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German Pages 384 [385] Year 2020
Kanonistische Studien und Texte Band 70
Der Gewissenstäter im kanonischen Recht Das kirchliche Sanktionsrecht im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit
Von
Martin Krutzler
Duncker & Humblot · Berlin
MARTIN KRUTZLER
Der Gewissenstäter im kanonischen Recht
Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . K o e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn sowie von Dr. G e o r g M a y Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz und Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz herausgegeben von Dr. W i l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Dr. C h r i s t o p h O h l y Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier
Band 70 MARTIN KRUTZLER
Der Gewissenstäter im kanonischen Recht
Der Gewissenstäter im kanonischen Recht Das kirchliche Sanktionsrecht im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit
Von
Martin Krutzler
Duncker & Humblot · Berlin
Die Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-15905-5 (Print) ISBN 978-3-428-55905-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2019 unter dem Titel „Der Gewissenstäter im kanonischen Recht. Das kirchliche Sanktionsrecht im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ von der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Wien als Dissertationsschrift angenommen. Mein erster und besonderer Dank gilt meinem verehrten Doktorvater und Lehrer, Herrn Univ.-Prof. Dr. theol. Dr. iur. can. habil. Ludger Müller, M. A., dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter ich am Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Universität Wien sein durfte und der die vorliegende Studie angeregt sowie mit großem Interesse betreut hat. Ihm danke ich vor allem auch für die wohlwollende Förderung meiner kirchenrechtlichen Studien und seine väterliche Begleitung. In tiefer Dankbarkeit möchte ich an dieser Stelle ebenso meines lieben Mitbruders, Freundes und Wegbegleiters, Abt Christian Feurstein OCist, gedenken, der im Jahr 2017 zum Herrn heimgegangen ist. Großer Dank gebührt des Weiteren Herrn Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Rees für die Erstellung des Erstgutachtens, seinen ermutigenden und hilfreichen Rat sowie für seine Begleitung des Publikationsprozesses. Prof. Dr. Libero Gerosa danke ich sehr herzlich für das Zweitgutachten und die konstruktive Kritik. Meinen Ordensoberen und all meinen Mitbrüdern sei ein herzliches „Vergelt’s Gott“ dafür gesagt, dass sie mir die Vertiefung in das Kirchenrecht ermöglicht und durch ihre große Geduld mitgetragen haben. Bei P. Aloysius M. Zierl OCist und Frau Christina Brock bedanke ich mich für das Korrektorat. Dank gebührt auch dem Verlagsteam von Duncker & Humblot für die gute Zusammenarbeit sowie der Erzdiözese Salzburg, der Diözese Eisenstadt und der Phil.-Theol. Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz für die großzügige finanzielle Unterstützung dieser Publikation. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern und Geschwistern für ihr Gebet, ihre Aufmunterungen und Unterstützung. Heiligenkreuz, am 29. August 2019, Gedenktag der Enthauptung Johannes’ des Täufers
P. Martin M. Krutzler OCist
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung A. Gewissen – Mensch – Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Gewissen als menschliches Existenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Freiheit und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Offensichtliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Ziel, Aufbau und aktueller Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Aufbau der Arbeit und aktueller Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Kapitel 2
Kontext, Definition und Ausfaltung der Rechtsfigur des Gewissenstäters
A. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . I. Gustav Radbruch und die Rechtsfigur des Gewissenstäters . . . . . . . . . . II. Die Rolle des Gewissens im säkularisierten Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erkenntnisse aus der Betrachtung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 I. Joseph Klein und die Kirche der freien Gefolgschaft . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. „Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Die Begrenzung des Kirchenrechts durch die freie Gefolgschaft . . . 51 3. Die Freiheit des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Die Konvergenz von Glaube und Recht im rechtstheologischen Ansatz von Hans Barion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Die rechtliche Transformierbarkeit des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Barions System des göttlichen Kirchenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters bei Hans Barion . . . . . . . . . 65 III. Der Ertrag aus der Auseinandersetzung zwischen Joseph Klein und Hans Barion für eine Rechtsfigur des Gewissenstäters . . . . . . . . . . . . . . 75 C. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . 81
8 Inhaltsverzeichnis I.
Der „Gewissenstäter“ als „Rechtsfigur“ – Begriffsklärungen . . . . . . . . . 1. Die Beschränkung auf den „Gewissenstäter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gewissenstäter als Rechtsfigur im kanonischen Recht . . . . . . . . II. Die Definition der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kontextualisierung der vorgelegten Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Gesetz als allgemeine rechtsverbindliche Glaubensweisung . . . . 2. Die communiale Ausrichtung des kirchlichen Gesetzes . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3
Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
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A. Das Gewissen im christlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Frühformen des Gewissensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Omne, quod non est ex conscientia, peccatum est . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die begriffliche Klärung des irrenden Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Krise des Gewissensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Gewissensbegriff zur Zeit des Zweiten Vatikanums . . . . . . . . . . . . . VI. Das Verhältnis von Wahrheit und Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen nach Georg May . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Gewissen – ein unjuristisches Ding? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Einheit von forum internum und forum externum im kirchlichen Rechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Begriffspaar forum internum und forum externum im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Was bedeutet die Begriffszuordnung von forum externum und forum internum für das Verhältnis von Gewissen und Recht? . . . . . . . . . . . . . .
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C. Das Gewissen im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Der Begriff „Gewissen“ im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 II. Die Auslegung von c. 748 § 2 CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Auslegung gemäß der im Text und Kontext erwogenen Wortbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Entstehung, Zweck und Parallelstellen der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Die Reichweite von c. 748 § 2 CIC/1983 im geltenden Recht . . . . . . 143 4. Ergebnis der Auslegung von c. 748 § 2 CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . 146 5. Unterschiedliche Normen für unterschiedliche Aspekte der Freiheit . 147 a) Das Problem der Kirchengliedschaft im Lichte der Glaubensund Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Konsequenzen für die Verortung der innerkirchlichen Freiheit des Glaubens und des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Inhaltsverzeichnis9 D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Wiederentdeckung der Gewissensfreiheit in der Kirche . . . . . . . . . . II. Die Konfrontation der Kirche mit dem Grundrecht der Gewissens freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Gewissensfreiheit im II. Vatikanischen Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahrheitsanspruch der Kirche und subjektives Gewissensurteil . . . . 2. Ein innerkirchliches Grundrecht auf Gewissensfreiheit? . . . . . . . . . . 3. Verbot des Zwanges durch rein menschliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . IV. Innere Religionsfreiheit oder Gewissensfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Menschenrechte in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grund- und Menschenrechtsproblematik in der Kirche . . . . . . . . 2. Die kontextuelle Prägung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verwirklichung von Menschenrechten in der Kirche . . . . . . . . . . a) Defizitäre Ansätze der Verwirklichung von Menschenrechten in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Notwendigkeit einer ekklesialen Prägung von Menschenrechten in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Innerkirchliche Menschenrechte als echte Individualschutzrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit als kirchliches Grundrecht . . 1. Ursprung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Träger des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der sachliche Schutzbereich der inneren Gewissensfreiheit . . . . . b) Der sachliche Schutzbereich der äußeren Gewissensfreiheit . . . . c) Die Einschränkung der äußeren Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . VII. Zusammenfassende Bemerkungen zum Grundrecht der Gewissens freiheit in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
162 162 165 170 170 172 178 180 182 182 189 192 192 195 197 200 201 202 202 203 207 208 209
Kapitel 4
Das kirchliche Sanktionsrecht im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit
A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext der Rechtsfigur des Gewissenstäters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eröffnung der Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strafrecht oder Sanktionsrecht – eine Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . III. Die Legitimität kirchlicher Sanktionsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die historische Entwicklung der kirchlichen Sanktionstypen . . . . . . . . . 1. Vom öffentlichen Bußsystem zur Ausprägung kirchlicher Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zensur und Vindikativstrafe im CIC/1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10 Inhaltsverzeichnis a) Die Zensur im CIC/1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vindikativstrafe im CIC/1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sanktionszwecke im CIC/1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zensur und Vindikativstrafe im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zensur im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Sühnestrafe im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Exkurs: Die Disziplinarmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sanktionszwecke im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Stimmen aus der Kanonistik zur Sanktionszwecklehre . . . . . . . . . . . VI. Der Besserungszweck kirchlicher Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Besserungszweck der Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Besserungszweck der Sühnestrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auswertung der Sanktionszwecklehre in Bezug auf die Rechtsfigur des Gewissenstäters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Übt die Kirche mit ihren Sanktionen Zwangsgewalt aus? . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Zwang im Recht der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Äußere Zwangsgewalt – ein Teil des kirchlichen Rechtsbegriffs? . . . II. Konzeptionelle Widersprüche bei der Verhältnisbestimmung von Besserung und Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ansgar Grochtmanns Definition des Zwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Worin liegt definitorisch das Wesen von Zwang? . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Zensur als eine Maßnahme mit Besserungszweck und Zwang scharakter im CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts im Lichte der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 I. Libero Gerosas These von der deklarativen Funktion der Exkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Gerosas Ausgangsfrage bei der Untersuchung der Exkommunika tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Die Begründung der These vom deklarativen Charakter der Exkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 3. Kritische Würdigung der These vom deklarativen Charakter der Exkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 II. Die Neueinteilung der Sanktionsmittel nach Klaus Lüdicke . . . . . . . . . . 284 1. Die Verwerfung des Sanktionszwecks der Besserung . . . . . . . . . . . . . 285 2. Lüdickes Reformvorschläge zum kirchlichen Sanktionsrecht . . . . . . 285 3. Würdigung der Vorschläge Klaus Lüdickes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 III. Ludger Müllers Unterscheidung nach Wesen und Funktion der Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 1. Warum eine theologisch fundierte Unterscheidung der Sanktionen notwendig ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 2. Zensuren sind keine Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 3. Würdigung der Einschätzung Müllers über die Zensur und Sühnestrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Inhaltsverzeichnis11 D. Einordnung der Rechtsfigur des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gerosas These als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Beachtung von Wesen und Funktion der Zensur . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exkommunikation, Interdikt und Suspension als Maßnahmen deklarativen Charakters? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kriterien eines mit der Zensur sanktionsbewehrten Tatbestandes . . . III. Die Zensur als Tatsanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters auf Ebene der Schuld . . . . . . . . . . 1. Sünde und Delikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auf dem Weg zu einer Zurechnungslehre im kirchlichen Sanktionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zurechnungslehre des CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Vermutung der Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem des Nachweises einer subjektiven moralischen Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Problem der moralischen Zurechnung im Fall des Gewissenstäters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Exkurs: Kann eine culpa praecedens eine sanktionsrechtliche Zurechnung begründen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eine Entflechtung des sanktionsrechtlichen Schuldbegriffs . . . . . . . . 5. Der Verzicht auf eine subjektive moralische Zurechnung . . . . . . . . . 6. Eine Differenzierung hinsichtlich der Sanktionsmaßnahmen . . . . . . .
301 302 303 303 305 308 312 313 314 316 319 320 321 322 324 327 328
Kapitel 5
Ergebnisse und Konsequenzen
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A. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 B. Ergänzungs- und Änderungsvorschläge für das kirchliche Sanktionsrecht . . . 335 C. Die Notwendigkeit einer Reform des kirchlichen Sanktionsrechts . . . . . . . . . 337 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Abkürzungsverzeichnis AAS
Acta Apostolicae Sedis
AfkKR
Archiv für katholisches Kirchenrecht (Innsbruck 1857 ff., Mainz 1862 ff.)
AIC
Adnotationes in Ius Canonicum (Frankfurt a. M. u. a. 1995 ff.)
Art. Artikel ASS
Acta Sanctae Sedis
B-VG Bundesverfassungsgesetz Bd./Bde. Band/Bände BVerfG Bundesverfassungsgericht CCEO
Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium
CIC
Codex Iuris Canonici
Ders. Derselbe DH
Vatikanum II, Erklärung „Dignitatis humanae“, in: AAS 58 (1966), 929–941
DirOec/1993
Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen: Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus, in: AAS 85 (1993), 1039–1119; deutsche Fassung veröffentlicht in: VApSt 110 (1993)
EIC
Ephemerides Iuris Canonici (Rom 1946 ff.)
EMRK
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
EvStL3
Evangelisches Staatslexikon, 2 Bde. (3. Auflage, Stuttgart 1987)
EvTh
Evangelische Theologie (1934 ff.)
FS Festschrift GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
GRGA
Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe (Heidelberg)
GrNKirchR
Josef Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.): Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts (Regensburg 1980)
GS
Vatikanum II, Pastorale Konstitution „Gaudium et spes“, in: AAS 58 (1966), 1025–1115
HdbKathKR1
Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz [Hrsg]: Handbuch des katholischen Kirchenrechts (Regensburg 1983)
HdbKathKR2
Joseph Listl/Heribert Schmitz (Hrsg.): Handbuch des Katholischen Kirchenrechts (Regensburg 1999)
Abkürzungsverzeichnis13 HdbKathKR3 HdbStKirchR1
HerKorr HThK-VatII
IKaZ IPE JRGS KanR I–III
KanR IV
KKK KStKR KStT LEF LG LKStKR
LThK2 LThK2-K
LThK3 MKCIC
Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hrsg.): Handbuch des Katholischen Kirchenrechts (Regensburg 2015) Ernst Friesenhahn/Ulrich Scheuner i. V. m. Joseph Listl (Hrsg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde. (Berlin 1974–1975) Herder Korrespondenz (Freiburg i. Br. 1946 ff.) Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil (Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005) Internationale katholische Zeitschrift „Communio“ (Köln 1972 ff.) Ius Publicum Ecclesiasticum Gerhard Ludwig Müller (Hrsg.): Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften (Freiburg/Basel/Wien 2008 ff.) Aymans/Mörsdorf: Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici (Paderborn/München/Wien/Zürich 1991, 1997, 2007) Aymans/Mörsdorf/Müller: Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici IV (Paderborn/München/Wien/ Zürich 2013) Katechismus der Katholischen Kirche (Vatikan 1997), dt. Ausgabe (München/Vatikan 2003) Kirchen- und Staatskirchenrecht (Paderborn/Wien 2004 ff.) Kanonistische Studien und Texte (Bonn 1928 ff.) Lex Ecclesiae Fundamentalis Vatikanum II, Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“, in: AAS 57 (1965), 5–75 Axel Frhr. von Campenhausen/Ilona Riedel-Spangenberger/ Reinhold Sebott (Hrsg.): Lexikon für Kirchen- und Staats kirchenrecht, 3 Bde. (Paderborn/München/Wien/Zürich 2000– 2004) Josef Höfer/Karl Rahner (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche, 10 Bde. und Registerband (2. Auflage, Freiburg i. Br. 1957–1967) Josef Höfer/Karl Rahner (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil – Dokumente und Kommentare, 3 Bde. (2. Auflage, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1967–1968) Walter Kasper u. a. (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche (3. Auflage, Freiburg i. Br./Basel/Rom/Wien 1993–2001) Klaus Lüdicke (Hrsg.): Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechts lage in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Essen 1985 ff.)
14 Abkürzungsverzeichnis MThS.K
Münchener Theologische Studien, Kanonistische Abteilung (München 1951 ff.) MThZ Münchener Theologische Zeitschrift (München 1950 ff.) MySal Johannes Feiner/Magnus Löhrer (Hrsg.): Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, 5 Bde. (Einsiedeln u. a. 1965–1976) NJW Neue Juristische Wochenschrift (München 1947/48 ff.) ÖAKR Österreichisches Archiv für Kirchenrecht (Wien 1950 ff.) ÖARR Österreichisches Archiv für Recht & Religion (Freistadt 1999 ff.) PCLT Pontificium Concilium de legum textibus interpretandis PerRCan Periodica de re canonica (Rom 1991 ff.) PerRMCL Periodica de re morali canonica liturgica (Rom 1905–1990) RGG3 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 6 Bde. und Registerband (3. Auflage, Tübingen 1957–1965) SC DocFid Sacra Congregatio pro Doctrina Fidei Schema CIC/1980 Schema Codicis Iuris Canonici iuxta animadversiones R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum, Dicasteriorum Curiae Romanae, Universitatum Facultatumque ecclesiasticarum necnon Superiorum Institutorum vitae consecratae recognitum (Vatikan 1980) Schema CIC/1982 Codex Iuris Canonici. Schema novissimum post consultationem R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum, Dicasteriorum Curiae Romanae, Universitatum Facultatumque ecclesiasticarum necnon Superiorum Institutorum vitae consecratae recognitum, iuxta placita Patrum Commissionis deinde emandatum atque Summo Pontifici praesentatum (Vatikan 1982) Schema Poen Schema documenti quo disciplina sanctionum seu poenarum in Ecclesia Latina denuo ordinatur (Vatikan 1973) SKZ Schweizerische Kirchenzeitung – Fachzeitschrift für Theologie und Seelsorge (Luzern 1832 ff.) StdZ Stimmen der Zeit (Freiburg i. Br. 1915 ff.) StGG (österreichisches) Staatsgrundgesetz StL7 Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon 7 Bde. (7. Auflage, Freiburg i. Br. 1985–1993) ThGl Theologie und Glaube (Paderborn 1909 ff.) ThPh Theologie und Philosophie (Freiburg i. Br. 1966 ff.) ThPQ Theologisch-praktische Quartalschrift (Linz 1848 ff.) ThQ Theologische Quartalschrift Tübingen (1818 ff.) TRE Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hrsg.): Theologische Real enzyklopädie (Berlin/New York 1976 ff.) TThSt Trierer Theologische Studien (Trier 1941 ff.)
Abkürzungsverzeichnis15 TThZ UR VApSt VVDStRL ZEE ZRG Kan. Abt. ZStW
Trierer Theologische Zeitschrift (Trier 1888 ff.) Vatikanum II, Dekret „Unitatis redintegratio“, in: AAS 57 (1965), 90–107 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls (Bonn 1975 ff.) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Berlin u. a. 1924 ff.) Zeitschrift für Evangelische Ethik (Gütersloh 1957 ff.) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung (Weimar 1911 ff.) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (1881 ff.)
Kapitel 1
Einleitung A. Gewissen – Mensch – Recht I. Das Gewissen als menschliches Existenzial Wird das Gewissen zum Schweigen gebracht, stirbt die Menschlichkeit1. Vielleicht ist es eine Zumutung, eine kirchenrechtliche Abhandlung, welche das Gewissen in den Fokus rückt, gleich mit einer solch düsteren Wendung beginnen zu lassen. Dieser Einstieg hat aber seinen Grund: Er bringt die Dramatik zum Ausdruck, die mit dem Phänomen „Gewissen“ verknüpft ist. Manchmal wird die Bedeutung von Existenzialen2 erst in der Konfrontation mit ihrer Pervertierung, Unterdrückung oder Auslöschung bewusst. Im Fall des Gewissens kann dies anhand folgenden Zitats aus Rauschnings Gesprächen mit Adolf Hitler erschreckend anschaulich werden: „Die Tafeln vom Berge Sinai haben ihre Gültigkeit verloren. Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Es ist wie die Beschneidung eine Verstümmelung des mensch lichen Wesens … Es gibt keine Wahrheit, weder im moralischen noch wissenschaftlichen Sinne … Die Vorsehung hat mich zum größten Befreier der Menschheit vorbestimmt. Ich befreie den Menschen vom Zwange eines Selbstzweck gewordenen Geistes, von der schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigung einer Gewissen und Moral genannten Chimäre und von den Ansprüchen einer Freiheit und persönlichen Selbständigkeit, denen immer nur ganz wenige gewachsen sein können. Der christlichen Lehre von der unendlichen Bedeutung der menschlichen Einzelseele und der persönlichen Verantwortung setze ich mit eiskalter Klarheit die erlösende Lehre von der Nichtigkeit und Unbedeutendheit des einzelnen Menschen und seines Fort 1 Damit ist nicht „bloß“ eine Abnahme von (Mit-)Menschlichkeit in der Welt gemeint, sondern das Fehlen von etwas, was den Menschen zum Menschen macht; vgl. dazu Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Ansprache von Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag, 133: Der Mensch kann „Menschen vom Menschsein ausschließen“; vgl. auch Alois Sustar: Gewissensfreiheit, hier insb. 55. 2 Vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 88: „Auf diese Weise ist wohl sichtbar geworden, dass uns die Frage nach dem Gewissen tatsächlich in den Kernbereich des moralischen Problems und so der Frage nach der Existenz des Menschen überhaupt führt.“
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Kap. 1: Einleitung
lebens in der sichtbaren Unsterblichkeit der Nation gegenüber. An die Stelle des Dogmas von dem stellvertretenden Leiden und Sterben eines göttlichen Erlösers tritt das stellvertretende Leben und Handeln des neuen Führergesetzgebers, das die Masse der Gläubigen von der Last der freien Entscheidung entbindet.“3 Hermann Göring werden schließlich in Befolgung dieser dunklen Gedanken seines Führers folgende Worte zugeschrieben: „Ich habe kein Gewissen! Mein Gewissen heißt Adolf Hitler.“4 Für den hier zu behandelnden Kontext ist es nun nicht entscheidend, ob Hitler und Göring diese Aussagen tatsächlich so getätigt haben oder ob sie ihnen von Hermann Rauschning in den Mund gelegt wurden5. Vielmehr geht es darum, anhand dieser abgrundtiefen Gedanken deutlich zu machen, dass ein System, das Unrecht und Ideologie an die Stelle des Rechts setzen will, beim Gewissen des Menschen beginnen muss6. Umgekehrt aber – und das soll dieser düstere Einstieg in die Materie ebenso zeigen – bedeutet diese Erkenntnis für eine den Menschen dienende Rechtsordnung, dass der Schutz und die Anerkennung der Würde des Gewissens in ihr condicio sine qua non sein muss7. Mehr noch als für jedes staatliche Rechtssystem trifft dies für das Recht einer Gemeinschaft zu, deren Fundament ein gemeinsamer Glaube ist. Denn der Glaubensakt ist seinem Wesen nach nicht anders zu begreifen, als ein verantworteter Akt des Gewissens, in dem „das Geheimnis dialogischer Existenz, der sich der Mensch als Person verdankt“, offenbar wird8. Wenn daher Josef Bordat in Röm 14,23 im Begriff „pistis“ bereits eine „Frühform 3 Adolf Hitler, zitiert nach Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, 210–212. Schon Nietzsche verhöhnte das Gewissen als die „tiefste Erkrankung des Menschen“ und fordert: „Weg mit dem Wahn von Schuld und Gewissen“ – vgl. Josef Bordat: Das Gewissen, 95. 4 Hermann Göring, zitiert nach Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, 77; vgl. dazu auch Theodor Schieder: Hermann Rauschnings Gespräche mit Hitler als Geschichtsquelle, 31. 5 Die Echtheit dieser Gespräche ist äußerst umstritten, nach herrschender Ansicht stellt das Werk eine Fälschung dar. Zu einer differenzierteren Bewertung lud Bernd Lemke in seiner Rezension anlässlich der Neuauflage dieses Werkes ein – Bernd Lemke: Rezension „Rauschning, Hermann: Gespräche mit Hitler. Mit einer Einführung von Marcus Pyka. Zürich 2005“, in: H-Soz-Kult (02. August 2006), www. hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-7790. 6 Vgl. Helmuth Pree: Zum Stellenwert und zum Verbindlichkeitsanspruch des Rechts in Staat und Kirche, 23: „Jede an der Gerechtigkeit orientierte Rechtsordnung wächst letztlich vom Gewissen der verantwortlichen Rechtsgenossen her. Wo das Gewissen versagt, weil es entweder von außen totalitär unterdrückt wird oder weil es selbst verkümmert ist, ist es um die Gerechtigkeit der betreffenden Rechtsgemeinschaft schlecht bestellt.“ 7 Vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, hier insb. 77–86. 8 Gerhard Höver: Einleitung – Normativität und Gewissen, 14.
A. Gewissen – Mensch – Recht19
christlicher Gewissensfreiheit“9 grundgelegt sieht, dann kommt darin mitunter zum Ausdruck, dass der Glaube in seinem innersten Wesen ein freier und ungezwungener Gewissensakt ist (vgl. DH 2,1)10.
II. Freiheit und Glaube Wird nun im kirchlichen Kontext nach dem Verhältnis von Gewissen und Recht11 oder zunächst noch allgemeiner nach dem Verhältnis von Freiheit und Glaube gefragt, dann stellt sich in Analogie zu den eben zitierten Aussagen aus Rauschnings „Gesprächen mit Hitler“ die Frage, ob ein Katholik Folgendes formulieren könnte: „Ich habe kein Gewissen! Mein Gewissen ist die Kirche!“ So provokant dieses Gedankenspiel vielleicht erscheinen mag, weil darin ein Unrechtssystem und die Kirche auf eine Ebene gestellt werden, so fördert es deutlich die Erkenntnis zu Tage, dass das individuelle Gewissen durch nichts – und sei es auch die Kirche – „ersetzt“ werden kann oder darf, ohne die Würde des Menschen in seinem Innersten zu korrumpieren. Ein sehr bekanntes und plakatives Beispiel für diese Erkenntnis vermag der berühmte „Toast“ in John Henry Kardinal Newmans Brief an den Herzog von Norfolk im Jahr 1874 sein: „Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem Essen ein Hoch auf die Religion auszubringen …, dann würde ich trinken – freilich auf den Papst, jedoch zuerst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst.“12 Newman war daher selbstverständlich dazu bereit, sein Glas zu Ehren der Religion bzw. des Papstes zu erheben. Der Verweis auf das Petrusamt ist in diesem Zusammenhang freilich mehr als nur eine Erinnerung an die Gehorsamspflicht des Gläubigen gegenüber der Kirche und ihrem Lehramt, denn er ist vor allem als Hinweis auf den kirchlichen Charakter des Glaubens zu begreifen, welcher Ausdruck der objektiven Dimension des Gewissens ist. Die eigentliche Pointe in Newmans Aussage liegt aber zweifelsohne in der Hervorhebung des Gewissens als Fundament und Voraussetzung des Glaubens13. „Newmans Lehre vom Gewissen“, so Papst 9 Josef
Bordat: Das Gewissen, 65. entspricht auch der Struktur der Welt, wie Ratzinger andeutet, wenn er schreibt, dass „das Oberste der Welt nicht die kosmische Notwendigkeit, sondern die Freiheit ist“ – vgl. Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum, 147. 11 Vgl. dazu Kapitel 3. B. „Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht“ in dieser Arbeit. 12 John Henry Newman: Ein Brief an seine Gnaden, den Herzog von Norfolk, 171; vgl. dazu auch Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 103 f.; Hermann Geißler: Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman; An dreas R. Batlogg: Zuerst das Gewissen und dann der Papst, 721 f.; Franz Wiedmann: Die Strategie des Gentleman, 82. 13 Vgl. Karl Rahner: Stellungnahme und Diskussion, 212. 10 Dies
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Kap. 1: Einleitung
Benedikt XVI. im Rückblick, „wurde für uns damals zu einer wichtigen Grundlegung des theologischen Personalismus, der uns alle in seinen Bann zog … Wir hatten den Anspruch einer totalitären Partei erlebt, die sich selbst als die Erfüllung der Geschichte verstand und das Gewissen des einzelnen negierte … So war es für uns befreiend und wesentlich zu wissen, daß das Wir der Kirche nicht auf dem Auslöschen des Gewissens beruhte, sondern genau umgekehrt sich nur vom Gewissen her entwickeln kann. Gerade weil Newman die Existenz des Menschen vom Gewissen her, das heißt im Gegenüber von Gott und der Seele deutete, war aber auch klar, daß dieser Personalismus kein Individualismus ist und daß die Bindung an das Gewissen keine Freigabe in die Beliebigkeit hinein bedeutet – das Gegenteil ist der Fall. Von Newman her lernten wir den Primat des Papstes verstehen: Gewissensfreiheit – so sagte uns Newman – ist nicht identisch mit dem Recht, sich vom Gewissen zu dispensieren, einen Gesetzgeber und Richter zu ignorieren und von unsichtbaren Verpflichtungen unabhängig zu sein. So ist das Gewissen in seinem wahren Sinn Fundament der päpstlichen Autorität. Denn ihre Macht kommt aus der Offenbarung, die das nur unvollkommen erleuchtete natür liche Gewissen ergänzt, und das Eintreten für das moralische Recht des Gewissens ist der Sinn seiner Existenz.“14 Die hier mit den Worten Joseph Ratzingers zum Ausdruck gebrachte Mündigkeit des Menschen – bedingt durch Würde des Gewissens – gilt es innerhalb der katholischen Theologie zu bewahren, zu entfalten und zu stärken. Ein vom 6. bis 8. Dezember 2015 in München stattgefundener internationaler Kongress unter dem Titel „Das Konzil ‚eröffnen‘ “15, dessen Hauptanliegen es war, „Impulse des Konzils im Blick auf die Aufgaben der deutschsprachigen katholischen Theologie im 21. Jahrhundert zu reflektieren und weiterzudenken“16, bringt die Aktualität dieses Anliegens in seiner offiziellen Schlusserklärung zum Ausdruck. Darin ist unter der Überschrift „Freiheit und Glaube“ zu lesen: „Mit der Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht nimmt das Zweite Vatikanum den Freiheitsanspruch der Moderne erstmals positiv auf. Solange aber nicht die Gewissensfreiheit, die Meinungs14 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Einführende Worte zum 3. Tag des NewmanSymposions, 12, mit Verweis auf John Henry Newman: Certain Difficulties Felt by Anglicans in Catholic Teaching Considered (Vol. II); Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 329; vgl. dazu auch Ludger Müller: „Im Bewußtsein der eigenen Verantwortung …“, 13–15. 15 „Das Konzil ‚eröffnen‘ “ – Internationaler Theologischer Kongreß an der Katholischen Akademie Bayern in München (6. bis 8. Dezember 2015). 16 Offizielle Schlusserklärung des Kongresses: „Das Konzil ‚eröffnen‘ “ – Interna tionaler Theologischer Kongreß an der Katholischen Akademie Bayern in München (6. bis 8. Dezember 2015), http://www.das-konzil-eröffnen.de/attachments/article/44/ Schlusserkl%C3%A4rung_Endtext.pdf, abgerufen am 23. Dezember 2015, 22.45 Uhr.
A. Gewissen – Mensch – Recht21
freiheit und die Mitwirkungsrechte der Gläubigen in der Kirche voll anerkannt sind, wird dem Charakter des Glaubens als Freiheitsakt nur unvollständig Rechnung getragen. Die auf der Würde des Menschen basierenden Menschenrechte müssen um der Glaubwürdigkeit der Kirche willen innerkirchlich umgesetzt werden. Die Theologie steht vor der Aufgabe, das Freiheitsanliegen aus der Mitte ihres Glaubensverständnisses für das Leben der Kirche wie für die globale soziale und politische Wirklichkeit auszuformulieren und in den konkreten Kontexten argumentativ für seine Verwirklichung einzutreten. Den Glauben als Freiheitsvollzug zu verstehen, erfordert, dass die Theologie als wissenschaftliche Reflexionsform des Glaubens die notwendige Freiheit beanspruchen kann.“17 Verlangen die Verfasser dieser Schlusserklärung nun Unerhörtes oder drängen sie „nur“ auf die Beachtung ohnehin längst fälliger Rechtsstandards innerhalb der Kirche? Die Beantwortung dieser Frage gestaltet sich schon allein deshalb schwierig, weil bereits die grundsätzliche Forderung nach einer Einhaltung bzw. Umsetzung der „auf der Würde des Menschen basierenden Menschenrechte“ ein großes Problem mit sich bringt: Menschenrechtskataloge und Sammlungen von Freiheitsrechten stellen keine absoluten und starren Größen dar; vielmehr weisen sie bedingt durch unterschiedliche religiöse, moralische oder kulturelle Prägungen zum Teil erhebliche Unterschiede auf 18. Und selbst unter der Annahme, dass sich die Autoren und Unterzeichner dieser Schlusserklärung ganz spezifisch auf die säkularen Grundrechts kataloge der westlich geprägten Moderne beziehen, stellt sich die Frage, ob jene so ohne weiteres „um der Glaubwürdigkeit der Kirche willen“19 in die 17 Ebd.; vgl. dazu auch Martin Baumeister/Michael Böhnke/Marianne HeimbachSteins/Saskia Wendel (Hrsg.): Menschenrechte in der katholischen Kirche – in diesem Band sind Beiträge einer Tagung zum Thema „Menschenrechte in der katholischen Kirche“, die vom 22. bis 24. März 2017 im Deutschen Historischen Institut in Rom stattgefunden hat, dokumentiert. 18 Vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Was die Welt zusammenhält, 156: „Der Islam hat einen eigenen, vom westlichen abweichenden Katalog der Menschenrechte definiert. China ist zwar heute von einer im Westen entstandenen Kulturform, dem Marxismus, bestimmt, stellt aber, soweit ich informiert bin, doch die Frage, ob es sich bei den Menschenrechten nicht um eine typisch westliche Erfindung handele, die hinterfragt werden müsse“; vgl. auch Walter Kasper: Die theologische Begründung der Menschenrechte, 46 f.; vgl. dazu aber auch Peter G. Kirchschläger: Menschenrechte und Religionen, 172–176, der die These vertritt, dass der Verweis auf die „historisch kontingente Entstehung“ der Menschenrechte „ihrer universellen Geltung“ nicht im Wege steht – ebd., 174. 19 Vgl. Offizielle Schlusserklärung des Kongresses: „Das Konzil ‚eröffnen‘ “ – Internationaler Theologischer Kongreß an der Katholischen Akademie Bayern in München (6. bis 8. Dezember 2015), http://www.das-konzil-eröffnen.de/attachments/ar ticle/44/Schlusserkl %C3 %A4rung_Endtext.pdf, abgerufen am 23. Dezember 2015, 22.45 Uhr; vgl. dazu bspw. auch Adrian Loretan: Die Klärung des Rechtsbegriffs, 51:
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Kap. 1: Einleitung
kirchliche Rechtsordnung implementiert werden könnten oder ob nicht zuvor über ihre Sinnhaftigkeit und konkrete Ausprägung im spezifischen Kontext der kirchlichen Sendung diskutiert werden müsste. Zweifelsohne ist es aber insbesondere aufgrund des inneren Wesens des Glaubens und auch der kirchlichen Glaubensgemeinschaft naheliegend, über eine umfassende Verwirklichung der Gewissensfreiheit in der kirchlichen Rechtsordnung nachzudenken. Mit der Überschrift „Freiheit und Glaube“ markieren die Verfasser der erwähnten Schlusserklärung auch bereits die wesentlichen Eckpunkte, innerhalb derer sich eine solche Beschäftigung mit der Gewissensfreiheit in der Kirche bewegen muss. Es ist wohl anzunehmen, dass der Begriff „Freiheit“ bewusst an die erste Stelle gesetzt wurde, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese condicio sine qua non für den Glaubensakt (fides qua creditur) ist. Jedoch darf dabei nicht übersehen werden, dass der (freie) Glaubensakt nicht vom Glaubensgehalt (fides quae cre ditur) isoliert oder gar getrennt werden kann. Die darin zum Ausdruck kommende unauflösliche und notwendige Dialektik, welche ein enormes Spannungspotential20 in sich birgt, spiegelt sich im Gewissensbegriff selbst wider21. Wenn nun die Freiheitsdimension des Glaubens nicht nur im Zuge seiner Annahme, sondern im Laufe der gesamten, d. h. prozesshaften, christlichen Existenz22 eine Rolle spielen soll, dann ist danach zu fragen, wie diese Freiheit im Kontext einer Glaubensgemeinschaft, hier konkret im Kontext der Rechtsordnung der katholischen Kirche, auszulegen ist und welcher Raum „Die Kirche und ihr Recht sind dem modernen Rechtsethos verpflichtet. Sonst droht ein schwerwiegender Verlust der Akzeptanz des Rechts und der Glaubwürdigkeit bezüglich der Soziallehre bei den Menschen, denen die Menschenrechte gepredigt werden.“ 20 Auf den Bereich der akademischen Theologie übertragen, handelt es sich um das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und ihrer kirchlichen Gebundenheit – vgl. Zenon Grocholewski/Ludger Müller/Friedrich Bechina/Martin Krutzler (Hrsg.): Katholisch-Theologische Fakultäten zwischen „Autonomie“ der Universität und kirchlicher Bindung. 21 Vgl. Nikolai Horn: Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 11; Karl Golser: Art. „Gewissen“, 278–286, hier insb. 278 f.; Jür gen-Gerhard Blühdorn: Art. „Gewissen I“, 192–197; vgl. dazu ebenso das Kapitel 3. A. „Das Gewissen im christlichen Kontext“ in dieser Arbeit. 22 Vgl. Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 64–68, 129–133: DH 3 bringe zum Ausdruck, dass die „Wahrheitssuche … mithin ausdrücklich als geschichtlich konkreter Prozess des dialogischen Austauschs“ zu verstehen sei. „Die Annäherung an die Wahrheit kann demnach immer nur perspektivisch und in sozial-kommunikativer Vermittlung geschehen; sie kann nicht exklusiv, vollständig und endgültig in einer einzigen subjektiv konkreten Perspektive gefunden beziehungsweise als sicher gefunden beansprucht werden“ – ebd., 65. „Nimmt man die Geschichtlichkeit aller Wahrheitserkenntnis ernst, dann kann auch das ‚Bleiben in der Wahrheit‘ nicht anders als geschichtlich und als personaler Prozess verstanden werden“ – ebd., 67.
A. Gewissen – Mensch – Recht23
ihr gewährt werden muss, um einerseits der Würde des Gewissens bestmöglich zu entsprechen und andererseits die Einheit und die spezifische Sendung der kirchlichen Communio zu bewahren und zu fördern. Angesichts des Wesens und der Bedeutung des Gewissens für den Glauben in der Kirche darf es also nicht verwundern, dass gerade das Phänomen des Gewissenstäters für die Verhältnisbestimmung von Glaube und Freiheit im kanonischen Recht den „Charakter eines Brennglases“23 besitzt.
III. Offensichtliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Forschungsfrage In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird das „Gewissen“ nicht selten als „unjuristisch“24 und daher in diesem Kontext als unbrauchbar qualifiziert. „Der Streit um das Gewissen geht wesentlich um diese suchende und urteilende Funktion des Gewissens im Hinblick auf Normativität“25; rechtliche Verbindlichkeit verlange jedenfalls „eine Größe, die nicht rein subjektiv bleibt“26. Damit wird ein „Kernproblem jeder normativen Ordnung“ angesprochen, „nämlich die Allgemeinheit subjektiver Entscheidungen“27. HansLudwig Schreiber stellt – Äußerungen Joseph Ratzingers hinsichtlich der Geltung von Moral aufgreifend – bspw. die Frage, ob die Anerkennung des Gewissens im normativen Bereich „zu einer Rechtfertigung für bloße Subjektivität, die sich nicht infrage stellen lassen möchte und … zu einem sozialen Konformismus“ führen würde, „dem allein ein rechnerischer Mittelwert zwischen den verschiedenen Subjekten als Basis des Zusammenlebens übrigbleibt“28. 23 Jürgen
C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 12. Ryffel: Das Naturrecht, 59; Dieter Witschen: Restriktive Auslegungen des Rechts auf Gewissensfreiheit, 477. 25 Gerhard Höver/Ludger Honnefelder: Vorwort, in: dies. (Hrsg.): Der Streit um das Gewissen, 7. 26 Hans-Ludwig Schreiber: Gewissen im Recht, 29. 27 Ebd.; vgl. auch Nikolai Horn: Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 159: „Weiterhin wurde gezeigt, dass in der Moderne ein grundlegender Bruch mit naturrechtlich bzw. vernunftrechtlich fundierten Gewissenskonzeptionen geschehen ist und eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts sich verbreitende Tendenz zur Positivierung des Gewissensbegriffs einsetzte … Mit dem Aufkommen der Tendenz zur positivistischen Gewissensdeutung aus den unmittelbar zugänglichen innerpersonellen und gesellschaftlichen Relationen wurde der Gewissensbegriff nicht mehr aus ideellen Grundannahmen erschlossen, sondern anhand von empirisch beobachtbaren Vorgängen expliziert. In diesen Modellen wird das Gewissen als eine In stanz der Sicherung der kontingenten Identität der Person beschrieben.“ 28 Hans-Ludwig Schreiber: Gewissen im Recht, 29, mit Verweis auf Joseph Ratzin ger: Gewissen und Wahrheit, in: L’Osservatore Romano Nr. 13/4 (29. März 1991), 6 f. 24 Hans
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Kap. 1: Einleitung
Angesichts dieser Umstände wird es nicht überraschen, dass zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen, die sich mit dem Thema des Gewissens täters beschäftigen, von der Befürchtung geprägt sind, dass sich eine Rechtsordnung, welche die Bedeutung und Würde des Gewissensurteils großzügig und angemessen juristisch umsetzt, sich notwendigerweise selbst aufgeben würde. Nicht selten wird aus diesem Grund eine ergebnisoffene und sach liche Diskussion verweigert, um einer vermeintlichen Untergrabung der Rechtsordnung durch eine tiefgreifende Implementierung des Gewissens phänomens aus dem Weg zu gehen29. Bestärkt wird diese Haltung in vielen Fällen durch die Erfahrung einer missbräuchlichen Berufung auf das Gewissen zur Vorantreibung bzw. Rechtfertigung des Subjektivismus30. Kurt Kardinal Koch hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es „keinen Gegensatz zwischen Gehorsam und Gewissen geben [könne], wie er heute freilich oft vertreten“ werde, „indem die subjektive Berufung auf das eigene Gewissen des einzelnen Menschen zum letzten Maßstab des menschlichen Urteilens und Handelns hochstilisiert wird, gegen den angeblich keine objektive Instanz mehr angerufen werden kann. Im Sog einer solchen radikalen Subjektivierung gilt das Gewissen dann als ‚eine Art Apotheose der Subjektivität‘, gleichsam als ‚rocher de bronze‘ [eherner Fels], an dem sich auch alle anderen Instanzen brechen … Darin muss man zweifellos die tiefste Dekadenz der heute inflationär gewordenen Berufung auf das Gewissen erblicken, die den Zweck der Abwehr jeden Gehorsams verfolgt, der als hete-
29 Für den weltlichen Rechtsbereich sei beispielhaft verwiesen auf den Überblick bei Hans J. Hirsch: Strafrecht und Überzeugungstäter, 10 f. Für Jürgen C. Gödan ist es nur allzu verständlich, dass die in den letzten Jahrzehnten versuchte „Transplantation“ dieser Rechtsfigur vom Rechtsfolgenbereich in den Tatbestandsbereich in der Strafrechtsdogmatik „immunbiologische Reaktionen“ auslöste – vgl. Jürgen C. Gö dan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 13; vgl. dazu auch Ralf Höcker: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 57. Für den kirchlichen Rechtsbereich sei beispielgebend auf das Kapitel 3. B. 1. „Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen nach Georg May“ in dieser Arbeit verwiesen; vgl. dazu ebenso Stefan Schmid: Diskussion zu den Beiträgen von G. Luf und J. Isensee, 179 f.; Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 85: Als ein „immer wiederkehrendes Prinzip“ gegen ein Grundrecht der Gewissensfreiheit werde immer wieder die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ genannt. Danach werde die Gewissensfreiheit „primär aus einer gesellschaftszentrierten Perspektive begrenzt“, motiviert aus der Befürchtung, dass eine weitreichendere Gewährleistung dieses Grundrechts die Gesellschafts- und vor allem die Rechtsordnung untergrabe. Da jedoch der Gewissensakt „eine höchstpersönliche Instanz ist, bleiben solche Versuche der Grenzsetzung immer defizitär, wenn sie dabei die Bedeutung des Gewissens für den Einzelnen außer Acht lassen“. 30 Vgl. Bruno Schüller: Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, 15: Es scheint „fraglich, ob es dem wirklich um die Wahrheit geht, der außer seinem eigenen Gewissensspruch keinerlei autoritative Instanz gelten läßt“.
A. Gewissen – Mensch – Recht25
ronome Zumutung an den Menschen diskriminiert wird“31. Indem so die Berufung auf das individuelle Gewissensurteil gezielt als Mittel der Gehorsamsverweigerung oder – wie es Anton Ziegenaus formuliert – als Mittel eines „Dezisionismus und gelegentlich sogar der Willkür“32 missbraucht wird, wird nicht nur eine angemessene und sachliche Diskussion über das Gewissen erheblich erschwert, sondern der Gewissensbegriff selbst pervertiert und beschädigt33. Wer mit dem Gewissen argumentiert, tut dies mit der höchsten und letzten Instanz, die dem Menschen zur Verfügung steht; diese Feststellung hat selbstverständlich auch innerhalb der Kirche ihre Gültigkeit, wie Joseph Ratzinger in seinem Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“ feststellt: „Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität. Mit dieser Herausarbeitung des Einzelnen, der im Gewissen vor einer höchsten und letzten Instanz steht, die dem Anspruch der äußeren Gemeinschaften, auch der amtlichen Kirche, letztlich entzogen ist, ist zugleich das Gegenprinzip zum heraufziehenden Totalitarismus gesetzt und der wahrhaft kirchliche Gehorsam vom totalitären Anspruch abgehoben, der eine solche Letztverbindlichkeit, die seinem Machtwillen entgegensteht, nicht akzeptieren kann.“34 Eine inflationäre Berufung auf das individuelle Gewissen als Mittel der Gehorsamsverweigerung hat hingegen sicher nichts mit dem „Gegenprinzip“ zu einem sich etablierenden „Totalitarismus“ zu tun, sondern beruht zumeist auf einer Verwechslung des Subjektivismus mit dem verantworteten und gebildeten Gewissensurteil. Ratzinger hat dieses Phänomen später prägnant und 31 Kurt Koch: Gehorsam als gereinigte Freiheit, 26, mit Verweis auf Joseph Rat zinger: Der Auftrag des Bischofs und des Theologen angesichts der Probleme der Moral in unserer Zeit, 527; vgl. auch Joseph Ratzinger: Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen, 58; Ludger Müller: „Im Bewußtsein der eigenen Verantwortung …“, 24. 32 Anton Ziegenaus: Das Gewissen vor dem Anspruch des Lehramts, 175; vgl. dazu auch Johannes Paul II.: Discorso ai partecipanti al il Congresso internazionale di teologie morale (12. November 1988), in: AAS 81 (1989), 1206–1211, hier 1208 – deutsche Übersetzung abgedruckt in: HerKorr 43 (1989), 125–127, hier 126: „Da das Lehramt der Kirche von Christus dem Herrn eingesetzt worden ist, um das Gewissen zu erleuchten, bedeutet die Berufung auf dieses Gewissen, gerade um die vom Lehramt verkündete Lehre zu bestreiten, eine Ablehnung der katholischen Auffassung sowohl vom Lehramt als auch vom sittlichen Gewissen.“ 33 Vgl. Nikolai Horn: Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 52. 34 Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 328 f.
