verbänden und Dienststellen36. Zur Abschätzung der in der Truppe gegebenen Mangelsituation genügt eine Betrachtung der nach den Uniformträgern des Heeres, der Luftwaffe und der Marine unterscheidenden Statistiken der Personalabteilung nicht. Denn zahlreiche Soldaten der Teilstreitkräfte - unter ihnen nicht zuletzt ältere Dienstgrade - fanden Verwendung im Ministerium, in zentralmilitärischen Einrichtungen oder bei den Einheiten der territorialen Verteidigung, sodass die von der Personalabteilung vorgelegte Bilanz nicht trennscharf die Verhältnisse in der Truppe wiedergab. Zur weiteren Aufhellung des Mangels soll im Folgenden vornehmlich anhand der Zustandsberichte der Bundeswehr und der darin zusammengefassten Zustandsmeldungen der Führungsstäbe die Lageentwicklung zuvörderst im Heer, dann aber auch in Luftwaffe und Marine ausgebreitet werden. Deren Personalübersichten vermitteln ein genaueres Bild zur personellen Situation in den Organisationsbereichen. Allerdings darf bei der Auswertung der Zustandsberichte und -meidungen deren Zweck nicht übersehen werden: General Foertsch hat als Generalinspekteur deren Bestimmung einmal mit dem Satz umrissen, dass sie »die Bundeswehrführung über Stand und Einsatzwert der Verbände informieren und als >Sprachrohr der Truppe< akute Nöte und Mängel darlegen« sollen37. Bei dieser Vorgabe sind zwar nicht bei den Statistiken der Personalübersichten, wohl dagegen bei den üblicherweise in freier Beschreibung abgefassten Berich34

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Warum brauchen wir die Wehrpflicht?, S. 12. Zur Schrift, zu ihrem innenpolitischen Zusammenhang und zu ihrer Argumentation vgl. AWS, Bd 3, S. 514-525 (Beitrag Ehlert). Gesamtumfänge zu den Stichtagen 1.11.1958: 170 562 Soldaten, 7.11.1959: 232 144 Soldaten, 7.12.1960: 270 744 Soldaten, 7.11.1961: 359 190 Soldaten unter Einschluss von 27 300 Wehrübenden, 7.10.1962: 395 052 Soldaten unter Einschluss von 5819 Wehrübenden, 7.9.1963: 399 205 Soldaten unter Einschluss von 3458 Wehrübenden, 7.12.1964: 433 315 Soldaten, 7.12.1965: 440 807 Soldaten. Vgl. Tabellen 18-34 im Anhang. Zur Prioritätensetzung vgl. den Rückblick in BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht der Bundeswehr (1.1.1964-31.12.1964), 13.5.1965, S. 12-14. BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, S. 1.

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ten der Führungsstäbe zum inneren Zustand der Teilstreitkräfte interessengeleitete Verzerrungen nicht auszuschließen. Als wenigstens in Grenzen nutzbare Korrektive bieten sich die hierfür ebenso einschlägigen Jahresberichte des Wehrbeauftragten und die Übersichten zu den Besonderen Vorkommnissen an, die daher im Folgenden ergänzend herangezogen werden.

2.

Der Personalmangel und seine Folgen in der Truppe

Von Personalsorgen waren alle drei Teilstreitkräfte geplagt, vor allem aber hatte das Heer unter Lücken zu leiden, dem als der noch am wenigsten waffensystembezogenen Teilstreitkraft auch nicht der Ausweg beispielsweise der Marine offenstand, deren Personalnöte zum Teil durch ablieferungsbedingt verzögerte Indienststellungen kompensiert werden konnten 38 . Dabei hatte es zunächst nicht nur erhebliche Neuaufstellungen zu bewältigen, sondern auch eine umfangreiche Umorganisation zu verkraften, die sich aus dem Zwang zu einer den atomaren Bedingungen angepassten beweglicheren Kampfführung ergab. In der Folge sollte sich diese Kombination aus Neugliederung und Truppenvermehrung in einer außerordentlich hohen Personalfluktuation niederschlagen 39 . Von 1958 bis 1960 wurden im Heer mit Ausnahme der Generale Offiziere nach 17 Monaten, 1961 nach 16 Monaten, 1962 nach 23 Monaten versetzt. Allerdings musste ein Leutnant des Heeres damals immer noch mit einer durchschnittlichen Stehzeit von nur 17 Monaten rechnen, ein Hauptmann mit 24 Monaten. Günstiger gestalteten sich die Verhältnisse beim Unteroffizierkorps. Während 1959 der Portepee-Unteroffizier im Heer noch nach 17 Monaten versetzt wurde, stieg dessen durchschnittliche Verweildauer auf einem Dienstposten von 1960: 26 Monate über 1961: 40 Monate auf 1962: 45 Monate40. Den Auftakt für die von Unruhe und Mangel gekennzeichnete Ausbauphase des Heeres bildete das Jahr 1959, das ganz im Zeichen des dem Heer zugemuteten Kraftaktes eines gleichzeitigen Auf- und Umbaus stand. So wurden zwischen dem 1. Dezember 1958 und dem 7. November 1959 »80 Bataillone und 277 Kompanien neu aufgestellt« und gleichzeitig »139 Bataillone und 229 Stäbe und Kompanien umgegliedert«. Der ohnedies schon mit zahlreichen Personalbewegungen verbundene Aufwuchs von 106 784 Soldaten (1. November 1958) auf 143 630 (7. November 1959) war damit zugleich auch mit einer Vielzahl von Versetzungen, Kommandierungen und Lehrgangsbeschickungen belastet, die sich aus der Einführung der Brigadeorganisation und der Zusammenführung 38 39

40

Siehe unten, S. 362. Zu dem Auf- und Umbau des Heeres und dabei auftretenden Problemen vgl. jetzt Hammerich, Kommiss kommt von Kompromiss, S. 222-321; Rink, Strukturen, S. 413-473. BMVtdg Ρ III 1 Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, Anl. 11.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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von »17 Waffengattungen [...] in 7 Truppengattungen« ergaben. Der für diesen Zeitraum erstellte erste Jahresbericht des Wehrbeauftragten brachte eindrucksvolle Beispiele für das außerordentlich hohe Maß an personeller Fluktuation. Generalleutnant a.D. Helmuth von Grolman41, der, am 19. Februar 1959 durch den Bundestag in sein Amt gewählt, am darauffolgenden 1. Juni seine Arbeit aufgenommen hatte, war im Zuge seiner Truppenbesuche ganz überwiegend bei Einheiten und Dienststellen des Heeres gewesen. Von dort berichtete er über eine Einheit, die binnen dreier Jahre ihren zehnten Chef erlebt hatte, und von einer weiteren, die in bloß neun Monaten dem nunmehr vierten Disziplinarvorgesetzten unterstellt worden war. Innerhalb einer Division wechselten zum selben Termin 60 Prozent aller Offiziere den Dienstposten und binnen Jahresfrist waren 240 von ihren 260 Offizieren von Personalbewegungen in eigener Person betroffen. Der Anteil der Offiziere innerhalb des Heeres war naturgemäß niedriger als von der Personalabteilung angegeben, die über die Truppe hinaus auch noch jene Heeresoffiziere berücksichtigen musste, die in den mit einem wesentlich höheren Offizieranteil versehenen integrierten Stäben und Behörden ihren Dienst versahen. Als er nach der Statistik der Personalabteilung mit fünf Prozent genau der Stammnorm entsprach, ging er im Organisationsbereich Heer von 4,90 auf 4,49 Prozent zurück. Infolge der überaus hohen personellen Fluktuation lag die tatsächliche Präsenz von Offizieren in der Truppe aber noch deutlich unterhalb der rechnerischen Größe von 5231 (1. November 1958) bzw. 6442 (7. November 1959) Offizieren, auf welche die Personalübersichten der Zustandsberichte hingewiesen hatten 42 . 41

42

Helmuth Otto von Grolman (1898-1977), 1916 Eintritt in die Preußische Armee, Übernahme in die Reichswehr, Beförderung zum Leutnant 1920, 1920-1924 Bankiehre und Studium der Nationalökonomie, Wiedereintritt in die Reichswehr, während des Zweiten Weltkrieges Verwendung unter anderem als Chef des Generalstabes der Heeresgruppe A, später Heeresgruppe Süd und als Divisionskommandeur der 4. Kavalleriedivision, 1944 zum Generalleutnant befördert; nach Rückkehr aus britischer bzw. amerikanischer Kriegsgefangenschaft ab 1949 Referent im niedersächsischen Vertriebenenministerium, dort 1955-1959 Staatssekretär; Wehrbeauftragter 1959-1961; wegen einer persönlichen Affäre aus dem Amt geschieden; weitgehend nach Schlaffer, Der Wehrbeauftragte, S. 346. BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 3 9 ) . Nach den Angaben ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 7 (Bundeswehr), war am Stichtag 7.11.1959 im Heer mit 6442 Offizieren eine Offizierdichte von 4,49 % gegeben. Vgl. dazu BA-MA, BW 2/20036, ZstBer. 6/58, 13.12.1958, Anl. 1: Personalübersicht, S. 6 (Bundeswehr), wonach am Stichtag 1.11.1958 im Heer der Anteil mit 5231 Offizieren noch 4,90 % betrug. (Vgl. die Tabellen 18 und 22 im Anhang.) Der Fü Η hatte in seiner o.a. Zustandsmeldung unter Einbeziehung von Verbänden der Territorialen Verteidigung eine andere Berechnungsgrundlage gewählt, sodass der Aufwuchs zwischen dem 1.12.[!]1958 und dem 7.11.1959 die Umfangserweiterung von 109 708 auf 149 535 Soldaten, darunter 4973 (4,53 %) bzw. 6263 (4,19 %) Offiziere, einschloss. Zur Umgliederung vgl. auch Taschenbuch für Wehrfragen, 3 (1959), S. 6 1 - 6 4 . Zu den Angaben des Wehrbeauftragten vgl. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, S. 3, 10. Nach der Aufstellung ebd., S. 13, hatte der Wehrbeauftragte 13 Behörden und Verbände bzw. Einheiten des Heeres, drei der Luftwaffe und eine Zentrale Militärische Dienststelle besucht. Zu der Übersicht der Personalabteilung vgl. BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VSNfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Gleichzeitig wurde sogar das reduzierte Soll an Offizieren nach dem Stellenund Ausrüstungsnachweis (StAN), das für die zahlenmäßig größte Teilstreitkraft unerachtet der Einsichten, die sich im Hinblick auf die Anwesenheit von jüngeren Offizieren in der Truppe im Zusammenhang mit dem >Iller-Unglück< aufgedrängt hatten, angesichts fortgesetzter Neuaufstellungen bereits Anfang 1959 gegolten hatte, noch unterschritten. Nach der zum Stichtag 1. Februar 1959 erstellten Zustandsmeldung des Heeres fehlten in den Divisionen ein Viertel bis ein Drittel aller Offiziere, wobei sich zwar bei den jüngsten Dienstgraden im Zuge der Zuversetzung der am Ende ihrer Offizierausbildung stehenden Fähnriche und Leutnante eine erste Entspannung abzeichnete, dafür aber der »Mangel an fähigen Oberleutnanten, die eine Kompanie übernehmen könn[t]en«, infolge der Truppenvermehrung immer eklatanter wurde. Das Erfordernis einer weiterführenden Ausbildung der qualifizierteren Offiziere führte nicht nur dazu, dass sich die »Klage[n] [über] Kompaniechefs von [lediglich] durchschnittlicher Qualität« häuften, sondern dass gegenüber dem ohnehin bereits verminderten Soll etwa nur die Hälfte an Offizieren tatsächlich in den Einheiten zur Verfügung stand. Im Vergleich mit den akuten Sorgen hinsichtlich der Offiziere und gerade auch der Sanitätsoffiziere war die Situation im Unteroffizierkorps in den Augen des Führungsstabes sogar günstiger geworden. Desungeachtet mussten auch im Frühjahr 1959 Wehrpflichtige mit Ausbildungsaufgaben betraut werden. Auch wollte das Heer angesichts des besorgniserregenden Rückganges an Freiwilligenmeldungen seine Prognose für 1959, nach der bei den Unteroffizieren keine Engpässe im Zusammenhang mit den Umgliederungen und Neuaufstellungen zu gewärtigen seien, keinesfalls auf das Jahr 1960 ausgedehnt wissen43. Ein Vierteljahr später war dem Führungsstab des Heeres »die ernste Personallage - besonders bei den Offizieren - [zum] Zentralproblem des Heeresaufbaus geworden«. Er verlangte, dass in Anbetracht »der sich krisenhaft verschärfenden Personallage« alle Oberleutnante und Hauptleute in die Truppe zu versetzen seien. Innerhalb der Verbände konnte man nach der Meldung des Heeres in der Regel »nur noch [...] die für die Rekrutenausbildung benötigten Offiziere [...] stellen«. Zudem musste man wegen des Defizits an erfahreneren Oberleutnanten und Hauptleuten bereits Leutnante als Disziplinarvorgesetzte verwenden, obwohl diese einer solchen Aufgabe »auf Grund ihrer bisherigen Ausbildung noch nicht voll gewachsen« erschienen. Auch diese Lagefeststellung, wie zudem jene zu den älteren Kompaniechefs, fand ein Echo im Jahresbericht des Wehrbeauftragten, dem die Kriegsgedienten als Chefs mit den Prinzipien der Friedensausbildung noch nicht vertraut genug, dagegen die jungen Offiziere noch nicht erfahren genug und daher zumindest teilweise überfordert erschienen. Um Offiziere für den Dienst in den Einheiten freizumachen, hatte 43

BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 1/59, 12.3.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 - 6 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-15). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 7 (Bundeswehr), waren am Stichtag 1.2.1959 im Heer 5461 Offiziere bei einem Personalumfang von 114 730 Soldaten vorhanden. Die für das Heer geltende Stammnorm von 5 % Offizieren wurde mit 4,76 % unterschritten.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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der Führungsstab des Heeres seinerseits schon zu recht drastischen Maßnahmen gegriffen, indem er unter anderem in den Stäben der Bataillone die Stelle des S 3-Offiziers (zuständig für Organisation und Ausbildung) gestrichen hatte. Im Unteroffizierkorps stand ein signifikantes Fehl an Feldwebeln einer immerhin hinreichenden Bedarfsdeckung im Bereich der Unteroffiziere ohne Portepee gegenüber, sodass hier Abhilfe von einer Initiative erhofft werden konnte, die auf günstigere Beförderungsmöglichkeiten zum Portepee-Unteroffizier abzielte. Allerdings brachte dieses Nebeneinander zweier Mangelsituationen - des Fehls sowohl im Unteroffizier- als auch im Offizierkorps - bereits im Frühjahr 1959 einen Zielkonflikt hinsichtlich der Bedarfsdeckungsprioritäten mit sich. Wie oben erwähnt, hatte der Reserveoffizier angesichts des unbefriedigenden Aufkommens an Zeit- und Berufsoffizieranwärtern an Bedeutung gewonnen. Um hier zu einer hinreichenden Größenordnung zu gelangen, war der Abiturientenanteil der zum 7. April 1959 Einberufenen hoch angesetzt worden, nämlich 5020 von 24 533. (Im Mai 1959 - für Bayern zu den Stichtagen 1. Oktober und 5. Dezember - befanden sich im Bundesgebiet, ohne Berlin, unter 3 266 786 männlichen Schülern 499 175 Gymnasiasten, also 15,3 Prozent; der Anteil der Abiturienten an den Eingezogenen belief sich demgegenüber auf 20,5 Prozent.) Das Aufkommen an Freiwilligen unter den insgesamt in das Heer eingestellten Rekruten blieb jedoch auf 8367 und damit auf 35,7 Prozent des eigentlichen Bedarfs begrenzt. Vor diesem Hintergrund wurde in derselben Zustandsmeldung des Heeres, die den Offiziermangel als das erstrangige Problem beschrieb, andernorts gegen solche Aushilfe im Wege der ROA-Anwerbung kritisch eingewandt, dass damit der Nachwuchsgewinnung für die Laufbahn der Unteroffiziere und in Spezialfunktionen verwendbaren Mannschaften das Wasser abgegraben werde. Anstatt sich der »Ausbildung ihres Unterführernachwuchses« widmen zu können, werde die Truppe mit der Heranbildung der Reserveoffiziere belastet, die doch ohnedies bald wieder ausschieden. Um solcher augenscheinlich als Vergeudung angesehenen Praxis zu wehren, müsse fortan die »Einberufung von Abiturienten [...] auf einem erträglichen Anteil [sie!] gehalten werden«44. Wie die weitere Entwicklung jedoch zeigen sollte, wurde der Prioritätenkonflikt bis in das Ende der Aufstellungsphase hinein zugunsten der Linderung des Offiziermangels gelöst. Im Sommer 1959 sah dann der Führungsstab des Heeres »die unterste, für einen geordneten Dienstablauf gerade noch tragbare Grenze erreicht«: Bei vollständiger Auffüllung der Mannschaftsstärken hatte sich in den Einheiten und Verbänden die Lücke bei den Offizieren nun an derem oberen Rand, nämlich in der Größe von 30 Prozent verstetigt, bei Unteroffizieren belief sie sich auf "

Ebd., ZstBer. 2/59, 30.6.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2, 4, 6 f., 13 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 1 6 ) . Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 7 (Bundeswehr), waren am Stichtag 1.5.1959 im Heer 6007 Offiziere vorhanden, was bei dem Heerespersonalumfang von 124 697 Soldaten einem Offizieranteil von 4,82 % entsprach (vgl. unten, Tabelle 20). Angaben zu den Schülerzahlen nach Statistisches Jahrbuch 1961, S. 97. Zur Einschätzung des Wehrbeauftragten vgl. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, S. 7 , 1 0 .

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50 Prozent. In welche Schwierigkeiten das Heer damit geraten war, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass es sich inzwischen zu dem Antrag genötigt gesehen hatte, die Neuaufstellungen für etwa drei Quartale auszusetzen. Diesem Ansinnen sollte - beginnend mit dem vierten Quartal 1959 - dann auch stattgegeben werden, womit zugleich eine Verlangsamung der personellen Aufstockung einherging. (Während das Heer in den zwölf Monaten vom 1. November 1958 bis zum 7. November 1959 um 36 846 Soldaten vergrößert worden war, wuchs es in den folgenden sieben Monaten bis zum 7. Juni 1960 nur noch von 143 630 Soldaten auf 157 962, und damit lediglich um 14 332 auf.) Wenngleich das Fehl bei den Offizieren geringer als das bei den Unteroffizieren ausgefallen war, sahen der Führungsstab des Heeres wie der Generalinspekteur hierin wie zuvor das größere Problem. Denn für das Heer ließ vor allem der Mangel an Offizieren das Defizit im Unteroffizierkorps besonders fühlbar werden, während der Generalinspekteur die Prognose wagte, dass die Unteroffizierlage sich eher entspannen werde als die der Offiziere45. Während die Zustandsmeldungen des Jahres 1959 die Auswirkungen eines dermaßen turbulenten Auf- und Umbaus für das innere Gefüge der Einheiten nicht eigens aufgriffen, sprach der Wehrbeauftragte die Konsequenzen in seinem Bericht unumwunden an. Schließlich war die Beachtung »der Grundsätze über die innere Führung« gesetzlich in seine Obhut gelegt worden (§ 2 Abs. 2 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten). Nach seinem Urteil hatte solche Unstetigkeit »sich auf Erziehung und Menschenführung wie auf Organisation und Leitung der Ausbildung fühlbar nachteilig ausgewirkt«. In manchen Einheiten hätten »Stimmung und Geist« merklich gelitten, wenn auch »Mißmut und Resignation« vorerst nur vereinzelt aufgetreten seien. Die Uberforderung insonderheit der Kompaniechefs hatte nach seiner Beobachtung nicht nur die gebotene persönliche Verbindung zu ihren Unterstellten verhindert, sondern auch dazu geführt, »daß die jungen Offiziere und die Unteroffiziere in der Wahrnehmung ihres Dienstes und in der Anwendung der Grundsätze über die innere Führung zu wenig angeleitet und beaufsichtigt werden können«46. Es mutet wie eine versteckte Bestätigung dieser Einschätzung an, wenn die beiden während der eingeräumten Ruhepause abgefassten Zustandsmeldungen des Heeres vielfach eine Festigung des inneren Gefüges feststellten47. Allerdings war diese Atempause nur von kurzer Dauer. Denn die Voraussage Heusingers vom September 1959 bezüglich der Personalentwicklung sollte sich immerhin 45

46 47

BA-MA, BW 2/20038a, ZstBer. 3/59, 28.9.1959, S. 1; ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 - 5 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-13). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 7 (Bundeswehr), waren am Stichtag 7.8.1959 im Heer 6178 Offiziere vorhanden. Damit war angesichts des Heerespersonalumfanges von 134 774 Soldaten der prozentuale Anteil der Offiziere auf 4,58 % zurückgegangen (siehe unten, Tabelle 21). Zum Umfang des Heeres am 7.6.1960 siehe unten Kap. IV, Anm. 51. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, S. 10,12. BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-22); ebd., BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-29).

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insofern bewahrheiten, als sich die zu schmale Personaldecke der Heeresoffiziere zu einem dauerhaften Gravamen entwickelte. Bis zum Sommer 1961 versäumte es keine Zustandsmeldung, dieses Defizit an die erste Stelle zu rücken. Was sich 1959 vielleicht noch mit den besonderen Umständen des Umbaus hatte in Verbindung bringen lassen, drohte sich nunmehr zu einem chronischen Defekt auszuwachsen. Im Frühjahr 1960 musste der Generalinspekteur einmal mehr unterstreichen, dass der »Mangel an Offizieren, Unteroffizieren mit Portepee und längerdienenden Freiwilligen [...] beim Heer auch weiterhin das schwerwiegendste Problem für den Aufbau darstellen« werde48. Nicht eingerechnet die Sanitätsoffiziere, bei denen das Fehl dramatische Ausmaße angenommen hatte49, fehlten tatsächlich dem Heer gegenüber dem bereits abgesenkten »Soll nach StAN im Jahre 1960 [...] 1936 und 1961 [...] 2035 Offiziere«. Als ein damit zusammenhängendes, indessen wiederum nicht als ein eigenständiges Problem erschien dem Führungsstab des Heeres das in den Einheiten nunmehr an »bis zu 60 %« heranreichende Fehl an Feldwebeln. Neben der Sorge wegen des Verschleisses »einiger weniger, nämlich der guten und erfahrenen Offiziere und PortepeeUnteroffiziere«, warnte er nochmals vor den Folgen der notgedrungen eingeführten Aushilfe, »nicht kriegsgediente Offiziere der Eintrittsjahre 1956 und zum Teil 1957 [...] als Kp-Führer« einsetzen zu müssen. Wieder hieß es, dass bei allem erfolgversprechenden »Schwung« hier angesichts fehlender Ausbildung und Erfahrung die Uberforderung drohe. Zugleich sah sich der Führungsstab gezwungen, im Rahmen der Personalgewinnung in eigener Zuständigkeit ergriffene Maßnahmen - wie die Fusionierung von Stabsstellen - zum Teil wieder rückgängig zu machen50. Genau diese Maßnahme aber erwies sich schon nach der nächsten Zustandsmeldung als nur sehr begrenzt realisierbar. Gleichzeitig blickte man mit unveränderter Sorge in die Zukunft: Mit dem Beginn der nächsten Neuaufstellungen am 1. Juli 1960 sah das Heer den Konsolidierungsgewinn, den die auf 48 49

50

BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60,11.4.1960, S. 4. Nach BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58, sollte in allen Teilstreitkräften für Sanitätsoffiziere die Stammnorm von 0,6 % gelten. Mit Ausnahme der Jahre 1957 und 1958, als der Prozentsatz bei Heeressanitätsoffizieren wie in der Bundeswehr überhaupt bei 0,4 % gelegen hatte, erreichte der Anteil der Bundeswehrsanitätsoffiziere wie der Heeressanitätsoffiziere in den Folgejahren bis zum 7.10.1964 immer nur 0,3 %, also die Hälfte des Solls. Luftwaffensanitätsoffiziere kamen von 1957 an nicht über den Anteil von 0,3 % hinaus, 1962 war der Prozentsatz sogar auf 0,2 % zurückgegangen, Marinesanitätsoffiziere hatten von 1961-1963 allerdings einen Anteil von 0,4 %, der sonst bei 0,3 % lag. Da viele Sanitätsoffiziere außerhalb ihrer Teilstreitkraft bei zentralen Sanitätseinrichtungen Verwendung fanden, dürfte deren Anteil in der Truppe noch bedeutend niedriger ausgefallen sein. BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 2 2 ) . Die rückgängig zu machende Zusammenlegung bezog sich hier auf die »Stelle des Chefs der Stabs- und VersKp mit der Stellung des S 4 in den Bataillonen«. Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), verfügte am Stichtag 7.2.1960 das Heer über 6552 Offiziere. Bei einer Personalstärke des Heeres von 152 993 Soldaten lag der prozentuale Anteil der Offiziere damit bei 4,28 % (vgl. unten, Tabelle 23).

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sein Drängen verfügte »Aufstellungspause seit dem Oktober 1959« gebracht hatte, rasch schwinden. In der vom Generalinspekteur weitgehend geteilten Bewertung wurde abermals die »Zahl der Offiziere« als die den Heeresaufbau bestimmende kritische Grenze angegeben. Das 1961 nicht mehr wie bisher zur Verfügung stehende Reservoir »kriegsgediente[r] Offiziere« lasse den eigenen Offiziernachwuchs immer wichtiger werden, der seinerseits aber nicht in hinreichendem Umfang zur Verfügung stehe, sodass 1961 »nicht alle Kompanien [...] einen Leutnant [würden] bekommen können«. Demgegenüber erschien der »Nachwuchs an Unteroffizieren« immerhin »zahlenmäßig«, wenn auch nicht immer der Qualität nach, als »beachtlich«. Trotz des Fehls an Feldwebeln bot sich hier ein günstigerer Ausblick, wenngleich die demnächst wieder einsetzenden Aufstellungen »den Zuwachs wieder abschöpfen« würden. Mehr noch aber zeichnete sich eine Kette des personellen Mangels ab, mit der »die Einsatzfähigkeit des Heeres« auf Dauer gefährdet erschien: Offiziere müssten durch Unteroffiziere, diese durch längerdienende Mannschaften und diese wiederum durch Wehrpflichtige ersetzt werden. Deren Anteil sei aber für ein »hochtechnisiertes Heer« zu groß und deren Stehzeit in der Truppe zu kurz51. Diese Überlegung machte die um die Jahreswende 1960/61 abgegebene Meldung des Heeres erneut zu ihrem zentralen Anliegen: Zwar hatte man der Zahl nach die gesteckten Aufstellungsziele erreicht (drei Korps- und fünf Divisionsstäbe mit zwölf Brigaden) - die Qualität der Truppe hatte mit der Vermehrung des Umfanges nach dem Urteil des Führungsstabes aber nicht Schritt halten können. Unter den obwaltenden Umständen werde man »niemals über einen mittelmäßigen Leistungsstand hinauskommen«. Das Ineinander von Offizier-, Unteroffizier- und Freiwilligenmangel, hoher Personalfluktation und kurzer Grundwehrdienstzeit habe zur Folge, dass die »Masse aller Funktionen [...] qualitativ unterbesetzt« bleibe. Prognosegerecht hatte sich die personelle Situation besonders in der Gruppe der Leutnante und Hauptleute nach dem übereinstimmenden Urteil von Inspekteur und Generalinspekteur einmal mehr »verschlechtert«. Während nach der Übersicht der Personalabteilung die für das Heer geltende Stammnorm mit 5,1 Prozent sogar knapp übertroffen worden war, hatte sich der Anteil der Offiziere in der Truppe selbst in einem gegenüber dem Vorjahr niedrigeren Korridor zwischen 4,28 und 4,40 Prozent bewegt. Wieder schien die Lage des Spätsommers 1959 eingetreten zu sein, die zu einem dreivierteljährigen Aufstellungsstopp gezwungen hatte. Der Führungsstab des Heeres meldete nun, dass ein »weiterer Aufbau des Heeres [...] ohne Besserung der Offiziers-Lage [sie!] nicht mehr möglich« sei. Zur Untermauerung führte er 51

BA-MA, BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, S. 1, 3; ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 - 5 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-29); ebd., S. 4, auch die Feststellung: »Die Personallage wird in Zukunft der entscheidende Faktor für den weiteren Heeresaufbau sein [...] Die Zahl der Offiziere bestimmt, erstmals stärker als die durch das Bauaufkommen gezogenen Grenzen, das Ausmaß des Heeresaufbaues im Jahre 1961.« Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), waren am Stichtag 7.6.1960 6958 Offiziere im Heer vorhanden. Bei einem Heerespersonalumfang von 157 962 Soldaten betrug der Anteil der Offiziere sonach 4,40 % (vgl. Tabelle 24 im Anhang).

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das »jetzt befohlene Offiziers-Notsoll« eines motorisierten Panzergrenadierbataillons an, das »nur vorübergehend tragbar« sei und »zu 100 % erfüllt werden« müsse: Während nach der Kriegs-StAN 27, nach der Friedens-StAN 21 und nach dem Stellenplan 17 Offiziere vorgesehen waren, fiel das »Notsoll« auf 14 Offiziere zurück. Der Führungsstab des Heeres sorgte sich nicht nur um den vorzeitigen Verschleiß des guten Führungspersonals, sondern nun sah auch er die Zunahme einer resignativen Grundstimmung und gleichzeitig einer Dienstauffassung, mit der der Einsatz zunehmend auf die überprüfbare Auftragserfüllung zurückgenommen werde. All dies gehe »vor allem auf Kosten der [...] Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen in den Einheiten«. Angesichts beobachteter »Ermüdungserscheinungen und Abstumpfung« konnte zudem an die »Weiterbildung [...] - auch auf nicht rein militärischen Gebieten« - kaum mehr gedacht werden. Im Bereich der Unteroffiziere und Mannschaften war gleichzeitig trotz steigender absoluter Zahlen - vor allem dank eines vermehrten Interesses an der zweijährigen Verpflichtungszeit - die relative Lücke aufgrund der Neuaufstellungen bestehen geblieben52. Was nach dieser Beurteilung keinesfalls hätte eintreten dürfen - ein Rückgang selbst noch unter das >Notsoll< fand dann doch, wie der Fü Η im Frühjahr 1961 feststellen musste, geradezu regelmäßig statt: Die 6. Panzergrenadierdivision ließ wissen, dass aufgrund urlaubs-, krankheits- oder lehrgangsbedingter Abwesenheiten »das Notsoll ständig unterschritten« werde. Unter Verweis darauf betonte der Führungsstab einmal mehr als Auffassung der »Truppe«, »daß das Notsoll nur für kurze Zeit tragbar« sei und im nächsten Jahr »auf jeden Fall eine Verbesserung eintreten« müsse! Schon jetzt räumte der Führungsstab gleichsam in Fortschreibung der früheren Beobachtung des Wehrbeauftragten »kaum zu meisternde Schwierigkeiten in der Dienstaufsicht« ein, die aus der an-

dauernden Uberbeanspruchung der Offiziere mit den damit einhergehenden »psychischen und physischen Folgen« resultierten. Die in der Meldung des Heeres beklagte weitere >Verschärfung< des personellen Engpasses schlug sich nieder in der fortschreitenden Ausdünnung der rechnerischen Offizierdichte, die am Beginn des sechsten Jahres des Heeresaufbaus auf einen neuen Tiefstand von 4,17 Prozent gefallen war und zum Jahresende dann bei 4,37 % liegen sollte. (Die Statistik der Personalabteilung, die nur Offiziere mit einer Verpflichtungszeit von drei und mehr Jahren erfasste, gab für 1961 einen Anteil von immerhin noch 4,6 Prozent an)53. 52

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BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, S. 2; ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 f., 6 f., 14 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-27). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), dienten am Stichtag 7.12.1960 im Heer 7312 Offiziere. Mithin war der prozentuale Anteil der Offiziere im Heer bei jetzt 167 821 Soldaten noch einmal auf 4,36 % zurückgegangen (vgl. unten, Tabelle 25). Zu den Anteilen in den beiden Vorberichten siehe oben Kap. IV, Anm. 50 f. BA-MA, BW 2/2457, ZstBer. 1/61, 30.5.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 - 5 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 1 3 - Hervorhebung im Original). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), waren am Stichtag 7.3.1961 im Heer 7457 Offiziere vorhanden. Der Offizieranteil am Umfang des Heeres (178 977 Soldaten) war weiter auf 4,17 % geschrumpft (vgl. Tabelle 26); zum Offizieranteil am lahresende vgl. unten Kap. IV,

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Ein wenig überraschend wirkt angesichts solcher schon alarmistisch getönten Meldungen, die immerhin Resignation, mangelnde zwischenmenschliche Beziehungen, erlahmende Weiterbildungsanstrengungen und eine defizitäre Dienstaufsicht beklagt hatten, die etwa zur gleichen Zeit formulierte Bilanz des Wehrbeauftragten, der im Rückblick auf das Jahr 1960 der Bundeswehr eine »bemerkenswerte] Aufbauleistung« bescheinigte. Dies nicht nur hinsichtlich ihrer organisatorischen Entwicklung, sondern auch - unbeschadet der andauernd hohen Personalfluktuation - im Hinblick auf »die Festigung ihres inneren Gefüges«. In seinem Bericht sprach er von »einer bemerkenswerten Festigung der soldatischen Ordnung und Disziplin« und stellte mit »Genugtuung« fest, »daß die Offiziere und Unteroffiziere eine größere Sicherheit in der Anwendung der Grundsätze über die innere Führung gewonnen haben«54. Wie bereits im Vorjahr sah er unter dem Aspekt des Reformkonzeptes die Bundeswehr auf gutem Wege55, sodass der Eindruck entsteht, als habe sich die Binnenverfassung der Streitkräfte trotz fortgesetzter Ausdünnung der für die Verwirklichung des Konzeptes in erster Linie zuständigen Vorgesetzten entlang der von dem Konzept vorgegebenen Bahnen entwickelt. Allerdings hatte der Wehrbeauftragte nicht nur über das Heer zu berichten, sondern auch die Verhältnisse in anderen Organisationsbereichen, so neben dem Heer vor allem auch in den beiden anderen Teilstreitkräften, zu beobachten. Luftwaffe und Marine litten zwar auch unter personellem Mangel, dessen Konsequenzen waren indes nicht deckungsgleich mit den im Heer aufgetretenen. So belastete ein nennenswertes Fehl von Offizieren gleichermaßen den Aufbau der beiden kleineren Teilstreitkräfte. Die Funktionen dieses Führungspersonals waren jedoch z.T. anders gelagert als die der Heeresoffiziere, was nicht zuletzt mit dem höheren Technisierungsgrad von Luftwaffe und Marine zusammenhing, der sich u.a. in dem gegenüber dem Heer in etwa verdoppelten Soll des Offizieranteils niederschlug. Für Offiziere hatte bis 1964 nach den Unterlagen der Personalabteilung die Stammnorm der Luftwaffe 9,4, die der Marine 11,4 Prozent betragen. Bei der Luftwaffe ist diese Vorgabe 1958 zwar noch deutlich übertroffen, danach aber in teilweise erheblichem Maße unterschritten worden. Während die Personalabteilung für 1959 nur noch 7,9 Prozent Truppenoffiziere anführte, bewegte sich der Offizieranteil innerhalb der Luftwaffe selbst mit abnehmender Tendenz zwischen 8,36 und 6,75 Prozent56. Dieser Prozentsatz

54

55 56

A n m . 9 9 ; ferner BA-MA, B W D 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 57 f. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 2666, Der Wehrbeauftragte, 14.4.1961, Jahresbericht 1960, S. 9 (Zitat), 41 f. (Zitate), 43. Vgl. ebd., Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, S. 9. Nach BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 57 f., sollte der Offizieranteil (Truppenoffiziere mit einer Verpflichtungszeit von drei und mehr Jahren) bei der Luftwaffe bis April 1964 9,4 %, danach 8,8 %, in der Marine dagegen 11,4 % ausmachen. 1958 hatte dieser Anteil der Luftwaffenoffiziere insgesamt noch bei 10,1 % gelegen, bevor er 1959 auf 7,9 % zurückging. Innerhalb der Luftwaffe entwickelten sich 1959 Personalumfänge und Offizieranteile nach den jeweiligen Personalübersichten (Bundeswehr) der Zustandsberichte wie folgt:

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

sollte im Folgejahr, in dem er in der Truppe zwischen 6,96 und 6,52 Prozent schwankte, weiter absinken, bis schließlich Anfang 1961 ein Wert von 6,37 Prozent erreicht war - die Angaben der Personalabteilung lagen bei 8,3 (1960) bzw. 7,4 (1961) Prozent57. Damit war in der Luftwaffe eine ähnlich gravierende Unterdeckung hinsichtlich der Offizierstellen gegeben wie im Heer. Und in der Tat klagte die Luftwaffe bereits 1959 und auch später über den Mangel zunächst an Leutnanten und Hauptleuten. Das hierbei vorrangig belastende Problem stellte sich für sie jedoch erst in Verbindung mit »dem für die Luftwaffe ungewöhnlich großen Anteil der Wehrpflichtigen«, deren sachgerechter Einsatz im Sinne einer sinnvollen fachlichen Ausbildung gerade von den Einheitsführern und Staffeldienstoffizieren abhänge58. Dieser Anteil von Grundwehrdienstleistenden lag schon bald in einer Größenordnung von 30 Prozent, was in einer Zustandsmeldung als »schon jetzt an der äussersten Grenze des Vertretbaren« liegend bezeichnet

wurde59. Als besonders erschwerend erschien in diesem Zusammenhang die nur zwölfmonatige Grundwehrdienstzeit. Nach Grund- und Fachausbildung blieben dann häufig nur vier oder fünf Monate für die eigentliche Verwendung in der Truppe. Es war dieser aufgrund verkürzter Stehzeit erhöhte Ausbildungsaufwand für Wehrpflichtige, der in den Augen der Luftwaffenführung »insbesondere für Offiziere und Unteroffiziere der Einheiten und Verbände

Stichtag Luftwaffensoldaten davon Offiziere Offizieranteil

1.2.1959

1.5.1959

7.8.1959

7.11.1959

41 768

46 298

49 608

54 789

3491

3473

3655

3696

8,36 %

7,5 %

7,37 %

6,75 %

Vgl. Tabellen 1 9 - 2 2 im Anhang. Die Entwicklung der Personalumfänge und Offizieranteile innerhalb der Luftwaffe 1960/61: Stichtag Luftwaffensoldaten davon Offiziere Offizieranteil

58

59

7.2.1960

7.6.1960

7.12.1960

7.3.1961

56 848

58 378

62 589

65 676

3708

4061

4176

4186

6,52 %

6,96 %

6,67 %

6,37 %

Vgl. Tabellen 2 3 - 2 6 im Anhang; zu den Angaben der Personalabteilung siehe BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 57 f. BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 1/59, 12.3.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 16 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 16-23); vgl. auch BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, S. 28 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 28-46), wo ein Fehl von 530 Offizieren festgestellt wird. BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 40 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 40-46). - Hervorhebung im Original; vgl. auch BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 29 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 28-46).

360

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

eine außergewöhnliche Belastung« darstellte und sie bereits vor gesundheitlichen Schädigungen der Offiziere warnen ließ60. Gleichwohl glaubte der Führungsstab der Luftwaffe, mitunter sogar recht zuversichtlich in die Zukunft sehen zu können. Seine Prognose vom Sommer 1959, nach welcher sich aufgrund einer gestiegenen Weiterverpflichtungsbereitschaft bei Unteroffizieren und Spezialisten das diesbezügliche Fehl abbauen lassen werde, konnte er bis Ende 1960 zwar nicht mehr aufrechterhalten, als sich der Wehrpflichtigenanteil bei knapp einem Drittel verstetigt hatte61. Gleichzeitig aber berichtete er doch von guten Erfahrungen mit einschlägig vorgebildeten Wehrpflichtigen, was er noch einmal unterstrich, als er die ab 1960 auf technisch qualifizierte Rekruten zielende Einberufungspraxis der Wehrersatzbehörden hervorhob62. Auch der Luftwaffe fehlten zwar Offiziere und technisches Funktionspersonal, auch sie musste Mannschaftsdienstgrade (hier allerdings Zeitsoldaten) als »Ausbilder bzw. Hilfsausbilder« verwenden 63 , gleichwohl aber wirkte sich dies nach den Meldungen des Führungsstabes nicht belastend für das Binnenklima aus. Der »Masse der Wehrpflichtigen« wurde attestiert, sie sei »besten Willens zu positiver Mitarbeit«, und es hieß sogar, dass die »Moral der Truppe allgemein gut« sei54. Anders als die Luftwaffe hatte die Marine noch nicht einmal vor 1958 den vorgesehenen Offizieranteil von 11,4 Prozent erreicht. Nach den Unterlagen der Personalabteilung hatte der Prozentsatz der Truppenoffiziere der Marine mit mindestens dreijähriger Verpflichtungszeit 1956 und 1957 nur bei 10,4 bzw. 10,7 Prozent gelegen. Er ging 1958 wieder auf 10,4 Prozent zurück, fiel 1959 auf 8,8 Prozent, verbesserte sich 1960 auf 9,2 Prozent, um 1961 den bis dahin tiefsten Stand von 8,5 Prozent zu erreichen65. Erwartungsgemäß lagen die Anteile innerhalb der Teilstreitkraft noch niedriger. 1959 bewegten sie sich zwischen 7,58 und 8,33 Prozent, im darauf folgenden Jahr bis zum Frühjahr 1961 sogar zwischen 7,69 und 7,96 Prozent66. 60

61

62

63 64

65

66

BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 23 (Zitat) (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 23-39); BA-MA, BW 2/20038a, ZstBer. 3/59, 28.9.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 15 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 14-18). BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 2/59, 30.6.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 17 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 17-27); BA-MA, BW 2/20038a, ZstBer. 3/59, 28.9.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 14 f. (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 14-18); BA-MA, BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 30-32 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 30-52); BA-MA, BW 2/2457, ZstBer. 1/61, 30.5.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 14 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 14-19). BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 42 f. (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 40-46); BA-MA, BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 30-32 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 30-52). BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 43 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 40-46). BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 23 f. (erstes Zitat) (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 23-39); BA-MA, BW2/20038a, ZstBer. 3/59, 28.9.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 15 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 14-18). BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 57 f. Personalumfänge der Marine und Anzahl der Marineoffiziere nach den Personalübersichten zu den Zustandsberichten der Bundeswehr:

361

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Vor diesem Hintergrund kann die in den Zustandsmeldungen der Marine ständig vorgetragene Klage über das Fehl an Offizieren nicht erstaunen. Hatte es im Sommer 1959 noch 613 unbesetzte Stellen betragen, womit nach dem Vorbericht in etwa ein Defizit von 20 bis 30 Prozent der Stellenbesetzung auf den fahrenden Einheiten einherging, so hatte sich die Lücke Anfang 1960 auf rund 1000 Stellen erweitert. Um die Jahreswende 1960/61 lag sie dann in einer Größenordnung von 600 Dienstposten bei wieder zunehmender Tendenz 67 . Im Zuge des weiteren Aufbaus schien sich das Fehl nur schleppend abbauen zu lassen, zumal es der Marine vor allem an Berufsoffizieranwärtern mangelte68. Wesentlich günstiger fiel demgegenüber die Bewertung des Personalbestandes im Bereich der Unteroffiziere und Mannschaften aus. Zu Beginn des Jahres 1959 wurde er in der Flotte als >ausreichend< eingestuft69. In der Folge wurde zwar auch einmal bei Unteroffizieren und längerdienenden Mannschaften eine spürbare Lücke angemerkt - so im Sommer 1959, was sich erneut Ende 1960 abzuzeichnen schien70. Von diesen Meldungen abgesehen, waren die vom Führungsstab der Marine erstellten Berichte aber überwiegend von Hinweisen auf ein durchaus zufrie-

Stichtag Marinesoldaten davon Offiziere Offizieranteil 67

68

69

70

1.2.1959 1.5.1959 7.8.1959 7.11.1959 7.2.1960 7.6.1960 7.12.1960 7.3.1961 17 770

19 363

20 278

20 787

21 179

21 627

22 938

23 670

1480

1516

1538

1619

1628

1701

1825

1837

8,33 %

7,83 %

7,58 %

7,79 %

7,69 %

7,87 %

7,96 %

7,76 %

Vgl. Tabellen 19-26 im Anhang. BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 1/59, 12.3.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 27 (Zustandsmeldung Marine, S. 24-35); ebd., ZstBer. 2/59, 30.6.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 28 (Zustandsmeldung Marine, S. 28-36); BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 40 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 40-46); BAMA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 47 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 47-61); BA-MA, BW 2/2457, ZstBer. 1/61, 30.5.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen (Zustandsmeldung Marine, S. 20-23); vgl. auch alle weiteren in diesem Abschnitt angeführten Zustandsmeldungen der Marine. BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 2/59, 30.6.1959, Anl. 2: Z u s t a n d s m e l d u n g e n , S. 28 (Zus t a n d s m e l d u n g Marine, S. 28-36); BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Z u s t a n d s m e l d u n g e n , S. 47 ( Z u s t a n d s m e l d u n g Marine, S. 47-55); BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Z u s t a n d s m e l d u n g e n , S. 40 f. (Zustandsm e l d u n g Marine, S. 40-46); BA-MA, BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, Anl. 2: Zus t a n d s m e l d u n g e n , S. 53 f. ( Z u s t a n d s m e l d u n g Marine, S. 53-67); BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, Anl. 2: Z u s t a n d s m e l d u n g e n , S. 47 f. ( Z u s t a n d s m e l d u n g Marine, S. 47-61). BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 1/59, 12.3.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 27 (Zustandsmeldung Marine, S. 24-35). BA-MA, BW 2/20038a, ZstBer. 3/59, 28.9.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 19 (Zustandsmeldung Marine, S. 19-24); BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 47 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 47-61).