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Kap. 1: Einleitung
treffend als „Diktatur des Relativismus“35 beschrieben. Dort, wo das Verhältnis von Freiheit und Wahrheit36 (bzw. Glaube) gekappt, das „und“ zwischen diesen beiden Wirklichkeiten verneint und so ein unüberwindlicher Graben zwischen ihnen ausgehoben wird, gibt es nur mehr eine je persönliche Wahrheit und eine je persönliche Freiheit. Die Krise des Wahrheitsbegriffs ist daher eine Folge der Krise des Gewissensbegriffs und vice versa37. Wenn die Unterzeichner der sogenannten Kölner Erklärung 198938 darauf hingewiesen haben, dass das Gewissen nicht als „Erfüllungsgehilfe des päpstlichen Lehramtes“ verstanden werden dürfe, haben sie zwar insofern damit recht, dass die subjektive Dimension des Gewissens nicht von der objektiven überformt oder in diese hinein aufgelöst werden darf 39. Dennoch ist mit Eberhard Schockenhoff die kritische Frage zu stellen, ob nicht eine ständige „Wiederholung der empathischen Beschwörung des Christentums als Gewissensreligion in unserer gegenwärtigen Gesellschaft Gefahr“ läuft, „nur der theologischen Überhöhung jenes bürgerlichen Spätindividualismus zu dienen, den der Theologe Karl Rahner im Zusammenhang mit der Un fehlbarkeitsdebatte als die trügerische Illusion unserer Zeit bezeichnet hat“40. 35 Joseph Ratzinger: Predigt bei der Heiligen Messe „Pro eligendo romano pontifice“, 14; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Botschaft seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. zur Feier des Weltfriedenstages (1. Januar 2013), 142; vgl. Hanns-Gregor Nissing (Hrsg.): Was ist Wahrheit; Marian Gruber (Hrsg.): Diktatur des Relativismus. 36 Vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Multiplikation der Rechte und die Zerstörung des Rechtsbegriffs, 11–17, hier insb. 13–17. 37 Gerhard Höver: Einleitung – Normativität und Gewissen, 15. 38 Vgl. Kölner Erklärung katholischer Theologieprofessorinnen und Theologieprofessoren vom Dreikönigsfest: Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität, am 6. Januar 1989 (ursprünglich publiziert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 26. Januar 1989) – ebenso abgedruckt in: HerKorr 43 (1989), 127–129; vgl. auch Dietmar Mieth: Art. „Kölner Erklärung“, 196; Dietmar Mieth: Eine durchwachsene Bilanz. Die „Kölner Erklärung“ von 1989 und ihre Wirkungen; kritisch zur Kölner Erklärung – vgl. Joachim Piegsa: Lehramt – Gehorsam – Gewissen, 163. 39 Vgl. dazu Hans-Eduard Hengstenberg: Persönliches Gewissen und kirchliches Lehramt, 101: „Es ist zu vermuten, daß zwischen persönlichem Gewissen und kirchlichem Lehramt strukturell mannigfache Parallelen bestehen. Man kann vielleicht das Lehramt analogieweise als das Gewissen der Kirche bezeichnen“. Der Gedanke Hengstenbergs, dass die objektive Glaubensnorm gleichsam als ekklesiale Gewissensentscheidung gedeutet werden könnte, ist insofern schwierig, als es ein „kollektives“ Gewissensurteil per definitionem nicht geben kann. Angemessener scheint es zu sein, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass sich „die Regierung der Kirche“, wie schon Mörsdorf schreibt, „des Beistandes des Heiligen Geistes erfreut“ – vgl. Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici I, 25. 40 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 186 (ohne Belegstelle für Karl Rahner); vgl. hingegen Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 12 – Sustar hebt hervor, dass trotz der möglicherweise zu starken Betonung der Gewissensfreiheit die darin
A. Gewissen – Mensch – Recht27
Die Rede vom Gewissenstäter im kanonischen Recht läuft in einem solchen Kontext jedenfalls leicht Gefahr, missverstanden zu werden41. Der Gewissensbegriff selbst stellt jedoch nicht die einzige Schwierigkeit dar, die auf dem Weg einer Erörterung des Gewissenstäters im kanonischen Recht begegnet, denn eine solche Rechtsfigur betrifft vor allem zwei Rechtsbereiche, deren Umsetzung im CIC/1983 als äußerst unzufriedenstellend einzustufen ist: den Bereich der Grund- und Menschenrechte und den des kirchlichen Sanktionsrechts. Dass bei der CIC-Reform gerade der Katalog über die Pflichten und Rechte aller Gläubigen Schaden genommen hat, überrascht vielleicht insofern, als dieser Rechtsbereich – bedingt durch die Planung einer Lex Eccle siae Fundamentalis (LEF)42 – schon im Vorfeld auf vermehrtes Interesse innerhalb der Kirchenrechtswissenschaft gestoßen war. Als jedoch der Entwurf der LEF im Jahr 1982 kurz vor der Promulgation des CIC/1983 wieder fallen gelassen wurde und die betroffenen Normen innerhalb kurzer Zeit wieder in das allgemeine Gesetzbuch der lateinischen Kirche zurück „transplantiert“ werden mussten, wirkte sich dieser Umstand nicht gerade positiv auf die systematische Geschlossenheit 43 und die angemessene theologische Einordnung dieses Normenkomplexes aus. Unter der mehrfachen Verpflanzung enthaltene „Aufforderung zu einer Neubesinnung auf das Wesen des sittlichen Lebens, auf die sittliche Würde des Menschen und auf die eigentliche ethische Aufgabe“ nicht übersehen werden dürfe. 41 Vgl. dazu Bruno Schüller: Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, 17: „Wie zu erwarten stand, wurde diese ungewohnte Freiheit auch sogleich von vielen mißverstanden, die noch nicht begriffen zu haben scheinen, daß jedes Mehr an Freiheit ein genau gleiches Mehr an Verantwortung mit sich bringt. Das neue Klima der Freiheit hat in der Kirche auch eine Hochblüte des Dilettantismus gezeitigt.“ Um jeglichen ideologischen „Grabenkämpfen“ vorweg zu begegnen, sei ausdrücklich darauf hingewiesen: Der Gewissenstäter ist in kirchenpolitischer Hinsicht „rechts“ und „links“ zu finden, er ist „konservativ“ oder auch „liberal“, sofern man diese Etikettierungen bemühen möchte. Die Kirchengeschichte ist voll mit „Gewissenstätern“ jeglicher Varianten – vgl. dazu Johannes Gründel: Ethische Entscheidungen – Wahrheitsfragen, 94. 42 Zu den Entwicklungsstufen der LEF vgl. den Überblick bei Aymans/Mörsdorf: KanR I, 90 f.; ebenso Heinrich J. F. Reinhardt: MKCIC Einführung vor 208/1–7, insb. Rdnr. 3 (Stand Oktober 1987); zur LEF im Allgemeinen vgl. weiters Winfried Aymans/Heribert Heinemann/Klaus Mörsdorf/Richard A. Strigl: Lex Ecclesiae Fundamentalis, 407–506; Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 389–409; Winfried Aymans: § 6 Das Projekt einer Lex Ecclesiae Fundamentalis, 65– 71; Heribert Heinemann: Menschenrechte, 238–255; Heribert Heinemann: Lex Ecclesiae Fundamentalis – eine verpasste Chance, 139–158; Hans Heimerl: Menschenrechte, Christenrechte und ihr Schutz in der Kirche, 195–237; Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche; vgl. dazu auch Communicationes 12 (1980), 32 f. 43 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 93.
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Kap. 1: Einleitung
dieser Texte hat konkret vor allem die Materie über die Menschenrechte und innerhalb dieser insbesondere die Religions- bzw. Gewissensfreiheit gelitten. Denn tatsächlich hätte ein so fundamentales Recht wie das auf religiöse Freiheit im Zentrum eines kirchlichen Grundrechtskatalogs stehen müssen und zwar mit zweifacher Stoßrichtung: zum einen als „äußere“ Religionsfreiheit, wie sie gegenwärtig mit c. 748 § 2 CIC/1983 im Bereich des Verkündigungsrechts auch tatsächlich angesprochen wird, dann aber zusätzlich als innerkirchliches Grundrecht, welches die Freiheit des Gewissens hinsichtlich des bereits angenommenen Glaubens und damit zugleich das Verbot normiert, dem Geist des Evangeliums widersprechende Druckmittel anzuwenden, um Christgläubige zur Rückkehr in die communio plena bzw. zur Umkehr zu bewegen. Letzteres wurde vom Gesetzgeber jedoch nicht in den CIC/1983 aufgenommen, was zweifelsohne als schweres Versäumnis anzusehen ist. Noch weniger als im Bereich der Grund- und Menschenrechtsdoktrin ist die CIC-Reform im Fall des Buches VI des CIC/1983, das über das „Sanktionsrecht“44 handelt, gelungen. In keinem anderen Bereich des Kirchenrechts wurden im Vergleich zur vorhergehenden Kodifikation (CIC/1917) so viele Canones gestrichen wie in diesem Normenbereich – „ein differenziertes Strafrecht mit 222 Canones im CIC/1917 [wurde] auf einen materiellrechtlichen Komplex mit 89 Canones im CIC/1983 zusammengeschrumpft“45. Das bedeutet nun nicht, dass der CIC/1917 ein in jeder Hinsicht praktikableres oder gar theologisch angemesseneres Sanktionsrecht beinhaltet hätte46, doch hat die CIC-Reform jedenfalls zu keiner Verbesserung in diesem Rechtsbereich geführt. Die Reformbedürftigkeit des kirchlichen Sanktionsrechts wird im Schlusskapitel dieser Arbeit noch einmal aufgegriffen werden47. Was aber bereits an dieser Stelle gesagt werden kann, ist, dass es insbesondere im Sanktionsrecht auffällt, wie sehr sich der Gesetzgeber von 1983 mit Legaldefinitionen zurückhält und diese Aufgabe der Kanonistik 44 Zur Verwendung des Begriffs „Sanktionsrecht“ vgl. das Kapitel 4. A. II. „Strafrecht oder Sanktionsrecht – eine Begriffsklärung“ in dieser Arbeit. 45 Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 179. 46 Vgl. ebd., 171 f.; für einen Überblick über die Arbeit der Reformkommission zum Sanktionsrecht vgl. ebd., 177–183; Audomar Scheuermann nennt drei Kernprobleme für den Bereich des kirchlichen Sanktionsrechts im CIC/1917: Erstens die hohe Komplexität des Sanktionsrechts, die in der Praxis überfordere, zweitens die Schwierigkeit einer adäquaten Einordnung des Strafcharakters als Reaktion auf ein begangenes kirchliches Delikt und schließlich drittens die fehlende Rechtssystematik und Vielzahl an Tatstrafen, welche ebenso wiederum zur Überforderung in der Rechtspraxis führten – vgl. Audomar Scheuermann: Erwägungen zur kirchlichen Strafrechts reform, 393–415. 47 Vgl. das Kapitel 5. C. „Die Notwendigkeit einer Reform des kirchlichen Sanktionsrechts“ in dieser Arbeit.
B. Ziel, Aufbau und aktueller Forschungsstand29
zuschreibt 48. Dieser Umstand führt einerseits zu einigen Unsicherheiten und Unklarheiten bei der Auslegung und Anwendung des kirchlichen Sanktionsrechts, doch andererseits eröffnet er neue Möglichkeiten und Räume für eine Fortentwicklung dieses Rechtsgebietes durch die Kanonistik, die sonst vielleicht verschlossen wären49. Im Hinblick auf die hier vorgelegte Forschungsfrage wird dadurch aber die Notwendigkeit ersichtlich, zuerst einige Grundannahmen und Voraussetzungen der angesprochenen Rechtsgebiete zu klären, bevor zu den Kernfragen der Untersuchung vorgedrungen werden kann. Die hier schematisch dargestellten Schwierigkeiten dürfen jedoch letztlich kein Grund sein, dem Thema des Gewissenstäters im kanonischen Recht nicht nachzugehen. Vielmehr wird in der Kanonistik schon seit vielen Jahren auf eine tiefgreifende und von der theologischen Grundlegung her motivierte Reform des kirchlichen Sanktionsrechts gedrungen50 und in diesem Zusammenhang nicht selten auf den Konflikt hingewiesen, der sich aus dem Zusammentreffen der Glaubens- und Gewissensfreiheit mit dem Besserungszweck kirchlicher Sanktionen ergibt.
B. Ziel, Aufbau und aktueller Forschungsstand I. Ziel der Untersuchung Eine Herausforderung bei der vorliegenden Untersuchung besteht zunächst im Nachweis, dass die Freiheit und Würde des Gewissens im kanonischen Recht nicht nur beiläufig und buchstäblich am Rande – also beim Eintritt und beim Verlassen – der kirchlichen Communio, sondern als eines ihrer Strukturprinzipien zu beachten ist. „Wenn J. H. Newman recht hat und das Gewissen (etwas überspitzt gesagt) geradezu die raison d’être [Existenzberechtigung] der Kirche ist, dann wird auch ein tieferes Verstehen der wahren Autonomie des Gewissens und eine wachsende Sensibilität für seine einzig48 Vgl. Klaus Mörsdorf: Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici, 19: „… die Begriffsklärung ist an sich Aufgabe der Wissenschaft“; vgl. auch Ludger Müller: Theologische Aussagen im kirchlichen Gesetzbuch, 35–37 – Müller interpretiert die Zurückhaltung des kirchlichen Gesetzgebers bei der Formulierung von Legaldefini tionen als Auftrag einer ständigen theologischen Fortentwicklung. 49 Vgl. dazu den Grundsatz: „ius canonicum semper reformandum“ – vgl. Ludger Müller: Der Diakonat – eine oftmals übersehene Weihestufe im CIC/1983. Zugleich ein Beitrag zum ius canonicum semper reformandum, 165, mit Verweis auf Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici I, 37; Walter Kasper: Brauchen wir ein neues Kirchenrecht, 68; Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.): Ius semper reformandum, Vorwort, 7 f. 50 Vgl. dazu das Kapitel 5. C. „Die Notwendigkeit einer Reform des kirchlichen Sanktionsrechts“ in dieser Arbeit.
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Kap. 1: Einleitung
artige Würde der Kirche helfen zu sehen, was sie nach dem Willen Jesu sein soll: Heimat derer, die als Christen die Freiheit des Gewissens über alles lieben und darum dem berühmten Wort Newmans gerne auf den Papst (und mit ihm die Kirche, das geliebte Volk Gottes) anzustoßen bereit sind, zuvor aber auf das Gewissen trinken wollen, von dem das Vatikanum sagt, es sei die verborgenste Mitte jedes Menschen – Heiligtum und Ort der Begegnung mit Gott.“51 Im Hinblick auf die eingangs erwähnten Schwierigkeiten mit dem Gewissensbegriff ist daher zu zeigen, dass die durchgängige Gewährleistung der Gewissensfreiheit für die Kirche keine Existenzbedrohung, sondern vielmehr ihr Fundament darstellt, denn es darf nicht vergessen werden, dass die kirchliche Rechtsordnung wie keine andere auf das Fundament einer gemeinsamen Glaubensüberzeugung angewiesen ist. Im Zuge dessen wird sich zeigen, dass sich die Phänomene Gewissen und Recht nicht als zwei inkommensurable Bereiche gegenüberstehen. Die Frage nach der Bedeutung des Gewissens innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung führt zum Phänomen des Gewissenstäters, das es als normatives Phänomen einerseits zu definieren und andererseits zu bestätigen gilt. Als ein weiteres und vorrangiges Ziel dieser Untersuchung ist daher der Aufweis der Möglichkeit bzw. der Notwendigkeit einer Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht mit den damit verbundenen Konsequenzen für das Sanktionsrecht der Kirche zu definieren. Der Kernbereich dieser Arbeit ist folglich der Ausarbeitung jener Konsequenzen gewidmet, die sich für das kirchliche Sanktionsrecht im Lichte bzw. der Glaubens- und Gewissensfreiheit ergeben. Der Versuch einer angemessenen Implementierung der Rechtsfigur des Gewissenstäters beschränkt sich dabei nicht nur auf die Prüfung einer Rechtsfolgenlösung, sondern wird auf den für das Sanktionsrecht typischen Ebenen vorgenommen: der Tatbestandsebene, der Ebene der Rechtswidrigkeit und der Schuld. Wenn beim Versuch einer theoretischen Implementierung dieser Rechts figur in das kirchliche Sanktionsrecht auf Konflikte mit der geltenden Sank tionsrechtskonzeption hingewiesen wird, dann sind diese Hinweise als An regungen und Denkanstöße für eine etwaige Reform des kirchlichen Sank tionsrechts gedacht. Insofern versteht sich diese Untersuchung ebenso als Anregung für eine systematische und theologische Reform des kirchlichen Sanktionsrechts, die den Ansprüchen einer innerkirchlichen Glaubens- und Gewissensfreiheit standhält.
51 Andreas Laun: Das Gewissen. Oberste Norm sittlichen Handelns, 9; vgl. John Henry Newman: Ein Brief an seine Gnaden, den Herzog von Norfolk, 166; vgl. dazu Hermann Geißler: Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman.
B. Ziel, Aufbau und aktueller Forschungsstand31
II. Aufbau der Arbeit und aktueller Forschungsstand In einem ersten Schritt wird zwecks einer rascheren Erfassung der Grundlagenproblematik und einer Sensibilisierung für die Spezifika der kirchlichen Rechtsordnung ein themenbezogener „Abstecher“ in das weltliche Recht gemacht. Dafür wird insbesondere auf die Ausführungen Gustav Radbruchs Bezug genommen, eines der bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts und gleichsam des prominentesten Vertreters der Rechtsfigur des Gewissenstäters im deutschsprachigen Rechtsbereich52. Auf eine durchgängige Gegenüberstellung des weltlichen und kirchlichen Rechtsbereichs wird in weiterer Folge jedoch bewusst verzichtet, denn – unbenommen der Annahme eines gemeinsamen „Rechtsbegriffs“53 – ist eine solche wegen der sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Grundlagenproblematik nicht als sinnvoll zu erachten. Weitere Verweise auf staatliche Rechtssysteme sollen gegebenenfalls aber dort geschehen, wo sie für die Erfassung und Schärfung der zu behandelnden Fragestellung förderlich sind. Die Beantwortung der Frage nach der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht selbst hat aber innerhalb der kirchlichen Parameter zu erfolgen. Eine erste systematische Auseinandersetzung mit der Thematik des Gewissenstäters innerhalb der kirchlichen Parameter ist bei Joseph Klein und Hans Barion zu finden54, indem sie der Frage nach der Tragweite des kanonischen Rechts nachgehen. Freilich erfolgt diese Auseinandersetzung noch nicht vor dem Hintergrund eines innerkirchlich zu berücksichtigenden Menschenrechts auf Glaubens- bzw. Gewissensfreiheit, aber aufgrund der sich damit inhaltlich deckenden Einsicht, dass die kirchliche Autorität ihre Kompetenz überschreitet, wenn sie Rechtsadressaten mit Zwangsmitteln zum „wahren“ Glauben bewegen möchte. Die lebhafte Diskussion zwischen Klein und Barion über die Tragweite des kanonischen Rechts bietet zugleich eine Übersicht über die kirchlichen bzw. kirchenrechtlichen Voraussetzungen, Grund
52 Vgl. dazu das Kapitel 2. A. I. „Gustav Radbruch und die Rechtsfigur des Gewissenstäters“ in dieser Arbeit. 53 Zur Diskussion um den kirchlichen Rechtsbegriff vgl. Ludger Müller: Kirchenrecht – analoges Recht, 108 ff. 54 Vgl. dazu Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 19 Fn. 81: Krämer weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung zwischen Hans Barion und Josef Klein sich „gleichsam in zwei Schritten“ vollzog, die so aussahen, dass zunächst die Bonner Antrittsvorlesung von Klein zum Thema „Grundlagen und Grenzen des kanonischen Rechts“ zur Erwiderung Barions mit dem Titel „Die Begrenzung des Kirchenrechts“ führte. Im zweiten Schritt forderte Klein mit dem Beitrag „Von der Tragweite des kanonischen Rechts“ eine Reaktion Barions heraus, welche er mit dem „scharfen Einspruch“ seitens Barions in Form des Aufsatzes „Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts“ auch erhielt.
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Kap. 1: Einleitung
lagen und Probleme, die im Zusammenhang mit der hier vorgelegten Forschungsfrage stehen55. Daran anschließend wird der Versuch einer Definition der Rechtsfigur im kanonischen Recht unternommen sowie die Voraussetzungen, Grundlagen und spezifischen Kontexte dieser Definition geklärt. Hierbei spielt eine angemessene Verortung des Gewissensbegriffs innerhalb der christlichen Tradition für die Einordnung dieser Rechtsfigur eine nicht zu unterschätzende Rolle, um möglichen Vereinseitigungen oder Missverständnissen vorzubeugen. Zweifelsohne kann aber aufgrund der äußerst umfangreichen Literatur zum Gewissensbegriff nicht einmal ansatzweise eine umfassende bzw. lückenlose Darstellung desselben erwartet werden; vielmehr erfolgt in diesem Rahmen die zweckmäßige Beschränkung auf eine schematische und grobe Nachzeichnung der Entwicklung dieses für das Christentum zentralen Begriffs. Ähnliches gilt für die Frage des Verhältnisses der objektiven und subjektiven Dimension des Gewissensbegriffs, denn auch bei der Darstellung dieser Problematik muss es aufgrund der umfangreichen, kaum überschaubaren und zum Teil ideologisch geführten Auseinandersetzung, welche keinesfalls an einem Endpunkt angekommen ist, beim Versuch einer vermittelnden Stellungnahme anhand kirchlicher Lehrdokumente und ausgewählter theologischer Positionen bleiben. Nach der Darlegung wesentlicher Elemente des christlichen Gewissensbegriffs erfolgt eine Annäherung an die Frage, wie das Verhältnis von Gewissen und Recht im kirchenrechtlichen Kontext bestimmt werden könnte. Eine Betrachtung des lateinischen Begriffes „ forum“ hilft dabei, einerseits einen nicht seltenen Fehlschluss in der wissenschaftlichen Literatur zu vermeiden, der darin besteht, das forum internum mit dem Gewissensbereich zu identifizieren und andererseits die wichtige Klammerfunktion des Gewissens für das Begriffspaar forum internum und forum externum zu entdecken. Als Hauptbezugsquelle dient hierfür insbesondere das Werk „Forum in der Rechtssprache“ von Bruno Fries56. In einem nächsten Schritt wird die Rolle des Gewissensbegriffs im geltenden kirchlichen Recht analysiert. Hierbei ist insbesondere c. 748 CIC/1983 in den Blick zu nehmen, in dem der Gewissensbegriff als echter Rechtsbegriff aufgegriffen und im Kontext der (äußeren) Religionsfreiheit zur Anwendung 55 Vgl. dazu insb. Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts; Peter Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“; Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts. 56 Vgl. Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache; Bruno Fries: Art. „Forum“; vgl. dazu aber auch Josef Hahn: Das Forum internum und seine Stellung im geltenden Recht.
B. Ziel, Aufbau und aktueller Forschungsstand33
gebracht wird. Anhand von c. 748 § 2 CIC/1983 gilt es zu untersuchen, ob darin bereits die innerkirchliche Dimension der religiösen Freiheit zum Ausdruck gebracht wird, wie es bspw. Mussinghoff annimmt57, oder ob ihre Normierung nach wie vor als Desiderat anzusehen ist. Unabhängig von einer Positivierung in der kirchlichen Rechtsordnung ist jedoch – auch anhand kirchlicher Lehrdokumente – davon auszugehen, dass es sich bei der Glaubens- und Gewissensfreiheit um ein echtes Menschenrecht handelt. Die Diskussion über die Umsetzung der Grund- und Menschenrechtsidee erfuhr innerhalb der Kirche vor allem im Zuge der CIC-Reform nach dem II. Vatikanischen Konzil mit dem Vorschlag einer Lex Ecclesiae Fundamen talis Aufwind und brach auch nach deren Fallenlassen nicht gänzlich ab. Die Vorstellung der Notwendigkeit einer innerkirchlichen Umsetzung von Grundund Menschenrechten ist – wie ja die Menschenrechtsidee überhaupt – noch relativ jung. Dies trifft vor allem auf das Menschenrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu, mit dem die Kirche aufgrund der speziellen historischen Entwicklung dieses Freiheitsrechts sehr lange Zeit ihre Probleme hatte, die bis in die Gegenwart nachwirken. Den Kernpunkt der Debatte bildet darin nicht nur die Frage, welche Grund- und Menschenrechte sinnvollerweise innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung verwirklicht werden sollten, sondern vor allem auch, ob jene Grund- und Menschenrechtskataloge, die sich in spezifisch historischen und weltlichen Kontexten etabliert haben, überhaupt legitime und geeignete Ausgangspunkte für eine kirchliche Grundrechtsdoktrin sein können. Der Spannungsbogen innerhalb der Forschung reicht hier von einer behaupteten (zwar nicht völlig linearen) Drittwirkung international anerkannter Grund- und Menschenrechtskataloge innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung58 auf der einen Seite bis hin zum Eindruck einer mystifizierenden Auflösung individueller Freiheitsrechte in den kirchlichen Communiobegriff auf der anderen Seite59. Im Hinblick auf ein rechtes Verständnis der Gewissensfreiheit und ihre angemessene innerkirchliche Auslegung ist sicherlich der Erklärung über die Religionsfreiheit – Dignitatis humanae (DH) –, der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute – Gaudium et spes (GS) –, aber auch der Konstitution über die Kirche – Lumen gentium (LG) – eine herausragende Rolle zuzumessen. LG ist, wie Eberhard Schockenhoff betont, vor allem aufgrund der dort dargelegten gestuften Kirchengliedschaft für die Thematik der Gewissensfreiheit von Bedeutung60. Alle drei genannten Dokumente des II. Vatikanischen Konzils wurden bereits reichlich kommentiert Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/2, Rdnr. 4 (Stand März 1987). Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte. 59 Vgl. Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche. 60 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 158. 57 Vgl. 58 Vgl.
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Kap. 1: Einleitung
und ausgelegt, wenngleich in Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer innerkirchlichen Anerkennung und Umsetzung der Gewissensfreiheit in etwas zögerlicherer Weise. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang der Kommentar zur Religionsfreiheit von Pietro Pavan61, der Kommentar Joseph Ratzingers zu GS 1662, die Arbeiten zum Gewissen von Eberhard Schockenhoff 63, die zahlreichen Veröffentlichungen von Peter Krämer zu diesem Thema64 und die Untersuchung zur Gewissensfreiheit von Markus Patenge65. Wenn innerhalb der gegenwärtigen Kanonistik durchaus ein gewisser Konsens darüber ausgemacht werden kann, dass aufgrund der eminenten Bedeutung des Gewissens für die Kirche und der eben genannten Dokumente des II. Vatikanums von einer innerkirchlichen Rechtsgeltung des Menschenrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit auszugehen ist, dann muss es auch darum gehen, seinen Tatbestand zu beschreiben, sowie seine systematische Umsetzung innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung zumindest schematisch darzustellen. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass das kirchliche Wesen nicht entstellt und die Gefahr einer Aushöhlung der Rechtsordnung vermieden wird66. Im Kernbereich dieser Arbeit geht es schließlich um die Auswirkungen der Rechtsfigur des Gewissenstäters innerhalb ihres genius loci, welcher das kirchliche Sanktionsrecht ist. Die wohl bedeutendste Grundlagen- und Vor arbeit dazu stammt von Libero Gerosa, der sich in seiner Dissertation zum 61 Vgl. Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit; Pietro Pavan: Das Recht auf Religionsfreiheit; vgl. dazu aber auch insb. die sehr umfangreiche Literaturübersicht zu diesem Thema bei Peter Huizing: Über Veröffentlichungen und Themenstellungen zur Frage der Religionsfreiheit. 62 Vgl. Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, hier insb. 328–331. 63 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen; Eberhard Schocken hoff: Gewissen und Gehorsam; Eberhard Schockenhoff: Naturrecht im Übergang; Eberhard Schockenhoff: Das umstrittene Gewissen; Eberhard Schockenhoff: Testimonium conscientiae; Eberhard Schockenhoff: Wesen und Funktion des Gewissens aus der Sicht der katholischen Moraltheologie; Eberhard Schockenhoff: Art. „Gewissensfreiheit“; Eberhard Schockenhoff/Christiane Florin: Gewissen. 64 Vgl. Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte; Peter Krämer: Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition; Peter Krämer: Das Recht auf religiöse Freiheit und seine Relevanz für die innerkirchliche Rechtsordnung; Peter Krämer: Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen. 65 Vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit. 66 Vgl. Winfried Aymans: Die Kirche im Codex, 652: „Wenn aber die Substanz des Kirchenrechts auf das Gewissen des einzelnen hin relativiert und als bloße Richtlinie für das Handeln verstanden wird, ist der Rechtscharakter des Kirchenrechts aufgelöst“.
B. Ziel, Aufbau und aktueller Forschungsstand35
Thema „La scomunica è una pena?“, welche später in deutscher Sprache unter dem Titel „Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam“ erschienen ist, mit dem Wesen der Exkommunikation auseinandergesetzt hat67. Der Aufweis, dass es sich zumindest im Fall klassischer Glaubensdelikte68, vermutlich aber generell im Fall all jener Delikte, in denen es vorrangig um die Korrektur einer dahinterstehenden Glaubensüberzeugung geht, um Sanktionsmaßnahmen mit deklarativer Wirkung handelt, ist für die Begrenzung der Tragweite des kanonischen Sanktionsrechts von weitreichender Bedeutung. Für die hier formulierte Forschungsfrage ebenso wegweisend, und auf Gerosas These von der deklarativen Wirkung der Zensur aufbauend, sind Ludger Müllers Beiträge zum Wesen der Zensuren und Sühnestrafen im kanonischen Recht und zu den daraus folgenden Konsequenzen für eine Sanktionsbewehrung69. Auch wenn Klaus Lüdicke bisher weder eine eigenständige Monographie zum Thema des Gewissenstäters im kanonischen Recht noch zum Sanktionsrecht vorgelegt hat, so hebt er im Rahmen des Münsterischen Kommentars zum CIC nicht nur die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Glaubensund Gewissensfreiheit im kirchlichen Sanktionsrecht hervor, sondern leitet daraus zugleich umfassende und systematisch durchdachte Reformvorschläge ab, welche innerhalb der von ihm gesetzten Prämissen zwar eine logisch geschlossene Konzeption des kirchlichen Sanktionsrechts bilden70, aber gerade hinsichtlich der getroffenen Vorentscheidungen zu hinterfragen sind. Trotz der Kürze und Prägnanz, die der Natur eines solchen Kommentars geschuldet sind, können Lüdickes Ausführungen zu diesem Thema dennoch als willkommener Impuls für eine tiefgreifende Reform des kirchlichen Sank tionsrechts im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit betrachtet werden. Des Weiteren ist in diesem Zusammenhang die Dissertation von Ansgar Grochtmann über die „Justitiabilität der Gewissensfreiheit“71 zu erwähnen, die eine Art „Schnittstellenarbeit“ zwischen weltlichem und kirchlichem Recht darstellt und sich in ihrem ersten Teil explizit mit einem Kernproblem der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht auseinandersetzt. 67 Vgl. Libero Gerosa: La scomunica è una pena?; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam. 68 Zu den klassischen Glaubensdelikten vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 197–199. 69 Vgl. insb. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen. 70 Vgl. insb. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321 (Stand November 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1331 (Stand April 1993). 71 Vgl. Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit.
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Kap. 1: Einleitung
Grochtmann geht der Frage nach, ob bzw. inwieweit kirchliche Sanktionen, sofern sie als Spruchsanktionen verhängt werden, dazu geeignet sind, den Betroffenen entgegen dessen Gewissensurteil zu einer „Besserung“ bzw. „zur Umkehr“ zu zwingen. Die Untersuchung Grochtmanns weist jedoch aus kanonistischer Sicht einige systematische und inhaltliche Versäumnisse auf. Zwar wird am Beginn der Arbeit explizit auf den Verzicht einer Darstellung und theologischen Einordnung kirchlicher Sanktionsmaßnahmen hingewiesen und der sehr begrenzte Rahmen, innerhalb dessen sich die Forschungs arbeit bewegt, offen kommuniziert72. Doch die als redlich zu wertende Mitteilung dieser Umstände verbessert nicht die Tatsache, dass gleichsam mitten im Thema begonnen und ein Problem erörtert wird, dessen Rahmenbedingungen oder Voraussetzungen nicht geklärt wurden. Insofern verwundert es nicht, dass der von Grochtmann präsentierte Lösungsansatz für das Problem des Gewissenstäters im kanonischen Recht mehr oder weniger unvermittelt der komplexen Realität der Kirche gegenübersteht und im Ergebnis zu hinterfragen ist. Das Anliegen Grochtmanns, einen „Fingerzeig in die richtige Richtung“73 zu geben, erfüllt sich jedoch zumindest hinsichtlich seines Hinweises auf die Notwendigkeit einer definitorischen Festlegung des „Zwanges“ im kirchlichen Sanktionsrecht. Als systematische und theologisch fundierte Darstellung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht kann die Untersuchung Grochtmanns allerdings nicht dienen. Zuletzt wird in der hier vorliegenden Arbeit eine Analyse Helmuth Prees zum Begriff der „imputabilitas“ aufgegriffen. Pree verwendet das Phänomen des Gewissenstäters insbesondere dafür, um auf der Ebene der Schuld bzw. der subjektiven Zurechnung kirchlicher Delikte auf die offenkundigen Schwierigkeiten hinzuweisen, die sich aus der Verknüpfung eines moraltheologischen und juristischen Schuldbegriffs im kirchlichen Sanktionsrecht er-
72 Vgl. ebd., 2 f.: In dieser Arbeit geht es unter Außerachtlassung der Klärung aller Vorbedingungen für den kirchenrechtlichen Bereich nur um die Frage, ob im Falle von Gewissenstätern bei der Spruchsanktion der Besserungszweck Anwendung finden darf oder nicht. Die Untersuchung Grochtmanns erfolgt unter expliziter Außerachtlassung der Prüfung einer Angemessenheit des Mittels der „Kirchenstrafe“ und der Prüfung, „ob nicht Gründe dafür sprechen, das kirchliche Strafverständnis mit Blick auf die Gewissensfreiheit zu reformieren“, der Prüfung der Frage, ob der kirchliche Richter bei der Sanktionszumessung im Fall eines Gewissenstäters Straffreiheit oder Strafmilderung zu gewähren hat, ob die Gewissensfreiheit nicht generell dazu zwingt, den „Besserungszweck“ als Strafzweck „prinzipiell aufzugeben“, und welche Auswirkungen ein innerkirchlich anerkanntes Gewissensurteil auf der Ebene der Rechtswidrigkeit hätte. Zudem wird auch die Verhängung latae sententiae, welche gerade im Fall der Besserungssanktionen den Regelfall darstellt, explizit aus der Fragestellung ausgeklammert. 73 Ebd., 66.
B. Ziel, Aufbau und aktueller Forschungsstand37
geben74. Die Darstellung des Problems einer subjektiven moralischen Zurechnung deliktischen Verhaltens im Fall des Gewissenstäters reflektiert – insbesondere im Fall der Glaubensdelikte – die zuvor auf der Tatbestands ebene gewonnenen Ergebnisse. Zum Forschungsstand hinsichtlich der Frage nach der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht ist zu resümieren, dass zwar einige – teils zwar nur schlaglichtartige, teils aber auch grundlegende – Anregungen und Vorarbeiten zu diesem Thema vorliegen. Der Versuch einer umfassenden und systematischen Betrachtung dieses Problems stellt jedoch ein Desiderat dar, das hiermit aufgegriffen werden soll.
74 Vgl. Helmuth Pree: Imputabilitas; vgl. aber auch Helmuth Pree: Forum externum und forum internum; Helmuth Pree: Forum externum und forum internum. Zu Sinn und Tragweite einer Unterscheidung; Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts.
Kapitel 2
Kontext, Definition und Ausfaltung der Rechtsfigur des Gewissenstäters A. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht I. Gustav Radbruch und die Rechtsfigur des Gewissenstäters Im Jahr 1922 ging der bedeutende deutsche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch (1878–1949)1 im Zuge eines Strafrechtsentwurfs2 der Frage nach, wie ein Delinquent zu beurteilen sei, „der sich aufgrund seiner sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung zur Begehung einer Straftat für verpflichtet hielt“3. Radbruch kam zur Auffassung, dass zu unterscheiden sei zwischen einem Verbrecher, der im „Widerspruch zu sich selbst“ stehe, insofern er die Schutzwürdigkeit des von ihm angegriffenen Rechtsgutes prinzipiell bejaht, und demjenigen, der aufgrund einer höchstpersönlichen Überzeugung ein Delikt begeht. Dem Erstgenannten könne der Staat als „Vertreter seines eigenen besseren und klügeren Selbst“ entgegentreten, während hingegen der Überzeugungstäter „nicht aus sich selbst widerlegbar“ sei, sondern seine Überzeugung als „eine andere geschlossene Überzeugung“ jener der Staatsgewalt gegenüberstehe4. Es bedürfe daher keiner „Besserungsstrafe“ für einen solchen Täter, denn Strafe als Besserung sei nur dann anerkennenswert, „wenn derjenige, der bessern will, auch besser ist als derjenige, der gebessert werden soll“5, so Radbruch. Im Fall des Überzeugungsverbrechers könne die Strafe daher nicht auf die Besserung des Täters abzielen, denn bessern könne sich dieser nur selbst. 1 Zu seinem Leben und Werk vgl. Arthur Kaufmann: Gustav Radbruch – Leben und Werk; Erik Wolf: Gustav Radbruchs Leben und Werk. 2 Gustav Radbruch: Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches; vgl. dazu Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1922. 3 Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 11; vgl. dazu Gus tav Radbruch: Der Überzeugungsverbrecher; Gustav Radbruch: Über die Frage vom Überzeugungstäter. 4 Gustav Radbruch: Der Überzeugungsverbrecher, 127 f. 5 Gustav Radbruch: Über die Frage vom Überzeugungstäter, 141.
A. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht 39
In seiner Zeit als Reichsjustizminister entwickelte Radbruch schließlich die These vom Überzeugungstäter von einer Einzelfallstudie hin zu einem Typus des Strafrechts. Den Antrieb dazu erhielt er „aus amtlicher Berührung mit dem Überzeugungsverbrechertum aller Farben“6; nicht also philosophische Spekulation führten ihn dazu, die Idee des Überzeugungstäters voran zutreiben, sondern vielmehr politisches Erleben7: „Der gesamte politische Tageskampf stellt sich ja dar als eine einzige endlose Diskussion über die Gerechtigkeit“8. In der Rechtsfigur des Überzeugungsverbrechers bündeln sich für Radbruch gleichsam „die tragische Problematik der Rechtsidee“ und der „Widerspruch zwischen Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit und Rechts sicherheit“9 wie in einem Brennpunkt. Die Menschheitsgeschichte sei „an den großen Wendepunkten voller Überzeugungsverbrecher“. Und so fragt Radbruch: „Die großen Märtyrer, die großen Ketzer, die großen Revolutionäre, was sind sie anderes als Überzeugungsverbrecher“10? Der Überzeugungstäter könne aufgrund der Berufung auf eine höhere Norm eine bestimmte Norm des Staates nicht akzeptieren11. Daher sei es dem Staat, dessen Rechtsnormen verletzt werden, letztendlich unmöglich, über die Weltanschauung des Überzeugungstäters zu urteilen bzw. zu Gericht zu sitzen, denn in der Gestalt des Überzeugungstäters stehe der Rechtsordnung nicht primär jemand gegenüber, der „Unrecht“ getan habe, „sondern die unwiderlegbare Ansicht von einem höheren Recht“12 vertrete. Radbruch war daher überzeugt, dass abweichend von der allgemeinen Regelung eine mit der strafrechtlichen Sanktion verbundene sittliche Missbilligung dann zu entfallen habe, „wenn sich der Täter aufgrund eines höherrangigen Rechts zu dem Rechtsbruch für verpflichtet hielt“. Zwar dürfe der Staat mit Strafgewalt gegen den Rechtsbrecher vorgehen, aber im Zuge der Bestrafung müsse beachtet werden, dass dieser Verbrecher kein „Besserungsbedürftiger noch ein Vergeltungswürdiger, sondern nur ein – widerlegbar oder unwiderlegbar – Andersdenkender, ein Gegner der derzeitigen sittlichen, religiösen, politischen Macht“13 ist. 6 Gustav
Radbruch: Über die Frage vom Überzeugungstäter, 136 f. die Ministerzeit Radbruchs fielen zahlreiche Fälle, die als politische Überzeugungsverbrecher einzustufen waren: Die Ermordung Walther Rathenaus, der Lichtenburger Hungerstreik, die Kriegsverbrecherprozesse, die Auslieferung der Mörder des spanischen Ministerpräsidenten Dato – vgl. dazu Jürgen C. Gödan: Die Rechts figur des Überzeugungstäters, 40. 8 Gustav Radbruch: Die Problematik der Rechtsidee, 460. 9 Ebd., 466. 10 Gustav Radbruch: Über die Frage vom Überzeugungstäter, 137. 11 Vgl. ebd., 139. 12 Ebd., 141. 13 Gustav Radbruch: Der Überzeugungsverbrecher, 129; vgl. auch Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 196; Joachim Sproß: Die Unrechts- und die Strafbegründung bei dem Überzeugungs- und Gewissenstäter, 4 f. 7 In
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
In seiner späteren Argumentationslinie hinsichtlich des Überzeugungstäters verzichtet Radbruch jedoch auf das Argument des mangelnden Selbstwiderspruchs und beschränkt sich darauf, dass dieser sich „auf ein höheres Recht“ beruft14. Daran knüpft die Fragestellung an, wie zu entscheiden ist, „wenn sich Sozialethik und Individualethik unvereinbar gegenüberstehen“15. Es kann jedenfalls keineswegs automatisch davon ausgegangen werden, dass die staatlich sanktionierten Wertvorstellungen immer und auf jeden Fall überlegen sind16. Die Radbruchsche These stützt sich auf die Annahme, dass „die letzten Sollenssätze unbeweisbar und axiomatisch“ und daher keiner wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern nur der Logik des „Bekenntnisses“ zugänglich sind17. Dem positiven Gesetz wird darin zwar grundsätzlich ein hoher Wert zugemessen – Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit fasst Radbruch als gleichwertige Seiten der Rechtsidee auf. Doch in Fällen des Widerstreits gibt es seiner Auffassung nach „keine Entscheidung als die des Einzelgewissens“18. Radbruch musste seine These folglich nicht nur auf kriminalpolitischer Ebene verteidigen, denn der damit verbundene rechtsphilosophische Relativismus19 stieß auf heftigen Widerstand und blieb innerhalb der Rechtswissenschaft keineswegs unwidersprochen20. 14 Gustav Radbruch: Über die Frage vom Überzeugungstäter, 139. Jürgen Gödan bemerkt richtig, dass die Argumentation Radbruchs in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Gemeinverbrecher und Überzeugungstäter später etwas „zwiespältig“ wurde, spätestens seit dieser zugestand, dass auch der Überzeugungsverbrecher prinzipiell in Widerspruch zu sich selbst geraten könne – vgl. Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 42; das Argument des (mangelnden) Selbstwiderspruchs (vgl. Gustav Radbruch: Der Überzeugungsverbrecher, 127 ff.) verwandte Radbruch bereits in einem Referat auf dem 34. Deutschen Juristentag im Jahr 1926 nicht mehr (vgl. Gustav Radbruch: Über die Frage vom Überzeugungstäter). 15 Joachim Sproß: Die Unrechts- und die Strafbegründung bei dem Überzeugungsund Gewissenstäter, 87; vgl. auch Ralph Höcker: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 32; Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 241–288. 16 Vgl. Peter Noll: Der Überzeugungstäter im Strafrecht, 638, 643 ff., 658; Bruno Schüller postuliert für das kirchliche Lehramt eine praesumptio veritatis – vgl. Bruno Schüller: Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, 25; vgl. ebenso Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 233. 17 Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, 206; vgl. dazu auch Gustav Radbruch: Der Relativismus in der Rechtsphilosophie, 18. 18 Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, 206, 315; vgl. auch Ulrich Bopp: Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 72. 19 Vgl. Gustav Radbruch: Der Relativismus in der Rechtsphilosophie; ebd., 20: „Der Relativismus behauptet, daß die inhaltliche Wahrheit der verschiedenen politischen und sozialen Überzeugungen nicht wissenschaftlich erkennbar sei und daß man deshalb alle diese Überzeugungen als gleichwertig betrachten müsse. Aber die Überzeugungen als gleichwertig betrachten heißt, die Menschen gleich behandeln“. Radbruch war aber klar: „Der Relativismus mündet aus in den Positivismus“ – Gustav Radbruch: Der Relativismus in der Rechtsphilosophie, 18. Vgl. dazu insb. auch Hans
A. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht 41
Radbruch selbst hat zwar die Rechtsfigur des Überzeugungstäters „stets im Zusammenhang mit dem von ihm vertretenen Wertrelativismus gesehen und auch von dorther begründet“21. Im Laufe späterer Auseinandersetzungen mit diesem Thema hat sich jedoch gezeigt, dass derartige rechtsphilosophische Auffassungen nicht alleinige Träger und ausschließliche Quellen dieser Rechtsfigur sind, sodass durch deren Beseitigung das Problem des Überzeugungstäters gelöst wäre22.
II. Die Rolle des Gewissens im säkularisierten Staat Bis in die Gegenwart wird im Umfeld des Grundrechts auf Gewissensfreiheit sehr leidenschaftlich die Diskussion geführt, ob es grundsätzlich eine Rechtsfigur des Überzeugungstäters geben kann, ohne den Rechtsstaat auszuhöhlen. „Die Faszination, die von der Problematik des Überzeugungstäters ausgeht, sowie die Leidenschaftlichkeit, mit der die Diskussion geführt wird“, dürfte nach Jürgen Gödan darin begründet sein, „daß diese Fragestellung den Charakter eines Brennglases hat, das fundamentale strafrechtliche, rechtsphilosophische, verfassungsrechtliche und politische Streitfragen sammelt; in ihrer Bündelung erzeugen diese Probleme ‚Hitzegrade‘, wie sie sonst nur von Fragen des Strafrechts wie z. B. dem Schuldprinzip, der Lehre von der Willensfreiheit, der Strafe, den Sittlichkeitsdelikten, der Abtreibung oder politischen Straftatbeständen bekannt sind.“23 Was die Rolle des Gewissens im modernen, säkularisierten Staat angeht, ist seine Bedeutung schon aufgrund der Anerkennung des Grundrechts auf Gewissensfreiheit kaum zu unterschätzen24. Art. 4 Abs. 1 des deutschen Kelsen: Reine Rechtslehre, 69: „Eine relativistische Wertlehre bedeutet nicht – wie vielfach mißverstanden wird –, daß es keine Werte und insbesondere keine Gerechtigkeit gebe, sondern daß es keine absoluten, daß es nur relative Werte, keine absolute, sondern nur eine relative Gerechtigkeit gibt, daß die Werte, die wir mit unseren normsetzenden Akten konstituieren und unseren Werturteilen zugrundelegen, nicht mit dem Anspruch auftreten können, die Möglichkeit entgegengesetzter Werte auszuschließen.“ 20 Zu Tendenzen gegen einen Wertrelativismus im weltlichen Recht in jüngerer Gegenwart vgl. Matthias Conrad: Zum Verhältnis von Kirchenrecht und Moral, 364 ff. 21 Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 180. 22 Vgl. ebd., 281. 23 Ebd., 12. 24 Dies kommt im Falle Österreichs und Deutschlands – abgesehen von der Statuierung der allgemeinen Glaubens- und Gewissensfreiheit (vgl. Art. 14 StGG in Österreich bzw. Art. 4 GG in Deutschland) – bspw. auch durch Art. 56 Abs. 1 des BundesVerfassungsgesetzes (B-VG) bzw. Art. 38 des Grundgesetzes (GG) – zum Ausdruck, indem Abgeordneten als Vertretern des ganzen Volkes zugesprochen wird, nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sein, sondern nur ihrem Gewissen verpflichtet zu
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
Grundgesetzes (GG) erklärt die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses für unverletzlich. „Dieses Grundrecht hat sich entwickelt aus einem Abwehrrecht des einzelnen gegen unmittelbare Glaubens- und Gewissenszwänge der Landesherren, zunächst begrenzt auf Glaubens- und Gewissensfragen. Später wird das Gewissen und seine Freiheit aus dem im Text des GG noch vorhandenen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Glauben und der Religion gelöst.“25 Die Freiheit des Gewissens umfasst nach Ansicht des Bundesverfassungs gerichts (BVerfG) „nicht nur die Freiheit, ein Gewissen zu haben, sondern grundsätzlich die Freiheit, von der öffentlichen Gewalt nicht verpflichtet zu werden, gegen Gebote und Verbote des Gewissens zu handeln“26. Allerdings ist es alles andere als trivial, das Phänomen „Gewissen“ im rechtlichen Kontext zu definieren. Das deutsche BVerfG beschreibt das Gewissen in einem Urteil „als ein [wie immer begründbares, jedenfalls aber] real erfahrbares seelisches Phänomen …, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind“27; und das Gewissensurteil definiert es als „ jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung …, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnöte handeln könnte“28. Bemerkenswert an diesen Beschreibungen des BVerfG ist aus theologischer Sicht, dass auf jede transzendente Bezugnahme auf Gott oder einen Wahrheitsbegriff verzichtet wird. Georg May macht zudem darauf aufmerksam, dass ebensowenig auf den Gegenstand der Gewissensentscheidung eingegangen wird29. Die vom deutschen BVerfG gewählten Formulierungen sind demnach rein formal und verzichten auf jegliche materielle Festlegungen. Diese Entscheidung des BVerfG kann zunächst aufgrund der Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates nachvollzogen werden30, da der säkularisierte Staat „grundsätzlich nicht nach Grund sein. Vgl. zur Bedeutung des Gewissens im profanen Recht auch Heinrich Scholler: Das Gewissen als Gestalt der Freiheit; Heinrich Scholler: Die Freiheit des Gewissens; Jürgen-Gerhard Blühdorn (Hrsg.): Das Gewissen in der Diskussion; Arthur Kauf mann: Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung; Udo Steiner: Art. „Gewissensfreiheit“, 629 f. 25 Hans-Ludwig Schreiber: Gewissen im Recht, 30. 26 BVerfGE 78, 391 (395); zu den Grenzen der Gewissensfreiheit vgl. Stefan Mu ckel: Die Grenzen der Gewissensfreiheit. 27 BVerfGE 12, 45 (54). 28 BVerfGE 12, 45 (55); 23, 191 (205). 29 Vgl. Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 162. 30 Vgl. Raimund Sagmeister: Das neue kirchliche Strafrecht und der Schutz des Lebens, 495; Peter G. Kirchschläger: Menschenrechte und Religionen, 124 ff.
A. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht 43
und Quelle, Maßstab und Grenzen der Gewissensentscheidung“ fragt. Weil der Staat „kein objektives, universales und unveränderliches Sittengesetz anerkennt, kann es für ihn keine richtigen oder falschen, sondern lediglich Gewissensentscheidungen geben, die er, wenn sie als solche dargetan werden, grundsätzlich respektieren muß“31. Und so muss das BVerfG konsequenterweise auch darauf verzichten, „zwischen ‚richtigem‘ und ‚irrigem‘ Gewissen zu unterscheiden“32. Die Feststellung eines Gewissensurteils kann demnach nur aufgrund formaler Aspekte erfolgen, indem geprüft wird, ob die „Integrität und Identität der Persönlichkeit“33 betroffen ist. „Von daher wird verständlich, wenn sich in neueren Kommentaren zum Grundgesetz die zunächst provozierend klingende Feststellung findet, die Inhalte von Glauben und Gewissen seien wahrheitsunfähig.“34 Ein vom Wahrheitsbegriff losgelöster Gewissensbegriff kann also nur mehr formal beschrieben und gefasst werden. Überhaupt sind ausfüllungsbedürftige Begriffe meist notwendigerweise mit „theologischen, philosophischen und politischen Implikationen verbunden“35, was sicherlich gerade im Zusammenhang mit profanen Rechts systemen oft nicht unproblematisch ist36. Dennoch ist der zunehmende Rück31 Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 162; vgl. ebenso Fridtjof Filmer: Das Gewissen als Argument im Recht, 175. 32 Peter Fonk: Das Gewissen, 23 f. 33 Ebd., 21. 34 Ebd., 25. Der bei Radbruch so heftig kritisierte „Werterelativismus“ ist heute zumindest im profanen Bereich Realität geworden – vgl. bspw. die Schilderung der Debatte um die „rechtliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ in Deutschland bei Fridtjof Filmer: Das Gewissen als Argument im Recht, 11–24 bzw. ebd., 88 f.: Die Begriffe Gewissen und Gewissenhaftigkeit im Rechtsbereich „können aber … auch nicht mehr inhaltlich durch eine naturrechtlich vorgegebene Moralordnung objektiviert werden, sondern eher in Richtung auf modale Anforderungen an ein Verfahren richtigen Entscheidens. Differierend ist nicht der Bedeutungskern des Gewissensbegriffs, sondern die Funktion seiner Verwendung als über das positive Recht hinausweisender Grenzbegriff: Mit ‚entgegengesetzter Zielrichtung‘ verweist er entweder an Stelle rechtlicher Bindungen auf moralische Verantwortlichkeit oder nimmt umgekehrt rechtliche Bindungen wegen der moralischen Verantwortlichkeit des Individuums zurück“; vgl. dazu auch Hannsjosef Hohn: Die Freiheit des Gewissens, 25 f. 35 Richard Bäumlin/Ernst-Wolfgang Böckenförde: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 28; vgl. dazu auch Fridtjof Filmer: Das Gewissen als Argument im Recht, 28, mit Verweis auf Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, 289; Jürgen-Gerhard Blühdorn: Art. „Gewissen I“, 192 ff.; Gerhard Höver: Einleitung – Normativität und Gewissen, 23 f. 36 Jürgen Gödan stellt daher die Frage: „Wie kann im vorpositiven Raum verbindlich argumentiert werden?“ – Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 15; Gödan ist davon überzeugt, dass es keinen anderen Weg gibt, als beim Medium selbst, der Sprache und dem allgemeinen Sprachgebrauch, anzufangen, aus dem die künftigen Fachausdrücke gewonnen werden müssen; vgl. dazu auch Josef Isensee: Gewissen im Recht, 42 f.
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
zug aus normativen Wertentscheidungen kritisch zu hinterfragen37. So mahnt bspw. Josef Bordat, dass sich der Staat zwar grundsätzlich „weltanschaulich neutral“ zu verhalten habe, „nicht aber wertneutral“38. Jedenfalls scheinen moderne Rechtssysteme trotz der enormen Schwierigkeiten, die dem Gewissensbegriff insbesondere als Rechtsbegriff anhaften, ohne ihn nicht mehr auszukommen39.
III. Erkenntnisse aus der Betrachtung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht Der kurze Einblick in Radbruchs These vom Überzeugungstäter wurde deshalb gegeben, um auf die unterschiedlichen Voraussetzungen zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung aufmerksam zu machen und um gleichzeitig die methodische Vorfrage zu klären, ob eine einfache „schöpferische Transformation“40 weltlicher Grundrechtsdoktrin – vor allem hinsichtlich des Grundrechts auf Gewissensfreiheit – in den kirchlichen Rechtsbereich hinein möglich und sinnvoll ist. Zuallererst ist festzuhalten, dass die Beantwortung der im weltlichen Rechtsbereich äußerst umstrittenen Frage, ob es allgemeine vorpositive Grundlagen geben kann, auf die das Recht gründet und aufbaut, für den Bereich des kanonischen Rechts außer Zweifel steht. Die Existenz einer Glaubensgemeinschaft und ihres Rechts beruht ja gerade darauf, dass ihre Glieder eine gemeinsame Überzeugung bzw. einen gemeinsamen Glauben teilen. So blickt die Kirche auf einen reichen Schatz des Glaubensgutes, den zu hüten, 37 Vgl. Fridtjof Filmer: Das Gewissen als Argument im Recht, 96, mit Verweis auf Ernst-Wolfgang Böckenförde: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 80 f. Heute zieht sich der Staat bedauerlicherweise immer mehr aus Wertentscheidungen zurück und agiert in seiner Rolle als Gesetzgeber oft nur mehr im Sinne eines Mediators von Interessengruppen – vgl. kritisch dazu Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 108–125. 38 Josef Bordat: Das Gewissen insb. 214; auch Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. hat sich zu diesem Thema immer wieder mahnend und kritisch geäußert und die politischen Kräfte zur Verantwortung für die Erhaltung von Werten aufgerufen – vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Multiplikation der Rechte und die Zerstörung des Rechtsbegriffs, 11–17; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Politik und Wahrheit, 26– 39; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Ansprache von Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag, insb. 135–139. 39 Für alle Rechtsbereiche kann zumindest Folgendes festgestellt werden: „Der Gewissensbegriff ist in allen Verwendungen im Recht durch das normative – letztlich moralisch-ethische – Moment der Zurechnung von individueller Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten zur Person geprägt“ – Fridtjof Filmer: Das Gewissen als Argument im Recht, 298. 40 Gerhard Luf: Grundrechte im CIC, 111, 115.
A. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht 45
zu bewahren und besser zu erkennen ihr aufgetragen ist (vgl. c. 747 CIC/1983). Kirchliche Rechtsbegriffe und Normen sind gerade nicht eingefasst in einen weltanschaulich bzw. religiös neutralen Kontext, sondern ihre Begründung und Interpretation hat im Gesamtrahmen des kirchlichen Seins und kirchlicher Wesensvollzüge zu erfolgen41. Trotz der grundsätzlichen Forderung der Kirche nach Beachtung der religiösen Freiheit, gibt sie „in reli giösen Fragen nicht den eigenen Wahrheitsanspruch preis; sie vertritt keineswegs einen religiösen Relativismus“42. Hinsichtlich der Deutung des Gewissensbegriffs ist zu bedenken, dass es für diesen in der Kirche eine lange und ziemlich konsistente Traditionsgeschichte gibt. Somit steht die Kanonistik zumindest nicht vor dem Problem, dass der Gewissensbegriff zu einem rein formalen Begriff reduziert werden müsste – im Gegenteil: Nach christlichem Verständnis stehen Freiheit und Wahrheit nicht beziehungslos nebeneinander, sodass im kirchenrechtlichen Spektrum „unentscheidbar“ wäre, wer Häretiker ist und wer nicht 43. Insofern ist in Anspielung auf Strömungen eines rechtsphilosophischen Wertrelativismus festzuhalten, dass diese jedenfalls kein Kernproblem des Gewissens täters im kanonischen Recht darstellen. Damit ist aber nicht gesagt, dass es nicht auch innerhalb der Kirche Spannungen und Diskussionen über die Deutung und Auslegung des Gewissensbegriffs gibt, insbesondere was die angemessene Verhältnisbestimmung seiner subjektiven und objektiven Dimension anbelangt 44. Dann ist bei der Ausfaltung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Rechtsbereich auch zu bedenken, dass der Staat als ein Gemeinwesen konzipiert ist, dem man als Bürger notwendigerweise angehört und dessen Ziel das Gemeinwohl ist. Die Zugehörigkeit zu dieser Rechtsgemeinschaft ergibt sich in der Regel nicht aufgrund einer freiheitlichen Entscheidung auf Basis einer Überzeugung. Die Kirche dagegen ist eine Gemeinschaft von Menschen, die im Wesentlichen dieselben Glaubenswahrheiten freiwillig und aufgrund persönlicher Überzeugung teilen45. Ihr Existenzgrund und Ziel ist nicht bloß die Förderung des menschlichen Gemeinwohls, sondern sie ist „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 28–31. Ziegenaus: Das Gewissen vor dem Anspruch des Lehramts, 182. 43 Vgl. dazu Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 27 f.; Joseph Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz. 44 Vgl. Gerhard Luf: Grundrechte und kirchlicher Rechtsschutz, 36 f. 45 Vgl. Albin Eser: Strafrecht in Staat und Kirche, 503: „Der Vorzug der Kirchenstrafe ergibt sich daraus, daß die Kirche – anders als der Staat – das Vorhandensein eines entsprechenden Gewissens beim potentiellen Delinquenten, ihrem Mitglied, erwarten kann.“ 41 Vgl.
42 Anton
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
(LG 1). Diese Communio beginnt zwar bereits auf Erden, streckt sich jedoch auf die eschatologische Vollendung im Jenseits aus. Ein Verlassen der kirchlichen Communio ist im Sinne der im staatlichen Rechtsbereich anerkannten Religionsfreiheit immer und jederzeit möglich. Allerdings betrifft diese Freiheit, für deren Beachtung die Kirche nach außen hin auch eintritt (vgl. insb. DH), nur den Bereich der „äußeren Religionsfreiheit“. Im „Innenverhältnis“ bleibt die initiale Entscheidung, die zur Eingliederung in die Kirche führt, aufgrund des kirchlichen Selbstverständnisses und des unauslöschlichen Prägemals, das durch die Taufe eingeprägt wird, unwiderrufbar verbindlich46; es gilt nach herrschender Auffassung der Grundsatz „semel catholicus sem per catholicus“ – „einmal katholisch, immer katholisch“47. Und schließlich offenbart der Vergleich zwischen staatlicher und kirch licher Rechtsordnung einen weiteren wichtigen Unterschied, wenn es nämlich um die Funktionsweise von Freiheitsrechten geht. Die Eingliederung des Bürgers in den Staat betrifft „nicht das Ganze der menschlichen Existenz und umfasst nicht das ganze menschliche Hoffen. Der Mensch und seine Hoffnung reicht über das Gebilde Staat und über den Bereich des politischen Handelns hinaus … Der Staat ist nicht das Totum“48. Die Bedeutung der Gewissensfreiheit als „Baustein des Rechtsstaates“ liegt für Josef Isensee insofern in ihrer Abwehrfunktion vor dem unrechtmäßigen Eingriff der Staatsgewalt in den Bereich privater Selbstbestimmung49. Innerhalb des Kirchenrechts kann jedoch ein solcher „status negativus“50 nicht im Sinne einer Abwesenheit kirchlicher Gewalt zum Zweck privater Selbstbestimmung gedeutet werden, da das Christsein keinen „kirchenfreien“ bzw. „privaten“ Raum gegenüber der kirchlichen Gewalt kennt51. Das Verhältnis des Glaubenden zur Kirche ist in diesem Punkt ein grundsätzlich anderes als das des Bürgers zum Staat. Das Christsein betrifft und durchformt die gesamte menschliche Existenz. Von daher darf und muss eine Glaubensgemeinschaft von ihren Rechtsadressaten auch eine weit höhere Identifikation mit ihren 46 Vgl. dazu Aymans/Mörsdorf: KanR I, 92–97; Heribert Schmitz: Glaubens- und Bekenntnispflicht, 439; Jan Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung, 157; Heribert Hallermann: Zu Fragen der Kirchenmitgliedschaft, des Kirchenaustritts und des sogenannten Übertritts aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts, 92 f.; vgl. ebenso das Kapitel 3 „Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht“ in dieser Arbeit. 47 Vgl. dazu Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, hier insb. 280; vgl. dazu das Kapitel 3. C. II. 5. „Unterschiedliche Normen für unterschiedliche Aspekte der Freiheit“ in dieser Arbeit. 48 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Glaube und Staat, 61 f. 49 Josef Isensee: Gewissen im Recht, 43. 50 Ebd. 51 Vgl. dazu das Kapitel 3. D. V. 2. „Die kontextuelle Prägung der Menschenrechte“ in dieser Arbeit.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts47
Normen erwarten können, als dies in einer staatlichen Rechtsgemeinschaft der Fall ist; jedoch darf diese Identifikation im Konfliktfall nicht mit Mitteln verwirklicht bzw. durchgesetzt werden, die dem Evangelium widersprechen. Die Freiheit des Gewissens zeigt sich im kirchenrechtlichen Kontext demnach weniger im Sinne einer Garantie einer höchstpersönlichen Sphäre, sondern „in der Frage des Gehorsams gegenüber den religiösen Wahrheitsansprüchen und deren kirchenamtlicher Vermittlung“. Mit einer „Berufung auf das Gewissen“ wird „die sittlich-religiöse Wahrheit keineswegs dem Belieben des einzelnen anheimgestellt und die Autorität kirchlicher Amtsträger, in Ausübung ihres Lehramtes verbindlich zu sprechen, geleugnet“, wie Luf zu Recht bemerkt52. Der Christgläubige ist verpflichtet, sein Gewissen bei der Suche nach der Wahrheit (vgl. c. 748 § 1 CIC/1983) an der Lehre der Kirche auszurichten und zu orientieren (vgl. insb. cc. 749–754 CIC/1983). Luf hebt jedoch hervor, dass für „die Achtung der Personalität des Gewissens“ es „gleichermaßen bedeutsam“ ist, „daß der legitimerweise geforderte religiöse Gehorsam nicht schlechthin zu leisten ist, sondern nochmals unter den Anspruch des Gewissens gestellt und damit in seiner Freiheitlichkeit erkannt und anerkannt wird“53. Es soll nun bei dieser schematischen und sicherlich nicht vollständigen Gegenüberstellung von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung bleiben, denn sie dient einzig zur sachlichen Untermauerung der Entscheidung, die Untersuchung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht nicht bei der analogen Übernahme der Rechtsfigur aus dem weltlichen Rechtsbereich beginnen zu lassen, sondern innerhalb der wesenseigenen Parameter der kirchlichen Rechtsordnung danach zu fragen. Um dies nun folgend zu tun, wird als Einstieg die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Joseph Klein und Hans Barion über die Tragweite des kanonischen Rechts gewählt, weil sie wichtige Probleme und insbesondere ekklesiologische Fragestellungen zu Tage fördert, die sich im Hinblick auf die Rechts figur des Gewissenstäters im kanonischen Recht ergeben.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts Die Auseinandersetzung zwischen Hans Barion und „seinem Schüler und wissenschaftlichen Rivalen“54 Joseph Klein über die Tragweite des kanoni52 Gerhard Luf: Gewissen und Recht, 31. Gerhard Luf attestiert der Kirche jedoch eine Zurückdrängung des Konfliktmomentes, welches jedoch notwendig sei, um individuelle und gemeinschaftliche Spannungsmomente auszugleichen – ebd., 32 ff. 53 Ebd., 31; vgl. auch Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 48–53. 54 Thomas Marschler: Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts, 10.
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
schen Rechts55 erscheint hervorragend dafür geeignet zu sein, die ekklesiologischen Eckdaten der zu untersuchenden Forschungsfrage klar zu umreißen und jene Konfliktfelder offenzulegen, die sich aus der Konfrontation der Rechtsfigur des Gewissenstäters mit dem kirchlichen Recht ergeben56. Hans Barion (1899–1973)57 hat sich katholischerseits zeitlebens mit den theologischen Auffassungen Rudolph Sohms (1841–1917)58 auseinandergesetzt, um insbesondere auf dessen Infragestellung des Kirchenrechts eine Antwort zu finden59. Sohms zentrale These, dass das „Wesen der Kirche … geistlich“ sei und „das Wesen des Rechts weltlich“ und daher das „Wesen des Kirchenrechtes … mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch“ stehe60, erschütterte die bisherige Selbstverständlichkeit einer rechtlichen Verfasstheit der Kirche derart, dass seither „die Vereinbarkeit von Recht und Kirche“61 begründungsbedürftig wurde. Hans Barion und sein Schüler Joseph Klein (1896–1976)62 verstanden sich wohl beide als treue Sachwalter von Sohms 55 Peter Krämer unterstreicht die Bedeutung der Auseinandersetzung zwischen Barion und Klein als einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung im Bereich des kirchlichen Rechts, insbesondere in Hinblick auf die Infragestellung des Kirchenrechts durch Rudolph Sohm. Diese Auseinandersetzung habe schon zu einer Zeit stattgefunden, in der die Grundlagenproblematik im Bereich der Kanonistik noch deutlich im Hintergrund stand – vgl. Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 16, 18. 56 Libero Gerosa lässt die Auseinandersetzung über die Frage nach der Tragweite des kanonischen Rechts mit einer Darstellung der verurteilten Lehre von Marsilius von Padua beginnen, die im Kern ein ähnliches Problem aufweist: eine unrichtige ekklesiologische Auffassung, die dazu führt, dass das Kirchenrecht unangemessen begrenzt wird. Marsilius verlagert die Sanktionsgewalt der Kirche letztlich in die Gewissenssphäre „und bringt sie so von Grund auf um ihre Natur, so daß er ihre Fundamente zerstört“ – vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 37 Fn. 33; für einen Überblick über die Lehre des Marsilius von Padua vgl. ebd., 29–40. 57 Bzgl. biographischer Hinweise vgl. Heinrich Flatten: Hans Barion; Werner Bö ckenförde: Der korrekte Kanonist. Einführung in das kanonistische Denken Barions; Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 16–19; Peter Krä mer: Hans Barion (1899–1973); Sebastian Schröcker: Der Fall Barion; Thomas Marschler: Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts; Thomas Marschler: Art. „Barion, Hans“; Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 7–11; Christoph Ohly/Ludger Müller: Katholisches Kirchenrecht, 19 f. 58 Vgl. Rudolph Sohm: Kirchenrecht I und II; Rudolph Sohm: Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians; vgl. ebenso den Überblick bei Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 16–18; Klaus Mörsdorf: Altkanonisches Sakramentenrecht. Für weitere biographische Hinweise vgl. Martin Honecker: Rudolph Sohm (1841–1917). 59 Vgl. Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts. 60 Rudolph Sohm: Kirchenrecht I X, 1, 700. 61 Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 16; vgl. dazu auch Antonio María Rouco Varela: Die katholische Reaktion auf das „Kirchenrecht I“ Rudolph Sohms. 62 Für weitere biographische Hinweise zu Joseph Klein vgl. Peter Krämer: Joseph Klein (1896–1976).
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts49
Erbe und hoben dessen Bedeutung für die Theologie mit großem Respekt hervor, wenngleich sie im Ergebnis völlig unterschiedliche und diametral entgegengesetzte Schlüsse daraus zogen. Beide gelangten zwar zur Auffassung, dass das kirchliche Recht theologisch begründet werden müsse, doch die Frage nach der Art und Weise ist von ihnen „sehr unterschiedlich beantwortet worden, was bereits in dem je verschiedenen Ausgangspunkt von beiden zum Vorschein kommt“63. Über die Beschäftigung mit den Ansätzen Rudolph Sohms hinaus gibt es aber auch biographische Parallelen zwischen Hans Barion und Joseph Klein. Barion stammte aus Düsseldorf, wurde 1924 in Köln zum Priester geweiht und promovierte nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Seelsorger zunächst in Bonn zum Dr. theol., danach in Rom zum Dr. iur. can. Es folgte 1931 seine Habilitation in Bonn. Im Jahr 1933 wurde er Professor des Kirchenrechts und später sogar Rektor an der Philosophisch-Theologischen Akademie in Braunsberg64, deren Lehrkörper sich schon im Jahr 1933 fast vollständig zur NSDAP bekannte. Aufgrund eines Vortrags wurde 1934 gegen Barion kirch licherseits die Suspension verhängt, welche ein Jahr später wieder aufgehoben wurde, da er in einer schriftlichen Erklärung seine Treue zum katholischen Lehramt bekundete. 1938 erhielt Barion aufgrund politischen Drucks zwar den Ruf an die Universität München, jedoch widersetzte sich der Erzbischof von München und Freising dieser Berufung. Die Theologische Fakultät der Universität München wurde schließlich von den Nazis geschlossen65. Im Jahr 1939 erhielt Barion als Professor des Kirchenrechts den Ruf an die Universität Bonn. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte aber aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP seine „Zwangsemeritierung“66. Ebenso wie Barion war auch sein Schüler Joseph Klein Priester der Erzdiözese Köln. 1929 wurde er in Rom zum Doktor des kanonischen Rechts promoviert und erwarb danach in Bonn den theologischen Doktorgrad, wo er sich 1944 mit einer Untersuchung aus dem Grenzgebiet zwischen Moraltheologie und Kirchenrecht für das Fach Kirchenrecht auch habilitierte. Klein war zudem bereits seit 1929 „als Professor für Kirchenrecht und Liturgik (später auch für Moraltheologie) am Priesterseminar in Köln tätig“ und „von 1946 an zusätzlich noch als Dozent für Kirchenrecht an der Universität Bonn“67. Aber schon Kleins Antrittsvorlesung „Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts“68 landete auf dem Index der verbotenen Bücher. 63 Peter
Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 21. Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 16 f. 65 Vgl. Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 8 f. 66 Ebd., 9. 67 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 18. 68 Vgl. Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts. 64 Vgl.
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
Danach geriet er mehr und mehr in Konflikt mit dem Lehramt der katholischen Kirche, was wiederum eine gewisse biographische Parallele zu Hans Barion darstellt. Anders als jedoch bei Barion führte Kleins Kontroverse mit dem kirchlichen Lehramt dazu, „daß er 1949 einen Ruf als Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Göttingen annahm und 1953 zur evangelischen Kirche übertrat“69. Kleins Emeritierung erfolgte im Jahr 1964.
I. Joseph Klein und die Kirche der freien Gefolgschaft 1. „Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus“ Joseph Klein veröffentlichte im Jahr 1958 einen Band gesammelter Schriften mit dem Titel „Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus“70. Im Vorwort dieses Bandes beschreibt er den Katholizismus als ein System, in dem „der Glaube zu Gehorsam gegenüber menschlicher Autorität verflachen“ müsse, da „zwischen Gott und den Menschen … die Theorie und das Gesetz“71 geschoben werde. Das in dieser Schrift zum Ausdruck gebrachte Urteil Kleins über das katholische Kirchenrecht fällt vernichtend aus: „Mit dem genuin Religiösen, wie es in der Korrelation von Gott und Mensch dialogisch sich konstituiert und im ewigen Wort als Person sich offenbart hat, vermag die sichtbare Kirche als solche nicht zu arbeiten, weil es nicht objektivierbar ist, und sie verflüchtigt es zur Objektivation des biblischen Glaubens als einer theoretischen Lehre und einer gesetzlichen und rechtlichen Ordnung.“72 Um diese Objektivation des Glaubens zu erreichen, reduziere die katholische Kirche den Glauben zum „Gehorsam gegenüber Menschen“ und „zur gehorsamen Befolgung der kirchlichen rechtsdogmatischen Norm“73. Darin liegt für Joseph Klein das Skandalon der katholischen Kirche begründet, denn wer „sich gegen die Kirche wendet“, werde von ihr zum Häretiker erklärt und übe „Verrat an Jesus Christus selbst“74. Um sich aus dieser Umklammerung durch die Objektivation des Glaubens zu befreien, gibt es nach Klein letztlich „nur eine Hilfe: der auf sich gestellte Mensch muß vor seinen Gott gerufen werden. Gott allein garantiert seine Freiheit, im Dienst eines jeden Systems hingegen ist sie gefährdet. Das System versklavt, und der Mensch verliert in ihm seinen Eigenstand. Alles ver69 Peter
Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 18. Klein: Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus. 71 Ebd., Vorwort V. 72 Joseph Klein: Skandalon, 69. 73 Ebd., 25. 74 Ebd., 53. 70 Joseph
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts51
mag er zu bewältigen, wenn ihm die Freiheit verbleibt, vor Gott sich selbst zu finden. Wahre Religion steht im Glauben auf der Freiheit Gottes“75. Solche radikalen Gedanken formulierte Joseph Klein schon zu einer Zeit, in der er formal gesehen noch katholisch war, nämlich in seiner Bonner Antrittsvorlesung im Jahr 1946 über die „Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts“76 (veröffentlicht 1947). Diese Antrittsvorlesung stieß bei den kirchlichen Autoritäten freilich auf so heftigen Widerstand, dass die Indizierung dieser Schrift nicht lange auf sich warten ließ77. Die Diskrepanz mit der katholischen Lehrmeinung, die sich aus Kleins weiterer Beschäftigung mit dieser Thematik ergab, führte ihn schließlich zum offiziellen Bruch mit der katholischen Kirche. Sein öffentliches Bekenntnis zum Protestantismus im Jahr 1953 war schließlich nur mehr eine logische Konsequenz seiner Thesen78. 2. Die Begrenzung des Kirchenrechts durch die freie Gefolgschaft Joseph Klein ist fasziniert vom Kirchenbild Rudolph Sohms und formuliert daran anlehnend die Forderung einer „Kirche der freien Gefolgschaft“79. Dieser Forderung liegt die entscheidende Frage voraus, „ob der Glaube in seinem Ursprung, der Glaubensakt als Aneignung und Bejahung der Offenbarungsinhalte, in die kanonische Normierung einbezogen werden kann“80. An diese Vorfrage knüpfen zwei Folgefragen an, nämlich jene nach der Reichweite des kanonischen Rechts und in einem zweiten Schritt jene nach der Angemessenheit eines zwingenden Charakters desselben81. Hinsichtlich der Frage, ob der Glaube grundsätzlich rechtlicher Normierung zugänglich ist, differenziert Klein, indem er zunächst an die alte augustinische Unterscheidung zwischen der fides quae creditur (Glaubensgehalt) und der fides qua creditur (Glaubensakt) anknüpft und diese im Lichte des 75 Joseph
Klein: Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus, Vorwort VI. Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts. 77 Das Dekret der Kongregation des Hl. Offiziums ist abgedruckt in den AAS 42 (1950), 739; Grund für die Indizierung dürfte vorwiegend die Forderung Kleins einer „Kirche der freien Gefolgschaft“ gewesen sein – vgl. dazu Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 41–46. 78 Vgl. Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 21. 79 Vgl. Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 107– 113; vgl. dazu ebenso die kritische Auseinandersetzung mit den Thesen Joseph Kleins von Peter Krämer: Kirche der freien Gefolgschaft; Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, insb. 32–46; Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 89. 80 Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 103. 81 Vgl. ebd., 104. 76 Vgl.
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
Sohm’schen Kirchenbildes ausdeutet. Danach könne seiner Auffassung nach der Glaubensinhalt objektiviert und daher auch rechtlich ein- bzw. abgegrenzt und geschützt werden, der Glaubensakt hingegen sei aufgrund seines natür lichen Wesens von jeglicher rechtlichen Transformierbarkeit ausgeschlossen82 und besitze „vorrechtliche Gestalt“83. Zur Begründung dieser These führt Klein zwei durchaus beachtliche Plausibilitätsgründe an: Erstens sei es seiner Auffassung nach methodisch unzulässig, eine Entscheidung, die Voraussetzung und Ursprung kirchlicher Rechtsbildung ist, nämlich den Glauben selbst, rechtlicher Normierung zu unterwerfen, da sich die „Wirklichkeit, auf die das kanonische Recht sich richtet, … erst in diesem Glauben [‚konstituiert‘], der infolgedessen selbst unmöglich Gegenstand kanonischer Regelung sein kann“84. Der Gehalt des Glaubens habe demnach den Glaubensakt als notwendige und erste Voraussetzung. Als zweiten Plausibilitätsgrund nennt Klein die Unmöglichkeit einer rechtlichen Einordnung des „höchst personalen Aktes der Glaubensentscheidung mit seiner geheimnisvollen Verbindung von Freiheit und Abhängigkeit … in den Organismus und Normenkomplex des kirchlichen Rechts“; ein solches Bestreben sei „eine Verkennung der innersten Natur dieses Aktes“85. Der Glaubensakt als eine „personale Begegnung zwischen Gott und dem Menschen“, könne durch „kein Gesetz und keine rechtliche Bestimmung“86 begrenzt werden. Klein sieht darin einen „kategorialen Übergriff“, indem die rechtliche Normierung auf Gebiete ausgeweitet werde, die dem Recht wesensmäßig gar nicht zugänglich seien, was notwendigerweise zur Entwertung des betroffenen Gegenstandsbereiches führe87. Am augenscheinlichsten werde dies – und hier schließt sich seine Argumentationsstruktur – bei der freien und höchst personalen Entscheidung jedes Einzelnen zum Glauben88.
82 Vgl. dazu die Ausführungen bei Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 22–28. 83 Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 113. 84 Ebd., 104. 85 Ebd.; vgl. ebenso Joseph Klein: Skandalon, 69; ebd., 78 f.: „Die personale Wahrheit des Evangeliums fordert nicht die Zustimmung eines unpersönlichen, im Gehorsam gefügigen Verstandes, sondern die persönliche existentielle Entscheidung eines Ich, das in der Gemeinschaft mit dem Du seines Gottes steht und vor ihm sich verantworten muß.“ 86 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 28. 87 Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 97; vgl. dazu Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 36–40, der dieses Phänomen unter dem Begriff „Verrechtlichung“ zusammenfasst. 88 Vgl. dazu Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 39.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts53
Die genannten Argumente Kleins sind aber deshalb als Plausibilitätsgründe einzustufen, weil sie ihre Kraft und Einsicht nur im Lichte der von ihm getroffenen Vorentscheidung entfalten, welcher philosophisch gesehen ein bestimmtes Konzept der Wahrheitserkenntnis zugrunde liegt, das sich wiederum auf seinen Gewissensbegriff auswirkt: „Nach der Konzeption von J. Klein gibt es für menschliches Erkennen keine daseinsabsolute, sondern nur einen daseinsgebundene Wahrheit. Wahrheit erschließt sich als personale Wahrheit dem Individuum, das in innerer Wahrhaftigkeit um die Wahrheit ringt und ständig scheitert, und ist als solche relativ auf die konkrete Situation eben dieses Individuums“89, so Peter Krämer in seiner Analyse der Position Kleins. Die Offenbarungswahrheit erschließt sich demgemäß dem einzelnen Menschen ausschließlich in einer konkreten Situation durch personale Begegnung mit dem göttlichen Du und ist insofern jeder rechtlichen Durchdringung und Eingrenzung unzugänglich90. Hans Barion kommentiert diese (philosophische) Vorentscheidung Kleins folgendermaßen: „Aber ihr Anfang und ihr Ende sind in Wirklichkeit im personalen und individuellen Bereich beschlossen, und keine Berufung auf objektive Glaubensinhalte, auf die Fides, quae creditur, vermag sich gegenüber der subjektiven Selbstmächtigkeit des Glaubenden, gegenüber der Fides, qua creditur, zu behaupten. Dem Objektivismus des rechtlich normierten Glaubens tritt der Subjektivismus des jeglichem scheinreligiösen Recht überlegenen Glaubenden gegenüber.“91 Mit der Entscheidung, dem Glaubensakt „vorrechtliche“ Gestalt zuzuweisen, setzt Joseph Klein die wesentliche Prämisse für seine Forderung einer „Kirche der freien Gefolgschaft“ und markiert damit zugleich die Reichweite und Grenze des Kirchenrechts: Die Reichweite des kirchlichen Rechts findet in Kleins Kirchenrechtsmodell eine „unübersteigbare Grenze im Glaubens akt“92 des Einzelnen. Im Ergebnis bedeutet das, dass zwar der Glaubens inhalt – also die fides quae creditur –, nicht aber der Glaubensakt an sich (fides qua creditur) von rechtlichen Normen umgrenzt und gesichert werden kann. Peter Krämer fasst diese Klein’sche Verhältnisbestimmung von Glaube und Recht mit dem Begriff „Divergenz“ zusammen, welche „darin begründet liegt, daß die fides qua creditur von der fides quae creditur abgehoben und dieser vorgeordnet wird“93. Jedoch hebt Krämer hervor, dass Klein in seiner katholischen Phase in Abgrenzung zur reformatorischen Auffassung durchaus bemüht war, „verschiedene Verbindungslinien zwischen Glaube und Recht“ 89 Ebd.,
74. 75. 91 Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 287. 92 Peter Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“, 3. 93 Ebd., 4. 90 Ebd.,
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zu ziehen und an einer „dreifachen Klammer“ festzuhalten, bestehend aus der Annahme eines „objektivierten, rechtlich abgrenzbaren Glaubensinhalts“, den „religiös-sittlichen Verpflichtungen“ und der „naturgegebenen Schöp fungsordnung“94. Doch trotz dieser Bemühungen bleibt die Verhältnisbestimmung zwischen Glaube und Recht in Kleins Ansatz de facto divergent. Klein geht es dabei aber nicht um eine materielle „Entleerung“ des Glaubensbegriffs, wie das vielleicht vermutet werden könnte, sondern um den Versuch einer Differenzierung hinsichtlich des Wesensgehalts dieser Wirklichkeiten. Jedenfalls strahlt an dieser Stelle die Anlehnung an Rudolph Sohms Thesen mit voller Wucht durch95. Es braucht insofern nicht eigens hervorgehoben zu werden, dass Klein größten Wert auf „Ernst und Entschiedenheit“ bei der freien Glaubensentscheidung legt. Aus kirchenrechtlicher Sicht ergibt sich für Klein aufgrund der eben geschilderten Vorentscheidung die wichtige Konsequenz, dass der Kirche „ jede rechtliche potestas über die gläubige Entscheidung des Einzelnen“96 fehlt. Mit dieser Begrenzung der Tragweite des Kirchenrechts erreicht Klein sein „vorrangigstes Anliegen“97, nämlich die „Kirche der freien Gefolgschaft“. Er versteht darunter keine inhaltliche bzw. materielle Reduktion rechtlicher Normen, „sondern die Beschränkung des Geltungsbereichs auf diejenigen Getauften, die bewußt und freiwillig zur katholischen Kirche gehören“98. „Wenn die Kirche in der angegebenen Form das kirchliche Recht einschränkt und die freie Glaubensentscheidung des Einzelnen anerkennt, wandelt sie sich, wie J. Klein meint, zu einer Kirche der freien Gefolgschaft. Deshalb ist die Kirche der freien Gefolgschaft gleichzusetzen mit der Kirche des Rechts, die die Ursachen der Verrechtlichung beseitigt und das kirchliche Recht, abgesehen vom göttlichen Recht, gemildert und auf die Christen eingegrenzt hat, die sich freiwillig zu ihr bekennen“99, so Krämer. Um daher Missverständnisse zu vermeiden, ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass nicht eine „rechtsfreie“ bzw. rein pneumatisch organisierte Kirche das Ziel der Klein’schen Forderung einer „Kirche der freien Gefolgschaft“ ist, sondern 94 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 25; zur näheren Ausfaltung dieser dreifachen Klammer vgl. ebd., 22–26. 95 Sohm schafft mit seiner These der Unvereinbarkeit von Kirche und Recht die Vorbereitung und Grundlage für Kleins Forderung nach einer Kirche der freien Gefolgschaft, indem er das Recht in den rein äußerlichen Bereich verfrachtet, während hingegen das Sittengesetz, das auch innere Zustimmung verlange, nur diejenigen zu verpflichten imstande ist, die diese Sittenordnung als Konventionalordnung anerkennen – vgl. dazu Ludger Müller: § 2: Recht und Kirchenrecht, 16 f. 96 Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 110. 97 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 40. 98 Hans Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts, 274. 99 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 41.
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die Begrenzung „des Geltungsbereichs des kanonischen Rechts auf diejenigen Getauften …, die sich bewußt und freiwillig“100 zur Kirche bekennen. 3. Die Freiheit des Glaubens Die Waffe des Skandalons besteht nach Kleins Ansicht darin, „alles religiös Verpflichtende“ mit juristischem Zwang zu sanktionieren und somit „die religiöse Entscheidung … zur gehorsamen Befolgung der kirchlichen rechtsdogmatischen Norm“ zu degradieren. „Mit der aufgehobenen Entscheidungsfreiheit zum Glauben“ eliminiere die Kirche „die Möglichkeit des sacrificium conscientiae, das für die Rechtskirche infolge der Objektivation der Offen barungswahrheit im sacrificium intellectus aufgeht“101. Die „Verwirklichung des Christlichen“ werde so „zu einer bloß moralischen Funktion“ und „sogar die Annahme des Dogmas“ zu einem „Akt demütigen Gehorsams“102, so die Behauptung Kleins, der aufgrund dessen ein vernichtendes Fazit über die katholische Kirche zieht: Die Kirche erhebe „die christliche Existenz als solche ins Rechtliche … [und] ist von daher der Prototyp alles totalitären Denkens. Daran ändert nichts, daß sie ihren Totalitarismus mit der ihr allein anvertrauten Wahrheit Gottes begründet.“103 Als Ausweg aus dieser Situation fordert Klein nichts anderes als die „totale Revolution“, als „weltgeschicht liches Skandalon, das die sichtbare Kirche als rechtliche societas perfecta hinwegfegte, um Gottes Wort von der Herrschaft der Welt in der Form des zwingenden Rechts zu befreien“, angestoßen durch einen papa haereticus, welcher seiner Ansicht nach „den geschlossenen Normativismus des absolutistischen Systems“ durchbrechen und „Kanonisten wie Theologen in nicht geringe Verlegenheit“ versetzen würde104. Eine solche Radikalität sei innerhalb des katholischen Kirchenrechtssystems deshalb notwendig, weil seiner Ansicht nach die Kirche zu einer aufrichtigen und offenen Auseinandersetzung mit Abweichlern und Abtrünnigen „unfähig“ sei und „ jede kritische und ablehnende Stellungnahme als ein beleidigender Affront gegen den gottgesetzten Hort der infalliblen Wahrheit gewertet und als Basis für echte Kontroversgespräche abgelehnt“ werde105. Diese Ausführungen führen Klein schließlich zur Problematik des Glaubenszwangs. Er spricht dabei die schon zu seiner Zeit vielfach wahrgenom100 Peter
Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“, 4. Klein: Skandalon, 25. 102 Vgl. Joseph Klein: Kanonistische und moraltheologische Normierung in der katholischen Theologie, 174 f. 103 Joseph Klein: Skandalon, 2. 104 Ebd., 22, 24. 105 Joseph Klein: Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus, Vorwort VI. 101 Joseph
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mene Machtlosigkeit der kirchlichen Sanktionsgewalt an: „Das kirchliche Recht und insbesondere das Strafrecht ist jedoch machtlos gegenüber der Untergrabung der rechtlichen Existenz der Kirche“106. Den Grund dafür sieht er im Fehlen physischer Zwangsgewalt, weshalb für ihn – wiederum in Anlehnung an Sohm – das Strafrecht „eine weltliche Angelegenheit“ ist. Mit der Definition der Häresie und der Apostasie als die „schwersten kanonischen Verbrechen“ versuche die Kirche nun als „moralische Ersatzmacht“ das Fehlen physischer Zwangsgewalt zu supplieren107. Nach Kleins Auffassung aber müssen Verhältnisse, welche die Gott-Mensch-Beziehung berühren, von jeglichem juristischem Zwang freigehalten werden108. Infolgedessen ist es nur konsequent und logisch, wenn er insbesondere die Sanktion der Exkommunikation nicht als „Strafe“ beschreibt, sondern als „eine Konsequenz, die … [der Delinquent] selber ziehen“109 müsse. Klein weiß natürlich, dass die Christengemeinde nicht immer darauf warten kann, bis sich der Delinquent auch äußerlich entsprechend dieser Konsequenz verhält und daher hält er es durchaus für legitim, dass die Gemeinde selbst diese Sanktion vollzieht, nicht jedoch im Sinne einer „Strafe“, denn dazu fehle der Kirche die potes tas, sondern lediglich als Mittel des Ausschlusses aus der „sichtbaren, rechtlichen Gemeinschaft“110. Eine prinzipielle Möglichkeit der Rechtfertigung des kirchlichen Sank tionsrechts schließt Klein zwar nicht aus111, doch sieht er aufgrund der Verquickung von Delikt und Sünde mehrere Schwierigkeiten: Zum einen sei die Integration einer nur strafrechtlichen Anrechenbarkeit in das kirchliche Strafrechtssystem kaum möglich, denn in der Kirche könne nur „sittliche Schuld“ bestraft werden112. Darüber hinaus ließen sich die objektiven Merkmale, die eine Todsünde zum Delikt machen, nur schwer definieren. Klein ist die Unterscheidung zwischen der culpa theologica und der culpa iuridica durchaus bekannt, anhand derer theoretisch eine rein rechtliche Zurechnung ohne mo106 Joseph 107 Ebd.
Klein: Skandalon, 28.
108 Zur Frage Joseph Kleins, ob die Kirche irgendeine Art von Zwangsgewalt auf ihre Gläubigen ausüben darf, vgl. Joseph Klein: Modernes Rechtsdenken und kanonisches Recht, 109. 109 Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 111; vgl. auch Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 41. 110 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 70. 111 Der Kirche stehe daher nach Ansicht Kleins im Vergleich mit dem Staat daher nur eine eingeschränkte Strafmöglichkeit zu, nämlich insofern, als ihr immer dann die Anwendung der Strafgewalt versagt bleibt, wenn es um die unmittelbare Verbindung des Einzelnen mit Gott geht. 112 Joseph Klein: Kanonistische und moraltheologische Normierung in der katholischen Theologie, 85.
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ralische Imputation statuiert werden könnte – eine solche Lösung sei aber nach seiner Ansicht für das System des katholischen Kirchenrechts unannehmbar, da ein kirchlicher Richter letztlich dennoch die moraltheologischen Implikationen prüfen müsste, um die Zurechnung eines Deliktes im konkreten Fall bestimmen zu können113. Marietherese Kleinwächter bemerkt über Klein daher zu Recht, dass dieser mit seiner „immer vehementer vorgetragenen Kritik am ‚rechtsdogmatischen Objektivismus‘ “ letztendlich „nicht nur die ‚Verrechtlichung‘ der Kirche seit dem Hochmittelalter“ angreift, „sondern das viel ältere Verständnis von Glaubenszweifel und Glaubensabfall als peccatum grave“114. Das Kirchenrecht als Gesamtes bleibt in Kleins ekklesiologischem Konzept – analog zum Sohm’schen – außerhalb der zum Wesen gehörenden kirchlichen Wirklichkeit, da diesem darin nur eine ordnende, keinesfalls aber eine konstitutive Bedeutung zugemessen werden kann. Demgemäß hat ebenso die faktische, äußerliche Kirchengliedschaft in Kleins Auffassung von der Kirche keine konstitutive bzw. ontisch-sakramentale Bedeutung, sondern nur der individuelle und verantwortete Glaubensakt115. Diese Rechtsauffassung beschreibt Krämer als „ funktionalistischen Positivismus“116. Recht ist danach in der kirchlichen Wirklichkeit nur insoweit anzuerkennen, als es nicht in die Sphäre des Glaubens eindringt117. Nicht erst die Einwirkung durch äußere Zwangsmittel, sondern bereits jede Invasion des Rechts in den Glaubensbereich stellt nach dieser Auffassung unrechtmäßigen „Zwang“ bzw. eine Überformung des Gewissens durch rechtlichen Gehorsam dar, oder – wie es Klein ausdrücken würde – eine „Objektivation“ des Glaubens118. In einem System des funktionalistischen Positivismus kann das Recht nur eine „regulative Ordnungsfunktion“ erfüllen, denn es „darf nicht versuchen, den Gehalt des Glaubens in rechtlicher Form oder gar als göttliches Recht zu bestimmen, weil dies notwendigerweise zum Glaubenszwang und zur Aufhebung des Glaubens führen würde“119. Abschließend ist zu Kleins Kritik des katholischen Kirchenrechts anzumerken, dass sie im Lichte der Rechtslage des Codex von 1917 zu lesen ist, welcher noch formell den Geltungsanspruch auf alle getauften Christen erhob 113 Vgl.
ebd., 85, 91. Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 292, mit Verweis auf Joseph Klein: Skandalon, 29–34. 115 Vgl. insb. Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts. 116 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 78. 117 Vgl. dazu Joseph Klein: Was trennt uns heute von Katholiken, 28: „Handeln aus der Freiheit des Glaubens und gesetzliches Tun sind inkommensurabel“. 118 Vgl. Joseph Klein: Skandalon, 69. 119 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 78. 114 Marietherese
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
(vgl. can. 12 CIC/1917)120. Die „Reichweite“ des Kirchenrechts wurde – zumindest für rein kirchliche Normen – mit c. 11 in der Kodifikation von 1983 bereits auf Katholiken eingeschränkt, allerdings so, dass der Grundsatz semel catholicus semper catholicus durchgehalten wird121. Der kirchliche Rechtsgeltungsanspruch betrifft daher weiterhin auch diejenigen Katholiken, die sich von der Kirche losgesagt haben und ihr nicht mehr angehören möchten. Insofern wurde dem Anliegen Kleins einer „Kirche der freien Gefolgschaft“ mit dem CIC/1983 nicht entsprochen122. Wer also meint, dass mit der Kodifikation 1983 der Stachel der Forderung einer Kirche der freien Gefolgschaft gezogen worden wäre, irrt. Einige Kernanliegen, die sich aus Kleins Thesen 120 Joseph Klein beschäftigte sich aufgrund des Geltungsanspruchs des CIC/1917 demnach nicht mit einem rein „innerkatholischen“ Problem; der CIC/1917 beanspruchte mit can. 2214 § 1 das Recht, all diejenigen mit einer Sanktion belegen zu können, die ihm unterstehen. Das waren gemäß der cann. 12–14 CIC/1917 hinsichtlich des rein kirchlichen Rechts noch „alle Getauften, die den Vernunftgebrauch erlangt bzw. das siebte Lebensjahr erreicht haben, also auch die von der katholischen Kirche getrennten Nichtkatholiken … Eine Einschränkung dieses sich auch auf getaufte Nichtkatholiken erstreckenden Strafanspruchs der Kirche gibt es allerdings in den cann. 2202 § 1 und 2218 § 2 CIC/1917, wonach niemand straffällig werden kann, der sich in gutem Glauben oder schuldloser Unkenntnis des Strafgesetzes befindet“ – Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 109; vgl. dazu Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 188 f. 121 Seit der Streichung der Defektionsklauseln gilt dieser Grundsatz wieder uneingeschränkt – vgl. Benedikt XVI.: Motu Proprio „Omnium in mentem“ vom 26. Oktober 2009, in: AAS 102 (2010), 8–10; vgl. dazu auch Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 279–288. 122 Der CIC/1983 verpflichtet gemäß c. 11 bezüglich rein kirchlicher Gesetze nur mehr diejenigen, „die in der katholischen Kirche getauft oder in diese aufgenommen worden sind“. Weiterhin aber verpflichtet c. 11 CIC/1983 Katholiken, die sich willentlich von der katholischen Kirche lossagen – vgl. dazu Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 367 f.; Peter Krämer: Kirche der freien Gefolgschaft, 12. Diese Änderung ist aber im historischen Kontext der Kirche (vgl. noch c. 12 CIC/1917) sicherlich als beachtlich einzustufen – Socha zählt sie zu den „bedeutsamsten Neuerungen im Codex“, die ihre Grundlage in der Anerkennung der Religionsfreiheit haben – Hubert Socha: MKCIC 11/3 f., Rdnr. 2 (Stand Februar 2012); ähnlich hebt Althaus hervor, dass die „Aussagen des Konzils zur Religionsfreiheit“ es nicht mehr erlauben würden, dass „nichtkatholische Christen – wie bislang im kanonistischen Kirchenbegriff – schlechthin als Glieder der katholischen Kirche“ betrachtet würden – Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 272; Aymans wertet die Veränderung in c. 11 CIC/1983 als „Schlußfolgerung aus der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils …; es ist die Folge aus der Anerkennung, daß die nichtkatholischen Christen nicht allein als von der katholischen Einheit Getrennte zu verstehen sind, sondern als in getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften lebend begriffen werden müssen“ – Aymans/Mörsdorf: KanR I, 168. Ob c. 11 CIC/1983 daher als eine rein freiwillige Selbstbeschränkung des päpstlichen Iurisdiktionsprimates eingestuft werden kann, ist fraglich – vgl. dazu die Übersicht bei Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 316 hier insb. Fn. 910.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts59
für das Kirchenrecht ergeben, sind nach wie vor aktuell, wie an späterer Stelle noch näher ausgeführt wird123.
II. Die Konvergenz von Glaube und Recht im rechtstheologischen Ansatz von Hans Barion In der anlässlich seiner Habilitation im Jahr 1930 gehaltenen Antrittsvorlesung setzt sich Hans Barion mit „Rudolph Sohm und [der] Grundlegung des Kirchenrechts“124 auseinander. Barions rechtstheologischer Ansatz ist von einem „nahezu totalen sachlichen Gegensatz zu den Thesen Sohms“125 geprägt, indem er von der Konvergenz von Glaube und Recht ausgeht. Dennoch hebt er Sohms Bedeutung für die Theologie stets mit großem Respekt hervor126. 1. Die rechtliche Transformierbarkeit des Glaubens Es ist die Analyse des Sohm’schen Kirchenmodells, die Barion zu folgender – seine weiteren Ausführungen bestimmenden – Grundthese führt: „Der Glaube bestimmt den Kirchenbegriff, der Kirchenbegriff bestimmt das 123 Vgl. dazu das Kapitel 2. B. III. „Der Ertrag aus der Auseinandersetzung zwischen Joseph Klein und Hans Barion für eine Rechtsfigur des Gewissenstäters“ in dieser Arbeit. 124 Vgl. Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, ursprünglich veröffentlicht in: Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft, 81 (Tübingen 1931); vgl. ebenso Hans Barion: Der Rechtsbegriff Rudolph Sohms; Hans Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts; Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts; Hans Barion: Rezension; Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom katholischen Kirchenrecht. 125 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 47, mit Verweis auf Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, Vorwort. 126 Vgl. Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 322: „Diese kritischen Bemerkungen sollen aber nicht die Tatsache verhüllen, daß KLEIN durch seine zweimalige Kritik am kanonischen Recht den Kanonisten gezwungen hat, sich von gewissen Grundproblemen seiner Wissenschaft erneut und gründlicher Rechenschaft zu geben. Weil diese Grundprobleme zugleich auf das engste mit kontroverstheologischen Grundfragen der Lehre von der Kirche verknüpft sind, ist seine Kritik auch für die Kontroverstheologie außerordentlich anregend und fruchtbar“; vgl. ebenso Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 3: „Gemeint ist nicht nur die brillante Kennzeichnung und Kritik Sohms theologischer und rechtstheoretischer Position, sondern vor allem die Tatsache, daß der Kanonist [wie Barion in der Literatur oft schlicht genannt wird oder wie er sich auch selbst manchmal nennt] den evangelischen Antipoden auch positiv rezipierte“.