362

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

densteilendes Freiwilligenaufkommen und ein absehbar schwindendes Defizit in der Unteroffizierstellenbesetzung gekennzeichnet. Ausgenommen hiervon war lediglich der Nachwuchs an Elektronikern. Der Personalersatz außerhalb der Offizierlaufbahn entwickelte sich dermaßen vorteilhaft, dass im Sommer 1960 die Marine sogar ganz auf die Einberufung von Grundwehrdienstleistenden mit zwölfmonatiger Verpflichtungszeit verzichten konnte71. Ähnlich wie dem Heer drohte der Marine jedoch aufgrund der Lücken in ihrem Offizierkorps nicht nur ein Mangel an Ausbildern72, sondern auch die Einschränkung ihrer Aufstellungsvorhaben73. Dass es hier letztlich doch nicht zu personalbedingten Verzögerungen kam, lag an der offensichtlich noch unbefriedigenderen Entwicklung der materiellen Rüstungsvorhaben. So hatte Ende 1960 die Marine den für sie geplanten personellen Umfang zwar um 2000 Soldaten verfehlt, dies wirkte sich aufgrund der verzögerten Ablieferung von Einheiten aber nicht aus74. Im Unterschied zum Heer und ähnlich den Vorgängen in der Luftwaffe zog das Fehl an Offizieren und Funktionspersonal in der Marine keine Belastung des Binnenklimas nach sich. Die personellen Lücken zeitigten bei den beiden kleineren Teilstreitkräften bis 1961 Aufbau- und Organisationsprobleme, sie brachten ausweislich der Zustandsmeldungen jedoch keine Truppenführungsprobleme mit sich. Mag also sein, dass sich der Wehrbeauftragte bei seiner günstigen Lagebeurteilung auf Beobachtungen in Luftwaffe und Marine abstützen konnte. Desungeachtet bleibt in Anbetracht der schieren Größe des Heeres eine Diskrepanz in den von ihm und dem Führungsstab des Heeres angestellten Bewertungen des inneren Gefüges, die nach griffigen Kenngrößen suchen lässt, die sich als quantifizierende Ergänzung zu den vielfach frei formulierten Beschreibungen anbieten. Hier kann der Rückgriff auf die Besonderen Vorkommnisse zu weiterführenden Aufschlüssen verhelfen. Die Signifikanz solcher Vorfälle für das Binnengefüge der Truppe hatte nicht nur Oberst MüllerLankow in seinem Vortrag vor dem Truppenamt Mitte Dezember 1961 zu erkennen gegeben, als er sie zur Kennzeichnung des Zustandes der Inneren Führung heranzog 75 . Auch markiert es deren Stellenwert für die innere Verfassung der Streitkräfte, dass die für die Innere Führung zuständige Unterabteilung IV Β bzw. Fü Β I während der hier in Rede stehenden Phase der 71

72

73 74 75

Vgl. BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 2/59, 30.6.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 28 (Zustandsmeldung Marine, S. 28-36); BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 47 (Zustandsmeldung Marine, S. 47-55); BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 40 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 40-46); BA-MA, BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 53 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 53-67). BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 1/59, 12.3.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 28 (Zustandsmeldung Marine, S. 24-35). BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 40 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 40-46). BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 47 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 47-61). Vgl. Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 38-40.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

363

Bundeswehrgeschichte in den Zustandsberichten die Zustandsmeldungen der Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche regelmäßig mit einem eigenen Beitrag zu den Besonderen Vorkommnissen ergänzte. Allerdings liefern diese Beiträge der Unterabteilung nur Gesamtübersichten zur Bundeswehr, nicht auch zu ihren einzelnen Teilen. Dies kann jedoch für das Heer noch hingenommen werden, denn es stellte damals mit einem Anteil um 62 Prozent den mit Abstand größten Einzelbereich, sodass cum grano salis auf dieses die Angaben für die Bundeswehr übertragbar waren76. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, in einer Phase des mitunter raschen Aufwuchses die Anzahl der mindestens über einen Dreimonatszeitraum erhobenen Besonderen Vorkommnisse mit einem bestimmten Streitkräfteumfang zu korrelieren, um so zu Trendaussagen gelangen zu können. Diesem Problem kann hier jedoch dadurch Rechnung getragen werden, dass die Zahl der Besonderen Vorkommnisse in Beziehung gesetzt wird sowohl zu der Anfangs- als auch zu der Endstärke des jeweiligen Zeitraumes. Eine Ausnahme hiervon stellt der Sommer 1958 dar, für den lediglich auf die Endstärke zurückgegriffen werden kann, da die korrespondierenden Angaben zur Anfangsstärke nicht vorgelegen haben. Bezogen also auf den Endumfang und umgerechnet auf ein Jahr kamen zum 1. August 1958 für die zurückliegenden drei Monate 57 Soldaten auf ein Besonderes Vorkommnis. Bis Anfang 1959 trat dann eine bemerkenswerte Besserung ein. Zum 1. November 1958 lag die Relation für das zurückliegende Quartal bei jährlich 75 (Endstärke) bzw. 69 (Anfangsstärke) Soldaten je Vorfall, zum 1. Februar 1959 sogar bei 103 bzw. 95 Soldaten pro Vorkommnis. Dieses günstig wirkende Verhältnis sollte sich über das folgende Dreivierteljahr wieder verschlechtern. Auf Jahresbasis gerechnet kam 1959 zum 1. Mai ein Vorkommnis auf 99 bzw. 91 Soldaten, dann zum 7. August auf 87 bzw. 81, schließlich zum 7. November auf 85 bzw. 79 Angehörige der Streitkräfte. Danach schien sich eine Konsolidierung anzubahnen. Zu den beiden nächsten Stichtagen war die günstige Relation des Winters 1958/59 wieder erreicht: Zum 7. Februar 1960 lag sie hinsichtlich des vorangegangenen Quartals bei jährlich 101 bzw. 96 Soldaten je Vorfall, zum 7. Juni für den zurückliegenden Viermonatszeitraum bei 101 bzw. 98 Soldaten. Zum 7. Dezember 1960 allerdings musste im Rückblick auf das letzte Halbjahr wieder eine Verschlechterung verzeichnet werden, die mit einem Verhältnis von 91 bzw. 85 Soldaten je Vorkommnis zwar nicht ganz unbeachtlich erscheinen mochte, die aber noch nicht dramatische Ausmaße angenommen hatte - von der Relation des Sommers 1958 war man jedenfalls noch weit entfernt77. Nach den in den Zustandsberichten 5/58 bis 3/60 enthaltenen Personalübersichten betrug der Anteil des Heeres am Gesamtumfang der Streitkräfte zu den Stichtagen 1.8.1958: 62,5 % - 1.11.1958: 62,6 % - 1.2.1959: 62 % - 1.5.1959: 61,8 % - 7.8.1959: 62,2 % - 7.11.1959: 61,9 % - 7.2.1960: 62,4 % - 7.6.1960: 62,3 % - 7.12.1960: 62 %; siehe Tabellen 1 7 - 2 5 im Anhang. Nach den Ubersichten des Fü Β I über die Besonderen Vorkommnisse wurden für den jeweils zurückliegenden Zeitraum gemeldet:

364

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Alles in allem scheint die Entwicklung der Besonderen Vorkommnisse damit eher die Einschätzung des Wehrbeauftragten zu bestätigen als die von kritischen Diagnosen gekennzeichnete Bewertung des Führungsstabes. Hält man sich nämlich vor Augen, dass die auf den Streitkräfteumfang bezogene relative Häufung der Besonderen Vorkommnisse in dem Dreivierteljahr zwischen Herbst 1959 und Sommer 1960 deutlich zurückging und sich auch danach auf einem immerhin noch günstigeren Niveau hielt als in den sechs Monaten von Mai bis Oktober des Vorjahres 1959, dann spiegelten sich in den Statistiken zu den Besonderen Vorkommnissen sowohl der von der Aufstellungspause ausgehende Gewinn - dies sogar beeindruckend passgenau - als auch die den folgenden Zeitraum mit einschließende günstigere Bewertung des Wehrbeauftragten. Bei näherem Hinsehen ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Denn nicht jedes Besondere Vorkommnis weist auf einen Mangel hin, und selbst unter jenen, die einen solchen anzeigen, lässt sich nicht stets und ohne Weiteres der Zusammenhang mit einem defizienten inneren Gefüge herstellen. Für das genaue Gegenteil eines Mangels stehen die lobenswerten Taten< und die Hilfeleistungen in Katastrophen- und Notfällen. Indessen waren diese Arten Besonderer Vorkommnisse in den Meldungen nicht eben zahlreich vertreten. Im Sommer 1958 war mit 25 einschlägigen Vorfällen bereits die höchste relative Häufung im Untersuchungszeitraum - nämlich auf Jahresbasis (und bezogen auf die Endstärke) 1567 Soldaten je Vorkommnis - erreicht. Zu der niedrigsten relativen Häufung solcher Besonderer Vorkommnisse kam es mit

Zustandsbericht Stichtag Anzahl der Besonderen Vorkommnisse

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

1.8.19581.11.19581.2.1959 1.5.1959 7.8.1959 7.11.1959 7.2.1960 7.6.1960 7.12.1960 682

572

451

509

621

683

607

833

1490

Personalumfang.· Anfangsstärke Endstärke

156 741 170 562 185 030 201 732 216 778 232 144 245 185 253 428 156 741 170 562 185 030 201 732 216 778 232 144 245 185 253 428 270 744

(Zusammengestellt nach den Tabellen 1 7 - 2 5 im Anhang und nach der jeweiligen Anl. 2: Zustandsmeldungen in BA-MA, BW 2/20036, ZstBer. 5/58,11.9.1958, S. 35; ebd., ZstBer. 6/58, 13.12.1958, S. 48 f.; BA-MA, BW 2/20038, ZstBer. 1/59,12.3.1959, S. 44 f.; ebd., ZstBer. 2/59, 26.6.1959, S. 43 f.; BA-MA, BW 2/20038a, ZstBer. 3/59, 28.9.1959, S. 30 f.; BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, S. 65 f.; BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, S. 6 0 - 6 2 ; BA-MA, BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, S. 89 f.; BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, S. 84 f.) Bis einschließlich ZstBer. 1/60 bezogen sich die Angaben auf das zurückliegende Vierteljahr, bei ZstBer. 2/60 auf die zurückliegenden vier Monate, schließlich bei ZstBer. 3/60 auf das zurückliegende Halbjahr. Dementsprechend wurden zur Ermittlung der Anzahl der Soldaten je Vorfall Anfangs- und Endstärke des jeweiligen Berichtszeitraumes durch die bis einschließlich ZstBer. 1/60 mit dem Faktor vier, beim Zustandsbericht 2/60 dann mit dem Faktor drei, schließlich im Falle des Zustandsberichtes 3/60 mit dem Faktor zwei multiplizierte Anzahl der Besonderen Vorkommnisse geteilt. Das gleiche Verfahren diente zur Ermittlung auch der folgenden Häufungen ausgewählter Besonderer Vorkommnisse.

365

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

nur 13 Fällen im Frühjahr 1960, was jährlich ein Vorkommnis auf 6498 (Endstärke) bzw. 6287 (Anfangsstärke) Soldaten bedeutete78. Ebenso wenig lassen das beobachtete Auftreten der Sowjetischen Militärmission< und die extrem seltenen Fälle von Spionage, Sabotage, Zersetzungs- und Infiltrationsversuchen auf Defizite im Binnengefüge der Streitkräfte schließen79. Gleiches gilt für die gegen Bundeswehrangehörige verübten Straftaten, die überdies ebenfalls zu den eher selteneren Besonderen Vorkommnissen rechneten80. Was das Muster des Staatsbürgers in Uniform anging, können die meldepflichtigen Schädigungen des Ansehens der Bundeswehr wie auch die >Hakenkreuzschmierereien< demgegenüber als eindeutige Anzeichen von Fehlent78

Übersicht über die Anzahl der Lobenswerten Taten und Hilfeleistungen in Katastrophenund Notfällen gemäß den von Fü Β I gefertigten Übersichten über die Besonderen Vorkommnisse: Zustandsbericht Anzahl der Lobenswerten Taten usw.

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

25

18

10

8

28

32

12

13

31

5782 6304

1801 1936

1694 1814

4836 5108

6287 6498

4088 4367

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke 79

1567

2177 2369

4264 4626

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77). Übersicht über die Anzahl der Fälle des Auftretens der sowjetischen Militärmission (in ZstBer. 1/60: des Verdachtes landesverräterischer Beziehungen) gem. den von Fü Β I gefertigten Übersichten über die Besonderen Vorkommnisse: Zustandsbericht

5/58 6/58 1/59 2/59 3/59 4/59

Anzahl der Fälle des Auftretens der sowjetischen Militärmission usw.

19

8

13

29

30

1/60 2/60 3/60 5

46

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

4898 3280 1595 1681 1178 11 607 2062 5330 3558 1739 1806 1262 12 259

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77). Übersicht über die Anzahl der gegen Bundeswehrangehörige verübten Straftaten gem. den von Fü Β I gefertigten Übersichten über die Besonderen Vorkommnisse: Zustandsbericht Anzahl der gegen Bundeswehrangehörige verübten Straftaten

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

-

17

11

10

8

18

24

41

36

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

2305 3876 4626 6304 3011 2418 1993 3520 2508 4205 5043 6774 3225 2554 2060 3760

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77).

366

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Wicklungen betrachtet werden. Aber auch diese Vorfälle kamen über marginale Größenordnungen nicht hinaus, die in den drei Monaten zwischen dem 7. November 1959 und dem 7. Februar 1960 mit 18 Vorfällen die größte relative Häufung aufwiesen (3405 bzw. 3224 Soldaten je Fall), um kurz danach, im zweiten Halbjahr 1960, mit neun Fällen auf die niedrigste Häufung zu sinken (15 041 bzw. 14 079 Soldaten je Fall)81. Zahlenmäßig stärker ins Gewicht fielen vor allem anfangs die Zusammenstöße mit Zivilpersonen (im Gegensatz zu den meist seltenen Zusammenstößen mit Soldaten verbündeter Streitkräfte)82. Allerdings sind die Umstände ihrer Verursachung nicht hinreichend geklärt, um Rückschlüsse auf die Binnenverfassung der Truppe zu erlauben. Im Vergleich zu den bisherigen Arten Besonderer Vorkommnisse waren die materiellen Schadensfälle, die substanzielle Schäden an Liegenschaften, Bekleidung, Verpflegung, Waffen, Munition und Geräten einschlossen, hinsichtlich ihrer Aussagekraft für das innere Gefüge eher in einem Grenzbereich angesiedelt. Diese Vorfälle mochten im Sinne höherer Gewalt dem Material selbst zuzuschreiben gewesen sein, in der Verantwortung der Zulieferer oder der versorgenden Stelle gelegen haben oder eben auch durch die nutzende Truppe verursacht worden sein, was dann zumindest an Mängel in der Ausbildung 81

Übersicht über die Anzahl der Fälle von Ansehensschädigungen (und zusätzlich in den Zustandsberichten 1/60 und 2/60 der Fälle von Hakenkreuzschmierereien) gem. den von Fü Β I gefertigten Übersichten über die Besonderen Vorkommnisse: Zustandsbericht Anzahl der Fälle von Ansehensschädigungen usw.

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

11

11

9

6

8

5

9+9

2+6

9

3562

4738

7710

6304 10 839 3224 10 216 14 079

3876

5140

8406

6774 11607 3405 10 560 15 041

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

3562

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77). Übersicht über die Anzahl der Zusammenstöße mit Zivilpersonen/Angehörigen verbündeter Streitkräfte gem. den von Fü Β I gefertigten Übersichten über die Besonderen Vorkommnisse: Zustandsbericht

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

Zusammenstöße mit Zivil- 48/6 personen/Angehörigen verbündeter Streitkräfte

27/6

19/17

19/4

17/4

19/7

23/9

20/7

34/12

2435/ 11564 2654/ 12 608

2967/ 12 608 3118/ 13 549

2852/ 7742 3055/ 8291

2523/ 6448 2665/ 6811

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

1451/ 6531 816/ 1579/ 6531 7107

2244/ 2508 2435/ 2721

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77).

4068/ 3727/ 11675 10 560 4224/ 3982/ 12 068 11281

367

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

und Dienstaufsicht oder Fahrlässigkeit, wenn nicht gar an böswilligen Vorsatz denken lässt. Der Zusammenhang zwischen unzureichender Ausbildung und Schadensfällen ist in den Zustandsmeldungen des Heeres auch angesprochen worden83. Ein Blick auf die Häufungsverteilung einschlägiger Vorfälle legt ihn immerhin nahe: Während der Zeit ausgesetzter Neuaufstellungen, die zur personellen Konsolidierung und inneren Festigung der Einheiten und Verbände genutzt wurde, fiel die relative Häufigkeit von einer Größe im Bereich von jährlich ein- bis zweitausend Soldaten je Fall im November, Dezember und Januar 1959/60 mit nur vier Vorkommnissen auf 15 324 bzw. 14 509 Soldaten je Fall jährlich und lag im folgenden Dreimonatszeitraum mit zehn Vorfällen immerhin bei lediglich 8448 bzw. 8173 Soldaten je Fall. Nach Wiederaufnahme der Neuaufstellungen lag die Häufigkeit wieder bei den früheren, vor der Aufstellungspause aufgetretenen Werten84. Dies deutet auf einen Zusammenhang sowohl mit der vom Führungsstab des Heeres monierten defizitären Dienstaufsicht und der Kürze des Grundwehrdienstes (und damit der Ausbildungszeit) als auch mit der längeren Stehzeit in einer Verwendung während der Aufstellungspause sowie mit der dabei gesammelten größeren Erfahrung mit den besonderen Anforderungen der jeweiligen dienstlichen Umgebung hin. Zur Vorsicht mahnt allerdings die Beobachtung, dass die Verbindung zwischen deutlich verminderten Schadensfällen und einem in dem genannten Sinne vorübergehend konsolidiertem inneren Gefüge nicht durch eine analoge Entwicklung im Bereich der meldepflichtigen Dienstunfälle bestätigt wird. Die relative Häufung dieser der Anzahl nach überwiegend an zweiter Stelle liegenden Vorkommnisse verharrte in einer Größenordnung von etwa fünfhundert Soldaten je Fall jährlich (während gleichzeitig die Häufigkeit der Kraftfahrzeugunfälle außerhalb des Dienstes bei saisonal bedingten Schwankungen keine klare Entwicklungslinie anzeigte)85.

Zu dem Zusammenhang zwischen Schadensfällen und unzureichendem Ausbildungsvorlauf vgl. BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-27). Übersicht über die von Fü Β I zusammengetragenen Schadensfälle: Zustandsbericht Schadensfälle

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

31

22

20

28

40

29

4

10

87

1652 1801

1261 1355

1869 2001

14 509 15 324

8173 8448

1456 1556

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

85

1264

1781 1938

2134 2313

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77). Übersicht über die Unfälle im Dienst/Kfz.-Unfälle außer Dienst gem. den Berichten des FüBI:

368

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Im Gegensatz zu den bislang behandelten Besonderen Vorkommnissen bieten die Fälle von Misshandlungen Untergebener, von Ungehorsam und tätlichen Angriffen auf Vorgesetzte und von sonstigen schweren Disziplinverstößen (wie z.B. Schlägereien unter den Soldaten) recht klare Fingerzeige auf Defizite im inneren Gefüge der Truppe. Die meist von Untergebenen begangenen Verfehlungen - der Fall einer Untergebenenmisshandlung war ein erstes Mal um die Jahreswende 1958/59 berichtet worden, trat bis Ende 1960 selten in mehr als einem Fall je Berichtszeitraum auf und kam dabei nie über eine einstellige Größe hinaus - nahmen von 1958 bis Anfang 1960 zunächst stetig ab. Kam im Sommer 1958 ein derartiger Vorfall noch auf 933 Soldaten, so sank dessen relative Verbreitung bis zur Jahreswende 1959/60 auf eine Relation von einem Fall je etwa 3000 Soldaten. Allerdings kam es im Verlaufe des Jahres 1960 zu einer Trendwende. Denn im Sommer hatte sich das Verhältnis wieder auf ca. 2200 Soldaten je Fall verschlechtert, was dann bis zum Jahresende unverändert blieb86. Diese Entwicklung liegt quer zu Deutungen, die eine Beeinträchtigung der Binnenverfassung der Streitkräfte mit der aufbau- und umgliederungsbedingten Personalfluktuation in Verbindung brachten. Sie stellte anders als der erste Augenschein

Zustandsbericht Unfälle im Dienst/ Kfz.-Unfälle außer Dienst

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

83/72

83/75

65/51

85/59

116/84

122/108

115/80

155/124

245/192

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

472/ 544

472/ 522 514/ 569

656/ 836 712/ 907

544/ 784 593/ 855

435/ 600 467/ 645

444/ 502 476/ 537

505/ 725 533/ 766

527/ 659 545/ 681

517/ 660 553/ 705

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77). Übersicht über Gehorsamsverweigerungen/tätliche Angriffe gegen Vorgesetzte/übrige schwere Disziplinverstöße/Untergebenenmisshandlungen nach den Meldungen des Fü Β 1 zu den Besonderen Vorkommnissen: Zustandsbericht Gehorsamsverweigerungen tätliche Angriffe gegen Vorgesetzte übrige schwere Disziplinverstöße Untergebenenmisshandlungen

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

30 12

14 7 13

7 14 10 1

11 7 6

7 8 7 1

8 7 5 1

6 6 7 1

5 14 13 6

12 27 14 7

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

1153 933 1254

1333 1927 2193 2581 2902 2151 2112 1446 2101 2356 2764 3065 2223 2256

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77).

369

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

bezüglich der Besonderen Vorkommnisse aber auch eine Einrede gegen die optimistisch gehaltene Einschätzung des Wehrbeauftragten dar und stützte stattdessen die demgegenüber pessimistisch getönte Bilanz des Führungsstabes des Heeres. Denn erstens verbesserte sich hiernach die innere Ordnung unter disziplinarem Blickwinkel durchaus auch in der Phase vermehrter Aufstellungen, während umgekehrt die Trendumkehr gerade in der Aufstellungspause einsetzte. Und zweitens zeichnete sich das Jahr 1960 eben nicht durch eine fortgesetzte innere Konsolidierung aus, sondern eher durch deren Gegenteil. Was angesichts der Entwicklung dieser die innere Ordnung in besonderem Maße betreffenden Besonderen Vorkommnisse hier noch offen bleiben muss, ist der mittel- und längerfristige Zusammenhang mit der immer dünner werdenden Offizierdichte in der Truppe. Dagegen nahmen die von Bundeswehrangehörigen begangenen Straftaten darunter Eigentums-, Sittlichkeits- und Verkehrsdelikte - dem Trend nach innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite eindeutig ab (von jährlich 496 Soldaten je Straftat im Sommer 1958 auf 1314 bzw. 1230 Soldaten je Straftat in der zweiten Jahreshälfte I960) 87 . Anders die Anzahl der Selbsttötungen, Selbsttötungsversuche und Selbstverstümmelungen (hier ist es zu einem einzigen Fall 1959 gekommen), die ohne eine signifikante Entwicklungsrichtung innerhalb der Bandbreite der 1960 aufgetretenen Werte schwankte (von jährlich 1724 bzw. 1668 Soldaten je Fall im Frühjahr auf 1101 bzw. 1030 Soldaten je Fall in der zweiten Jahreshälfte)88. Beide Arten Besonderer Vorkommnisse standen mithin Übersicht über die von Bundeswehrangehörigen begangenen (übrigen) Straftaten nach den Meldungen des Fü Β I zu den Besonderen Vorkommnissen: Zustandsbericht Straftaten

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

79

64

53

58

60

72

52

70

103

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

496

612

805

798

841

753

1116

1168

1230

666

873

870

903

806

1179

1207

1314

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77). Übersicht über die Fälle von Selbsttötungen und Selbsttötungsversuchen (und Selbstverstümmelungen) nach den Meldungen des Fü Β I zu den Besonderen Vorkommnissen: Zustandsbericht Selbsttötungen und Selbsttötungsversuche (und Selbstverstümmelungen)

5/58

6/58

1/59

2/59

3/59

4/59

1/60

2/60

3/60

34

37

34 (+1)

44

39

43

44

49

123

1218 1322

1051 1146

1293 1390

1260 1350

1319 1393

1668 1724

1030 1101

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

1153

1059 1152

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77).

370

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

trotz ihres sachlichen Bezuges auf je eigene Weise in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Entwicklung des Binnengefüges der Bundeswehr, was durch die Beobachtung des Wehrbeauftragten gestützt wurde, wonach die Anzahl der Selbstmorde nicht über der in der zivilen Gesellschaft anzutreffenden Verbreitung lag89. Der Verlauf einer letzten Kategorie, die gleichzeitig unter den Besonderen Vorkommnissen prominent vertreten war, wies jedoch wieder recht deutliche Parallelen zu jenen soeben erwähnten Vorfällen auf, die in einer unmittelbaren Beziehung zum Binnengefüge standen - die Entwicklung der Eigenmächtigen Abwesenheiten und Fahnenfluchten. Im Sommer 1958 waren diese Vorkommnisse noch sehr verbreitet, 177 Fälle ergaben umgerechnet jährlich einen Vorfall je 221 Soldaten. Danach setzte ein Rückgang ein, der schließlich im Herbst 1959 mit 121 Fällen einen relativen Tiefstand von 480 bzw. 448 Soldaten je Vorkommnis brachte. Ein Quartal früher als bei den groben Disziplinwidrigkeiten setzte hier die Trendwende ein, in deren Verlauf die Werte des Sommers 1958 zwar nicht erreicht wurden, die Entwicklung sich ihnen aber immerhin merklich annäherte. Im zweiten Halbjahr lag mit 448 einschlägigen Vorkommnissen die Jahresrate wieder bei 302 bzw. 283 Soldaten je Vorfall90. An dieser Stelle kann zunächst eine differenziertere Bilanz gezogen werden. Gewiss bedarf es keiner großen Fantasie, sich die Probleme im Zusammenwachsen der Verbände und Einheiten und in deren effektiver Ausbildungsgestaltung vorzustellen, welche die immer noch rasche Aufstellung und gleichzeitige Umgliederung dem Heer bereitet haben mussten. Diese Unruhe wirkte sich augenscheinlich spürbar auf die Entwicklung der Sachschäden aus, wo eine längere Verweildauer auf dem Dienstposten eine sachgerechtere Handhabung des Materials und bessere Ausbildungsergebnisse zur Folge gehabt haben mochte. In diesem Sinne konnte der Führungsstab des Heeres in Anbetracht der beständigeren personellen Konstellationen in den Einheiten während der ersten Jahreshälfte 1960 auch eine Konsolidierung des inneren Gefüges notieren. Im Bereich jener Besonderen Vorkommnisse jedoch, die wie die unerlaubte Entfernung oder die grobe Disziplinwidrigkeit als besonders signifikant für den Zu-

89

90

Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, S. 38. Ubersicht über die Fälle von Fahnenflucht und Eigenmächtiger Abwesenheit nach den Meldungen des Fü Β I zu den Besonderen Vorkommnissen Zustandsbericht

5/58

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1/59

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3/59

4/59

1/60

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3/60

Fahnenflucht und Eigenmächtige Abwesenheit

177

162

100

114

137

121

145

245

448

426 463

406 462

368 396

448 480

400 423

334 345

283 302

Soldaten je Fall (jährlich), bezogen auf die: Anfangsstärke Endstärke

221

242 263

(Nachweise und Berechnungsgrundlagen wie in Anm. 77).

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

371

stand der inneren Ordnung angesehen werden können, traten besondere Auswirkungen der erhöhten personellen Fluktuation zunächst nicht merklich in Erscheinung. Demgegenüber lässt sich eine Verbindung zwischen der voranschreitenden Verringerung der Offizierdichte und einer Verschlechterung des Binnenklimas nicht ganz von der Hand weisen. Als die Unterbesetzung der für die Innere Führung zentralen Truppenoffizierstellen scheinbar chronische Züge anzunehmen begann, stiegen auch die mit dem inneren Gefüge besonders eng verbundenen Verstöße wieder an. Die Plausibilität jener Deutung wie auch das Gewicht der beklagten Kürze der Ausbildungszeit müssen sich indessen anhand einer Betrachtung der weiteren Entwicklung erst noch erweisen, die nämlich hinsichtlich des Personals zunächst einen überraschenden Verlauf nahm. Denn ganz unverhofft kam es 1961 zu einer (kurzfristigen) Trendwende und Entspannung ganz allgemein der personellen Situation aller Teilstreitkräfte und damit auch der Offizierlage des Heeres. Geschuldet war die Verbesserung den »Sondermaßnahmen«, die auf den Mauerbau am 13. August 1961 folgten. Im Wesentlichen handelte es sich hierbei um die jeweils dreimonatige Verlängerung der Dienstzeit, die zweimal - nämlich am 12. September und am 27. November - »für ausscheidende Wehrpflichtige und Zeitsoldaten« verfügt worden war und die schließlich in die am 8. Dezember 1961 von der Bundesregierung eingebrachte und am 22. Februar 1962 vom Bundestag beschlossene Heraufsetzung der Grundwehrdienstzeit von zwölf auf 18 Monate (mit Wirkung vom 1. April 1962) einmündete 91 . Die mit dem Bau der Berliner Mauer eingeleitete Krise hatte damit einem langen Drängen in erster Linie des Heeres doch noch zum Erfolg verholfen. Unter Berücksichtigung des innenpolitisch Durchsetzbaren hatte Adenauer am 14. September 1956 dem Verteidigungsministerium und vor allem dessen militärischer Spitze die Verringerung der Dauer des Grundwehrdienstes von ursprünglich 18 auf zwölf Monate abgenötigt. Der militärische Sachverstand hatte sich damals unter der Voraussetzung eines höheren Freiwilligenanteils mit dieser Reduzierung einverstanden erklären können 92 . Eine im Vorfeld der Entscheidung noch mit dem Umfang von 524 109 Soldaten rechnende Studie hatte unter den Kriterien >PotenzialAusbildung< und >Einsatzbereitschaft< in der Anhebung des Freiwilligenanteils den einzigen militärisch vertretbaren Lösungsweg gesehen und »hinsichtlich der Schlagkraft der Truppe« beim Heer sogar dessen »Verdoppelung« verlangt, um »einen [...] gerade noch befriedigenden Ausbildungsstand zu erzielen«93. Der gewünschte Freiwilligenanteil aber ließ sich trotz der wenig später von Strauß angeordneten drastischen Beschneidung des Streitkräfteumfanges in den folgenden Jahren - wie bereits ausgeführt worden ist - nicht reali91 92

93

Vgl. Verteidigung im Bündnis, S. 474. Zur Entscheidung für die zwölfmonatige Wehrpflicht sowie zu deren innen- wie auch bündnispolitischen Bedingungen und Auswirkungen vgl. Α WS, Bd 3, S. 538-552, dort in erster Linie S. 540 f. (Beitrag Ehlert). Vgl. BA-MA, BW 2/1827, IV D 2, Untersuchung der Auswirkung des zwölfmonatigen Grundwehrdienstes auf die personelle Ergänzung und die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, 27.8.1956, Zitat S. 5.

372

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

sieren. Unerachtet der auch für die Luftwaffe damit einhergehenden Belastungen hatte insbesondere das Heer sich daher mit der zwölfmonatigen Dauer des Grundwehrdienstes nicht anfreunden können. Die Lücke bei den Längerdienenden hatte derart gravierende Ausmaße angenommen, dass im Frühjahr 1960 der Führungsstab des Heeres die Überlegung des I. Korps ohne weiteren Kommentar zum Bestandteil seiner Zustandsmeldung gemacht hatte, »daß die ausreichende Ausbildung einer hochtechnisierten Truppe - insbesondere einer solchen, die angesichts der in der Wirtschaft gebotenen Möglichkeiten nicht über genügend Freiwillige verfüg[e] - in einer einjährigen Wehrpflichtdienstzeit auf die Dauer nicht durchführbar« sei. Man werde unbeschadet »aller bekannten politischen und psychologischen Schwierigkeiten [...] um die Einführung einer IV2-J ährigen Wehrpflichtdienstzeit nicht herumkommen« 94 . Schon bei nächster Gelegenheit, welche die periodische Berichterstattung bot, hatte sich der Generalinspekteur das erneut vom Heer vorgetragene Anliegen einer eineinhalbjährigen Dauer des Grundwehrdienstes zu eigen gemacht und es bis zum Sommer 1961 - wie auch das Heer selbst - fortgesetzt vorgebracht, Foertsch schloss hier nahtlos an die Bemühungen seines Vorgängers Heusinger an95. Wie sich jedoch bald erweisen sollte, war die Verlängerung der Grundwehrdienstzeit auf eineinhalb Jahre nicht nur ein Segen. Zwar notierte der Führungsstab im Zusammenhang mit der verlängerten Stehzeit »die zunehmende Festigung des Gefüges der Truppe«. Und obwohl die um die Hälfte verlängerte Grundwehrdienstpflicht den Unmut über die mit dem Losverfahren gegebene Ungleichheit unter den tauglich Gemusterten verschärfte - eine Klage, die auch in den folgenden Zustandsmeldungen wiederkehrte - , glaubte der Fü Η den von der Verlängerung Betroffenen die von der Sache her angemessene Einsicht bescheinigen zu dürfen 96 . Auch konnte diese Maßnahme ohne Frage dazu beitragen, beim Heer das Bedarfsdeckungsproblem hinsichtlich der Mannschaften in Spezialistenfunktionen zu entschärfen. Gleichzeitig aber warf die mit der verlängerten Dienstzeit einhergehende erhöhte Anzahl an Mannschaften umso dringlicher die Frage der Vorgesetztendichte auf. Kurzfristig ließ sich dieses Problem jedoch umgehen. Denn zu den unmittelbaren Auswirkungen der im Zusammenhang des Mauerbaus ergriffenen »Sondermaßnahmen« zählte nicht 94

95

96

BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S.3f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2-22). BA-MA, BW 2/2455, ZstBer. 2/60, 8.8.1960, S. 3; vgl. auch ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S.2-29); BA-MA, BW 2/2456, ZstBer. 3/60, 27.2.1961, S. 2, und ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 5, 7 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-27); BAMA, BW 2/2457, ZstBer. 1/61, 30.5.1961, S. 2, und ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-13). Vgl. BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 f. (Zitat), 6 f., 11 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-38); zur weiteren Kritik an dem Losverfahren vgl. BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 5 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-31); BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-29); BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 6 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-36); BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-16).

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

373

zuletzt eben auch »die vorübergehende Einbehaltung von fast 2000 [tatsächlich waren es 1834] Offizieren«, die zur Entlassung herangestanden hatten97. Besonderen Gewinn brachten hierbei jene mit der Dienstzeitverlängerung in größerer Zahl verfügbar gewordenen Wehrpflichtigen, die in die Laufbahn von Reserveoffizieranwärtern eingesteuert worden waren, dabei den verlängerten Grundwehrdienst von 15 oder 18 Monaten gewählt hatten und nach 18 Monaten zum Reserveoffizier befördert werden konnten98. Mit ihrer Intelligenz und dem ihnen attestierten Einsatzwillen wogen die »Leutnante der Reserve (W 18)« in den Augen des Führungsstabes ihre »Unerfahrenheit als Ausbilder und Zugführer« in ausreichendem Maße auf. Bei einer Übertragung der Dienstzeitverlängerung auf die Zeitsoldaten, die sonst in der ersten Jahreshälfte 1962 ausschieden, könne diese »vorübergehend[e] [...] Entlastung« zumindest bis Mitte des Jahres erhalten bleiben. Die Fortsetzung des Heeresaufbaus in der zweiten Jahreshälfte 1962 werde aber »die Offizierlage wieder auf das Notsoll zurückfallen« lassen. Unbeeinflusst von der eingetretenen Besserung blieb für das Heer, das in den zurückliegenden zehn Monaten zwischen dem 7. Dezember 1960 und dem 7. Oktober 1961 von 168 877 Soldaten (167 821 nach vorangegangenem Zustandsbericht) um ein gutes Drittel auf 233 361 angewachsen war und 1961 neben der Aufstellung von vier zusätzlichen Divisionsstäben die Anzahl der Brigaden von zwölf auf 25 mehr als verdoppelt hatte, die Beseitigung des Defizits an Offizieren das Problem ersten Ranges: »Entscheidend für den weiteren Heeresaufbau ist die Offizierlage.« Dagegen erschien die Lücke im Unteroffizierkorps trotz des Umstandes, dass die mit den dreimonatigen Verlängerungen verbundene Vermehrung der Mannschaften die Relation von Unteroffizieren und Mannschaften auf 1 zu 13 hatte absinken lassen, wiederum als keineswegs so besorgniserregend, denn hier glaubte man bei der anstehenden Ausdehnung des Grundwehrdienstes auf 18 Monate mit den ältesten, sich in ihrem letzten Dienstquartal befindenden Mannschaften in Gestalt von >Hilfsausbildern< zur Not eine tragfähige Teillösung zur Hand zu haben, wenngleich damit das Defizit an weiter qualifizierten längerdienenden Unteroffizieren nicht ausgeglichen werden konnte99. Noch Anfang 1963 sollte der soeben in sein Amt eingeführte Verteidigungsminister von Hassel vor dem Verteidigungsausschuss mit der verlängerten Grundwehrdienstzeit die Erwartung einer >Entspannung< der Unterführerlage verbinden100.

97 98 99

100

BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, S. 1 f. Vgl. zu deren Laufbahn Taschenbuch für Wehrfragen, 4 (1960/61), S. 4 7 0 - 4 7 3 . BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3, 5, 7 - 1 0 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 3 8 - Hervorhebungen im Original). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), waren am Stichtag 7.11.1961 - die im Text zitierten Angaben des Heeres bezogen sich auf den Stichtag im Oktober - im Heer unter insgesamt 230 979 Soldaten unter Einschluss der >einbehaltenen< Wehrübenden 10 095 Offiziere vorhanden (vgl. unten, Tabelle 27). Die Besserung der Offizierlage schlug sich damit in dem noch keineswegs dramatischen Anstieg des Offizieranteils auf 4,37 % nieder. Vgl. die Bemerkung Hassels im Verteidigungsausschuss, BA-MA, BW 1/54952, Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuß für Verteidigung, 33. Sitzung, 14.2.1963, S. A 52.

374

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Die vom Führungsstab des Heeres favorisierte Aushilfe in Gestalt der kurzdienenden Vorgesetzten konnte der neue Wehrbeauftragte indes nicht ohne Vorbehalt begrüßen. Vizeadmiral a.D. Hellmuth Heye, der am 8. November 1961 die Nachfolge des am 14. Juli zurückgetretenen Grolman angetreten hatte, teilte gewiss in Vielem die Ansichten der militärischen Spitze. Auch er bescheinigte den von der Dienstzeitverlängerung Betroffenen eine verständnisvolle Akzeptanz der >Sondermaßnahmen< und machte sich im Sinne einer Linderung der mit dem Losverfahren verbundenen Ungleichbehandlung zum Anwalt einer »Wehrsteuer«. Allerdings sah er anders als die militärische Führung des Heeres auch das Fehlverhalten nicht zuletzt von jungen Unteroffizieren und Offizieren. In diesem Zusammenhang sorgte er sich wegen deren jugendlicher Unerfahrenheit und der zu kurzen Ausbildung. Bei allen konzedierten Fortschritten hinsichtlich des inneren Gefüges und bei allen eingeräumten Belastungen durch den organisatorischen Ausbau und die Erfordernisse der modernen Ausrüstung war für ihn die gediegenere Bildung der Vorgesetzten notwendig, um den Grundsätzen der Inneren Führung zu dem Stellenwert zu verhelfen, der ihnen zwar neben dem äußeren Aufbau zukam, den sie aber nach seiner Auffassung noch nicht hatten. Um die Innere Führung war es nach dem Bericht des zweiten Wehrbeauftragten noch nicht zum Besten bestellt101. Wie aber sollte sich die geforderte >Bildung< bei jenen Vorgesetzten mit kurzer Verpflichtungszeit realisieren lassen, in die der Führungsstab des Heeres seine Erwartungen gesetzt hatte? Bis auf Weiteres standen diese Probleme jedoch nicht auf der Tagesordnung des Führungsstabes des Heeres, der zunächst damit konfrontiert war, dass sich seine Hoffnungen auf eine auch nur etwas längere Fortführung der Einbehaltungspraxis hinsichtlich der Vorgesetzten nicht erfüllten. Soweit es Zeitsoldaten betraf, wurde davon mit Rücksicht auf innenpolitische Erwägungen nach dem ersten Quartal 1962 abgesehen - der Grundwehrdienst war demgegenüber zum 1. April auf eineinhalb Jahre verlängert worden102. Bei allen Gewinnen, die im Nachhinein aus Sicht des Heeres infolge der »Fortführung der Sondermaßnahmen, die der 13. August auslöste«, für das »Gefüge der Verbände« zu verzeichnen waren - hier war gerade auch die Rede von einer gefestigten Disziplin - , und trotz der zeitlich begrenzten Weiterverpflichtungen der Reserveoffiziere, welche »dem aktiven Offizierkorps auf der unteren Ebene eine spürbare Entlastung« gebracht hätten, stand man »nunmehr erneut der vollen Härte des Notsolls gegenüber«. In den zwei Monaten zwischen dem Jahresende 1961 und dem 1. März 1962 war mit der Bildung dreier weiterer Divisionsstäbe der organisatorische Führungsrahmen für drei Korps und zwölf Divisionen errichtet und gleichzeitig das Heer um sechs auf 31 Brigaden vermehrt worden. Hatten die >Sondermaßnahmen< auf der einen Seite zur beschleunigten Assignierung von

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102

Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/371, Der Wehrbeauftragte, 27.4.1962, Jahresbericht 1961, S. 3, 30-32. BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, S. 2, und Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-31).

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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Verbänden beigetragen, so ließ deren Verstetigung - soweit die Mannschaften betroffen waren - mit der verlängerten Dauer des Grundwehrdienstes auf der anderen Seite »das Heer [in naher Zukunft] erneut um etwa 30 000 Mann anwachsen«. Die Sorgen des Heeres gerade über die Offizier läge - hinsichtlich der anderen Laufbahngruppen war der Sachstand im Wesentlichen unverändert waren durchaus begründet, auch wenn der Generalinspekteur auf die Entlastung verwies, die mit den Reserveoffizieranwärtern mit zweijähriger Verpflichtungszeit zu erwarten war, die im letzten Quartal ihrer Dienstzeit als Leutnante verwendet werden konnten. Denn schon Anfang März 1962 hatte sich der Offizieranteil im Heer wieder dicht der Marke von 4 Prozent genähert103. (Die Unterlagen der Personalabteilungen bezifferten für 1962 - allerdings ohne Einrechnung der Offiziere mit nur zweijähriger Verpflichtungszeit den Anteil der Heeresoffiziere auf 4,1 Prozent, die einschlägigen Zustandsmeldungen des Fü Η gaben unter Einbeziehung der Kurzdiener einen Korridor von 4,13 bis 4,1 Prozent an.) Ein halbes Jahr später war das Heer um weitere 15 000 Soldaten angewachsen. Das fortbestehende »Notsoll« wurde »als unerträgliche Belastung« bezeichnet, »da es in der Praxis durch Kommandierungen, Krankheit und Urlaub wesentlich unterschritten« werde. Das Heer drängte darauf, zur Linderung zielgerichtet auch die um 30 Prozent gewachsene Bereitschaft von jungen Reserveoffizieren zu nutzen, sich in die Laufbahn der Berufsoffiziere übernehmen zu lassen. Diesem Ausweg stand indes der Generalinspekteur in Anbetracht der wesentlich knapperen Ausbildungszeit des Reserveoffiziers nicht ohne Skepsis gegenüber 104 (der lehrgangsgebundene Ausbildungsanteil

103

104

Ebd., S. 3, der Verweis auf »eine Entspannung in der Offizierlage [, die] durch die verhältnismäßig hohen Verpflichtungszahlen von R O A (Z 2) eintreten [werde], da diese nach 21 Monaten als Leutnante im Truppendienst zur Verfügung« stünden. Angaben z u m organisatorischen Ausbau ebd., S. 12, mit Vergleichsangaben für den Stand 31.12.1961, BAMA, B W 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 5 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 3 8 ) . Sodann B A - M A , B W 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2 - 7 (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 3 1 ) . Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), waren a m Stichtag 7.3.1962 im Heer bei insgesamt 235 860 Soldaten unter Einschluss der >einbehaltenen< Wehrübenden 9730 Offiziere vorhanden (vgl. unten, Tabelle 28). Sonach war der Offizieranteil im Heer noch vor der absehbaren Vermehrung der Mannschaften im Zuge des Überganges zu einer 18-monatigen Grundwehrdienstzeit wieder auf 4,13 % zurückgefallen. B A - M A , B W 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, S. 3: »Die v o m Heer durchgeführte und weiterhin geplante Ü b e r n a h m e von Leutnanten der Reserve in die Laufbahn der Berufsoffiziere ist wegen der damit verbundenen Entspannung der Offz-Lage und Minderung des Notsolls zu begrüßen. Andererseits gebe ich jedoch zu bedenken, daß an ReserveoffizierAnwärter während ihrer Ausbildungszeit unter Umständen nicht die gleichen Anforderungen wie an aktive Offizieranwärter gestellt werden. Es m u ß daher bei der Übernahme von Leutnanten der Reserve zu Berufsoffizieren geprüft werden, ob diese Anwärter bezüglich ihrer soldatischen Leistungen, ihres Ausbildungsstandes und ihrer charakterlichen Eignung dem Durchschnitt der aus der aktiven Ausbildung hervorgehenden Offiziere entsprechen.« Siehe ferner ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2, 5 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2 - 2 9 ) . Zu den Ausbildungsgängen der Offiziere des Heeres vgl. die Übersichten in Taschenbuch für Wehrfragen, 4 (1960/61), S. 110 f., und Taschenbuch für Wehrfragen, 5 (1963/64), S. 114 f.; zu den Offizieranteilen vgl. B A - M A , B W D 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01

376

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

dauerte zwischen 1960 und 1963 für Reserveoffiziere in etwa ein halbes Jahr, für Berufsoffiziere hingegen über eineinhalb Jahre). In der sich am Beispiel zwar nicht der Einrichtung des Reserveoffiziers selbst, hingegen aber seines umstandslosen Statuswechsels abzeichnenden Alternative zwischen Anzahl und Eignung der jungen Vorgesetzten wollte Foertsch sich nicht ohne Weiteres zugunsten der quantitativen Bedarfsdeckung festlegen. Bei solcher Akzentverlagerung auf die Qualität hätte er sich nicht nur auf die im Vorjahr geäußerten Besorgnisse Heyes berufen, sondern auch durch dessen vier Monate später vorgelegten Rückblick auf das Jahr 1962 bestätigt sehen können. Darin nämlich hatte der Wehrbeauftragte vor einer auch in der Bundeswehr anzutreffenden Auffassung gewarnt, nach der mit dem unterstellten »Bedürfnis der Mehrzahl der Menschen, geführt zu werden, ein Leitbild wie das des selbstverantwortlichen Staatsbürgers zu idealistisch sei«. Den in diesem Zusammenhang kritisierten Offizieren, die »sich auf das rein Militärische« beschränkten, hielt er schwerwiegende Versäumnisse in der staatsbürgerlichen Bildung vor (ein Vorwurf, der zusammen mit dem Monitum des Vorjahres auch den der zu kurzen Ausbildung der Vorgesetzten selbst einschloss). Nach wie vor bedurfte das innere Gefüge der Truppe in Bezug nicht nur auf die Quantität, sondern gerade auch die Qualität von Offizieren und Unteroffizieren nach seinem Bericht noch der »Festigung«105. Das Heer indessen sah sich unter dem Diktat unzureichender Zahlen, und eine Entlastung war umso weniger zu erwarten, als der Bundeswehrumfang nach der Planung von 1962 bis zum 31. Dezember 1964 auf 455 000 Soldaten zunehmen sollte106. Am Ende der 1960er-Jahre sollten in den Streitkräften sogar 520 000 Soldaten dienen107. In diesem Zusammenhang blickte man mit Sorge eben nicht nur auf die Entwicklung des Offizierkorps. Denn erstmals erschien 1962 in jener Meldung, in der das Heer für die Übernahme von Reserveoffizieren in die Berufsoffizierlaufbahn warb, das sich mehr und mehr auswirkende Fehl an Unteroffizieren als in etwa gleichrangig bewertetes Gravamen. Die trotz des Zuwachses des Unterführerkorps in absoluten Zahlen (um 1175 Unteroffiziere von 42 291 [42 289 nach vorangegangenem Zustandsbericht, F.N.] am 7. März 1962 auf 43 466 am 7. Oktober 1962) angesichts der Heeresvergrößerung zu verzeichnende relative Verminderung lasse eine Unterschreitung »des derzeitigen Standes von durchschnittlich 70-80 % des Friedens-Solls« befürchten. Der Führungsstab notierte hier Überlastungen »wie bei den Offizieren« - und dies, obgleich durch die Verlängerung des Grundwehrdienstes auf 18 Monate

TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58 f., sowie die vorangegangene Anm. und unten Kap. IV, Anm. 108. Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/371, Der Wehrbeauftragte, 11.4.1963, Jahresbericht 1962, S. 27 f. 106 Vgl. jig Angabe des Verteidigungsministers von Hassel im Verteidigungsausschuss, BAMA, BW 1/54955, Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuß für Verteidigung, 89. Sitzung, 7.10.1964, S. A 10. 107 Vgl. die Erklärung Hassels im Verteidigungsausschuss, BA-MA, BW 1/54952, Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuß für Verteidigung, 33. Sitzung, 14.2.1963, S. A 11 f. 105

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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und mehr noch durch den dadurch bedingten deutlichen Anstieg von Soldaten mit einer zweijährigen Verpflichtungszeit die zuvor einkalkulierte Aushilfe in Gestalt der >HilfsausbilderBeirat für Fragen der inneren Führung< wissen, »daß der Personalmangel innerhalb der Bundeswehr in gleicher Weise bei Offizieren wie bei Unteroffizieren« bestehe, »daß aber die absolute Zahl des Fehls an Unteroffizieren besonders alarmierend sei«111. Damit übereinstimmend fand sich jener Tenor, der den Mangel an Unteroffizieren 108

109

110

111

BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3, 5, 7 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2-29). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), dienten am Stichtag 7.10.1962 im Heer unter Einschluss der >einbehaltenen< Wehrübenden bei insgesamt 251 475 Soldaten 10 308 Offiziere (einschließlich 339 Sanitätsoffiziere; vgl. unten, Tabelle 29). Damit war der Offizieranteil im Heer wieder auf 4,1 % gefallen. Hinsichtlich der Unteroffiziere war der Hoffnung auf eine Entlastung durch >Hilfsausbilder< davor auch Ausdruck gegeben worden: BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 7 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-31). Kai-Uwe von Hassel (1913-1997), Kaufmann, MdB 1953/54, 1965-1980 (CDU). 1940-1945 Kriegsteilnehmer (zuletzt Leutnant), 1947 Bürgermeister in Glücksburg, ab 1950 MdL Schleswig-Holstein, 1954-1963 Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, 1963-1966 Bundesminister der Verteidigung, 1966-1969 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 1969-1972 Präsident des Deutschen Bundestages, 1972-1976 Vizepräsident des Bundestages, 1979-1984 Mitglied des Europäischen Parlaments; im Wesentlichen nach Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bd 1, S. 310 f. Vgl. die Aussagen von Hassel im Verteidigungsausschuss, BA-MA, BW 1/54955, Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuß für Verteidigung, 89. Sitzung, 7.10.1964, S. A 10, sowie die nachfolgende Anm. Erklärungen von Hassel und Gumbel, BA-MA, BW 1/5651, Fü Β 14, Kurzprotokoll über die Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 25.10.1963 in Bonn, 25.10.1963, S. 2; ebd., Fü Β I 4, Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 17.1.1964 in Bonn, 1.2.1964, S. 9.

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gegenüber dem Defizit im Offizierkorps als wenigstens gleichermaßen einschneidendes Problem charakterisierte, auch im ersten Zustandsbericht von 1963. Für Ausbildungsdienst und Dienstaufsicht hatte sich in den Augen des Führungsstabes des Heeres bei einer immer noch >befriedigenden< Disziplin die Unterbesetzung in beiden Korps bereits wieder als spürbare Beeinträchtigung erwiesen. Während indes die »Zahl der Offiziere [...] auf der Höhe des Notsolls« stagnierte, war bei den Unteroffizieren die tatsächliche Stellenbesetzung im Feldheer im Vergleich zum Friedens-Soll mit jetzt nur noch 64,4 Prozent (74,8 Prozent unter Einschluss der Unteroffizieranwärter) gegenüber dem Vorbericht weiterhin rückläufig. Obwohl damit der Unteroffiziermangel unter den den weiteren Heeresausbau begrenzenden Faktoren mit an die erste Stelle rückte, lag das Schwergewicht der zur Personalbedarfsdeckung ergriffenen Maßnahmen augenscheinlich aber immer noch auf der Verringerung der Offizierlücke. So wurde angesichts des Potenzials, das die vermehrt zur Verfügung stehenden Reserveoffizieranwärter und Leutnante mit einer Verpflichtungszeit von lediglich zwei Jahren und deren gestiegenes Interesse an einer Weiterverpflichtung angesichts der rückläufigen Zahlen der Zeit- und Berufsoffizieranwärter boten, die Zahl der als Wehrpflichtige beziehungsweise kurzdienende Zeitsoldaten eingezogenen oder eingestellten Abiturienten erhöht. Diese Praxis fand diesmal trotz der absehbaren weiteren Verschärfung des Engpasses bei den Unteroffizieren, deren Qualität zugleich zunehmend in Frage gestellt erschien, die ausdrückliche Billigung des Generalinspekteurs 112 . Sie wurde auch über das nächste halbe Jahr fortgesetzt, auch wenn das Heer mittlerweile unter den fortgesetzt mit höchster Priorität zu verfolgenden »Maßnahmen zur Verbesserung der personellen Substanz« vor allem solche zur Anhebung des »Unteroffizieranteils« einforderte. Der auf zu niedrigem Niveau sich einpendelnde Offizieranteil - 1963 lag er nach der Ubersicht der Personalabteilung ohne Einbeziehung der Kurzdiener zwar wieder bei 4,3 Prozent, doch die Zustandsmeldungen des Heeres ergaben selbst unter Berücksichtigung der Kurzdiener einen Korridor von 4,15 bis 4,18 Prozent - , vor allem aber das Unvermögen, ohne die Leutnante mit zweijähriger Verpflichtungszeit das »Notsoll« abdecken zu können, sowie die unbeschadet ihrer kürzeren Ausbildung auf diese Offiziere sich richtenden Hoffnungen auf Übernahmen in das Berufsoffizierkorps führten zu der Entscheidung, »die Zahl der einzustellenden Abiturienten weiterhin so hoch wie nur irgend tragbar zu halten«113. Welche 112

113

BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, S. 2, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3, 7-12, 14 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-36). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), dienten am Stichtag 7.3.1963 im Heer bei insgesamt 250 039 Soldaten unter Einschluss der >einbehaltenen< Wehrübenden 10 447 Offiziere (einschließlich 372 Sanitätsoffiziere; vgl. unten, Tabelle 30). Demnach bewegte sich der Offizieranteil im Heer noch bei 4,18 %. BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 2, 4 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2-16). Nach ebd., Anl. 1: Personalübersicht, S. 2 (Bundeswehr), dienten am Stichtag 7.9.1963 im Heer unter Einschluss der >einbehaltenen< Wehrübenden bei insgesamt 251 140 Soldaten 10 424 Offiziere (einschließlich 350 Sanitätsoffiziere; vgl. Tabelle 31). Mithin verminderte sich der Offizieranteil im Heer auf 4,15 %; vgl. ferner zu

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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Konsequenzen dies indes inzwischen für die Truppe zeitigte, führte eine um die gleiche Zeit, im Frühherbst 1963, erstellte Studie der Personalabteilung eindrucksvoll vor Augen. Sie schilderte die Lage in einem Panzergrenadierbataillon, dessen »Iststärke« sich auf 96 Unteroffiziere belief. Gegenüber dem Soll von 171 stellte dies bereits ein Fehl von 43 Prozent dar. Tatsächlich im Dienst befanden sich jedoch noch weit weniger. Elf waren urlaubs- und krankheitsbedingt, weitere 28 aufgrund von Kommandierungen abwesend. Dem Bataillon standen demnach nur 57 Unteroffiziere zur Verfügung, also genau ein Drittel des Solls. Noch schlimmer war die Situation im Ausbildungsdienst, für den nach Soll 85 Unteroffiziere vorgesehen, aber nur 22 verfügbar waren. Nur ein Viertel der Stellen war hier dienstpostengerecht besetzt, der große Rest musste - wie der Bericht der Personalabteilung eingestand - »zum Nachteil für die Sache durch Hilfsausbilder aus dem Mannschaftsstand« wahrgenommen werden114. Kennzeichnend für den insgesamt sich offenbar verschlechternden inneren Zustand der Truppe dürfte auch die Klage des Generalinspekteurs wie auch des Heeres über die abnehmende Qualität der Mannschaften gewesen sein: Der eine monierte ein deutlich unterentwickeltes Status- oder Verantwortungsbewusstsein des Staatsbürgers in Uniform, der andere die abnehmende Disziplin115. Die auf eine krisenhafte Entwicklung hindeutenden Anzeichen, mit denen auch in der militärischen Führungsspitze nicht nur das Aufkommen, sondern auch die Eignung vor allem der nachrückenden Offiziere und Unteroffiziere mit einem Fragezeichen versehen erschienen, rissen nicht ab. Kurz vor dem Erreichen des von Beginn an verfolgten Aufstellungszieles von zwölf Divisionen - elf Divisionen mit zusammen 31 Brigaden waren mittlerweile nicht nur aufgestellt, sondern auch assigniert, im Wesentlichen zu vervollständigen war noch die 12. Panzerdivision - musste das Heer wiederum eine Veränderung in der Personalstruktur zulasten der Zeit- und Berufssoldaten berichten. Der den Stand des Frühjahrs 1964 beschreibende Zustandsbericht konnte zwar festhalten, dass infolge der »große[n] Anzahl der am 1.1.1964 beförderten Leutnante d.R. (Z 2) [...] das Notsoll vorübergehend erheblich überschritten« werden konnte, zugleich aber verzeichnete er einen weiteren Rückgang des Unteroffizieranteils im Heer. Während am 7. Oktober des Vorjahres diese Größe noch bei 19,7 Prozent gelegen hatte, war sie nun, am 7. März 1964, auf 18,9 Prozent gefallen. Gleichzeitig war auch die Zahl der längerdienenden Mannschaften rückläufig, wobei diesen Zeitsoldaten überdies vielfach noch »die Eignung zum Unterführer« abgesprochen wurde. In der vom Führungsstab der Bundeswehr weitgehend geteilten Bewertung, die der Führungsstab des Heeres zum inneren Zustand dieser Teilstreitkraft abgab, war zwar noch von einer >zufriedenstellenden< Disziplin die Rede, desungeachtet wurde aber der Anstieg der Fälle

1,4

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den Offizieranteilen BA-MA, Β WD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58 f. BMVtdg Ρ III 1 Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 35 f. BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, S. 2 f., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 5 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-16).

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von »Ungehorsam, Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte und Trunkenheitsdelikten« beklagt und in diesem Zusammenhang die unzureichende Dienstaufsicht moniert. Als Ursache erschien neben dem Offiziernotsoll und der noch fehlenden Erfahrung der jungen Disziplinarvorgesetzten auch der diesbezügliche Eignungsmangel bei Unteroffizieren: »Die Abhängigkeit des inneren Gefüges von Qualität und Quantität der Offiziere und Unteroffiziere wird immer deutlicher.« Bei fortbestehendem ungünstigen Bewerbertrend wurde die weitere Verschlechterung befürchtet. Obwohl mit dem Ausscheiden der meisten Leutnante d.R. zum Ende des ersten Quartals 1964 das Notsoll bei den Offizieren wieder nur »im allgemeinen gerade abgedeckt« war, stand für den Inspekteur des Heeres inzwischen beim Heeresaufbau »die Lösung des Unteroffiziersproblems an erster Stelle«. Dementsprechend hieß es - wie schon einmal 1959 - nunmehr selbstkritisch, dass die »zusätzliche Einstellung von Abiturienten [...] eine Minderung des Kreises [bewirke], aus dem Uffz-Anwärter zu gewinnen« seien116. Der unter dem gleichen Datum wie der Zustandsbericht am 4. Juni 1964 vom Wehrbeauftragten vorgelegte Jahresbericht 1963 bestätigte mit allerdings noch erheblich schärferem Tenor die Einschätzung der militärischen Spitze, und er ging gleichzeitig mit der alarmierenden Diagnose zum Zustand der Inneren Führung darüber hinaus. Auch Heye erkannte in dem Einsatz von Hilfsausbildern im Mannschaftsrang anstelle der fehlenden Unteroffiziere eine Quelle für »Fehlgriffe« in der Menschenführung. Und neben der Verantwortung der Offiziere für die Verwirklichung der Inneren Führung sah er ebenso auch die der Unteroffiziere. Dass überdies das innere Gefüge der Truppe auf eine Krise zusteuerte, konnte der Leser nicht allein Heyes Angaben entnehmen, wonach die Anzahl der Vorgänge, die in das Gebiet der Binnenverfassung der Streitkräfte fielen - darunter auch die »Zahl der Verstöße gegen die Grundrechte und die Grundsätze der inneren Führung« - , teilweise sogar deutlich überproportional angestiegen waren. Getreu der Aufgabe seines Amtes thematisierte der Wehrbeauftragte ausgedehnt und mit beträchtlichem Nachdruck einen >heftigen< Streit um die Innere Führung, wobei es ihm weniger auf die Anzahl als vielmehr auf die Qualität der Vorgesetzten ankam. Für ihn hatten nicht zuletzt die noch zu beleuchtenden Vorfälle bei der in Nagold stationierten FallschirmjägerEinheit dazu geführt, dass eine in der Truppe durchaus verbreitete Gegnerschaft gegen die »Prinzipien der Inneren Führung« zutage trat. Bei nicht wenigen Vorgesetzten glaubte Heye ein in einem »krassen Widerspruch« zu diesen stehendes Soldatenbild auszumachen, das den mit >Schleifermethoden< >hart< angefassten, dafür allein kriegstauglichen Soldaten vorstellte. Im Besonderen verwies er wieder auf die Anfälligkeit junger Vorgesetzter für die Versuchun1,6

BA-MA, BW 2/3111, ZstBer. 1/64, 4.6.1964, Anl. 1: Teil A 2 a: Beurteilung der Einsatzfähigkeit Heer, S. 13 f.; Anl. 2: Teil Β 1: Besonderheiten zur Personallage, S. 3; Anl. 3: Teil C 1: Einzelbericht Heer, S. 2-14, dort S. 2, 4 f.; gemäß ebd., Anl. 2: Teil Β 1: Besonderheiten zur Personallage, hier: G 1-Stärkemeldungen, S. 4 (Bundeswehr), dienten am Stichtag 7.3.1964 im Heer bei insgesamt 261 871 Soldaten 11 431 Offiziere (einschließlich 333 Sanitätsoffiziere; vgl. unten, Tabelle 32). Immerhin erreichte man kurzfristig eine Steigerung des Offizieranteils auf 4,24 % (mit Sanitätsoffizieren 4,37 %). - Hervorhebung im Original.

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gen überholter Ausbildungs- und Erziehungspraktiken. Einmal mehr sah Heye dementsprechend in der Bildung von Offizieren und Unteroffizieren den Weg, um in der Bundeswehr die Einsicht zu verankern, dass für deren Schlagkraft die Prinzipien der Inneren Führung die »unerläßliche Voraussetzung« darstellten117. Als im Frühjahr 1965 mit dem Angebot, die 12. Panzerdivision zu assignieren - die Unterstellung unter die NATO wurde am 10. April vollzogen die Aufstellung der Bundeswehr vordergründig zu einem ersten Abschluss gelangt war, hatten sich zwar die Prioritäten bezüglich des Offizier- oder Unteroffiziernachwuchses augenscheinlich dann doch nicht verändert. Immerhin aber schienen >Nagold< und der soeben angeführte >Alarmruf< Heyes in dem offensichtlich entstandenen Konflikt zwischen Quantität und Qualität von Führern und Unterführern zu ersten Reaktionen geführt zu haben. Was die beibehaltene Rangfolge des Ersatzes für beide Korps anlangte, meldete der Führungsstab des Heeres in seinem Bericht über das zurückliegende Jahr nun zwar Erfolge hinsichtlich der Rekrutierung von Offizieranwärtern, eben »weil 1964 vermehrt Abiturienten eingestellt« worden waren. Unverändert unterstrich er aber auch die negative Seite dieser Bilanz: Die »grosse [sie!] Zahl der Abiturienten [...] eng[e] allgemein die Werbung für [den] Unteroffiziernachwuchs erheblich« ein. Im Hinblick auf die Offiziere beklagte das Heer nach wie vor die »Unzulänglichkeit des Notsolls«, das »nur unwesentlich« habe überschritten werden können - der Führungsstab der Bundeswehr ergänzte hier, dass es »mit dem >Notsoll< nun schon in das 6. Jahr hinein[gehe]« -, und bei den Unteroffizieren war nur eine >geringfügige< Verbesserung sichtbar geworden. Die beigefügten statistischen Übersichten brachten einmal mehr das Unbefriedigende der Personallage zum Vorschein, als sie zum Stichtag 7. Dezember 1964 für das Heer einen nach den Meldungen präzedenzlos niedrigen Offizieranteil von nur mehr 3,6 Prozent zu erkennen gaben. Anfang März hatte er noch bei 4,24 Prozent gelegen. Da hierbei wiederum die Kurzdiener einbezogen waren, fiel auch 1964 der tatsächliche Offizieranteil im Heer immer noch deutlich niedriger aus, als es die 4,3 Prozent der Personalabteilung, in der lediglich Offiziere mit einer Verpflichtungszeit von drei und mehr Jahren berücksichtigt worden waren, vermuten lassen würden. Gleichzeitig aber korrespondierte mit dem Tenor der Dürftigkeit bei Offizieren und Unteroffizieren auch bei den Mannschaften die Bewertung eines »nur knapp ausreichend [en]« Bestandes118. Ursächlich hierfür war zum einen die Ungunst des Stichtages. Im Januar 1964 hatten 2322 Offiziere mit zweijähriger Verpflichtungszeit (Reserveoffiziere) immerhin ein gutes Fünftel des im Feldheer verwendeten Offizierkorps 117

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Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/2305, Der Wehrbeauftragte, 4.6.1964, Jahresbericht 1963, S. 3, 6, 10, 26 f. BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht des Heeres (1.1.1964-31.12.1964), 22.2.1965, Bl. 1 f.; Militärischer Zustandsbericht der Bundeswehr (1.1.1964-31.12.1964), 13.5.1965, S. 4, 12; gemäß ebd., Anl. 1: Organisatorische Jahresübersicht, S. 2 (Bundeswehr), dienten am Stichtag 7.12.1964 im Heer bei insgesamt 276 287 Soldaten 9938 Offiziere (vgl. unten, Tabelle 33). Angabe der Personalabteilung, BA-MA, Β WD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 57 f.

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gestellt, im letzten Quartal 1964 dienten lediglich noch 116 solcher Reserveoffiziere im Heer. Das lag an dem für Abiturienten hauptsächlich im April gelegenen Einstellungstermin und der 1963 von 18 auf 21 Monate verlängerten Mindestdienstzeit bis zur Beförderung zum Leutnant, sodass im Dezember 1964 zwar zahlreiche Fähnriche ihrer Ernennung entgegensahen, aber eben noch nicht als Offiziere in die Statistik eingingen119. Zum anderen hatte das Heer trotz der absehbaren baldigen Assignierung von insgesamt zwölf Divisionen seine volle Friedensstärke noch lange nicht erreicht. Dass die 12. Panzerdivision der NATO hatte angeboten werden können, war nur möglich gewesen, weil ihr der Großteil der Divisionstruppen der 1. Luftlandedivision zugeschlagen worden war, deren Kampfwert damit deutlich verringert erschien. Gleichzeitig wiesen von den vorhandenen 35 Brigaden zwei noch erhebliche Fehlbestände auf, eine weitere war noch gar nicht aufgestellt. Insgesamt war die Aufstellung noch dermaßen lückenhaft, dass auch deswegen der Führungsstab der Bundeswehr selbst 1965 noch dem »Feldheer« nur »einen begrenzten Kampf- und Einsatzwert« zubilligte ( - immerhin gut zwei Jahre nach dem vom Magazin »Der Spiegel« veröffentlichten und durchaus informierten Artikel »Bedingt abwehrbereit«, der neben anderem auch die ausgesprochen kritische Personallage der Bundeswehr aufgegriffen hatte und mit dem die sogenannte »Spiegel-Affaire« ihren Anfang nahm, die zum Sturz von Strauß führte120). Hinsichtlich des inneren Zustandes waren zwar durchaus Fortschritte beobachtet worden, die in den Bereichen der Dienstaufsicht und der als »befriedigend« beurteilten Disziplin dann verzeichnet wurden. Nach wie vor aber hielt man das innere Gefüge für >belastetschwer erziehbare< Soldaten (»Elemente«, wie es der Führungsstab des Heeres nannte), dies zum anderen aber auch infolge der mangelnden Vorbereitung von immer noch zu wenigen Offizieren und Unteroffizieren auf ihre Aufgaben. Konfrontiert mit Verfehlungen, neigten Erstere entweder zur passiven Duldung oder zur unzulässigen Uberreaktion. In einer vielleicht charakteristischen Verschiebung sah der Führungsstab der Bundeswehr den ursächlichen Mangel - hierin zumindest implizit die Kritik Heyes aufgreifend - in einer defizitären Bildung von Führern und Unterführern, jener des Heeres vermochte hingegen lediglich die fehlende Praxis zu entdecken121. Demnach war im Heer unter den Bedingungen auch des verlängerten Grundwehrdienstes keine Verbesserung des inneren Gefüges eingetreten. Eher kann sogar vom Gegenteil ausgegangen werden: Die Führungsstäbe der Bundeswehr und des Heeres wie auch der Wehrbeauftragte beschrieben mit je eigenen Akzenten einen diesbezüglichen Mangel, den sie in Verbindung brachten 119

120 121

BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 63 f. »Bedingt abwehrbereit«. In: Der Spiegel, 16 (1962), 41,10.10.1962, S. 32-49. BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht des Heeres (1.1.1964-31.12.1964), 22.2.1965, Bl. 4 (Inneres Gefüge), 2 0 - 2 2 (Organisationslage); Militärischer Zustandsbericht der Bundeswehr (1.1.1964-31.12.1964), 13.5.1965, S. 7 f., 12, 28 (Zitat) - Hervorhebung im Original; bei der dortigen Angabe von 34 »aufgestellten« Brigaden handelt es sich offensichtlich um einen Schreibfehler, zumal der Bericht des Heeres 35 Brigaden aufführt.

383

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

mit Defiziten hinsichtlich Anzahl und Eignung der zu einem guten Teil auch nur für kurze Zeit verpflichteten Vorgesetzten. Bevor der Versuch unternommen wird, solche Analysen anhand der weiteren Entwicklung der Besonderen Vorkommnisse zu überprüfen, soll der Seitenblick auf die beiden kleineren Teilstreitkräfte auch für die zweite Aufstellungsphase Parallelen bzw. Unterschiede deutlich werden lassen. Auch bei der Luftwaffe zeichnete sich hinsichtlich des Truppenoffizieranteils zumindest keine Besserung ab. Während in der Gesamtbilanz nach der Statistik der Personalabteilung der Anteil von 1961 mit 7,4 Prozent zum Oktober 1964 wieder erreicht wurde und dazwischen bei 6,8 Prozent (1962) bzw. 7,0 Prozent (1963) gelegen hatte122, bewegte er sich innerhalb dieser Teilstreitkraft wiederum unter Einschluss der Kurzdiener zwischen 6,11 und (unter Einbeziehung von Sanitätsoffizieren) 6,69 Prozent123. Vor diesem Hintergrund begrüßte zwar die Luftwaffe 1961 zunächst die verlängerte Grundwehrdienstzeit, die auch in ihren Reihen von den Betroffenen überwiegend einsichtig aufgenommen worden sei, gleichzeitig schienen die Truppenführungsprobleme, unter denen das Heer schon seit geraumer Zeit litt, nunmehr aber auch sie eingeholt zu haben. So wurde auf der einen Seite neben der mit den Dienstzeitverlängerungen unmittelbar einhergehenden spürbaren personellen Entspannung und neben dem beobachteten Anstieg der Weiterverpflichtungsbereitschaft die vollwertige Verwendung von Wehrpflichtigen in Spezialistenfunktionen bei eineinhalbjähriger Grundwehrdienstzeit erwartet, was, als im März 1962 der Wehrpflichtigenanteil die Größe von 35,6 Prozent erreicht hatte, diese Relation nicht mehr als so belastend erscheinen ließ. Überdies blieb bis in das Jahr 1964 hinein der Zeitsoldatenstatus mit nur zweijähriger Verpflichtungszeit für den zu einem nunmehr immerhin 18-monatigen Grundwehrdienst verpflichteten Wehrpflichtigen hinreichend attraktiv, sodass bereits zum Herbst 1962 der Wehrpflichtigenanteil wieder zurückging. Danach verharrte er in einer Größenordnung von 30 Prozent, bis er schließlich Ende 1964 den Ausgangswert mit 35,4 Prozent wieder nahezu erreicht hatte124. Zu diesem Zeitpunkt allerdings

122

B A - M A , Β W D 13/106, Ρ III 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 V S - N f D , 16.11.1964, D i e Offizierlage in der B u n d e s w e h r , S. 57 f. 123 vVie a u s n a c h f o l g e n d e r Ubersicht hervorgeht, w a r e i n e e i n d e u t i g e E n t w i c k l u n g s l i n i e hierbei nicht z u entdecken: Stichtag Luftwaffensoldaten davon Offiziere (darunter Sanitätsoffiziere) Offizieranteil

7.11.1961 7.3.1962 7.10.1962 7.3.1963 7.9.1963 7.3.1964 79 679* 5280

81 790* 5447

6,63 %

6,66 %

88 852* 5580 (155)

90 452* 5972 (166)

91 435 6119 (mit Sanitätsoffizieren) 6,11 %** 6,42 %** 6,26 %** 6,57 %** 6,69 %***

* unter Einschluss der >einbehaltenen< Wehrübenden ** Truppenoffizieranteil *** einschließlich Sanitätsoffiziere

90 617* 5843 (171)

91 604 6206 (189)

7.12.1964

384

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

war damit die Luftwaffe in den Augen ihrer Führung in Teilbereichen erneut an der unteren >Leistungsgrenze< angelangt, dem Führungsstab der Bundeswehr erschien dieser hohe Wehrpflichtigenanteil sogar »besorgniserregend« 125 . Schon bald nämlich war auf der anderen Seite eine stark rückläufige Tendenz in der Anzahl der für eine längere Dauer als nur zwei Jahre dienenden Freiwilligen offenbar geworden, für die auch die für eineinhalb Jahre einberufenen Wehrpflichtigen und kurzdienende Zeitsoldaten keinen Ersatz bieten konnten. Bereits Anfang 1962 wurde die mangelnde Fachausbildereignung kurzdienender Unteroffiziere angemerkt, ein Jahr später die fehlende technische Vorbildung des Unterführernachwuchses kritisiert und auch in der Folge das Problem unterstrichen, angesichts des stetigen Rückganges der Längerdienenden auf Kurzdiener zurückgreifen zu müssen, was sowohl Aufstellung als auch Einsatzbereitschaft der Verbände spürbar beeinträchtigte. So hatte die Luftwaffe 1964 einen vierteljährlichen Ergänzungsbedarf von 4800 Freiwilligen mit einer wenigstens sechsjährigen Verpflichtungszeit, im ersten Quartal hatte sie aber davon lediglich 86 einstellen können, weitere 350 hatten sich nur auf vier Jahre und 440 nur auf drei Jahre verpflichtet. Die sich im Bereich der Spezialisten auftuende Lücke konnten die damals rund 40 000 Kurzdiener nicht füllen126. Gleichzeitig stellten sich nun auch nach den Zustandsmeldungen Truppenführungsprobleme ein. Ganz allgemein führte der gravierende Mangel an Offizieren, aber auch an Unteroffizieren nicht nur zur Uberbeanspruchung, sondern auch zu Defiziten in der Dienstaufsicht. Nicht mit erster Priorität versehene Aufgaben - wie die staatsbürgerliche Bildung, später dann allgemeinmilitärische Ausbildungsvorhaben oder auch Sport - wurden gemäß den Meldungen von 1961 wie auch von 1964 zurückgestellt. Parallel dazu wurde nicht nur hinsichtlich der handwerklich-technischen Qualifikation, sondern ebenso im Hinblick auf die eingestellten Rekruten und Unteroffizieranwärter ein gesunkener 124

125

126

BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 39 f. (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 39-55); BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 32, 39 (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 32-51); BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 30 (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 30-43); vgl. sodann die o.a. Personalübersichten (Tabellen 28-33 im Anhang), nach denen der Wehrpflichtigenanteil sich zwischen Anfang 1962 und Ende 1964 in der Luftwaffe wie folgt verschob: 7.3.1962: 35,6 %; 7.10.1962: 33,8 %; 7.3.1963: 30,6 %; 7.9.1963: 29,2 %; 7.3.1964: 31 % und 7.12.1964: 35,4 %. BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht der Bundeswehr (1.1.1964-31.12.1964), 13.5.1965, S. 5; ebd., Militärischer Zustandsbericht der Luftwaffe (1.1.1964 bis 31.12.1964), 25.2.1965, S. 2. Vgl. BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 32 (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 32-51); BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 30 (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 30-43); BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 37 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 37-55); BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 17 f. (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 17-29); BA-MA, BW 2/3111, ZstBer. 1/64, 4.6.1964, Anl. 1: Teil A 2 b: Beurteilung der Einsatzfähigkeit Luftwaffe, S. 15-18, dort S. 15: »Bei allen Verbänden macht sich jedoch der Mangel an ausgebildetem Spezialpersonal bemerkbar und erschwert die Aufrechterhaltung der geforderten hohen Einsatzbereitschaft.« Sodann ebd., Anl. 3: Teil C 2: Einzelbericht Luftwaffe, S. 15-22, dort S. 15.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

385

Bildungsstand, und damit doch implizit der Bedarf eines größeren Ausbildungs- und Bildungsaufwands, vermerkt127. Erschwerend kamen noch luftwaffeneigentümliche Besonderheiten hinzu, die bereits in den Berichten des Wehrbeauftragten Niederschlag gefunden hatten. Schon Grolman hatte in seinem Rückblick auf das Jahr 1959 auf die Zumutung hingewiesen, die eine ständige Verwendung im Wachdienst im Rahmen der Fliegerhorstsicherung für einen Wehrpflichtigen bedeuten musste. Und im Jahr darauf hatte er den verhältnismäßig hohen Anteil von »Eingaben und Beschwerden« aus dem Bereich der Luftwaffe u.a. mit den eingeschränkten Verwendungschancen Wehrpflichtiger und den vielen Einödstandorten in Verbindung gebracht128. Alles dies fand nun auch in den Zustandsmeldungen ein Echo. Offenkundig sah sich die Luftwaffenführung zu Maßnahmen veranlasst, um - wie es 1962 in einer Zustandsmeldung hieß - »Dienstfreude und Disziplin« zu heben129. Demgegenüber entwickelte sich die Offizierstellenbesetzung im Bereich der Marine etwas günstiger. Legt man die den Kurzdiener ausblendende Statistik der Personalabteilung zugrunde, so nahm in der Bilanz aller die Marineuniform tragenden Soldaten der Anteil der Offiziere von 1961 an anders als in den beiden größeren Teilstreitkräften bis 1963 deutlich zu, von 8,5 über 8,8 auf 9,3 Prozent. Und auch der anschließende Rückgang bis Anfang Oktober 1964 ergab immer noch einen Anteil, der abermals anders als in Heer und Luftwaffe mit 8,9 Prozent über dem Ausgangswert von 1961 lag130. Auch innerhalb der Teilstreitkraft wurde die Ausgangsgröße von 7,52 Prozent Ende 1961 im Dezember 1964 mit 7,98 Prozent übertroffen. In der Zwischenzeit hatte der Anteil zwischen März und September 1963 sogar bei 8,67 bzw. 8,71 Prozent gelegen131. Dennoch schienen sich wie in der Luftwaffe nun auch in der Marine dem Heer ähnliche Truppenführungsprobleme zu zeigen. Zunächst sah sie dem Tenor ihrer Berichte nach sogar weit weniger Grund als die beiden anderen Teilstreitkräfte, die im Nachgang zum Mauerbau getroffenen Maßnahmen zu begrüßen. Sie verzeichnete eine lediglich begrenzte Entspannung der personel127

128

129

130

131

BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 41 (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 39-55); BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 32 (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 32-51); BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 19 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 1 7 - 2 9 ) ; BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht der Luftwaffe (1.1.1964-31.12.1964), 25.2.1965, S. 2 f. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, S. 9; Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 2666, Der Wehrbeauftragte, 14.4.1961, Jahresbericht 1960, S. 10. BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 33 (Zitat; Zustandsmeldung Luftwaffe S. 3 2 - 5 1 ) ; BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 31 (Zustandsmeldung Luftwaffe S. 3 0 - 4 3 ) ; BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 38 (Zustandsmeldung Luftwaffe, S. 3 7 - 5 5 ) . BA-MA, Β WD 13/106, PHI 1 Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64 VS-NfD, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 57 f. Personalumfänge der Marine und Anzahl der Marineoffiziere nach den Personalübersichten zu den Zustandsberichten der Bundeswehr (vgl. Tabellen 2 7 - 3 3 im Anhang):

386

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

len Situation, wiewohl wenigstens die Einheiten der Flotte für hinreichend besetzt gehalten wurden. Trotz des eingeräumten Zuwachses an Offizieranwärtern und jungen Offizieren - 1961 waren 107,1962 dann 243 und 1963 immerhin 294 Offizieranwärter zum Leutnant z.S. befördert worden - fiel dieser Anstieg in Anbetracht der nun laufenden Indienststellungen immer noch zu gering aus. Insonderheit das Aufkommen an Berufsoffizieranwärtern verharrte 1961/62 auf einem viel zu niedrigen Niveau. Zu dieser Zeit fehlten der Marine 700 Offiziere. In diesem Zusammenhang warnte ihr Führungsstab vor Einschränkungen der Einsatzbereitschaft und gesundheitlichen Konsequenzen des überforderten Führungspersonals. Vor allem schmerzte die personelle Lücke auf der Einheitsführerebene. Wie zuvor schon die Heeresführung schilderte nun auch der Führungsstab der Marine eine Zwangslage, in der er sich wider bessere Einsicht genötigt sah, noch zu unerfahrene Leutnante und Oberleutnante z.S. auf Kapitänleutnantsdienstposten zu verwenden132. So einleuchtend diese Besorgnis eingedenk des bei Kommandanten vorauszusetzenden, nicht nur militärischen, sondern auch seemännisch-nautischen Ausbildungs- und Erfahrungsvorlaufes indes auch ist, waren wenig später abgegebene Meldungen des Führungsstabes doch geeignet, das Gewicht dieses personellen Defizits zu relativieren. Denn die Marine reagierte nicht nur mit einer Absenkung der körperlichen Eingangsvoraussetzungen, sondern schließlich auch mit einer Verringerung der bis zur Ernennung zum Kapitänleutnant erforderlichen Offiziersdienstzeit, was - offenkundig ohne Ausgleich des beklagten Erfahrungsmangels - das 1962 noch drückende Manko von 1964/65 an absehbar schwinden ließ133.