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
Kirchenrecht.“127 Diese These Barions fußt auf der Einsicht, dass „Sohms System in sich geschlossen und unangreifbar ist“. Ein katholischer Gläubiger müsse aber „von seinem Glaubensstandpunkt aus, nicht um juristischer Überlegungen willen, Sohms Gedanken ablehnen und das Kirchenrecht anerkennen“, denn „das von Sohm gestellte Problem der Grundlegung des Kirchenrechts [liege] nicht in seinen, sondern vor seinen Ausführungen“128. Dieser wichtigen Erkenntnis folgend, legt Barion selbst einen „antekanonistischen“ Kirchenrechtsbegriff vor, in dem er das Kirchenrecht als Funktion des Kirchenbegriffs beschreibt129. Als Ausgangspunkt wählt Barion einen Glaubensbegriff, der im Gegensatz zu Kleins Bestimmung jede Vor- oder Überordnung der fides qua creditur über den Gehalt des Glaubens vermeidet. Zwar sei eine begriffliche Unterscheidung in fides qua und fides quae creditur, wie sie von Augustinus vorgenommen wurde, nach Ansicht Barions prinzipiell möglich, jedoch nur unter dem Vorzeichen, dass damit zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit angesprochen werden, welche „durch ein willentliches Element im Glaubensvollzug gekennzeichnet ist und zugleich inhaltlich bestimmt werden kann“130. Ein Glaubensakt ohne Rückbindung an das kirchliche depositum fidei ist für Barion hingegen undenkbar: Glaubensakt und Glaubensinhalt sind Aspekte ein und desselben Glaubens, weil sie mit der geschichtlichen Offenbarung Gottes untrennbar verknüpft sind, die sich „in einem Punkt der Geschichte“ ereignet hat131. Joseph Klein wirft er im Gegenzug vor, „das wesentliche Element des Glaubens im Willen“ und „nicht im Intellekt“ verankert zu haben, wodurch „für ihn die fides, quae creditur, nichts, die fides, qua creditur, alles“132 sei. Aufbauend auf dieser Feststellung über die Einheit von Glaubensakt und Glaubensinhalt versucht Barion sodann eine Verhältnisbestimmung von Glaube und Recht. Peter Krämer fasst das Ergebnis von Barions Bemühung kurz und prägnant – und in Gegenüberstellung zu Kleins Ausführungen – mit dem Begriff „Konvergenz“133 zusammen. Barions Verhältnisbestimmung von Glaube und Recht ist insbesondere von zwei „Konvergenzpunkten“134 ge127 Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 102; Barion legt damit jedoch keine theologische Begründung des Kirchenrechts vor – vgl. Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 52 f. 128 Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 101–103. 129 Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom katholischen Kirchenrecht, 347. 130 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 48. 131 Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 103. 132 Ebd., 101. 133 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 47. 134 Ebd.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts61
prägt: Der erste liegt in der Annahme begründet, dass der Glaube rechtlich transformiert werden kann135, ohne dass dadurch das Wesen des Glaubens entstellt oder verändert wird. Den zweiten Konvergenzpunkt gewinnt Barion aus der Annahme der Illegitimität einer Aufspaltung der Kirche in zwei verschiedene Wirklichkeiten – wie bspw. eine Rechtskirche und eine Geistkirche. Sohms Prämissen über das rein geistliche Wesen der Kirche und das rein weltliche Wesen des Rechts, die jenen zum Schluss der Inkommensurabilität von Kirche und Recht führten136, ordnet Barion als „glaubensmäßige Vorentscheidungen“137 ein. Im Übrigen liege aber jeder Grundlegung des Kirchen(rechts)begriffs notwendigerweise eine solche glaubensmäßige Vorentscheidung zugrunde. Und so versucht Barion erst gar nicht, „wie in der Kontroverstheologie üblich, die Ausschließlichkeit des von ihm vertretenen Kirchenbegriffs biblisch zu begründen, sondern sagt ausdrücklich, daß weder der nichtkatholische Kirchenbegriff Luthers noch der katholische eindeutig im Neuen Testament zu finden seien. Zudem hebt er hervor, daß es sich bei der Klärung der Problematik nicht um eine exegetische Frage, sondern um eine Glaubensentscheidung handele“138. Thomas Marschler beschreibt diese Position des Kanonisten als „Dezisionismus“139. Hinsichtlich des Kirchenmodells bedeutet Barions eigene glaubensmäßige Vorentscheidung, dass eine ontische Aufspaltung in eine äußere, sichtbare Rechtskirche und eine Geistkirche nicht möglich ist. Aber er ist sich natürlich im Klaren darüber, dass die Kirche die „geschichtliche Form der Offenbarung“ überhaupt nur dann erkennen und wahren kann, wenn sie „für das rechtlich nicht verfügbare Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche offen ist“140. Gegenüber Klein betont er daher, dass eine rechtlich verfasste Kirche gerade nicht dem Pneuma widerstreite, wie es Sohm behauptet habe. So charakterisiert Barion innerhalb dieses Rahmens das Kirchenrecht als „Ineinander von Entscheidung und Ordnung, Pneuma und Tradition“141, wenngleich eine genauere Analyse seiner Schriften zeigt, dass das von ihm entwickelte „System des göttlichen Kirchenrechts“ dem pneumatischen Prinzip tatsächlich nur mehr äußerst wenig Platz einräumt und – gleichsam als Antipode gegenüber Kleins Entwurf – die Dimension des unabänderlichen ius divinum überbetont. 135 Freilich ist Barion bewusst, dass nicht alle kirchlichen Lebensvollzüge recht licher Natur sind – vgl. Hans Barion: Sacra Hierarchia, 172. 136 Vgl. Rudolph Sohm: Kirchenrecht I: Die geschichtlichen Grundlagen X, 1, 700. 137 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 49. 138 Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 105. 139 Thomas Marschler: Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts, 383; vgl. dazu ebd., 383–387. 140 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 49. 141 Hans Barion: Der Rechtsbegriff Rudolph Sohms, 119.
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2. Barions System des göttlichen Kirchenrechts Im „System des göttlichen Kirchenrechts“142 Hans Barions spielt das Dogma als „ein von der Kirche in rechtlicher Form verkündigter Glaubenssatz“ eine zentrale Rolle. Dogmen definiert er als formale Rechtssätze, die den Glaubensinhalt als rechtsverbindlich vorschreiben und einen Ausschnitt der geschichtlichen Offenbarung darstellen143. Demnach enthält das Dogma einen göttlich-rechtlichen Kern, welcher unabänderlich und der Kirche vorgegeben ist. Dieses göttliche Recht bildet nach Barion das „Strukturprinzip der Kirche und damit des gesamten Kirchenrechts“144. Innerhalb des durch die göttliche Offenbarung vorgegebenen Rahmens erlassen die hierarchischen Amtsträger sodann auch Normen rein kirchlichen Rechts145. Die Grundlinien der hierarchischen kirchlichen Verfassung sind aber durch die Offenbarung unabänderlich markiert146, weshalb die Kirche in ihrer konkreten Gestalt nicht eine von vielen möglichen und dispositiven Äußerungen darstellt, sondern die Verwirklichung dieser durch das göttliche Recht festgelegten Strukturprinzipien. Wenn nun Joseph Klein diese rechtliche Konzeption der Kirche als Verneinung der „Fortsetzung der Inkarnation in der geschichtlichen Kirche“147 und damit als unerträgliches Ärgernis brandmarkt, hält Barion dem entgegen, dass das Kirchenrecht und damit letztlich die Kirche in ihrer Grundverfassung selbst als „mit jeglichem dynamischen Verständnis der Offenbarung als einer noch immer andauernden oder je und je sich neu ereignenden und anzueignenden Kundmachung Gottes unvereinbar“ sei; als „donum revelatum“ sei das Wesen der Kirche und damit auch ihr Recht „in seiner geschichtlichen Urgestalt fixiert“148. Man könnte nun meinen, dass Barion mit dieser AusMarietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts. Hans Barion: Art. „Kirchenrecht“, 330 f.; vgl. ebenso Werner Böcken förde: Der korrekte Kanonist, 8 f.; Gottlieb Söhngen: Grundfragen der Rechtstheologie, 69. 144 Werner Böckenförde: Der korrekte Kanonist, 8. 145 Vgl. Hans Barion: Art. „Kirchenrecht“, 327 f.; Hans Barion: Römisch-katholisches Kirchenrecht, 336 f.; Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom kath. Kirchenrecht, 352 f.; Zum „Drei-Schichten-Modell“ Barions vgl. Ludger Müller/Christoph Ohly: Katholisches Kirchenrecht, 22; Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 22. Joseph Klein hingegen plädiert für die „Zertrümmerung der Form“, um das Evangelium wahrheitsgemäß wieder erstrahlen zu lassen – vgl. Joseph Klein: Von der Tragweite des kanonischen Rechts, 123. 146 Vgl. dazu Hans Barion: Sacra Hierarchia. Die Führungsordnung der katholischen Kirche. 147 Joseph Klein: Skandalon, 7, 84. 148 Hans Barion: Art. „Kirchenrecht“, 331. 142 Vgl. 143 Vgl.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts63
sage „die Spannung zwischen der kanonistischen, d. h. durch dogmatische Festlegungen gebundenen, und der profanwissenschaftlichen Betrachtung der Entwicklung des göttlichen Rechts“, übergeht oder verkennt. Doch dem ist nicht so, wie Werner Böckenförde in seiner „Einführung in das kanonistische Denken Barions“ zu Recht feststellt; Barion war aufgrund seiner profanwissenschaftlichen Forschungen sehr wohl bewusst gewesen, dass das „heutige System des göttlichen Rechts … nicht oder zum mindesten nicht in allen seinen Sätzen bis in die Offenbarungszeit zurückverfolgt werden“ kann und die eine oder andere Lücke aufweist. Die Lösung dieser „aufgezeigten Aporien“ ist für ihn darin zu finden, dass er „die Entwicklung des göttlichen Kirchenrechts kanonistisch als Bewußtwerden und allmähliche Klärung der Sachprobleme auffaßt, die in den einzelnen göttlich-rechtlichen Sätzen des kanonistischen Systems beschlossen sind“149. Eine in diesem Sinne stattfindende Entwicklung bzw. ein solches Bewußtwerden darf im Denken Barions jedoch niemals so verstanden werden, dass es der Kirche möglich wäre, ihr Wesen abzustreifen oder sich entgegen ihrer früheren Identität vollkommen zu wandeln150. Eine Hauptaufgabe des Kirchenrechts sieht Barion folglich darin, die „vom positiven göttlichen Recht vorgeschriebene Rechtsgestalt der Kirche zu wahren“151 und „für den durch göttliche Offenbarung gegebenen Inhalt eine eindeutige Fassung zu bieten, die es erlaubt, diesen Inhalt zu fixieren, die Verpflichteten an den so umschriebenen Inhalt zu binden und Abweichungen von ihm festzustellen“152. Barions „System des göttlichen Kirchenrechts“ ist damit gleichsam ein radikaler Gegenentwurf zu Sohms und Kleins Kirchen(rechts)modell und ruht auf den Pfeilern eines „normativistischen Positivismus“,153 der das göttliche Recht „nur unter der Rücksicht betrachtet, als dieses Recht von der Kirche, näherhin aufgrund der hierarchischen Lehrverkündigung, festgelegt wird und in der rechtsverbindlichen Setzung durch das kirchliche Lehramt gegeben ist, ohne daß seine Grundlagen von der Kanonistik selbst hinterfragt werden dürften oder könnten“154. Kirchliches Recht kann in einem solchen 149 Werner Böckenförde: Der korrekte Kanonist, 9. Das Dogmenverständnis Ba rions ist dennoch zweifelsohne als sehr statisch anzusehen – vgl. auch Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom kath. Kirchenrecht, 345–374; zur Dogmenentwicklung und zum Verständnis des Dogmas als Norm göttlichen Rechts vgl. Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 27; Josef Finkenzeller: Glaube ohne Dogma. 150 Vgl. Hans Barion: Aufgabe und Stellung der katholischen Theologie in der Gegenwart, 655. 151 Hans Barion: Art. „Kirchenrecht“, 331. 152 Vgl. ebd., 330 f. 153 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 89. 154 Ebd.
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System nur mehr innerhalb dieser unerschütterlichen und endgültigen Normen interpretiert und systematisiert werden. Dem Pneuma wird darin zwar theoretisch – im Sinne eines Prozesses der Bewusstwerdung des Wesens – noch Raum zugemessen, faktisch wird es aber durch ein System göttlichen Rechts erstickt, während hingegen Klein aufgrund der Unmöglichkeit rechtlicher Transformation des Glaubensaktes mit aller Vehemenz die Veränderlichkeit jeglicher Rechtsbildung propagiert und mit Sohm155 göttliches, d. h. das Gewissen verpflichtendes Recht, ablehnt156. Barion interpretiert Sohm und Klein daher korrekt, wenn er betont, dass als Pendant zur sogenannten „Rechtskirche“ nicht die „auf rechtliche Ordnung ihres Gemeinschaftslebens verzichtende Liebeskirche, sondern die zu einer Zerbrechung überkommener Wesensformen fähige pneumatische Kirche“ zu betrachten sei, welche „im übrigen im jeweiligen Stadium ihrer Entwicklung durchaus rechtlich geordnet sein kann und praktisch stets rechtlich geordnet ist, nur eben ohne jegliches Element unveränderlichen, gött lichen Rechts“157. Denn Sohm bekämpfe „das katholische Kirchenrecht nicht wegen seines Inhaltes, sondern wegen seines Anspruches, von Gott gesetztes und darum aus religiösen Gründen verbindliches und das Gewissen verpflichtendes Recht zu sein“158, wie Barion richtig analysiert. Die Rechtsgestalt der Kirche ist in Barions Entwurf – im entscheidenden Unterschied zu Sohm und Klein – nichts Extrinsisches, sondern „im katholischen Kirchenbegriff … bereits mitgesetzt, so daß eine ‚wesensmäßige Bindung der Kirche Christi an die katholische Kirche im konfessionellen Sinn‘ zum Vorschein kommt“159. Er ist sich bewusst, dass ein solches Kirchenbild für Sohm und ebenso für Klein „eine unerträgliche Belastung des Gewissens“ ist und nach deren Auffassung dem lebendigen Wirken des Geistes entgegensteht160. Die Verpflichtungskraft des Kirchenrechts im Gewissen begründet Hans Barion durch die Verbindlichkeit der Wahrheit, die sich nach außen in Form des göttlichen Rechts manifestiert: „… einen solchen Anspruch gegenüber dem persönlichen Gewissen kann ein von der Kirche in rechtlicher Form verkündigter Glaubenssatz nur erheben, wenn er wirklich von Gott kommt, 155 Vgl.
100.
Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts,
Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 89 f. Barion: Art. „Kirchenrecht“, 331. 158 Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 100. 159 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 57, mit Verweis auf Hans Barion: Art. „Kirche“, 240 f. 160 Vgl. Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 102. 156 Vgl.
157 Hans
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts65
wenn also der eventuelle subjektive Zwiespalt zwischen Gewissen und Recht nicht auf einen objektiven Zwiespalt zwischen Gottes Wort und Recht zurückgeht: das Recht muß göttlich sein“161. Barion legt Wert darauf, hervorzuheben, dass die Verpflichtung des göttlichen Rechts im Gewissen nicht erst durch die Kirche geschaffen bzw. auferlegt wird, sondern von ihr nur „verkündigt“ und gegebenenfalls von ihr auch durchgesetzt wird. Rein kirchliches Recht hingegen besitze keine Verpflichtungskraft des Gewissens aus sich selbst, sondern nur aufgrund der Autorität und Setzung durch die Kirche162. Der „bekennende Glaube“ steht also nach der Auffassung Barions „aus kanonistischer Sicht unter dem Glaubensgesetz und hat sich als kirchlicher Glaube in der Zustimmung zu den von der Kirche vorgelegten Dogmen zu artikulieren“163. Barion weist schon in seiner Antrittsvorlesung in Auseinandersetzung mit Sohms Kirchenmodell darauf hin, dass die Einheit der Kirche nicht anhand der „inneren Überzeugung“ gemessen werden kann, sondern nur aufgrund äußerer Fakten – die „Feststellung der Wahrheit erfolgt ohne Rücksicht auf die innere Überzeugung des einzelnen“164. 3. Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters bei Hans Barion Aus der Verpflichtungskraft des göttlichen Rechts leitet Barion die Bindung des Katholiken an die „Vermittlungsinstanz“ Kirche und die Angemessenheit des religiösen Gehorsams ab. Wenn sich nun Barion auf die Suche nach der „Tragweite des geltenden kanonischen Rechts“165 begibt, dann kommt er aufgrund der Forderung Kleins nach einer Kirche der freien Gefolgschaft nicht umhin, das Problem des zwingenden Charakters des kirch lichen Sanktionsrechts aufzugreifen. Das diesem Problem inhärente Spannungsverhältnis, welches seiner Ansicht nach durch das „axiomatische Verhältnis zwischen Glauben und Geschichte“166 entstehen könne, empfand er als so stark, dass er 1961 die Frage nach dem „Überzeugungstäter“ sogar zum „Hauptproblem des allgemeinen kirchlichen Strafrechts“167 erhob. Im Zuge dessen greift Barion mit Blick auf das Gesetzbuch der katholischen 161 Hans
Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 94. Hans Barion: Römisch-katholisches Kirchenrecht, 337. 163 Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 230. 164 Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 93. 165 Vgl. insb. Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 285–322. 166 Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom kath. Kirchenrecht, 366; vgl. dazu ebenso Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 230; Josef Finkenzeller: Glaube ohne Dogma; Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 27. 167 Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 410 f. 162 Vgl.
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
Kirche die „eigentliche Entscheidungsfrage“168 Kleins auf, indem er formuliert: „Ist es grundsätzlich zulässig, einen Glaubenszwang auf Getaufte auszuüben, damit sie katholisch bleiben oder (wieder) werden, oder ist ein solcher Glaubenszwang … in Wirklichkeit aus theologischen Gründen ausgeschlossen?“169 Beim Versuch einer Annäherung an diese Entscheidungsfrage verweist Barion zunächst auf die Möglichkeit einer Beschränkung des kirchlichen Sanktionsanspruchs und meint in Bezug auf den CIC/1917: „Was den c. 12 angeht, so besteht kein Zweifel daran, daß die Kirche in der Lage wäre, von der Geltung ihrer positiven, rein kirchlichen Gesetzgebung diejenigen auszunehmen, die nicht ‚baptizati in Ecclesia catholica‘ sind“170. Darüber hinaus sei aber auch die grundsätzliche Frage nach der Zulässigkeit einer Ausübung von äußerem Zwang auf das Gewissen zu stellen. Diesbezüglich verweist Barion zunächst auf can. 1351 CIC/1917, der das Verbot des äußeren Glaubenszwangs für das „erstmalige Ergreifen des katholischen Glaubens“ normiert (ad amplexandam fidem catholicam nemo invitus cogatur). Dieser Canon beziehe sich seiner Auffassung nach aber nur auf die Glaubensmündigen – für diese verbiete er „nicht nur die Zwangstaufe, sondern auch die Zwangskatholisierung getaufter Nichtkatholiken, soweit diese nicht schon einmal mit Bewußtsein katholisch waren“171; diese Auslegung ergebe sich auch aus dem Begriff „amplecti“, welcher „nur das erstmalige Ergreifen des katholischen Glaubens“ bezeichne172. Barion sieht in diesem Canon aber nur eine „positiv-rechtliche“ Regelung; über die „grundsätzliche Tragweite des Kanons“ sagt er, dass zwar die Zwangstaufe eines Glaubensmündigen aus dogmatischen Gründen jedenfalls ungültig sei, dass aber hinsichtlich „der Frage, ob auch die Zwangskatholisierung eines gültig getauften Nichtkatho168 Hans Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts, 275, bezugnehmend auf Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 109: „Das erst führt uns zu der eigentlichen Entscheidungsfrage, die an das in der verfaßten Kirche geltende Recht zu stellen ist, die Frage, wieweit die Kirche gegenüber denen, die ihr den Gehorsam aufkündigen, ein Recht des Zwangs hat.“ Vgl. dazu auch Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 232. 169 Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 315; Barion hatte diese entscheidende Frage noch mit Blick auf alle Getauften zu beantworten. 170 Hans Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts, 275; vgl. ebd., 275 f., 280 f. Vgl. dazu auch Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 367 Fn. 14: „Jedoch konnten bereits unter der Geltung des CIC/1917 getaufte Nichtkatholiken, da sie sich wohl immer im guten Glauben oder schuldloser Unkenntnis des Strafgesetzes befanden (vgl. cc. 2202 § 1; 2218 CIC/1917), nicht straffällig werden“; vgl. auch den Überblick zur Kirchengliedschaft ebd., 83–95. 171 Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 314. 172 Ebd., Fn. 22.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts67
liken absolut unzulässig sei, ob also auch ihm gegenüber grundsätzlich kein äußerer Glaubenszwang angewendet werden dürfe“, keine „gleich eindeutige Antwort“ gegeben werden könne: „Nach dem heutigen Stand der theologischen Erörterung wird man für diese Gruppe die grundsätzliche Möglichkeit eines äußeren Glaubenszwanges nicht ausschließen können, so eindeutig auch seine positiv-rechtliche Untersagung ist.“173 Hinsichtlich der Katholiken bzw. jener, die „einmal mit Bewußtsein katholischen waren“ und die sich vom Glauben der Kirche abgewendet haben oder in einem Dissens befinden, fehle „überhaupt eine unmittelbare Äußerung des positiven Rechts, so daß die grundsätzliche Unzulässigkeit des äußeren Glaubenszwanges in diesem … Fall noch weit problematischer ist“174, wie Barion feststellt. Diese letztere Gruppe könne sich aber für den Fall, dass sie von der kirchlichen Autorität mit Zwang dazu angehalten würde, am Glauben der katholischen Kirche festzuhalten, jedenfalls nicht auf can. 1351 CIC/1917 berufen. Um dem Vorwurf Kleins, dass die Kirche im Bereich der Glaubensdelikte unrechtmäßigen Zwang ausübe, dennoch begegnen zu können, entwickelt Barion das Modell des bona fide errans – eines in seinem Gewissen gutgläubig bzw. nicht schuldhaft irrenden Katholiken. Gleichsam in konzentrischen Kreisen, wie es das II. Vatikanische Konzil in Bezug auf die gestufte Kirchengliedschaft getan hat, entfaltet Barion diese Figur: Dass ein Ungetaufter oder ein Nichtkatholik, der noch nie den katholischen Glauben angenommen hat, nicht wegen eines Glaubensdeliktes nach dem Gesetzbuch der katholischen Kirche bestraft werden könne, da ihm die Tat nicht als subjektiv schwer sündhaft zurechenbar ist, sei allgemein einsehbar, so die Argumentation des Kanonisten. Dieses Argument dehnt er nun – die Kreise der Kirchengliedschaft enger ziehend – auf den speziellen Umstand aus, dass „auch der frühere Katholik von den Strafen, die auf Glaubensdelikte stehen … nur soweit getroffen [wird], als er sich wider seine bessere Einsicht vom katholischen Glauben abwendet“175. Das im Umkehrschluss zum Ausdruck kommende Modell vom bona fide errans gründet auf der Annahme, dass „auch derjenige, der einmal mit Bewußtsein katholisch gewesen ist und sich dann vom der katholischen Kirche getrennt hat, im allgemeinen den Nachweis seines subjektiv guten Gewissens [wird] führen können, wenn er wirklich diesen Schritt aus Überzeugung getan hat“176. Obwohl Barion weiß, dass can. 2202 CIC/1917 keinen unverschuldeten Irrtum bei denjenigen anerkennt, die ausreichend Gelegenheit hatten, sich mit dem katholischen Glauben vertraut zu machen, möchte er die grundsätzliche Möglichkeit dennoch nicht 173 Ebd.,
314. 315. 175 Ebd., 308. 176 Ebd., 318. 174 Ebd.,
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Kap. 2: Die Rechtsfigur des Gewissenstäters
ausschließen, dass auch häretische Katholiken zu den haeretici bona fide errantes gerechnet werden können177. Im Bewusstsein, dass er damit eine äußerst umstrittene Annahme178 aufgreift, führt er auf diesem Weg die Idee einer Rechtsfigur des Überzeugungstäters in das katholische Kirchenrecht ein. Es muss aber klargestellt werden, dass Barion eine allgemeine Beschränkung des Kirchenrechts durch das subjektive Gewissen für ausgeschlossen hält. Ein Gewissen, das im Gegensatz zu dem steht, was die Kirche kraft göttlichen und katholischen Glaubens (vgl. can. 1323 CIC/1917/cc. 749, 750 CIC/1983) zu glauben vorlegt179, bezeichnet Barion als „irrendes“ Gewissen, welches nicht – und dies betont er ausdrücklich – „von der äußeren Bindung an die Kanones“180 befreit. Ein dem Recht entgegenstehendes subjektives Gewissensurteil suspendiere nie die äußere Verpflichtungskraft des Rechts, sondern das kanonische Recht könne „im äußeren Bereich die Rechtsbindung auch gegenüber der durch ein gutgläubig irrendes Gewissen vermittelten Freiheit“ beanspruchen, wofür bspw. die im Gesetzbuch zum Ausdruck gebrachte Präsumption bei der Zurechnung einer Straftat spreche (vgl. can. 2200 § 2 CIC/1917). Und diese „Rechtsbindung“ bleibe grundsätzlich „auch dann bestehen … wenn das gute Gewissen pro foro externo anerkannt werden kann oder muß“181. Die Beweislast für den gutgläubigen Irrtum trage der Delinquent selbst182. Dem dadurch entstehenden Zwiespalt zwischen rechtlicher und ethischer Beurteilung, weil ethisch – selbst im Fall eines Irrtums – die Befolgung des 177 Vgl. Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom kath. Kirchenrecht, 383. 178 Vgl. ebd.; vgl. dazu insb. auch Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 285–290. 179 Vgl. dazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR III, 24–56. 180 Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom kath. Kirchenrecht, 381. 181 Ebd.; vgl. ebd., 381 f.: Barion sieht in „diesem Vorrang der Rechtsbindung auch vor dem gutgläubig irrenden Gewissen … das eigentliche Problem des oben so genannten subjektiven Verhältnisses von Recht und Ethik im kanonischen Recht und das zweite Hauptproblem des Verhältnisses von Kanonistik und Moraltheologie überhaupt. Für den Ethiker muß dieser Vorrang höchst anstößig sein, für den Kanonisten ist es eine sehr schwierige Aufgabe, ihn zu rechtfertigen, und für den Moraltheologen ist es wohl noch schwieriger, der Ethik das zu geben, was die christliche Sittenlehre der natürlichen Ethik als ihrem Suppositum schuldet, ohne dem Kanonisten zugleich den Rückhalt an einer ethisch einwandfreien Systematisierung des göttlichen Kirchenrechts zu nehmen. Alle drei aber können eine theologisch korrekte Lösung des Problems nur finden, wenn sie strikte daran festhalten, daß die äußere Bindung als Ausfluß göttlichen Kirchenrechts auch ethisch relevant ist.“ 182 Vgl. Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 309.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts69
subjektiven Gewissensurteils geboten ist, rechtlich aber der Verpflichtungsanspruch des Rechtes bestehen bleibt, tritt Barion mit der Rechtsfigur des Überzeugungstäters entgegen. Die Lösung „für den Fall eines Zwiespaltes zwischen rechtlicher und ethischer Beurteilung eines äußeren Aktes“ liegt für den Kanonisten nun darin, dass die Rechtsordnung auf die Durchsetzung des „absoluten Vorranges der Rechtsbindung vor dem guten Gewissen“ verzichtet. Dass der Gesetzgeber „die Begrenzung der Rechtsbindung auf den äußeren Bereich“ intendiere, sei nach Auffassung Barions „durch die Klausel ‚in foro externo‘ “ erkennbar. „Das kanonische Recht spart also für diesen Fall die Rechtsfigur des pro foro interno gerechtfertigten oder Überzeugungstäters aus, eine Rechtsfigur, die der CIC für den Haupt- und wohl, was besonders zu prüfen wäre, einzigen Bereich, innerhalb dessen sie möglich ist, nämlich für die Glaubensdelikte, mit der Formel vom Haereticus vel schismaticus bona fide errans (c. 731 § 2)“183 umschreibe, so Barion. Damit werde auch ein „entscheidender Unterschied zwischen moraltheologischer und kanonistischer Bewertung des Gewissens“ offenbar: „… über die subjektive Sündhaftigkeit von Handlungen, die der ethischen Normierung widersprechen, entscheidet nur das Gewissen des einzelnen, und er ist nicht gehalten, soweit es um die Sündhaftigkeit dieser Handlungen geht, einen Beweis für sein gutes, wenn auch irriges Gewissen zu führen“; davon hebe sich jedoch aus kanonistischer Sicht die „Präsumption des c. 2200 § 2 CIC“ ab, „die dem Delinquenten pro foro externo die Beweislast auferlegt“184. Geistliche Strafen sind daher nach dieser Auffassung Barions im forum ex ternum solange wirksam, bis „die Tatsache seines subjektiv guten Gewissens nicht in eben diesem Forum externum erwiesen ist (c. 2218 § 2)“185, da bei der äußeren Verwirklichung eines deliktischen Tatbestands „die Sündhaftig keit, also die Gewissenswidrigkeit, präsumiert wird “186. Barions Modell vom Überzeugungstäter knüpft also inhaltlich über die Figur des bona fide errans hinausgehend ebenso an die in der Kanonistik herrschende Auffassung von der Verquickung von Delikt und Sünde187 an, welche davon ausgeht, dass der Deliktsbegriff immer „ein Peccatum subiec183 Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom kath. Kirchenrecht, 382. 184 Ebd., 381. 185 Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 309. 186 Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom kath. Kirchenrecht, 380. 187 Vgl. dazu Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 410 f.: „Schließlich ist die aus dem Deliktsbegriff mit seiner unauflöslichen Verklammerung von moraltheologischer und kirchenrechtlicher Schuld sich ergebende Frage nach dem Überzeugungstäter ein Hauptproblem des allgemeinen kirchlichen Strafrechts.“
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tivum“ voraussetzt, „und zwar für alle schweren Strafen“188. Dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sünde und Delikt ergibt sich durch die „unauflösliche Verklammerung von moraltheologischer und kirchenrechtlicher Schuld“189; daher kommt Barion zum Schluss: „Mit äußerem Zwang wie überhaupt mit kirchlichen Strafen“ könne und dürfe „die Kirche nur gegen einen Sünder einschreiten; … wo der ‚objektive‘ Delinquent sich subjektiv weder eines Dolus noch einer Culpa schuldig gemacht hat, hat der legitime Zugriff der Kirche auf den Delinquenten keinen Raum mehr“190. Im Hinblick auf die kirchenrechtliche Praxis bedeutet das nach Barion jedoch nicht, dass erst die Sündhaftigkeit der Tat bewiesen werden müsste bevor es zu einer Sanktionierung kommen könne, sondern nur, dass „das Delikt ausdrücklich auf die vom Strafrecht als Delikte gekennzeichneten Sünden beschränkt“ ist. „Die Sünde ist also Voraussetzung des Delikts (‚Erweiterung‘), wie es auch das moraliter imputabilis aussagt. Auf diese Weise bleibt die Strafe selbst ohne Rückbezug auf die genannte Voraussetzung“191. Analog dazu beschreibt Barion auch die „Begrenzung des Strafzieles“ im Fall des Gewissenstäters: „Die ‚äußere Rückführung‘ zum Gesetzesgehorsam wird zwangsweise erreicht, so daß die innere Gesinnung des bestraften Delinquenten (m. a. W. seine moralische Besserung) rechtlich unerheblich ist“192. Bei der Verhältnisbestimmung von Recht und Moral verfolgt Barion damit einen rechtspositivistischen Ansatz, welcher darauf hinausläuft, die Verquickung von Sünde und Recht grundsätzlich ernstzunehmen, aber dennoch Moraltheologie und Kirchenrecht so gut wie möglich voneinander zu trennen193. In der Frage schließlich, ob außerhalb der Rechtsfigur des bona fide er rans Glaubenszwang in der Kirche erlaubt ist oder mit göttlichem Recht in Widerspruch steht, legt sich Barion nicht eindeutig fest. Er beschränkt sich zunächst auf den exegetischen Befund, dass „vom Boden des geltenden kanonischen Rechts aus der äußere Glaubenszwang gegenüber Getauften auch nicht grundsätzlich als unzulässig erwiesen werden kann“; jedoch sei ersichtlich, „daß der CIC tatsächlich darauf verzichtet“. Eine abschließende Klärung 188 Hans
Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 317. Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 410 f. 190 Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 317; vgl. auch Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 407 f. 191 Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 274. 192 Ebd. 193 Vgl. ebd., 278; ebd., 284 f.: Kleinwächter weist darauf hin, dass Barion damit keine materielle Trennung der beiden Bereiche erreicht, denn in einem solchen Falle dürfte auch nicht auf die schwere Sünde als Grundlage des Delikts geschlossen werden. 189 Hans
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts71
über den „grundsätzlichen Anspruch der Kirche auf die Ausübung äußeren Glaubenszwanges“194 stehe aber noch aus, so Barion. Joseph Klein kann sich hingegen nicht vorstellen, dass es richtig sei, wenn die Kirche den „materiellen Häretiker, der aus unüberwindbarem Irrtum handelt“, als „Überzeugungstäter“ anerkenne, hingegen den „formellen“ Häretiker, der sich bewusst von der katholischen Kirche lossage, als „Überzeugungsverbrecher“ behandle195, denn – so seine weitere Analyse – „schon der ehrliche Versuch, sich für das Gespräch außerhalb seiner Bindung zu stellen“, erfordere „die Überschreitung des ihm allein gestatteten methodischen Zweifels“ und sei schon allein deshalb als „schwer sündhaft“ anzusehen196. Jedem Glaubensdelikt sei die Sünde des Ungehorsams gegen die Kirche und ihr Lehramt inhärent, welche sowohl das Verhältnis des Einzelnen zu Gott als auch zur Gemeinschaft der Kirche berühre197. Diese Problematik verweise in formaler Hinsicht auf „das Wesen des Katholizismus, seinen objektiven Wahrheitsbegriff und die aus ihm dogmatisch gezogenen absoluten und totalitären Rechtskonsequenzen“. Letztendlich entspreche eine solche „Glaubenshaltung … dem kanonisch verpflichtenden künstlichen Ghetto des Geistes der Kirche“ und widerlege „die von Hans Barion erfundene These, der Häretiker sei kanonisch gesehen ein Überzeugungstäter“198. Weil aber „das brachium saeculare“199 nicht mehr greife, sei die Kirche auf die „Waffe des Skandalon“ angewiesen und so dürfe dem „formellen Häretiker … die Folgen des Gesetzes keinesfalls erspart bleiben“200, so Klein. Den Vorwurf Joseph Kleins, dass sich die Kirche insbesondere mit der Sanktionierung des Glaubensdeliktes unrechtmäßig Gewalt über den höchstpersönlichen Akt anmaße, kontert Barion mit dem Hinweis, „daß Klein im Grunde die Exkommunikation nicht als solche, sondern nur … als Strafe ‚i. e. Sinne‘ beanstandet, also ihre kirchenrechtliche Bewertung und Verwendung als Maßnahme zur Rückführung des Delinquenten in die kirchliche Gemeinschaft. Kanonistisch gesprochen: Er möchte hier und vermutlich 194 Hans
Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 317. Klein: Skandalon, 35 ff., 50, 57; vgl. dazu insb. die cann. 1325 § 2, 2314 § 1 CIC/1917. 196 Joseph Klein: Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus, Vorwort VII. 197 Vgl. Joseph Klein: Skandalon, 33 f. 198 Joseph Klein: Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus, Vorwort VII f. 199 Mit dem Begriff „brachium saeculare“ spielt Klein auf den heute fast befremdlich wirkenden Gedanken eines Eingreifens des weltlichen Armes im Dienste der Kirche an, welcher im System der societas-perfecta-Lehre jedoch einen festen Platz einnahm – vgl. dazu can. 2198 CIC/1917; Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 407; Wilhelm Rees: Art. „Brachium saeculare“; Ludger Müller. § 2 Recht und Kirchenrecht, 20. 200 Joseph Klein: Skandalon. Um das Wesen des Katholizismus, Vorwort IX. 195 Joseph
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überhaupt die Exkommunikation von dem ihr positiv-rechtlich übergeordneten Gattungsbegriff der Poena medicinalis absetzen und nur im wörtlichen Sinne, als eine Ausgliederung aus dem Leib der Kirche, betrachten“. Nach Ansicht Barions unterscheidet sich daher die „Kirche der freien Gefolgschaft … von der kanonisch verfaßten Kirche im Grunde nur dadurch, daß sie die Exkommunikation nicht mehr medizinal, sondern repressiv oder, anders ausgedrückt, nicht mehr konstitutiv, sondern deklarativ auffaßt und diese Deklaration nicht schon dann vornimmt, wenn der Delinquent ein Glaubensdelikt setzt, sondern erst und nur dann, wenn er trotz dieses Delikts weiterhin in ihrer Sakramentsgemeinschaft verbleiben will“. Daraus ergebe sich „die überraschende Tatsache, daß Klein nicht nur das Ius excommunicandi, sondern auch den Usus iuris gegenüber Häretikern“201 anerkenne. Infolgedessen müsse Klein auch die Auffassung vertreten, dass es Aufgabe der „ ‚sichtbaren Rechtskirche‘ “ sei, den Häretiker zu zwingen, „zu seinem Gewissen zu stehen‘ “202. Barion bezeichnet daher die von Klein „angestrebte Wandlung der kanonisch verfaßten Kirche in eine Kirche der freien Gefolgschaft“ als „bloße positivistische Neuformulierung der sachlich unverändert bleibenden Forderung an den Häretiker, sich entweder zu unterwerfen oder auf die Gnadenmittel der Kirche zu verzichten“203. Wenn nun Barion davon ausgeht, dass mit der Konstruktion einer Rechtsfigur des Überzeugungstäters der „Vorrang der subjektiven Komponente des kirchlichen Delikts vor der objektiven“ gewährleistet und damit jeder „äußere Gewissenszwang“ unterbunden sei, so kann er dies zunächst deshalb, weil er die Exkommunikation (als Sanktion geistlicher Natur) nicht als Zwangsmaßnahme einordnet204. Sanktionen, deren Wirkung vom Gewissensurteil des Rechtssubjekts abhängig sind, können seiner Ansicht nach „eigentlich überhaupt keine Strafe im Rechtssinne“205 sein, da ihnen die äußere 201 Hans
Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts, 280. 281, mit Verweis auf Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 111. 203 Hans Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts, 281. 204 Vgl. Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 318. Barions Bewertung der geistlichen Strafen unterliegt einer gewissen Entwicklung: In früheren Äußerungen bestreitet er kategorisch, dass geistlichen Sanktionen Zwangscharakter zukomme, da diese „nur im Falle eines Schuldbewußtseins ihre Wirkung entfalten können“, und daher ohnehin nur bei denjenigen wirken, die sich schuldig fühlen; „Geistliche Strafen und gutes Gewissen schließen sich von Rechts wegen gegenseitig aus“ – vgl. Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 308–310. Andererseits ist anhand späterer Äußerungen Barions durchaus erkennbar, dass er sich unter gewissen Umständen bei geistlichen Sank tionen eine zwingende Wirkung auf die Adressaten vorstellen kann – vgl. bspw. Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom katholischen Kirchenrecht, 395. 202 Ebd.,
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts73
zwangsweise Durchsetzbarkeit fehle. Es sei jedoch kein Problem, wenn „Häresie und ihre Paralleldelikte“ nicht mit einer Strafe im Rechtssinne sanktioniert werden, da sie keiner „äußerlichen, gesellschaftlichen Sichtbarmachung durch das positive Recht“ bedürften „um wirklich zu sein“206. Eine Befreiung von allen kirchenrechtlichen Pflichten sei daher nicht nur für Nichtkatholiken durch eine „Generalklausel“ zu erreichen, sondern auch für diejenigen, die sich durch ein Glaubensdelikt von ihr wieder getrennt haben. Auf diese Weise werde die „Kirche der freien Gefolgschaft“ verwirklicht, „ohne daß sich ein dogmatisch unzulässiger Wandel ihrer Verfassung vollzogen hätte“, so die Überzeugung Barions207. Auf die Frage, ob angesichts des geistlichen Charakters der Exkommunikation ein Unterschied zu machen sei zwischen denjenigen, welche nichts mehr von der Kirche wissen wollen und diese freiwillig verlassen, und denjenigen, die in der Kirche Christi verbleiben wollen, aber dennoch aufgrund eines Gewissensurteils eine Lehre der Kirche nicht annehmen können, antwortet Barion folgendermaßen: „Um das an der Exkommunikation eindeutig klarzustellen: der Ausschluß aus der katholischen Kirche übt die von ihr gewollte beugende Macht nur auf das Gewissen dessen aus, der in ihr noch die einzige Kirche Christi sieht, die allein das Depositum fidei und allein die Sakramente verwaltet.“ Wem hingegen die Anforderungen der Kirche ohnehin nichts oder nichts mehr bedeuten, dem werde „die Inkurrierung der Exkommunikation gewissensmäßig gleichgültig sein“. Daraus schließt Barion, dass die „geistlichen Strafen“ der Kirche ohnehin nur diejenigen subjektiv verpflichten, „die auch subjektiv zur Kirche gehören wollen – wer das nicht will, bei dem fallen sie subjektiv ins Leere“. Zweifelsohne könne es dort zu „Tragödien des Gewissens“ kommen, „wo die objektive Eindeutigkeit der kirchlichen Lehre und die Härte des ihren dogmatischen Gehalt schützenden kanonischen Rechts mit seinen Strafen auf einen Verstand und einen Willen treffen, die weder die Kraft haben, das eigene Ich mit seinen subjektiven Meinungen und Strebungen in die objektive Gemeinschaft der katholischen Kirche einzufügen, noch die entgegengesetzte Kraft, das eigene Gewissen über die Lehre der Kirche zu stellen, wenn es von ihr abweicht“. Das aber seien letztlich „Tragödien des schwachen Gewissens, kleine Tragödien, die zu verhüten oder wieder aufzulösen Sache des Seelsorgers“ seien. „Eine grundsätzliche, theoretische Bedeutung für die 205 Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 277, 323; vgl. dazu Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 309 f. 206 Hans Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts, 275 f. 207 Ebd., 276. Die Begrenzung des Rechts durch eine solche Generalklausel dürfe nach Barion aber nicht so verstanden werden, dass der Kirche die grundsätzliche Befugnis fehlte, ihre Gesetzgebung auf nicht-katholische Getaufte auszudehnen – vgl. dazu ebd., 279 f.
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Tragweite des kanonischen Rechts“ komme solchen Fällen „nicht zu, weil auch in foro externo aus den geistlichen Strafen für den, der nicht (mehr) katholisch-gläubig ist, ein Glaubenszwang nur entstehen kann, wenn zu ihnen ein äußerer Zwang hinzutritt“208, so die Auffassung des Kanonisten. Daraus ist zu schließen, dass Zwang für Barion nur dann vorliegt, wenn die Möglichkeit einer Durchsetzung durch physische Zwangsmittel vorhanden ist. Praktisch war dies schon zur Zeit Barions jedoch nur mehr gegenüber jenen Gläubigen der Fall, die sich in einem besonderen Dienst- oder Loyalitätsverhältnis zur ihr befanden209. Wer also die Kirche verlassen wolle, werde von den Sanktionen geistlicher Natur nicht daran gehindert, so das Fazit Barions. Der Entzug der Gnadenmittel wirke „ex opere non operato“210. Barions Auffassung, dass geistliche Sanktionen nur in Kombination mit äußeren Zwangsmitteln als echte „Strafen“ bzw. als Maßnahmen mit Zwangscharakter qualifiziert werden können, veränderte sich jedoch mit der zunehmenden Einsicht über den geistlichen Charakter des Kirchenrechts. Letztlich ist es schwierig, den Äußerungen Barions zum Wesen der geistlichen Sank tionen eine endgültige Gewichtung im rechtspositivistischen Gesamtsystem des „göttlichen Kirchenrechts“ zuzuweisen. Das wohl bedeutendste Zugeständnis Barions kann diesbezüglich vielleicht darin erblickt werden, dass er in späteren Äußerungen zum kirchlichen Sanktionsrecht meinte, in seinem Gesamtentwurf den geistlichen Charakter des Kirchenrechts möglicherweise nicht genügend gewürdigt zu haben211. Der persönliche Zugang zu dieser erneuerten Sichtweise auf das Kirchenrecht blieb aber bis zuletzt sehr begrenzt212. Barions Verdienst ist es in diesem Zusammenhang – wie er selbst hervorhebt –, die „grundsätzliche Tragweite dieser positiven Regelung für die Frage des Glaubenszwanges“ so herausgearbeitet zu haben, „daß sie nicht als Korollar zu den Bemerkungen über den objektiven Anspruch der Kirche auf 208 Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 310; ebd.: „Nur derartiger äußerer, weltlicher Zwang, der erst aufhört, nachdem der Häretiker zur Kirche zurückgekehrt ist, kann als eigentlicher Zwang verstanden werden.“ 209 Vgl. ebd., 311. 210 Ebd., 312. 211 Vgl. dazu Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 277: „Zwar gibt er in seiner letzten Äußerung zum kirchlichen Strafrecht zu, daß die positiv-rechtliche Ausformung des damals geltenden kanonischen Rechts nicht voll diesem ‚Grundgedanken‘, der den geistlichen Charakter des kirchlichen Strafrechts in Abgrenzung vom weltlichen betrifft, entsprach. Er fügt aber gleich einschränkend hinzu, daß daraus nicht ein Widerspruch der ‚Caritas‘ zum ‚Ius‘ abgeleitet werden dürfe“, mit Verweis auf Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 408. 212 Vgl. Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 314 f.; Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 22.
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äußeren Glaubenszwang erörtert werden, sondern den Gegenstand einer selbständigen Schlußbetrachtung … bilden“213.
III. Der Ertrag aus der Auseinandersetzung zwischen Joseph Klein und Hans Barion für eine Rechtsfigur des Gewissenstäters Joseph Klein beharrt mit der Forderung einer Kirche der freien Gefolgschaft darauf, dass sich die christliche Existenz in der Erfüllung objektivierbarer (rechtlicher) Verpflichtungen nicht nur nicht erschöpft, so als ob „alles Religiös-Ethische im Gehorsam gegenüber rechtlichen Vorschriften aufginge“, sondern dass diese objektiven Verpflichtungen mit der konstitutiven kirchlichen Existenz unvereinbar sind. „Ein solches legalistisches Mißverständnis“ widerspricht seiner Auffassung nach „der Tatsache, daß es ein religiös-ethisches Handeln gibt, das über formulierbaren Forderungen hinausliegt und in der christlichen Freiheit gründet“214. Die Durchsetzung dieser Freiheit führt ihn zum Aufruf einer Begrenzung des kirchlichen Rechts anhand einer „Kirche der freien Gefolgschaft“. Ein wesentlicher Teil der von Klein propagierten Begrenzung des Kirchenrechts besteht darin, die Sanktionsgewalt der Kirche auf jene Christen zu beschränken, „die sich [tatsächlich] zu ihr bekennen“215. Das Mittel der Exkommunikation steht gemäß einer solchen Auffassung dann nicht mehr als Strafe zur Verfügung, sondern nur mehr als deklarative Feststellung des Selbstausschlusses eines Gliedes aus der äußerlich sichtbaren Gemeinschaft der Kirche, der keinerlei konstitutive Kraft für die tatsächliche Kirchengliedschaft zukommt, weil der Kirche die potestas über den für die Kirchengliedschaft konstitutiven Glaubensakt fehlt216. Aufgrund des Modells einer Kirche der freien Gefolgschaft ergibt sich der Auftrag der „sichtbaren Rechtskirche“, jeden Gläubigen, auch den Häretiker, zu „zwingen, zu seinem Gewissen zu stehen“217, wie es Klein – über das Ziel 213 Hans
Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 317. Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 24, mit Verweis auf Joseph Klein: Kanonistische und moraltheologische Normierung in der katholischen Theologie, 30–34 und Joseph Klein: Die Verwirklichung des Christlichen in katholischer und protestantischer Sicht, 402 ff. 215 Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 111. 216 Das sakramentale Geschehen ist bei Klein ebenso getrennt vom Rechtsbereich. Die Taufe verleiht zwar eine unwiderrufbare Zugehörigkeit zur „ontisch-sakramentalen Gemeinschaft“ der Kirche, doch davon getrennt zu behandeln ist die Zugehörigkeit zur sichtbaren Rechtskirche – vgl. Joseph Klein: Modernes Rechtsdenken und kanonisches Recht, 192–195. 217 Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 111. Freilich schießt Klein mit der Formulierung „zwingen“ nach dem heutigen Verständnis der 214 Peter
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hinausschießend – formuliert. Der Glaubensvollzug muss in einem solchen System immer freigehalten werden von jedem äußeren Zwang auf das Gewissen und darf keinesfalls vom Argument des Gehorsams gegenüber rechtlichen Normen der Kirche überformt werden. Diese Voraussetzungen sind nach der Ansicht Kleins innerhalb der katholischen Kirche freilich nicht verwirklicht, denn dort werde „die religiöse Entscheidung … degradiert … zur gehorsamen Befolgung der kirchlichen rechtsdogmatischen Norm. Mit der aufgehobenen Entscheidungsfreiheit zum Glauben“ eliminiere sie „die Möglichkeit des sacrificium conscientiae, das für die Rechtskirche infolge der Objektivation der Offenbarungswahrheit im sacrificium intellectus auf geht“218. Und so sei schon allein „die Behauptung der Möglichkeit eines sacrificium conscientiae seitens des Gläubigen ein Angriff auf den in der Kirche fortlebenden Christus“219, wie Klein mit Blick auf Barions Versuch der Integration des Überzeugungstäters ins kanonische Recht resümiert. Die große analytische Leistung Hans Barions bei seiner Beschäftigung mit Rudolph Sohm bestand insbesondere im Nachweis, dass jedes Kirchen(rechts) modell auf antekanonistischen Glaubensentscheidungen beruht220. Trotz dieser Einsicht nimmt er die Forderung Kleins nach einer Kirche der freien Gefolgschaft inhaltlich sehr ernst und erkennt darin einen Stachel im Fleisch des katholischen Kirchenrechts. Barion antwortet mit der Rezeption von Kleins „Entscheidungsfrage“ nach der Zulässigkeit von Glaubenszwang auf Getaufte221. Die Frage nach der Möglichkeit und Erlaubtheit der Ausübung von Zwang auf das Gewissen eines Delinquenten kann nach Barion nicht letztgültig geklärt werden. Während das positive Recht die Unerlaubtheit nur für die Annahme des katholischen Glaubens normiere, sage es insbesondere über jene Christgläubigen nichts aus, die vom Glauben der Kirche wieder Abstand nehmen. Barions System des göttlichen Rechts ist auf eine möglichst strikte Trennung von moraltheologischen und rechtlichen Elementen ausgerichtet. Ziel dieser Bemühung ist es, innerhalb der „Kanonistik die moraltheologischen Einschlüsse in ihrem System zu beseitigen“. Das gelinge, „wenn sie nach der objektiven Seite hin das kanonische Recht, und zwar zunächst das göttliche, Freiheit des Gewissens über das Ziel hinaus. Denn der menschlichen Würde der Person entspricht es, frei und nicht durch Zwang seinem Gewissen zu folgen. 218 Joseph Klein: Skandalon, 25. 219 Ebd. 220 Vgl. Hans Barion: Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, 102; vgl. dazu Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 22; Thomas Schüller: Auslegung von Gesetzen im Kirchenrecht, 133–136. 221 Vgl. Hans Barion: Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts, 315.