Stichtag Marinesoldaten davon Offiziere (darunter Sanitätsoffiziere) Offizieranteil

7.11.1961 7.3.1962 7.10.1962 7.3.1963 7.9.1963 7.3.1964 26 382* 1985

27 268* 2150

7,52 %

7,88 %

27 752* 2306 (77)

27 367* 2450 (77)

27 368* 2464 (80)

7.12.1964

27 953 2498 (82)

29 864 2382 (mit Sanitätsoffizieren) 8,03%** 8,67%** 8,71 %** 8,64 %** 7,98 %***

* unter Einschluss der >einbehaltenen< Wehrübenden ** Truppenoffizieranteil *** einschließlich Sanitätsoffiziere 132

133

BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 56 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 5 6 - 7 3 ) ; BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 52 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 5 2 - 7 5 ) ; BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, S. 7; ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 44 f. (Zustandsmeldung Marine S. 4 4 - 6 7 ) ; BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 56 (Zustandsmeldung Marine, S. 56-80). Zu den Offizierbeförderungen siehe BA-MA, BW 1/5668, Bundesminister der Verteidigung, Ρ III 2 Az.: 16-44-00, 15.2.1964, Entwicklung des Ist-Bestandes an Offizieren (ohne SanOffz) betreffend, tabellarische Ubersicht; bei einem jährlichen Bedarf von 172 Leutnanten z.S. im Status des Berufsoffiziers (BO) und 88 in dem des Zeitoffiziers mit mindestens dreijähriger Verpflichtungszeit (ZO) verzeichnete die Marine 1961 den Zugang von 39 BO und 68 ZO, 1962 von 149 BO und 94 ZO sowie 1963 von 187 BO und 107 ZO. Vgl. BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 31 (Zustandsmeldung Marine, S. 30-41), wonach zur Besserung des Offiziermangels bei Offi-

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In vergleichbarer Weise reagierte die Marineführung auf die personelle Unterdeckung im Bereich der längerdienenden Freiwilligen und Unteroffiziere. Ähnlich wie die Luftwaffe bereitete der Marine selbst bei verlängertem Grundwehrdienst auch ein moderater Wehrpflichtigenanteil große Sorgen. Schon der im Herbst 1962 erreichte Anteil von knapp 16 Prozent lag an der Grenze des Erträglichen. Im Hintergrund stand auch hier der hohe Ausbildungsaufwand, der dazu führte, dass an Stelle eines jeden auf drei oder vier Jahre verpflichteten Freiwilligen zwei Wehrpflichtige ausgebildet werden mussten, weil diese im Anschluss nur noch für eine sehr begrenzte Restdienstzeit in ihrer eigentlichen Truppenverwendung zur Verfügung standen. Der 1962/63 drückenden, ab 1964/65 sich jedoch wieder entspannenden, dabei nicht in dem Maße wie bei den Offizieren gravierenden Mangellage wurde seitens der Marine u.a. dadurch begegnet, dass die Beförderungszeiten verkürzt wurden134. Welche personellen Sorgen jedoch auch immer bestanden haben mochten, sie wurden schon bald überschattet durch das die Marineführung offensichtlich viel stärker beschäftigende Problem der waffentechnischen Modernisierung. Dabei geriet die innere Verfassung der Truppe einmal zur Funktion, ein anderes Mal dann auch wieder zum hilfsweise eingesetzten Ausgleich des waffentechnischen Rückstandes, in den die ohnedies schon zahlenmäßig unterlegene Marine im Zuge der Einführung von Seezielflugkörpern an Bord sowjetischer Einheiten geraten war. So mahnte der Führungsstab der Marine Ende 1963 baldige Maßnahmen zur durchgreifenden Modernisierung an und stellte dies unter Berufung auf das Kommando der Flotte als einen Weg vor, mit der »Stimmung in der Truppe« auch die Einsatzbereitschaft zu heben. Als im Sommer des folgenden Jahres nunmehr auch die Marinefliegerkomponente aufgrund des personellen Fehls nicht mehr hinreichend einsatzbereit war, hatte der Befehlshaber der Flotte einen umgekehrten Zusammenhang hergestellt, indem er von den Anstrengungen berichtete, »das Beste aus der gegenwärtig schwierigen psychologischen Situation zu machen. Materielle Unzulänglichkeiten, Unterlegenheit und Personalmangel« würden »durch Straffung und Intensivierung der Ausbildung ausgeglichen«. Mit ihrem Ausbildungsprogramm bemühte sich die Flotte darum, »daß durch ständige Übungen und Forderung des Marines in Verbindung mit den Mitteln der Inneren Führung die Krise überbrückt« würde. Die allein um den materiellen Rüstungsrückstand kreisende zusammenfassende Bewertung des Inspekteurs fiel hierin skeptischer aus: »Technische Mängel, die außerhalb der Zuständigkeit der Marine liegen, können auch durch guten Geist

134

zieranwärtern nicht mehr das bislang geforderte Maß an Sehfähigkeit verlangt wurde; zur Senkung der Beförderungsvoraussetzungen bezüglich der Kapitänleutnante vgl. BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht der Marine (1.1.1964-31.12.1964), 11.2.1965, S. 1. Vgl. im Zusammenhang BA-MA, BW 2/2459, ZstBer. 1/62, 22.6.1962, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 54 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 52-75); BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 45 (Zustandsmeldung Marine, S. 4 4 - 6 7 ) ; BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 57 (Zustandsmeldung Marine, S. 56-80); BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 31 (Zustandsmeldung Marine, S. 3 0 - 4 1 ) ; BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht der Marine (1.1.1964-31.12.1964), 11.2.1965, S. 1.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

der Soldaten und die Mittel der Inneren Führung nicht aufgewogen werden135.« Für diese technisch-materielle Ausrichtung der Teilstreitkraft erscheint es bezeichnend, dass das eine personelle Anliegen, das der Führungsstab der Marine mit sichtbar größtem Engagement verfolgte, das naturwissenschaftlich-technische Studium ausgewählter Marineoffiziere zum Ziel hatte, das ihm angesichts der immer komplexer werdenden Anlagen und Waffen dringend geboten dünkte136. Die Sorge um den technischen Anschlussgewinn strahlte auch auf den personellen Sektor aus. Unverkennbar offenbarten also die Zustandsmeldungen des Führungsstabes sehr eigene Probleme der Marine. Dennoch hinterließen Entwicklungen, die das innere Gefüge des Heeres und zum Teil auch der Luftwaffe in Mitleidenschaft gezogen hatten, auch im Bereich der Marine ihre Spuren. Neben der bereits erwähnten, durch die Umstände erzwungenen Verwendung von jungen Offizieren auf Dienstposten, für die sie als noch zu unerfahren erschienen, waren dies letztlich auch von der Marineführung beobachtete Schwierigkeiten mit dem Großteil der 1964 zur Einstellung gelangten Mannschaften, die sich nicht wie erwartet >einsichtig< den Anforderungen des militärischen Dienstes stellten137. Zunächst im politischen Raum durch den Wehrbeauftragten, dann aber auch zunehmend durch die militärischen Spitzen war mithin auch nach Verlängerung des Grundwehrdienstes im Zuge des weiteren Aufbaus eine sich verschlechternde innere Verfassung der Streitkräfte diagnostiziert worden. Dabei hatten die Verantwortlichen hier zuvörderst im Bereich des Heeres, in unterschiedlichen Ausprägungen aber auch in Luftwaffe und Marine, einen Zusammenhang gerade auch mit Quantität und Qualität der jungen, vor allem kurzdienenden Vorgesetzten hergestellt. Die Beobachtung zunehmenden Unwillens unter den Mannschaften ergänzte diese Lagefeststellung. Wie treffend die üblicherweise ohne quantifizierenden Einzelnachweis vorgenommenen Bewertungen die Binnenverfassung des Heeres beschrieben, kann wiederum ein Blick auf die Entwicklung der Besonderen Vorkommnisse zeigen. Als Quellengrundlage stehen hierbei für den Zeitraum 1961 bis 1964 Monats- und Halbjahresübersichten zur Verfügung, die im Folgenden zu Jahresstatistiken zusammengefasst wurden. Sie können mit Hilfe der Zustandsberichte jeweils 135

136

137

BA-MA, BW 2/3110, ZstBer. 2/63, 2.12.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 38 (Zustandsmeldung Marine, S. 30-41); BA-MA, BW 2/3111, ZstBer. 1/64, 4.6.1964, Anl. 3: Teil C 3 : Einzelbericht Marine, S. 23-38, dort S. 23 f.; ebd., Anl. 1: Teil A 2 c: Beurteilung der Einsatzfähigkeit Marine, S. 19 f. Vgl. BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 60 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 56-73); BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 48 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 44-67); BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 60 f. (Zustandsmeldung Marine, S. 56-80). Zur von Anfang an wohlwollenden Reaktion des Generalinspekteurs vgl. BAMA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, S. 6; BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, S. 10; BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, S. 3. Zu dem zentralen Stellenwert des Ubergangs zu modernen rechnergestützten Waffensystemen in der Marineführung vgl. Sander-Nagashima, Die Bundesmarine, S. 191-382. BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht der Marine (1.1.1964-31.12.1964), 11.2.1965, S. 2.

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mit den Personalstärken des ersten bzw. letzten Quartals so verbunden werden, dass eine Fortschreibung der oben getroffenen Trendaussagen möglich ist. Eine Ausnahme hiervon stellen lediglich die Angaben für 1963 dar, für die der zweite hier belangvolle Stichtag nicht im vierten, sondern bereits im dritten Quartal gelegen hat. Dies erscheint jedoch angesichts der nicht mehr signifikanten Umfangsveränderungen hinnehmbar. Im gleichen Maße wie oben lassen sich die nur für die gesamte Bundeswehr erstellten Statistiken in erster Linie auf das Heer beziehen, zumal dessen Anteil auf eine Größe zwischen 62,4 und 64,3 Prozent und mithin sogar noch geringfügig zugenommen hat138. Bereits in der Gesamtbilanz ließen die Besonderen Vorkommnisse hinsichtlich des inneren Zustandes der Streitkräfte einen abwärts gerichteten Trend vermuten. Nach einer gegenüber dem vorangegangenen Halbjahr zunächst eingetretenen Verbesserung im Jahre 1961, das mit 3188 Vorfällen ein Verhältnis von 90 (Anfangsstärke) bzw. 113 Soldaten (Endstärke) je Besonderem Vorkommnis aufwies, verschlechterte sich die Relation in den Folgejahren von einem Fall je 71 bzw. 76 Soldaten 1962 (5174 Vorkommnisse) über 67 Soldaten je Fall 1963 (5931 Vorkommnisse) auf 65 bzw. 68 Soldaten je Fall (6363 Vorkommnisse) 1964139. Damit hatte sich die Entwicklung dem Tiefstand des Sommers 1958 wieder merklich angenähert. Wie zuvor schon spielten in der Statistik positive oder für das innere Gefüge nicht oder kaum aussagekräftige Vorfälle eine zu vernachlässigende Rolle. Die Anzahl der lobenswerten Taten< und Hilfeleistungen hielt sich nach wie vor in sehr engen Grenzen. Die weiteste Verbreitung fanden diese Vorfälle 1962, als 103 Vorkommnisse eine Relation von einem Fall je 3581 bzw. 3835 Soldaten ergaben140. In der gleichen Größenordnung bewegten sich in der Summe die Infiltrations-, Zersetzungs-, Sabotageund Spionagefälle, wobei Letztere häufig noch mit dem Auftreten der Sowjetischen Militärmission verbunden erschienen141. Ebenfalls kaum ins Gewicht fielen die Zusammenstöße mit Zivilpersonen und Soldaten verbündeter Streitkräfte, deren Verursachung überdies sich wiederum nicht zuschreiben ließ142.

«β Nach den in den Zustandsberichten 1/61 bis 1/64 sowie in dem Militärischen Zustandsbericht der Bundeswehr (1.1.1964-31.12.1964) enthaltenen Personalübersichten betrug der Anteil des Heeres am Gesamtumfang der Streitkräfte zu den Stichtagen 7.3.1961: 62,4%; 7.11.1961: 64,3%; 7.3.1962: 63,9%; 7.10.1962: 63,7%; 7.3.1963: 63,1 %; 7.9.1963: 62,9%; 7.3.1964: 63,4 % und am 7.12.1964: 63,8 %. Vgl. Tabellen 2 6 - 3 3 im Anhang. 139

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Errechnet aus den in der Regel monatlichen Angaben in BA-MA, BW 2/9695, unter Berücksichtigung der in o.a. Tabellen festgehaltenen Umfange. Zusammengestellt nach ebd. ereigneten sich 1961: 67 Vorfälle (37 Lobenswerte Taten und 30 Hilfeleistungen), 1962: 103 (55/48), 1963: 91 (33/58) und 1964: 14 (0/14). Bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Fall auf 1961: 4278/5361 Soldaten, 1962: 3581/3835,1963: 4355/4387, 1964: 29 494/30 951. Nach ebd. ereigneten sich 1961: 68 Vorfälle (54 Spionage-, zwölf Sabotage-, zwei Zersetzungsfälle, kein Infiltrationsversuch), 1962: 41 (13/22/6/0), 1963: 34 (13/17/4/0) und 1964: 17 (1/7/8/1). Bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Fall auf 1961: 4215/5282 Soldaten, 1962: 8996/9635, 1963: 11 655/11 741, 1964: 24 289/25 489. Die Übersichten in ebd. zählten 1961: 61 Vorfälle (41 Zusammenstöße mit Zivilpersonen, 20 mit alliierten Soldaten), 1962: 63 (55/8), 1963: 58 (50/8) und 1964: 37 (25/12). Bezogen

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Zahlenmäßig etwas stärker vertreten waren Straftaten gegen Bundeswehrangehörige, die jedoch, falls überhaupt, nur einen sehr entlegenen Zusammenhang mit der Binnenverfassung der Streitkräfte vermuten ließen143. Ähnliches gilt bei allerdings geringerer Verbreitung für Massenerkrankungen und Todesfälle mit >natürlicher< bzw. nicht näher umrissener Ursache144. Von der Sache her dagegen durchaus einschlägig waren die meldepflichtigen Diffamierungen und Ablehnungen von Bundeswehr und Bundesrepublik. Innenpolitisch relevante Äußerungen, Diffamierungen von Staatssymbolen und offene Wendungen gegen die Bundeswehr erreichten jedoch mit im ganzen Zeitraum bloß zehn Fällen eine nachgerade gänzlich zu vernachlässigende, marginale Größenordnung145. Im Vergleich dazu ist die Entwicklung der Schadens- und Unfälle sowohl mit deren Häufigkeit als auch mit deren sachlichem Bezug zur Binnenverfassung der Streitkräfte beachtenswert. Während der ersten Aufstellungsphase bis 1961 schien sich wenn auch nicht bei Unfällen, so doch wenigstens bei Schäden ein Zusammenhang zwischen der Verweildauer auf dem Dienstposten, der Ausbildungszeit, schließlich der Dienstaufsicht und der Häufigkeit von einschlägigen Vorfällen abzuzeichnen. Angesichts der Verlängerung des Grundwehrdienstes wäre eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau oder gar ein Rückgang zu erwarten gewesen. Indessen kam es hier tendenziell sogar zu einer Verschlechterung. Während vor der Verlängerung die Häufung von Sachschäden zuletzt bei etwa 1500 Soldaten je Fall jährlich gelegen hatte, pendelte sich die relative Verbreitung zwischen 1961 und 1964 bei jährlich 1000 und 1500 Soldaten je Fall ein146. Und nur mit viel gutem Willen lässt sich aus der Entwicklung der Unfallzahlen ein auf die verlängerte Ausbildung zurückzuführender Gewinn ablesen. Immerhin ging die Anzahl der Dienstunfälle zwischen 1962 und 1964 trotz steigenden Streitkräfteumfangs absolut zurück, während die Zahl der außerdienstlichen Kraftfahrzeugunfälle zwischen 1961 und 1964 sich fast verdoppelte. Die relative Häufigkeit der Dienstunfälle verbesserte sich jedoch lediglich von einem Ausgangswert von zwischen 565 und 708 Soldaten

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auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Fall auf 1961: 4699/5888 Soldaten, 1962: 5855/6271,1963: 6832/6883, 1964:11 160/11 711. Gemäß ebd. handelte es sich um 1961: 52, 1962: 145, 1963: 194 und 1964: 45 Vorfälle. Bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Fall auf 1961: 5512/6908 Soldaten, 1962: 2544/2724,1963: 2043/2058,1964: 9176/9629. Massenerkrankungen sind bei 1961: neun (0,28 %), 1962:14 (0,27 %), 1963: 21 (0,35 %) und 1964: elf (0,17 %) Gelegenheiten beobachtet worden. 1961 waren 22 Todesfälle (im Dienst wie auch außer Dienst), 1962 nur mehr 16, 1963 dann 40, schließlich 1964 zwölf Todesfälle berichtet worden. Addition des Verf. auf der Grundlage der Statistiken in BA-MA, BW 2/ 9695. In der Reihenfolge > Äußerungen von Angehörigen der Bundeswehr mit innerpolitischen Auswirkungen - öffentliche Äußerungen gegen die Bundeswehr - >Verächtlichmachung von Symbolen des Staates< traten diese Vorkommnisse in 1961: 1 - 2 - 0 , 1962: 2 - 2 - 0 , 1964:1 - 1 - 1 , und 1965:1 - 0 - 1 Fällen auf; 1963 wurde kein derartiges Vorkommnis berichtet; zusammengestellt nach ebd. Nach den Übersichten ebd. wurden gemeldet 1961: 322 Vorfälle, 1962: 263, 1963: 253 und 1964: 391. Bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Fall auf 1961: 890/1115 Soldaten, 1962:1402/1502,1963:1566/1578,1964:1056/1108.

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je Fall jährlich für 1961 auf zwischen 723 und 759 Soldaten je Fall 1964147. Alles in allem zeigte die Entwicklung dieser beiden Kategorien Besonderer Vorkommnisse erwartungswidrig keine nennenswerten positiven Auswirkungen der Dienstzeitverlängerung. Nicht auszuschließen ist indes auch, dass bei abnehmender Vorgesetztendichte Lücken in der Dienstaufsicht zu diesem Verlauf beigetragen haben. Ebenso mochte auch die mangelnde Präsenz oder auch die unzureichende Eignung Vorgesetzter grobe Disziplinwidrigkeiten begünstigt haben, worunter hier Fälle von Misshandlungen Untergebener, von Ungehorsam und Tätlichkeiten gegenüber Vorgesetzten, von Meutereien und von Schlägereien unter den Soldaten gezählt werden. In den vier Jahren zwischen 1961 und 1964 ist allerdings kein einziger Meutereifall berichtet worden. Auch Schlägereien in der Truppe hielten sich in engen Grenzen und kamen in diesem Zeitraum nicht über das 1962 gemeldete Dutzend hinaus148. Ein wenig auffälliger war - anders als in der vorangegangenen Aufstellungsphase - die Anzahl der Fälle von Untergebenenmisshandlungen. 1961 waren fünfzehn derartige Vorkommnisse gemeldet worden, in den drei Folgejahren bis 1964 schien sich die Anzahl in einer demgegenüber verdoppelten Größenordnung zu stabilisieren149. Noch bemerkenswerter war die Entwicklung bei den Fällen von Ungehorsam und Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte. Nach nur 36 Vorfällen im Jahre 1961 waren es 1962: 128, 1963:193 und 1964 sogar 243 Vorkommnisse150. Wie in den Fällen der Untergebenenmisshandlung, so nahmen auch hinsichtlich des umgekehrten Fehlverhaltens von Untergebenen gegen Vorgesetzte die Vorkommnisse bis 1964 stetig zu. Nimmt man alle groben Disziplinwidrigkeiten zusammen, so kamen im Jahre 1964 1444 bzw. 1515 Soldaten auf ein entsprechendes Vorkommnis151. Dabei beeindruckt weniger die gegenüber anderen Vorkommnissen eher niedrige Rate, gemessen am Streitkräfteumfang, sondern die deutliche Zunahme einschlägiger Vorfälle. Sie lässt sich kaum mit dem Streitkräfteaufwuchs erklären. Der nämlich hielt bei einer Vermehrung um etwa die Hälfte mit dem Anstieg der Vorkommnisse nicht Schritt, die eine Verdoppelung bzw. sogar Versechsfachung aufwiesen. Auch die 1960 im Zuge der Novellierung der Vorgesetztenverordnung vorgenommene Ausweitung des Kreises von Vorgesetzten scheidet

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Zusammengestellt nach ebd. ereigneten sich 1961: 507 Dienstunfälle (487 Kraftfahrzeugunfälle außer Dienst), 1962: 697 (645 Kraftfahrzeugunfälle außer Dienst), 1963: 578 (742 Kraftfahrzeugunfälle außer Dienst) und 1964: 571 (919 Kraftfahrzeugunfälle außer Dienst). Bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Dienstunfall auf 1961: 565/708 Soldaten, 1962: 529/567,1963: 686/691, 1964: 723/759. 1961 wurden lediglich drei Schlägereien in der Truppe gemeldet, dann 1962: zwölf, 1963: acht und 1964: zehn; Addition des Verf. auf der Grundlage der Tabellen in BA-MA, BW 2/9695. Die Addition der jeweiligen Angaben in ebd. ergibt für 1962: 27, 1963: 31 und 1964: 33 Vorfälle. Vom Verf. nach ebd. errechnet. Insgesamt handelte es sich nach ebd. um 1961: 54, 1962: 167, 1963: 232 und 1964: 286 Vorfälle. Bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Fall auf 1961: 5308/6652 Soldaten, 1962: 2209/2366, 1963: 1708/1721,1964: 1444/1515.

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als hinreichende Erklärung aus, denn der signifikante Anstieg trat erst ab 1961 ein. Kurzfristig war die relative Verbreitung der groben Disziplinwidrigkeiten, die 1960 ein Verhältnis von 2200 Soldaten je Fall erreicht hatten, 1961 zwar deutlich auf 5308 bzw. 6652 Soldaten je Fall gesunken. Im Folgejahr war man aber wieder beim Ausgangswert (2209/2366 Soldaten je Fall) angelangt, der dann bereits 1963 (1708/1721 Soldaten je Fall) spürbar und im Folgejahr noch eindeutiger überschritten wurde. Auch die Entwicklungen bei den verbleibenden Besonderen Vorkommnissen signalisieren ein sich verschlechterndes inneres Gefüge der Truppe. Die Fälle, in denen Soldaten Hand an sich selbst gelegt hatten, nahmen zwar lediglich in etwa proportional zu dem Streitkräfteaufwuchs zu. Während die Fälle von Selbstverstümmelungen auf verschwindend geringe Größenordnungen beschränkt blieben - 1961 ein Fall, 1962 keiner, 1963 wieder ein Fall und in dem Folgejahr drei Fälle - , stieg die Anzahl der versuchten wie auch der vollendeten Selbsttötungen mit dem Umfang der Bundeswehr von 1961: 252 Fälle auf 1962: 344, 1963: 386 und 1964: 411 Vorkommnisse152. Insgesamt bewegten sich diese Vorfälle mit einem Verhältnis von fast immer mehr als 1000 Soldaten je Fall jährlich auf dem zuvor schon bekannten Niveau. Dagegen kam es jedoch bei den von Bundeswehrangehörigen verübten Straftaten, zu denen nicht zuletzt der Fall des >Kameradendiebstahls< rechnete, zwischen 1961 und 1964 zu einem bemerkenswerten Anstieg, der sich nicht einfach nur auf die bloße Zunahme des Umfanges zurückführen lässt. Von 1961: 191 Straftaten stieg die Anzahl der Delikte sprunghaft auf 1962: 678, dann 1963: 953 und 1964: 993 Fälle153. Mit einer ab 1963 deutlich unter 500 liegenden Anzahl von Soldaten jährlich je Straftat war wieder der ungünstige Stand des Sommers 1958 erreicht, als im statistischen Mittel jedes Bataillon mit einem Straftäter rechnen konnte. Eine ähnlich auffällige Tendenz zeigten schließlich auch die Eigenmächtigen Abwesenheiten und Fahnenfluchten. Deren Anzahl übertraf regelmäßig selbst noch die der Unfälle und ließ dieses Vorkommnis mit einem stetig zunehmenden Anteil von zunächst fast genau einem Drittel (1961) bis dann gut zwei Fünftel (1964) zum häufigsten aller Besonderen Vorkommnisse werden. Von 1961: 1077 Fällen schnellte die Zahl dieser Vorkommnisse über 1962: 1981 und 1963: 2326 auf 1964: 2648 Vorfälle154. Gemessen am Umfang der Bundeswehr kam 1961 ein einschlägiges Vorkommnis auf 266 (Berechnungsgrundlage 7.3.) bzw. 334 Soldaten (7.11.), 1962 dann 186 (7.3.) bzw. 199 (7.10.) Soldaten, 1963 auf 170 (7.3.) bzw. 172 (7.9.) Mann und 1964 auf 156 (7.3.) bzw. 164 (7.12.) Sol152 Errechnet nach ebd. Bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke kam damit jährlich ein Fall von vollendeter oder versuchter Selbsttötung bzw. von Selbstverstümmelung auf 1961: 1133/1420 Soldaten, 1962: 1072/1148,1963: 1024/1032 und 1964: 997/1047. 153 Angaben gemäß ebd. Damit kam bezogen auf die jeweilige Anfangs- bzw. Endstärke jährlich eine Straftat auf 1961: 1501/1881 Soldaten, 1962: 544/583, 1963: 416/419 und 1964: 416/436. 154 Ebd. Nach Rechnung des Verf. stellten die Fälle von Eigenmächtiger Abwesenheit und Fahnenflucht 1961: 33,78 %, 1962: 38,29 %, 1963: 39,22 % und 1964: 41,62 % aller Besonderen Vorkommnisse.

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daten. Der seit 1960 vorherrschende Trend hatte damit zu schlimmeren Zuständen als denen des Sommers 1958 (ein Vorfall auf 221 Soldaten) geführt. Hatte grob gerechnet 1961 jährlich jede zweite Kompanie einen solchen Vorfall zu melden, so traf dies 1964 statistisch schon annähernd jede Kompanie. Auch wenn in Rechnung gestellt wird, dass - erstens - unter diesen Abwesenheiten mit einem Anteil von bis zu einem Fünftel je Quartal auch die Fälle des nicht angetretenen Wehrdienstes erfasst waren155, was zunächst auch ein Imageproblem der Bundeswehr nahelegt, und dass - zweitens - immer auch Verhältnisse im privaten Umfeld eine Rolle gespielt haben mochten, bleibt doch der Eindruck einer >mit den Füßen< nicht zuletzt gegen die innere Verfasstheit der Bundeswehr durchgeführten >AbstimmungNotsoll< weniger Offiziere in den Einheiten vorhanden als eigentlich 155

Im ersten Quartal 1962 waren dies mit elf von 497 Fällen 2,21 %, im 3. Quartal desselben Jahres mit 27 von 535 Fällen 5,05 %, im 3. Quartal 1963 mit 56 von 717 Fällen 7,81 %, im darauf folgenden 4. Quartal mit 51 von 586 Fällen 8,7 %, im ersten Halbjahr 1964 mit 79 von 1183 Fällen 6,68 %, im 3. Quartal 1964 mit 60 von 834 Fällen 7,19 % und im 4. Quartal mit 115 von 631 Fällen 19,65 %.

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für angemessen erachtet. Bedeutete dies bereits eine Überbeanspruchung der vorhandenen Offiziere, so kam rasch im Zuge der weiteren Qualifikation der Geeigneteren die Überforderung der Verbliebenen und der zu früh Nachrückenden hinzu. Konnte sich im Hinblick auf die älteren kriegsgedienten Kompaniechefs Oberst Müller-Lankow in seinem wenig wohlmeinenden Urteil durch die Zustandsberichte bestätigt sehen, so fügten diese wie auch die Einschätzungen des Wehrbeauftragten einem solchen Manko noch die Beobachtung hinzu, dass auch die zu jung in zu große Verantwortung gestellten Bundeswehroffiziere ihrer Position nur eingeschränkt hatten gerecht werden können. Gleichzeitig wurde mit zwei Aushilfen abermals auf die jeweils mindere Qualifikation zurückgegriffen. Zum einen wurde Verantwortung an die nächstjüngere Laufbahngruppe delegiert - innerhalb der Einheiten rückten Feldwebel an die Stelle der jüngsten Offiziere, Unteroffiziere ohne Portepee übernahmen Feldwebelaufgaben, und Hilfsausbilder im Mannschaftsrang wiederum Unteroffizierfunktionen. Zum anderen wurde innerhalb der Laufbahngruppen der lediglich zwei Jahre dienende Zeitsoldat vielfach zum Ersatz des Längerdienenden. Der >ReserveoffizierJob< zu messen«. Unbeschadet ihrer Bereitschaft, sich den Forderungen >nüchterner< »Notwendigkeit« zu stellen, habe für die ihren Wehrdienst antretenden Jugendlichen »die Frage beruflicher Weiterbildung« wesentliches Gewicht159. In Grenzen kamen die Vorstöße des Führungsstabes des Heeres der so umrissenen Haltung der Jugendlichen auch entgegen. So hatte er unter dem Eindruck des für das Heer sehr fordernden Jahres 1959 einen beträchtlichen Teil seiner Zustandsmeldung der »zunehmend schwieriger« werdenden Bewerberlage gewidmet und auf der Suche nach den Ursachen dabei auch materielle Rahmenbedingungen angesprochen - etwa das im Vergleich zur Wirtschaft niedrigere Gehalt. Der vom Führungsstab als Antwort auf das Personalproblem ausgebreitete Maßnahmenkatalog enthielt dann auch Anregungen, die in direkter Reaktion auf die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt die materielle Besserstellung des Soldaten vorsahen. So war etwa an eine »Berufsausbildung für Jugendliche [...] in Form von militärisch geführten Internaten für künftige Unteroffiziere4-Personen-Arbeitnehmer-Haushalts mit mittlerem Einkommen des alleinverdienenden Haushaltsvorstandes< auf der Basis von 1962 = 100 von 1957: 90,1 auf 1966: 111,5 um 23,75 Prozent gestiegen war, schnellten die Grundgehälter eines in vergleichbarer Lebenssituation befindlichen Hauptmanns um 43,84 (Mindestsätze) bzw. 41,45 (Höchstsätze) Prozent oder die eines Majors um 43,13 bzw. 39,65 Prozent nach oben165. Solche prima 160 161

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BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 f., 9 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-39). BA-MA, BW 2/2454, ZstBer. 1/60,11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 f. (Zustandsmeldung Heer, S. 2-22). Vgl. BA-MA, BW 1/55753, Fü Β I, 28.5.1963, Ergebnisprotokoll über die Besprechung >Behebung des Unteroffiziermangels in der Bundeswehn, 21.5.1963, dort S. 1 f. BMVtdg Ρ II 1 Az.: 16-10-01, 1.6.1967, Die Personallage der Offiziere in der Geschichte und in der Bundeswehr (1967), S. 197. Statistisches Jahrbuch 1966, S. 516. Prozentrechnung des Verf. nach Angaben in ebd., S. 495, und BMVtdg Ρ II 1 Az.: 16-10-01, 1.6.1967, Die Personallage der Offiziere in der Geschichte und in der Bundeswehr (1967),

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facie nicht gerade nachteilige Ankoppelung an die allgemeine Einkommensentwicklung mochte darüber hinausgehende Bemühungen der Heeresführung um das materielle Fortkommen ihrer Soldaten erschwert haben. Überdies aber trug sie selbst dazu bei, ihrem Eintreten für materielle Verbesserungen den Anschein nicht immer vorbehaltlos gegebenen eigenen Nachdrucks zu verleihen. Denn wie es die oben zitierte Begründung zu den studierenden Reserveoffizieren schon hat erkennen lassen, ging es ihr gleichzeitig auch um die Verbesserung des gesellschaftlichen >WehrwillensWehrbereitschaft< in der Gesellschaft und verwies auf die der Bundeswehr gezogenen Grenzen hinsichtlich ihrer Einflussmöglichkeiten auf die Medien. In Bezug auf die verlangte Änderung der Vorgesetztenverordnung wies er auf eine bereits laufende Überprüfung hin, die hier noch einmal aufzugreifen sein wird170. Und auch der ihm nachfolgende Generalinspekteur übernahm nicht jede auf eine stärkere Einbeziehung der Gesellschaft abzielende Forderung des Heeres. Als dessen Führungsstab Ende 1962 Klage über die nach seiner Auffassung unzureichende Heranziehung von »Angehörigen der Intelligenz und gelernter technischer Berufe« geführt hatte, bedauerte Foertsch zwar die schlichte »Tatsache, daß unser Volk nicht mehr die frühere positive Einstellung zum Wehrgedanken und damit zur bewaffneten 168

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BA-MA, BW 2/2458, ZstBer. 2/61, 20.12.1961, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 f., 7, 10 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-38). Im Hinblick auf Unteroffiziere und längerdienende Mannschaften plädierte der Führungsstab des Heeres zwar auch für deren materielle Besserstellung, drängte aber gleichzeitig darauf, dass »in vermehrtem Umfang auch publizistische Wege beschritten werden, um dem UffzKorps im Rahmen unseres Volkes wieder einen Platz einzuräumen, den es durch eine größtenteils ungerechtfertigte >PlatzeckLegende< verloren hat. Bei aller Betonung des Materiellen sind die Fragen des sozialen Ansehens eines Berufes auch in heutiger Zeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung.« Wenn auch in abgeschwächter Form nahm er hier ebenfalls eine Relativierung der materiellen Anreize vor. Vgl. hierzu etwa die Beobachtung des Führungsstabes der Marine zur Motivation der Mannschaften in BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht der Marine (1.1.1964-31.12.1964), 11.2.1965, S. 2: »Die innere Einstellung der Unteroffiziere zur Mitarbeit ist im ganzen positiv, während bei den Mannschaften stärker das reine >Zweckdienen< überwiegt. Die bei fast allen einberufenen Soldaten fehlende innere Bindung an den Staat erschwert die Erziehung unter dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Insbesondere wirkt sich das auf den geforderten >überzeugten Gehorsam< aus.« BA-MA, BW 2/20037, ZstBer. 4/59,19.1.1960, S. 3 - 5 .

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Macht hat«, wies im Übrigen aber das Ansinnen des Heeres als unbegründet zurück171. Die - soweit es jedenfalls die Zustandsberichte erkennen lassen - von ihrer Tendenz her zurückhaltendere Haltung des Führungsstabes der Bundeswehr gegenüber den Forderungen des Heeres bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch in diesem Stab auf eine militärnahe Gesellschaft im Zusammenhang mit den Bedürfnissen der personellen Rüstung gesetzt wurde. Schließlich wurden auch außerhalb der Bundeswehr Überlegungen in dieser Richtung angestellt. So waren in wenngleich sehr abgeschwächter Form selbst dem ersten Wehrbeauftragten die Vorstellung von dem bereits auf das Militär hin erzogenen Staatsbürger als Voraussetzung des Soldaten nicht ganz fremd. Immerhin hatte Grolman in seinem ersten Jahresbericht ganz im Gegensatz zu dem Ansatz Baudissins die »Wirklichkeit« des »Staatsbürgers] in Uniform« davon abhängig gemacht, dass die in die Armee Eintretenden »bereits Staatsbürger im eigentlichen Sinne dieses Wortes [seien], d.h., daß sie ihre Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat mit seiner freiheitlichen Ordnung und gegenüber unserem Volk anerkennen [würden] und unsere staatliche Gemeinschaft in persönlicher tätiger Mitverantwortung« trügen172. Von daher braucht es nicht zu erstaunen, dass sich in geradezu schonungsloser Offenheit der vierte Nachfolger Baudissins auf dem Dienstposten des für die Innere Führung zuständigen ministeriellen Unterabteilungsleiters, der schon mehrfach erwähnte Oberst Müller-Lankow, die Zielvorstellungen einer militärnahen, am Ende gar militarisierten Gesellschaft zu eigen machte. Am 7. November 1962 nutzte er die Arbeitssitzung des >Beirates für Fragen der inneren FührungBeirateszweites AufbaustadiumBeirates< warb. In Abkehr von den Festlegungen der »Planer« aus der Gründungszeit der Bundeswehr, die »kein Objekt« zur Verfügung gehabt hätten, kritisierte er es nun unter anderem als verfehlt, »Regelungen für die Zukunft im negativen Abstoß von der Vergangenheit« zu treffen, wobei ihm hier die geschaffenen Vorkehrungen gegen ein Wiederaufleben des >Staates im Staate< Seecktscher Provenienz vor Augen standen. Für ihn zeichnete sich vielmehr drohend, weil »im Atomzeitalter« verhängnisvoll, »eine ganz andere Form der Isolierung der Truppe ab«, mit der sich die Streitkräfte nicht mehr eingebettet sehen könnten »in die geschlossene Verteidigungsgemeinschaft des ganzen Volkes«, die doch »allein die Chance des Überlebens und des Sieges gewährleisten« könne. Infolge solcher Ausgrenzung ließ nach MüllerLankows Beobachtung die Jugend die gebotene »innere positive Willenserklä-

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BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, S. 1 f.; ebd. Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-29). Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, S. 37.

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rung [...] zum Wehrdienst« vermissen. Die in die Streitkräfte eintretenden Freiwilligen entschlössen sich zu diesem Schritt aus unterschiedlichsten Motiven, jedoch kaum »aus der großen politischen Gesamtverantwortung« heraus. Gleichzeitig bereite die Berührung mit der von der Bundeswehr sich abkehrenden Öffentlichkeit insonderheit den jüngeren Offizieren eine herbe Enttäuschung. Der Oberst sah hier bereits eine besorgniserregende Resignation entstehen173. Die gesellschaftlich und politisch bedingte schlechte Gegenwart der Bundeswehr und auch ihrer personellen Rüstung maß er dabei an einem Soll, das in der Tat die Sicherungen gegen ein sich nach Art der frühen Reichswehr elitär von der Gesellschaft abhebendes Militär als anachronistisch erscheinen ließ, weil es viel stärkere Bezüge zu dem auf den >totalen< Krieg zugeschnittenen Integrationsmodell der späteren Wehrmacht spiegelte. Den Ausgangspunkt für das von Müller-Lankow Geforderte bildete das Bild des Krieges, wie es mit Einführung der HD ν 100/2 »Truppenführung 1960 (TF 60)« für das Heer verbindlich geworden war. Diese Vorschrift hatte nachgerade das gesamte Geschehen auf taktischer und operativer Ebene für einen weiten Kreis von Bundeswehroffizieren erstmals alternativlos an das Vorhandensein und den Einsatz atomarer Waffen gekoppelt174. Noch als Lehrgruppenkommandeur an der Schule der Bundeswehr für Innere Führung hatte MüllerLankow im Dezember 1961 vor dem Truppenamt aus der TF 60, die aus Sicht der Heeres- und Bundeswehrführung in der Truppe Nachdenklichkeit, Unruhe und Besorgnis ausgelöst hatte175, sowohl den herausragenden Stellenwert des >Inneren Gefüges< und der militärischen Erziehung als auch das zentrale Erfordernis gesellschaftlicher Integration abgeleitet. Nachdrücklicher noch als unter dem Eindruck der schon bekannten »>stay at homeBeiratesschlimmsten< Fall eines nuklearen Überraschungsangriffes gab er als Ziel der »in weit energischerer Form [...] als bisher« zu betreibenden »Verteidigungsvorbereitung [...] neben einer hohen Mobilbereitschaft der Truppe eine fast milizartig strukturierte Verteidigung in der Kampfzone hinter der mobilen Truppe« an. Angesichts der Diskrepanz zwischen dem Ziel einer milizähnlichen Volksbewaffnung und der tatsächlichen Verfassung der bundesrepublikanischen Gesellschaft kaum erstaunlich, erinnerte er die Beiratsmitglieder in diesem Zusammenhang an die »gewaltigen, vor allem geistigen und publizistischen Anstrengungen«, derer es bedürfe, »um unser Volk überhaupt mit solchen Gedanken nüchtern und entschlossen vertraut zu machen«178. Wie auf die Gesellschaft wesentlich stärker nach den militärischen Bedürfnissen einzuwirken war, so sollte auch innerhalb des Militärs der »soldatische[n] Substanz« größere Beachtung zuteil werden. Moderne Waffentechnik und Kriegsszenarien seien zwar »mit den Maßstäben der Vergangenheit gar nicht mehr zu messen«, desungeachtet aber habe die Manöverauswertung von FALLEX gezeigt, dass »die soldatischen Auffassungen und die soldatische Diszip176

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Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 3 f. Hervorhebung im Original, 41 f., 46 f.; zur Kritik an den Soldaten der Bundeswehr vgl. ebd., S. 10-22. BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 4 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-29). Im Hintergrund stand hier nicht zuletzt die als unzureichend bewertete zivile Notstandsvorsorge. BA-MA, BW 2/16291, Beiratsakten, Niederschrift über die Sitzung am 7.11.1962, beigefügtes Vortragsmanuskript Oberst Müller-Lankow, S. 2 - 5 .