B. Von der Tragweite des kanonischen Rechts77
konsequent als auf die Gemeinschaft der sichtbaren Kirche und nur auf sie bezügliches Recht versteht, und wenn sie nach der subjektiven Seite hin ebenso konsequent an dem Vorrang der Rechtsbindung vor der individuellen ethischen Entscheidung, bei Verzicht auf äußeren Strafzwang, festhält, und diesen Vorrang aus dem göttlichen Kirchenrecht herleitet und so ethisch rechtfertigt“, so die Überzeugung Barions. Die „Zuschreibung ethischer Relevanz an das Ius divinum“ beruht auf einer „antekanonistischen Glaubens entscheidung“222, welche in jedem Kirchenrechtssystem unausweichlich sei. Das Problem ist nun jedoch, dass im Fall des kirchlichen Deliktes nach herrschender Auffassung die Interdependenz zwischen subjektiver Sündhaftigkeit und Recht nicht völlig aufgelöst werden kann. Die Lösung, die Barion für dieses Problem vorschlägt, ist die Rechtsfigur des bona fide errans, in deren Fall auf eine äußerliche Sanktionierung der Tat zu verzichten sei, obwohl formal gesehen die Rechtsbindung weiterhin bestehen bleibe. Ob es die Möglichkeit eines gutgläubig irrenden Häretikers im kirchlichen Sanktionsrecht aber überhaupt geben kann, ist eher zweifelhaft, wie schon Joseph Klein vermutete: „Barions Denken ist auf die echte religiöse Gewissensentscheidung gerichtet. Nach ihm ist sie für und gegen die Kirche möglich … Der Nachweis des subjektiv guten Gewissens dessen, der sich von der Kirche getrennt hat, ist für die katholische Theologie der Nachweis seiner bedauerlichen ignorantia invincibilis, die im tatsächlich ihm selbst gegenüber geglückten Nachweis vom Häretiker überwunden würde, also seine Rekatholisierung zur Folge haben müßte. Für den angeklagten Delinquenten ist ein solcher Nachweis unmöglich. Wie sollte der Nachweis der ignorantia invincibilis möglich sein, ohne in die ignorantia vincibilis und dann in die gnaritas [Kenntnis] überzugehen, um sich als felix error umarmen zu lassen … Aber die Kirche nimmt als absolutistisches und totalitäres System ihren Gliedern die Gewissensentscheidungen ab, vor allem die von Barion in seiner These vom Überzeugungstäter als echtes Phänomen anerkannte religiöse Gewissens entscheidung“223. Zweifelsohne sind diese Bedenken Kleins über das Modell vom bona fide errans nicht völlig von der Hand zu weisen. So fragt auch Marietherese Kleinwächter, ob es zulässig bzw. angemessen sein kann, „Barion folgend den Gewissenstäter in Glaubensfragen zu akzeptieren, aber den Häretiker weiterhin als ‚Glaubensverbrecher‘, dessen sittlich-religiöser ‚Schiffbruch‘ im Gewissensbereich als Delikt öffentlich bekannt wurde und automatisch 222 Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom katholischen Kirchenrecht, 383 f. Das heißt, dass gemäß Barion die „Frage des Kirchenrechts nur aus dem Glauben beantwortet werden kann“ – vgl. Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 22. 223 Joseph Klein: Skandalon, 37 f.
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die schwerste aller kirchlichen Strafen nach sich zieht, zu kennzeichnen“224. Kleinwächter verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die nachkonziliare Auseinandersetzung über die Angemessenheit der Tatsanktionen (poenae latae sententiae), welche die Aktualität dieser Auseinandersetzung zwischen Klein und Barion noch einmal unterstrichen habe. Möglicherweise war aber Barion selbst mit dem Modell des bona fide errans nicht ganz zufrieden, denn gegen Ende seiner Forschungsarbeit, in Einsicht der Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung des geistlichen Charakters des Kirchenrechts, schlug er „eine andere Begrenzung des kirchlichen Strafrechts“ vor, „die im Wesen der poena latae sententiae angelegt war“ und „die Begrenzung des rein geistlich gewordenen kirchlichen Strafrechts durch das subjektive Gewissen“ vorsah225. Wie eine solche Begrenzung des Kirchenrechts angesichts des geistlich „gewordenen“ Rechts konkret aussehen könnte, hatte Barion aber nicht mehr zur Ausführung gebracht. Diesen Wandel Barions wertet Kleinwächter als „pragmatisches Zugeständnis an die veränderte Zeitlage“, in „Anlehnung an päpstliche Verlautbarungen zu Toleranz und Gewissensfreiheit“226. Weder Kleins Modell einer Kirche der freien Gefolgschaft noch Barions System des göttlichen Rechts kann aufgrund des jeweils zugrundeliegenden Kirchenmodells und der glaubensmäßigen Vorentscheidungen ohne jede Einschränkung übernommen werden. Wie aber Peter Krämer zu Recht betont, hat sich das „Klein’sche Anliegen, das vielfach verdrängt und in allzu pauschaler Weise verdächtigt worden ist, … im nachhinein als durchaus berechtigt erwiesen“227, wenngleich unter dem Vorbehalt gewichtiger Modifikationen. Die erste Modifikation, die Krämer vorbringt, betrifft dessen „individualistisch verengte“ Sicht des Verhältnisses des Menschen zu Gott. So ist an Kleins Konzeption zu kritisieren, dass es darin keine tragende Verbindung mehr zwischen Glaubensakt und Glaubensgehalt gibt. Durch die Überhöhung des freien Glaubensaktes (fides qua creditur) entsteht der Eindruck, als sei der Glaubensinhalt, die fides quae creditur, nur „Zweitrangiges“ oder gar etwas Vernachlässigbares. Demgegenüber hebt Krämer zu Recht hervor, dass Glaubensfreiheit nicht bedeuten kann, dass der Glaube der Kirche, das depo situm fidei, zur individuellen Disposition steht. Bei den Glaubensakten handelt es sich ja „nicht bloß um isolierte Akte religiöser Innerlichkeit, sondern 224 Marietherese
Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 326. 277. 226 Ebd., 312 f. 227 Peter Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“, 7; ebd., 5: „Wie die Kritik im einzelnen auch aussehen mag, aus heutiger Sicht müssen wir uns fragen, ob es nicht zu einer gemäßigten Rezeption dessen kommen kann, was Klein vor dem II. Vatikanischen Konzil vertreten hat. Lassen sich doch vom Klein’schen Ansatz … interessante Verbindungen zur nachkonziliaren Entwicklung herstellen.“ 225 Ebd.,
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um ein Handeln aus Freiheit, das sich notwendig innerhalb einer bekennenden Gemeinschaft entfaltet, auf sie verwiesen und mit ihr in einer ursprünglichen Weise verbunden bleibt“228. Insofern ist der Glaubensakt immer eingebunden in das „Wir“ der kirchlichen Communio. Eine Anerkennung dieser religiösen Freiheit bedeutet daher nicht die Relativierung des kirchlichen Wahrheitsanspruchs – weder als Voraussetzung noch als Folge –, sondern ein Freisein im persönlichen Verhältnis zu diesem. Eine solche Freiheit zu gewährleisten und zu schützen, ist zweifelsohne Aufgabe der Kirche229. Eine zweite Modifikation, die Peter Krämer hinsichtlich Kleins Modell vorschlägt, betrifft dessen Vorwurf der „Verrechtlichung“ bzw. „Objektivation“ des Glaubens230. Unter dem Stichwort „Verrechtlichung“ wird nicht die Existenz des kirchlichen Rechts im Allgemeinen angesprochen, sondern die unangemessene Vereinnahmung des Glaubens durch rechtliche Normierung. Dem Kirchenrecht kommt in Kleins System keinerlei konstitutive, sondern nur regulative Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft zu231. Wie jedoch anhand der Versuche einer theologischen Grundlegung des Kirchenrechts gezeigt werden kann, ist der Glaube nicht nur rechtlicher Transformation zugänglich, sondern Glaube und Recht stehen in einem konstitutiven und unauflösbaren Zusammenhang232. Wenn nun gemäß der Einsicht Barions der 228 Peter Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“, 8; vgl. dazu auch Joseph Rat zinger: Theologische Prinzipienlehre insb. 40–42; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Einführende Worte zum 3. Tag des Newman-Symposions, 12; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 96; Hubert Socha: MKCIC 11/8 f., Rdnr. 16 (Stand Februar 2012). 229 Vgl. Joseph Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz; Marianne HeimbachSteins: Religionsfreiheit, 19 f. 230 Vgl. dazu Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 114–118; Peter Krämer: Das Recht im Selbstvollzug der Kirche. 231 Vgl. Peter Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“, 4–8; vgl. zur bloß ordnenden Funktion des Kirchenrechts auch die Ausführungen Peter Huizings, die im Ergebnis durchaus kritisch zu betrachten sind: Peter Huizing: Die Kirchenordnung; Peter Huizing: Reform des kirchlichen Rechts; Peter Huizing: Reichweite und Grenzen des positiven Rechts im Vergleich zur Sittlichkeit; Peter Huizing: Um eine neue Kirchenordnung. 232 Vgl. insb. Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici I, 14; Klaus Mörsdorf: Zur Grundlegung des Rechtes der Kirche; Klaus Mörsdorf: Wort und Sakrament als Bauelemente der Kirchenverfassung; vgl. auch Aymans/Mörsdorf: KanR I: 1–38; ebd., 29: „Die Position Sohms ist der äußerste denkbare Widerspruch gegen das Kirchenrecht. Eine Antwort hierauf ist letztlich nur theologisch möglich, indem aufgewiesen wird, daß die Kirche kraft ihres Wesens auch rechtlichen Charakter hat“; Ludger Müller: Die „Münchner Schule“; Ludger Müller: Der Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung; Peter Krämer: Katholische Versuche einer theologischen Begründung des Kirchenrechts; Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts.
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Glaube den Kirchenbegriff bestimmt, dann gehört auch das Recht konstitutiv zur Kirche. Die Väter des II. Vatikanischen Konzils waren sich der Gefahr einer „Verrechtlichung“ des Glaubens durchaus bewusst233. Die Konzilsdebatten waren deshalb über weite Strecken hinweg von einem Protest gegen einen übermäßigen Juridismus geprägt. Bei der Verfassung der Konzilsdokumente wurde über weite Strecken bewusst auf juridische Terminologie verzichtet, nicht jedoch mit der Konsequenz, dass die konstitutive Bedeutung des kirchlichen Rechts verneint worden wäre – im Gegenteil: Die Bemühung um ein theologisch angemessenes Kirchenbild führte im Anschluss an das II. Vatikanische Konzil dazu, das Kirchenrecht bewusst theologisch zu begründen und anhand der Wesensvollzüge der Kirche zu fundieren. Den Beschlüssen des II. Vatikanischen Konzils standen aber sowohl Klein als auch Barion – wenngleich aus „völlig entgegengesetzten Beweggründen“ – sehr kritisch gegenüber234. Während Ersterer die Entwicklungen innerhalb der katholischen Kirche als eine weitere Vertiefung des Risses zu den reformatorischen Kirchen interpretierte, da seiner Auffassung nach „eine falsche Idee von Wahrheit an einen verkehrten Glauben“235 geheftet wurde, ortete Barion in den Beschlüssen des Konzils einen „Verfall“ des kirchlichen Rechts236. Diese negativen Reaktionen auf beiden Seiten gegenüber den Beschlüssen des II. Vatikanums können jedoch vielleicht als Indiz dafür gedeutet werden, dass die ekklesiologischen Akzente des Konzils eine Art Mittelweg zwischen den extremen Ansätzen Kleins und Barions darstellen. In den Aussagen des II. Vatikanums lassen sich jedenfalls Berührungspunkte zu beiden Positionen finden. Insbesondere wurde mit einer „Eindringlichkeit, die hinter J. Klein nicht zurücksteht, die Freiheit der Glaubensentscheidung ausdrücklich anerkannt“237, wie Krämer hervorhebt. Herausragend ist dies bezüglich sicherlich die Erklärung über die Religionsfreiheit, in der es im Punkt 2,1 heißt: „Das Vatikanische Konzil erklärt, daß die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, daß alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang, sowohl von seiten Einzelner 233 Es ging vor allem auch um die Einsicht, dass das Recht das Mysterium der Kirche und des Glaubens nicht umfassend zu beschreiben imstande ist – vgl. dazu Winfried Aymans: § 3 Die Kirche. 234 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 90; vgl. dazu die Übersicht ebd., 90–119. 235 Joseph Klein: Vom Werden und Wesen der Moralsysteme, 520; vgl. ebenso Joseph Klein: Was trennt uns heute von Katholiken, 21. 236 Hans Barion: „Weltgeschichtliche Machtform“, 605 Fn. 19; vgl. ebenso Hans Barion: Das Zweite Vatikanische Konzil. Kanonistischer Bericht, 513–518; Hans Ba rion: Das konziliare Utopia. 237 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 95.
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wie von gesellschaftlichen Gruppen wie von jeglicher menschlicher Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen werden wird, gegen sein Gewissen zu handeln, nicht daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln.“ Die Auseinandersetzung zwischen Joseph Klein und Hans Barion über die Tragweite des kirchlichen Rechts wurde freilich noch nicht unter dem Aspekt geführt, ob einem etwaigen Menschenrecht auf Gewissensfreiheit, das hier in DH 2,1 möglicherweise angesprochen wird, innerkirchliche Relevanz zuzumessen ist238. Dennoch kann die Bedeutung dieser intensiven Diskussion zwischen Barion und Klein nicht nur für den Bereich der Grundlagenforschung, sondern insbesondere auch hinsichtlich einer Auswertung der ekklesiologischen Rahmenbedingungen bei der Frage nach einer Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht kaum überschätzt werden.
C. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Recht I. Der „Gewissenstäter“ als „Rechtsfigur“ – Begriffsklärungen 1. Die Beschränkung auf den „Gewissenstäter“ Im Bereich des weltlichen Rechts ergibt sich die Notwendigkeit eines Nachdenkens über das normative Phänomen des Gewissenstäters vor allem aus der Formulierung der neuzeitlichen Freiheitsrechte, insbesondere der Gewissensfreiheit, die in der unumstößlichen Würde der Person grundgelegt ist. Der Gewissensfreiheit liegt als schützenswertes Rechtsgut die Anerkennung des Gewissens als der innersten Mitte der menschlichen Person zugrunde. Der Gedanke von der unumstößlichen Würde des Gewissens als innerste Personenmitte genießt in der Kirche eine lange Tradition, die weitaus älter ist 238 Barion hat sich mit dem Thema „Menschenrechte“ in einem Vortrag beschäftigt, der schriftlich nicht erhalten ist. Er erwähnt in einem Brief an Carl Schmitt vom 26. März 1971 (vgl. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) RW, 265–1060), dass er am 5. April 1971 in Bremen vor dem „Evangelischen Arbeitskreis für kulturelle Fragen“ zum Thema „Kritische Intelligenz? Die Dialektik der Menschenrechte“ sprechen werde. Aus dem Briefinhalt an Schmitt geht hervor, dass Barion „in einem theoretischen Teil“ dieses Vortrags darlegen wollte, „daß Menschenrechte, politisch verstanden, nur Dezisionen sein können und zu dem sogenannten Naturrecht keine Beziehung haben“ – vgl. Thomas Marschler: Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts, 387, mit Verweis auf Hans Barion: Kirche oder Partei? Römischer Katholizismus und politische Form, 492–499.
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als jene der neuzeitlichen Freiheitsrechte. Doch nicht nur hinsichtlich dieser Tradition hebt sich die kirchliche Rechtsordnung deutlich von der weltlichen ab, sondern auch hinsichtlich der tatsächlichen Bedeutung des Gewissens für die jeweilige Rechtsordnung. Die Beachtung der Würde des Gewissens ist in der Kirche umso prekärer, als sie eine Gesinnungs- und Glaubensgemeinschaft darstellt, in der erhebliche Teile ihres Rechts hinsichtlich der tatsächlichen Wirksamkeit von der Rezeption im Gewissen der Rechtsadressaten abhängig sind. In der bisherigen Abhandlung wurden die Begriffe „Überzeugungstäter“ und „Gewissenstäter“ synonym verwendet239. Um begriffliche Klarheit zu schaffen, soll für das weitere Vorgehen mit Ulrich Bopp folgende Festlegung getroffen werden: „… unter den vielen mutmaßlichen ‚Überzeugungstätern‘ sollen nur diejenigen betrachtet werden, die eine Straftat allein deshalb verwirklichten, weil jedes andere Verhalten von ihrem ‚Gewissen‘ verurteilt worden wäre“240. Das Gewissen ist nämlich „nicht nur gleichsam der ‚Sitz‘ der Überzeugungen eines Menschen; es verleiht solchen Überzeugungen zugleich eine erhöhte Verbindlichkeit … Im Gewissen bindet sich der einzelne als Person an seine Überzeugung.“241 Gerhard Höver präzisiert daher, dass ein Handeln gegen das eigene Gewissen nicht nur eines gegen die eigene Überzeugung ist, sondern ein Handeln „gegen sich selbst, gegen sein Personsein“242. Sachlich gesehen ist daher die Beschränkung auf den Gewissenstäter im Bereich des kanonischen Rechts durchaus geboten und angemessen, da es sich um das Recht einer Glaubensgemeinschaft handelt, deren innerster und wesentlichster Ausdruck der gemeinsame Glaube ist, welcher je persönlich im Gewissen verantwortet werden muss. In weiterer Folge wird daher in dieser Arbeit nur mehr vom „Gewissenstäter“ die Rede sein, es sei denn, eine zitierte Quelle verwendet eine davon abweichende Terminologie.
239 Vgl. dazu vor allem die Arbeit von Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 113 ff. Seine Untersuchung widmet sich diesem typologischen Problem im weltlichen Recht. 240 Ulrich Bopp: Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 24; vgl. auch Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 235; Hans Welzel: Das Deutsche Strafrecht, 176 ff. 241 Traugott Koch: Autonomie des Gewissens als Prinzip einer evangelischen Ethik, 313; vgl. dazu auch Johannes Gründel: Verbindlichkeit und Reichweite des Gewissensspruches, 100–103. 242 Gerhard Höver: Einleitung – Normativität und Gewissen, 17.
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2. Der Gewissenstäter als Rechtsfigur im kanonischen Recht Die vorliegende Untersuchung stellt die Frage nach einer „Rechtsfigur“ im kanonischen Recht243 und damit danach, ob sich eine derartige typologische „Figur“ bzw. „Umrissgestalt“ im kirchlichen Rechtssystem feststellen lässt. „Kann eine ‚Figur‘ ausgemacht werden, stellt sich in aller Schärfe das Pro blem, ob sie lediglich eine unverbindliche theoretische ‚Denkfigur‘ oder aber eine ‚Rechtsfigur‘, d. h. ein normatives Phänomen, sein kann.“244 Mit der Rechtsfigur als normativem Phänomen ist ein „Problemlösungsgedanke“ im Rechtsbereich gemeint, „der als Antwort auf eine Frage gedacht ist, die sich aus dem Rechtssystem selbst“ ergibt oder aber auch „ ‚von außen‘ an das System gestellt worden ist“245. Die vorhergehende Darstellung der Diskussion zwischen Klein und Barion über die Tragweite des kanonischen Rechts hat klar gezeigt, dass sich das Problem des Gewissenstäters aus dem System des kirchlichen Rechts ergibt. Trotz der Beschränkung des kirchlichen Sanktionsanspruchs auf Christen, die in der katholischen Kirche die Taufe empfangen haben oder in diese aufgenommen worden sind (vgl. c. 11 CIC/1983), bleibt die Frage bestehen246, ob die Kirche mit ihren Sanktionen möglicherweise unrechtmäßigen Zwang auf das Gewissen jener Christgläubigen ausübt, die aufgrund eines persönlichen Gewissensurteils ein sanktionsbewehrtes Gesetz der Kirche übertreten. Diese Frage ist insbesondere dort zu prüfen, wo nach herrschender Lehre Zwangscharakter und Besserungszweck aufeinandertreffen. Wie Klein und Barion zudem aufgezeigt haben, stellt sich das Problem des Gewissenstäters auch auf Ebene der Schuld, da der kirchliche Deliktsbegriff nach herrschender Lehre die subjektive Zurechnung eines schwer sündhaften Verhaltens als Voraussetzung hat. Dass es sich bei diesen genannten Problemen um solche systemischer Natur handelt, wird insbesondere im Fall der sogenannten Glaubensdelikte offensichtlich. Zudem wird mit der Etablierung des Menschenrechts auf Gewissensfreiheit auch die kirchliche Rechtsordnung mit der Frage konfrontiert, wie sie selbst mit diesem Menschenrecht umgeht und welche Bedeutung sie ihm gegebenenfalls zumisst. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich angebracht, bei der Frage nach dem Gewissenstäter im kanonischen Recht von einem normativen Phänomen, d. h. von einer Rechtsfigur, auszugehen. 243 Weiterführende Literaturhinweise zur Verwendung des Begriffes „Rechtsfigur“ im Recht vgl. Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 14 Fn. 14. 244 Ebd., 14 f. 245 Ebd., 15 Fn. 14. 246 Vgl. Peter Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“, 7.
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II. Die Definition der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Recht Wenn eingangs darauf hingewiesen wurde, dass Parallelen bzw. Vergleiche zum weltlichen Recht nur noch dort eingebracht werden sollen, wo sie für die weitere Untersuchung und Fragestellung nützlich und angemessen erscheinen, dann ist dies bei der Definition des Gewissenstäters durchaus der Fall. Ulrich Bopp legt für das weltliche Strafrecht folgende Beschreibung des Gewissenstäters vor: „Der Gewissenstäter läßt sich demnach als ein Mensch beschreiben, der eine strafrechtlich sanktionierte Norm bewußt übertritt, weil ihm sein Gewissen, sei es allgemein, sei es nur in einer konkreten Situation eine der Norm entgegengesetzte Verhaltensanweisung gibt.“247 Diese Definition kann mit einigen Erklärungen und Einschränkungen, die in der Folge angeführt werden, tatsächlich auch ins kirchliche Recht übertragen werden. Zunächst ist für das Kirchenrecht eine Einschränkung hinsichtlich der Täterschaft zu erwähnen: Potentieller Adressat des kirchlichen Gesetzes ist derjenige, der „in der katholischen Kirche getauft oder in diese aufgenommen worden“ ist, „hinreichenden Vernunftgebrauch“ besitzt und das siebente Lebensjahr vollendet hat, sollte es nicht ausdrücklich anders normiert sein (vgl. c. 11 CIC/1983). Hinsichtlich der Sanktionsnormen sind zudem die Einschränkungen des c. 1323 CIC/1983 zu berücksichtigen, wie bspw. die Anhebung des Alters für die Deliktsfähigkeit auf das vollendete 16. Lebensjahr. Insofern kommt unter Beachtung der genannten Einschränkungen nur ein katholischer Delinquent als Gewissenstäter im kanonischen Recht in Frage248. Angesichts der engen Verquickung von Recht und Sitte im kirchlichen Bereich scheint zudem die Klarstellung angebracht zu sein, dass der Gewissenstäter nur dort von Relevanz ist, wo sich sein Aufbegehren gegen eine Rechtsnorm und nicht ausschließlich gegen eine rein sittliche Norm richtet. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters handelt im kanonischen Recht des Weiteren nicht über Fälle eines objektiv ungerechten oder unvernünftigen Gesetzes249, das im kirchlichen Bereich „regelmäßig nicht verpflichtet“250. 247 Ulrich Bopp: Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 26; vgl. weitere Definitionen im staatlichen Recht – Joachim Sproß: Die Unrechtsund Strafbegründung bei dem Überzeugungs- und Gewissenstäter, 67. 248 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 238: „Im Licht der Konzilstheologie wird klar, daß es zum Zustandekommen eines Delikts der Häresie neben dem subjektiven Element der vorsätzlichen Zurückweisung einer geoffenbarten Wahrheit und dem objektiven der äußeren Bekundung dieser Ablehnung … noch eines weiteren objektiven Elementes bedarf: der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche.“ 249 Vgl. dazu Wilhelm Rees: § 9 Die Rechtsnormen, 136.
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Im Fall des Gewissenstäters innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung geht es um ein Aufbegehren gegen das gerechte und vernünftige Gesetz, denn nur einem solchen kommt nach herrschender Ansicht Verbindlichkeit und Rechtskraft zu251. Für das gerechte Gesetz, das in einem konkreten Einzelfall ungerecht wird, sieht das kanonische Recht verschiedene Instrumente der Einzelfallgerechtigkeit vor. Für die Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht ir relevant ist daher der Fall, in dem die Verpflichtungskraft eines Gesetzes im Einzelfall zessieren kann, weil z. B. seine Erfüllung einen zu großen Nachteil mit sich bringen würde. Nicht betroffen sind ebenso alle Fälle, in denen das kanonische Recht die Anwendung von Epikie oder kanonischer Billigkeit anerkennt252. Und abgesehen wird schließlich auch vom Rechtsinstitut der Dispens (cc. 85–93 CIC/1983)253. Georg May sieht in der Gewissenstäterschaft zudem auch keinen typischen Fall einer „Pflichtenkollision“. Diese Entscheidung hat offenbar ihren Grund darin, dass der Gewissenstäter niemals rechtlich, sondern moralisch verpflichtet ist, seinem Gewissensurteil Folge zu leisten. In diesem Sinne besteht kein allgemeiner Vorbehalt der objektiven Verpflichtungskraft einer Norm zugunsten eines subjektiven Gewissensurteils254. 250 Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 146; Georg May: Das Glaubensgesetz, 107. 251 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 4: „Widerspricht ein Rechtssatz dem natürlichen Recht, so fehlt ihm der sittliche Charakter; er ist kein wahres Recht und kann nicht im Gewissen verpflichten“; vgl. dazu Thomas von Aquin: STh. I–II q. 95 a. 2 ad 4: „Iam non erit lex, sed legis corruptio“. 252 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 176 ff., 271 f.; ebd., 189: „Mit dem auf Epikie beruhenden Gewissensentscheid, daß ein Gesetz im konkreten Fall nicht verpflichte, hat die Rechtsfindung gegen das geschriebene Recht die Wurzel gemeinsam, die Be rufung auf ein höheres Recht und dessen Verankerung im Gewissen. Beide haben eine gemeinsame Grenze an dem unabänderlichen göttlichen Recht“; Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 156: Epikie hat auch nichts mit dem irrigen Gewissen zu tun, da diese ein „richtig gebildetes Gewissen“ voraussetzt, während eben beim irrigen Gewissen dieses gerade nicht „richtig gebildet“ ist. Zudem „kennt und bejaht“ Epikie das Gesetz, „während das irrige Gewissen es verkennt und verneint“. 253 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 269 ff.; vgl. Joseph Lederer: Der Dispensbegriff des kanonischen Rechtes unter besonderer Berücksichtigung der Rechtssprache des CIC; Peter Landau: Art. „Dispens“. 254 Dennoch ist anzumerken, dass zumindest im Bereich des kanonischen Rechts die Verpflichtungskraft einer Rechtsnorm nicht aus ihrer rechtlichen Qualität an sich erwächst. Im Fall einer Kollision zwischen einer Rechtsnorm und dem subjektiven Gewissen misst May jedoch der Rechtspflicht eine höheres Maß an Dignität zu – vgl. Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht, 175; vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung mit dieser Auffassung Mays im Kapitel 3. B. I. „Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen nach Georg May“ in dieser Arbeit.
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Damit bleiben alle „die vorgenannten Situationen und Mittel deswegen unberücksichtigt, weil sie ein richtig gebildetes und funktionierendes Gewissen voraussetzen und von der kirchlichen Gesetzgebung grundsätzlich anerkannt sind bzw. zugelassen werden“255. Nach Georg May beschäftigt sich die Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht nach Berücksichtigung all dieser Umstände „allein mit dem Fall, daß gegen ein in einer bestimmten Lage mit zweifelsfreier Gewißheit objektiv verpflichtendes Gesetz der kanonischen Rechtsordnung das abweichende subjektive Gewissensurteil angerufen wird“256. Vergleicht man diese Umschreibung mit derjenigen von Ulrich Bopp, so fällt auf, dass sich Letzterer ausdrücklich nur auf „strafrechtlich sanktionierte Normen“ bezieht, wohingegen Georg May allgemein vom objektiv verpflichtenden Gesetz spricht. Die weitere Definition Mays hat aufgrund des c. 1399 CIC/1983 durchaus ihre Berechtigung, dessen Regelungsgehalt in einer weltlichen Strafrechtsordnung nicht vorstellbar ist, weil er das Rechtsprinzip nulla poena sine lege poenali praevia durchbricht257. Allerdings ist klar, dass es den Gewissenstäter nur dort geben kann, wo – unter Berücksichtigung des c. 1399 CIC/1983 –gegen eine sanktionsbewehrte Norm verstoßen wird. Hinsichtlich der Definition Mays eröffnet sich zudem noch die Frage, ob es sich formaliter um ein „Gesetz“ handeln muss, gegen das der Gewissenstäter verstößt. Denn speziell für das Kirchenrecht ist zu beachten, dass göttlichem Recht unabhängig von seiner Kodifikation bzw. Promulgation als kirchliches „Gesetz“ unmittelbare rechtliche Wirkung zukommt258. Wiederum aufgrund von c. 1399 CIC/1983 kann daher nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Übertretung nichtkodifizierter Normen göttlichen Rechts sanktionsrechtliche Folgen mit sich bringt259. 255 Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 146. 256 Ebd. 257 Es kann sich gemäß c. 1399 CIC/1983 niemand darauf berufen, dass eine Sanktionierung deswegen unzulässig sei, weil der betreffende Gesetzesverstoß nicht ausdrücklich mit einer Sanktionsdrohung versehen gewesen sei. Wohl aber kann immer nur ein Gesetzesverstoß sanktioniert werden und nicht einfach alles, was gegebenenfalls objektiv mit der sittlichen Ordnung im Widerspruch steht. Präzise muss daher formuliert werden, dass der Grundsatz nulla poena sine lege poenali praevia von c. 1399 CIC/1983 durchbrochen wird, da dieser von der äußeren Verletzung eines göttlichen oder kanonischen Gesetzes spricht – vgl. Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1578 f.; vgl. ebd., Fn. 48 die weiteren Nachweise; Ay mans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 94–96; Wilhelm Rees: Bestrafung ohne Strafgesetz; Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 653; Wilhelm Rees: Strafrecht in der Kirche, 248 f.; René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 180–182; Werner Böckenförde: Der neue Codex Iuris Canonici, 2537; Konrad Breitsching: Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983. 258 Vgl. Ludger Müller: Naturrecht und kanonisches Recht im Wandel.
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Zuletzt sei noch auf Audomar Scheuermanns Beschreibung des „Überzeu gungstäters“ hingewiesen, welche auch von Reinhold Sebott übernommen wird260. Scheuermann charakterisiert den Gewissenstäter als einen Christgläubigen, der durch sein „irriges Gewissen Straftaten wie Apostasie, Häresie, Schisma“ verwirklicht „und möglicherweise, weil ohne schwere Schuld, nicht strafbar“261 ist. Diese Beschreibung wirft die Frage auf, ob der Gewissensirrtum als konstitutives Merkmal einer Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht anzusehen ist. Im Regelfall wird aufgrund des Wesens des kirchlichen Deliktes, das nach herrschender Auffassung immer zugleich eine schwere Sünde darstellt, davon auszugehen sein, dass der Gewissens täter einem objektiven Irrtum unterliegt. Ob es in der Kanonistik prinzipiell die Möglichkeit sogenannter „reiner Strafgesetze“ (leges mere poenales) geben kann, welche „keine unmittelbare Gewissenspflicht mit sich bringen, das Gebot oder Verbot zu befolgen“262 und welche daher nicht automatisch einen objektiven Irrtum zur Folge hätten, ist umstritten. Um aber die Diskussion zu dieser Frage nicht unnötig auszudehnen, sei darauf hingewiesen, dass grundsätzlich sowohl das irrende als auch das nicht im Irrtum befindliche Gewissen moralisch bindend ist263. Das Vorliegen eines Irrtums hat daher keine konstitutive Auswirkung darauf, ob ein Delinquent als Gewissenstäter anzusehen ist oder nicht. Insofern kann bei einer Definition dieser Rechtsfigur auf das Merkmal des Gewissensirrtums verzichtet werden, ohne einen wesentlichen Aspekt der Gewissenstäterschaft außer Acht zu lassen. Scheuermann hat den Gewissenstäter zudem als jemanden beschrieben, der „ohne schwere Schuld“ handelt. Es geht dabei um die Frage, ob dem Gewissenstäter das deliktische Handeln als subjektiv schwer sündhaftes Verhalten zugerechnet werden kann. Der Gedanke, dass der Gewissenstäter möglicherweise schon im Vorfeld der Deliktsbegehung schwer gesündigt hat und so zum irrigen Gewissensurteil gelangt ist, hilft rechtlich gesehen insofern nicht weiter, da der Nachweis eines rechtlich kausalen Zusammenhangs und die Übertragung der subjektiven Vorwerfbarkeit auf den deliktischen Sachverhalt oft nur schwer oder gar nicht möglich sein wird. Wenn Scheuermann und Sebott daher im Fall des Gewissenstäters von jemandem sprechen, der ohne schwere Schuld gehandelt hat, ist damit das Fehlen einer zurechendazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 110 f., insb. 111 Fn. 3. Scheuermann: Das Schema 1973 für das kommende kirchliche Strafrecht, 46; Reinhold Sebott: Das kirchliche Strafrecht, 159. 261 Audomar Scheuermann: Das Schema 1973 für das kommende kirchliche Strafrecht, 46. 262 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 165. 263 Vgl. dazu Gisela Csik-Hopfensberger: Das Gewissen, 235 f. 259 Vgl.
260 Audomar
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baren subjektiven Sündhaftigkeit bei der Verwirklichung des sanktionsbewehrten Tatbestandes gemeint, welche jedoch nach herrschender Ansicht Voraussetzung für die Verwirklichung eines kirchlichen Deliktes ist. Scheuermann und Sebott weisen hier – mithilfe des Brennglases der Rechtsfigur des Gewissenstäters – auf ein systemisches Problem bei der Zurechnung kirch licher Delikte hin, das an dieser Stelle nicht weiter ausgefaltet werden kann; eine ausführlichere Auseinandersetzung dazu findet sich am Ende dieser Arbeit unter dem Kapitel 4, D IV. „Die Rechtsfigur des Gewissenstäters auf Ebene der Schuld“. Für die Definition der Rechtsfigur des Gewissenstäters ist diesbezüglich aber festzuhalten, dass der Verzicht einer expliziten Erwähnung dieses schuldrechtlichen Elements insbesondere deswegen angemessen erscheint, weil sonst allzu leicht das Missverständnis provoziert werden könnte, dass ein Gewissenstäter in jedem Fall moralisch einwandfrei handelt; eine etwaige, der Tat vorausliegende Sündhaftigkeit und auch der damit verbundene Auftrag zur ständigen Gewissensbildung würde damit möglicherweise überdeckt oder verdrängt werden. Zusammenfassend wird daher der Gewissenstäter im kanonischen Recht definiert als ein Katholik, der ein objektiv und subjektiv verpflichtendes, sanktionsbewehrtes „Gesetz“ übertritt, weil ihm sein Gewissen eine der Norm entgegengesetzte Verhaltensanweisung gibt. Alle Fälle, die außerhalb dieser dargelegten Grenzen liegen, bleiben in weiterer Folge dieser Arbeit unberücksichtigt.
III. Kontextualisierung der vorgelegten Definition Es wurde in der vorgelegten Definition festgehalten, dass der Gewissens täter gegen ein sanktionsbewehrtes kirchliches Gesetz verstößt. Für die nähere Kontextualisierung der Rechtsfigur wird im Folgenden zwar nicht auf alle Elemente der lex canonica 264, sondern nur auf einige Besonderheiten eingegangen, die das kirchliche Gesetz von anderen Gesetzesbegriffen abheben und deren Betrachtung den Kontext einer Rechtsfigur des Gewissenstäters zu erhellen vermögen. Wie schon der CIC/1917 verzichtet ebenso der CIC/1983 auf eine Legaldefinition des Gesetzesbegriffs, wenngleich das Schema CIC/1980 und das Schema CIC/1982 noch eine solche vorgesehen hatten265. In Ermangelung einer Definition durch den Gesetzgeber bleibt es daher der Kirchenrechts264 Vgl. dazu insbesondere Aymans/Mörsdorf: KanR I, 141–159; Eugenio Corecco: „Ordinatio rationis“ oder „ordinatio fidei“. 265 Die Definition im Schema CIC/1980 war unter c. 7 zu finden und hatte folgenden Wortlaut: „Lex, norma scilicet generalis ad bonum commune alicui communitati a competenti auctoritate data, instituitur cum promulgatur“ – vgl. Joseph Listl: § 8
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wissenschaft überlassen, den Gesetzesbegriff zu erarbeiten und näher auszufalten. 1. Das Gesetz als allgemeine rechtsverbindliche Glaubensweisung Bei der materiellen Erarbeitung des kirchlichen Gesetzesbegriffes knüpfte die klassische Kirchenrechtswissenschaft traditionell an die Definitionen von Thomas von Aquin und Francisco Suárez an266, welche die Annahme eines einheitlichen Gesetzesbegriffs von Kirche und Staat als ein bestimmendes Merkmal voraussetzten267. Und so sah man in der Kirchenrechtswissenschaft in der vom hl. Thomas propagierten ordinatio rationis das „für das Verständnis des Gesetzes entscheidende Element“268. Aus der Erkenntnis jedoch, dass es einer spezifisch theologischen Begründung des kirchlichen Rechts bedarf, ergaben sich für die Bestimmung der materiellen Elemente des kirchlichen Gesetzesbegriffes wichtige Konsequenzen, die ihn vom weltlichen Gesetzesbegriff nicht unerheblich abheben269. Es hat sich gezeigt, dass die ordinatio rationis als Ursprung des kanonischen Gesetzes nicht ausreichend ist, da dieses sich in seinem materiellen Gehalt nicht der Vernunft, sondern dem Glauben verdankt270. Das Kirchengesetz kann demnach nicht bloß Produkt einer vom Glauben erleuchteten Vernunft (ordinatio rationis fide illumi Die Rechtsnormen, 103 Fn. 7; die Definition im Schema CIC/1982 war mit dieser Definition wortgleich. 266 Vgl. Joseph Listl: § 8 Die Rechtsnormen, 103 f. 267 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 143 f.: Grundlage dieser Annahme war eine seit dem Frühmittelalter einsetzende Symbiose zwischen Kirche und weltlicher Herrschaft, die jedoch im ausgehenden Mittelalter zerbrach. Dieser Umstand zwang die Kirche, sich nach und nach systematisch mit der Problematik der Begründung des Kirchenrechts auseinanderzusetzen, und führte in der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Entwicklung des sogenannten Ius Publicum Ecclesiasticum (IPE), dessen Anliegen es insbesondere war, die rechtliche Ebenbürtigkeit der Kirche gegenüber dem Staat aufzuzeigen. Im Zuge der Erneuerung des Kirchenbildes, das mit dem II. Vatikanischen Konzil einen wichtigen Höhepunkt erreichte, setzte sich innerhalb der Kirchenrechtswissenschaft die Einsicht durch, „daß das Kirchenrecht nicht einfach als soziologische Tatsache begründet werden kann, sondern der theologischen Begründung und Ausfaltung bedarf“. Vgl. dazu auch Markus Graulich: Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts, 192. 268 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 144. 269 Vgl. Wilhelm Rees: § 9 Die Rechtsnormen, 130; Joseph Listl: § 8 Die Rechtsnormen, 103; ebd., 106: Joseph Listl betont, dass „Kirche und Staat hinsichtlich ihres Ursprungs, ihrer Aufgaben und ihres Wesens verschieden sind“, sodass ernsthaft daran gezweifelt werden kann, ob eine allgemeingültige Definition des weltlichen und des kirchlichen Gesetzes überhaupt noch möglich ist. 270 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 145; vgl. dazu ebenso Winfried Aymans: Erwägungen über die inneren Wesensmerkmale eines kanonischen Gesetzesbegriffes; Eu genio Corecco: „Ordinatio rationis“ oder „ordinatio fidei“; Ludger Müller: Ordo Ec-
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natae)271 angesehen werden – es hat seinen Ursprung in der Offenbarung und ist somit Teil des ordo fidei. Diese Einsicht wird durch die Tatsache verifiziert, dass ja auch die Kirche selbst nicht als „naturnotwendig“ betrachtet werden kann, da sie ihre letzte Begründung im „Ratschluss Gottes“272 hat. Das heißt nun nicht, dass kirchliches Recht der Vernunft entzogen wäre. Zwar ist die Erkenntnisquelle des kirchlichen Gesetzes der durch die Offenbarung vermittelte Glaube, das Gestaltungsmittel aber die menschliche Vernunft273. „Theologische“ und „kanonische“ Norm lassen sich demnach nicht auseinanderdifferenzieren, denn der Kernbestand kirchlichen Rechts ergibt sich aus dem Glauben der Kirche274. Und natürlich gibt es im Bereich des kanonischen Rechts Normen, die sich vorwiegend der menschlichen Vernunft als Erkenntnisquelle verdanken; so verweist Aymans bspw. auf die Ehe als eine Einrichtung der Natur, die aber durch die Offenbarung in Jesus Christus in ihrem Charakter bestätigt und als „glaubensrelevant qualifiziert“ worden ist275. Bezogen auf die vorliegende Themenstellung wäre zu über legen, ob nicht auch die Freiheit des Gewissens in ähnlicher Weise einzuordnen ist. Winfried Aymans verwendet zur Beschreibung des kirchlichen Gesetzes den Begriff „Glaubensweisung“. Durch die Verwendung des Begriffs „Weisung“ statt „Norm“ wird zum Ausdruck gebracht, dass „das menschliche Kirchenrecht in seiner konkreten Gestaltung nicht unmittelbar aus dem Glauben folgt, sondern vom Glauben her seine Rechtfertigung und seine Ausrichtung erhält, und weil selbst Sätze göttlichen Rechtes der geschichtlichen Entfaltung unterliegen. Der Begriff ‚Weisung‘ will also nicht eine weniger starke Verbindlichkeit, sondern den dynamischen Charakter der richtungsclesiae; Libero Gerosa: „Lex Canonica“ als „ordinatio fidei“; Libero Gerosa: Die kanonistische Methode, 23 ff. 271 So bspw. Joseph Listl: § 8 Die Rechtsnormen, 107. Zur Frage, ob denn die ratio bei Thomas als eine vom Glauben losgelöste Vernunft zu interpretieren ist oder nicht vgl. die Ausführungen und Literaturhinweise in Aymans/Mörsdorf: KanR I, 145 Fn. 15. 272 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 144–147. 273 Vgl. ebd., 146 f. 274 Vgl. Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 27. In der Forderung einer Trennung von theologischer und kanonischer Norm liegt nach Ansicht Ludger Müllers der entscheidende Irrtum der Vertreter einer „Ent-Theologisierung“ des Kirchenrechts; vgl. dazu insb. Ludger Müller: „Theologisierung“ des Kirchenrechts. Zur Forderung einer Ent-Theologisierung des Kirchenrechts vgl. bspw. Neophytos Edelby/ Teodoro Jiménez-Urresti/Peter Huizing: Kirchenrecht und Theologie; Gerhard Luf: § 4 Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, 46–53; Eva Maria Maier: Was ist Rechtstheologie. 275 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 146.
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weisenden Entfaltungsmöglichkeit ausdrücken.“276 Die Tatsache, dass sich das kirchliche Gesetz aus der Erkenntnisquelle des Glaubens speist, bedeutet zudem nicht, dass die als verbindlich erkannten Weisungen nur „moralische“ oder eine im Vergleich zu weltlichem Recht „geringere“ Verpflichtungskraft entfalten würden, sondern sie beanspruchen, insofern sie als Rechtsnormen im strengen und eigentlichen Sinn qualifiziert werden können, tatsächlich rechtliche Verbindlichkeit. 2. Die communiale Ausrichtung des kirchlichen Gesetzes Die Ausrichtung des kirchlichen Gesetzes auf das bonum commune Eccle siae ist nicht im Sinne einer Opposition zu den Individualinteressen der Gläubigen zu begreifen, sondern dahingehend, dass dieses „in der Treue zum Sendungsauftrag Jesu Christi möglichst wirkungsvoll“ das „Leben der Communio“277 zu fördern hat. Etwaige Spannungen zwischen kirchlichem Individualwohl und Gemeinwohl dürfen jedenfalls nicht einseitig zugunsten des einen oder anderen aufgelöst werden. Aufgrund „ihres Sendungsauftrages“ gehört es „geradezu zum Wesen der Kirche, sich in die religiöse Sphäre des Menschen einzumischen“278 – die persönliche communio cum Deo ist damit immer und notwendigerweise mit der kirchlichen Communio verknüpft, denn die „Kirche ist Vermittlerin des Personseins in der Kirche und der ganzen Existenz des Gläubigen“279. Die persönliche Gemeinschaft mit Gott kann danach „nach ihrer materialen Seite, als Heilsfrucht, nur durch die Communio, nach ihrer formalen Seite, durch die Kirche als Heilsmittel verwirklicht werden“280. Der „Gemeinschaftscharakter des Glaubens“ bewahrt so vor einer individualistisch verengten oder verformten Deutung der Gottesbeziehung281, da es „nicht um irgendeine persönliche religiöse Beziehung“ geht, „sondern um eine Beziehung in der zum Heil notwendigen Kirche. Diese offenbarungsmäßige Verbindung zur Gemeinschaft gibt der persönli276 Ebd.
277 Ebd., 150; vgl. hingegen den Vorwurf der Spiritualisierung bzw. Theologisierung des Kirchenrechts durch den Verweis auf den Communio-Begriff: Eva Maria Maier: Was ist Rechtstheologie, 211; Gerhard Luf: § 4 Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, 47; Adrian Loretan: Klärung des Rechtsbegriffs, 43–46; vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der „Theologisierung“ insb. bei Ludger Müller: „Theologisierung“ des Kirchenrechts. 278 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 397; Aymans/ Mörsdorf: KanR I, 94. 279 Jan Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung, 190. 280 Ebd., 180; vgl. Oskar Saier: „Communio“ in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, 36 f. 281 Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 28.
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chen religiösen Beziehung eine formale Dimension, die, weil sie soteriologische Relevanz besitzt, im Gewissen verpflichtet.“282 Damit besteht ein doppelter Bezug des Glaubens, der eine echte Antinomie zwischen Glaube und Kirche bzw. Glaube und Recht ausschließt. „Anders als die politische Gemeinschaft eröffnet die Communio nicht dem einzelnen Gläubigen eine gleichsam zusätzliche, nämlich die gemeinschaftliche Dimension seiner religiösen Anlage; vielmehr ist die Teilhabe an der Communio die Grundbedingung seiner Existenz als Gläubiger. Anders herum gesagt: Erste Berufung und damit erstes Recht und erste Aufgabe des Gläubigen ist es, die Communio mitzukonstituieren“283. Es gibt somit keine „private“284 Existenz des Gläubigen jenseits dieser Communio und keine Notwendigkeit der Sicherung eines „vorrechtlichen“, höchst privaten Bereichs, denn die kirchliche Communio umfasst die „gesamte religiöse Existenz“285. Die Beanspruchung der gesamten religiösen Existenz ist aber gerade nicht Ausdruck eines „totalitären“ Machtanspruchs durch die Kirche, „sondern ganz im Gegenteil“ Ausdruck ihrer Beschränkung, nämlich einer „Beschränkung auf die kirchliche Existenz“ in der Communio 286. Innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft gibt es daher zwar „kein ‚bonum privatum‘, wohl aber ein ‚bonum personale‘ oder ‚singulare‘ “287. Für die kirchliche Rechtsordnung ist insofern nicht die Unterscheidung in privat-persönlich und öffentlich-amtlich von Bedeutung, sondern „ob dem Handeln eines Gläubigen … eine ekklesiale Dimension anhaftet“288, die rechtlich geregelt werden muss. Auf diese Weise erfährt die rechtliche Normierung in der Kirche ihre Beschränkung. Die personale religiöse Existenz darf jedoch nicht in die communiale Struktur hinein aufgelöst werden, sodass es kein echtes Gegenüber von Individuum und Gemeinschaft mehr geben kann. Dem individuellen Gläubigen steht vielmehr eine echte religiöse Freiheit zu, die es von der kirchlichen Autorität zu gewährleisten und zu achten gilt. Auch wenn diese Freiheit im ekklesialen Kontext zu deuten ist, kann sie eventuell und legitimerweise in 282 Jan
Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung, 155. KanR I, 149; vgl. auch Jan Vries: Gottesbeziehung und Ge-
283 Aymans/Mörsdorf:
setz, 263 f. 284 Vgl. dazu Aymans/Mörsdorf: KanR I., 150 Fn. 27; Libero Gerosa: Schisma und Häresie, 211; Libero Gerosa: Charisma und Recht, 200, 243 f. 285 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 149; vgl. auch Oskar Saier: „Communio“ in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, 30; Die Münchner Schule fasst den Begriff „Communio“ als Formalprinzip des Kirchenrechts auf – vgl. Ludger Müller: Ordo Ecclesiae, 112 ff. 286 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 150. 287 Ebd., 150 Fn. 27; vgl. dazu auch Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 9, 16. 288 Jan Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung, 180.
C. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Recht 93
Spannung zu gemeinschaftlichen Interessen der Kirche stehen. Keinesfalls ersetzt nämlich die „Gesetzeserfüllung“ das personale Heilsgeschehen; das Recht kann aus sich selbst heraus kein Heil hervorbringen. „Gerecht wird der Mensch durch den Glauben und geheiligt durch die Gnade, nicht durch die Erfüllung der Gesetze“289, wie Vries zu Recht betont. Aufgabe des Kirchenrechts muss es daher zum einen sein, den „freiheitlichen Glaubensvollzug“ zu ermöglichen, damit sich das Heil verwirklichen kann, und zum anderen, „den unerläßlichen Rahmen sowie die inhaltliche Ausrichtung“ für diesen Glauben zu garantieren, um „ihn von einem bloß subjektiven Maßstab“zu befreien290. Die für die gläubige Existenz essentielle Freiheit bedeutet übertragen auf das Kirchenrecht, dass Individualschutzgüter in der Kirche nicht „communial“ eingeschmolzen werden dürfen291, sondern als echte und höchstpersönliche Rechte des Individuums, die eventuell in Spannung mit kirchlichen Gemeinwohlinteressen stehen können, zu gewährleisten sind.
289 Jan
Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 22 f. Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung, 199. 291 Vgl. hingegen Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 198. 290 Jan
Kapitel 3
Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht A. Das Gewissen im christlichen Kontext Der folgende schematische Überblick über den christlichen Gewissensbegriff ist nicht als Beitrag zur moraltheologischen Diskussion zu diesem Thema zu betrachten, sondern zielt allein auf eine Begriffsklärung für den kirchenrechtlichen Kontext ab, um zu verdeutlichen, worauf rekurriert wird, wenn in dieser Arbeit von „Gewissen“ bzw. „Gewissensurteil“ die Rede ist.
I. Frühformen des Gewissensbegriffs Die christliche Tradition hat den Gewissensbegriff bis heute auf entscheidende Weise mitgeprägt, doch stellt dieser keineswegs eine „spezifisch christliche Erscheinung“1 dar. Als Begriff, der Aufnahme in die rechtliche Sphäre gefunden hat, verdankt er sich der „sukzessiven Ablösung des Rechts von seinen religiösen Grundlagen …, also einem Säkularisierungsvorgang, der sich im Spannungsfeld teilweise vehementer Konfrontationen mit kirchlichen Ansprüchen vollzog“2. Die etymologischen Bedeutungen des Wortes „Gewissen“ reichen „vom normativ allgemeinen Wissen und vom Mitwissen eines äußeren und inneren Richters bis zu eigener Einsicht in Wohl- oder Fehlverhalten, Werturteil, Selbstbeurteilung und -anklage“3. Im mythologischen Bereich bezeichnet das 1 Hans-Josef Klauck: Der Gott in dir, 341; vgl. auch Josef Bordat: Das Gewissen, 11 ff.; Mariano Delgado/Volker Leppin/David Neuhold (Hrsg.): Ringen um Wahrheit. 2 Gerhard Luf: Gewissen und Recht, 18. Die Funktionen des Gewissens wurden in der Antike mit verschiedenen Metaphern umschrieben – vgl. Hanna-Barbara GerlFalkovitz: „Gewissen“, 106 ff. „Der in Sokrates’ δαιµὁνιον schon angedeutete Schritt zu einem Abstraktbegriff erfolgt erstmals in der hellenistischen Philosophie und in der Übersetzungs- und Auslegungskultur der jüdischen Diaspora durch die Rezeption des bedeutungsmäßig vielfältigen Begriffs συνεἱδησις bzw. conscientia“ – vgl. Kon rad Hilpert: Art. „Gewissen“, 621 f.; vgl. auch Ceslaus Spicq: „Gewissen“, 509. 3 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 106. Eine sehr ausführliche Ethymologie des Gewissensbegriffs findet sich auch in Josef Bordat: Das Gewissen, 53 ff.; vgl. auch Jürgen-Gerhard Blühdorn: Art. „Gewissen I“, 197.
A. Das Gewissen im christlichen Kontext95
Gewissen die Möglichkeit der Erkenntnis der göttlichen Ordnung und von Gut und Böse; Fehlverhalten hat Schuld zur Folge, die gesühnt werden muss4. Hans-Josef Klauck sieht „im gegenwärtigen exegetischen Trend“ für den Gewissensbegriff, dass nicht die Philosophie sein Geburtsort für den griechischen und römischen Bereich gewesen sein könnte, sondern „eigentlich ein anderer, bislang nur wenig beachteter Vorschlag“, nämlich „die forensische Rhetorik der Antike“5. Diese These geht davon aus, dass der Begriff „conscientia“6 nicht als Übersetzung, sondern als eine eigenständige Kreation der Römer anzusehen ist, die „dem technischen Gebrauch von συνεδησι∫7 im Griechischen vorausliegt und möglicherweise sogar auf ihn eingewirkt hat“8. Als Beleg für diese Annahme führt Klauck an, dass der früheste Fundort für den Begriff „conscientia“ bereits gegen 90 v. Chr. datiert9. Sollte diese These weitere Anerkennung finden, wäre das für die Betrachtung des Gewissensbegriffs als eines im forensischen Umfeld beheimateten Phänomens durchaus interessant10. Vieles von dem, was mit dem Gewissensbegriff bezeichnet wird, gibt es aber natürlich schon in früheren Kulturen, Religionen und Weltanschauungen. Funktionen des Gewissens werden dort in Form von Bildern oder Umschreibungen angesprochen. Zwar kennt bspw. das Alte Testament faktisch keinen eigenständigen Begriff für das, was heute unter dem Phänomen „Gewissen“ subsumiert wird und auch außerhalb der biblischen Schriften kennt die hebräische Sprache dazu kein direktes sprachliches Äquivalent. Wohl aber finden sich bildliche Umschreibungen der Funktionen und Aufgaben des dazu vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Gewissen, 106 f. Klauck: Der Gott in dir, 344 f. 6 Zur Herkunft des Begriffs „conscientia“ vgl. Jürgen-Gerhard Blühdorn: Art. Gewissen I, 199–201. 7 Vgl. dazu ebd., 198 f.; Michael Wolter: Art. „Gewissen II“, 213 f. 8 Hans-Josef Klauck: Der Gott in dir, 344. 9 Es handelt sich dabei um eine rhetorische Schrift, den Auctor ad Herennium II, 5,8: „ ‚Der Ankläger wird, wenn er kann, sagen, daß sein Gegner, wenn man sich ihm zuwendet, errötet, erbleicht, stammelt, unsicher spricht, zusammenbricht, Konzessionen macht, was Zeichen eines schlechten Gewissens (conscientiae) sind‘; der Verteidiger wird dem entgegenhalten, nicht die conscientia peccati habe seinen Mandanten bewegt, sondern die Größe der Gefahr, in der er schwebt“ – zitiert aus Hans-Josef Klauck: Der Gott in dir, 344; vgl. dazu auch Heinrich Schlier: Der Römerbrief, 79 – Auslegung zu Röm 2,15: „Es ist ein ständiges Gerichtsverfahren im Inneren des Menschen, eine reflektierende Diskussion“. 10 Jürgen-Gerhard Blühdorn: Art. „Gewissen I“, 197: „Die Verbindungen zwischen dem rechts-sprachlichen Gebrauch und der Bedeutungsentwicklung im religiösen und philosophischen Sprachgebrauch sind nicht erforscht, zweifellos aber vorhanden.“ 4 Näheres
5 Hans-Josef
96
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Gewissens, die zumeist dem organischen Inneren des Menschen, wie etwa dem „Herzen“ oder manchmal auch den „Nieren“, zugeordnet und dadurch versinnbildet werden11. „Die historisch erste, ausgeprägte und religiös begründete Lehre vom Gewissen“ ist nach Ansicht Blühdorns bei Philo von Alexandrien zu finden12. Im frühen Christentum etabliert sich mit dem griechischen Wort „συνεἱδησις“ sehr schnell ein eigenständiger Begriff für verschiedene Funktionen des Gewissens. Im Neuen Testament kommt συνεἱδησις insgesamt 30–mal vor, davon allein 22-mal im Corpus Paulinum13; die Abwandlung συνειδέναι ist im Neuen Testament einmal zu finden (1 Kor 4,4). Die Evangelien (außer in Joh 8,9) verwenden in Anschluss an das Alte Testament jedoch nach wie vor das Bild des „Herzens“ zur Beschreibung von Aufgaben und Funktionen des Gewissens14. Nach Heinrich Schlier sind drei Grundbedeutungen des Gewissensbegriffs im Neuen Testament auszumachen: Er kann erstens als „das Wissen um sich selbst als einen absolut Geforderten bzw. das Wissen um sich selbst im H ören des absoluten Anspruchs“15 gedeutet werden. Zudem steht er für das Phänomen des guten bzw. schlechten Gewissens16. Und drittens kann συνεἱδησις im Neuen Testament die Bedeutung eines „allgemeinen Bewußtseins oder Wissens von“ (vgl. Hebr 10,2) annehmen17. Diese Bedeutungsebenen sind frei11 Vgl. Jost Eckert: „Gewissen“, 620; Michael Wolter: Art. „Gewissen II“, 214; Gerhard Dautzenberg: Das Gewissen im Rahmen einer neutestamentlichen Ethik, 11. 12 Jürgen-Gerhard Blühdorn: Art. „Gewissen I“, 201. 13 Vgl. dazu Michael Wolter: Art. „Gewissen II“, 214–218; Gerhard Dautzenberg: Das Gewissen im Rahmen einer neutestamentlichen Ethik, 11 f. In der Forschung ist man sich allerdings uneinig, inwieweit der hl. Paulus selbst ein Vorreiter eines spezifisch christlichen Gewissens ist; sicher sind es aber die sich auf die Autorität des Paulus berufenden nachpaulinischen Schriften des Neuen Testaments. Nach der Einschätzung Dautzenbergs „konvergiert“ die Verwendung des griechischen Begriffs „συνεἱδησις“ bei Paulus mit der im 1. Jahrhundert v. Chr. hervortretenden Gewissensthematik des hellenistischen Judentums und lässt sich davon wohl inspirieren. Eine einheitliche Verwendung bzw. eine spezifisch theologische Prägung des Begriffs ist bei Paulus noch nicht zu erkennen. Erst die nachpaulinischen Schreiben rücken den Begriff in ein mehr theologisches und heute typisch christliches Bild vom Gewissen – vgl. Gerhard Dautzenberg: Das Gewissen im Rahmen einer neutestamentlichen Ethik, insb. 12–27; vgl. dazu auch Hans-Joachim Eckstein: Der Begriff „Gewissen“ bei Paulus und in seinem Umfeld. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Gewissensbegriff bei Paulus biographisch durchaus eine Rolle gespielt haben könnte – vgl. dazu Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 110. 14 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 109. 15 Vgl. Röm 9,1; 13,5; 1 Kor 10,25 ff.; 2 Kor 1,12; 4,2. 16 Vgl. Apg 23,1; 1 Kor 8,7.10.12; 1 Tim 1,5.19; 3,9; 2 Tim 1,3; Hebr 10,22; 13,18; 1 Petr 3,16.21 u. a. 17 Heinrich Schlier: Der Römerbrief, 79.
A. Das Gewissen im christlichen Kontext97
lich füreinander durchlässig und nicht streng voneinander zu trennen. Paulus beschreibe im Römerbrief (Röm 2,15) sehr anschaulich, was im Gewissen vor sich geht, so Schlier: „Das Herz ist der Ort, wohin die Forderung der Liebe eingeschrieben ist und wo sie zu lesen ist. Diese ins Herz geschriebene Forderung wird aber laut im Gewissen, das sie vermittelt. Das Gewissen liest sozusagen die Herzensinschrift und gibt sie dem Menschen kund, und zwar … in der Weise, daß in der Reflexion des Gewissens Anklage und Verteidigung das Wort nehmen.“18 Das Gewissen wird im Neuen Testament nicht als ein in sich absoluter Maßstab vorgestellt (vgl. 1 Kor 4,4), sondern als eine innere Instanz im Menschen, die es durch das Ausrichten am Willen Gottes immer wieder zu schärfen gilt (vgl. Röm 12,2). Dabei gesteht Paulus bei einzelnen zweifelhaften Fragen zu, dass es zu unterschiedlichen Bewertungen unter den Christen kommen kann. In solchen Fällen ist dann nicht Anpassung an das Verhalten des anderen die Lösung, sondern die Bildung eines eigenen Gewissensurteils (Röm 14; 1 Kor 8 und 10). Im ersten Korintherbrief (1 Kor 8,7–13; 10,23–30) geht es Paulus darum, die „Starken“ dazu hinzuführen, das Gewissen der „Schwachen“ zu respektieren, welche aus „Gewohnheit“ und nicht aus Überzeugung handeln (1 Kor 8,7–13)19. Zudem ist das Gewissen der Heiden zu schützen (1 Kor 10,28 f.), da das Gesetz auch in ihr Herz geschrieben ist (Röm 2,14 ff.)20. Die Funktion des Gewissens wird insofern gedeutet als die jedem Menschen zukommende Fähigkeit im Inneren der Seele, eine konkrete Handlung gleichsam als „Gesetzgeber“ zu leiten und als „Richter“ zu sanktionieren21. Im Umkehrschluss bedeutet das: „Die Identität des Menschen ist verletzt, wenn er gezwungen wird, gegen sein Gewissen, die innere Kontrollinstanz seines Verhaltens, zu handeln.“22 18 Ebd.
19 Vgl. Gerhard Dautzenberg: Das Gewissen im Rahmen einer neutestamentlichen Ethik, 12–14. 20 Vgl. ebd., 18; Michael Wolter: Art. „Gewissen II“, 216: Dieses Verständnis des Gewissens gilt als „Anknüpfungspunkt für das Vorhandensein des Gedankens des Naturrechts bei Paulus“. Wolter betont jedoch, dass es nicht um die „Heiden schlechthin, sondern ausschließlich um diejenigen unter ihnen geht, die einzelne Forderungen der ihnen unbekannten Tora erfüllen“; vgl. dazu auch Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 330: „Vor allem aber wird das Gewissen als der Knotenpunkt der Gemeinsamkeit zwischen Christen und Nichtchristen und damit als die eigentliche Drehscheibe des Dialogs herausgestellt: Die Treue zum Gewissen verbindet Christen und Nichtchristen und gestattet ihnen, gemeinsam an der Lösung der sittlichen Aufgaben der Menschheit zu wirken, wie sie beide zur demütigen und offenen Frage nach der Wahrheit zwingt.“ 21 Vgl. Ceslaus Spicq: „Gewissen“, 510. 22 Jost Eckert: „Gewissen“, 621.
98
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Die Unterscheidungsfunktion des Gewissens zwischen Gut und Böse erhält im christlichen Kontext eine besondere Brisanz, weil sein „Zeugnis durch Christus verbürgt ist (1 Kor 8,12) und in Verbindung mit dem Heiligen Geist (Röm 9,1) oder dem Licht Gottes (2 Kor 1,12; 4,2; Apg 23,1; 24,16) gegeben wird“23. Das Gewissen wird demnach nicht als ein Dezisionswerkzeug unter vielen gedeutet, um herauszufinden, „was man tun“ und „was man nicht tun darf“, sondern es „verpflichtet wie die Stimme Gottes selbst“24. Mit den paulinischen Schriften liegt jedoch keine einheitliche und geschlossene Lehre vom Gewissen vor; vielmehr ist die Aufnahme des Begriffes συνεἱδησις als Versuch zu verstehen, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen und so dem Gewissensphänomen Beachtung zu schenken25. Die Leistung der Patristik hinsichtlich des Gewissensbegriffs besteht vor allem in der Bemühung, den neutestamentlichen Begriff συνεἱδησις mit der stoischen und alttestamentlichen Tradition in Verbindung zu bringen. Augustinus deutet das Gewissen in einer „psychologisch-existentiellen“ Weise, indem er es als das „verborgene Innere der Person, ihr Eigenstes“ beschreibt. „Der Begriff conscientia erhält folglich eine weitere, über das Moralische hinausgehende Bedeutung: Er bezieht den Ort im Menschen, wo er den Willen Gottes, das natürliche Gesetz zur Kenntnis nehmen kann, sich aber zugleich insgesamt vor Gott gestellt erfährt und auf diesen göttlichen Ruf (vox Dei) antworten kann.“26 In der Patristik wird zudem an einem „im Zuge der Kirchenbildung … ‚ecclesionom‘ verstandenen Gewissen“ gearbeitet, wobei der Osten es stärker an das inspirierende Pneuma bindet, während es hingegen im Westen eine vermehrt „pädagogisch-kirchliche“ Schulung erfährt27.
II. Omne, quod non est ex conscientia, peccatum est Besondere Beachtung findet der Gewissensbegriff sodann beim genialen Theologen Petrus Abaëlardus (1079–1142)28, der trotz oder vielleicht gerade 23 Ceslaus
Spicq: „Gewissen“, 510. 511; vgl. hingegen Gerhard Dautzenberg: Das Gewissen im Rahmen einer neutestamentlichen Ethik, 21, mit Verweis auf Wolfgang Schrage: Ethik des Neuen Testaments (Göttingen 1982), 185 f.: „Für Paulus ‚ist das Gewissen keineswegs eo ipso die Stimme Gottes‘, es hat ‚mehr eine prüfende als eine wegweisende oder normsetzende Funktion‘ “. 25 Vgl. Gerhard Dautzenberg: Das Gewissen im Rahmen einer neutestamentlichen Ethik, 25–27. 26 Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“, 622; vgl. auch Johannes Stelzenberger: Conscientia bei Augustinus, 26 f. 27 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 110. 28 Für biographische Hinweise vgl. Daniela Müller: Petrus Abaelardus (1079– 1142). 24 Ebd.,
A. Das Gewissen im christlichen Kontext99
wegen der Irrtumsanfälligkeit der menschlichen Vernunft das Gewissen als die höchste Instanz proklamierte29. Als Abaëlard bei seiner Auslegung des Römerbriefes in Röm 14,23 die fides durch die conscientia ersetzte30, wodurch es dann hieß „omne, quod non est ex conscientia, peccatum est“31, brachte er damit das „unauflösbare korrelative Gegenüber“ von Glaube und Gewissen zum Ausdruck32. Der Kontext von Röm 14,23 könnte zunächst die Vermutung nahe legen, als ob sich Paulus durch eine Lappalie zu dieser Aussage hat hinreißen lassen: „Paulus spricht hier über religiös motivierte Vegetarier“33, wie Boris Hennig den Kontext salopp zusammenfasst. Freilich ist der Hintergrund der Debatte weit komplexer und ernster, als es diese Beschreibung Hennigs zunächst nahelegt, denn die Einhaltung jüdischer Reinheitsvorschriften war letztlich mit der Frage der eigenen religiösen Identität verknüpft. Insofern ging es Paulus nicht um Speisevorschriften, sondern um die religiöse Identität34. Die Auseinandersetzung mit dieser Problemstellung veranlasste ihn, 29 Vgl. dazu Thomas Füser: Mönche im Konflikt 64: „Bekanntlich vollzieht sich im 12. und 13. Jahrhundert ein gewichtiger Wandel in der Bußtheologie und Bußpraxis der mittelalterlichen Kirche. Programmatisch steht das Werk Scito te ipsum Abaelards … für eine neue Schuldlehre, die jetzt die Zustimmung zur Sünde (consensus), die Intention nicht die Handlung, die innere Befindlichkeit des Gewissens, nicht die äußere Tat, die contritio nicht die Sanktion, in das Zentrum der Buße und in den Mittelpunkt theologischer Reflexion stellte. Der Stellenwert, der nun der Erforschung des individuellen Gewissens beigemessen wurde, zeigt sich nicht allein darin, daß gegen Ende des 12. Jahrhunderts die dem Konzept der Tathaftung verpflichteten Bußbücher ihre Funktion verloren und von den detaillierten Summae confessorum abgelöst wurden, die den Seelsorgern während der Beichte den Weg zu den inneren Gewissenszuständen weisen sollten.“ 30 Vgl. Petrus Abaëlardus: Expositio in Epistolam ad Romanos, 814–829; Vulgata Rom, 14,23: „omne autem quod non ex fide peccatum est“; Petrus Lombardus: Sententiae IV d. 39 c. 6, 2 (Magistri Petri Lombardi Pariensis Episcopi: Sententiae in IV Libris distinctae. Editiones Collegii S. Bonaventurae Ad Claras Aquas [Tomus II – Liber III et IV], [Grottaferrata 1981], 490) und Gratian Dictum post C. 28 q. 1 c. 14; vgl. dazu auch Erhard Mock: Gewissen und Gewissensfreiheit, 31 f.: „Überspitzt ausgedrückt besteht der Gehalt der Sünde im Widerspruch zum Gewissen. Er [Abaëlardus] gibt dem Satz aus Röm 14,23 … neue Bedeutung, indem er fides durch conscientia ersetzt.“ Josef Bordat: Das Gewissen, 65: „Das in Röm 14,23 für ‚Glauben‘ verwendete griechische Wort pistis meint dabei weniger ein Glaubenssystem, eine Religion, sondern vielmehr einen persönlichen Glauben, eine Überzeugung. Wir sollten also das Fazit so lesen: Alles, was nicht der inneren Überzeugung oder dem Gewissen entspricht, ist Sünde.“ 31 Vgl. Petrus Abaëlardus: Expositio in Epistolam ad Romanos, 815 ff. 32 Ernst Volk: Das Gewissens bei Petrus Abaëlardus, Petrus Lombardus und Martin Luther, 298. 33 Boris Hennig: Schuld und Gewissen bei Abelard, 132. 34 Vgl. hierzu Michael Wolter: Art. „Gewissen II“, 215; Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 25 f.
100
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
das Handeln gegen die eigene Überzeugung als Sünde zu bezeichnen. Gewissenhaftes Handeln führt daher im besten Fall zur „Schuldlosigkeit“, aber der „innere Akt gegen das Gewissen auf alle Fälle zur Sünde“35. Wenn nun später Abaëlard die fides gegen die conscientia austauscht, dann ist dieser Schritt nicht als eine Anmaßung zu begreifen, sondern als logischer Schluss: Der Glaube muss verantwortet sein durch das eigene Gewissen. Der Glaube ist Ausdruck der eigenen höchstpersönlichen Identität, er ist Folge eines Gewissensurteils. Abaëlard deutet das Gewissen als die letzte und innerste Instanz im Menschen – sein Urteilsspruch bedarf keiner weiteren Rechtfertigung mehr36. Das Gewissen ist eine Art „Kraft“, welche die Wahrheit erkennen lässt; es erzeugt nicht Wahrheit, sondern jene wird durch das Gewissen erkannt37. Als „Urteilsvermögen“ bildet das Gewissen bei Abaëlard auf sanktionsrechtlicher Ebene wiederum eine Art „Bindeglied zwischen dem Täter und seiner Tat“38 – der Täter kann aufgrund des Gewissens verantwortlich gemacht werden für das, was er getan hat. Eine spezifisch theologische Dimension erhält das Gewissen in diesem Kontext dadurch, dass die „Zeugenschaft der conscientia in der Idealsituation des jüngsten Gerichts angesiedelt ist“ und dadurch „die formelle Trennung zwischen Täter und Tat, deren Überbrückung ja ihre Aufgabe ist, an Tragweite“39 gewinnt. Das Gewissen wird bei Abaëlard insofern „zum eschatologischen Zeugen wider sich selber“40. Im 35 Alexander Schroete-Reinhard: Die Ethica des Peter Abaelard, 339. Die Rede Abaëlards, dass nicht das „objektive Gesetz“ bindet, wenn es subjektiv nicht als verpflichtend anerkannt wird, mag heute an ein subjektivistisches Verständnis des Gewissensbegriffes oder ein Plädoyer für einen erkenntnistheoretischen Relativismus erinnern – beides Phänomene, die Abaëlard mit ziemlicher Sicherheit völlig fremd waren. Eine solche Interpretation wäre daher abwegig – vgl. Ernst Volk: Das Gewissen bei Petrus Abaelardus, Petrus Lombardus und Martin Luther, 298, 306–310. Zwar droht der Abaëlardsche Gewissensbegriff in seiner Zuspitzung ins Subjektivistische abzugleiten, aber ratio und die lex naturalis bewahren vor einer solchen Einseitigkeit; beide Größen entstammen dem „ewigen Logos“ und so bleibt das „soziative ‚Gegenüber‘, bleibt Gott, die den Menschen aufrufende, ihn richtende und begnadigende Macht“ – ebd., 309; vgl. dazu auch Friedhelm Krüger: Art. „Gewissen III“, 219 f. 36 Vgl. Alexander Schroete-Reinhard: Die Ethica des Peter Abaelard, 338. 37 Schroete-Reinhard vermutet, dass bei Abaëlard materialiter die thomasische Unterscheidung zwischen conscientia und synderesis schon zu finden ist, nur in anderen Begriffen – vgl. Alexander Schroete-Reinhard: Die Ethica des Peter Abaelard, 340; vgl. dazu auch Ernst Volk: Das Gewissen bei Petrus Abaelardus, Petrus Lombardus und Martin Luther, 298 f. 38 Boris Hennig: Schuld und Gewissen bei Abelard, 142; vgl. auch Alexander Schroete-Reinhard: Die Ethica des Peter Abaelard, 338. 39 Boris Hennig: Schuld und Gewissen bei Abelard, 131. 40 Ernst Volk: Das Gewissen bei Petrus Abaelardus, Petrus Lombardus und Martin Luther, 300.
A. Das Gewissen im christlichen Kontext101
Kontext eines Rechtsprozesses gibt es mit dem Modell der Zeugenschaft durch das Gewissen, welches die Verantwortlichkeit des Täters begründet, allerdings das Problem, dass „die ‚eigentliche‘ Schuld … nur durch die conscientia selbst bezeugt werden [kann], nicht durch real existierende Zeugen und Richter. Damit muss jede Schuldzuweisung außer der letzten vor dem Endgericht vorläufig bleiben – die Schuld wird desäkularisiert“41, wie es Boris Hennig formuliert.
III. Die begriffliche Klärung des irrenden Gewissens Die weitere Entwicklungsgeschichte des Gewissensbegriffs im Kontext des Christentums verläuft nicht ganz so linear, wie das aus heutiger Sicht vielleicht vermutet werden könnte. So vertritt beispielsweise im 12. Jahrhundert Petrus Lombardus in seinen Sentenzen die These, dass der Gläubige nicht dem eigenen Gewissensspruch folgen dürfe, wenn dies die Exkommunikation zur Folge hätte42. Von der Kirche im Hochmittelalter wurde diese Position des Lombarden jedoch nicht übernommen43. Hingegen prägen die Ausführungen von Thomas von Aquin zum Gewissensbegriff 44 bis heute sein Verständnis innerhalb der christlichen Theologie. Insbesondere die Unterscheidung zwischen conscientia und synderesis (syn theresis45/anamnesis) erlangte große Bedeutung46. Als synderesis bezeich41 Boris Hennig: Schuld und Gewissen bei Abelard, 131; vgl. dazu Friedhelm Krüger: Art. „Gewissen III“, 221: In „Verkennung der paulinischen Intention“ erfolgt „die ethische Imputation, daß nur die Intention eine Handlung qualifiziert“. 42 Vgl. Johannes Gründel: Ethische Entscheidungen – Wahrheitsfragen, 92. Jedoch spricht Petrus Lombardus innerhalb seiner Ehelehre auch davon, dass alles, was gegen das Gewissen geschieht, Sünde sei – vgl. Petrus Lombardus: Sententiae IV d. 39 c. 6: „Item illud Apostoli: Omne quod non est ex fide peccatum est, non ita in telligendum est, ut quidquid fit ab infidelibus peccatum sit, sed omne quod fit contra fidem, id est conscientiam, male fit et ad gehennam aedificat“ – Magistri Petri Lom bardi Pariensis Episcopi: Sententiae in IV Libris distinctae. Editiones Collegii S. Bonaventurae Ad Claras Aquas (Tomus II – Liber III et IV), (Grottaferrata 1981), 490; vgl. auch C. 28 q. 1 c. 14. 43 Vgl. Johannes Gründel: Ethische Entscheidungen – Wahrheitsfragen, 92. 44 Vgl. dazu Thomas von Aquin: Sentenzenkommentar II d. 24 q. 2 a. 3 und 4; Thomas von Aquin: De veritate q. 16 und 17; Thomas von Aquin: STh I q. 79 a. 12 und 13. 45 Es wird vermutet, dass ein Abschreibfehler zu dieser Begriffsbildung geführt hat – vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 111. 46 Vgl. dazu Friedhelm Krüger: Art. „Gewissen III“, 220: Alexander von Hales „scheint der erste gewesen zu sein, der durch die Unterscheidung von syntheresis und conscientia den später von den scholastischen Theologen aufgenommenen Lösungsweg der vielgestaltigen Problematik grundsätzlich angebahnt hat“, mit Verweis auf Thomas von Aquin: STh II-I q. 73 f.
102
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
net Thomas die im Menschen grundgelegte Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie bildet die Grundanlage im Menschen, das Gute zu tun, während die conscientia den Akt der Anwendung dieser Fähigkeit auf einen konkreten Fall zum Ausdruck bringt und im Gewissensurteil ihren Niederschlag findet. Mit dieser Differenzierung schafft er die Möglichkeit, das Problem des Gewissensirrtums begrifflich zu fassen47. Für Thomas von Aquin gilt stets und ausnahmslos der Grundsatz: „standum est conscientiae, quantumcumque Ecclesia exterius cogat, der Christ muss zu seinem Gewissen stehen, wie auch immer die Kirche ihn im äußeren Bereich zu zwingen versucht“48. Dies bedeutet freilich nicht, dass deshalb eine gewissensmotivierte Tat objektiv gesehen immer als moralisch „gut“ einzustufen ist 49. „So konsequent Thomas in den praktischen Konfliktfällen die Freiheitsrechte des einzelnen gegenüber der kirchlichen Autorität verteidigt, so beharrlich weigert er sich freilich in theoretischer Hinsicht, einen letzten Schritt zu vollziehen, den wir aus heutiger Sicht erwarten mögen. Immer wieder betont er: ‚Wer gegen das Gewissen handelt, sündigt‘, aber zu der weitergehenden Aussage: ‚Jeder handelt sittlich gut, solange er seinem Gewissen treu bleibt‘, kann er sich nicht durchringen … Er warnt sogar ausdrücklich vor dem Fehlschluß, der von dem sittlich gebotenen Gehorsam gegenüber dem Gewissensirrtum zu einer Aussage über die sittliche Gutheit der betreffenden Handlung gelangen möchte“50. Dennoch bleibt bei Thomas der Grundsatz bestehen, dass „alles sittliche Handeln seine letzte, subjektive Legitimation aus dem Gewissen“ erhält 51. Ratzinger macht darauf aufmerksam, dass die „These, wonach Thomas von Aquin als erster entschieden die verpflichtende Geltung des irrenden Gewissens gelehrt habe, historisch und sachlich nur mit erheblichen Einschränkungen zutrifft“. In einem philosophisch-historischen Kontext sei die These von Thomas dem „aristotelischen Intellektualismus“ zuzuordnen, „wonach Objekt des Willens allein das sein kann, was die Vernunft ihm vorlegt und der Wille sich immer dann verfehlt, wenn er von der Vernunft abweicht“. 47 Joseph Ratzinger weist jedoch darauf hin, dass Thomas die verpflichtende Kraft des (irrenden) Gewissens nur unter „erheblichen Einschränkungen“ vertreten habe – vgl. Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 331; vgl. auch Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 100–106. 48 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 115, mit Verweis auf Tho mas von Aquin: STh I–II q. 19 a. 5; Thomas von Aquin: De veritate q. 17 a. 4 ad 2. 49 Gisela Csik-Hopfensberger: Das Gewissen, 224. 50 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 116, mit Verweis auf Thomas von Aquin: De veritate q. 17 a. 4. 51 Friedhelm Krüger: Art. „Gewissen III“, 221, mit Verweis auf Thomas von Aquin: STh I-II q. 19 a. 5 f.; Thomas von Aquin: De veritate q. 17 a. 4.
A. Das Gewissen im christlichen Kontext103
Wenn daher das Gewissen irrt, dann liege nach Thomas die „Schuld … so zwar nicht im Willen … aber in der Vernunft, die um Gottes Gesetz wissen muß“. Und so schließt Ratzinger aus der Analyse über das irrende Gewissen bei Thomas: „Die Lehre von der verpflichtenden Kraft des irrenden Gewissens gehört in der Form, in der sie heute vorgetragen wird, durchaus dem neuzeitlichen Denken zu.“52
IV. Die Krise des Gewissensbegriffs Durch die reformatorischen Strömungen erfährt der Gewissensbegriff eine gewisse Verengung bzw. Vereinseitigung: „Es war … nicht der erste Paukenschlag, mit dem die neuzeitliche Freiheitsgeschichte anhebt, sondern der kräftige Widerhall der religiösen Protestbewegung, die über den Prozess des John Wicliff (1384) und das Konstanzer Fanal um Jan Hus (1370/71–1415) das Spätmittelalter hindurch durchwachsen war, als der Mönch Martin Luther im April des Jahres 1521 auf dem Reichstag zu Worms gegenüber dem Kaiser und dem päpstlichen Legaten ausrief: ‚Mein Gewissen ist in Gott gefangen. Und ich kann und will auch nicht widerrufen, da gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch einwandfrei ist‘.“53 Auch wenn heute dieser Akt Luthers gern als der Beginn der „modernen“ Gewissensidee ausgelegt wird, so war für jenen die Berufung auf das Gewissen vor allem ein Hinweis auf das vor Gott gerechtfertigte und von jeder Werkgerechtigkeit befreite Gewissen54. In der mit Martin Luther einsetzenden reformatorischen Tradition gewinnt die individuelle Gewissensentscheidung mehr Gewicht als die Unterordnung unter kirchliche Autoritäten oder bestimmte Auslegungstraditionen bzw. Lesarten in der Bibel. Der Grund dafür liegt jedoch nicht in einer Erstarkung des Gewissens; vielmehr wird dieses verengt zu einem Ort des Sündenbewusstseins und der judikativen Selbstanklage, von der der Mensch durch die rechtfertigende Gnade „ohne praktisches Zutun des Menschen außer der Übergabe an Gott“ befreit wird. Mit dem Gewissensbegriff Luthers wird die „Selbstkorrektur durch das Gewissen unterlaufen: Nach der Rechtfertigungslehre gibt es nur den unvermittelten Sprung des (schlechten) Gewissens in die Gnade, ohne praktisches Zutun des Menschen außer der Übergabe an Gott“55. Die Konfes52 Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 331. 53 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 19, mit Verweis auf Martin Luther: WA 1 (Schriften 1512/18 [einschließlich Predigten, Disputationen]), 939. 54 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 19 f. 55 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 112; vgl. dazu auch Friedhelm Krüger: Art. „Gewissen III“, 222–224. Es ist darauf hinzuweisen, dass im Ringen
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sionalisierung und damit auch die Pluralisierung der Gesellschaft wirkt sich insofern in einer gewissen „Dekonstruktion des Gewissens“56 aus. Innerhalb der katholischen Lehrtradition wird der Theorie nach zwar weiterhin „am Begriff eines das Über-Ich transzendierenden, ethischen Gewissens“ festgehalten, das als „Inbegriff der Verantwortungsfähigkeit des Individuums, die durch den Glauben weder inhaltlich noch willensmäßig überflüssig gemacht wird, sondern in ihrer existentiellen Unabweisbarkeit und die augenblickliche Situation überschreitenden Gewichtigkeit aufscheint“57. Doch gerade seit der Konfessionalisierung des Christentums fällt die katholische Theologie und kirchliche Praxis hinter diesen Anspruch zurück, indem „tendenziell für sämtliche Handlungs- und Konfliktsituationen eindeutig und bis ins Detail fixiert wird, wie zu handeln richtig sei, wobei man versucht, selbst subjektive Bestandteile verobjektivierend vorwegzudefinieren (Kasuis tik)“58. Das Gewissen hat in einem solchen System nur mehr die Aufgabe der Subsumtion unter bereits vordefinierte Normen. Diese Entwicklung wird innerhalb der katholischen Kirche durch den neuzeitlichen Drang zum Subjektivismus59 verstärkt, der eine massive Krise des Gewissens-, aber auch des Wahrheitsbegriffs provoziert60. Den aufkeimenden Ruf nach Gewissens- und Religionsfreiheit im Zuge der Entwicklung der modernen Freiheitsrechte betrachten die Päpste Pius VI. (Quod aliquantum61), Gregor XVI. (Mirari vos62) und Pius IX. (Quanta cura63 Luthers um die Wahrheit des Evangeliums die Berufung auf das individuelle Gewissen nicht subjektivistisch im Sinne eines „autonomen Gewissens“ missinterpretiert werden darf; es bleibt vielmehr, wie er selbst formuliert, „capta conscientia in verbis Dei“ – Ernst Volk: Das Gewissen bei Petrus Abaelardus, Petrus Lombardus und Martin Luther, 298; vgl. auch Tamara Bloch: Die Stellungnahmen der römisch-katholischen Amtskirche zur Frage der Menschenrechte, 30–35. 56 Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“, 623; vgl. dazu auch Josef Bordat: Das Gewissen, 82 ff.; Eberhard Schockenhoff: Naturrecht im Übergang, 154: Schockenhoff spricht in diesem Zusammenhang von einem „theonomen Moralpositivismus“. 57 Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“, 624. 58 Ebd., 623. 59 Vgl. dazu den Überblick bei Jürgen-Gerhard Blühdorn: Art. „Gewissen I“, 202–210. 60 Vgl. Josef Bordat: Das Gewissen, 88 ff.; Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 112 ff. 61 Pius VI.: Breve „Quod aliquantum“ vom 10. März 1971. 62 Gregor XVI.: Enzyklika „Mirari vos arbitramur“ vom 15. August 1832, in: ASS 4 (1868), 336–345. 63 Pius IX.: Enzyklika „Quanta cura“ vom 8. Dezember 1864, in: ASS 3 (1867), 160–167; vgl. dazu Reinhold Sebott: Religionsfreiheit im Staat und Freiheit in der Kirche, 191 f.
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und Syllabus64) daher als eine Forderung, der ein Christ unter keinen Umständen zustimmen könne65. Das katholische Ideal, demgemäß das Gewissen „auch als Ergänzung und Korrektur zu einem stark institutionsbezogenen Kirchenverständnis“ anzusehen ist, „um der Tatsache Rechnung tragen zu können, daß Glauben und sittliche Lebensführung erst dort gelingen, wo sie mit subjektiver Einsicht und Zustimmung vollzogen werden“66, wird vom Aufruf zur Beobachtung des kirchlichen Gehorsams zusehends überformt und verdrängt. Eine eindrucksvolle Korrektur dieser Entwicklung wird durch John Henry Kardinal Newman eingeleitet, wenngleich ihm die gebührende kirchliche Anerkennung erst im späten Alter durch den Nachfolger von Pius IX. – nämlich Papst Leo XIII. – zuteilwurde67. Newman weist auf zwei grundlegende Fehlformen des Gewissens hin: Die eine Fehlform liege in seinem subjektivistisch-autonomen Verständnis begründet, die zweite im „entgegengesetzten Extrem einer autoritären Gewissenskonzeption, … die den unhintergehbaren Rückbezug jeder Wahrheitserkenntnis an die Einmaligkeit der Person und ihre subjektiven Erkenntnisvoraussetzungen überspringen möchte“68. Die Gewissenslehre Newmans erfuhr innerkirchlich mit dem II. Vatikanischen Konzil einen gewissen Durchbruch69.
V. Der Gewissensbegriff zur Zeit des Zweiten Vatikanums Die Erfahrungen der kriegerischen und humanitären Gräuel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trugen erheblich dazu bei, dass das Gewissen 64 Pius IX.: Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores qui notantur in encyclicis aliisque apostolicis litteris sanctissimi domini nostri Pii papae IX., in: ASS 3 (1867), 168–176. 65 Vgl. Johannes Gründel: Ethische Entscheidungen – Wahrheitsfragen, 93. 66 Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“, 624. 67 Papst Leo XIII. kreierte Newman 1878 zum Kardinal. 68 Eberhard Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam, 6; vgl. dazu insb. John Henry Newman: Ein Brief an seine Gnaden, den Herzog von Norfolk, 163 f. Newman nennt jedoch nicht das Wort „Subjektivismus“, sondern beschreibt die erste Fehlform mit Verweis, dass es nicht richtig sei, das Gewissen als das „Vorrecht eines Engländers“ zu verstehen, das die Menschen dazu drängt „in allen Dingen ihr eigener Herr zu sein, zu treiben, was ihnen gefällt, niemanden um Erlaubnis zu fragen“ – ebd., 163; auf der anderen Seite ist sich Newman sicher: „Spräche der Papst gegen das Gewissen im wahren Sinn des Wortes, dann würde er Selbstmord begehen“ – vgl. John Henry Newman: Ein Brief an seine Gnaden, den Herzog von Norfolk, 165; zum Verhältnis von Wahrheit und Gewissen bei Newman vgl. Hermann Geißler: Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman. 69 Vgl. Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 328 f.
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„als Inbegriff der Verantwortungsfähigkeit des Individuums“ wieder mehr in den Fokus der theologischen Betrachtung gerückt wurde70. Zudem gewinnt der urchristliche Gedanke, dass „Glauben und sittliche Lebensführung erst dort gelingen, wo sie mit subjektiver Einsicht und Zustimmung vollzogen werden“, mehr an Bedeutung, sodass dem Gewissen nun wieder stärker die Funktion einer „Ergänzung und Korrektur zu einem stark institutionsbezogenen Kirchenverständnis“ zugedacht wird71. Die Väter des II. Vatikanischen Konzils beschäftigen sich in expliziter Weise in der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ (GS) und in der Erklärung72 über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ (DH) aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem „Gewissen“ als einer anthropologischen, aber auch theologischen Größe73. „Die traditionelle Konzeption vom Gewissen als einer natürlichen Anlage im Menschen wird dadurch in eine umfassende heilsgeschichtliche Perspektive gestellt, die Frieden und Gerechtigkeit, Liebe, Solidarität und Leben über den Tod hinaus, kurz: universales Heil für alle erhofft. Gott ist das Ziel aller Menschen und jeder ist unterwegs zu ihm, solange er seinem Gewissen treu bleibt.“74 Für Schockenhoff findet sich die „theologisch bedeutsamste Aussage zur Gewissensthematik“ jedoch in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ (LG) 16, wo im Zuge der Ausfaltung der gestuften Kirchengliedschaft (vgl. LG 14 ff.) davon die Rede ist, dass auch derjenige das Heil erlangen kann, der das „Evangelium Christi und seine Kirche ohne eigene Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht“ (LG 16)75. In GS finden sich unter den „großen Traditionslinien der christlichen Anthropologie“ auch Ausführungen zum Gewissensbegriff 76. Mit GS 16 legen die Konzilsväter eine Art Begriffsbestimmung des Gewissens vor, die nun vollständig wiedergegeben wird, weil sie für die Einordnung des Gewissensbegriffs innerhalb der gegenwärtigen Theologie von großer Bedeutung ist: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich 70 Im Allgemeinen werden im 20. Jahrhundert „die traditionellen Fragen nach dem Wesen des Gewissens, seiner Entstehung, Entwicklung und Erziehung sowie seines Geltungsanspruches fortgeführt“ – Jürgen-Gerhard Blühdorn: Art. „Gewissen I“, 210. 71 Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“ Sp. 624: 72 Über die Gründe, warum DH als „Erklärung“ bezeichnet wird, vgl. Yves Con gar: Was besagt die Bezeichnung „Erklärung“, 58. 73 Der Begriff „Gewissensfreiheit“ wird in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils überhaupt nur in „Gravissimum educationis“ Nr. 8 erwähnt – vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 40 Fn. 81. Dennoch ist dieses Dokument für die Auslegung des Gewissensbegriffs nicht von Relevanz. 74 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 159. 75 Vgl. ebd., 158. 76 Vgl. ebd., 195.
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nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat. Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen. Je mehr also das rechte Gewissen77 sich durchsetzt, desto mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten. Nicht selten jedoch geschieht es, daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zuwenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird.“ Diese Textpassage aus GS stellt in ihrem Ergebnis eine Kompromisslösung zwischen Textentwürfen dar, die einerseits eine personale Gewissenserfassung und andererseits eine „strenger am Gedanken des sittlichen Gesetzes und seiner objektiven Wahrheit ausgerichteten Konzeption“78 postulierten. Noch im Textentwurf der Vorbereitungskommission war der Mensch als „eigenverantwortlich handelndes moralisches Subjekt“ völlig ausgeblendet und der Fokus ganz auf die Beobachtung der von Gott gegebenen, unveränderlichen Ordnung gelenkt worden. Dem Gewissen kam in diesem Text der Vorbereitungskommission lediglich die Aufgabe zu, vom allgemeinen Gesetz auf die spezifische Umsetzung im Einzelfall zu schließen79. Der „Gegenentwurf“80 zur Version 77 Zum Verständnis des „rechten Gewissens“ sei Folgendes angemerkt: In der Terminologie des hl. Thomas, welche auch Papst Johannes XXIII. in seinen Ausführungen zum „rechten Gewissen“ aufgegriffen hat, bedeutet dieser Terminus die „Übereinstimmung mit der objektiven Wahrheit“. In der Tradition von Suárez und Duns Scotus kann auch ein Gewissen, das sich in einem unüberwindlichen und schuldlosen Irrtum befindet, als „rechtes Gewissen“ bezeichnet werden. Jedoch ist eine solche Auffassung von einem subjektivistisch verstandenen Gewissen weit entfernt – vgl. dazu Jérôme Hamer: Geschichte des Textes der Erklärung, 77. 78 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 161. 79 Ebd., 161 f. 80 Vgl. Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Vaticani II, Vol. IV, Periodus quarta, Pars I (Vatikan 1976), 444 f.; dieser Textentwurf stieß gerade bei den deutschen Bischöfen auf Kritik, denen er aufgrund der Gebrochenheit der menschlichen Existenz
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der Vorbereitungskommission hingegen hob die Bedeutung des Gewissens als einer moralischen Urteilsinstanz der frei und verantwortlich handelnden Person hervor81. Die Textfassung in GS 16 ist wohl als Ergebnis des Versuchs zu deuten, zwischen den Auffassungen, die entweder mehr die objektive oder eben mehr die subjektive Dimension des Gewissens akzentuieren82, eine Art Synthese herzustellen. Allerdings ist fraglich, ob den Konzilsvätern dies mit dem Text in GS 16 tatsächlich gelungen ist. So kritisiert Joseph Ratzinger im Kommentar zur Pastoralkonstitution die unverbundene Koexistenz eines zum Durchbruch gelangten personalen Gewissensverständnisses und einer „aufgelockerten scholastischen Überlieferung“. Seiner Auffassung nach war es den Konzilsvätern offenbar sehr wichtig „(wie sich ja auch in der Debatte um die Religionsfreiheit immer wieder zeigte) …, die Gewissensethik nicht in eine Herrschaft des Subjektivismus umschlagen zu lassen und nicht auf dem Umweg über das Gewissen eine schrankenlose Situationsethik zu kanonisieren“83. Wenn GS das Gewissen einerseits als „Prinzip der Objektivität“ vorstelle, treffe diese Einschätzung für seine Funktion als „Drehscheibe des Dialogs“ zwischen Christen und Nichtchristen durchaus zu, so Ratzinger. Unbefriedigend sei der Text jedoch hinsichtlich „der konkreten Form des Gewissensspruchs“ und der mangelnden Einbeziehung der „Gegebenheiten unserer Erfahrung“ und der „ungenügenden Reflexion der Grenzen unseres Gewissens“84. Letztlich beantwortet GS 16 auch nicht die Frage, „ob das Gewissen oder das objektive Gesetz als Einsatzpunkt der Reflexion und als die eigentliche Quelle sittlicher Erkenntnis angesehen wird“85, wie Schockenhoff feststellt. Etwas besser gelingt der Versuch einer Synthese der oben beschriebenen Positionen in der Erklärung über die Religionsfreiheit, in der festgehalten wird, dass die sittliche Wahrheit nur im Gewissen erkannt wird (vgl. DH 2 durch die Sünde zu optimistisch schien – vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 162 f. 81 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 162. 82 Vgl. Josef Bordat: Das Gewissen, 115 f. Ebd., 116: „Diese Definition umfasst alles, was es braucht, um die katholische Auffassung vom Gewissen als Ergebnis einer Abwägung von objektivistischen und subjektivistischen Aspekten zu verstehen“; vgl. dazu Gerhard Höver: Einleitung – Normativität und Gewissen, 15: „Will man Mißverständnisse in der Auslegung vermeiden und die Aussage im Kontext des ganzen Kapitels [GS 16] interpretieren, so geht es hier wohl darum, daß man das Argument der Würde des Gewissens nicht gegen die Bedeutung sittlicher Wahrheit im Handlungsvollzug ausspielen darf, so als habe das eine mit dem anderen nichts zu tun.“ 83 Joseph Ratzinger: Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, 329; Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 165. 84 Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 330. 85 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 165.