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lirt« noch weit stärker gefordert würden als vordem. Nach Müller-Lankows Ausführungen sollten daher auch unter dem Blickwinkel der Binnenverfassung der Streitkräfte die in »einem theoretischen Stadium« getroffenen Regelungen der Anfangszeit überprüft werden179. In bemerkenswerter Abweichung zu dem ein Jahr zuvor abgegebenen Bericht zur Lage der Inneren Führung kamen nun Vorgaben auf den Prüfstand, die Ende 1961 noch als akzeptiert erschienen waren. Vor dem Truppenamt hatte Müller-Lankow zwar Nachbesserungen für den Erlass »Erzieherische Maßnahmen« in Aussicht gestellt, der für Vorgesetzte ohne Diszipinargewalt ein zu geringes Maß an Sanktionsmöglichkeiten bereithalte, und er hatte das Fehlen einer Verbotsmöglichkeit der frühen Heirat als derzeit nicht zu ändern bedauert, im Übrigen aber schienen ihm Vorgesetztenverordnung und Disziplinargewalt in durchaus zufriedenstellendem Maße geregelt zu sein. Letztere würde »völlig ausreichen«, und Erstere fand nur Erwähnung im Zusammenhang mit einer stellenweise noch mangelnden Wahrnehmung der damit einhergehenden Fürsorgepflicht seitens der Vorgesetzten180. Vor dem >Beirat< erschien ein Jahr nach dem Vortrag im Truppenamt die »Frage nach der zureichenden Regelung des Vorgesetztenverhältnisses« dagegen als offen, ebenso die »der Grußpflicht« und jene »des Uniformtragens im ersten Jahr des Grundwehrdienstes«, nicht anders die »Frage der Heiratsordnung«. Sogar die mit der Abfassung des Soldatengesetztes 1955/56 grundsätzlich getroffene Entscheidung zugunsten einer weitestmöglichen Angleichung des Status des Soldaten an den des Beamten wurde jetzt von dem für die Innere Führung zuständigen Unterabteilungsleiter als »ungeklärte und umstrittene Problematik« ausgegeben. Dass es Müller-Lankow bei der Öffnung dieser Fragenkomplexe kaum um eine Liberalisierung des inneren Gefüges, dass es ihm ganz im Gegenteil um eine nachhaltige Disziplinierung der Truppe ging, erhellt aus seiner Feststellung, dass es bislang »noch nicht gelungen [sei], eine feste soldatische Ordnung so aufzubauen, daß die jungen Soldaten ihren Ernst und ihr Gewicht erkennen« würden. Gekoppelt war damit die Forderung, »auch Wehrstrafgesetz, Wehrdisziplinarordnung, Wehrbeschwerdeordnung für den Kriegsfall« den Offizieren an die Hand zu geben, »um ihnen den ganzen Ernst deutlich zu machen«. Selbst die als Kontrast zu einer »strenger« zu gestaltenden inneren Ordnung von Müller-Lankow angeführte »politische Bildung« drohte die ihr zugedachte >freiere< Orientierung Lügen zu strafen, hielt er doch den gesellschaftlichen Pluralismus eher für eine Belastung denn für einen wesentlichen Bestandteil der auch in der Truppe abzubildenden politischen Kultur der Bundesrepublik. Wenn also mit seinen Worten »nach nunmehr 6 Jahren der Bundeswehr [deren] eigentliche geistige Formung« noch ausstand, dann zielte diese beabsichtigte Weiterentwicklung auf ein »Wesen des Soldaten«, das der von Baudissin konzipierten Vermittlung zwischen dem Bürger und dem Soldaten eine recht deutliche Absage erteilte und stattdessen die zumindest kon-

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Ebd., S. 2 f. Vgl. Vortragsmanuskript (Truppenamt, 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 23-25, 30, 32 f., Zitat S. 24.

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servative Variante favorisierte. Gleichzeitig schien mit der Kritik an der offenkundig unter den Soldaten mangelnden Verinnerlichung militärischer Ordnungsmuster, für die zum Beleg Müller-Lankow nicht zuletzt den Anstieg der Fälle von Fahnenflucht und eigenmächtiger Abwesenheit herangezogen hatte, einmal mehr neben Kriegsbild und gesellschaftlicher Entwicklung der gerade auch durch personelle Defizite bedingte Streitkräfteinterne Hintergrund für die Akzentuierung des konservativen Vermittlungsmodells auf181. Als wie verführerisch sich unter einer krisenhaft verlaufenden personellen Rüstung die Flucht in die gewünschte militärnahe Gesellschaft und in das entsprechende konservative Vermittlungsmodell zwischen Bürger und Soldat erweisen mochte, sollte schließlich Ende der 60er-Jahre mit der sogenannten Schnez-Studie, also der vom Führungsstab des Heeres im Juni 1969 vorgelegten Studie »Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres«, offenbar werden 182 . Das unverkennbar die Gegenwart der 68er-Bewegung verratende Papier ist zu ungleich größerer Prominenz gelangt als die Ausführungen MüllerLankows. Dies liegt nicht nur an seiner binnen Jahresfrist erfolgenden Veröffentlichung in einer auf der politischen Linken angesiedelten Zeitschrift 183 , sondern selbstverständlich auch an dem Kreis der für seinen Inhalt Verantwortlichen. Obwohl außerhalb des hier gewählten Betrachtungszeitraumes gelegen, kann die Studie damit einiges über die Signifikanz der Überlegungen des Unterabteilungsleiters vom Spätherbst 1962 aussagen. Erstellt mit dem Ziel, »die Kampfkraft des Heeres entscheidend heben« zu können, klagte sie eine an »soldatischen Maximen« ausgerichtete »Reform [...] an Bundeswehr und Gesellschaft« ein und konnte sich mit dieser Zielsetzung und mit diesen beiden Adressaten in Vielem an die Gedankengänge MüllerLankows anlehnen184. Vielleicht hatte zu der inhaltlichen Brücke eine Vermitt181

BA-MA, BW 2/16291, Beiratsakten, Niederschrift über die Sitzung am 7.11.1962, beigefügtes Vortragsmanuskript Oberst Müller-Lankow, S. 8-11, 14 f. Vgl. zur >politischen Bildung< vor allem folgende Passage ebd., S. 14: »Je strenger aber die Disziplin in der Truppe in Befehl und Gehorsam ist, desto mehr muß als Äquivalent dazu eine freie, offene und staatsbürgerliche politische Bildung dem Soldaten klarmachen [!], um was es geht. Das ist nicht leicht in der pluralistischen Gesellschaft, in der wir leben, in der so viele ungelöste staatliche Probleme, ja ich möchte sagen, gelegentlich sogar die Abwesenheit des Staates auf den Soldaten eindringen, und auch der gutwillige militärische Führer sich nicht immer zurechtfindet.« Zum anzustrebenden kriegsbezogenen Binnengefüge der Friedensbundeswehr vgl. u.a. auch ebd., S. 14 f.: »Mit nüchternem Blick auf das Kriegsbild und seine bis [in] Panik hineingehenden Schrecken und Lähmungserscheinungen kann die militärische Disziplin nicht allein von innen her über Überzeugung und Einsicht aufgebaut werden, sondern muß gleichzeitig Stützen in der Ordnung selber haben.« Damit wurde das zu den tragenden Grundlagen des Reformkonzeptes rechnende Prinzip des »Gehorsams aus Einsicht< deutlich relativiert. 182 BA-MA, BW 1/17333, Führungsstab des Heeres, Studie: Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres, Juni 1969. 183 Veröffentlicht unter dem Titel: »Wortlaut der >Schnez-StudieBeirates< zuständiger Referent einem Vortrag seines Unterabteilungsleiters folgen, an dessen Erarbeitung er nach einem handschriftlichen Vermerk maßgeblich mitgewirkt hatte185. 1969 war er als Brigadegeneral und >General Erziehungs- und Bildungswesen< im Truppenamt ebenfalls an der Erarbeitung der Studie beteiligt gewesen 186 . Wichtiger als diese eher zufällige personelle Verbindung ist indes der Umstand, dass mit dem Führungsstab und der Unterschrift des Inspekteurs des Heeres, Generalleutnant Albert Schnez187, darüber hinaus auch noch mit der Einbeziehung von Dienststellen aus dem nachgeordneten Bereich ein bereits bemerkenswerter Teil von Heeresoffizieren 1969 in eine Richtung dachten, die mit der von Müller-Lankow 1962 verfolgten korrespondierte. Dass sie dabei noch unter Verteidigungsminister Gerhard Schröder von der Leitung des Ministeriums zu rückhaltloser, ggf. auch die vorgegebene Rechtslage unbeachtet lassender Analyse angehalten worden waren 188 , spricht für die Authentizität ihrer Überlegungen. Damit soll nun nicht ein besonders breitenwirksamer Einfluss des Unterabteilungsleiters von 1962 unterstellt werden. Vielmehr erscheint die Verbreitung solcher auf die militärnahe Gesellschaft gerichteten Gedankengänge beachtenswert, die - sofern die Autoren von 1969 in den sechseinhalb Jahren seit 1962 nicht gänzlich anderen Sinnes geworden sind - die Auffassungen Müller-Lankows für einen guten Teil der damals in einer mittleren Führungsebene verwendeten Offiziere als repräsentativ erscheinen lässt.

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Rechten vorgeordnet werden und das »Recht der Gesamtheit Vorrang vor dem Recht des Einzelnen« (S. 6) besitzen; innermilitärisch sollte unter anderem der Disziplinararrest von richterlicher Genehmigung freigestellt, das Kriegsdienstverweigerungsrecht während des Wehrdienstes ausgesetzt werden. Vgl. zur Studie auch die Zusammenfassung unten, S. 487 f., deren Vergleich mit den Überlegungen Müller-Lankows auch die Übereinstimmung erkennen lässt. Zur Teilnahme an der Beiratssitzung vgl. BA-MA, BW 2/16291, Beiratsakten, Niederschrift über die Sitzung am 7.11.1962, dort S. 1, sowie beigefügtes Vortragsmanuskript Oberst Müller-Lankow, S. 1, 17; dort S. 1 auch der hdschr. Vermerk: »Arbeitssitzung der bisherigen Beiratsmitglieder am 7. Nov. 1962 von 10.00-16.00. Ansprache O.i.G. MüllerLankow/ausgearbeitet O. Karst«. Zu der Rolle, die Karst bei der Erstellung auch noch des im Nachgang zu der sogenannten Schnez-Studie abgefassten und sich dabei an diese anlehnenden Forderungskataloges der »Hauptleute von Unna« (1971) gespielt hat, vgl. Bald, Politik gegen die Demokratisierung, S. 14-16. Zur Mitarbeit an der Studie 1969 vgl. Materialien in BA-MA, Ν Karst, 690/v. 61. Albert Schnez (1911-2007), 1930 Eintritt in die Reichswehr, Beförderung zum Leutnant 1933, nach Generalstabsausbildung 1941 in Führungs- und Stabsverwendungen, zuletzt als Oberst und General des Transportwesens in Italien; danach selbständiger Kaufmann und Leitender Angestellter. 1957 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Brigadegeneral, 1957-1960 Unterabteilungsleiter Fü Β V (Logistik), 1960-1962 Chef des Stabes Fü B, Beförderung zum Generalmajor 1962, 1962-1965 Kommandeur der 5. Panzerdivision, Beförderung zum Generalleutnant 1965, 1965-1968 Kommandierender General III. Korps, 1968-1971 Inspekteur des Heeres; weitgehend nach Hammerich/Kollmer/ Rink/Schlaffer, Das Heer, S. 708, und Taschenbuch für Wehrfragen, 4 (1960/61), S. 565. BA-MA, BW 1/17333, Führungsstab des Heeres, Studie: Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres. Juni 1969, Vorbemerkung im Auftrag des Parlamentarischen Staatssekretärs (Karl Wilhelm Berkhahn).

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Indessen sprechen auch schon für den Stellenwert der Überlegungen MüllerLankows sowohl das Gremium, vor dem er sie vorgetragen hatte - immerhin war dem >Beirat< die gutachterliche Beratung des Ministers in Angelegenheiten der Inneren Führung aufgegeben189 - , als auch der Umstand, dass die Protokolle der Sitzungen des >Beirates< auch dem Minister zur Kenntnis gegeben wurden. Die zur Prüfung den Teilnehmern zugeleitete Fassung enthielt eine wesentliche Punkte treffend wiedergebende Zusammenfassung seines Vortrages190. Vor diesem Hintergrund ist es wenig wahrscheinlich, dass Müller-Lankow seine Gedanken - gleichsam als die eines Einzelgängers - ohne vorherige Abstimmung zumindest mit seinen unmittelbaren Vorgesetzten vorgetragen hatte. Der >Beirat< reagierte recht zurückhaltend auf die Eröffnungen MüllerLankows, wozu zweifellos auch die sehr verständliche Verstimmung über die teilweise ignorante Behandlung durch die ministerielle Spitze, namentlich durch den häufig abwesenden Minister Strauß in den vorangegangenen Monaten und Jahren beigetragen hatte191. Gleich zu Anfang wies Professor Hans Bohnenkamp192 »eine Ein- bzw. Mitwirkung auf die Gesamterziehung des Volkes« für den >Beirat< zurück, was von Müller-Lankow knapp bestätigt wurde. Anschließend konzentrierten sich die Sitzungsteilnehmer auf die Forderungen, die seitens des >Beirates< in kritischer Würdigung des bisherigen Verhaltens der Leitung zur Verbesserung der Zusammenarbeit erhoben wurden193. So zeitigten die Ausführungen des Unterabteilungsleiters in diesem besonderen Fall zunächst keine unmittelbaren Konsequenzen. Gleichwohl stellt sich angesichts der diese durchziehenden Programmatik die Frage nach den Auswirkungen eines solchen innerhalb der militärischen Führung verschiedentlich schon seit Längerem zum Ausdruck gebrachten Denkens, das hier nun erklärtermaßen auf eine Neuorientierung der Inneren Führung hinauslief. Hier geraten drei Untersuchungsfelder in den Blick, auf die Müller-Lankow - neben anderen - auch angespielt

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Vgl. BA-MA, BW 2/16290, Beiratsakten, dort Bundesminister der Verteidigung - Fü Β 1 4 Az.: 35-10, Erlass über die Bildung eines Beirates für Fragen der inneren Führung, 30.6.1958, § 2. BA-MA, BW 2/16291, Beiratsakten, dort auch Schreiben Fü Β 14, Az.: 35-10, 1.12.1962, an Ltr. Fü Β I, mit beigefügter Niederschrift über die Arbeitssitzung am 7.11.1962, dort bes. S. 1 - 4 . Vgl. dazu Α WS, Bd 3, S. 9 8 6 - 9 9 4 (Beitrag Meyer), vgl. ebd., S. 995-997, auch die Darstellung der Beiratssitzung (allerdings ohne Vertiefung des Vortrages von Müller-Lankow). Hans Bohnenkamp (1893-1977), Dr. phil., Hochschullehrer, Kriegsteilnehmer 1914-1918, zuletzt Leutnant, nach Kriegsende Fortsetzung des Studiums der Mathematik, Physik, Philosophie und Pädagogik, nach Tätigkeit als Lehrer an Höheren Schulen im In- wie Ausland ab 1930 Professuren an den Pädagogischen Akademien in Frankfurt/Oder, Elbing und Cottbus; nach Reserveübungen zum Major d.R. befördert, Kriegsteilnehmer 1939-1945, Frontverwendungen u.a. als Regimentskommandeur. Nach Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft Gründungsdirektor der Pädagogischen Hochschule in Celle (bis 1954) und dortiger Lehrstuhlinhaber (bis 1958), Mitglied im >Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen< und im >Beirat für Fragen der inneren Führung der Bundeswehr^ weitgehend nach Hans Bohnenkamp. BA-MA, BW 2/16291, Beiratsakten, Niederschrift über die Arbeitssitzung am 7.11.1962, dort S. 5 - 1 0 , Zitat S. 5.

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hatte: das Vorgesetztenverhältnis, das Projekt der Wehrakademie und die Materialien zur politischen Bildung. Die Fixierung des Vorgesetztenverhältnisses liefert zum einen Aufschlüsse über den dem Soldaten zugebilligten Freiraum. Zum anderen können von der Betrachtung darauf bezogener Initiativen auch Aussagen zu der oben aufgeworfenen Frage nach der Belastbarkeit der politisch-parlamentarischen Abstützung der Inneren Führung Baudissins erhofft werden. Immerhin hatte der Gesetzgeber der Ausgestaltung des Vorgesetztenverhältnisses mit dem Soldatengesetz bewusst Grenzen gezogen. Sodann kann die institutionelle Absicherung der über das bloße >Handwerkliche< hinausreichenden >Bildung< des gewollten Vorgesetzten als ein Indikator genommen werden für die Vorbereitung des Soldaten auf den >permanenten Bürgerkrieg< und für das Maß der gewollten Integration in eine zivile Gesellschaft. Sie hatte gerade auch in der Wehrakademie für junge Offiziere Gestalt gewinnen sollen, wofür indessen MüllerLankow ein neues Konzept vor dem >Beirat< angekündigt hatte194. Schließlich lässt sich an der Gestaltung des zum Truppengebrauch ausgegebenen Materials für die politische Bildung - hier in erster Linie der Hefte der »Information für die Truppe« - ablesen, bis zu welchem Grade der Soldat indoktriniert oder im Geiste der freiheitlichen Grundordnung und des Pluralismus zu eigener Meinungsbildung angehalten werden sollte. In diesem Zusammenhang fällt auch der Blick auf die Regelung der Traditionsfrage, die mit zunehmender Truppenstärke dringlicher wurde und die gleichermaßen Fingerzeige bereithält für das Problem, an welchem Muster des Soldaten sich der Bundeswehrangehörige hatte orientieren sollen.

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Veränderung der Vorgesetztenverordnung

Indem das Soldatengesetz und die in dessen Rahmen erlassene Vorgesetztenverordnung sehr deutlich mit dem früheren allgemeinen Vorgesetztenverhältnis brachen, unterstrichen sie sowohl den betont funktionalen Charakter der dienstlichen Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Unterstellten als auch den möglichst weit gezogenen, an der bloßen militärischen Notwendigkeit seine Grenzen findenden Freiraum des gewollten Soldaten. Ein Vorgesetztenverhältnis bestand nach der ursprünglichen Fassung der Vorgesetztenverordnung aufgrund der höheren Dienstgradgruppe (Offiziere - Portepee-Unteroffiziere Unteroffiziere ohne Portepee - Mannschaften) nur innerhalb der Kompanien bzw. entsprechenden Einheiten und dort auch nur während des Dienstes. Befehlsbefugt waren im Dienst sodann die unmittelbaren Vorgesetzten, außer Dienst darunter indes nur noch die Disziplinarvorgesetzten. Sieht man einmal von den Sonderfällen ab, die zuvörderst den militärischen Ordnungsdienst und das Vorgesetztenverhältniss kraft eigener Erklärung berühren, dann ruhte die

·' Ebd., beigefügtes Vortragsmanuskript Oberst Müller-Lankow, S. 16.

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Vorgesetzteneigenschaft sofern der Soldat sich nicht im Dienst befand, allein bei dessen Disziplinarvorgesetzten195. Diese Verdichtung der Kompetenzen beim Disziplinarvorgesetzten war über die Vorgesetztenverordnung - und selbstredend auch eine ganze Reihe weiterer Regelungen (so z.B. die Wehrdisziplinar- und Wehrbeschwerdeordnung) - hinaus noch durch einen besonderen Erlass über die den Vorgesetzten zur Verfügung stehenden erzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten unterstrichen worden. Mit dem Erlass »Erzieherische Maßnahmen« bestand ab Ende 1958 zwischen >allgemeinen< und besonderen erzieherischen Maßnahmen< eine später auch von Müller-Lankow kritisierte markante Trennlinie. Unterhalb disziplinarer Eingriffe angesiedelt und sachlich auf den Zusammenhang der Ausbildung und Erziehung von Soldaten begrenzt, standen Erstere allen Vorgesetzten, Letztere dagegen wiederum allein dem Disziplinarvorgesetzten zu Gebote. Auffällig war auch hier der deutliche Unterschied zwischen den Sanktionsbefugnissen. Ging es um die Beseitigung eines Mangels (und war die hoch liegende Schwelle der vorläufigen Festnahme nach der Wehrdisziplinarordnung nicht erreicht), dann konnte der Vorgesetzte ohne Disziplinargewalt letztlich nur noch zu der Meldung greifen, wenn >BelehrungErmahnungZurechtweisung< und >Warnung< sowie in Verbindung damit ein auf die Abstellung des Mangels zielender Befehl zuvor nicht zum Erfolg geführt hatten. Der Disziplinarvorgesetzt konnte hingegen durch die Anordnung eines zusätzlichen Dienstes oder durch das Versagen des Nacht- oder Wochenendurlaubs - soweit der sachliche Bezug zum Fehlverhalten des Soldaten gegeben war und der Ausgang noch seinem Ermessen unterlag - in wesentlich fühlbarerer Weise auf den Untergebenen Einfluss nehmen. Seine Befugnisse durfte er jedoch nicht delegieren196. Führt man sich die bereits geschilderten Bedingungen des Auf- und Umbaus des Heeres vor Augen, sodann die dies begleitenden personellen Um- und Unterbesetzungen sowie die für die Chefs damit einhergehenden außerordentlichen Belastungen, dann erscheint es zunächst plausibel, dass angesichts solcher Ausgangsbestimmungen etwa ab Anfang 1959 der Druck aus der Truppe zugenommen hatte, das Vorgesetztenverhältnis im Sinne einer Erweiterung zu überprüfen. So jedenfalls datierte Oberst i.G. Wolfgang Otto Köstlin, ab dem 1. Juli 1958 Referent im Fü Β I, dann ab dem 1. Februar 1960 beauftragt mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Unterabteilungsleiters197, vor dem >Beirat für 195

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Verordnung über die Regelung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses vom 4.6.1956 (BGBl. 1956, Teil I, S. 459 f.), dort §§ 1 und 3 f. Eine Ausnahme bildeten die Schiffe und Boote der Marine, an Bord derer auch außerhalb des Dienstes ein Vorgesetztenverhältnis aufgrund der höheren Dienstgradgruppe galt. Vgl. hierzu Bundesminister für Verteidigung - Fü Β I 4 Az.: 35-05-04-00, 28.11.1958, Erlass »Erzieherische Maßnahmen« (nicht im VMB1. veröffentlicht). Wolfgang Otto Köstlin (1914-1997), 1933 Eintritt in die Reichswehr, 1935 zum Leutnant befördert, Verwendung in Infanterie- und Kavallerie-Einheiten, nach Generalstabslehrgang u.a. Verwendung in der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres, als Major in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Nach Entlassung Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen mit Abschluss des zweiten Staatsexamens. 1956 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Oberstleutnant, Beförderung zum Oberst

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Fragen der inneren Führung< im Frühjahr 1960 die Initiativen zur Veränderung der Verordnung, wobei er deren hauptsächliche Betreiber aus Heer und Luftwaffe kommen sah198. In zwei im Nachlass des damaligen Oberstleutnants bzw. Obersten (ab 13. April 1961) Karst liegenden und offensichtlich von ihm gefertigten Denkschriften aus den Jahren 1960 und 1962 wurde eindeutiger der Führungsstab des Heeres mit seiner Kritik an der seit 1956 bestehenden Vorgesetztenregelung hervorgehoben 199 . Nachvollziehbar erscheint der demnach zumindest in der größten Teilstreitkraft erhobene Ruf nach der Novellierung der Vorgesetztenverordnung vor allem in dem Maße, in dem es den dafür Verantwortlichen auf die Entlastung vor allem der Chefs ankam. Der Verlauf der Auseinandersetzung sollte jedoch zeigen, dass es um weit mehr als nur um eine - am Ende gar nur vorübergehende - Aushilfe ging. Einen ersten Fingerzeig auf die mit der Novelle zur Vorgesetztenverordnung verklammerten weiterreichenden Anliegen geben die Umstände ihrer Einführung. Die Diskussion um das Vorgesetztenverhältnis hatte im Frühjahr 1960 einen Stand erreicht, der den >Beirat< dazu veranlasste, diese Frage in die Tagesordnung einer internen Sitzung am 17. und 18. März aufzunehmen 200 . An der in Schloss Auel anberaumten Sitzung nahmen dann in Erweiterung des Kreises der Beiratsmitglieder seitens des Ministeriums Oberst Köstlin, die Oberstleutnante Karst und Dr. Eberhard Wagemann, der Hauptmarin Leo Emesti201 sowie auf Wunsch des >Beirates< und entsprechende Weisung des Staatssekretärs Volkmar Hopf 202 der Kommandeur der Panzergrenadierbrigade 4, Brigade-

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1958; nach ministerieller Verwendung Kommandeur Panzerbrigade 30, anschließend von 1963-1967 Unterabteilungsleiter Fü Β I; 1963 zum Brigadegeneral befördert, wurde Köstlin 1968 mit gleichzeitiger Ernennung zum Generalmajor Stellvertretender Kommandierender General des III. Korps. In den Ruhestand 1971 verabschiedet; nach Bradley/Würzenthal/Model, Die Generale und Admirale der Bundeswehr, Bd 2/2, S. 709-711. BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Niederschrift über die 7. Sitzung des Beirates für Fragen der Inneren Führung am 17. und 18.3.1960 in Schloß Auel, S. 4. BA-MA, Ν Karst, 690/v. 5a, Fü Β I 4 Az.: 35-08-01, 19.9.1960, Gründe für die Ergänzung der W O vom 4.6.1956, und BA-MA, Ν Karst, 690/v. 79a, Fü Β 14 Az.: 35-08-01, 26.11.1962, Gründe für die Einführung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses. Die über weite Strecken textgleichen und umfangreichen Ausführungen wurden von Karst zwar nicht abgezeichnet, allerdings war er unter dem jeweils angegebenen Datum der Referent Fü Β I 4 (30.4.1959-30.9.1963). In beiden Schriften wird auf der jeweiligen ersten Seite die grundlegende und in dem eigenen Papier übernommene Kritik des Fü Η an der Vorgesetztenverordnung von 1956 unterstrichen, für die das Misstrauen gegen den Vorgesetzten die leitende Idee gewesen sei. Vgl. BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Schreiben Prof. Bohnenkamp an die Mitglieder des Beirates für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr, 10.5.1960, S. 1, sowie ebd., Schreiben Fü Β I-Fü Β I 4 Az.: 35-10, 22.2.1960, an Minister mit der Mitteilung über die Tagesordnung. In Letzterem war zwar nicht ausdrücklich die Rede von der W O , sondern nur mehr von den strukturellen Fragen des inneren Gefüges< und von der »Disziplin^ Wie sich jedoch zeigen sollte, waren die bei der Sitzung anwesenden Vertreter des Ministeriums auf die Nachfrage bzgl. der W O vorbereitet. Hilfsreferent Fü Β 14,1958-1962. Volkmar Hopf (1906-1997), ab 1930 im Justizdienst, ab 1936 Landrat in Pommern, 1939 Oberlandrat im Protektorat Böhmen und Mähren, 1940-1945 Kriegsteilnehmer, danach Verbandssysndikus in Wiesbaden, 1951-1955 Verwendung im Bundesministerium des

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general Graf Baudissin, teil203. Zu den Absichten des Ministeriums bezüglich der Vorgesetztenverordnung teilte Oberst Köstlin dort eingangs mit, dass u.a. die Ausdehnung des »generelle[n]« - also des allgemeinen - Vorgesetztenverhältnisses auf einen räumlich mit der Truppenunterkunft begrenzten Bereich erwogen werde. Zugleich würden die bisher für die Vorgesetzteneigenschaft aufgrund des Dienstgrades bestehenden Bindungen an die Dienstzeit sowohl innerhalb der Kompanien, wo dieses Vorgesetztenverhältnis bereits eingeführt war, als auch im Kasernenbereich entfallen204. Mit der organisationsbezogenen Einschränkung der Vorgesetztenbefugnis aufgrund des Dienstgrades auf die Einheiten, innerhalb derer es jetzt zeitlich unbefristet gelten sollte, und der räumlichen Einschränkung auf die Kaserne, innerhalb derer es unabhängig von der Zugehörigkeit zu den Kompanien und ebenfalls ununterbrochen bestehen sollte, war der Konflikt mit dem Soldatengesetz vermieden worden, das bestimmt hatte, dass aufgrund »des Dienstgrades allein [...] keine Befehlsbefugnis außerhalb des Dienstes« bestehe205. Trotz weitergehender Wünsche seitens der Truppe hege man im Ministerium die Hoffnung - so Oberst Köstlin - , »mit den geplanten Änderungen auszukommen«. Unklar blieb bei diesen Erklärungen allerdings, ob das innerhalb der Einheiten aufgrund des Dienstgrades bestehende Vorgesetztenverhältnis fortan nicht nur außer Dienst, sondern auch jenseits der Kasernenmauern gelten sollte. Die sich an diese Eröffnung anschließende Aussprache zeigte jedoch sehr schnell, dass Bestrebungen, die auf eine Erweiterung des Vorgesetztenkreises zielten, zumindest im >Beirat< einen schweren Stand haben würden. Gleichsam als Gutachter hatte sich Baudissin geäußert und dabei auf die in der Tat gegebene Ausnahmesituation des raschen Auf- und Umbaus hingewiesen, aus der man schlecht prinzipielle Konsequenzen ableiten könne. Nach seinen Erklärungen hatte sich die Vorgesetztenverordnung doch bewährt, im Gegenteil »seien erstaunlich wenige Fälle von Disziplinlosigkeiten aufgetreten«. Statt Hand an die Institutionen - hier also die Vorgesetztenverordnung - zu legen, sei doch eher zu überlegen, »ob es sich nicht meistens um ein Versagen der Vorgesetzten handele, wenn Disziplinarfälle auftauchten«. Nahezu einhellig sprachen sich alle nachfolgenden Einlassungen der Beiratsmitglieder gegen die beabsichtigte Änderung der Vorgesetztenverordnung aus. Der Hochschullehrer und Pädagoge Hans Bohnenkamp riet im Sinne des »Vorschusses an Vertrauen« dazu, die

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Innern, 1 9 5 5 - 1 9 5 9 Leiter der Abteilung II bzw. Η (Finanzen und Haushalt) im Bundesministerium für Verteidigung, 1 9 5 9 - 1 9 6 4 Staatssekretär im Bundesministerium für bzw. der Verteidigung, 1 9 6 4 - 1 9 7 1 Präsident des Bundesrechnungshofes; nach Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd 14, S. 326. Vgl. BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Niederschrift über die 7. Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 17. und 18.3.1960 in Schloß Auel; ebd., Fü Β I Az.: 35-10, Aktenvermerk Oberst Köstlin für Generalinspekteur, 15.3.1960; ebd., Fernschreiben Fü Β 1 4 an III. Korps und 2. Panzer-Grenadier-Division, 15.3.1960. BA-MA, B W 2/16286, Beiratsakten, Niederschrift über die 7. Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 17. und 18.3.1960 in Schloß Auel, S. 4. Gesetz über die Rechtsstellung des Soldaten (Soldatengesetz) v o m 19.3.1956, § 1 Abs. 4 (BGBl. 1956, Teil I, S. 115).

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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»Pannen« in Kauf zu nehmen, sein Kollege Erich Weniger hielt es ebenfalls für besser, z u z u w a r t e n und »die augenblicklich kritische Zeit auszuhalten«. Nicht anders Willy Bokler 2 0 6 , der Bundespräses des >Bundes der Deutschen Katholischen JugendBeirat für Fragen der inneren Führung der Bundeswehn; weitgehend nach Lexikon für Theologie und Kirche, Bd 2, S. 555. 207 Fridolin (Frido) von Senger und Etterlin (1891-1963), 1911-1914 Studium der Rechtswissenschaften (u.a. in Oxford), danach Kriegsteilnehmer als Leutnant d.R., 1917 Übernahme in das aktive Dienstverhältnis, Übernahme in die Reichswehr, bei Kriegsbeginn 1939 Kommandeur der Reiterbrigade 1, nach Frontverwendungen in Russland und im Mittelmeerraum 1943 Kommandierender General des 14. Panzerkorps in Italien, zuletzt General der Panzertruppe, 1945 nach Kapitulation als Chef der Übergabekommission der Heeresgruppe Südwest in alliierte Kriegsgefangenschaft geraten. 1947-1955 Erzieher und Leiter einer Zweigschule des Internats Schloss Salem, Mitglied des Personalgutachterausschusses und ab 1958 Mitglied im >Beirat für Fragen der inneren Führung der Bundeswehr^ weitgehend nach Internationales Biographisches Archiv, 27/1963 (24.6.1963). 208 Eberhard Stammler (1915-2004), nach Studium der evangelischen Theologie Pfarrer, im Zweiten Weltkrieg zum Wehrdienst eingezogen, zuletzt Leutnant d.R., nach dem Kriege neben der Arbeit als Gemeindepfarrer u.a. in Stuttgart in der evangelischen Publizistik engagiert, u.a. als Chefredakteur der Zeitschrift »Junge Stimme« und als Vorsitzender des >Beirates der Selbstkontrolle der Illustrierten^ Mitglied im >Beirat für Fragen der inneren Führung der Bundeswehr^ weitgehend nach BA-MA, BW 2/16289, Beiratsakten, Angaben zur Person Eberhard Stammler. 209 BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Niederschrift über die 7. Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 17. und 18.3.1960 in Schloß Auel, S. 4-8. Vgl. auch den schriftlichen Bericht, den der Sprecher des Beirates in Briefform für die abwesenden Mitglieder erstellt hatte, ebd., Schreiben Prof. Bohnenkamp an die Mitglieder des Beirates für Fragen der inneren Führung der Bundeswehr, 10.5.1960, S. 1 -3, wo es zusammenfassend mit vorsichtiger Zurückhaltung heißt: »Nach meinem Eindruck überwog im ganzen die Tendenz, von einer Änderung der bestehenden Regelung abzuraten. Doch bleibt die Frage noch offen; sie wird zu beantworten sein, wenn der Beirat vom Ministerium gefragt wird.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Bei diesem im Wesentlichen ablehnenden Stand der Aussprache, in deren Verlauf grundlegende Weiterungen der Novellierung zum Mindesten in Andeutungen zum Vorschein gelangten, wurde das Thema vertagt. Köstlin hatte auch versichert, dass definitive Beschlüsse noch nicht gefasst worden seien. Gleichzeitig hatte man dem >Beirat< in Aussicht gestellt, ihn rechtzeitig mit der Materie vor einer Entscheidung zu befassen210. Was dann indes folgte, könnte man gut auch als Coup bezeichnen. Unter dem Datum des 6. August 1960 wurde im Bundesgesetzblatt die Änderung der Vorgesetztenverordnung veröffentlicht. »Innerhalb umschlossener militärischer Anlagen« schuf die Novellierung das vor dem >Beirat< angekündigte, »in und außer Dienst« sowie unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einheit oder Teileinheit geltende Vorgesetztenverhältnis aufgrund der »höheren Dienstgradgruppe«. Zugleich wurde die Befehlsbefugnis aller unmittelbaren Vorgesetzten aus dem Zusammenhang des Dienstes gelöst, sodass jetzt über den Dienst hinaus nicht allein der Disziplinarvorgesetzte, sondern gleichfalls jeder Teileinheitsführer (in der Regel also Zug- und Gruppenführer) auch außerhalb des Dienstes und räumlich unbegrenzt gegenüber den Angehörigen seiner Einheit oder Teileinheit befehlsbefugt war211. Entgegen der noch im Frühjahr gegebenen Zusage war der >Beirat< zuvor nicht noch einmal an den Beratungen beteiligt worden. Oberstleutnant Karst suchte dies später überspielend zu entschuldigen mit dem Wechsel der Unterabteilung von Oberst Köstlin zu Brigadegeneral Werner Willi Drews, vollzogen am 1. Juni 1960, wozu dann noch seine eigene Urlaubsabwesenheit gekommen sei212. Indessen musste noch am 26. Oktober der Fü Β I, also Baudissins früherer Sachgebietsnachbar, Konkurrent und jetziger dritter Nachfolger im Amt Drews, dem Generalinspekteur wie dem Staatssekretär von der nachwirkenden und die Arbeit belastenden »Verstimmung« des >Beirates< berichten213. Aber nicht nur der >Beirat für Fragen der inneren Führung< fühlte sich - mit Recht - desavouiert. Gleichermaßen verärgert, weil gleichermaßen nicht beteiligt, war der Verteidigungsausschuss. Unter einem rein rechtlichen Aspekt hätte der Verteidigungsausschuss an der Veränderung der Vorgesetztenverordnung allerdings nicht beteiligt werden müssen. Die Wortmeldungen des Ausschussvorsitzenden, Richard Jaeger, wie auch die nahezu aller Ausschussmitglieder bestätigten die vom Generalinspekteur im Auftrage des Ministers auf der Sitzung vom 29. September 1960 erläuterte Auffassung, die auch vom Staatssekretär mitgetragen wurde, dass es sich bei der Verordnung »um eine rein exekutive Angelegenheit« gehandelt habe,

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211

212 213

Nach der Versicherung der Herren des Ministeriums wird das zeitgerecht geschehen« Hervorhebung im Original. Ebd., Niederschrift über die 7. Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 17. und 18.3.1960 in Schloß Auel, S. 4, 9. Zweite Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Regelung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses vom 6.8.1960 (BGBl. I960, Teill, S. 684), § 1; siehe auch VMB1. I960, S. 505. BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Schreiben Karst an Pfarrer Stammler, 15.9.1960. Ebd., Schreiben Fü Β I Az.: 35-10, an Staatssekretär über Generalinspekteur, 26.10.1960.

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welche dem Buchstaben des Gesetzes nach nicht der parlamentarischen Mitwirkung bedurfte. Der Vorsitzende wisse »genau und stimme darin Herrn General Heusinger völlig zu, dass der Erlass der Verordnung verfassungs- und gesetzmäßig« sei214. Was Jaeger jedoch demgegenüber sehr nachdrücklich bezweifelte, war die politische Weisheit, eine solche Verordnung ohne vorherige Konsultation des zuständigen Bundestagsausschusses, noch dazu in den Parlamentsferien, zu erlassen. Er erinnerte an die »stets von gegenseitigem Vertrauen getragen^]« Zusammenarbeit zwischen dem Ausschuss und der Leitung sowie den militärischen Spitzen des Ministeriums, als es um die rechtliche Grundlegung des neuen Soldaten der Bundesrepublik gegangen sei. Unbeschadet der dem Parlament wie dem Ministerium vorbehaltenen Kompetenz »sollte [es gerade auf dem Gebiet der Inneren Führung] ein wenig auf Treu und Glauben gehen«. Angesichts der »relativ hohe[n] Bedeutung«, die der Gesetzgeber den »gesamten Fragen der inneren Führung [...] beimesse«, hätte die Exekutive in Fortführung des die Grundlegung kennzeichnenden gegenseitigen Einvernehmens ruhig das Ende der Parlamentsferien abwarten und auch die Uberprüfung der am Anfang geschaffenen Grundlagen im Geiste der Verständigung vornehmen können. Er regte die Herausgabe »einer gegenseitigen FreundschaftserklärungBeirates für Fragen der inneren FührungVertrauensfrage< offenließ. Hinsichtlich der Einbeziehung des >Beirates< zog es der Staatssekretär vor, darauf in seiner umfänglichen Einlassung gar nicht einzugehen 225 . Es erscheint wohl kaum abwegig, die Beweggründe für das offensichtliche Fait accompli einer derartigen Umgehung von >Beirat< und Ausschuss mit den hinter der Änderung der Vorgesetztenverordnung stehenden Motiven in Zusammenhang zu bringen. Dabei wurden den Abgeordneten drei voneinander unterscheidbare Begründungszusammenhänge angeboten: das Personalgewinnungsproblem, die unter der Maxime einer Erziehung auf den Ernstfall hin vorgenommene Neubestimmung des gewollten Soldaten, schließlich das die Friedensbundeswehr alltäglich beschäftigende Problem der innermilitärischen Ordnung und Sauberkeit vor allem in den Kasernen, das noch am ehesten in einem unmittelbaren Bezug zu der Entlastung der Kompaniechefs stand. Den Auftakt machte der Generalinspekteur. Heusinger hatte bei der Einführung zur novellierten Verordnung zunächst mit der Schilderung einer Verunsicherung gerade unter den »jüngeren Vorgesetzten« begonnen, die sich in einer gewissen Verantwortungsscheu, in Rückversicherungstendenzen und in der Angst vor dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit niedergeschlagen habe und insgesamt die »Schlagkraft« der Streitkräfte zu beeinträchtigen drohe. Unter Berufung auf einen Zeitungsartikel schloss er daran einen knappen Exkurs über die von ihren politischen Urhebern >allein gelassene< Bundeswehr an. Sodann schilderte er das Drängen »der Truppe«, das »allgemeine Vorgesetztenverhältnis« wiederherzustellen. Bei den daraufhin vom Ministerium angestellten und in die Revision der Vorgesetztenverordnung einmündenden Überlegungen ging es nach seinen Worten »im wesentlichen immer wieder um das Problem der Stärkung der Position der Unteroffiziere«. An dieser Stelle verknüpfte er das Problem der verunsicherten Vorgesetzten mit dem offensichtlich noch weit gewichtigeren der ausreichenden Rekrutierung. Er erinnerte die Parlamentarier, »daß wir gerade in der Frage des Nachwuchses an Unteroffizieren vor sehr ernsten Problemen« stünden. In der offenbar kritischen Frage des Unteroffizierersatzes sah er »viel weniger ein finanzielles als ein ideelles Problem«. Mit »allen Mitteln« - so der Generalinspekteur in mehrfach vor dem Ausschuss wiederholter Wendung - müsse »die Stellung des Unteroffiziers« gehoben werden, darauf komme es »besonders an«. Und genau mit diesem von ihm so eindringlich unterstrichenen Problem des Unteroffiziernachwuchses begründete Heusinger dann auch die Novellierung der Vorgesetztenverordnung: »Dazu erschien es den Kommandeuren von draußen und dem Herrn Verteidigungsminister nötig, die Regelung des Vorgesetztenverhältnisses zu überprüfen 226 .« So gesehen, fand die Einengung des Entfaltungsraumes der dienstgradjüngeren Soldaten, die jetzt unabhängig vom truppendienstlichen Zusammenhang auch in ihrer Freizeit mit einer deutlich vermehrten Präsenz von Vorgesetzten 225 226

Ebd.,S. 13-24/25, Zitats. 20. Ebd., 88. Sitzung, 29.9.1960, S. A 1 -5.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

konfrontiert waren, ihre Begründung in einem unzureichenden Personalaufkommen. In wohl seltener Deutlichkeit offenbarte hier Heusinger den Zusammenhang zwischen einer unzulänglichen Rekrutierung für die Bundeswehr und einer Verschiebung des Musters des Soldaten, bei der die ursprünglich freiheitliche Komponente zumindest weniger akzentuiert wurde. Dass es sich bei dem angegebenen Hauptmotiv um ein sachfremdes Argument handelte - immerhin war es mit der Binnenverfassung nur mittelbar verknüpft - , hatte der Generalinspekteur vielleicht selbst gespürt. Denn er fügte seinem rekrutierungsbezogenen Plädoyer zugunsten der »Hebung der Stellung insbesondere der Unteroffiziere, aber auch der Offiziere«, einschränkend hinzu, dass die »Neuregelung nicht nur [diesem] Zweck dienen« solle, sondern dass man »zweitens auch [den] Schutz der Untergebenen« im Sinn gehabt habe. Klarere Verhältnisse würden nun an die Stelle der bislang »doch so vage[n]« Praxis der >Erklärung zum Vorgesetztem treten (die allerdings im Zuge der Novellierung nicht beseitigt wurde) und damit manche »disziplinaren Sünden« künftig vermieden227. Es sollte dem Staatssekretär vorbehalten bleiben, am zweiten Sitzimgstag das Rekrutierungsmotiv zu dementieren. Zuvor jedoch war Brigadegeneral Drews Gelegenheit gegeben, die Weiterungen, die mit der Veränderung der Vorgesetztenverordnung für das Muster des Soldaten einhergingen, zu veranschaulichen. Drews, der anders als Heusinger die anzustrebende Entlastung der Kompaniechefs (wie auch den Offiziermangel) wenigstens streifte228, argumentierte wie Baudissin zuvor im Umkreis der Aufstellung und dann wieder im Zusammenhang mit der Auswertung zu LlON NOIR229 - mit dem wahrscheinlichen Kriegsbild eines künftigen Ernstfalles. Wieder prägten »weiträumige, aufgelockerte Bewegungen an weiten Fronten« wie auch der über Funkverbindungen zu koordinierende »Kampf kleiner Einheiten« den »Krieg der Zukunft«. Zu den daraus abgeleiteten Folgerungen zählte jetzt wie zuvor schon »eine entsprechend große Verantwortung der mittleren und unteren Führung«. Was in Abweichung zu der früheren Argumentationslinie nunmehr allerdings herausgestellt wurde, war »ein sehr häufiger Wechsel der Führer und Unterführer«. Dagegen war die in der Analyse Baudissins zentrale politische Dimension des Krieges in den Betrachtungen von Drews gänzlich fortgefallen. War in der Konzeption Baudissins das Bewusstsein, die auch in der militärischen Ordnung erfahrene eigene Freiheit gegen die >totalitäre< Bedrohung zu verteidigen, tragende Grundlage für das Bestehen der Kampfsituation - mit den entsprechenden Konsequenzen für das Binnengefüge der Truppe - , so standen in der Argumentation von Drews nunmehr freiheitliche Ordnung< und die Forderungen des Kriegsbildes, wiewohl auf gleicher Ebene, so doch unvermittelt eben nur

227 228 229

Ebd., S. A 5. Ebd., S.B 2. Zu den Vorstellungen Baudissins vgl. als Beispiele: Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung, S. 635, 637 f., und BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/467, Handakte Lion Noir, Auswertung des LlON NOIR unter dem Gesichtspunkt der Inneren Führung, 3. Entwurf, S. 14 f., auch S. 7 f.

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»nebeneinander« 230 . Indem aus dem Bild des Krieges dessen politischer Charakter eliminiert wurde, rückten dessen von Drews vorgestellten militärischfunktionale Notwendigkeiten in eine die Ordnung der Friedensbundeswehr deutlich stärker bestimmende Position. >Auftragstaktik< und die mit einem geeigneten Binnengefüge mögliche Erfahrung, auch der eigenen Freiheit wegen zu dienen, wiesen nunmehr weniger in dieselbe Richtung, als dass sie in Konkurrenz zueinander standen. Nach den von Drews vorgetragenen Überlegungen forderte ein künftiger Krieg den Unteroffizier und jungen Offizier »mit Verantwortungsfreude und Autorität« sowie eine militärische Befehlsordnung, die auch unabhängig von der jeweiligen Persönlichkeit der beteiligten Soldaten und gleichermaßen unabhängig von unter ihnen gewachsenen Beziehungen funktionsfähig war. Dazu müsse die nach den Erfordernissen des Krieges gestaltete Ordnung der Streitkräfte bereits im Frieden eingeführt und der Soldat an sie gewöhnt sowie in ihr geübt und sicher sein231. Damit geriet die Vorgesetztenverordnung zu einer Erziehungshilfe für den nur nach militärischen Kategorien gedachten und von seinen politischen Grundlagen gelösten Ernstfall. So sollte mit ihrer Revision ganz bewusst die zuvor deutliche Unterscheidung zwischen Dienst und Freizeit weitgehend beseitigt werden - ganz gemäß dem »Gesichtspunkt des Ernstfalls [...], der diesen Trennungsstrich [auch] aufhebt«. Gleichermaßen ernstfallorientiert sollte die Erweiterung des Vorgesetztenkreises beide - Vorgesetzte wie Untergebene wesentlich nachhaltiger zur »Treue im Kleinen« hinführen, welche die »Grundlage für die Durchführung der unabdingbaren Auftragstaktik« sei. Fortan würde kein Unteroffizier und kein Offizier mehr unbeteiligt übersehen dürfen, dass ein einfacher Soldat seine Zigarettenkippe achtlos auf den Kasernenhof geworfen hat. Indem das Verhältnis Vorgesetzter-Untergebener wesentlich umfassender als bisher über die Grenzen des Dienstes hinaus verstetigt und gleichzeitig auch entpersonalisiert wurde, sollten einerseits das Verantwortungsgefühl der Vorgesetzten über den eigenen unmittelbaren Bereich hinaus geschärft und andererseits der Untergebene an die institutionelle Autorität der Vorgesetzten »gewöhnt« und im Wege der klareren und einfacheren Ordnung überdies vor »Disziplinlosigkeiten« geschützt werden 232 . Schließlich ließ Drews noch einen Aspekt anklingen, der - vielleicht in abermaliger Verkennung des politischen Stellenwertes, welcher dem nunmehr 230

231 232

BA-MA, BW 1/54945, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuß für Verteidigung, 88. Sitzung, 29.9.1960, S. Β 5 f., dort auch: »Jede militärische Regelung, auch die der Neuordnung des Vorgesetztenverhältnisses, ist nicht nur vom Frieden [...], sondern auch von den Gegebenheiten des Krieges aus zu sehen [...] Ich glaube, hiernach [d.h. nach den >späteren KampfaufträgenBeirates für Fragen der Inneren Führung* vom 5. März 1959351 die Basis für eine Redaktionsarbeit gelegt worden, die nach 29 Entwürfen schließlich 1965 in den Traditionserlass münden sollte352. Das Papier des >Beirates< hatte entlang der Linien Baudissins die Bundeswehr mit deren Rückbindung an den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und angesichts »moderner Vernichtungswaffen« als »eine so neuartige Schöpfung« betrachtet, dass die Anknüpfung an »hohe kriegerische Bewährungen« im Hinblick auf die Wehrmacht immer unter dem Vorbehalt der kritischen Distanzierung vom damaligen militärischen wie politischen Gesamtgeschehen stand. Unbedenklich erschien demgegenüber die Bezugnahme auf die Zeit der preußischen Reformen unter Einschluss der »Freiheitskriege«. Die Würdigung des Widerstandes wurde vom >Beirat< zu einem »Prüfstein« für die Fähigkeit der Bundeswehr zu eigener Traditionsentwicklung und dessen Angehörige wurden unzweideutig zu »Vorbildern« erklärt353. Der bei Fü Β 13 zuständige Referent, Major Egon Schütz, hatte zusammen mit seinem Unterabteilungsleiter, Oberst Hellmuth Frhr. von Wangenheim, die Empfehlung zunächst in eine militärisch etwas knappere Sprache gebracht und die Hervorhebung der Angehörigen des Widerstandes mit dem Satz ergänzt354: »Diese Feststellung bedeutet keine Diskriminierung derer, die aus Sicht ihres 350 351

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353

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Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 122-124. BA-MA, BW 2/3949, fol. 240-244, Beirat für Fragen der inneren Führung der Bundeswehr, Gutachten zur Neubegründung von Traditionsverhältnissen, 5.3.1959; auch BA-MA, BW 2/16290. Angaben nach Harder, Traditionspflege, S. 123; Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 133. BA-MA, BW 2/3949, Beirat für Fragen der inneren Führung der Bundeswehr, Gutachten zur Neubegründung von Traditionsverhältnissen, 5.3.1959, Zitate fol. 240-243 - Hervorhebung im Original. Den erwähnten Vorbehalt hatte der Beirat ebd., fol. 243, in folgende Formulierung gefasst: »Große Leistungen wurden immer wieder vollbracht; vor allem gegen überlegene Kräfte, auch bei falscher oberster Führung. Der Stolz darauf darf aber nicht zu verschwommenen Auslegungen des gesamten kriegerischen Geschehens oder gar zur politischen Rechtfertigung des letzten Krieges führen. Bei solcher kritischen Unterscheidung wird es auch möglich sein, jene Erfahrungen aufzunehmen, die dort entstanden, w o verantwortungsbewußte Offiziere trotz der Versuche zu vertrauensarmer Gängelung freie Formen der Führung aufrechterhielten«. Für den Ablauf vgl. die von Wangenheim gefertigten Aufzeichnungen v o m 13. und 21.3.1959, BA-MA, BW 2/3949, fol. 389 f., 533 f.; vgl. auch bei geringfügig abweichender Darstellung und Bewertung Harder, Traditionspflege, S. 111 f., und Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 133-135.

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Verantwortungsbereiches in ehrlicher Überzeugung den anderen Weg des Gehorsams gingen.« Tendenziell, wenn auch schon abgeschwächt, war damit der ausdrücklich gewürdigten Militäropposition immer noch der Vorrang vor den nicht weiter genannten Vielen gesichert, die nicht diskriminiert werden dürften. Sodann wurde das im Gutachten vor »Prüfstein« am Satzanfang eingefügte »Ein« unterstrichen und so der unbestimmte Artikel zu dem Zahlwort verändert, das dann noch andere Prüfsteine neben der rechten Auseinandersetzung mit dem Widerstand erwarten ließ355. Aber selbst diese weitere Angleichung war Heusinger noch nicht genug. Er strich den Vorbehalt, unter dem der Stolz auf die »kriegerische Bewährung im letzten Kriege« des ursprünglichen Entwurfs hätte stehen sollen, und sorgte dafür, dass in Bezug auf den Widerstand der Erlassentwurf folgende Fassung erhielt: »Die Männer des Widerstandes wurden aus Gewissensgehorsam zu Märtyrern für die menschliche Freiheit und damit ebenso zu Vorbildern wie jene, die aus der Sicht ihres Verantwortungsbereiches in gewissenhafter Überzeugung und soldatischer Pflichterfüllung gehorchten.356« Wenig später fand sich zwar in der Vorlage an den Minister besagter Vorbehalt wieder - wenngleich in einer die Wehrmacht entlastenden Formulierung357 - , dennoch war aus dem vom >Beirat< empfohlenen eindeutigen Vorrang des Widerstandes bei Heusinger wieder die Gleichrangigkeit der Attentäter und der Frontbewährten geworden, wie sie schon die Hansen-Formel beschrieben hatte - dies bis auf Weiteres trotz einer bemerkenswerten Gegenvorstellung des Obersten von Wangenheim, der sowohl das Besondere als auch den aktuellen Bezug des Widerstandes unterstrich358. Der >Beirat< ließ sich diese klare Akzentverschiebung dann allerdings nicht gefallen und protestierte bei Minister Strauß dagegen, dass hinsichtlich der Traditionspflege »die Männer des Widerstandes in ihrer Vorbildlichkeit allen den Soldaten gleichgeordnet [würden], die in gewissenhafter Überzeugung und soldatischer Pflichterfüllung gehorcht« hätten. Noch vor der Vorlage an den Minister war zwar durch eine mit Absatz noch verstärkte Trennung in zwei Sätze die von Heusinger hergestellte Verbindung wieder gelockert worden. Indessen sei damit die »Gleichordnung zwar erheblich abgeschwächt], [...] aber nicht aufgehoben]« worden. Der >Beirat< hielt es

BA-MA, BW 2/3949, fol. 562-569, Entwurf vom 6.3.1959, dort fol. 565. 356 Vermerk Fü Β I Ltr., 13.3.1959, ebd., fol. 533 f., fol. 534; zum ursprünglichen Entwurf siehe ebd., fol. 564R; Zitat der neuen Fassung nach dem Entwurf ebd., fol. 231-237, dort fol. 233. 357 In ebd., fol. 223, findet sich ein von Heusinger unter dem 23.3.1959 unterschriebenes Begleitschreiben an Minister Strauß, dem ebd., fol. 224-230, ein Erlassentwurf folgt, dem ebd., fol. 231-237, noch eine etwas ältere Fassung beigefügt ist. Der Beirat nahm in einer späteren Stellungnahme für den Minister auf beide oben erwähnte Erlassfassungen Bezug. In beiden Entwürfen heißt es zu dem Vorbehalt hinsichtlich der »Leistungen« während des Zweiten Weltkrieges: »Doch darf der Stolz darauf nicht vergessen lassen, dass der deutsche Soldat im 2. Weltkriege von der politischen Führung missbraucht wurde. Nur kritische Besinnung führt hier auf den rechten Weg.« (Ebd., fol. 226, 233). Vgl. oben, Kap. IV, Anm. 353, die vom Beirat gewählte Formulierung. 358 BA-MA, BW 2/3949, fol. 387 f., Fü Β I, Ltr. an Generalinspekteur, Erlass Traditionsbildung und Traditionspflege in der Bundeswehr betreffend, 9.4.1959. 355

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»mindestens für notwendig«, auch in diesem Fall die Gleichstellung der Front mit dem Widerstand zu streichen359. Immerhin stellte der folgende Erlassentwurf, der am 5. Oktober 1959 dem Generalinspekteur zugeleitet wurde, durch Textgliederung und Formulierung eine noch deutlichere Unterscheidung zwischen den »zahlreiche[n] Vorbildern] soldatischer Pflichterfüllung« und den Angehörigen des Widerstands, die »zu Vorbildern für alle späteren Generationen« geworden seien, wieder her. Die Würdigung der Ersteren setzte die »kritische Besinnung« nach den Maßstäben der Letzteren voraus360. Vor der substanziellen Veränderung von der Hand Heusingers hatte der Chef des Stabes Fü B, Generalmajor Cord von Hobe, den Erlassentwurf gerügt und sich dabei in vielleicht bezeichnender Weise zum Anwalt der »Truppe« gemacht: Die werde für »diesen Erlaß [...] kein Verständnis haben. Er [sei] zwar sehr intelligent angelegt, voll hochtrabender Redensarten, aber ohne feste Form und Linie, daher truppenfremd!« Ohne hierbei auf die vor dem Eingriff Heusingers noch immer unterschiedlichen Gewichtungen einzugehen, stieß er sich daran, dass »man nur [...] die Freiheitskriege, die Reichswehr, den letzten Krieg und 20. Juli« wolle. Dann unterstrich er nochmals, dass die »Truppe [...] eine Tradition« brauche, die aber müsse »einfach und klar sein [...] Mit abstrakten Begriffen und Symbolen allein ist der Truppe nicht gedient. In diesem Erlaß steckt fast nur >NegativesTruppe< zielte auch die Kritik, die Minister Strauß gegen die ersten Erlassentwürfe einwandte: Er vermisste die »geschichtliche Konzeption« und verweigerte auch dem nächsten Entwurf im Frühjahr 1961 wegen des dort fehlenden brauchbaren »Geschichtsbildes]«, das »in einer der Truppe verständlichen Fassung« geboten werden müsse, seine Zustimmung. Auf seine Anweisung hin wurden nunmehr über >Beirat< und ministerielle Stellen hinaus einschlägige Dienststellen des nachgeordneten Bereichs und einzelne namhafte Wissenschaftler und Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben in die Vorbereitung einbezogen363. An der Erarbeitung waren nunmehr beteiligt der Kommandeur und der Direktor des wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrstabes der Schule für Innere Führung, Brigadegeneral Ulrich de Maiziere und Professor Dr. Gerhard Möbus, der Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Meier-Welcker, Walter Görlitz von der »Welt«, sowie die Historiker Max Braubach (Bonn), Reinhard Höhn (Hamburg), Percy Ernst Schramm (Göttingen) und Gerhard Ritter (Freiburg). Meier-Welcker musste sich jedoch in seinem Gutachten, das Ende 1961 vorlag, dem Wunsch des Ministers versagen. Die Erstellung eines für die Traditionspflege geeigneten »Geschichtsbild[es]« widerspreche dem wissenschaftlichen Charakter der Historiografie. Während der »traditionsgläubige Mensch [...] von den alten und veralteten Vorstellungen« übernehme, was er vermöge, dazu seine eigenen »Vorstellungen [...] auf die Vergangenheit« übertrage und so »ein ungebrochenes Bild echten Soldatentums, echter Kameradschaft, echter soldatischer Tugenden« erhalte, sei die als »Geschichtswissenschaft« verstandene »Geschichte [...] voller Probleme, voller Kritik [...] Sie stützt nicht die Tradition, sondern zerstört die einfache Geschlossenheit ihrer Leitbilder. Geschichte, Geschichtsbewußtsein auf der einen Seite und Traditionsbewußtsein auf der anderen liegen in verschiedenen Ebenen. Jedes hat seinen eigenen Sinn und seinen eigenen Wert. Setzt man sie zueinander in Beziehung, so widersprechen sie sich364.« 362 363

364

Vermerk Fü I Ltr., 13.3.1959, ebd., fol. 533 f., dort fol. 534. Ebd., fol. 89 f., Generalinspekteur an Amtschef des MGFA, 12.5.1961; vgl. auch den Vermerk Strauß vom 4.4.1961, zit. bei Abenheim, Bundeswehr u n d Tradition, S. 137; Harder, Traditionspflege, S. 125. BA-MA, BW 2/3949, fol. 62-71, Amtschef MGFA an BMVtdg Fü Β I mit Anlage »Grundgedanken zur Bearbeitung des Traditionserlasses«, 16.11.1961, dort fol. 64 f., 68 - Hervorhebungen im Original; vgl. dazu Harder, Traditionspflege, S. 125-127, dann auch Aben-

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Diese sorgfältige, dabei aber für einen Historiker nicht überraschende Differenzierung stieß im Ministerium jedoch auf wenig Gegenliebe 365 . Schon Oberst Karst monierte als zuständiger Referent bei Fü Β I, Meier-Welckers Arbeit sei »typisch für die philosophische Ratlosigkeit der Bundeswehr« 366 . Der nächsthöhere Vorgesetzte von Karst, Generalmajor Albert Schnez, Chef des Stabes des Führungsstabes der Bundeswehr, der als Inspekteur des Heeres 1969 »eine Reform [...] an Bundeswehr und Gesellschaft« zugunsten der »Kampfkraft des Heeres« fordern sollte367, vermisste eine »klare, harte, ungebrochene soldatische Linie«, was einmal mehr den hinsichtlich der Truppe gesehenen Bedarf an einfachen Vorgaben spiegelte. Die Stellungnahme von Schnez ging mit ihrem kulturkritischen Tenor jedoch noch darüber hinaus und skizzierte ein Gegenmodell zum Staatsbürger in Uniform Baudissins. Er räumte nämlich ein, dass die verlangte »soldatische Linie« in die gegenwärtige Zeit nicht passe. Diese Gegenwart ließ vielmehr bei ihm den Eindruck der »Dekadenz« aufkommen. Angesichts des Papiers von Meier-Welcker beschlich ihn die Sorge, dass »das alte müde Europa nicht mehr an sich selbst« glaube. Schnez notierte seine Befürchtung, es habe »die naive, jedoch starke Kraft zum Glauben an sich, seine Werte und seine Art verloren«. Offensichtlich beneidenswert dagegen die Jungen: »Starke, junge und in sich noch fest ruhende Völker [dächten] darüber anders.« Allerdings sah er durchaus »noch Heilmittel«. Er empfahl die Besinnung auf das, »was in unserer soldatischen Welt bleibenden Wert« besitze. Herausgearbeitet werden sollten jene »Kräfte, welche sich in der europäischen und deutschen Geschichte als tragende Pfeiler in allen Höhen und Tiefen erwiesen [hätten], gestaltend [gewirkt] und fruchtbares« geschaffen hätten, »von der Ritterlichkeit bis zum technisch bestimmten Idol (Pz. Geist usw.)«. In dieser von Biologismen durchsetzten Sicht von Geschichte setzte das Militär sich selbst die Maßstäbe - und übertrug sie auf seine Umwelt. Wie sonst sollte der >Panzergeist< als tragender Pfeiler deutscher wie europäischer Geschichte begriffen werden? Indem er die Orientierung an der doch isolierten soldatischen Welt verlangte und die innere Geschlossenheit beschwor, setzte sich Schnez über die Traditionsfrage in Gegensatz zum Soldaten Baudissins, der sich ja gerade auf den Pluralismus und die Kritik freier Gesellschaften hatte einlassen sollen. Abwertend hieß es dazu noch einmal ausdrücklich beim Chef des Stabes: »Die reinen Bürgersoldaten aber unterliegen zu leicht dem Aufweichungsprozess unserer Zeit und unseres Kontinents 368 .«

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36R

heim, Bundeswehr und Tradition, S. 138-141 (beide mit ausführlicher Wiedergabe des Zitates). Vgl. zum Folgenden vor allem Harder, Traditionspflege, S. 127 f., dazu auch Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 141 f., wiederum bei beiden ausführliche Zitate. BA-MA, BW 2/3949, fol. 62, Vermerk Oberst Karst, 28.11.1961, auf Anschreiben Amtschef MGFA, 16.11.1961. BA-MA, BW 1/17333, Führungsstab des Heeres, Studie: Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres, Juni 1969, Zitat S. 67. BA-MA, BW 2/3949, fol. 60 f., Vermerk Chef Fü Β für Unterabteilungsleiter Fü Β I (BG Drews), 15.11.1961 - Hervorhebungen im Original.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Nachdem ein weiteres Schreiben des Amtschefs des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes über den Gedankenaustausch, der auf der Basis der im Amt angestellten Überlegungen mit den Historikern Ritter, Schramm, Werner Conze (Heidelberg) sowie Hans-Günter Zmarzlik (Freiburg) geführt worden war, informiert und als deren »einhellig[e]« Auffassung mitgeteilt hatte, der Traditionserlass könne nicht auf einem bestimmten »Geschichtsbild begründet werden«369, wandte sich der Generalinspekteur, General Foertsch, wiederum an den Minister. Obwohl er mit skeptischem Unterton der wissenschaftlichen Argumentation »eine gewisse Berechtigung« einzuräumen bereit war, schloss er sich in seinem Vorlageschreiben im Wesentlichen nahtlos den Vorstellungen von Schnez an370. Gleichzeitig legte er jedoch einen von de Maiziere gefertigten und dann noch einmal im Ministerium überarbeiteten Erlassentwurf vor, dessen Anlage in Vielem den ursprünglichen Überlegungen Baudissins glich. Der Entwurf übernahm die im ideologischen Gegensatz gelegene maßgebende Perspektive, wobei die Beurteilung des vergangenen Geschehens an die »Entscheidung für die rechtsstaatliche und freiheitliche Lebensordnung« zurückgebunden wurde, und hob als »Vorbild« bzw. »Anknüpfungspunkte« den Widerstand, die preußischen Reformen und freiheitliche Aspekte der »süddeutschen Wehrgeschichte« hervor. Die von Heusinger angestrebte Gleichordnung von Widerstand und Frontbewährung fand sich darin ebenso wenig wie die auch von Foertsch in seinem Anschreiben angedeutete Rücknahme auf die soldatische WeltTruppe< verwies, die eine einfachere, klare soldatische Linie< verlange. Angesichts der geschilderten Rekrutierungsprobleme wie auch in Anbetracht der wiederverwendeten Kriegsgedienten erscheint ein solcher Verweis plausibel. Auch wenn sich nicht immer entscheiden lassen dürfte, was bei dieser Einlassung dem originären Anliegen der Truppe und was dem Impuls der militärischen Führung zuzuschreiben ist, lohnt nun der Blick auf das Verständnis der Inneren Führung in den Einheiten und Verbänden. Wie spiegelte sich dort die soeben im Bereich der Führung nachgezeichnete Akzentverlagerung?

374 375

Ebd., fol. 32 f., Fü Β I an Generalinspekteur, 24.10.1962 - Hervorhebung im Original. Ebd., fol. 62, 72 f., Amtschef MGFA an BMVtdg Fü Β I, 16.11.1961, Anl.: Traditionsbildung und Traditionspflege in der Bundeswehr, Entwurf des Erlasses.

460

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

4.

Die Vermittlungsmuster in der Truppe, Krisen und die partielle Rückbesinnung auf das Reformkonzept unter Minister von Hassel

a)

Innere Führung und Schlagkraft aus Sicht der Truppe eine Momentaufnahme aus dem Jahre 1964

Die am Eingang des vorangegangenen Kapitels in den programmatischen Aussagen aus den Führungsstäben von Heer und Bundeswehr erkennbaren Verschiebungen im Muster des Soldaten, deren konkrete Umsetzung mit unterschiedlichem Erfolg in den drei soeben skizzierten Bereichen betrieben worden war, fand am Ende zwar nicht notwendigerweise als Entwicklung (denn eine Anfangserhebung zum Komplex Innere Führung hat nicht vorgelegen), dagegen aber als Ergebnis auch in der Truppe ein eindrucksvolles Echo. Im Herbst 1964 hatte das sozialwissenschaftliche Forschungs- und Beratungsinstitut SystemForschung^ geleitet von dem Diplompsychologen Rudolf Warnke, im Auftrag des Generalinspekteurs, General Heinz Trettner376, eine Erhebung in der Bundeswehr vorgenommen und die Auswertung in der Studie »Zur inneren Situation der Bundeswehr« im Februar 1965 vorgelegt. Erwartet wurden von ihr Beobachtungen »zum Thema >Innere Führung«kriegstüchtigen SoldatenHandbuches Innere Führung< damit verbundenen Häresie wurden die 376

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Heinz Trettner (1907-2003), 1925 Eintritt in die Reichswehr, Beförderung zum Leutnant 1929, 1935 Wechsel zur Luftwaffe, Legion Condor, 1938 Generalstabsausbildung, Stabsverwendung bei der 7. Fliegerdivision, Chef des Generalstabes des XI. Fliegerkorps, 1944 Kommandeur der 4. Fallschirmjägerdivision, als Generalleutnant in Kriegsgefangenschaft geraten; nach Entlassung kaufmännische Lehre und Studium der Volkswirtschaft mit Diplomabschluss. 1956 Eintritt in die Bundeswehr mit dem Dienstgrad Generalmajor, Verwendung bei SHAPE bis 1959, ab 1960 Kommandierender General des I. Korps, Beförderung zum Generalleutnant 1960, Beförderung zum General 1963, 1964-1966 Generalinspekteur, 1966 (vorzeitig) in den Ruhestand verabschiedet; weitgehend nach Hammerich/Kollmer/Rink/Schlaffer, Das Heer, S. 704. BA-MA, BW 2/7893, Schreiben Generalinspekteur an Minister, 3.3.1966 (Zitat); ebd., Systemforschung - Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Sozialwissenschaften, Zur inneren Situation der Bundeswehr. Eine empirische Untersuchung zur Antinomie der Ziele von äußerer und innerer Führung (Februar 1965), S. 6, 34. Die Erhebungen wurden zwischen dem 25.9. und 10.11.1964 durchgeführt. Ebd., Systemforschung - Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Sozialwissenschaften, Zur inneren Situation der Bundeswehr, S. 12-16.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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Erhebungsteilnehmer mit folgender Aussage konfrontiert: »Die Schlagkraft der Bundeswehr ist für unsere Sicherheit und für die Erhaltung unserer Freiheit so wichtig, daß alle Anstrengungen auf die Einsatzbereitschaft der Truppe konzentriert werden müssen, selbst wenn dabei die Innere Führung vernachlässigt werden sollte.« Zur Rechtfertigung der Aktualität eines solchen Satzes beriefen sich die Wissenschaftler auf eine im Fernsehen ausgestrahlte Äußerung des Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Jaeger. Sie hätten indes genausogut auf die von Vertretern des Ministeriums vorgenommene Verengung des Kriegsbildes auf dessen bloße militärische Seite Bezug nehmen können379. Unter den Stabsoffizieren überwog zwar noch deutlich der Anteil derer, die eine solche Trennung nicht vornehmen wollten (62 zu 33 Prozent), aber schon bei Leutnanten und Hauptleuten wurde näherungsweise ein Gleichstand erreicht: 48 Prozent verneinten die Aussage, bereits 44 Prozent schlossen sich ihr an. Bei den Unteroffizieren lag darin der Anteil der Zustimmungen über dem der Ablehnungen (bei Berufssoldaten mit 54 zu 36 Prozent, bei Zeitsoldaten mit 47 zu 37 Prozent). Der relativ hohe Prozentsatz der die angebotene Aussage verneinenden Stabsoffiziere sollte jedoch nicht als entsprechende Übernahme des Reformkonzeptes missdeutet werden. Dagegen spricht nämlich die auch in dieser Dienstgradgruppe damals verbreitete große Distanz zum Konzept des Staatsbürgers in Uniform. Dessen Ablösung vom >kriegstüchtigen< Soldaten spiegelte sich in folgender zur Stellungnahme vorgelegten Aussage, welche die am Ende der 1950er-Jahre vom Heer vorgetragene und schließlich auch in der Unterabteilung Fü Β I verwendete Sicht aufgriff: »Die Bundeswehr wurde zu einer Zeit aufgestellt, in der alles Militärische mit Mißtrauen betrachtet wurde. Die damals beschlossenen Grundsätze vom >Staatsbürger in Uniform< hatten deshalb weniger die Erziehung zum kampftüchtigen Soldaten als vielmehr den Abbau dieses Mißtrauens zum Ziel.« Hier übernahm bereits eine knappe Mehrheit der Stabsoffiziere die Aussage (46 zu 45 Prozent), noch deutlicher fielen die Zustimmungsanteile bei den jüngeren Offizierdienstgraden (53 zu 35 Prozent) und bei den Unteroffizieren (unter den Berufssoldaten 56 zu 27, unter den Zeitsoldaten 56 zu 23 Prozent) aus. Nachgerade diskreditiert wurde das ursprüngliche Konzept mit den Zustimmungsraten zu folgender Behauptung: »Die Konzeption vom >Staatsbürger in Uniform< ging von einer zu idealistischen Vorstellung vom jungen Menschen aus. In der Praxis mußte diese Vorstellung korrigiert werden.« Hier fiel die Zustimmung bei beiden Gruppen von Offizieren noch eindrucksvoller aus als bei den Unteroffizieren: 77 Prozent der Stabsoffiziere (gegen 19 Prozent), 83 Prozent der Hauptleute und Leutnante (gegen 13 Prozent), 66 Prozent der Berufsunteroffiziere (gegen 19 Prozent) und 67 Prozent der Unteroffiziere auf Zeit (gegen 15 Prozent) hielten den Satz für richtig380. 379 380

Ebd., S. 15 - Hervorhebung durch den Verf. Zur Sicht des Führungsstabes des Heeres siehe hier nur BA-MA, Ν Karst, 690/v. 5a, Fü Β 14 Αζ.: 35-08-01, 19.9.1960, Gründe für die Ergänzung der W O vom 4.6.1956, und BA-MA, Ν Karst, 690/v. 79a, Fü Β 1 4 Az.: 35-08-01, 26.11.1962, Gründe für die Einführung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses, dort jeweils S. 1; zum Erhebungsbefund siehe BA-MA, BW 2/7893, Systemforschung - Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Sozialwissenschaften: Zur inneren Situation der Bundeswehr, S. 71 - Hervorhebung durch den Verf.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Als »Staatsbürger in Uniform«, immerhin der Begriff, mit dem das Leitbild des westdeutschen Soldaten umrissen wurde, mochten sich gerade einmal zehn Prozent der Stabsoffiziere, acht Prozent der dienstgradjüngeren Offiziere, 15 Prozent der Berufsunteroffiziere, zwölf Prozent der Unteroffiziere auf Zeit, 18 Prozent der längerdienenden Zeitsoldaten und 19 Prozent der Wehrpflichtigen bezeichnen lassen. Konkurrenzlos vorne lag demgegenüber die Bezeichnung >Soldatneingeringem< oder in entscheidendem Maße< (18 bzw. fünf Prozent) als gegeben an. Differenziert man die beiden Gruppen der übrigen Offiziere nach Dienstgraden aus, dann zeigt sich, dass, ausgehend von den Generalen, mit wachsender Nähe zur unmittelbaren Truppenführung die Maximen von >Schlagkraft< und >Innerer Führung< auch zunehmend als konkurrierende Zielvorgaben beurteilt wurden. Unter den Obersten verneinten die vorgelegte 381

382

BA-MA, BW 2/7893, Systemforschung - Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Sozial Wissenschaften: Zur inneren Situation der Bundeswehr, S. 46-50; für >Soldat< entschieden sich 86 % der Stabsoffiziere, 88 % der Leutnante und Hauptleute, 82 % der Berufsunteroffiziere, 85 % der Unteroffiziere auf Zeit, 76 % der längerdienenden Mannschaften, 67 % der Wehrpflichtigen. Ebd. wurden auch die Aussagen zur Qualität des Begriffes »Staatsbürger in Uniform« festgehalten. Als bloßes »Schlagwort« bzw. den »Soldaten« kaschierende »Worterfindung« nahmen ihn wahr 8 % bzw. 25 % der Stabsoffiziere, 9 % bzw. 21 % der jüngeren Offizierdienstgrade, 11 % bzw. 34 % der Berufsunteroffiziere, 10 % bzw. 39 % der Unteroffiziere auf Zeit, 13 % bzw. 35 % der längerdienenden Mannschaften und 19 % bzw. 38 % der Wehrpflichtigen. Als »abgegriffener Ausdruck für eine an sich gute Idee« wurde er ausgegeben von 49 % der Stabsoffiziere, 56 % der Leutnante und Hauptleute, 35 % der Berufsunteroffiziere, 36 % der Unteroffiziere auf Zeit, 29 % der längerdienenden Mannschaften, 20 % der Wehrpflichtigen. Für uneingeschränkt treffend hielten ihn 18 % der Stabsoffiziere, 13 % der Leutnante und Hauptleute, 20 % der Berufsunteroffiziere, 14 % der Unteroffiziere auf Zeit, 23 % der längerdienenden Mannschaften, 22 % der Wehrpflichtigen. Ebd., S. 6 7 - 6 9 - Hervorhebung durch den Verf. Nach der Tabelle ebd., S. 69, standen als Antworten auf die vorgelegte Frage »nein« - »ja, aber nur in geringem Maße« - »ja, und zwar entscheidend« zur Verfügung. In dieser Reihenfolge fiel die Verteilung der Voten wie folgt aus - bei Stabsoffizieren: 45 %, 36 %, 18 %; bei Leutnanten und Hauptleuten: 33 %, 37 %, 29 %; bei Berufsunteroffizieren: 29 %, 38 %, 32 %; bei Unteroffizieren auf Zeit: 15 %, 36 %, 47 %; bei längerdienenden Mannschaften: 38 %, 40 %, 21 %; bei Wehrpflichtigen: 48 %, 36 %, 14 %.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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Frage nur noch 59 Prozent, schon 41 Prozent bejahten sie (>Schwächung< in geringem Maßec 35 Prozent, >entscheidendSchwächung< in >geringem Maßec 35 Prozent, entscheidende 17 Prozent). Dieser Trend setzte sich zum jeweils jüngeren Dienstgrad hin fort. Bei Majoren und Hauptleuten sank der Anteil der keine Konkurrenz erkennenden Offiziere auf 41 Prozent gegenüber 58 Prozent, wobei die Zustimmung zur Aussage einer >entscheidenden< Schwächung bei Hauptleuten größer als bei Majoren ausfiel (>Schwächung< in >geringem Maßec 39 Prozent [Majore], 35 Prozent [Hauptleute], >entscheidendSchwächung< in >geringem Maßec 43 Prozent, entscheidende 24 Prozent). Bei den Leutnanten schließlich befanden sich mit 26 Prozent diejenigen, welche in der Inneren Führung keine Beeinträchtigung erkannten, in der Minderheit selbst gegenüber jeder Teilgruppe jener Offiziere, die mit 34 Prozent eine Beeinträchtigung in >geringem< Maße bzw. mit sogar 39 Prozent eine entscheidende Schwächung< entdeckten. Wenngleich nicht nach Dienstgraden, sondern nur nach Statusgruppen unterschieden, wiesen auch die Unteroffiziere einen ähnlichen Trend auf: 29 Prozent der (älteren) Berufsunteroffiziere kamen mit den Forderungen von Innerer Führung und Schlagkraft gleichzeitig zurecht, 70 Prozent dagegen nicht (>Schwächung< in >geringem Maßec 38 Prozent, entscheidende 32 Prozent). Bei den (jüngeren) Unteroffizieren auf Zeit waren es dagegen nur noch 15 Prozent gegenüber nunmehr 83 Prozent (>Schwächung< in >geringem Maßec 36 Prozent, entscheidende 47 Prozent). Vor dem Hintergrund der damit einhergehenden Status- und Rechtssicherheit wiederum einleuchtend ist die deutliche Umkehrung des Trends an der Schnittstelle zu den Mannschaften: Unter den Längerdienenden sahen 38 Prozent, unter den Wehrpflichtigen 48 Prozent keine Zielkollision zwischen den Vorschriften der Inneren Führung und der Herstellung der Kampfkraft (gegenüber 40 Prozent bzw. 36 Prozent: >Schwächung< in >geringem Maße< und 21 Prozent bzw. 14 Prozent entscheidende Schwächungkriegstüchtige Soldat< und der Staatsbürger in Uniform< als zwei voneinander verschiedene und miteinander unvereinbare Zielgrößen begriffen wurden. Bei diesen Soldaten handelte es sich auch um jenes Segment der Vorgesetzten, dessen beruflicher Werdegang am nachhaltigsten unmittelbar durch die fühlbaren Perso383

Ebd., S. 67-70.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

nallücken und mittelbar durch die Verkürzung des Ausbildungsvorlaufes von den Folgen des Personalmangels betroffen war. Insofern zeichnete sich auch in der Umsetzimg des Musters des Soldaten ein Zusammenhang zwischen den einschlägigen Verschiebungen und den personellen Unzulänglichkeiten ab. Auf welch' schwache Resonanz darüber hinaus das Konzept des auch seiner eigenen Freiheit wegen dienenden Soldaten in der Truppe gestoßen war, was sich später auch in einer im März 1966 durchgeführten Untersuchung zur Praxis der Politischen Bildung spiegelte384, zeigen weitere Ergebnisse der Erhebung, von denen hier nur noch eines hervorgehoben werden soll. Eine überaus deutliche Mehrheit aller Vorgesetzten, aber auch eine immer noch beeindruckende Mehrheit unter den Mannschaften sahen den Bedarf einer Reform der Inneren Führung - schließlich war das negative Urteil auf die Innere Führung in ihrer derzeitigen Form< bezogen gewesen, nicht aber auf Innere Führung überhaupt, die, in erster Linie als »Menschenführung« verstanden, von dem Großteil der Soldaten als »unerläßlich« angesehen wurde385. Bei den Generalen waren es 82 Prozent (gegenüber 13 Prozent, die keinen Bedarf sahen), bei Stabsoffizieren 88 Prozent (gegenüber elf Prozent), bei dienstgradjüngeren Offizieren 87 Prozent (gegenüber elf Prozent), bei Berufsunteroffizieren 88 Prozent (gegenüber neun Prozent), bei Unteroffizieren auf Zeit sogar 92 Prozent (gegenüber sieben Prozent), bei längerdiendenden Mannschaften immerhin noch 76 Prozent (gegenüber 20 Prozent), und erst bei den Wehrpflichtigen ging der Anteil derer, die einen Reformbedarf erkannten, merklich zurück auf 64 Prozent (gegenüber 30 Prozent). Bemerkenswert ist daran nun, in welche Richtung die Reform unternommen werden sollte. 1964, als der ursprüngliche Kreis der Vorgesetzten durch die Novellierung der Vorgesetztenverordnung bereits erweitert worden war, setzten alle Gruppen mit Ausnahme der Wehrpflichtigen die noch weiter384

385

Balke, Politische Erziehung in der Bundeswehr, S. 112, 171-173, beobachtet bis Mitte der 60er-Jahre ein dürftiges Niveau bei der Handhabung der von Offizieren in der Truppe durchzuführenden >Aktuellen Information und berichtet zu dem nach einem vorgegebenen Lehrplan vorzunehmenden politischen Unterricht auf der Grundlage seiner eigenen Erhebung in einer norddeutschen kleinstädtischen Garnison von einem unregelmäßigen, nachlässigen Vorgehen, das er auf eine didaktisch-methodische Überforderung der Offiziere, deren Verweigerungshaltung oder auch deren Unverständnis hinsichtlich des Stellenwertes der Politischen Bildung zurückführt. Auch in dieser Hinsicht ist der politische Soldat der Inneren Führung in der Truppe nicht vermittelt worden. In Übereinstimmung mit einer vom Institut für Demoskopie in Allensbach 1963/64 durchgeführten Reservistenbefragung ergab Balkes Untersuchung, dass unter den Wehrpflichtigen (aus verschiedenen Gründen) in etwa die Hälfte (49 %) auch den vorgegebenen Zeitansatz von einer Wochenstunde für zu gering hielten. Nach der Allensbacher Erhebung hatten unter den Reservisten 58 % sich für die Erhöhung des Zeitansatzes ausgesprochen. Vgl. ebd., S. 155-185,191-209, 249 f. Zur Identifikation mit »Menschenführung« siehe BA-MA, BW 2/7893, Systemforschung Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Sozialwissenschaften: Zur inneren Situation der Bundeswehr, S. 43; zur Notwendigkeit der Inneren Führung siehe ebd., S. 51, wonach sich 100 % der Generale, 94 % der Stabsoffiziere, 87 % der subalternen Offiziere, 81 % der Berufsunteroffiziere, 84 % der Unteroffiziere auf Zeit, 82 % der längerdienenden Mannschaften und 75 % der Wehrpflichtigen zu der Notwendigkeit der Inneren Führung bekannten.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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gehende Ausdehnung des Vorgesetztenverhältnisses im Bereich Unteroffiziere an die erste Stelle der notwendigen Reformmaßnahmen. An zweiter Stelle lag die Einführung der allgemeinen Grußpflicht, die auf dieser Position von allen Gruppen mit Ausnahme der Mannschaften gefordert wurde. An die dritte Stelle wurde von den Offizieren und Berufsunteroffizieren die Erweiterung der disziplinaren Möglichkeiten des Einheitsführers gesetzt386. Unter der als erforderlich angesehenen Reform der Inneren Führung wurde von den Funktionsträgern also in erster Linie eine weitere Einengung des dem Soldaten ursprünglich eingeräumten Freiraumes verstanden. Die auf die Auswertung der von 4478 aktiven Soldaten zurückgesandten Fragebögen gestützte repräsentative Erhebung387 löste im Ministerium Unbehagen aus. Der Staatssekretär Gumbel wies den Unterabteilungsleiter Fü Β I, Brigadegeneral Köstlin, an, alle drei vorhandenen Exemplare der ohnedies schon als >Geheim< eingestuften Studie »einzuziehen und [...] als nicht existent zu betrachten«. Es war beabsichtigt, aus dem >Korrektur-Exemplar< im Zusammenwirken von militärischen Stellen und den beteiligten Wissenschaftlern eine »verwertbare Führungsunterlage« zu fertigen, die allerdings auch weiterhin des »Geheimschutzes« bedürfe388. Köstlin hatte sich in seinem Vorlageschreiben zwar vor allem an der »gelegentlich massive[n] Kritik der Verfasser an der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr« gestört, welche in der Tat in polemischen Passagen ihren Niederschlag gefunden hatte389. Seine Prognose aber, dass selbst noch eine unter Beteiligung des Führungsstabes bereinigte Fassung als Verschlusssache behandelt werden müsse, lässt erkennen, dass auch in der Substanz die Erhebung Botschaften bereithielt, von deren öffentlicher Diskussion Nachteile oder gar Schäden für die Bundeswehr erwartet wurden. Dabei zeichnete das ausgewertete Material ein Bild von dem inneren Gefüge der Bundeswehr und den diesbezüglichen Erwartungen ihrer Soldaten, das doch sehr deutliche Parallelen zu den oben umrissenen Vorstellungen aufwies, die auch unlängst noch in den Führungsstäben zum Ausdruck gebracht worden waren. Diese zielten über den Ministerwechsel von Strauß zu Hassel zunächst auch weiterhin auf die Ausweitung der Vorgesetztenkompetenz.