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und 3), ohne dass diese Würde des Gewissens durch eine übergeordnete In stanz vermittelt wäre; sie ist vielmehr im Personsein des Menschen grundgelegt. Die Bindung des Gewissens an die Wahrheit ist jedoch nicht als heteronome Bestimmung zu deuten, sondern als Ermöglichung der „Freiheit zu ihrer inneren Erfüllung“86. Der Mensch ist dazu berufen, stets nach der Wahrheit zu suchen. Auf dieser Suche darf er von keiner menschlichen Macht gezwungen werden, gegen das Gewissen oder auch entsprechend dem Urteil des eigenen Gewissens zu handeln, denn die Wahrheitssuche hat der Würde des Menschen gemäß in Freiheit zu geschehen87. Nach Ansicht Schockenhoffs kann aber der „Versuch des Konzils, Wahrheit und Freiheit so zueinander zu vermitteln, dass die Wahrheit die Freiheit voraussetzt und diese umgekehrt in der Wahrheit ihre Erfüllung findet, … nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihm die Zuordnung von Gesetz und Gewissen nicht zufriedenstellend geglückt ist“88. Dennoch plädiert er dafür, die vom Konzil angestoßene und versuchte Synthese der beiden Positionen voranzutreiben, anstatt sich nur über die diesbezüglichen Mängel in den Konzilstexten zu beklagen89. Immerhin haben die Konzilsväter einen Weg eingeschlagen, der für das christliche Verständnis des Gewissensbegriffes essentiell ist und der eine einseitige Auflösung des dem Gewissensbegriff innewohnenden und notwendigen Spannungsverhältnisses vermeidet. Und so hat das II. Vatikanische Konzil erstmals „feierlich und unwiderruflich proklamiert, woran die große theologische Tradition der Kirche freilich schon immer festgehalten hat: den unvertretbaren Rang und die Würde des Gewissens, das jeden einzelnen Christen zu mündiger Freiheit und zur Verantwortung gegenüber Gott ruft. Durch diese Wiederentdeckung des Gewissens auf dem Konzil hat die Kirche sich zugleich selbst besser verstehen gelernt und von einem Zerrbild befreit, denn auch in diesem Punkt hat es die einseitig auf die päpstliche Lehrautorität konzentrierte Ekklesiologie des Ersten Vatikanums in eine ausgewogene Balance zurückgebracht“90, wie Schockenhoff resümiert. Aber es bewahrheitete sich – wie schon oft in der Konzilsgeschichte – auch hinsichtlich des Gewissensbegriffs der Umstand, dass im Anschluss an ein Konzil die Auseinandersetzung noch heftiger geführt wird als zuvor91. 86 Ebd.,
167. Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 123. 88 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 168. 89 Vgl. ebd., 168, 171. 90 Ebd., 169. 91 Vgl. dazu Alois Grillmeier: Mit ihm und in ihm, 335: „Nur in wenigen Fällen oder überhaupt kaum wird man beobachten können, daß durch die Entscheidungen eines Allgemeinen Konzils die darauf behandelten Probleme eine sofortige und dauernde Lösung gefunden haben. Im Gegenteil: meist entstehen mit den dogmatischen oder organisatorischen Entscheidungen von Synoden sofort neue Fragen, und zwar 87 Vgl.
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Papst Johannes Paul II. sah sich veranlasst, in der Enzyklika „Veritatis splendor“ die unbedingte Notwendigkeit einer Verschränkung von Wahrheit und Freiheit92 und damit die Verantwortung des Gewissens gegenüber der Wahrheit93 besonders hervorzuheben, um einer subjektivistischen Vereinseitigung des Gewissensbegriffs entgegenzutreten. So betont er, dass der „Anspruch der sittlichen Wahrheit … nicht nochmals auf eine schöpferische Selbstsetzung des Gewissens zurückgehen“ könne und „insofern auch nicht durch dessen augenblickliche Fassungskraft begrenzt“94 werde. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, plädiert Schockenhoff dafür, nicht von der „Gewissensentscheidung“, sondern vom „Gewissensurteil“ zu sprechen, um die Rückbindung des Gewissens an die Wahrheit hervorzuheben und die dezisionistische Fehlinterpretation einer „Ungebundenheit des individuellen Gewissens“, welche mit dem Begriff „Entscheidung“ in Verbindung gebracht wird, zu vermeiden95. In der Auseinandersetzung mit Strömungen, welche Auffassungen eines „autonomen Gewissens“96 vertreten, wird in Veritatis splendor die objektive Dimension des Gewissens jedoch dermaßen überbetont, „dass die in jedem Erkenntnisakt mitschwingenden Eigenanteile des erkennenden Subjekts weniger deutlich zum Ausdruck kommen, als dies bei Thomas der Fall ist“97. Das Anliegen hinter dieser lehramtlichen Tendenz ist klar: Gegenüber einer subjektivistischen Auslegung des Gewissensbegriffs soll klargestellt werden, dass es wahre Freiheit immer nur „ ‚in‘ der Wahrheit“98 gibt.
VI. Das Verhältnis von Wahrheit und Gewissen Aus einem klaren Gewissensurteil entsteht die moralische Verpflichtung, diesem Spruch des Gewissens Folge zu leisten. Aber was bedeutet das für den Wahrheitsbegriff? Zur Veranschaulichung des Dramas, das sich nicht selten im Zuge der Verhältnisbestimmung zwischen Wahrheit und Gewissen abspielt, hilft folgende prägnante Analyse Ratzingers: Manchmal werde das Gewissen nicht nur für die gegnerischen Parteien selbst … Selbst die Anhänger einer Konzilsformel können selten die Implikationen durchschauen, welche ihre Entscheidung in sich enthält“; vgl. dazu Livio Melina: Gewissen, Freiheit und Lehramt, 241. 92 Vgl. Johannes Paul II.: Enzyklika „Veritatis Splendor“, in: AAS 85 (1993), 1133–1228, hier Nr. 61; dt. Fassung in: VApSt 111 (5. korrigierte Auflage 1995). 93 Vgl. ebd., Nrn. 54–56. 94 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 178. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. insb. Alfons Auer: Autonome Moral und christlicher Glaube; vgl. dazu auch bspw. Gerhard Luf: Gewissen und Recht, 22. 97 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 179. 98 Papst Johannes Paul II.: Enzyklika „Veritatis Splendor“ Nr. 64.
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„als das Bollwerk der Freiheit gegenüber den Einengungen der Existenz durch die Autorität“ ins Feld geführt. „Dabei werden“, so Ratzinger, „zwei Konzeptionen des Katholischen gegenübergestellt: ein erneuertes Verständnis seines Wesens, das den christlichen Glauben vom Grund der Freiheit her und als Prinzip der Freiheit entfaltet, und ein überholtes, ‚vorkonziliares‘ Modell, das die christliche Existenz der Autorität unterwirft, die das Leben bis in die intimen Bereiche hinein normiert und dadurch ihre Macht über die Menschen aufrechtzuerhalten versucht … Gewissensmoral und Autoritätsmoral“ erschienen so „als zwei gegensätzliche Modelle“, die gegeneinander „im Kampf … liegen; die Freiheit des Christenmenschen würde dann durch den Ursatz moralischer Überlieferung gerettet, dass das Gewissen die oberste Norm ist, der der Mensch – auch gegen die Autorität – zu folgen hat … Diese Letztinstanzlichkeit des Gewissens wird von manchen Autoren auf die Formel gebracht, das Gewissen sei unfehlbar“99, so die scharfe Analyse Ratzingers. Entscheidet sich das Gewissen objektiv gesehen für das „Böse“ bzw. für den Irrtum, „indem es das Gute zu tun glaubt“, ist es in seinem Urteil dennoch bindend – „seine Entscheidungen zu übertreten, wäre Sünde (1 Kor 8, 7.10.12)“100. Die Frage, ob ein irriges Gewissen bindet, ist schlicht mit „ ja“ zu beantworten, insofern es „immer schlecht“ ist, „sich dem Spruch des Gewissens zu widersetzen“101. Das irrende Gewissen102 bindet so lange, wie der Irrtum tatsächlich besteht. „Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß der konkrete Spruch des Gewissens an der indispensablen Verbindlichkeit der Gewissensanlage partizipiert. Das einzelne Gewissensurteil ist allerdings fehlbar, insofern der Vorgang der Anwendung eine Verstandesoperation ist“103. Tatsächlich sagt die Verpflichtungskraft des Gewissensurteils zunächst nichts darüber aus, ob der Gewissensspruch „unfehlbar“ ist104. Aus der Verbindlichkeit des Gewissensurteils lässt sich nicht dessen Unfehlbarkeit ablei99 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 86, mit Verweis auf Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre (1798) III § 15, in: Immanuel Hermann Fichte (Hrsg.): Fichtes Werke (11 Bände). Nachdruck der Ausgaben Berlin 1845/46 und Bonn 1834/35 (Berlin 1971) hier Bd. 4, 174. 100 Ceslaus Spicq: „Gewissen“, 511; Arthur Kaufmann: Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, 9, mit Verweis auf Thomas von Aquin: STh I-II q. 19 a. 5. 101 Gisela Csik-Hopfensberger: Das Gewissen, 224. Bezüglich des irrenden Gewissens ist zu unterscheiden zwischen dem überwindlich irrenden Gewissen und dem unüberwindlich irrenden Gewissen. Auch das überwindlich irrende Gewissen bindet, wenn auch nicht auf „absolute“ Weise – vgl. ebd., 235 f. 102 Vgl. dazu Johannes Gründel: Verbindlichkeit und Reichweite des Gewissensspruches, 103–108. 103 Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“, 622 f.; vgl. dazu Kurt Koch: Gehorsam als gereinigte Freiheit, 26. 104 Vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 87; Gerhard Stanke: Freiheit und religiöser Gehorsam des Willens und des Verstandes, 26 ff.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
ten, wie es in der Debatte um das Verhältnis von Wahrheit und Gewissen oftmals den Anschein hat. In der Praxis steht das Gewissen daher nicht selten unter „Ideologieverdacht“, insbesondere dann, wenn es in einer Argumentation dazu eingesetzt und missbraucht wird, „eigene Bedürfnisse und Interessen zu verschleiern“105. Dahinter steht die Beobachtung einer vermehrten „Individualisierung von Moralität“106. Georg May macht darauf aufmerksam, dass in einem solchen Kontext die Redeweise, „man müsse seinem Gewissen folgen“, dazu neige, den Sachverhalt verkürzt zu vermitteln, denn es sei ja nicht das Gewissen, das etwas „gebietet oder verbietet …, sondern stets und immer nur Gott bzw. sein Gesetz“107. Daraus ist zu schließen, dass der Mensch nicht im eigentlichen Sinn seinem („autonomen“) Gewissen folgt, sondern der es normierenden Instanz. „Der Befehl des Gewissens ist immer normierte Norm.“108 Im Begriffsmodell des hl. Thomas gesprochen liegt dem Problem eine zunehmende Abtrennung der conscientia von der synderesis bzw. anam nesis zugrunde. Dass die beiden Begriffe zusammengehören und aufeinander bezogen sind, wird aber darin offensichtlich, dass es phänomenologisch betrachtet nur dann die Möglichkeit einer Wahrheit gibt, wenn es auch die Möglichkeit eines fehlbaren Gewissens gibt, „zumindest in Sachen der Moral und der Religion, also im Bereich der eigentlichen Grundlagen unserer Existenz“. Denn es ist offensichtlich, dass sich die Gewissensurteile nicht selten widersprechen. Gäbe es daher nicht die Möglichkeit des Irrtums, dann gäbe es „nur eine Wahrheit des Subjekts, die sich auf dessen Wahrhaftigkeit reduzieren würde“109, wie Ratzinger feststellt. Wer jedoch schon dem Wahrheits105 Peter Fonk: Das Gewissen, 12; vgl. auch Livio Melina: Gewissen, Freiheit und Lehramt; Anton Ziegenaus: Das Gewissen vor dem Anspruch des Lehramts; Arthur Kaufmann: Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung. Nach Bordat zeigt sich der mit der Anerkennung des Gewissens aufkommende Grundkonflikt in den Spannungsbögen „Individuum – Kollektiv“, „Rechtsempfinden – Rechtsordnung“, „Gewissen – Gesetz“ und „Moral – Recht“. Eine Verankerung des Gewissensbegriffs in „Gott“ beuge einer subjektivistischen bzw. objektivistischen Deutung des Begriffs vor, erzeuge aber in Anbetracht einer säkularen bzw. säkularistischen Gesellschaft ebenso wiederum Schwierigkeiten – vgl. Josef Bordat: Das Gewissen, hier insb. 23, 32. 106 Josef Bordat: Das Gewissen, 48; vgl. auch Peter Fonk: Das Gewissen, 12. 107 Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 156; vgl. dazu Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Erlösung – mehr als eine Phrase, 67 f.; Johannes Paul II.: Discorso ai partecipanti al il Congresso internazionale di teologie morale (12. November 1988), in: AAS 81 (1989), 1206– 1211, hier 1208 – deutsche Übersetzung abgedruckt in: HerKorr 43 (1989), 125–127, hier 126: „Wer von der unverletzlichen Würde des Gewissens ohne weitere Verdeutlichung redet, setzt sich der Gefahr schwerer Irrtümer aus.“ 108 Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 156; Gisela Csik-Hopfensberger: Das Gewissen, 233. 109 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 87.
A. Das Gewissen im christlichen Kontext113
begriff „Subjektivität unterstellt (meine ‚Wahrheit‘, deine ‚Wahrheit‘)“, für den gibt es dann auch kein Fundament mehr für eine Objektivität. Wird hingegen davon ausgegangen, „dass es eine gemeinsame Quelle von Vernunft und Wahrheit gibt, die auch für das Gewissen gesorgt hat, nämlich Gott“, dann ist ein tragfähiger „Grund einer Objektivierung gefunden, die jedoch nur durch das Subjekt wirksam wird (eben in Gestalt des Gewissensgebrauchs) und die damit von der Zustimmung des Subjekts abhängig bleibt“110. Insofern ist es durchaus richtig, wenn in Veritatis splendor der Kirche eine „maieutische Funktion“ gegenüber dem Gewissen zugesprochen wird, die darin besteht, dass „an das Gewissen nicht ihm fremde Wahrheiten“ herangetragen werden, „wohl aber ihm die Wahrheiten“ aufgezeigt werden, „die es bereits besitzen sollte, indem es sie, ausgehend vom ursprünglichen Glaubensakt, zur Entfaltung bringt“111. Damit wird nicht ausgeschlossen, dass jemand trotz aller aufrichtigen Bemühung und Sorgfalt zu einem von der Kirche abweichenden Gewissensurteil gelangen kann112: „Die Wahrheitsbindung des Gewissens, die in der nachkonziliaren Lehrentwicklung nachdrücklich herausgestellt wird, hebt … die zur Annahme der Wahrheit erforderliche Freiheit des Gewissens in keiner Weise auf. Mit der gleichen Schärfe, mit der sich die Enzyklika Veritatis splendor einer relativistischen Moralauffassung entgegenstellt, wehrt sie alle Versuche, die Wahrheit auf dem Wege gewaltsamer Indoktrination anderen aufzuzwingen, als Ausdruck einer fundamentalistischen Verirrung ab.“113 Beide Reaktionen – nämlich die Überbetonung der objektiven oder der subjektiven Dimension des Gewissens – provozieren nicht nur die Gefahr 110 Josef Bordat: Das Gewissen, 50 f.; vgl. auch Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 94–99; Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 230: „Die Vorstellung, dass es so etwas wie eine Vernunftgemäßheit des christlichen Ethos gibt, derer sich die einzelnen Christen durch die Teilhabe am geschichtlichen Weg des Glaubens bewusst werden, mag einer individualistischen Denkweise fremd erscheinen. Für sie bezeichnet das Gewissen einen letzten Zufluchtsort individueller Freiheit, in dem sich der Einzelne verschanzt … Das Gewissen markiert dann als das Refugium einer letzten Inkommunikabilität der jeweiligen sittlichen Existenz eine undurchlässige Grenze zum anderen, durch die hindurch es keine gemeinsame Vergewisserung bezüglich der eigenen sittlichen Wahrheit mehr geben kann. Dagegen hält der christliche Glaube (jedenfalls nach katholischem Verständnis) ein derartiges Offen-Stehen des Gewissens für die Glaubenserfahrung anderer für unerlässlich“. 111 Papst Johannes Paul II.: Enzyklika „Veritatis Splendor“ Nr. 64; vgl. dazu auch Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 36 ff.; Gerhard Stanke: Freiheit und religiöser Gehorsam des Willens und des Verstandes, 20–29. 112 Vgl. die Ausführungen zum irrenden Gewissen bei Papst Johannes Paul II.: Enzyklika „Veritatis Splendor“ Nrn. 62–63; vgl. ebenso Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 203–212. 113 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 181. Vgl. dazu auch Papst Johannes Paul II.: Kein Friede ohne Gerechtigkeit Nr. 6.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
einer Überforderung und einer Überdehnung des dem Gewissensbegriff inhärenten Spannungsverhältnisses, sondern sie beschädigen den Gewissensbegriff selbst114. Bordat bringt dies mit folgender Aussage prägnant auf den Punkt: „Das subjektivistisch formierte Gewissen ist zu allem fähig, das objektivistisch eingefasste Gewissen zu nichts zu gebrauchen.“115 Beide Extrempositionen amputieren den Gewissensbegriff zu einem unbrauchbaren und wertlosen Phänomen. Das kirchliche Lehramt stellt für das Gewissen der Katholiken keine beliebige Unterweisungsinstanz unter vielen dar, sondern steht „an deren Spitze“. Kraft ihrer Sendung hat die Kirche die Aufgabe, „die Wahrheit Christi authentisch zu verkündigen und die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen hervorgehen, autoritativ zu erklären“ und mit Verbindlichkeit vorzulegen116. Doch das kirchliche Lehramt besitzt weder ein „Weisungsmonopol“ für das Gewissen eines Gläubigen, noch ist das Gewissen ein Erfüllungsgehilfe desselben. Dem Lehramt kommt maieutische Funktion zu, welche wiederum davor im Gewissen des Einzelnen für sich entdeckt werden muss. Daraus wird ersichtlich, wie essentiell die Aufrechterhaltung des Spannungsverhältnisses der objektiven und subjektiven Dimension des Gewissens ist. Zwischen Freiheit und Wahrheit steht idealerweise ein ständiger und lebendiger Austausch, „eine vitale Beziehung, ja, eine Abhängigkeit“117, die sich in der Verantwortung118 des Menschen existenziell niederschlägt. Mit dem Hebammendienst seitens des kirchlichen Lehramtes korrespondiert die Pflicht aller Menschen, ihr Gewissen ständig weiterzubilden und zu schärfen119. Das bedeutet, dass der Christ die aufrichtige Bereitschaft auf114 Um das Wesen des Gewissens bildlich zu beschreiben, bemüht Schockenhoff das Bild einer Ellipse, deren Brennpunkte nie allein ins Zentrum rücken und wo kein Punkt die Funktion des anderen übernehmen kann – vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 234. Im vollkommenen Idealfall, der freilich nur für Gott zutrifft, kommt es zu einem Zusammenfallen, zu einer Deckungsgleichheit der beiden Brennpunkte, wodurch ein Kreis entsteht, welcher in der religiösen Symbolik als Zeichen der Vollkommenheit gedeutet wird. Der Kreis ist ein Grenzfall einer Ellipse, bei dem die beiden Brennpunkt mit dem Kreismittelpunkt zusammenfallen. 115 Josef Bordat: Das Gewissen, 49. 116 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 231; vgl. dazu ebenso Livio Melina: Gewissen, Freiheit und Lehramt, 255: „Das christliche Gewissen ist ein kirchliches Gewissen. Es erwächst aus der persönlichen Antwort auf die gemeinsame Berufung“. 117 Josef Bordat: Das Gewissen, 101. 118 In der gegenwärtigen Anthropologie lässt sich nach Gerl-Falkovitz bezüglich des Gewissensbegriffs wieder eine Annäherung an religionsphilosophische Themen feststellen – dies zeige vor allem eine „Analyse der Verantwortung ‚wovor‘ “ – vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Gewissen“, 117. 119 Nach Adam Weyer: Art. „Gewissen IV“, 225, ist das „Gewissen … in der abendländischen Tradition kulturgeschichtlich verankert … mit den unaufgebbaren
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht115
bringen muss, seine Gewissensurteile anhand der Offenbarung, der Äußerungen des kirchlichen Lehramts und des allgemeinen sensus fidei geduldig und aufrichtig zu prüfen120. Die grundlegende Verpflichtung zum kirchlichen Gehorsam beinhaltet zwar eine „allgemeine Wahrheitsvermutung zugunsten der vom Lehramt vorgetragenen Position“, aber „auch die existenzielle Bereitschaft, sich in dem Vertrauen darauf einzulassen, dass sie die verpflichtende Wahrheit des eigenen Lebensentwurfs schützt“121 (vgl. c. 748 § 1 CIC/ 1983). Alle Christgläubigen haben aber schlussendlich dennoch das Recht und auch die moralische Pflicht, in den essentiellen Angelegenheiten des Glaubens „ihrem informierten Gewissen zu folgen“122, andernfalls sie sich selbst verurteilten. Die Frage ist allerdings nun, wie der Fall zu beurteilen ist, wenn das Gewissen des Christgläubigen im lebendigen und verantworteten Austausch mit der Lehre der Kirche zu einem abweichenden Urteil kommt123. Wie ist vorzugehen, wenn Rechtsnorm und subjektives Gewissensurteil miteinander in Konflikt geraten?
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht Die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gewissen ist sehr vielschichtig und betrifft zunächst das ganz allgemeine Zueinander von Recht und Moral. In einem weiteren Schritt ist der Frage nachzugehen, ob sich das Elementen der Gewissensbildung und der Gewissensbindung und der dazugehörenden Möglichkeit des Gewissensirrtums“. 120 Vgl. dazu Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“, 625; Johannes Gründel: Verbindlichkeit und Reichweite des Gewissensspruches, 108 f. 121 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 233; vgl. dazu auch Ludger Müller: „Im Bewußtsein der eigenen Verantwortung …“, 24; Bruno Schüller: Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, 25; Jan Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung, 220 f.: „Die persönliche, freie und gewissenhafte religiöse Existenz des Gläubigen in der Kirche, im Sinne der Offenbarung, ist also eine ganz bestimmte. Ihre gottunmittelbare Dimension kann nicht auf eine privat-individuelle und christokratisch-charismatische Beziehung verkürzt werden, sondern setzt eine wesentlich ekklesial-rechtliche Einbindung voraus. Ihr freiheitlicher Vollzug steht keineswegs im Gegensatz zur rechtlichen Normierung, vielmehr erfordert dieser freiheitliche Vollzug das Recht, um rechtmäßige Entfaltung, ‚sachgerechte‘ inhaltliche Ausrichtung und Schutz gegen einen bloß subjektiven Maßstab zu ermöglichen. Auch der gewissenhafte Vollzug schließt die rechtliche Normierung nicht aus, sondern ein. Das Gewissen soll den sittlichen Charakter der kirchenrechtlichen Normen und die Eigenart von deren Geltung beachten; außerdem soll es grundsätzlich im Raum der Kirche bleiben und im Rahmen des göttlichen Rechtes.“ 122 Anthony Raymond Kosnik: Die Freiheitsrechte, 53; vgl. auch KKK 1790; Johannes Gründel: Verbindlichkeit und Reichweite des Gewissensspruches, 112–115. 123 Vgl. Konrad Hilpert: Art. „Gewissen“, 625 f.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Gewissen nicht auch als echter Rechtsbegriff in der kirchlichen Rechtsordnung findet. Davor aber wird ein Aufsatz von Georg May zur Frage des Verhältnisses von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht aufgegriffen. Die Darstellung der Position Mays soll exemplarisch veranschaulichen, wie ein einseitiger Gewissensbegriff zu einer schieflagigen Verhältnisbestimmung von Recht und Gewissen führen kann.
I. Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen nach Georg May Den im Jahr 2003 vorgelegten Ausführungen Georg Mays zum Verhältnis von Gesetz und Gewissen liegt folgende Annahme zugrunde: „Im äußeren Bereich der kanonischen Rechtsordnung geht Rechtsgesetz vor Gewissensentscheid“, nicht zuletzt, weil man gewissensmäßig an das legitime Gesetz gebunden sei und nicht verlangen könne, dass sich ein „subjektives Urteil“ gegen eine „objektive Norm“124 durchsetze und damit die Substanz der Rechtsordnung bedroht bzw. ausgehöhlt werde125. Zur näheren Begründung dieser Position legt May ein Bündel von vier Begründungen vor: Eine Rechtsordnung könne erstens nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn sie in der Lage ist, „Ordnung zu wahren, Schutz zu gewähren, dem Gemeinwohl zu dienen und die Rechtsgenossen zu erziehen“126. Sie verriete ihr Wesen, würde sie sich dem individuellen Gewissen beugen. Zweitens sei die Kirche selbst als gewissensbildende Instanz anzusehen. Diese Aufgabe kann sie nach Ansicht Mays aber nur dann zum Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft erfüllen, wenn die Verbindlichkeit der Rechtsordnung nicht vom „Gutdünken“ des Einzelnen abhängig gemacht werde. Das individuelle Gottesverhältnis als sittenbildende Instanz erwähnt May hingegen nicht. Dies hat seinen Grund nicht etwa darin, dass er auf die subjektive Dimension der Gottesbeziehung vergessen hätte, sondern May postuliert drittens den Vorrang der Sozialethik vor der Individualethik: „Die Überlegenheit des Rechtsgesetzes über den Gewissensentscheid“ sei „eine solche des Sozialen gegenüber dem Individuellen“127. Gesetzesbegriff Mays vgl. Georg May: Das Glaubensgesetz. May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht, 173; ebd.: „Die kirchliche Norm weicht nicht vor dem Gewissensspruch zurück.“ Die Konsequenz, die May für den Konfliktfall vorsieht, ist die nochmalige Überprüfung des eigenen Gewissensurteils und – im Falle eines Verharrens – das Tragen der Folgen des gesetzwidrigen Verhaltens. 126 Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht, 174. 127 Ebd. 124 Zum
125 Georg
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht117
Die vierte Begründung, die May vorlegt, ist angesichts der Aussagen des II. Vatikanischen Konzils über das Gewissen und die katholische Lehrtradition nur schwer nachzuvollziehen und soll daher wörtlich wiedergegeben werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Sie lautet: „Die Überlegenheit des Rechtsgesetzes über den Gewissensentscheid ist ein solche der Dignität, nicht der Publizität. Das will sagen: Der dem Gesetz sich entgegenstellende Gewissensspruch ist nicht deswegen unbeachtlich, weil er nicht kontrollierbar ist, sondern weil ihm prinzipiell der Vorrang vor dem Rechtsgesetz versagt werden muß.“ Dieser Vorrang gelte selbst dann, „wenn“ – und er zitiert dabei Hans Barion – „das gute Gewissen pro foro externo anerkannt werden kann oder muß“128. Schließlich betont May, dass dieses „Prinzip grundsätzlich keine Ausnahme“ erleide129. Nach der Auffassung Georg Mays befindet sich ein Gewissensurteil, das in Widerspruch zu einer kirchlichen Norm steht, immer im Irrtum. Dabei mache es keinen Unterschied, ob der Irrtum schuldhaft oder schuldlos zustande kam, denn „der Effekt“ sei in beiden Fällen derselbe, dass nämlich der „geschuldete Gehorsam“, der dem kirchlichen Gesetz gebührt, nicht entgegengebracht und die „objektive Ordnung“ der kirchlichen Gemeinschaft gestört wird. Das irrige Gewissen sei jedenfalls bedeutungslos für den Bestand und die Verbindlichkeit einer kirchenrechtlichen Norm. Und so formuliert May: „Ein (menschliches) Gesetz verliert nicht seine verpflichtende Kraft, wenn ein Gesetzesunterworfener sich gegen es auf sein (irriges) Gewissen beruft. Das Gesetz ist vielmehr ein Aufruf an den einzelnen, sein Gewissen zu prüfen, ja ihm zu mißtrauen und sich der normativen Ordnung zu unterwerfen … Es gibt kein subjektives Recht in der kanonischen Rechtsordnung auf ein der Rechtsordnung entgegengesetztes Gewissensurteil. Man kann sich nicht zu Recht auf Gottes Willen gegen die Anordnungen der gottgesetzten und gerecht gebietenden kirchlichen Obrigkeit berufen. Wollte man dies tun, trüge man einen Widerspruch in Gott selbst hinein, der gleichzeitig will, daß seinen Vollmachtsträgern Gehorsam geleistet wird und daß dennoch jeder diesen Gehorsam versagen darf.“130 Zu Recht verweist Georg May also darauf, dass die objektive Verpflichtungskraft einer kirchlichen Norm nicht unter dem allgemeinen Vorbehalt des subjektiven Gewissensurteils ihrer Adressaten stehen kann. Doch scheint er 128 Zitiert aus Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht, 175, mit Verweis auf Hans Barion: Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom katholischen Kirchenrecht, 381. 129 Vgl. Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht, 175. 130 Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 166.
118
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
in seinen Aussagen die Bedeutung des Gewissens auf dessen rezeptive Funktion zu verkürzen. Im Hintergrund dieser Positionierung steht die durchaus berechtigte Sorge über eine inflationäre Berufung auf das Gewissen und die damit einhergehende Förderung des Subjektivismus131. Dass durch eine Anerkennung des individuellen Gewissensurteils im Recht die Rechtssicherheit und Rechtsgeltung ausgehöhlt und beeinträchtigt werden könnte132, ist eine immer wiederkehrende und oft wiederholte Argumentationslinie in der Frage nach der Möglichkeit einer Rechtsfigur des Gewissenstäters133. Wie aber Gerosa richtig hervorhebt, darf „im kanonischen Recht die formale Rechtssicherheit nie mehr Gewicht haben als die wesentliche theologische Wahrheit“134. Angesichts der theologischen Äußerungen des Lehramts über das Gewissen erheben sich Zweifel, ob den Ausführungen Mays hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Gewissen in jeder Hinsicht gefolgt werden kann. So lässt seine Verhältnisbestimmung bspw. keinen Raum mehr für eine innerkirchliche Berücksichtigung der Gewissensfreiheit – einen legitimen Konflikt zwischen der Freiheit des Gewissens und einer kirchlichen Norm kann es darin nicht geben, sondern nur die gehorsame Unterordnung des subjektiven Gewissens unter das Gesetz. Fragwürdig ist zudem auch, worauf der postulierte Vorrang der Sozialethik vor der Individualethik letztendlich begründet wird, da es eine Sozialisation ohne die personale Kraft des Individuums gar nicht geben kann. Die von ihm gegenüber dem Gewissen hervorgehobene Dignität der Rechtsnorm kann zwar insofern nachvollzogen werden, als jene Normen, die im ius divinum ihren Ursprung haben – dem Gewissen zweifelsohne „vorgegeben“ sind; dennoch können sie aber immer nur aufgrund eines je personalen Gewissensaktes als solche erkannt und angenommen werden. Daran wird also deutlich, dass jene Spannung, die im Gewissensbegriff selbst grundgelegt ist, nicht einseitig zugunsten des einen oder anderen Poles aufgelöst werden kann. Die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Gewissen hat es jedenfalls verdient, dass ihre Beantwortung nicht vorrangig von der Sorge über eine Aushöhlung der Rechtsordnung geleitet wird, sondern vom Wahr- und Ernstnehmen des Gewissensbegriffs selbst. 131 Vgl.
ebd., insb. 145 Fn. 2 und 161. ebd., 167: „Dann verlöre das Recht seine zwingende Gewalt und verwandelte sich in eine Konventionalordnung.“ 133 Vgl. dazu Jürgen C. Gödan: Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 13; Udo Ebert: Der Überzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 87. 134 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 187; vgl. ebd.: „Zweitens kommt die Rechtssicherheit strenggenommen bei keinem Tatbestand, für den eine ‚poena latae sententiae‘ angedroht ist, zustande, wenn man die unter Titel III des CIC/1983 festgesetzten Bedingungen berücksichtigt, die gegeben sein müssen, damit wirklich etwas als Delikt gilt.“ Zum Vorrang der „theologischen Gewissheit“ gegenüber der „ juristischen Gewissheit“ vgl. Libero Gerosa: Mitbürger der Heiligen, 58. 132 Vgl.
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht119
II. Das Verhältnis von Recht und Moral Speziell im Umgang mit kirchlichen Normen ist es erforderlich und notwendig, rechtliche Normen von Normen anderer Art zu unterscheiden. Im CIC sind oftmals theologische oder moralische Normen einfach neben „echten“ Rechtsnormen angeführt. Wird der jeweilige Charakter der Norm jedoch nicht wahr- und ernstgenommen, dann besteht entweder die Gefahr einer reinen Äußerlichkeit, wenn nämlich religiös-moralische Normen ohne die notwendige innere Bejahung – sozusagen nur äußerlich – erledigt werden, oder die Gefahr einer Überforderung, wenn moralische bzw. theologische Zielgebote als Rechtsnormen fehlinterpretiert werden135. Die Notwendigkeit, zwischen Recht und Moral zu differenzieren, bedeutet jedoch nicht, dass die beiden Arten von Normen nichts miteinander zu tun hätten bzw. Recht und Moral im kirchlichen Bereich völlig voneinander getrennt werden könnten136. Nicht alle Rechtsnormen in der Kirche sind notwendigerweise zugleich sittliche Normen, wenngleich aufgrund des spezifischen Charakters der kirchlichen Rechtsordnung von einer sehr großen Schnittmenge auszugehen ist137. Wie bereits erwähnt wurde, ist es allerdings umstritten, ob es in der Kirche prinzipiell moralisch indifferente Sanktionsnormen geben kann138. Hinsichtlich des Verhältnisses von Rechtmäßigkeit und Moralität sind verschiedene Konstellationen denkbar. Im Regelfall ist wohl davon auszugehen, dass rechtmäßiges Verhalten in der Kirche zugleich moralisch ist. Doch kann es auch den Fall geben, dass rechtmäßiges Verhalten unmoralisch ist, weil in der konkreten Situation aus sittlicher Perspektive eine andere Handlung geboten gewesen wäre139 oder weil vielleicht sogar das Gesetz an sich unmoralisch ist. In diesem letzten Fall hätte das kirchliche Gesetz jedoch von vornherein keine Verpflichtungskraft140. Und schließlich kann eine Handlung objektiv rechtlich und moralisch einwandfrei sein, in subjektiver Hinsicht 135 Vgl. Ludger Müller: Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht, 287–310; Stephan Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 242; Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts, 96–99. 136 Vgl. Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 76–100. 137 Aymans geht davon aus, dass Rechtsnormen „zugleich sittliche Normen“ sind, wenngleich er darauf hinweist, dass sie nur einen Ausschnittsbereich aus dem sittlichen Gefüge darstellen (Aymans/Mörsdorf: KanR I, 7); diese Aussage trifft sicherlich für die meisten Rechtsnormen in der Kirche zu, dennoch gibt es sicherlich auch einige moralische indifferente Rechtsnormen im Bereich des rein kirchlichen Rechts. 138 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 165. 139 Wer z. B. auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst einem Unfallopfer keine Erste-Hilfe leistet, erfüllt zwar die kirchliche Sonntagspflicht, handelt dennoch aber unmoralisch. 140 Vgl. Wilhelm Rees: § 9 Die Rechtsnormen, 136.
120
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
aber dennoch unmoralisch, weil sie gegen das eigene Gewissensurteil verstößt. Rechtsnormen beziehen sich auf äußerlich feststellbares menschliches Zusammenleben, weil es im Rechtsbereich grundsätzlich möglich sein muss zu überprüfen, ob sich jemand rechtmäßig verhält oder nicht. Dementsprechend knüpft das Recht zunächst nur an Verhalten an, das in irgendeiner Weise äußerlich in Erscheinung tritt141. Im Allgemeinen gilt daher: Rechtsnormen betonen die äußere und sittliche Normen die innere Dimension menschlichen Verhaltens. Dennoch ist dem Recht die innere Gesinnung keinesfalls gleichgültig. Zwar gelten Rechtsnormen bereits schon dann als befolgt, wenn sie äußerlich gesehen eingehalten werden; dennoch stellt sich die Frage, ob die rechtliche Verpflichtungskraft ganz ohne einen Anspruch an das menschliche Gewissen auskommen kann. Ein näherer Blick auf das Kirchenrecht offenbart sehr schnell, dass gerade im Recht einer Glaubensgemeinschaft nicht nur eine rein äußerliche Anpassung oder Unterwerfung unter ihre Normen angestrebt werden kann, sondern die Gewissens-geleitete Zustimmung der Normadressaten von essentieller Bedeutung ist. Und insofern Rechtsnormen zugleich auch moralische Normen darstellen142, erheben sie selbstverständlich auch den Anspruch, das Gewissen der Rechtsadressaten sittlich zu verpflichten. „Der Rechtsnorm wie der Rechtsbefugnis kommt daher stets eine innere, im Gewissen wirkende Verbindlichkeit zu“143. Die innere Gesinnung des Normadressaten ist aber vor allem auch „für die rechtliche Beurteilung einer Handlung“ von entscheidender Bedeutung, wie beispielsweise „bei der Beurteilung einer Straftat“144. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass es sittliches Handeln niemals „ohne Freiheit der persönlichen Entscheidung“ geben kann; „erzwungenes Handeln ist ohne sittlichen Charakter“145. Keine Rechtsordnung – auch nicht die einer Glaubensgemeinschaft – kann jedoch ohne Zwang auskommen, wenn sie sich nicht völlig der Willkür der Rechtsadressaten ausliefern 141 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 7: „Der alte römische Satz ‚De internis non iudicat praetor‘ will nicht sagen, daß das innere Verhalten dem Recht gleichgültig sei; er bedeutet vielmehr, daß für die rechtliche Beurteilung nur solches Handeln und Geschehen in Betracht kommt, das irgendwie nach außen in die Erscheinung getreten ist.“ Ebd., Fn. 12: „In foro externo nihil est quod non apparet.“ Vgl. dazu insb. auch Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 100. 142 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 7. 143 Ebd.; vgl. dazu auch Richard Potz: Die Abtreibung im kirchlichen Recht, 212 f. 144 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 7, mit Verweis auf den Rechtsgrundsatz: „Nulla poena sine culpa“. 145 Ebd., 8.
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht121
möchte. „Rechtszwang“ äußert sich vor allem darin, dass Rechtspflichten oder Rechtsverletzungen gegen den Willen bzw. unabhängig vom Willen des Betroffenen durchgesetzt bzw. sanktioniert werden können. Der Zwang spielt jedoch, wie Aymans betont, in der kirchlichen Rechtsordnung „nur die Rolle einer Ersatzfunktion“ und greift dort durch, „wo die von dem Wesen des Rechts geforderte innere Einsicht und freiheitliche Entscheidung versagt“146. Insofern ist Zwang kein „Wesensmerkmal des Rechts“ an sich; er ist aber dort „sittlich gerechtfertigt“, wo er „ein vom Recht genau umgrenztes, ein gerechtes Verhalten erzwingen will und mithin auf ein hohes sittliches Gut bezogen ist“147. Die Schwierigkeit im Fall des „Gewissenstäters“ ist nun jene, dass zwei sittliche Sollensansprüche – nämlich der durch die sanktionsbewehrte Rechtsnorm zum Ausdruck kommende sittliche Anspruch und der Anspruch des individuellen Gewissens – einander gegenüberstehen. Ist dem Gewissens urteil eine aufrichtige und sorgfältige Prüfung vorausgegangen, dann ist es klare und eindeutige Lehre der Kirche, dass unter diesen Umständen dem Spruch des Gewissens zu folgen ist148, selbst wenn es objektiv irren sollte. Welche Auswirkungen hat nun diese Einsicht für das kanonische Recht?
III. Das Gewissen – ein unjuristisches Ding? Die von Hans Ryffel ausgesprochene Vermutung, das Gewissen sei ein „unjuristisches Ding“149 lässt die Schwierigkeiten der Juristen bzw. der Kanonisten mit diesem Begriff erahnen. Vergleicht man den „ungewöhnlich hohen Rang“, der dem Gewissen in vielen Rechtssystemen eingeräumt wird, mit der tatsächlichen forensischen Praxis, dann tritt eine erstaunliche „Diskrepanz“ zu Tage, wie Dieter Witschen im Hinblick auf staatliche Rechtssysteme feststellt. Diese Diskrepanz wird insbesondere darin offensichtlich, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit „erstaunlicherweise nur selten zur Applikation“150 kommt. Zunächst kann diese Beobachtung durchaus als positives Zeichen gedeutet werden, da anscheinend der Bedarf, dieses Grundrecht geltend zu machen, sehr gering ist. Ziel einer jeden menschenwürdigen 146 Ebd. 147 Ebd.
148 Vgl. dazu das Kapitel 3. A. „Das Gewissen im christlichen Kontext“ in dieser Arbeit. 149 Hans Ryffel: Das Naturrecht, 59; vgl. dazu ebenso Erhard Mock: Gewissen und Gewissensfreiheit, 13 f.; Dieter Witschen: Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 477. 150 Dieter Witschen: Restriktive Auslegungen des Rechts auf Gewissensfreiheit, 477.
122
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Rechtsordnung muss es ja sein, so wenig Gewissenskonflikte wie nur möglich bei den Normadressaten zu provozieren. Dieter Witschen hegt jedoch den Verdacht, dass die geringe Anwendung dieses Grundrechts auf einen anderen Umstand zurückzuführen ist, nämlich darauf, dass es sich beim Gewissen um eine „innere moralische Instanz“ handelt, welche als „mit recht lichen Instrumentarien kaum handhabbar gilt“151. Im Extremfall führt diese Ansicht zur sogenannten „These der ‚Innerlichkeit‘ des Gewissens“, welche nach Ulrich Bopp die „schwerste rechtsphilosophische und verfassungsgeschichtliche Hypothek“152 für die Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit darstellt. Inhaltlich besagt diese These, dass die „Freiheit des Gewissens … ein mit der Natur des Menschen gegebener innerer Sachverhalt [ist], der rechtlicher Gewährleistung weder bedürftig noch fähig ist. Das Gewissen entfaltet seine Wirksamkeit nur im seelisch-geistigen Bereich. Als ‚forum internum‘, das über das innere Verhalten des Menschen, seine Vorstellungen, Wünsche und Willensentschlüsse richtet, ist es äußeren, kausalmechanischen Einwirkungen schlechthin entzogen.“153 Abgesehen davon, dass hier das fo rum internum fälschlicherweise mit dem Gewissensbereich identifiziert wird, verneinen Vertreter der Auffassung von der „Innerlichkeit des Gewissens“ die Möglichkeit einer äußerlichen, rechtlich feststellbaren Manifestation eines Gewissensurteils. Das Gewissen könne ihrer Ansicht nach zwar den rechtserheblichen Willen beeinflussen und prägen, aber in seinem eigentlichen Wesen nicht nach außen in Erscheinung treten. Im Umkehrschluss bedeutet die These von der „Innerlichkeit des Gewissens“ jedoch auch, dass das individuelle Gewissen als rein inneres Phänomen niemals durch äußere (Zwangs-)Maßnahmen beeinträchtigt werden kann und insofern auch nicht als Rechtsgut geschützt werden muss154, womit auch jedes „Konfliktpotential zwischen subjektivem Gewissensbefehl und allgemeinem Gesetz nahezu vollständig entschärft“ wäre155, freilich zum Preis, dass auf das Rechtsgut der Gewissensfreiheit verzichtet wird. Übertragen auf den kirchlichen Kontext wäre die These von der „Innerlichkeit des Gewissens“ einerseits zwar eine Antithese zu Kleins Entwurf einer „Kirche der freien Gefolgschaft“, in der sich ja gerade durch den Gewissens- bzw. den Glaubensakt die kirchliche Existenz konstituiert, andererseits haben die beiden Thesen auch eine entscheidende Gemeinsamkeit: Recht und Gewissen werden in ihnen als zwei derart unterschiedliche Wirk151 Ebd.
152 Ulrich
141.
153 Ebd.,
Bopp: Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit,
mit Angabe umfangreicher Literatur zu diesem Thema. ebd., 142. 155 Josef Isensee: Gewissen im Recht, 44. 154 Vgl.
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht123
lichkeiten interpretiert, dass es zwischen ihnen keine belastbaren Schnittpunkte bzw. Verbindungslinien geben kann. Nicht selten begegnet auch innerhalb der katholischen Theologie die Auffassung, dass der Gewissensbereich eine dem Rechtsbereich entzogene und unzugängliche Wirklichkeit sei. Fälschlicherweise wird dabei oft das forum internum mit dem Gewissensbereich gleichgesetzt und dann dem forum ex ternum als Rechtsbereich gegenübergestellt. Eine nähere Betrachtung des Begriffs forum zeigt allerdings, dass er erstens überhaupt nicht geeignet ist, eine solche Abgrenzungsfunktion zu erfüllen, und dass zweitens dem Gewissen tatsächlich eine wichtige „Klammerfunktion“ zwischen forum internum und forum externum zukommt.