386 387 388

389

Ebd., S. 61-64. Zur Methode vgl. ebd., S. 22-39. Ebd., F ü B I - F ü B 14 Az.: 35-15-00, an Minister, 2.3.1965, dort Vermerk vom 7.4.1965; unter dem Titel »Die Bundeswehr im Selbstverständnis« ist die Verteilung der überarbeiteten Fassung an einen eingeschränkten Adressatenkreis erst im März 1967 vom Minister genehmigt worden - vgl. ebd., Persönlicher Referent des Ministers an Fü S 14, 20.3.1967. Ebd., Fü Β I-Fü Β I 4 Az.: 35-15-00, an Minister, 2.3.1965; vgl. u.a. ebd., Systemforschung Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Sozialwissenschaften: Zur inneren Situation der Bundeswehr, dort im Zusammenhang S. 8 f., 12-18, 186-190.

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b)

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Der Verzicht auf Bemühungen zugunsten der Einführung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses

So hatte sich erst Ende 1962 wiederum der Führungsstab des Heeres den Ruf aus »der Truppe« nach dem »allgemeine[n] Vorgesetztenverhältnis« zu eigen gemacht, worauf der Generalinspekteur immerhin die Prüfung dieser Forderung zusagte390. Und in der ersten Jahreshälfte 1963 kritisierte er neuerlich angesichts sowohl der »Disziplin« als auch der »angespannte[n] Offizier- und Unteroffizierlage« neben den Grußbestimmungen das zwar erweiterte, aber immer noch »eingeschränkte Vorgesetztenverhältnis«391. Inzwischen hatte der nach wie vor in der Unterabteilung Fü Β I seinen Dienst versehende Karst seine Überlegungen vom September 1960, die er auf mehreren Seiten zu Papier gebracht hatte, im Wesentlichen dadurch aktualisiert, dass er an die Stelle des »erweiterte[n]« nun das »allgemeine Vorgesetztenverhältnis« rückte. Alles andere, was 1960 die argumentativen Grundlinien der Präsentation des Ministeriums im Verteidigungsausschuss augenscheinlich wesentlich mit vorbereiten geholfen hatte, war bis zum November 1962 unverändert geblieben: Die für die Revision so charakteristische Trennung der ursprünglich in einem Bedingungszusammenhang stehenden »verfassungsrechtlichen und psychologischen Erwägungen über die Einordnung der Truppe in unsere junge Demokratie« von den »Belangein] der Schlagkraft der Truppe«; das Vorgesetztenverhältnis als auf die Kriegsverhältnisse hin angelegtes Erziehungsmittel und die mit der Einebnung des Unterschiedes von Dienst und Freizeit bezweckte Gewöhnung an den Ernstfall; überhaupt die möglichst vollständige Annäherung der Friedensbundeswehr an eine Kriegsbundeswehr, die Entpersonalisierung der Befehlsverhältnisse und die Klage über das grundlegende Misstrauen gegen die Vorgesetzten; die Erwartung einer verbesserten Disziplin oder auch des im Wege der weiteren Ausweitung der Vorgesetztenbefugnisse verbesserten Freiwilligenaufkommens392. Auf ihre Weise unterstrichen gerade die beiden letzten Aspekte, indem sie gut zwei Jahre nach ihrer erstmaligen Verwendung wieder angeführt wurden, vor dem Hintergrund der fortgesetzten Verschlechterung der personellen wie der disziplinaren Lage das Untaugliche des Versuches, über die Erweiterung des Vorgesetztenkreises hier zu einer Besserung zu gelangen. Aber nicht diese aus der Entwicklung der Besonderen Vorkommnisse und der Vorgesetztendichte und -qualität sich erschließende Einsicht blockierte am Ende den Versuch einer umfassenden Einführung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses. 390

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BA-MA, BW 2/2460, ZstBer. 2/62, 4.1.1963, S. 6, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 9 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-29). BA-MA, BW 2/2461, ZstBer. 1/63, 3.7.1963, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 7 f., auch S. 14 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-36). BA-MA, Ν Karst, 690/v. 5a, Fü Β I 4 Az.: 35-08-01, 19.9.1960, Gründe für die Ergänzung der W O vom 4.6.1956, S. 1 (Zitat)-4, 8-10, passim, und in weitgehend wörtlicher Übernahme ebd., 690/v. 79a, Fü Β 1 4 Az.: 35-08-01, 26.11.1962, Gründe für die Einführung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses, S. 1 -5,8-10, passim - Hervorhebungen im Original.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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Ursächlich hierfür war vielmehr ein Bündel von Faktoren, an deren vorderster Stelle augenscheinlich die Erinnerung an die Schwierigkeiten der ersten Erweiterung des Vorgesetztenkreises stand. Im Sommer 1963 riet Oberst Müller-Lankow, der ein halbes Jahr zuvor als neuer Unterabteilungsleiter Fü Β I im >Beirat für Fragen der inneren Führung< die neuerliche Überprüfung der bereits revidierten Vorgesetztenverordnung selbst angekündigt hatte, in einer Vorlage für den Generalinspekteur von einer Initiative zur Einführung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses ab. Unproblematisch erschienen nach seiner Auffassung zwar die seit 1960 fällige, durch Minister Strauß aber ausgesetzte Anpassung der Grußordnung an das seitdem innerhalb der Kaserne bestehende allgemeine Vorgesetztenverhältnis sowie ein »Uniformgebot« für die in der allgemeinen Grundausbildung befindlichen Rekruten. Doch standen Risiko und Aufwand der nur noch über eine Gesetzesänderung zu erreichenden Erweiterung des Vorgesetztenkreises in Anbetracht der »Erfahrungen [...], die im Jahre 1960 allein mit der Änderung der Vorgesetztenverordnung, die in ihrem Ausmaß weit geringer war, gemacht wurden«, in keinem Verhältnis mehr zu dem zu erwartenden Erfolg. So gesehen, hatte sich die Abstützung des Konzeptes der Inneren Führung im politischparlamentarischen Raum also durchaus als belastbar erwiesen. Was MüllerLankow noch empfehlen konnte, war eine Einschärfung der bereits im Rahmen der >Erklärung zum Vorgesetztem bestehenden Befugnisse im Erlasswege. Dass er in diesem Zusammenhang am 26. Juli 1963 auch auf eine Missbrauchsgefahr seitens der Vorgesetzten verwies, hatte gerade am Vortag mit jenem Ereignis, das die Nagold-Affäre einleiten sollte, dem er hier aber noch nicht hatte Rechnung tragen können, eine dramatische Bestätigung gefunden 393 . Im Rahmen eines am 25. Juli 1963 über 17 km angesetzten Marsches erlitt der Rekrut Gerd Trimborn, Angehöriger der in Nagold stationierten Ausbildungskompanie 6/9, einen Hitzekollaps, dessen Folgen er am 1. August erlag394. Die daraufhin seitens der Staatsanwaltschaft und seitens der Bundeswehr (unter persönlicher Betrauung des Kommandierenden Generals des II. Korps, Generalleutnant Leo Hepp, durch den Generalinspekteur) vorgenommenen Ermittlungen erweckten großes öffentliches Aufsehen. Verteidigungsminister von Hassel sah sich selbst zu Erklärungen vor Parlament und Öffentlichkeit veranlasst. Zu den im Zuge der Untersuchung aufgedeckten Missständen zählten drei strafrechtlich relevante Verstöße: die Misshandlung sowie die entwürdigende Behandlung Untergebener und der Missbrauch der Befehlsbefugnis. Gegen fünf Unteroffiziere und sechs >Hilfsausbilder< im Mannschaftsrang wurde bis Jahresende ein Gerichtsverfahren eröffnet, neun dieser elf Soldaten wurden in erster Instanz verurteilt. In weiteren Straf- und disziplinargerichtlichen 393

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BA-MA, BW 2/11888, Akten Fü S 14 Az.: 35-08-03, Schreiben Fü Β I-Fü Β I 3 Az.: 35-08-00 an Generalinspekteur, 26.7.1963, Vorgesetztenverordnung, Grußordnung, Uniformgebot betreffend, dort bes. S. 2-5. Zu der Nagold-Affaire siehe jetzt Schlaffer, »Schleifer« a.D.?, S. 652-659. Eine frühe wissenschaftliche Betrachtung des Vorganges im Kontext der Inneren Führung bietet Bredow, Der Primat militärischen Denkens, S. 87-93.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Verfahren wurden darüber hinaus beteiligte Offiziere - unter ihnen der Kompaniechef - und Unteroffiziere verurteilt. Hepp befahl am 29. Oktober die Umbenertnung der zur Fallschirmjäger-Brigade 25 (1. Luftlandedivision) gehörenden Einheit und die Versetzung jener Mannschaften und Unteroffiziere, die ihren Dienst in der Ausbildungskompanie 6/9 bereits vor dem 1. August versehen hatten. Der Kompaniechef war zuvor schon abgelöst worden395. Zu den befürchteten Widerständen im Parlament kamen als weitere Faktoren die Nagold-Affäre und die damit in sachlichem Zusammenhang stehende spektakuläre Wortmeldung des zweiten Wehrbeauftragten Heye hinzu. Der hatte in seinen ersten Berichten die Revision zulasten des Freiraumes des Soldaten im Anschluss an die Auffassung Grolmans noch begrüßt396. 1964 aber wirkten seine alarmierenden Beobachtungen als Vorwegnahme der oben skizzierten Erhebung. Alles dies schuf ein Klima, in dem jede Erweiterung der Vorgesetztenkompetenz problematisch erschien. Das wurde auch in den Führungsstäben zumindest von einzelenen Referenten so gesehen397. Wohl angesichts 395

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Zusammengefasst nach BA-MA, BW 1/316123, Der Bundesminister der Verteidigung, Die Vorfälle in der Ausbildungskompanie 6/9 in Nagold, 31.1.1964, S. 2-8; ausführliches Material zu Ermittlungen und gerichtlicher Würdigung in BA-MA, BH 1/4872, Bundesministerium der Verteidigung, Fü Η I 3, Besondere Vorkommnisse - Nagold (1964). Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/371, Der Wehrbeauftragte, 27.4.1962, Jahresbericht 1961, S. 30: »Mit dem voranschreitenden Aufbau der Bundeswehr hat sich die Auffassung vom Soldaten, seiner Aufgabe und seiner Stellung gewandelt. Noch vor wenigen Jahren wurde der Soldat fast ausschließlich als notwendiges Übel begriffen, dessen politische und gesellschaftliche Einordnung oft unter erheblichen psychologischen Vorbehalten stand. Auch der - im Blick auf die jüngste Vergangenheit - von den verantwortlichen Stellen zu Recht gewollte optimale Rechtsschutz für den Bürger, der zum Waffendienst herangezogen werden sollte, war von Mißverständnissen nicht ganz frei. Das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform wurde politisch und psychologisch unter einer gewissen Überbetonung des Bürgers und seiner Rechte begriffen. Die allgemeine staatspolitische Entwicklung hat bei der Mehrheit der Bevölkerung das Verhältnis zur Gemeinschaft wieder gesunden und das Gefühl für die Pflichten ihr gegenüber wachsen lassen. Dies hat sich auch auf das Verhältnis zur Armee und das Verständnis für deren Aufgabe ausgewirkt. Der gleiche Wandlungsprozeß war auch in der Armee selbst zu beobachten. Neben die freiheitlichen Rechte des Einzelnen traten mehr und mehr gleichrangig die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. Dies hat die Disziplin gestärkt.« Ahnlich ebd., Drucksache IV/1183, Der Wehrbeauftragte, 11.4.1963, Jahresbericht 1962, S. 26; vgl. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 2666, Der Wehrbeauftragte, 14.4.1961, Jahresbericht 1960, S. 42. Vgl. BA-MA, BW 2/3943, Akten Erlass »Erzieherische Maßnahmen« betreffend, dort Fü Η I 3 an Fü Β 14, Mitprüfung des Entwurfs einer Neufassung des Erlasses »Erzieherische Maßnahmen«, 10.8.1964, dort bes. S. 1: »Die schlechte Personallage der Bundeswehr zwingt zum Einsatz von Vorgesetzten, die in der Erziehung Untergebener noch unerfahren, zu jung und unzureichend ausgebildet sind. Schlechten oder schwachen Erziehern hilft aber größere Machtfülle kaum, sie verleitet vielmehr zum Machtmißbrauch [...] Politische Führung und öffentliche Meinung werden nach den Vorkommnissen der letzten Zeit [...] kein Verständnis dafür aufbringen, wenn die Bundeswehr gerade jetzt zusätzliche Möglichkeiten für härtere Ausbildungsmethoden und Erziehungsmittel schafft.« Zum Regelungsbereich der Vorgesetzten- und Grußordnung vgl. auch BA-MA, BW 2/11888, Akten Fü S 14 Az.: 35-08-03, Schreiben Fü Η I 3 an Steljv Insp H, 20.7.1963, mit dem unter Bezugnahme auf unliebsame Presseberichte zu »Übergriffe[n] von Vorgesetzten« eingeräumt wird, dass »nicht zuletzt auch von Offizieren des Hauses, deren Söhne zur Zeit den

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dessen waren bis zur Jahreswende 1964/65 weder die neue Grußordnung (mit der nicht nur die Angleichung an das Vorgesetztenverhältnis vorgenommen, sondern auch die Anrede >Du< im dienstlichen Verkehr zwischen Vorgesetzten und Untergebenen im Gegensatz zur Vorläufervorschrift von 1955 strikt untersagt werden sollte) noch trotz eines diesbezüglichen Dringlichkeitsvermerkes seitens des am 10. Juni 1964 zum Staatssekretär avancierten Gumbel die Neufassung des Erlasses »Erzieherische Maßnahmen« über den Mitzeichnungsgang hinausgekommen 398 . Anders verhielt es sich indes mit jener Alternative, die bei der Erörterung der Novellierung der Vorgesetztenverordnung zur Verbesserung der Disziplin zur Sprache gebracht wurde - nämlich mit der Verbesserung von Ausbildung und Bildung zunächst der jüngeren Vorgesetzten. Hier wirkte sich als letzter Faktor der bislang noch nicht in die Betrachtung einbezogene Ministerwechsel aus. Denn Hassel setzte andere Schwerpunkte als Strauß.

c)

Nur begrenzte Ausweitung der Vorgesetztenkompetenzen und verstärkte Bemühungen um die Bildung des Vorgesetzten

In seiner bis auf Kompanie-Ebene verteilten Würdigung der Vorgänge in Nagold rügte der Minister in aller Deutlichkeit eine Praxis, die unter der Vorgabe, zur >Härte< erziehen zu wollen, die in den Vorschriften mit Rücksicht auf das Leistungsvermögen der Soldaten gezogenen Grenzen missachtete, zudem großzügig den Kompetenzrahmen des seit 1958 geltenden Erlasses »Erzieherische Maßnahmen« überschritt und unzulässig Vorgesetztenbefugnisse delegierte. Sodann schärfte er den Soldaten einen für das Reformkonzept im Sinne Baudissins zentralen Grundsatz ein, dass der »Soldat, der Recht und Freiheit verteidigt, [...] ihrer Vorzüge im Alltag teilhaftig sein« muss. Mit der gleichzeitig von ihm verlangten »kriegsnahe[n] Ausbildung« unterstrich er das, was nach der eben vorgestellten Erhebung von der Truppe großenteils infrage gestellt wurde, nämlich die Vereinbarkeit der Inneren Führung in ihrer gegebenen Form mit dem >kriegstüchtigen< Soldaten399. Insofern durchaus sachangemessen (weil Offiziere wie Unteroffiziere mit dem Konzept des Staatsbürgers in Uniform nicht hinreichend vertraut waren), sah Hassel das größte Manko der Bundeswehr in der aufgrund des Personalmangels notgedrungen erfolgenden

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Grundwehrdienst ableisten [würden], Beobachtungen in ähnlicher Richtung gemacht« worden seien. BA-MA, BW 2/3943, Akten Erlass »Erzieherische Maßnahmen« betreffend, dort hdschr. Vermerk Staatssekretär Gumbel für Fü Β I, 23.7.1964; nach BA-MA, BW 2/16293, Beiratsakten, Niederschrift über die 6. Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 4.3.1965, 28.4.1965, S. 2, war die Inkraftsetzung des neuen Erlasses »Erzieherische Maßnahmen« nach der Erklärung von Minister von Hassel für den 1.5.1965 vorgesehen; BAMA, BW 2/11888, Akten Fü S I 4 Az.: 35-08-03, Fü Β I 3 Az.: 35-08-03, Anschreiben und Entwurf ZDv 10/4 »Gruß und Anrede«, 23.3.1965, dort auch S. 9. BA-MA, BW 1/316123, Der Bundesminister der Verteidigung, Die Vorfälle in der Ausbildungskompanie 6/9 in Nagold, 31.1.1964, S. 12-22, die zu ziehenden »Folgerungen«, bes. S. 13 (Zitat), 17-19, 22 (Zitat).

470

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Verwendung »eine[r] großefn] Zahl kurz ausgebildeter Soldaten« in Vorgesetztenfunktionen. Sein Maßnahmenkatalog zielte nicht auf eine Erweiterung des Vorgesetztenkreises - und zumindest nicht in erster Linie auf eine Vermehrung von Vorgesetztenkompetenzen sondern auf eine Verbesserung der Vorgesetztenqualifikation, die hinsichtlich der Unteroffiziere durch die Schaffung eigener Unteroffizierschulen, aber auch für die jungen Offiziere durch die »Verbesserung des Ausbildungsganges« erfolgen sollte400. Damit gewann die beim Amtsantritt von Minister von Hassel eingeleitete Konsolidierungsphase durch die Geschehnisse von Nagold gerade auch hinsichtlich der Vorbereitung der Vorgesetzten indes nur noch zusätzliches Gewicht. Noch vor dem skandalösen Ereignis hatte die Berufung des neuen Beirates für Fragen der Inneren Führung< Hassel am 11. Juni 1963 Gelegenheit gegeben, an der Schule für Innere Führung seine Akzente zu verdeutlichen. Dort setzte der Minister zwar für das Gelingen der Inneren Führung die Verankerung der Bundeswehr in einer verteidigungsbereiten Gesellschaft voraus. Und in konservativem Verständnis machte er den Staatsbürger in Uniform< von dem >in Zivil· abhängig: »Ob wir tüchtige Soldaten bekommen, hängt mit davon ab, wieweit wir verantwortungsfreudige, bewußte Staatsbürger haben401.« Als seine eigentliche Aufgabe innerhalb der Bundeswehr betrachtete er aber schon damals nicht den weiteren Ausbau der Eingriffsmöglichkeiten des Vorgesetzten. Die Diskussion um eine Neufassung der »Erzieherischen Maßnahmen« deutete er höchstens an402. Stattdessen konzentrierte er sich auf die »Verbesserung der Führerausbildung [mit] einer entsprechenden Neuordnung der Unteroffizierausbildung [und] Studienlehrgängen für Leutnante«. Sogar von einem »Studium für Offiziere« war die Rede403. Nicht von ungefähr konnte im Oktober 1963 der in der Unterabteilung Fü Β I zuständige Hilfsreferent Dr. Helmut Ibach unter anderem unter Berufung auf den Ministerwechsel mit zwei Schreiben für die Neubelebung der Wehrakademie argumentieren 404 . Die Folgerungen, die der Minister dann aus den Vorfällen von Nagold gezogen hatte, wie auch der unter dem 4. Juni 1964 vom Wehrbeauftragten Heye vorgelegte Jahresbericht, verliehen dem Projekt der Wehrakademie in der Folge erheblichen Auftrieb 405 . Letzterer sah nun die Innere Führung in eine schwere Krise geraten sowie zahlreiche ihrer Gegner in der 400 401

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Ebd., S. 13, 22 f. Kai-Uwe von Hassel, Grundfragen der Inneren Führung. Rede an der Schule für Innere Führung in Koblenz am 11.6.1963 anlässlich der Berufung eines neuen Beirates für Fragen der Inneren Führung. In: Dokumente und Kommentare. Beilage zur Information für die Truppe, 8 (1963), 7/8. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 12. BA-MA, BW 2/3937, Schreiben Fü Β 14 an Fü Β I 6, Bericht für den Bundeskanzler über die Verteidigungssituation betreffend, 15.10.1963, und ebd., Schreiben Ibach an Fü Β 14, Offizierbildungsplan betreffend, 17.10.1963. Vgl. hierzu auch den undatierten (1967/68) und ungezeichneten, gleichwohl aufschlussreichen kurzgefassten Abriss Fü S I 4 Az.: 35-05-16 über den »Sachstand Wehrakademie«, BA-MA, BW 2/6277.

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Bundeswehr aus dem Verborgenen heraustreten. Er prangerte dabei deren »krassen Widerspruch« gegen das Reformkonzept an und plädierte gerade im Hinblick auf die zu unerfahrenen »jungen Vorgesetzten« mit allem Nachdruck für die baldige Realisierung einer allgemeinbildenden Akademie für Offiziere406. Während im Verteidigungsausschuss Brigadegeneral Weber am 5. August für das Ministerium eine lediglich moderate Ergänzung der den Zugführern (nicht den Gruppenführern) zustehenden »Erzieherischen Maßnahmen« ankündigte sie sollten in begrenztem Maße den Dienst verlängern bzw. früher beenden können - , sagte der Minister dort die baldige Aufnahme von »Leutnantslehrgänge[n] an der Schule [...] für Innere Führung« zu, deren Programm sich nach Dauer und Lehrangebot gemäß den Erläuterungen des Schulkommandeurs, Brigadegeneral Claus Hinkelbein, wieder erkennbar dem ursprünglichen Konzept näherte407. Daran anschließend, hielt das Protokoll der Abteilungsleiterbesprechung vom 7. August 1964 fest, dass die »Aufstellung einer Akademie für junge Offiziere [...] beschleunigt in Angriff« zu nehmen sei, was auf der Grundlage eines Vermerkes des Chefs des Stabes dazu Anlass gab, im Führungsstab der Bundeswehr nach Möglichkeiten eines universitätsnahen attraktiven Standortes in Süddeutschland suchen zu lassen408. Auf dieser Basis betrieben der nunmehr nicht nur kommissarisch mit der Leitung der Unterabteilung beauftragte Brigadegeneral Köstlin und der zuständige Referent, Oberst Dr. Eberhard Wagemann409, zielstrebig die Realisierung des Projektes im Sinne der ursprünglich konzipierten akademischen Bildung. In diesem Zusammenhang gelang es zunächst, die Verklammerung mit der Schule für Innere Führung zu lösen, die von Hassel mit der Zusage eines dort durchzuführenden Erprobungslehrgangs vor dem Verteidigungsausschuss noch

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Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/2305, Der Wehrbeauftragte, 4.6.1964, Jahresbericht 1963, S. 26 f. BA-MA, BW 1/54954, Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuß für Verteidigung, 87. Sitzung, 5.8.1964, S. 65 f. (Weber), S. 94 (Hinkelbein). Zum Erlass siehe BMVtdg Fü Β I 4 Az.: 35-05-04-00, 20.2.1965, »Erzieherische Maßnahmen«, womit - wie vom Minister angekündigt - die Neufassung zum 1.5.1965 in Kraft trat. Was die Vorgesetzten ohne Disziplinargewalt anlangte, gestand sie unter strengen, den eng umrissenen Ausnahmefall beschreibenden Voraussetzungen nunmehr als wohl schärfste Sanktionsmöglichkeit den Kompaniefeldwebeln und den nach der Organisation vorgesehenen Vorgesetzten vom Feldwebel an aufwärts die Anordnung eines Wiederholungsdienstes zu, der dann auch selbst zu leiten sowie am selben Tage durchzuführen war und der die festgesetzte Dienstzeit nicht um mehr als eine Stunde überschreiten durfte. Vgl. VMB1. 1965, S. 367-370. BA-MA, BW 2/6268, Schreiben Fü Β I 4 an Fü Β IV 4, Fü Β V 11, Planung für die Wehrakademie betreffend, 19.8.1964. Eberhard Wagemann (geb. 1918), Dr. phil., während des Zweiten Weltkrieges Verwendung in der Infanterie- und Panzertruppe als Zugführer, Kompaniechef und Bataillonskommandeur. Nach dem Krieg Studium der Germanistik, Theologie und Geschichte in Göttingen mit Abschluss Promotion, Schuldienst, Eintritt in die Bundeswehr mit Dienstgrad Major 1956, Verwendungen im Verteidigungsministerium (Fü Η und Fü B/Fü S) und Truppenverwendungen als Bataillons-, Brigade- und Divisionskommandeur, schließlich als Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr; 1977 mit dem Dienstgrad Generalmajor in den Ruhestand verabschiedet.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

einmal hergestellt worden war410. Größere Widerstände waren indes von den Teilstreitkräften zu gewärtigen. Diese suchten die für die Wehrakademie aufgekommene Unterstützung zugunsten der bereits eingerichteten Offizierschulen zu nutzen. Mit Unterstützung der beiden anderen Teilstreitkräfte trug der Führungsstab des Heeres, der in seiner Zustandsmeldung noch Anfang 1965 in wohl bezeichnender Akzentsetzung für Defizite in der Menschenführung allein die fehlende Praxis der jungen Vorgesetzten verantwortlich machte (im Unterschied zum Führungsstab der Bundeswehr, der hier den Mangel in der unzulänglichen Bildung erkannte)411, Mitte September 1964 in einer Besprechung der zuständigen Referenten der Führungsstäbe die Integration des für die Wehrakademie vorgesehenen Lehrstoffes in die Ausbildung an den Offizierschulen von Heer, Luftwaffe und Marine als zu verfolgende Ersatzlösung vor. Alle aufgelisteten Vorzüge einer solchen Alternative, die von der Hebung des Ausbildungsniveaus an den Schulen über deren bessere materielle sowie infrastrukturelle Ausstattung bis hin zu Personaleinsparung und rascherer Verwirklichung reichten, konnten jedoch nicht über den in der Besprechungsnotiz von Fü Β festgehaltenen zentralen Einwand hinwegtäuschen, dass die bestehenden Ausbildungseinrichtungen das Erfordernis einer »vom akademischen Stil mitgeprägten Dienstregelung« nicht einlösen könnten 412 . Nachdem auf der Sitzung des Militärischen Führungsrates festgestellt worden war, dass der »Gedanke an Wehrakademien [...] >aus politischen Gründen nicht aufgegeben< werden« könne, suchten Marine und Luftwaffe über die Frage des Zeitpunktes der Wehrakademiephase durch eine Zusammenlegung mit der Stabsakademie-Ausbildung der Einrichtung einer eigenständigen Bildungsinstitution für Leutnante abermals den Weg zu verlegen413. Etwa zur gleichen Zeit hatte Köstlin Gelegenheit, die nach dem Reformkonzept aus dem Kriegsbild abzuleitenden Qualitäten des >Vorgesetzten in Uniform< einmal mehr an die Leitung heranzutragen, indem er eine schon ältere Initiative des nordrhein-westfälischen Kultusministers Professor Paul Mikat (CDU) aufgriff, mit der Anfang des Jahres angesichts eines in der Bundesrepublik steigenden Bedarfes an Abiturienten den Streitkräften eine Absenkung der Bildungsanforderungen für den Offizier auf den nach siebenjährigem Realschulbesuch erlangten Abschluss414 nahegelegt worden war. Sehr eindringlich erinnerte der Unterabteilungsleiter in einer Vorlage für einen Sprechzettel des Ministers noch einmal an die »Erfahrungen der Aufbau410

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BA-MA, BW 2/6268, Aktenvermerk Fü Β 14 zu einer Besprechung mit dem Kommandeur der Schule für Innere Führung, Brigadegeneral Hinkelbein, am 18.8.1964, 19.8.1964; ebd., Sprechzettel für Brigadegeneral Köstlin zum Vortrag beim Generalinspekteur, 14.9.1964. BA-MA, BW 2/3112, Militärischer Zustandsbericht des Heeres (1.1.1964-31.12.1964), 22.2.1965, Bl. 4 (Inneres Gefüge); Militärischer Zustandsbericht der Bundeswehr (1.1.1964-31.12.1964), 13.5.1965, S. 7 f. BA-MA, BW 2/6268, Fü Β I 4, Az.: 35-05-05, Ergebnisprotokoll der Besprechung über Offizierausbildung am 15.9.1964 betreffend, 23.9.1964 (Zitat S. 5). Ebd., Fü Β I-Fü Β 14, Az.: 45-10-01-04, Vermerk für den Generalinspekteur betr. Planung für die Aus- und Weiterbildung des Offiziers, o.D. Vgl. BA-MA, BW 2/16292, Beiratsakten, Fü Β 14 an Unterabteilungsleiter Fü Β I, 3.1.1964, S. 2, und Abschrift aus dem Bonner »General-Anzeiger« vom 31.12.1963/1.1.1964.

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jähre«, nach denen »mangelnde Bildung und mangelnde Intensität der Ausbildung junger Offiziere und Unteroffiziere« die Gefahr von »schweren Störungen des inneren Gefüges der Truppe« heraufbeschworen hätten. Zugleich entwarf er das Muster des Offiziers, für den »Bildung« angesichts der »heutigen pluralistischen Gesellschaft« und der Bedingungen des atomaren Gefechtsfeldes wie auch der ideologischen Konfrontation unabdingbar geworden sei415. Genau dieses an die ursprüngliche Konzeption anschließende Muster des (vorgesetzten) Soldaten fand dann seinen institutionellen Niederschlag in der am 21. Dezember 1964 vom Generalinspekteur dem Minister vorgelegten Planung, die für den künftigen Offizier einen dreigliedrigen akademischen Bildungsgang vorsah, welcher mit dem >Akademiekurs< an den Offizierschulen beginnen und mit der >Akademie für StabsoffiziereDeutschen Ausschusses< orientieren, allerdings unter Hinzunahme rechtlicher, sprachlicher, kriegsgeschichtlicher und lebenskundlicher Themen. Vor dem >Beirat für Fragen der Inneren Führung< ergänzte Anfang März 1965 der Minister, dass, wenngleich er eine Verlagerung der geplanten Wehrakademie in eine öffentliche Universität ausschloss, diese Bundeswehreinrichtung den »intensiven Kontakt zur Hochschule haben« solle. Er selbst hielt Kiel für einen geeigneten Standort417. In Vollzug der grundsätzlich getroffenen Entscheidungen, mit denen über die bereits vorgenommene Einrichtung des Offizier-Lehrganges II (>AkademiekursDritten Reich< erfolgten gründlichen Auflösung der Homogenität des Offizierkorps eine »Kontinuität von der Wilhelminischen Zeit über die Weimarer Republik zur Bundeswehr [...] nur im Ansatz« noch erlaubte. Genau hier ist der Wechsel der Einstellungskriterien von der exklusiven Herkunft zum Bildungsnachweis Abitur aufschlussreich. Noch 1966 kamen 52 Prozent der Generale und Obersten aus den früheren erwünschten Kreisen< - deren Väter zählten also entweder zur agrarischen Führungsschicht, waren Akademiker, höhere Beamte oder selbst Offiziere gewesen - , während gleichzeitig der entsprechende Anteil bei den Leutnanten bereits signifikant von 1962: 38 Prozent auf 31 Prozent gefallen war. Ebenfalls im Jahre 1966 waren auch erste Anzeichen zu beobachten gewesen, anhand derer sich das bis dahin das Offizierkorps über weite Strecken kennzeichnende protestantische Ubergewicht zugunsten einer Angleichung an das allgemein in der Bevölkerung gegebene Konfessionsverhältnis - wenn auch zunächst sehr behutsam verschob. Sodann betrug im Jahr darauf der Abiturientenanteil unter den Leutnanten erstmals etwas mehr als 90 Prozent, während von 1955 an bis zu diesem Einschnitt insgesamt entsprechend einem langfristigen Trend lediglich etwa zwei Drittel aller Bundeswehroffiziere das Abitur nachweisen konnten. Allerdings kann hier daran erinnert werden, dass das Verteidigungsministerium von Anfang an dem Abitur große Bedeutimg beigemessen hat (was die Mitte der 60erJahre eintretende Verschiebung nicht als gründliche Neuorientierung erscheinen lässt). Was hier zu Verwerfungen geführt hat, sind zum einen die in der Literatur zuweilen als »sozial-revolutionäre« Veränderungen bezeichneten Umgestaltungen des Offizierkorps der Wehrmacht, das 1944 zu knapp zwei Dritteln aus Aufsteigern aus der Mannschafts- und Unteroffizierlaufbahn bestanden hatte, und zum anderen die oben geschilderten erheblichen Rekrutierungsprobleme425.

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Vgl. Bald, Vom Kaiserheer zur Bundeswehr, dort S. 21, 25-32, 43-47, 82-84, Zitat S. 27; Bald, Der deutsche Offizier, S. 74-79; Bald, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr, dort S. 399-401, 406-409, Zitat S. 401; Bald, Bürger in Uniform, dort S. 399-401. Zur Auflö-

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Sodann lässt sich jenes Verdienst, das Hassel ohne Frage auf dem Feld der institutionellen Voraussetzungen der Bildung in den Streitkräften zukam, als er der Konzeption Baudissins wenigstens den Weg zu dem später unter der sozialliberalen Koalition besser gelingenden neuerlichen Einführungsversuch ebnete426, ebenfalls nicht mit gleicher Eindeutigkeit hinsichtlich der Materialien zur Politischen Bildung für den Minister reklamieren. Im Hinblick auf die publizistische Praxis war es schon kurz vor dem Ministerwechsel zu einer Intervention des Generalinspekteurs gekommen, mit der an die Grenzlinie zwischen gebotener Information und untersagter Propaganda im Umgang mit dem ideologischen Gegner erinnert wurde. General Foertsch hatte in seiner Information für die Kommandeure verlangt, dass in der Bundeswehr »die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System so geführt [werde], wie es unseren Wertmaßstäben« entspreche427, was mit der früheren Mahnung Baudissins übereinstimmte, nicht »dem Osten östlich zu begegnen«428. Der neue Minister hatte sodann in seiner Ansprache vor der Schule für Innere Führung sich ebenfalls nachdrücklich gegen jede »Haßerziehung« gewandt und einer schlichten politischen Aufklärung das Wort geredet429. Unter seiner Amtsführung verlor dann auch die agitatorische Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Gegner - wenngleich zögerlich - an Raum und Schärfe430. Dies war aber nicht gleichbedeutend mit der umstandslosen Rückkehr zu der in den Anfängen noch beobachteten Orientierung an dem Modell des auch seiner eigenen Freiheit wegen dienenden Soldaten. Im Gegenteil brachte geradezu musterhaft Oberst Wolfgang Schall, der für die Information im Fü Β zusung der Homogenität des Offizierkorps der Wehrmacht, die unter anderem auch von dem Absinken des Anteils protestantischer Offiziere auf das den Verhältnissen in der Bevölkerung entsprechende Maß begleitet war, siehe jüngst Pauli, Das kriegsgediente Offizierkorps, S. 7 0 - 9 0 , 1 0 0 - 1 0 8 , 1 2 6 - 1 3 1 , passim. 426 Vgl. Bald, Generalstabsausbildung in der Demokratie, S. 203 f.; Bald, Militär und Gesellschaft, S. 37-39; Bald, Graf Baudissin, S. 30, 49 f.; Bald, Die Bundeswehr, S. 67. 427 Vgl. Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 94; Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Information für die Kommandeure Nr. 4/62, Verhalten in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus betreffend, abgedr. in der ZDv 12/1 »Geistige Rüstung«, Januar 1966, S. 47 f.; vgl. auch Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Information für die Kommandeure Nr. 1/63, Wesen, Grenzen und Möglichkeiten der Truppeninformation betreffend, abgedr. ebd., S. 49-54. 428 BA-MA, Ν Graf Baudissin, 717/8, fol. 146, Tagebuch Baudissin, Vermerk zum 19.3.1957. 429 Kai-Uwe von Hassel, Grundfragen der Inneren Führung. Rede an der Schule für Innere Führung in Koblenz am 11.6.1963 anlässlich der Berufung eines neuen Beirates für Fragen der Inneren Führung. In: Dokumente und Kommentare. Beilage zur Information für die Truppe, 8 (1963), 7/8, S. 17: »Wir brauchen nichts, als uns die Mühe zu machen, unseren Soldaten die Wahrheit und Wirklichkeit unserer Welt, unserer Staatsform und Lebensordnung in all ihrem Reichtum und ihren Schwächen zu schildern [...] Ein Anti kann niemals die geistige Linie einer Armee sein, deren Leitbild der Staatsbürger in Uniform ist und die nicht in erster Linie ein Territorium schützen will, sondern zugleich im Bündnis mit anderen freien Völkern eine Lebensordnung und die auf den Grundsätzen von Freiheit und Recht ruhenden Prinzipien der Demokratie.« «ο Y g j Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 94-97, 100-103; vgl. zu dem sich bereits aus der Sicht von 1966 abzeichnenden vorsichtigen Wandel Klausenitzer, Die Diskussion um die Innere Führung, S. 217-221.

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ständige Referent, die Alternative von 1955 - den in der Gesellschaft bereits vor dem Militärdienst auf seine Pflichten hin erzogenen Staatsbürger - als das geltende Modell zum Ausdruck. Schall spitzte die Ministeräußerung in Koblenz noch zu, derzufolge das Gelingen der Inneren Führung mit von dem sich bereits bei Dienstantritt seiner Pflichten bewussten Staatsbürger abhänge. Nach seinem programmatischen Beitrag für »Die Neue Gesellschaft« baute das »Konzept des Staatsbürger in Uniform< [auf dem] Vorhandensein des Staatsbürgers in Zivil< [...] auf. Es setzt eine innere Bereitschaft zur Übernahme staatsbürgerlicher Pflichten voraus, zur freiwilligen Einordnung in die von der Sache her gebotene Disziplin, in die wohlverstandene Anerkennung staatlicher Autorität [...] Der ideale Staatsbürger in Zivil sollte das Bewußtsein vom Wert unserer Lebensordnung und von den daraus für ihn resultierenden Pflichten mitbringen431.« Der Soldat war nach Schall im Systemkonflikt »zwischen Freiheit und Totalitarismus« zwar immer noch der »politisch bewußte Soldat«. Diese Eigenschaft aber fiel ihm nur mehr als Ergebnis der »Psychologischen Rüstung« zu. Sie war nicht mehr Ausfluss einer durch die Binnenverfassung der Streitkräfte erfolgten Werbung zugunsten der freiheitlichen Ordnung. Hier sollte nur noch »erhalten« und gestärkt werden, was der Rekrut als pflichtbewusster, verteidigungsbereiter Staatsbürger aus der Gesellschaft schon mitbringen musste432. Es blieb an dieser Stelle dem Mitglied des >Beirates für Fragen der Inneren FührungWirWerte und Normen< sich 1965 wieder der Größenordnung der hohen Werte von 1960/61 und übertraf diese 1966 deutlich. Das Leitthema >Die Sicherheitsfrage< verzeichnete nach dem 1962/63 gelegenen Tiefpunkt 1964/65 einen moderaten Anstieg auf etwa das Anderthalbfache und erreichte dann 1966 mit einer Verdoppelung wie das Thema >Werte und Normen< den bislang höchsten Wert. Die an dritter Position stehende Vermittlung formaler Kenntnisse< pendelte auf eher niedrigem Niveau, erreichte 1964 einen Tiefpunkt und stieg 1965/66 stark an. Das im Gesamtzeitraum den vierten Rangplatz einnehmende Leitthema >Ordnungsvorstellungen< verharrte 1963/64 auf niedrigem Niveau, um dann nach moderatem Anstieg 1965 im Folgejahr einen verdoppelten Wert zu erreichen. Das Leitthema Integration und Einordnung< erreichte 1963 einen markanten Tiefunkt, schnellte aber von 1964 bis 1966 auf das vormals hohe Niveau. So gesehen, nahmen jene Aussagen der Truppeninformation, die in ihrer Verbindung untereinander auf die Affirmation vorgegebener Verhältnisse zielten, nach einer 1962/63 zu verzeichnenden Phase der Verunsicherung zur Mitte der 60er-Jahre hin wieder deutlich zu438. Ebenso fällt indes auf, dass die im Gesamtzeitraum den sechsten und siebten Rangplatz einnehmenden Themen demokratischer Anspruch und RechtsaspekteKritische Ansätzegeistigen Rüstung< näherhin in dem »politisch mündigen und kritisch denkenden Staatsbürger« liege 442 . In diesem Sinne hob die Vorschrift das gesetzliche Verbot einseitiger Darlegung hervor, untersagte die Hasserziehung und sah für den festen Lehrplan wie die Truppeninformation eine auf »[begründete Urteile und sachliches Abwägen, Wahrhaftigkeit und Vernunft« gestützte Auseinandersetzung vor, die der Meinungsvielfalt Raum und zu eigener Urteilsbildung Anregung geben sollte 443 . Soweit konnte die Vorschrift als Konsequenz des von Baudissin vertretenen Modells des Soldaten genommen werden. Mit den weiteren Ausführungen wird diese Übereinstimmung in der Zielrichtung indessen wieder infrage gestellt. Bei der näheren inhaltlichen Festlegung der zu unterrichtenden Inhalte hier ging es um »das Wesen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung«, »das Wesen totalitärer Lebensformen« und »die geistig-seelischen Belastungen durch Waffenwirkung und die Schrecken des Krieges, sowie die Gefährdung durch Mittel und Methoden der feindlichen psychologischen Kampfführung« stört weniger der Bezug zum gerade auch ideologischen Kampf 444 . Was allerdings die Zielvorgabe des mündigen, kritischen Staatsbürgers in Uniform nachgerade Lügen straft, ist die von der Vorschrift zur Auflage gemachte SchwarzWeiß-Malerei, welche nur die unhinterfragten »Vorzüge und Wesensmerkmale unserer Lebensordnung« gelten ließ im Gegensatz zur bloßen Unterdrückung in totalitären Systemen 445 . Nur am Rande sei hier das vielleicht bezeichnende Detail notiert, dass der Aufruf zur eigenen Urteilsbildung mit der Anweisung ergänzt wurde, hierzu offizielles Material zu nutzen 446 . Hält sich der Leser diese Anweisungen vor Augen, dann kam es der Vorschrift nicht auf die Problematisierung der bundesdeutschen Gegenwart unter dem Vorzeichen ihrer Normen an, was dem Erziehungsziel des kritikfähigen, politisch Mündigen entsprochen

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ZDv 12/1 »Geistige Rüstung«, 22.1.1966. Ebd., S. 7 , , Nr. 1 -3, 5 - Hervorhebung im Original. Ebd., S. 8, Nr. 6 - 8 , 10 f. Ebd., S. 9, 12-16, Nr. 15, 27, 31, 36, 40, Zitat S. 13. Vgl. Andrä, Das Informationsangebot der Bundeswehr, S. 61-65; ZDv 12/1 »Geistige Rüstung«, S. 9 f., Nr. 18. ZDv 12/1 »Geistige Rüstung«, S. 11 f., Nr. 21-24, Zitat S. 11. Ebd., S. 16, Nr. 40.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

hätte, sondern wiederum auf die Affirmation des Bestehenden im Dienste einer Bekräftigung der soldatischen Pflichten. Einen ähnlich ambivalenten Eindruck hinterlässt schließlich der 1965 von Hassel herausgegebene Traditionserlass. Auch hier hatte der neue Minister bei seiner Einführung des neuen >Beirates< recht deutliche Akzente gesetzt, als er den totalitären Gegner nicht nur im Kommunismus sah, sondern »auch die Bewältigung unserer eigenen totalitären Vergangenheit« anmahnte, die »unendliches Unheil über die Welt gebracht« habe447. Im Rahmen der Traditionsfrage hob er eigens den Widerstand hervor, dem er hier die »zentrale Bedeutung« zuerkannte448. Als Hassel diese Schwerpunktsetzung erkennen ließ, ruhten allerdings noch die Arbeiten am Erlass. Eine Initiative des Heeresinspekteurs, Generalleutnant Alfred Zerbel, brachte sie im Sommer 1964 wieder in Gang449. Dessen Erinnerung, dass es immer noch einem Wildwuchs zu wehren galt, leitete die Neubearbeitung des Erlasses ein, die in den Händen des nun im Fü Β für Erziehung und Bildung zuständigen Referenten Wagemann lag. Grundlage des neuen Versuches war ein noch von dessen Vorgänger Karst erstellter Entwurf. Wagemann, der nach einer zwei Jahrzehnte später gegebenen Auskunft eine Anlehnung an das Traditionsverständnis Baudissins zu großen Widerständen begegnen sah450, beteiligte an dem neuen Entwurf neben dem ihm zugeordneten Sachbearbeiter, Ibach, den >Beirat für Fragen der Inneren Führung< unter dessen Vorsitzendem Hans Bohnenkamp, hier vor allem den Historiker Walther Hubatsch und den Soziologen und Politikwissenschaftler Hellmut Kämpf. Mit dem von einem Ausschuss des >Beirates< am 13. Oktober vorgelegten Entwurf war der bei den Beiratsakten liegende Referentenentwurf gründlich verändert worden451. Gänzlich entfallen war hierbei der im dritten Abschnitt des Referentenentwurfes enthaltene geschichtliche Uberblick, der einen wertenden Durchgang durch die deutsche Militärgeschichte von den ihre Waffen als freie Männer führenden Germanen bis zum Ende der Wehrmacht geboten

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Kai-Uwe von Hassel, Grundfragen der Inneren Führung. Rede an der Schule für Innere Führung in Koblenz am 11.6.1963 anlässlich der Berufung eines neuen Beirates für Fragen der Inneren Führung. In: Dokumente und Kommentare. Beilage zur Information für die Truppe, 8 (1963), 7/8, S. 17. Ebd., S. 15 f. Das Folgende nach Harder, Traditionspflege, S. 128-132; ähnlich Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 145-148. Nach Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 146, hatte Wagemann laut einer Befragung vom März und Juni 1984 erkannt, »daß die von Baudissin entwickelte Konzeption der militärischen Tradition nicht funktionierte, da dessen Vorstellungen von zu vielen als Verleugnung der Vergangenheit betrachtet wurden. Diese Verleugnung mußte durch eine positive Erklärung zur Wehrtradition Deutschlands ersetzt werden.« Nach dem Zusammenhang lag der von Wagemann vermutete Widerstand im parlamentarischen Raum. BA-MA, BW 2/16287, Beiratsakten, Entwurf für eine Empfehlung des Beirates Innere Führung zu den »Richtlinien für die Traditionspflege in der Bundeswehr« vom 19.8.1964 (erarbeitet vom Vorbereitenden Ausschuss des Beirates IF in den Sitzungen am 28.9. und 13.10.1964 im BMVtdg); ebd., Referentenentwurf: »Richtlinien für die Traditionspflege in der Bundeswehr« - Hervorhebung im Original.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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hatte452. Gleichzeitig wurden unter anderem Unscharfen entfernt, mit denen die Eindeutigkeit des Bezuges zur freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes im Referentenentwurf zugunsten soldatischer Tugenden oder durch eine Füllung des Freiheits- und des Rechtsbegriffes mit vordemokratischen Inhalten verwischt worden war. Zudem fügte der Beiratsausschuss deutliche Hinweise auf fundamentale Veränderungen ein, so zum einen auf die eingedenk der Atomwaffe gebotene Neubewertung des Krieges, zum anderen auf den Bruch, der mit der ersten in Deutschland auf demokratischer Grundlage gebildeten Wehrpflichtarmee eingetreten sei453. Der im Abstimmungsprozess zwischen >Beirat< und Unterabteilung enstandene Entwurf war in der Schlussredaktion noch in einem Punkte umstritten. In dem zweiten seiner drei Teile (I. Grundsätze - II. Gültige Uberlieferungen der deutschen Wehrgeschichte - III. Traditionspflege in der Bundeswehr) zählte der von >Beirat< und Unterabteilung erarbeitete Entwurf auch die Auftragstaktik als eine in der deutschen Militärgeschichte immer mehr sich durchsetzende »Freiheit im Gehorsam« auf. Allerdings sei diese preußisch-deutsche »Tradition« mit deren Missachtung durch »Hitler und seine Gefolgsleute« unterbrochen worden. Vor der Vorlage an den Minister wurde dieser Hinweis auf die Diskontinuität vom Generalinspekteur gestrichen, da dies »die einzige Namensnennung« im Erlass nicht rechtfertige454. Mit der Formel »Erst das nationalsozialistische Regime mißachtete sie« gelang es Professor Bohnenkamp und Wagemann, den Generalinspekteur und schließlich auch den Minister für den Hinweis auf die Diskontinuität zu gewinnen. Hassel änderte selbst dann noch »Regime« in »System« und ließ die preußisch-deutsche Tradition zu »deutscher militärischer Tradition« werden. Vergleicht man den am 1. Juli 1965 von Hassel herausgegebene Erlass455 etwa mit der Vorlage, die Anfang 1962 auf der Grundlage des Vorschlages von de Maiziere im Ministerium vorgelegen hatte, so fällt zunächst die konservativere 452

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Ebd., Referentenentwurf: »Richtlinien für die Traditionspflege in der Bundeswehr«, S. 9-22, Nr. 23-32. In ebd., S. 1, Nr. 2, wurden die soldatischen Tugenden »Treue zum rechtmäßigen Dienstherrn und Tapferkeit, um Freiheit und Recht zu schützen, als Maßstab in den Vordergrund gerückt«. Ebd., S. 1, Nr. 4, erscheint die »freiheitliche Lebensordnung« in antiken und germanischen »Grundhaltungen« angelegt, dann christlich geprägt. Der Beiratsausschuss hat auf derlei Bezugnahmen verzichtet und die Grundpflicht des Soldaten zum Maßstab erklärt. Vgl. Entwurf für eine Empfehlung des Beirates Innere Führung zu den »Richtlinien für die Traditionspflege in der Bundeswehr« vom 19.8.1964 (erarbeitet vom Vorbereitenden Ausschuss des Beirates IF in den Sitzungen am 28.9. und 13.10.1964 im BMVtdg), S. 1, Nr. 2; ebd., S. 1, Nr. 1, S. 3, Nr. 8, die Hinweise auf die gegenüber früher gründlich veränderte Position der westdeutschen Streitkräfte als Wehrpflichtarmee im nuklearen Zeitalter. Mit dem bei Harder, Traditionspflege, S. 130, geführten Nachweis hatte Trettner die Streichung vorgenommen; anders Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 147, der hier »ein[en] Referenden] des Ministers« den Streichungsvermerk vornehmen lässt. BA-MA, BW 2/4238, Der Bundesminister der Verteidigung, Fü Β I 4 Az.: 35-08-07, »Bundeswehr und Tradition«, 1.7.1965, zit. wird nach dem Abdruck in Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 225-229.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Handschrift auf. Ablesbar ist dies daran, dass von der vormals >bestimmenden< Aktualität des Systemkonfliktes kaum mehr etwas zu spüren ist. Das auf den damaligen Kommandeur der Schule für Innere Führung zurückgehende Papier hatte noch die eigene Lage neben dem gesellschaftlichen Wandel, der Aufhebung lediglich nationaler Verteidigungsmöglichkeiten und der Revolutionierung des Kriegsbildes vor allem dadurch geprägt gesehen, dass »totalitäre Kräfte, insbesondere der Kommunismus, [...] uns« bedrohten und mit der deutschen Teilung »ein Teil der deutschen Bevölkerung [...] unter kommunistischer Zwangsherrschaft« lebe456. Der Aspekt des >BürgerkriegesKriegstüchtigkeit< des Staatsbürgers in Uniform so wesentlich war, erschien 1965 nur noch zwischen den Zeilen in Gestalt der immer wieder betonten Identifikation mit der freiheitlich-demokratischen Grundlage des westdeutschen Rechtsstaates und der westlichen Staatengemeinschaft457. Die Ausblendung dieser Aktualität schien breitere Anknüpfungsmöglichkeiten für die Traditionspflege zu erlauben. So fehlte auch der frühere ausdrückliche Hinweis auf die freiheitlichen Orientierungspunkte aus der süddeutschen Militärgeschichte. Bei näherem Hinsehen war aber Vieles, was sich einer verfassungspatriotischen Ausrichtung des Erlasses zuschreiben ließ, doch noch erhalten geblieben. Der Abschnitt über die >Grundsätze< ließ keinen Zweifel daran, dass die Verteidigung von »Recht und Freiheit«, näherhin der Einsatz »für die freiheitliche Lebensordnung«, den Maßstab für die Traditionspflege der Bundeswehr bildeten458. Dort wo in dem folgenden Abschnitt zu den >Gültigen Überlieferungen andere Berufungsgrundlagen erschienen, wurden diese regelmäßig an die rechtsstaatlich-freiheitliche Grundlage zurückgebunden. Das vom »Nationalismus« unterschiedene und als »Triebkraft« zustimmend gewürdigte »nationale Bewußtsein« wurde verklammert mit dem Streben »zu übernationalen Zusammenschlüssen freier Völker«. Die »Vaterlandsliebe« - ohnehin mit »meist freiheitlicher Gesinnung verbunden« - erschien in ähnlicher Weise aufgehoben im Prozess der europäischen Einigung459. Pflichterfüllung gewann an Bedeutung als Basis »persönlicher Freiheit«, das gegenseitige Treueverhältnis zum Dienstherrn galt nur im Rahmen seiner rechtsstaatlichen Verankerung460. Der Erlass stellte zwar die Überlieferungswürdigkeit »zahllosefr] soldatische[r] Leistungen und menschliche[r] Bewährungen« fest, welche die »deutsche Wehrgeschichte [...] in Frieden und Krieg« biete. Dabei aber trennte er sich angesichts

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Zu dem Entwurf Anfang 1962 vgl. BA-MA, BW 2/3949, fol. 3 9 - 4 4 , BMVtdg Fü Β 13, Traditionsbildung und Traditionspflege in der Bundeswehr, Zitate fol. 39. Die ministerielle Überarbeitung hatte zu einer noch eindeutigeren Herausarbeitung der freiheitlichen Perspektive geführt. Vgl. ebd., fol. 4 8 - 5 2 , Kommandeur Schule der Bundeswehr für Innere Führung an BMVtdg Unterabteilungsleiter Fü Β I, 22.1.1962, mit beigefügtem Entwurf für einen Erlass »Traditionsbildung und Traditionspflege in der Bundeswehr«. Vgl. Erlass »Bundeswehr und Tradition«, Nr. 2 - 5 , 1 0 - 1 4 , 17, 19, Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 2 2 5 - 2 2 8 . Ebd., Nr. 2 - 5 , S. 225. Ebd., Nr. 10 f., S. 226. Ebd., Nr. 12 f., S. 226 f.

IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

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des modernen Kriegsbildes vom Krieg als Ort der Bewährung461. Mehr noch beschränkte sich der Erlass auf nur zwei Konkretisierungen des im Sinne der Traditionspflege Überlieferungswerten - wiederum den Widerstand und die preußischen Reformer. Letztere dienten als Orientierungsmarke für die »Tradition [...] politisch denkender und handelnder Staatsbürger«. Ersterer erschien unter der Würdigung der »Auftragstaktik« als Vorbild für die recht verstandene »Freiheit im Gehorsam«462. Weder war es zu der noch von Heusinger angestrebten ausdrücklichen Gleichordnung des Wehrmachtsoldaten an der Front mit dem Wehrmachtsoldaten im Widerstand gekommen, noch hatte der von Schnez angeregte und von Foertsch zumindest angedeutete Rückzug in die bloße soldatische Welt< stattgefunden. Allerdings hatte der Erlass damit den Bundeswehrangehörigen keine eindeutige Distanzierung von der Wehrmacht aufgegeben. Der dritte Abschnitt zur Traditionspflege in der Bundeswehr ermutigte auch zur »Pflege kameradschaftlicher Beziehungen zu ehemaligen Soldaten« und ließ das Bestreben sichtbar werden, dass die »ehemaligen Soldaten [...] erkennen [sollten], daß die Bundeswehr ihre soldatische Leistung und ihr Opfer würdigt«. Dennoch stand dies unter dem klarstellenden Vorbehalt, dass die Streitkräfte der Bundesrepublik sich nach ihrem Selbstverständnis von den Vorgängern unterschieden463. Der Erlass, der im Übrigen noch ein klares Bekenntnis zum gebildeten Soldaten ablegte464, wird zu Recht als »Kompromiß« angesehen, was sich auch darin niederschlug, dass bei überwiegend günstiger Aufnahme Einwendungen von rechter wie von linker Seite kamen465. Auf seine Weise hatte der Erlass eine weitergehende Entwicklung aufgehalten, die unter Strauß mehr und mehr darauf hinauslief, die soldatische Leistung aus deren politischem Zusammenhang zu lösen. Im Gegenteil hatte er nachdrücklich für den Soldaten der Bundeswehr dessen politische Qualität reklamiert. Ohne es mit der Klarheit von Baudissin zum Ausdruck zu bringen, war damit die Grenze zur Wehrmacht bezeichnet worden. Gleichzeitig bot er bei erkennbarem Vorrang des Widerstandes die Würdigung von soldatischer Leistung und Opfer der einzelnen Wehrmachtangehörigen, ja sogar einzelner Verbände an. Darüber hinaus war mit der erfolgten Abblendung der Bürgerkriegssituation der politische Soldat der Inneren Führung aus der ursprünglichen Position der Voraussetzung für die Kriegstüchtigkeit des westdeutschen Soldaten gerückt. Ganz so hatte Hassel in seiner Bewertung der Ereignisse von Nagold zwar festgehalten, dass der >kriegstüchtige< Soldat durchaus zusammen mit dem Staatsbürger in Uniform der damaligen Inneren Führung bestehen konnte, dessen innerdienstlicher Freiraum über die bereits erfolgte Revision der Vorgesetztenverordnung und die erwähnte Neufassung des die »Erzieherischen Maßnahmen« regelnden Erlasses nicht weiter eingeschränkt werden musste. Damit widersprach er dem verbreiteten 461 462 463 464 465

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

Nr. 9, S. 226. Nr. 14,19, S. 227. Nr. 27-29, S. 229. Nr. 18, S. 227. S. 152-154 (Zitat S. 152); Harder, Traditionspflege, S. 132.

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IV. Das Profil des Soldaten im Einflussfeld

Verlangen nach noch erweiterten Kompetenzen für die Vorgesetzten. Es ist aber sehr die Frage, ob er damit zu dem Modell des kriegstüchtigen, weil auch innerhalb des Dienstes für die Verteidigung der eigenen Freiheit gewonnenen Soldaten zurückkehrte. Dagegen spricht schließlich auch der von ihm tendenziell für den Staatsbürger in Uniform vorausgesetzte Staatsbürger in Zivil. Was im Hinblick auf die Politische Bildung in der Bundeswehr für die Amtszeit Hassels festgehalten wurde, dass nämlich in ihr »eine aktive Irredenta [...] mit Erfolg zu verhindern wußte, daß autoritäre Vorstellungen allein das Feld beherrschen«466, könnte so auch insgesamt für das Muster des westdeutschen Soldaten festgestellt werden.

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Grimm, ... der Bundesrepublik treu zu dienen, S. 228 (Zitat), in Verbindung mit ebd., S. 9 4 - 9 9 .

V. Schluss Beließe man es bei der Momentaufnahme am Ende der forcierten Aufstellung der Bundeswehr, dann könnte das Scheitern des ersten Einführungsversuches des Staatsbürgers in Uniform in die Bundeswehr als ein offenkundiger Sachverhalt angesehen werden. Dies gilt indes nicht nur für die Variante Baudissins, sondern auch für deren von Anfang an angebotene konservative Alternative. Der Inneren Führung war es aufgegeben, den freien Menschen, guten Staatsbürger und vollwertigen Soldaten zum Typ des modernen Soldaten zu vermitteln. Das Modell des kriegstüchtigen, weil nicht zuletzt innerhalb des Dienstes für die Verteidigung auch der eigenen Freiheit gewonnenen Soldaten hatte hinsichtlich seiner normativen Ausprägung, also auf der Ebene der dieses Modell beschreibenden gesetzlichen und ministeriellen Vorschriften, Mitte der 60er-Jahre in einzelnen Bereichen entweder von seiner anfänglich gewonnenen Eindeutigkeit wieder etwas eingebüßt oder war - soweit diese Eindeutigkeit noch gar nicht hatte erreicht werden können - über diesen Stand der Unklarheit noch nicht hinausgekommen. So war das ursprünglich streng funktionale Prinzip, das die militärische Hierarchie begründete, mit der Neufassung der Vorgesetztenverordnung wieder aufgeweicht worden. Parallel dazu hatte die publizistische Praxis der für die Innere Führung zuständigen Unterabteilung, in der sich das angestrebte Modell des westdeutschen Soldaten spiegelte und die es insofern mittelbar beschrieb, die Orientierung an dem Bild des mündigen, kritikfähigen Soldaten aufgegeben. Gleichzeitig hatte der Traditionserlass bei Hervorhebung des Widerstands die Möglichkeit der Anknüpfung an die militärischen Leistungen der Wehrmacht immer noch gewahrt und so den obzwar erklärten freiheitlichen Bezug des militärischen Dienstes in der von Anfang an in einzelnen Beiträgen zur Traditionsdiskussion erkennbaren Relativierung belassen. Mehr noch erschien die solchen Beschreibungen zugrunde liegende Logik des Modells vielerorts infrage gestellt. In der Truppe war sie nicht akzeptiert und auch nicht rezipiert worden. Je dienstjünger die Vorgesetzten waren, desto weniger hatten sie sich den Zusammenhang zu eigen gemacht, nach dem die durch die Innere Führung ausgebildete politische Qualität des Soldaten Voraussetzung für dessen Kriegstüchtigkeit war. Aber nicht nur dort war die Konzeption auf nur unzureichende Resonanz gestoßen. Auch in den Führungsstäben und selbst im Verteidigungsausschuss war diese Logik des Konzeptes Baudissins nicht oder nur unscharf aufgenommen worden. Mit Händen zu greifen war dies, als der für die Innere Führung zuständige Unterabteilungsleiter im Rahmen der Novellierung der Vorgesetztenverordnung im Ausschuss die

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V. Schluss

Trennung des Staatsbürgers in Uniform vom kriegstüchtigen Soldaten vornahm und dabei mehrheitlich auf Beifall stieß. Die Diskussion im Verteidigungsausschuss offenbarte bei dieser Gelegenheit einmal mehr, was schon im Rahmen der Erörterung der grundlegenden Wehrgesetze vermutet werden konnte: Dass die den Staatsbürger in Uniform tragenden Überlegungen im parlamentarischen Raum doch nicht so fest verankert waren, wie es die am Ende erzielten Übereinstimmungen in deren Konsequenzen nahelegten. Ohne an dieser Stelle einer maßgeblichen Bedeutung des Einzelnen im geschichtlichen Ablauf das Wort reden zu wollen, kann davon ausgegangen werden, dass Baudissin als Unterabteilungsleiter weder sich zu dieser Revision der Vorgesetztenverordnung noch gar zu solcher Aushöhlung des politischen Soldaten der Inneren Führung verstanden hätte. Gerade diese Abhängigkeit der Rezeption von der Vermittlungsleistung der einzelnen Person verdeutlicht den Einschnitt, der mit seiner Versetzung aus dem Ministerium verbunden war, und sie unterstreicht einen zentralen Sachverhalt: Der seiner Form nach als politischer Soldat an das Soldatenmodell der (späteren) Wehrmacht anschließende Soldat der Inneren Führung Baudissins vollzog seiner inhaltlichen Bestimmung nach als Parteigänger einer freiheitlichen Ordnung zu sehr den revolutionären Bruch, als dass er unter den damaligen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen sich in eine konservative Modernisierung^ hätte einfügen lassen können - und in historiografischer Perspektive heute als Teil dieses Modells begriffen werden könnte. Aber auch der unter anderem mit der Revision der Vorgesetztenverordnung betriebenen konservativen Variante war am Ende der Aufstellungsphase die erfolgreiche Durchsetzung verwehrt geblieben. Dies gewiss auch, weil weitergehende Absichten, im Sinne vordergründiger militärischer Funktionssicherung das Binnengefüge zu straffen, auf der Ebene der Regelungen nicht mehr zum Zuge kamen und in der Publizistik der Unterabteilung sich zur Mitte der 60er-Jahre hin wieder deutlichere Bemühungen um den kritischen Soldaten zeigten. Vielmehr indes war dieses Modell gescheitert, weil die bundesdeutsche Gesellschaft nicht die Aufgabe erfüllte, die ihr dieses Modell zugedacht hatte, was zunächst dazu führte, dass es immer trotziger propagiert wurde: Je weniger Freiwillige sich zum Dienst meldeten, je mehr der Lücken wegen unzureichend vorbereitete Vorgesetzte zu früh in die Verantwortung gestellt wurden und je weiter sich deswegen das Innere Gefüge der Streitkräfte verschlechterte, desto lauter - so hat es den Anschein - wurde der von der Gesellschaft bereitzustellende pflichtbewusste Staatsbürger eingefordert, dessen Freiraum innerhalb der Truppe gleichzeitig unter nur mehr militärisch-funktionalem Blickwinkel betrachtet wurde und damit enger gefasst werden sollte. So gesehen haben gerade jene, die nicht zur Bundeswehr gingen, erheblichen Anteil daran, dass eine den Veteranen vertraute hergebrachte militärische Praxis ohne die sichtbare, nur durch eine angemessene Bildung der Vorgesetzten zu realisierende Alternative blieb und dass in der von Anfang an gegebenen Konkurrenz Sywottek, Wege in die 50er Jahre, S. 36 f.

V. Schluss

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das konservative Vermittlungsmodell gegenüber der freiheitlichen Variante deutlich an Boden gewann. Aber gerade weil dieses Modell mit seinen obrigkeitsstaatlichen Anleihen, die unter tendenzieller Abblendung der politischen Qualität des Soldaten noch hinter die Wehrmacht zurückgriffen, zunächst dem ideologischen Charakter des Systemkonfliktes nur mit halber Konsequenz gerecht wurde und darin sich von dem in der Aufstellungsphase der Bundeswehr einsetzenden gesellschaftlichen Wandel entfernte, konnte und kann auch es schwerlich als Modernisierung verstanden werden. Der konservative Trend wurde unter Minister von Hassel aufgehalten. Der Schwerpunkt verlagerte sich von der Kompetenzausstattung der Vorgesetzten hin zu deren Qualifikation. Der Rahmen, der unter Hassel für den Staatsbürger in Uniform abgesteckt wurde, übernahm vom konservativen Modell weitgehend die Vorstellung, dass der vor Dienstantritt fertige Staatsbürger eine wesentliche Voraussetzung des Soldaten der Bundeswehr sei. Gegen eine darüber hinausgreifende konservative Kritik behauptete er allerdings die Vereinbarkeit des seine Rechte wahrenden Soldaten der Inneren Führung mit dessen Kriegstüchtigkeit. Zudem minderte er schließlich das Gewicht der ideologischen Konfrontation. Als Einschnitt erschließt sich dieser Vorgang nur unter einem zeitlich aufgeweiteten Blickwinkel, der den Reformschub unter der ersten sozialliberalen Koalition mit einbezieht. Denn mit den beiden zuletzt genannten Zügen sollte dieser Rahmen für lange Zeit die Entwicklung des Staatsbürers in Uniform begleiten. Das Umsteuern unter dem konservativen Verteidigungsminister bedeutete zunächst einmal keineswegs das Ende der Konkurrenz. Im Gegenteil sollten auf programmatischer Ebene die spektakulären Bekundungen noch folgen. Die 1969 vom Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Albert Schnez, unterschriebenen und als >Schnez-Studie< an die Öffentlichkeit gelangten »Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres« forderten die Weiterentwicklung der Inneren Führung hin auf das Leitbild des »Staatsbürger[s] als Soldat«. Sie umrissen die Zielvorstellung des »psychisch und physisch harten Kämpfer^]«, der »notfalls einen Verteidigungskampf tapfer und erfolgreich zu bestehen« habe. Unter der mit dieser Vorgabe geforderten Maximierung der Kampfkraft erschienen zahlreiche Einzelmaßnahmen, die geeignet waren, den Soldaten »sui generis« zu realisieren. Sie reichten von der nachdrücklichen Ausrichtung der inneren Verhältnisse der Bundeswehr auf die Gegebenheiten des im engeren Sinne militärischen Kampfes über den teilweisen Abbau rechtsstaatlicher Sicherungen für den Soldaten und den Kriegsdienstverweigerer bis hin zu Maßnahmen, mit denen Regierung und auch Medien zur Aufwertung der Streitkräfte beitragen sollten2. Die auf das Gefechtsfeld bezogene innermilitärische Vorbereitung des Soldaten sollte sich auf die Gefechtsausbildung

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BA-MA, BW 1/17333, Führungsstab des Heeres, Studie: Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres, Juni 1969. Veröffentlicht unter dem Titel Wortlaut der >Schnez-StudieSchnez-Studie< unter dem sozialliberalen >Aufbruch< auch nicht mehr durchsetzen können5. Hieß dies aber, dass nun endlich die Innere Führung Baudissins zu ihrem Erfolg gelangte? In Vielem kamen die damals angestoßenen Veränderungen den Vorstellungen Baudissins zum Staatsbürger in Uniform entgegen. Hingewiesen sei hier nur auf die Bildungsreform, welche die Ansätze unter Minister von Hassel, an denen in Bezug auf die Wehrakademie auch Karst beteiligt war, gleichsam überholte. Aber diese neuerlichen Impulse zugunsten der Konzeption Baudissins erfolgten nicht ohne eine bemerkenswerte Modifizierung. Denn mit dem allmählichen Schwinden der für das ursprüngliche Konzept zentralen Bedingung des >permanenten Bürgerkrieges< trat der zuvor sich von selbst verstehende Zusammenhang zwischen militärischer Effektivität und deren Voraussetzung, die in der politischen Qualität des Staatsbürgers in Uniform lag, in den Hintergrund. Diese Ablösung der Kriegstüchtigkeit von der Staatsbürgerqualität war kein Vorgang, der an nur einer Wegmarke schon vollzogen war. Im Gegenteil handelte es sich hier um einen Prozess mit Überlappungen, der eine Dekade und länger anhielt. Darin wie auch in dem Umstand, dass je nach dem betrachteten Teilausschnitt der Gegner Baudissins auch als dessen Anhänger erscheinen konnte - Karst zum Beispiel hatte sich doch dauerhaft um die Einrichtung der Wehrakademie bemüht schlägt sich die auch nach der Gründungsphase anhaltende Mehrdeutigkeit amtlicher Aussagen zur Inneren Führung nieder. So wurde im Jahre 1970 das »Handbuch Innere Führung« in der fünften und damit vorerst letzten Auflage noch einmal veröffentlicht6. Wie bereits 1957 stellte die unveränderte Neuauflage die Überlegungen zum Staatsbürger in Uniform unter der »einzig legitime[n] Frage« vor, wie »die deutsche Bundeswehr in der Mitte des 3 4 5 6

Ebd., S. 302 (Zitat), 317. Ebd., S. 304 f. Mit anderen Forderungen, die z.B. auf die Verjüngung des Offizierkorps zielten, stieß die Studie dagegen schon auf zustimmende Resonanz. Handbuch Innere Führung. Hilfen zur Klärung der Begriffe. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Führungsstab der Streitkräfte, Stabsabteilung I, 5., unveränd. Aufl., [o.O.] 1970.

V. Schluss

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20. Jahrhunderts zu einem Instrument von höchster Schlagkraft gestaltet werden« könne 7 . Der Bedingungszusammenhang, der mit den Ausführungen von Brigadegeneral Drews zehn Jahre zuvor im Verteidigungsausschuss von amtlicher Seite schon infrage gestellt und der Mitte der 60er-Jahre in der Truppe nicht nur überwiegend verneint, sondern in sein Gegenteil gewendet worden war, insofern die Maximen von Innerer Führung und militärischer Effizienz als konkurrierende, einander im Wege stehende Maßgaben betrachtet wurden, dieser Bedingungszusammenhang erfuhr hier noch einmal eine Bekräftigung. Zwei Jahre später trat aber an die Stelle des »Handbuchfs] Innere Führung« die ZDv 10/1 »Hilfen für die Innere Führung«. Gemäß dem Wunsch des Wehrbauftragten (Fritz-Rudolf Schultz) und des Parlaments 8 wurden damit die Grundsätze der Inneren Führung erstmals in einer Dienstvorschrift erfasst9. Mit einer solchen Kodifizierung ging die Rücknahme der Inneren Führung auf die Rechtsgrundlagen und deren Anwendung einher, was den nach dem »Handbuch Innere Führung« konstitutiven Zusammenhang mit dem Krieg (oder genauer: einem bestimmten Kriegsbild) verschwinden ließ. Weder zum >Weltbürgerkrieg< noch zum >permanenten Bürgerkrieg< stellten die Bestimmungen der ZDv 10/1 einen Bezug her. Die Vorschrift leitete den »Staatsbürger in Uniform« allein »aus den Grundzügen unseres Verfassungsstaates« ab10. Laut dem »Handbuch Innere Führung« waren für das Profil dieses Soldaten dagegen noch die »schweren Anforderungen und Belastungen« verantwortlich, die mit der umfassenden und sich auch auf den Krieg erstreckenden ideologischen Konfrontation verbunden waren 11 . Statt um die Schlagkraft ging es der Vorschrift von 1972 nur mehr um den Ausgleich der »Spannungen zwischen den Rechten und Pflichten des Soldaten«, um so für die »Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Rahmen unserer rechtlichen Ordnung« Sorge zu tragen12. Was mit den Forderungen des Krieges und der Rückbindung an die freiheitlich-demokratische Ordnung im »Handbuch Innere Führung« noch als eine Einheit erschien, war in der Dienstvorschrift von 1972 voneinander getrennt. Die »Kampfkraft« wurde hier dem »Gehorsam« zugeordnet und die den Gehorsam fördernde »Einsicht« als eine Frage innermilitärischer Kommunikation und Transparenz behandelt13. Das Thema des politischen Selbstverständnisses wurde unter dem Vorzeichen der gesetzlich geforderten »Anerkennung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« an anderer Stelle eingeführt 14 . 7 8

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Handbuch Innere Führung - 1970, S. 17 - Hervorhebung im Original. Vgl. Deutscher Bundestag, 6. WP, Drucksache VI/3232, Der Wehrbeauftragte, 29.2.1972, Jahresbericht 1971, S. 21 f. Vgl. zur Vorschrift Harder, Traditionspflege, S. 141 f. Der Bundesminister der Verteidigung, Fü S I 3, ZDv 10/1 »Hilfen für die Innere Führung« (August 1972), Ziff. 109 - Hervorhebung im Original. [Baudissin], Situation und Leitbild - Staatsbürger in Uniform, Handbuch Innere Führung - 1970, S. 1 5 - 4 6 , hier S. 42 f., passim. ZDv 10/1 »Hilfen für die Innere Führung« (August 1972), Ziff. 202 in Verb, mit Ziff. 206. Ebd., Ziff. 217 - Hervorhebung im Original. Ebd., Ziff. 220. An einer Stelle hieß es ebd., Ziff. 231, zwar noch, »wer die Freiheit verteidigen soll, muß an ihr teilhaben, sie erleben [...] können«. Was früher aber in auf den ers-

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V. Schluss

Überhaupt wandte sich die ZDv 10/1 1972 kaum dem Krieg zu, der mit der auf die »Einsatzbereitschaft« der Bündnisstreitkräfte gegründeten Erwartung, ihn vermeiden zu können, geradezu übergangen wurde15. Die dann 1973 folgende Neufassung der ZDv 12/1 »Politische Bildung in der Bundeswehr« thematisierte die Position des Soldaten im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und in dessen pluralistischer Gesellschaft. Der Bezug zum anderen Gesellschaftssystem wurde zwar auch unter dem Aspekt kritischer Auseinandersetzung, dabei aber nicht mehr unter dem bestimmenden Vorzeichen der Konfrontation, sondern unter dem machtgestützter Friedenssicherung hergestellt16. Auch hier schien die Situation des Krieges bestenfalls zwischen den Zeilen oder am Rande auf17. Diese Lockerung des Bedingungszusammenhanges von Staatsbürgerqualität und Kriegstüchtigkeit, die hier nun unter sozial-liberaler Verantwortung vorgenommen wurde, lag gewiss nicht an der Realisierung eines Modells des Soldaten sui generis. Was dagegen am Beginn der Entspannungspolitik und während des gleichzeitigen Tests der freiheitlichen Ordnung durch eine Neue Linke seine alte Prägekraft verloren hatte, war eben der >permanente Bürgerkriege Welche Verschiebungen eintraten, wenn dieser Bezugsrahmen einmal in den Hintergrund getreten war, wenn also die ideologische Prägung der militärischen Auseinandersetzung nicht mehr in aller Schärfe erkennbar war, zeigt die Differenzierung, die Generalleutnant a.D. Carl Gero von Ilsemann, der doch bestens mit der Konzeption der Inneren Führung vertraut war, 1981 vornahm, als er unterstrich, dass die Integration der Bundeswehr und ihrer Soldaten in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik das »Hauptziel« der Inneren Führung sei, dass sie zugleich aber die Soldaten der Bundeswehr keineswegs hinsichtlich ihrer kämpferischen Eigenschaften »untüchtiger« machen, sondern im Gegenteil auch für den Verteidigungsfall zu entschlossenen, verantwortungsbewuss-

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ten Blick ähnlicher Wendung im Kontext der militärischen »Aufgabe« formuliert worden war, erschien jetzt im Rahmen eines Appells, im Zusammenleben gegenseitig Toleranz zu üben, was dann den Bezug zum Einsatz verschwieg. In einer recht bezeichnenden Formulierung unterschied der Abschnitt über die Innere Führung abschließend zwischen dem »Freiheitswillen« der »Gesellschaft« und dem »Kampfwillen der Soldaten«. Vgl. ebd., Ziff. 235 (Hervorhebung im Original), und [Baudissin], Situation und Leitbild - Staatsbürger in Uniform, Handbuch Innere Führung - 1970, S. 15-46, hier S. 24. ZDv 10/1 »Hilfen für die Innere Führung« (August 1972), Ziff. 235. Ganz anders dagegen noch das »Handbuch Innere Führung«: Es bekannte sich zwar auch zur Kriegsverhinderung im Wege entschlossener Verteidigungsbereitschaft, versäumte dabei aber keineswegs, den Staatsbürger in Uniform im Kontext des >heißen< wie des >kalten Krieges< zu behandeln. Derartige Überlegungen konnten in der Vorschrift zwar noch in einem Anhang nachgelesen werden, standen dort aber unter dem Vorbehalt des möglicherweise Überholten. Vgl. [Baudissin], Situation und Leitbild - Staatsbürger in Uniform, Handbuch Innere Führung - 1970, S. 15-46, hier S. 24 f., 3 4 - 3 9 , 42 f., und ZDv 10/1 »Hilfen für die Innere Führung« (August 1972), Anhang II: Aussagen zur Inneren Führung in Vergangenheit und Gegenwart. Der Bundesminister der Verteidigung, Fü S I 5, ZDv 12/1 »Politische Bildung in der Bundeswehr« (Januar 1973), Ziff. 303 f., 401. Vgl. ebd., Ziff. 1 0 1 , 1 0 6 , 4 0 1 .

V. Schluss

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ten Soldaten erziehen solle18. Die Selbstverständlichkeit, mit der nach der ursprünglichen Konzeption nur der politische Soldat der Inneren Führung auch als kriegstüchtig angesehen werden konnte, war in solcher Bestimmung von Haupt- und augenscheinlichem Nebenziel verloren gegangen oder anders formuliert: Die sich aus dem >permanenten Bürgerkrieg< ergebende und in der Figur des Staatsbürgers in Uniform zu professioneller Einheit zusammengeführte politische und militärische Qualität wurde mit dem Verblassen des >permanenten Bürgerkrieges< in ihrem inneren Zusammenhang wenn nicht gelöst, so doch gelockert. Zu diesem Verblassen trug neben der Entspannungspolitik und den innenpolitischen Veränderungen in der Bundesrepublik noch eine Verschiebung im Kriegsbild bei, die sich in den Beiträgen Baudissins wahrnehmen lässt. Im Vorfeld der Aufstellung setzte die ideologische Konfrontation den bestimmenden Rahmen eines jeden Krieges. So eindringlich es damals schon um die Verhinderung des Krieges ging, so erschien dieser immerhin in einer Extremsituation legitimiert. Ausdrücklich im Hinblick auf den »absolute[n] Krieg« hieß es 1954 noch: »Gerechtfertigt erscheint er nur noch als Verteidigung letzter menschlicher, d.h. freiheitlicher Existenz19.« Und auch die 1957 vorgenommene Analyse der Stabsrahmenübung LlON NOIR betrachtete die schließlich auch mit Atomwaffen geführte Auseinandersetzung als Bürgerkriegssituation, mithin als ein Kriegsgeschehen, in welchem das Erreichen fundamentaler politischer Zwecke nicht ausgeschlossen war. Dieser Blickpunkt erscheint 1962 verändert. In einem am 7. April 1962 vor der >Deutschen Atlantischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag hatte sich Baudissin zu dem Kriegsbild geäußert20. Wohl nicht zufällig hatte er sich dabei zuerst den von der Technik bereitgestellten modernen Kriegsmitteln zugewandt21 und auf vergleichsweise knappem Raum den 18

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Ilsemann, Die Innere Führung, S. 3 3 1 - 3 3 3 , hier S. 333, die bezeichnende Trennung in Haupt- und offensichtlich Nebenziel der Inneren Führung: »Hauptziel der Inneren Führung ist demnach die Einbettung der Bundeswehr als Institution, ihrer Soldaten als gesellschaftliche Gruppe und einzelne Staatsbürger in den demokratischen Rechtsstaat und seine pluralistische Gesellschaft auf dem Boden des Grundgesetzes, um auf diese Weise zuverlässige, einsatzbereite Streitkräfte zu erhalten. Zugleich aber - das darf nicht übersehen werden [...] - soll die Innere Führung die Soldaten der Bundeswehr nicht in der Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages hemmen oder im Vergleich mit den Soldaten anderer Armeen untüchtiger, feldunbrauchbarer machen. Mit der Inneren Führung wurde der Bundeswehr vielmehr ein Instrument an die Hand gegeben, das über den Weg zeitgemäßer Menschenführung die Ausbildung und Erziehung guter Soldaten unserer Demokratie ermöglicht. Soldaten, die als überzeugte Staatsbürger auch unter harten Belastungen in der Ausbildung wie im Verteidigungsfall ihren Mann stehen und ihren militärischen Dienst entschlossen und verantwortungsbewußt leisten« - Hervorhebung im Original. Vgl. auch ebd., S. 6. Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung, S. 639. Noch im gleichen Jahr veröffentlicht als Wolf Graf von Baudissin, Das Kriegsbild. In: Wehrwissenschaftliche Rundschau (WWR), 12 (1962), S. 363-375; unter gleichem Titel mit geringfügigen Änderungen ebenfalls abgedr. als Beilage zu Information für die Truppe, 7 (1962), 9, S. 1 - 1 9 ; im Folgenden wird nach der Veröffentlichung in der WWR zitiert. Vgl. zu diesem Aufsatz Gablik, »... von da an herrscht Kirchhofsruhe«. Baudissin, Das Kriegsbild, S. 364 - 369.

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ideologischen Gegensatz behandelt22. Es waren schließlich die ungeheuren Wirkungsmöglichkeiten der Technik, die ihn zu dem Urteil führten, dass sich mit einem Krieg weder ideologische Systeme verbreiten noch »verlorengegangene Freiheit oder Territorien zurückgewinnen« ließen. Der Krieg sei »heute nur noch ein Weg in die gegenseitige Vernichtung«23. War die offene Gewaltanwendung zwischen den Staaten erst einmal eingetreten, hielt Baudissin die Eskalation hin zur »Kirchhofsruhe« für »mehr als wahrscheinlich«24. Mit anderen Worten hatte die nukleare Waffe in dieser Sicht nunmehr ein solches Gewicht gewonnen, dass sie den ideologischen Bezugsrahmen des Krieges zu überdecken begann. Treffend ist zu dem Denken Baudissins hinsichtlich der Abschreckung bemerkt worden, dass es sich im Laufe der Zeit zugespitzt habe zu einem Verständnis, dass nicht der Gegner, sondern der »alle Existenz bedrohende Krieg« zum »eigentliche[n] >FeindWeltbürgerkriegesSchnez-Studie