IV. Die Einheit von forum internum und forum externum im kirchlichen Rechtsbereich Das kanonische Recht kann sich nicht nur auf ein rein „äußerliches Funktionieren der Gemeinschaftsbeziehungen“ beschränken, da es nicht nur für ein geordnetes Miteinander, sondern auch für „das geistliche Wohl des einzelnen“156 sorgen muss. Die „Unwiederholbarkeit der menschlichen Person und ihrer unmittelbaren Verantwortung vor Gott“ hat zur Folge, dass diesem Faktum Rechnung getragen werden muss. Die Differenzierung „zwischen äußerem und innerem Bereich“ bzw. zwischen forum externum und forum internum trägt wesentlich dazu bei, „diese Spannung auszugleichen“157. Auch wenn nun das Recht mehr die äußere und das Sittengesetz mehr die innere Dimension des menschlichen Verhaltens „betont“158, so kann diese Grundtendenz für das Kirchenrecht keinesfalls dahingehend verabsolutiert werden, dass kirchliches Recht auf „äußeres Handeln“ und Sittlichkeit auf „innere Gesinnung“ reduziert werden könnte – beides „wäre … gleich unbefriedigend und verhängnisvoll“159. In diesem Zusammenhang sind daher einige Missverständnisse zu klären, denen man in der Literatur des Öfteren begegnet: 156 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 97. Helmuth Pree: § 13 Die Ausübung der Leitungsgewalt, 208: „Der Sinn des forum internum als eines eigenständigen Rechtsbereiches ist letztlich die salus animarum“, mit Verweis auf Communicationes 1 (1969), 79: Principium Nr. 2 der CIC-Reformkommission. In der Ausübung der kirchlichen Leitungsgewalt ist daher die „individuelle Gewissenslage“ zu „berücksichtigen“ – vgl. ebd. 157 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 98, mit Verweis auf Helmuth Pree: § 12 Die Ausübung der Leitungsvollmacht, in: HdbKathKR (Regensburg 1983), 132. 158 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 7. 159 Ebd.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Der innere Bereich, das forum internum, wird im rechtswissenschaftlichen Bereich nicht selten mit dem Gewissensbereich gleichgesetzt und als Gegensatz zum forum externum konstruiert160. Für Pree liegt die Ursache dieses Missverständnisses in der traditionellen Formulierung des can. 196 CIC/1917, der über die kirchliche Jurisdiktions- bzw. Leitungsgewalt Folgendes aussagte: „alia est fori externi, alia fori interni, seu conscientiae, sive sacramen talis sive extra-sacramentalis“. Jedoch schon Klaus Mörsdorf hat bei der Auslegung dieses Canons darauf hingewiesen, dass die Formulierung „alia – alia“ in diesem Fall nicht mit „die eine – die andere“, sondern mit „teils – teils“ zu übersetzen sei161, womit eine ausschließende Gegenüberstellung der verschiedenen Bereiche vermieden wird. Eine weitere unangemessene Unterscheidung der beiden fora liegt im Übrigen auch für den Fall vor, in dem das forum internum als ein privater, vorkirchlicher bzw. spiritueller Bereich dem forum externum als Rechtsbereich gegenübergestellt wird162. Zur Entflechtung dieser Missverständnisse ist eine nähere Untersuchung des Begriffs „ forum“ sehr hilfreich. Maßgebend für ein solches Unterfangen ist immer noch die Arbeit „Forum in der Rechtssprache“ von Bruno Fries aus dem Jahr 1963, in der er die Begriffsgeschichte des lateinischen Begriffs fo rum von der Frühzeit bis in die Gegenwart nachzeichnet163. 160 Vgl. dazu Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache; vgl. aber auch Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni, insb. 548 f.; Helmuth Pree: § 13 Die Ausübung der Leitungsgewalt, 207; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 185 in Bezug auf can. 16 des Schema Poen 1973: „Statt sie [forum internum und forum externum] aufeinander hinzuordnen und Konflikte zwischen den beiden Foren zu verhindern, identifiziert can. 16 des Schemas von 1973 am Ende einerseits das ‚forum internum‘ mit dem moralischen und dem ‚forum conscientiae‘ und andererseits das ‚forum externum‘ mit dem Rechtsbereich, auch ‚forum Ecclesiae‘ genannt. Diese doppelte Gleichsetzung, die durch die völlige Trennung der beiden Bereiche vorgenommen wird, verkennt zum einen die Rechtsnatur des ‚forum internum‘ und führt zum anderen zu einem Bild der Kirche als rein äußerliche Organisation“; auf dieses Missverständnis hat auch schon Klaus Mörsdorf hingewiesen – vgl. Klaus Mörsdorf: Zum Problem der Exkommunikation, 860, 862. 161 Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni, 550; vgl. ebd., 549–551. 162 Vgl. dazu Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 34 – hier listet Pree auch weitere Missverständnisse hinsichtlich der Unterscheidung der beiden fora auf. 163 Vgl. Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache; vgl. dazu aber auch Bruno Fries: Art. „Forum“; Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni; Winfried Trusen: Zur Bedeutung des geistlichen Forum internum und externum für die spätmittelalterliche Gesellschaft; Georg May: Art. „Forum“; Helmuth Pree: Forum externum und forum internum; Helmuth Pree: Forum externum und forum internum. Zu Sinn und Tragweite einer Unterscheidung; Velasio De Paolis: Coordinatio
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht125
Die groben Entwicklungslinien des Begriffs forum können mithilfe zweier komplementärer Grundzüge beschrieben werden, die zusammen ein geschlossenes Bild ergeben. Der erste Grundzug ist geprägt vom Phänomen der stetigen „Abstraktion“. Aus dem Begriff forum, der ursprünglich den „Gemeindeplatz“ als Gerichtsstätte beschreibt, wird das „Gericht“, und als mehrere Gerichte in Konkurrenz zueinander treten, wird daraus die Bezeichnung des Gerichtsstandes164. Der Höhepunkt dieses Abstraktionsprozesses ist schließlich erreicht, als forum zur Bezeichnung für das formelle Recht als solches verwendet wird. Der zweite bedeutende Grundzug hinsichtlich des forum-Begriffs besteht in einer zunehmenden „Anreicherung des Sinngehalts“, wenngleich die „Ortsbezogenheit“ des Begriffs stets im Hintergrund vorhanden bleibt165. Der Sinngehalt des Begriffs wird vor allem um Aspekte des Autoritäts- und Kompetenzgedankens angereichert. Forum ersetzt die iurisdictio zur Bezeichnung einer Zuständigkeit dabei aber nur insoweit, „als das Verhältnis der Rechtssuchenden zur Behörde … begrifflich noch von wirklicher Bedeutung ist, d. h. im ganzen Umfang der subjektiven Kompetenz, nicht aber der objek tiven“166. So wird der forum-Begriff materiell durch den „Gewaltgedanken“ bestimmt, der sich aus dem Verhältnis zwischen dem „subjektiven Anspruch der Rechtssuchenden und der objektiven Kompetenz des Gerichts“ ergibt167. Das heute oft verwendete Begriffspaar „ forum externum – forum inter num“ begann sich erst zu entwickeln, „als der juristische Grundbegriff forum seine volle Ausbildung erfahren hatte“168, wie Mörsdorf feststellt. Die Sinngebungen dieses Begriffspaares ergeben sich historisch gesehen aus unterschiedlichen Kontexten. Ein erster solcher Kontext war vor allem die Bußtheologie. Um die Kompetenz bei der Sündenvergebung festzulegen, wurde die Unterscheidung zwischen forum poenitentiale und dem archanum propitiationis Dei (dem geheimnisvollen Ratschluss der Versöhnung mit Gott) eingeführt. „Es ist zu beachten, daß der als Gegensatz zu forum poenitentiale logisch geforderte Begriff forum Dei nicht gebildet, sondern statt dessen vom ‚archanum propitiationis‘ gesprochen wird“169. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass der institutionelle Charakter des noch „frischen“ forum-Begriffs nicht geeignet inter forum internum et externum in novo iure poenali canonico; Josef Hahn: Das Forum internum und seine Stellung im geltenden Recht. 164 Vgl. Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 126. 165 Ebd. 166 Ebd., 130. 167 Ebd., 131. 168 Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni, 553. 169 Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 174 f.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
schien, um das ganz individuelle Gnadenwirken Gottes im Innersten des Menschen zu beschreiben; treffend hingegen passte er zur Beschreibung des unter der Autorität der Kirche stehenden sichtbaren Bußverfahrens, wo ihm eine abgrenzende Funktion für die Kompetenz der Kirche zukommt. Aufgrund der mangelnden Durchdringung der bußsakramentalen Realität stehen auf dieser Entwicklungsstufe des Begriffspaares der göttliche und ekklesiale Bereich noch mehr oder weniger unvermittelt nebeneinander. Trotzdem lassen sich nach Fries aus dieser Verwendung des forum-Begriffs wichtige Schlüsse ziehen: „Das forum poenitentiale ist das forum der Kirche im Bußverfahren; es steht einem gedachten forum Dei gegenüber.“170 Anzumerken ist, dass die begriffliche Unterscheidung noch nicht auf die Form der Rekonziliation abstellt (die zum diesem Zeitpunkt noch – wenn auch nur mehr selten – öffentlich erfolgen konnte). Eine weitere Begriffsdifferenzierung findet schließlich durch die Verhältnisbestimmung von forum iudiciale und forum poenitentiale statt. Dabei wird die pena satisfactoria, verstanden als die vom Beichtvater verhängte „Buße“ für die nicht-öffentlichen Sünden zur Vergebung der Schuld bzw. zur Rettung vom Fegefeuer und vor der Hölle, von der pena iudiciaria unterschieden, welche von einem Richter verhängt wird, wenn der Delinquent öffentlich gesündigt hatte und es sich um ein kirchliches Vergehen handelte. Wenn das kirchliche Vergehen allerdings geheim, also nicht öffentlich war, war es mit keiner Strafe zu belegen. So kommt dem Beichtvater die Nachlassung der Sünde „quantum ad Deum“ – vor dem Angesicht Gottes –, dem Richter „quantum ad Eccle siam“ – im Hinblick auf die Kirche zu. Trotz dieser Differenzierung verneint Fries jedoch eine strenge Gegenüberstellung eines „(kirchlichen) Rechtsbereichs“ und eines „(gnadengelenkten) Gewissensbereichs“, denn Sündenvergebung und Deliktsabbüßung werden in diesem Kontext gleichsam als Einheit betrachtet171. Die Differenzierung hängt nämlich allein vom Umstand ab, ob die Sünde öffentlich ist oder nicht bzw. ob die Sünde als ein crimen qualifiziert wurde. Aus der öffentlichen Sünde wurde so nach und nach der Deliktsbegriff herausgefiltert. Mit der Entwicklung der Privatbuße wurde die rechtliche Differenzierung zwischen dem Bußverfahren und dem Strafverfahren weiter vorangetrieben, bis schließlich die Exkommunikation nicht mehr als „ein bußtheologischer Akt“, sondern nur noch als „Strafe im engeren Sinn“ verstanden wurde172. Diese Entwicklung erstreckte sich freilich über Jahrhunderte. 170 Ebd.,
174. 177. 172 Ebd., 179. 171 Ebd.,
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht127
Im Hinblick auf die dreifache Unterscheidung der Theologie zwischen archanum propitiationis Dei, dem forum poenitentiale und dem forum iudi ciale173 bedeutet dies zunächst, dass „im forum poenitentiale die gleiche kirchliche Rechtsgewalt wie im forum iudiciale tätig ist und soweit es sich also wirklich um zwei ‚fora‘ handelt, will die Unterscheidung nur eine formale Abgrenzung, aber keine inhaltliche Aussage über eine etwaige Gewaltenverschiedenheit geben“174. Doch wie sieht es aus mit dem archanum propitiationis Dei, also dem innersten Ort der Versöhnung mit Gott, dem Bereich, der traditionell mit dem Gewissensbereich gleichgesetzt wird? Auch wenn es lange vermieden wurde, den mit institutionellem Charakter angehauchten forum-Begriff für den Gewissensbereich zu gebrauchen, so taucht im dritten Teil der Summa theolo giae schließlich doch die Formulierung forum conscientiae auf 175. Darin geht es um die Frage, ob das menschliche Gesetz die Normadressaten im Gewissensbereich zu verpflichten vermag oder nicht. In diesem Zusammenhang wird der Begriff forum offensichtlich nicht zur Bezeichnung eines bestimmten Verfahrens, sondern „synonym mit ‚iudicium conscientiae‘ und mit ‚conscientia‘ selbst gebraucht“176. Das Gewissensurteil wird in diesem Kontext eng angelehnt an das Urteil Gottes selbst. Die in der Summe aufgeworfene Frage hat ihren Ursprung in der Herausarbeitung des Deliktsbegriffes, welche vor allem durch Fälle aus dem Ordinationsrecht vorangetrieben wurde. 173 Ebd.,
184. vgl. dazu auch Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni, 552. Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 185: „Die Gegenüberstellung von forum poenitentiale und forum iudiciale, wie sie uns bei Alexander von Hales und Philipp dem Kanzler entgegentritt, ist auf dem Boden der Bußlehre, also der Sakramententheologie erwachsen. Die hat die beiden konkreten Verfahrensweisen vor Augen, in denen die Kirche forensisch tätig wurde. Die institutionelle Sicht der zwei Bereiche ist daher ihr besonderes Kennzeichen.“ 175 Vgl. Thomas von Aquin: STh III q. 96 a. 4 (I-II q. 96 a. 4 arg. 1); zu beachten ist das die tertia pars der Summe von Schülern des hl. Thomas vollendet wurde. Vgl. dazu aber auch Bruno Fries: Art. „Forum“, 224 f.: „Statt dessen bildete er forum conscientiae, das er im institutionellen Sinn von forum paenitentiale oder im rechtsphilosophischen Sinn von Gewissens- als Gegensatz zum Rechtsbereich verwendet. Spätere haben beides verquickt. Aus dem Gedanken, daß es im Gewissensbereich um das Verhältnis mit Gott geht, führte das z. T. zu einer Gleichsetzung von forum internum mit forum Dei und von forum externum mit forum ecclesiae … Folglich aber wird entweder das forum internum seines rechtlichen Charakters entkleidet, oder man kommt zu 2 völlig verschiedenen Gewalten. Dies kann in die Nähe der reformatorischen Aufspaltung der Kirche in ecclesia abscondita und universalis führen. Demgegenüber ist festzustellen, daß die Kirchenrechtsquellen die Unterscheidung immer im institutionellen, aus der Bußtheologie überkommenen Sinn gebrauchen, selbst wenn der Begriff forum conscientiae verwendet wurde“. 176 Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 186. 174 Ebd.;
128
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Kirchliche Normen wurden dabei immer deutlicher als von Menschen formulierte Rechtssatzungen wahrgenommen, wodurch sich die Frage ergab, inwieweit diese das Gewissen zu verpflichten vermögen177. Nicht also „ethischrechtsphilosophische Überlegungen der Kanonisten“ brachten den Begriff forum conscientiae hervor, sondern die Wahrnehmung eines Teils des Kirchenrechts als ein von Menschenhand „gemachtes“ Recht178. Damit kann im dritten Teil der Summa theologiae „eine Verbindungslinie zwischen der aus der Bußlehre stammenden Unterscheidung forum poenitentiale – iudiciale und der in der Kanonistik herausgebildeten von Gewissensund Rechtsbereich“179 ausgemacht werden, welche „unter der Rücksicht der gleichen Materie in dem je sich entsprechenden Gebiet (Sünde – Delikt) auch möglich“180 ist. „In sakramentstheologischer, institutioneller Schau“ war Thomas bzw. seinen Schülern jedenfalls klar, dass „das forum poenitentiale nicht nur der Kirche zur Verwaltung übertragen ist, sondern daß darin auch die Stellung des Sünders zu ihr berührt wird. Er hat so ein rechtliches Moment in ihm anerkannt und hier keinen Gegensatz zwischen Gewissen und Recht, Gott und Kirche aufgerichtet.“181 In der Theologie wirkte sich diese Differenzierung aber derart aus, „daß an die Seite der institutionellen bußtheologischen Sicht des forum poenitentiale und forum iudiciale die ethische eines Gewissens- und Rechtsbereiches trat. Bezeichnend nun für den Forum-Begriff ist es, daß sich die beiden Reihen im ‚forum con-scientiae‘ treffen und über diese Wendung terminologisch zu einer Einheit verschmelzen.“182 Dies ist durchaus bemerkenswert, denn es streicht die Bedeutung des Gewissens deutlich hervor.
177 Vgl.
ebd., 188. untermauert dies, indem er darauf hinweist, dass nicht einmal in der Summa de poenitentia des Raymund von Peñaforte diese Wortwendung vorkommt, obwohl es darin um die Unterscheidung von Gewissens- und Rechtsbereich geht. Verantwortlich dafür ist nach der Meinung von Fries vor allem der „institutionelle Charakter des juristischen Forum-Begriffes“ – vgl. Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 189. 179 Ebd. 180 Ebd., 198. 181 Ebd., 198 f. 182 Ebd., 225; vgl. dazu bspw. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 99: „Neben dem Rechtsbereich (forum internum bzw. forum externum) steht der Gewissensbereich (forum conscientiae). Die Unterscheidung zwischen dem Gewissens- und dem Rechtsbereich wird deutlich durch die Unterscheidung von Sünde und Straftat. Die Sünde stört unmittelbar das Verhältnis des Menschen zu Gott und steht damit zunächst im Gewissensbereich. Erst dadurch, daß der Sünder im Bußsakrament einen Beichtvater um die Lossprechung der Sünde angeht, wird der innere sakramentale Bereich und damit der Rechtsbereich der Kirche betreten.“ 178 Fries
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht129
Jedenfalls bewiesen die „alten“ Kanonisten ein gutes Gespür, wenn sie den Begriff „ forum Dei“ als Bezeichnung für die je individuelle Sphäre des Gewissens bewusst vermieden, obwohl er abstrakt zwar möglich, aber nicht unbedingt angemessen war. Fries schlägt daher vor, zur Bezeichnung Gewissensbereichs die Begriffe „ forum internum sacramentale“ bzw. den „alten Ausdruck forum poenitentiale“ zu verwenden oder in einem rein ethischmoralischen Kontext nur von der conscientia allein zu sprechen. Soll hingegen vom „aktuellen Charakter des einzelnen Gewissensurteils“ die Rede sein, sei der Begriff „iudicium conscientiae“ am besten dazu geeignet, so Fries183. Was schließlich den Gebrauch des Begriffspaares forum internum und f orum externum im CIC/1917 anbelangt, sieht Fries einige Hinweise, dass „die ethisch-rechtsphilosophische Unterscheidung zwischen Gewissens- und Rechtsbereich“ bei seiner Verwendung „mindestens nicht im Vordergrund“ stand, wobei damit nicht gesagt ist, dass es nicht eine inhaltliche Schnittmenge gibt184. Die Problematik der richtigen Übersetzung von can. 196 CIC/1917 wurde weiter oben schon erörtert.
V. Das Begriffspaar forum internum und forum externum im CIC/1983 Die Bischofssynode von 1967 approbierte für die CIC-Reform folgende Leitlinie: „Fori externi et interni optima coordinatio in Codice Iuris Cano nici existat oportet, ut quilibet conflictus inter utrumque vel dispareat vel ad mininum reducatur. Quod in iure sacramentali et in iure poenali peculiariter curandum est “185 – die Koordination zwischen forum externum und internum habe im Codex so zu erfolgen, dass der Konflikt zwischen den beiden entweder verschwindet oder auf ein Minimum reduziert werde. Dafür sei insbesondere im Sakramentenrecht und im Sanktionsrecht Sorge zu tragen. Um dieser Leitlinie zu entsprechen und „Vermischungen und Konflikte“ zwischen dem forum interum und dem forum externum zu vermeiden, versuchte die Kommission für die Erarbeitung des neuen Sanktionsrechts die „Strafwirkungen“ auf den rein äußerlichen Bereich zu beschränken186, da das Sanktionsrecht an 183 Bruno
Fries: Forum in der Rechtssprache, 226. 233 Fn. 34; 236 f. 185 Communicationes 1 (1969), 79. 186 Vgl. ebd., 77–85; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 176 Fn. 18; Heribert Schmitz: Reform des kirchlichen Gesetzbuches, 15–23; Helmuth Pree: Imputabilitas, 232 ff.; Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 34; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 173: „Das formum inter num sollte deswegen nicht als rechtliches forum abgeschafft werden, sondern vielmehr die Beziehung zwischen forum interum und externum künftig klarer geregelt werden, um Konflikte zwischen den beiden Bereichen zu vermeiden.“ Der Vorschlag, 184 Ebd.,
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
sich dem forum externum zuzurechnen ist187. Mit dieser Bestrebung wurde jedoch nicht intendiert, das forum internum vom Rechtsbereich zu trennen188 oder das Recht von der sittlichen Ordnung abzukoppeln, „so als ob sich nicht auch das Recht der Kirche an das Gewissen wendete“, wie Helmuth Pree feststellt189. Der „Konflikt“, von dem hier die Rede ist, besteht also „nicht zwischen Gewissen und Recht oder zwischen Normen unterschiedlicher, voneinander getrennter Ebenen oder Rechtsordnungen, sondern zwischen zwei Normen innerhalb derselben Rechtsordnung, deren eine geheim bleibt, während die andere öffentlich ist“190. Gemäß can. 2251 CIC/1917 konnte sich bspw. der Täter als freigesprochen betrachten, wenn im inneren Bereich ein Straferlass erfolgt war; dem jeweiligen Oberen hingegen war es im selben Fall möglich, auf die Beobachtung der Strafe zu dringen, solange im äußeren Bereich der Straferlass nicht bewiesen war. Äußerer und innerer Bereich konnten in einem solchen Fall divergieren. Um die unsicheren Konsequenzen solcher Situationen künftig zu vermeiden, sah can. 16 § 1 des SchemPoen ursprünglich vor, dass ein Exkommunizierter zum Sakrament der Buße und der Krankensalbung zugelassen werden konnte191, während weiterhin am Ausschluss des Exkommunizierten von der eucharistischen communio festgehalten wurde. Dieser Regelungsentwurf wurde jedoch heftig kritisiert – es wurde von „einschneidendsten Änderundas kirchliche Sanktionsrecht in seinen Wirkungen auf das forum externum zu beschränken, war nicht gänzlich neu; er wurde schon von Pio Ciprotti auf den Kanonistenkongressen 1968 und 1970 vorgebracht und war auch schon dort von heftigen Reaktionen begleitet gewesen. Eugenio Corecco meinte dazu: „Wenn das Strafrecht nur eine äußere soziale Wirkung hätte, dann müßte man dasselbe vom ganzen Kirchenrecht behaupten. Damit wäre aber der Weg zum Rechtspositivismus frei“ – vgl. Eugenio Corecco: Kritische Erwägungen zum Internationalen Kongreß für kanonisches Recht, 111–112. 187 Vgl. Communicationes 2 (1970), 101. 188 Vgl. hingegen Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 185: Doch anstatt „sie aufeinander hinzuordnen und Konflikte zwischen den beiden Foren zu verhindern, identifiziert can. 16 des Schemas von 1973 am Ende einerseits das ‚forum internum‘ mit dem moralischen und das ‚forum externum‘ mit dem Rechtsbereich, auch ‚forum Ecclesiae‘ genannt. Diese doppelte Gleichsetzung, die durch die völlige Trennung der beiden Bereiche vorgenommen wird, verkennt zum einen die Rechtsnatur des ‚forum internum‘ und führt zum anderen zu einem Bild der Kirche als rein äußerliche Organisation – ein Bild, das die Antinomie zwischen Sakrament und Recht, die im nachkonziliaren kirchlichen Bewußtsein so sehr verbreitet ist, unheilbar zu machen droht.“ 189 Vgl. Helmuth Pree: Imputabilitas, 232. 190 Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 35. 191 Vgl. dazu cann. 16 § 1 b und 17 § 1 b Schema 1973 – in den wesentlichen Formulierungen wiedergegeben in: Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 176 Fn. 28; zur Darstellung des SchemPoen von 1973 vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 324–356, hier insb. 340.
B. Das Verhältnis Recht und Gewissen im Kirchenrecht131
gen“ und einem „tiefgehenden Einbruch in den bisherigen Exkommunika tionsbegriff“192 gesprochen. Kritiker äußerten schwerwiegende theologische Bedenken, da der Vorschlag den ekklesiologischen Zusammenhang von Buße und Exkommunikation missachte, der darin zum Ausdruck komme, dass mit der Absolution von der Sünde im Sakrament der Buße ja zugleich die Aussöhnung mit der Kirche gefeiert und bewirkt werde, deren sichtbarer Ausdruck die Teilnahme an der eucharistischen Gemeinschaft sei. Dabei handelt es sich um eine Einsicht, die insbesondere im Zuge des II. Vatikanischen Konzils wiederentdeckt wurde (vgl. LG 11,2193). Der heftige Protest gegen diesen theologischen Widerspruch führte dazu, dass die Kardinäle in der vierten Plenarsitzung der CIC-Reformkommission den Regelungsentwurf wieder fallen ließen, sodass die Exkommunikation wie bisher den Ausschluss vom Empfang aller Sakramente bewirkt, bis die Exkommunikation aufgehoben ist194. Infolgedessen kann die Zuordnung von forum externum und forum inter num, wie sie im CIC/1983 vorgenommen wurde, folgendermaßen beschrieben werden: Die eine kirchliche Hirtengewalt wird „im äußeren Forum“ tätig, „wenn eine Sache in der Öffentlichkeit bekannt ist oder bekannt werden kann. Im inneren Forum aber werden Angelegenheiten behandelt, die geheim sind und voraussichtlich auch geheim bleiben.“195 Wilhelm Rees hebt hervor, dass rein sachlich gesehen kein Unterschied besteht, ob die Angelegenheit im forum internum oder forum externum geregelt werde – auf „beide Weisen wird rechtswirksam eine Strafe erlassen. Die Entscheidung im äußeren Bereich besitzt jedoch gegenüber der nur im inneren Rechtsbereich ergehenden Entscheidung den Vorzug, daß sie in der kirchlichen Gemeinschaft klar erkennbar ist.“196 Der Begriff forum ist damit auch gemäß CIC/1983 nicht geeignet, eine materielle Abgrenzung, Beschränkung oder auch nur eine eindeutige Zuordnung der Wirkweise kirchlicher Gewalt zu treffen197. Beide fora sind auf 192 Hartmut Zapp: Zur kanonischen Strafrechtsreform nach dem Entwurf der Kodexkommission, 55; Alexander Dordett sprach davon, dass mit der Einführung dieses Vorschlages der Reformkommission ein neuer Typ von Kirchenstrafe eingeführt worden wäre – vgl. Alexander Dordett: Kirchen zwischen Hierarchie und Demokratie, 122; diesen Änderungsvorschlag ablehnend vgl. Klaus Mörsdorf: Zum Problem der Exkommunikation; vgl. dazu auch Audomar Scheuermann: Das Schema 1973 für das kommende kirchliche Strafrecht, 19 f. 193 Vgl. dazu Klaus Mörsdorf: Zum Problem der Exkommunikation, 860 f. 194 Vgl. Communicationes 7 (1975), 94 f.; Communicationes 9 (1977), 80. 195 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 98. 196 Ebd. 197 Vgl. hingegen Velasio De Paolis/Davide Cito: Le Sanzioni nella Chiesa, 81; Velasio De Paolis: Il libro VI del Codice di Diritto Canonico, 110 f.; vgl. dazu den
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
einander bezogen und können hinsichtlich der Wirkung einer Sanktion nicht voneinander abgetrennt werden. Das forum internum ist insofern von den Rechtswirkungen des Sanktionsrechts nicht auszunehmen198. Vorsicht ist jedoch selbst dann geboten, wenn mit dem Begriffspaar fo rum internum und forum externum versucht wird, eine absolute Unterscheidung zwischen geheimen und öffentlichen Angelegenheiten festzulegen; zwar kommt in all diesen Deutungen etwas Wahres zum Ausdruck, doch endet eine Absolutsetzung letztlich in einem Widerspruch199. Joseph Hahn weist insofern zu Recht darauf hin, dass die „ganze Strafgewalt … ja nur Ausfluß der Gesetzgebenden [sic] Gewalt [ist] und … darum im gleichen Forum ihre Anwendung [findet], mag die Strafe daher latae oder ferendae sententiae sein. Ist die Strafe auch geheim, weil das Delikt geheim war, so gehört sie doch dem forum externum an, verpflichtet aber das Gewissen und damit auch in foro interno. Der Okkultbegriff darf also nicht schlechthin als erschöpfender Begriffsinhalt des forum internum genommen werden“200. Alle Versuche, den forum-Begriff als materiellen Abgrenzungsbegriff zu verwenden, müssen scheitern, denn tatsächlich erfüllt er nur „eine formale Abgrenzungsfunktion und entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung vom Inhaltlichen her“201, wie Fries feststellt. Als rein formaler Begriff kann forum Überblick in Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 240–251; kritisch dazu: Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 199 f. Fn. 51. 198 Vgl. dazu die Antwort der CIC-Reformkommission hinsichtlich des Verständnisses des sanktionsrechtlichen Schuldbegriffs: „Non videtur quomodo hic sermo esse possit de confusione inter forum internum et externum“ – vgl. Communicationes 16 (1984), 40; vgl. hingegen die Kritik von Helmuth Pree: Imputabilitas, 236: Dort bezeichnet Pree diese Rückmeldung als „lapidar“ und vertritt die Ansicht, dass sich die „zwischenmenschlichen Beziehungen“ auf den Bereich des forum externum zu beschränken hätten und dass das Verhältnis coram Deo dem Bereich des forum inter num zuzurechnen sei. Insofern müssten auch die Wirkungen der Sanktion auf das forum externum beschränkt werden – vgl. Helmuth Pree: Imputabilitas, 240. In einem späteren Beitrag verwendet Pree hingegen die Unterscheidung der beiden fora nur mehr im Sinne des Kriteriums der Öffentlichkeit und damit Beweisbarkeit – vgl. Hel muth Pree: Forum externum und forum internum. Zu Sinn und Tragweite einer Unterscheidung; vgl. dazu in kritischer Auseinandersetzung Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 199 f. Fn. 51. 199 Für Klaus Mörsdorf bedeutet die Unterscheidung der beiden Foren lediglich, dass in dem einem Fall geheim und im anderen öffentlich vorgegangen wird. Jedenfalls sei die ausgeübte Hirtengewalt die gleiche, obgleich sie in einem konkreten Fall im inneren oder äußeren Bereich ausgeübt werde – vgl. Klaus Mörsdorf: Der Rechts charakter der iurisdictio fori interni, 557 ff. 200 Josef Hahn: Das Forum internum und seine Stellung im geltenden Recht, 67. 201 Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 227; hingegen ist der Begriff iuris dictio für eine materielle Abgrenzung der Gewalt geeignet. Er bezeichnet die objek-
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daher auch nicht für eine eindeutige Differenzierung in eine ausschließlich äußere oder innere Verbindlichkeit herhalten. Mörsdorf hat für den CIC/1917 daher zu Recht darauf hingewiesen hat, dass das „alia – alia“ in can. 196 CIC/1917 mit „teils – teils“ zu übersetzen und insofern nicht als scharfe Trennung von forum internum und forum externum zu verstehen sei202. Wenn nun c. 130 CIC/1983 die Grundregel formuliert, dass „kirchliche Leitungsgewalt an sich im äußeren Bereich, bisweilen aber nur im inneren Bereich ausgeübt wird“, dann ist dies so zu verstehen, „daß die Ausübung ein und derselben Leitungsgewalt in zwei Bereichen erfolgt“203. Sollten Akte kirchlicher Leitungsgewalt im forum internum gesetzt werden, können diese dennoch Wirksamkeit für den gesamten kirchlichen Rechtsbereich (forum inter num als auch externum) entfalten, denn Akte kirchlicher Leitungsgewalt bringen gewöhnlich Wirkungen in beiden fora hervor. Ein im forum internum gewährter Sanktionserlass einer von selbst eingetretenen Tatsanktion beseitigt die „Rechtsbeschränkung wirklich vor Gott und der Kirche. Lediglich die Anerkennung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechtswirkungen ist im äußeren Bereich nicht möglich, weil und solange der Akt vor der Öffentlichkeit geheim bleibt“204. Einen Spezialfall in diesem Kontext stellen die sogenannten „Tatsanktionen“ dar, die mit Begehung der Tat, unter der Voraussetzung des Vorliegens der subjektiven Zurechenbarkeit, eintreten205. Die Tatsanktionen sind nach Ansicht von Rees ein Mitgrund dafür, dass die „Nachlassung der Kirchenstrafe, die grundsätzlich den Hoheitsträgern des äußeren Bereichs zusteht, … fast ganz in die Hände der Beichtväter“ gewandert ist. „Sie wurde zu einer Modalität der Absolution von der Sünde.“206 Der durchschnittliche Beichtvater ist aber mit einer solchen kirchenrechtlichen Materie in der Regel überfordert, weshalb es vor allem im speziellen Fall der poenae latae sententiae allermeist zu keiner praktischen Anwendung des Sanktionsrechts kommt207. tive Zuständigkeit (als Gewaltbegrenzung selbst), forum die subjektive (von der Beziehung her) – vgl. Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 135. 202 Vgl. Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni, 549–551. 203 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 97 f.; Helmuth Pree: § 13 Die Ausübung der Leitungsgewalt, 207, insb. unter Beachtung der in Fn. 1 angegebenen Nachweise; Bruno Fries: Art. „Forum“, 225. 204 Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 30. 205 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 96–106. 206 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 99; vgl. auch Helmuth Pree: Imputabilitas, 240. 207 Helmuth Pree: Imputabilitas, 240. Helmuth Pree plädiert für eine „saubere Unterscheidung bei gleichzeitiger rechter Zuordnung zwischen beiden viae und beiden fora“, um die Schaffung eines funktionierenden Sanktionsrechts zu erreichen. Dabei bestreitet er nicht, dass das Sanktionsrecht in das forum internum hineinwirken könne – die Norm über die Wirkweise der Leitungsgewalt in c. 130 CIC/1983 oder
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Gerosa resümiert daher wohl nicht ganz zu Unrecht, dass das Sanktionsrecht zu einer Institution geworden sei, die vornehmlich den Gewissensbereich des Gläubigen betreffe208. Dieses Ergebnis und die damit entstehende Rechtsunsicherheit ist speziell für den Bereich des kirchlichen Sanktionsrechts sicherlich als sehr unbefriedigend zu bewerten.
VI. Was bedeutet die Begriffszuordnung von forum externum und forum internum für das Verhältnis von Gewissen und Recht? Da ein „sicherer Schluß von der Verschiedenheit der fora auf die Verschiedenheit der Gewalt … nicht möglich“209 ist, können auch Konflikte zwischen forum internum und forum externum „nicht im Wesen der Macht beruhen, die zugleich sowohl für das öffentliche wie auch für das private Wohl zu sorgen hat“210. Wenn es bei der Ausübung der Leitungsgewalt in foro interno zuallermeist und primär um das Wohl des Einzelnen geht und umgekehrt die Ausübung im äußeren Bereich meist auf die communiale Ebene abzielt, so sind beide Aspekte „auf das engste miteinander verflochten“211. Innere Akte des Gläubigen, seine Beziehung zu Gott, haben Auswirkungen auf die Communio der Kirche. Im Kirchenrecht ist nicht nur dem forum externum, sondern auch dem forum internum Rechtscharakter zuzumessen und letzteres ist „nicht ein dem Recht entzogener reiner Gewissensbereich“212. Die Verwobenheit von forum internum und forum externum verweist auf die „unlösbare Verbindung zwischen dem rechtlichen Handeln der Kirche bzw. der recht
die rechtliche Regelung der Lossprechungsgewalt seien Beispiele dafür. Ebenso möchte er die „ethische Grundlage des Rechts“ oder seinen Verbindlichkeitsanspruch an das Gewissen des Rechtsunterworfenen nicht anzweifeln – ebd., 243. 208 Vgl. auch Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 63. 209 Bruno Fries: Forum in der Rechtssprache, 223; ebd., 240: „Wenn schon unter dem einen forum internum sakramentaler und nichtsakramentaler Bereich begrifflich zusammengenommen sind, dann kann die Unterscheidung forum internum – forum externum erst recht keine Gewaltenverschiedenheit anzeigen wollen. Denn die vorausgehenden Ausführungen ließen erkennen, daß sich forum externum und forum internum extra-sacramentale unter gewisser Rücksicht näherstehen als letzteres und forum sacramentale“. 210 Josef Hahn: Das Forum internum und seine Stellung im geltenden Recht, 93. 211 Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 34. 212 Libero Gerosa: Schisma und Häresie, 210; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 242: Gerosa spricht von der „Wiederentdeckung der rechtlichen Natur des ‚forum internum‘ “; Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 32 f.
C. Das Gewissen im CIC/1983135
lichen Position des Gläubigen in der Kirche einerseits und der personalen Gottesbeziehung andererseits“213. Wenn Wilhelm Rees im Kontext des kirchlichen Sanktionsrechts dennoch auf die Unterscheidung zwischen Gewissensbereich und Rechtsbereich – korrespondierend mit der Unterscheidung zwischen Sünde und Delikt – verweist, dann tut er dies nicht zu Unrecht. Eine „Straftat“ steht „vordergründig im Rechtsbereich und als Sünde im Gewissensbereich.“214 Wird eine Zensur als Tatsanktion angedroht, tritt sie nur ein, wenn der Täter sie im Gewissen erkannt hat. Ihre intendierte Wirkung entfaltet sie dann, wenn mit ihr die innere Umkehr des Täters bewirkt wird. Trotz dieser Umstände ist sie dennoch „nicht primär als Gewissens-, sondern als Rechtssache zu betrachten“215. Doch wird damit keine exklusive Zuordnung zum einen oder anderen Bereich zum Ausdruck gebracht, so als ob Rechts- und Gewissensbereich nichts miteinander zu tun hätten. Das heißt aber nicht, dass das Gewissen rechtlich normierbar wäre oder im rechtlichen Sinne verpflichtet werden könnte. Dennoch kann sich die Kirche aufgrund ihres Wesens und ihrer Sendung nicht damit begnügen, bloß das äußere Verhalten der Gläubigen anzusprechen. Beim Versuch, das Gewissen der Gläubigen zu erreichen und in der Erfüllung ihres Sendungsauftrags, „die Menschen zum Heil zu führen“, hat die Kirche zu berücksichtigen, dass der Glaube ein „Geschenk der göttlichen Gnade ist und vom Menschen nur persönlich und frei in seinem Inneren angenommen werden kann“. Insofern „muss die Kirche in Ausübung ihrer Vollmacht neben den äußeren Umständen auch die persönliche, individuelle Gewissenslage und die nach außen hin unbekannten Fakten der individuellen Lage beim Einzelnen berücksich tigen“216. Das Gewissen erfüllt insofern die Funktion einer Klammer, welche forum internum und forum externum zusammenhält.
C. Das Gewissen im CIC/1983 I. Der Begriff „Gewissen“ im CIC/1983 Die Tatsache, dass der lateinische Begriff „conscientia“ im CIC/1983 13mal erwähnt wird, zeigt zunächst einmal, dass das Kirchenrecht die Wirklichkeit des Gewissens voraussetzt und anerkennt. In den 13 Erwähnungen 213 Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 64; vgl. auch Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni. 214 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 99. 215 Ebd. 216 Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 28.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
(cc. 70; 246 § 4; 630 §§ 1, 5; 664; 719 § 4; 748 § 2; 799; 988 § 1; 1343; 1344; 1606; 1608 § 3 CIC/1983) wird der Begriff fast durchgängig mit „Gewissen“ bzw. in c. 70 mit „gewissenhaft“ übersetzt; einzige Ausnahme bildet die Formulierung „conscientiae moderamen“ in c. 630 § 1 CIC/1983, welche mit „geistlicher Führung“ ins Deutsche übertragen wurde, obwohl in c. 719 § 4 CIC/1983 dieselbe Begriffskombination mit „Gewissensführung“ übersetzt wird. Im CCEO kommt der Begriff „conscientia“ neunmal vor (cc. 346 § 2 °4; 369 § 1; 629; 770; 816; 1289; 1291 § 3; 1409 § 1; 1522 CCEO). Eine inhaltliche Analyse dieser Canones zeigt, dass es bei der Verwendung des Gewissensbegriffs zumeist um ein sittlich-verantwortetes Abwägen bzw. Ermessen im Zuge einer Entscheidung oder eines Urteils geht. In den cc. 630 § 1 und 719 § 4 CIC/1983 ist die Gewissensinstanz angesprochen als besonders persönlicher und sensibler Bereich des Menschen, dem in der geistlichen Führung die gebührende Freiheit einzuräumen ist. Eine herausragende Stellung unter allen Canones, in denen der Gewissensbegriff vorkommt, nimmt in Bezug auf das hier zu behandelnde Thema aber sicherlich c. 748 § 2 CIC/1983 ein, der jeglichen Zwang auf das Gewissen bei der Annahme des katholischen Glaubens verbietet und damit die Freiheit des Gewissens als Grundvoraussetzung für die in § 1 desselben Canons beschriebene Pflicht zur Wahrheitssuche bestätigt.
II. Die Auslegung von c. 748 § 2 CIC/1983 „Gott nimmt Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Personen, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben sollen … Aus diesen Aussagen folgt als erstes Freiheitsrecht die Freiheit der Glaubensannahme.“217 Der Glaubensakt, der sich in der Taufbitte oder der Bitte um Aufnahme in die Kirche äußert, führt zur Teilhabe an der kirch lichen Communio 218. Menschliche Erkenntnis ist jedoch gerade bezogen auf Gott immer nur Stückwerk (1 Kor 13,9); der Glaube ist daher als ein prozessuales Geschehen zu begreifen, das durch die förmliche Aufnahme in die Kirche keineswegs abgeschlossen ist. Insofern scheint es durchaus angemessen zu sein, wenn in c. 748 § 1 CIC/1983 „nur“ die Pflicht zur Bewahrung der erkannten Wahrheit statuiert wird. Die Kirche hat jedoch dafür Sorge zu tragen, dass die Gläubigen die Wahrheit immer besser kennenlernen und diese frei und in einer verantworteten Art und Weise annehmen und bekennen können. Die Annahme hat in den wesentlichen Kernbereichen des Glaubens (vgl. c. 750 CIC/1983) nicht nur verstandesmäßig und willentlich (vgl. 217 Otfried 218 Vgl.
13–15.
Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 251. dazu Ludger Müller: „Im Bewußtsein der eigenen Verantwortung …“,
C. Das Gewissen im CIC/1983137
c. 752 CIC/1983) zu erfolgen, sondern tatsächlich durch ein freies und sittlich verantwortetes Gewissensurteil219. „Religion besteht vor allem in inneren, willentlichen und freien Akten“220, so Otfried Höffe. Mit Blick auf das Kirchenrecht stellt Gerhard Luf daher fest: „Die Aufgabe, Gewissen im Recht institutionell zu vermitteln, verlangt … vom kirchlichen Recht nicht allein, die zwangsfreie Annahme des Glaubens zu garantieren bzw. im Falle völliger Distanzierung von bestimmten Pflichten und Rechten abzusehen. Im Zen trum steht vielmehr die Aufgabe, normative Strukturen in der Kirche so zu gestalten, daß sich in ihnen ein lebendiger, frei verantworteter Glaube zu entfalten und zu bewähren vermag.“221 Andererseits ist es aber auch Aufgabe der Kirche, Hüterin des umfassenden und wahren Glaubens zu sein und das Glaubensgut, das sie selbst empfangen hat, vor Verunreinigung und Verwirrung zu schützen. Durch diesen doppelten Anspruch von Wahrheit und Freiheit steht die Kirche notwendigerweise in einem Spannungsverhältnis, das weder zugunsten des einen noch des anderen „Brennpunktes“222 aufgelöst werden kann. In diesem Sinne ist auch Heinrich Mussinghoffs Einschätzung zu lesen, dass eine Kirche, welche „unfehlbare Wahrheit hütet“, es sehr schwer hat, „sich gleichzeitig absolut zur Gewissens- und Glaubensfreiheit zu bekennen“223. Eine Art „Vorgeschmack“ dieser Schwierigkeit kann bereits beim Versuch der Interpretation von c. 748 § 2 CIC/1983 erfahren werden. 1. Auslegung gemäß der im Text und Kontext erwogenen Wortbedeutung Der verbindliche lateinische Wortlaut von c. 748 § 2 CIC/1983 ist folgender: „Homines ad amplectendam fidem catholicam contra ipsorum conscien tiam per coactionem adducere nemini umquam fas est.“ – Niemals hat jemand das Recht, Menschen durch Zwang gegen ihr Gewissen zur Annahme des katholischen Glaubens zu bewegen. Im Vergleich zu can. 1351 219 Vgl. dazu c. 750 CIC/1983, der eine Annahme im Glauben für die wesent lichen Kerngehalte des depositum fidei verlangt, während hingegen mit c. 752 CIC/1983 „nur“ mehr eine Zustimmung kraft religiösen Verstandes- und Willensgehorsams für die sonstigen authentischen Lehräußerungen verlangt wird. 220 Otfried Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 251. 221 Gerhard Luf: Gewissen und Recht, 32, mit Verweis auf Ders.: § 65 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, in: Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.): HdbKathKR (Regensburg 1983), 561–567. 222 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 234. 223 Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/2, Rdnr. 2 (Stand März 1987); vgl. dazu auch Gerhard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 964 f.; Josef Isen see: Die katholische Kritik an den Menschenrechten, 152 ff.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
CIC/1917224 kann zunächst dahingehend eine Präzisierung und ein Fortschritt ausgemacht werden, dass „nunmehr ausdrücklich auf den Schutz des Gewissens vor jeglicher Zwangseinwirkung“ abgestellt wird225. Sodann hat der Gesetzgeber den Adressatenkreis dieser Verbotsnorm mit maximaler Reichweite festgelegt – nemini (niemand) hat das Recht, jemanden zur Annahme des Glaubens mit Zwang zu bewegen; somit kann sich keine menschliche Gewalt von dieser Norm ausgenommen betrachten. Ebenso weit beschreibt der Gesetzgeber das zu schützende Subjekt, indem er allen Menschen (homines) das Recht zuspricht, bei der Glaubensannahme von Zwang frei zu bleiben. Das zu schützende Rechtsgut hat seinen Grund in der Würde der menschlichen Person. Vom Schutz dieses Rechtsgutes kann daher unter keinen Umständen „dispensiert“ werden – dies wird vom Gesetzgeber mit der Formulierung „nemini umquam fas est“ unmissverständlich zum Ausdruck gebracht226. Alle bisher genannten Elemente der Norm zeigen sehr deutlich, dass der Gesetzgeber hier ein Prinzip göttlichen Rechts zum Ausdruck bringt. Es handelt sich dabei nicht um ein spezifisches Christenrecht, sondern um ein echtes Menschenrecht, das in seinem Bestand jeder kirchlichen Eingliederung vorausliegt (vgl. DH 2,1)227. Eine Annahme des Glaubens contra conscientiam liegt vor, wenn sie unter Anwendung von Zwang gegen das freie und verantwortete Urteil eines Menschen erfolgt, welches er in Konfrontation mit der verborgensten und innersten Mitte seiner Person gewonnen hat, wo er „allein ist mit Gott“ und ein Gesetz erkennt, „das er sich nicht selbst gibt“ und das ihn auf unbedingte Weise sittlich verpflichtet (vgl. insb. GS 16). Unter c. 748 § 2 CIC/1983 können daher keine Fälle subsumiert werden, in denen aus anderen Gründen als aufgrund der Ausübung von Zwang entweder kein oder ein mangelhaftes Urteil des Gewissen hinsichtlich der Glaubensannahme gefällt wurde. Die Verbotsnorm des c. 748 § 2 CIC/1983 ist hinsichtlich der Ausübung des Zwangs jedoch sehr weit gefasst. Es ist nämlich davon auszugehen, dass jede Art von Zwang (coactio) verboten ist, unabhängig davon, ob dieser auf physischer, psychischer oder geistlicher Ebene stattfindet. In der Kanonistik wird bei der Auslegung von c. 748 § 2 CIC/1983 vor allem über die Reichweite der Formulierung „ad amplectendam fidem catho 224 Can. 1351
tur.“
CIC/1917: „Ad amplexandam fidem catholicam nemo invitus coga-
225 Gerhard 226 Vgl.
Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 969. Stephan Haering: Kirche und Staat in der Sicht des Konzils und im CIC,
227 Vgl.
Gerhard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 965.
93.
C. Das Gewissen im CIC/1983139
licam“ diskutiert. Ist darunter nur die initiale „Annahme des katholischen Glaubens“, die zur Eingliederung in die Kirche führt, zu subsumieren oder auch noch folgende Glaubensakte eines Katholiken? Oder anders gefragt: Kann sich auch ein Katholik auf c. 748 § 2 CIC/1983 berufen, der durch Zwang zur Annahme einer katholischen Glaubenswahrheit bewegt wird, zu der er sich zuvor möglicherweise noch nie in einer verantworteten und reflektierten Art und Weise verhalten hat oder zu der er nun sein Gewissens urteil ändert?228 Das lateinische Verbum „amplector“, das im Deutschen wörtlich mit „umarmen“ wiedergegeben werden kann, bedeutet dem Wortsinn nach weit mehr als ein bloßes formales „Annehmen“ oder „Akzeptieren“. Die bildliche Geste des „Umarmens“ bringt vielmehr zum Ausdruck, dass jemand oder etwas ins Herz geschlossen bzw. lieb gewonnen wird. Mit der „Umarmung“ werden zugleich Bereitschaft und Willen zur Erkenntnis, zum Durchdenken einer Sache bekundet229. Allerdings lässt sich aus der Begrifflichkeit nicht zwingend ableiten, ob damit nur das erstmalige, initiale „Umarmen“ gemeint ist oder auch ein späteres, nachfolgendes tieferes „Erkennen“ und „Durchdringen-Wollen“. Es geht um die Annahme des katholischen Glaubens, wie der Gesetzgeber mit der Beifügung „catholicam“ in c. 748 § 2 CIC/1983 präzisiert. Dies kann als sprachliches Indiz dafür gedeutet werden, dass es um die Glaubensentscheidung geht, die zur Eingliederung in die Kirche führt und mit der der katholische Glaube als Ganzes bejaht und angenommen wird. Andererseits kann diese Präzisierung freilich auch in dem Sinne gedeutet werden, dass die kirchliche Autorität damit die Begrenzung ihrer Zuständigkeit und Kompetenz hinsichtlich des katholischen Glaubens zum Ausdruck bringt230. Aus der Zusammenschau mit § 1 ist zu erkennen, dass aus dem Annehmen der Wahrheit die Folgepflicht des Bewahrens erwächst (obligatio amplec tendi ac servandi – vgl. c. 748 § 1 CIC/1983). Die Pflicht des Bewahrens beruht moralisch gesehen auf der Verbindlichkeit des Erkannten selbst (vi 228 Vor allem im Lichte der Säuglingstaufe, bei der die Eltern stellvertretend für das Kind den Glauben öffentlich bekunden, gewinnt diese Frage an Brisanz, wenngleich die Säuglingstaufe sicherlich durch das Erziehungsrecht der Eltern gedeckt ist – vgl. dazu Aymans/Mörsdorf: KanR III, 195–199; ebd., 196: „Die Kindertaufe muß im Gesamtzusammenhang der religiösen Erziehung überhaupt gesehen werden.“ 229 Vgl. „amplector“ in: Der neue Georges. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch Bd. 1, hrsg. von Thomas Baier (auf Grundlage der 8., verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges, Hannover und Leipzig 1913, neu bearbeitet 2013), 308 f. 230 Mussinghoff betont, dass die Kirche dadurch „nicht leugnen“ möchte, dass auch für andere Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen derselbe Grundsatz gilt – vgl. Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/2, Rdnr. 3 (Stand März 1987).
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
legis divinae). Wie aber eingangs schon erwähnt wurde, ist menschliche Erkenntnis im Glauben immer nur Stückwerk und nie gänzlich abgeschlossen. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass vom Gesetzgeber keine spezifische Rechtsfolge bei Zuwiderhandeln gegen diese Verbotsnorm aufgestellt wurde. Da c. 748 § 2 CIC/1983 eine Norm göttlichen Rechts zum Ausdruck bringt, ist jedoch davon auszugehen, dass eine unter Zwang ausgeführte Bekundung des Glaubens, welche potentiell dazu geeignet ist Rechtsfolgen hervorzurufen, als nichtig einzustufen ist (vgl. dazu auch c. 125 CIC/1983)231. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich aus dem reinen Textbestand des Canons keine sichere Gewissheit darüber gewinnen lässt, ob von c. 748 § 2 CIC/1983 nur die initiale Glaubensannahme oder auch der Schutz weiterer Glaubensakte innerhalb der Kirche gedeckt ist. Möglicherweise lässt sich jedoch aus der Entstehung, dem Zweck und den Parallelstellen der Norm eine Grundtendenz ableiten. 2. Entstehung, Zweck und Parallelstellen der Norm Im Zuge der CIC-Reform hat Heribert Schmitz dafür plädiert, explizit zu normieren, „daß niemand von irgendeiner menschlichen Macht, auch nicht in der katholischen Kirche, gezwungen werden darf, seinen Glauben gegen sein Gewissen zu bewahren und vor anderen öffentlich zu bekennen“232. Doch dieser Wunsch blieb vom Gesetzgeber 1983 unberücksichtigt233. Im Gegensatz zur Vorgängernorm in can. 1351 CIC/1917, der noch eindeutig im spezifischen Kontext des Missionsrechts verankert war, wird c. 748 CIC/1983 nun als „Grundnorm des kirchlichen Verkündigungsrechts“234 interpretiert. Kann daher c. 748 § 2 CIC/1983 auch innerkatholische Verhältnisse betreffen? Es ist wohl unzweifelhaft, dass c. 748 CIC/1983 in seiner heutigen Form als Ergebnis der Rezeption der Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils über 231 Jeder kirchliche Rechtsakt unterliegt auf jeden Fall den Kriterien des c. 125 CIC/1983, der die Nichtigkeit von Rechtshandlungen vorsieht, die aufgrund von direktem Zwang vorgenommen werden (vgl. § 1), oder dessen Aufhebbarkeit (vgl. § 2), wenn die Rechtshandlung unter dem Eindruck schwerer Furcht oder arglistiger Täuschung begangen wurde. Zur Auslegung des c. 125 CIC/1983 vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 345–348. 232 Heribert Schmitz: Glaubens- und Bekenntnispflicht, 439. 233 Vgl. Gerhard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 969. 234 Gerhard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 969; vgl. dazu auch Heribert Schmitz: Glaubens- und Bekenntnispflicht, 439 Fn. 2; Peter Krämer spricht von einer „Fundamentalnorm“ des Verkündigungsrechts – vgl. Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 172.
C. Das Gewissen im CIC/1983141
die Religionsfreiheit235 anzusehen ist. Dies wird insbesondere deutlich, wenn ein Blick auf DH 10 geworfen wird, wo es heißt: „Es ist ein Hauptbestandteil der katholischen Lehre, in Gottes Wort enthalten und von den Vätern ständig verkündet, daß der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott antworten soll, daß dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf. Denn der Glaubensakt ist seiner Natur nach ein freier Akt, da der Mensch, von seinem Erlöser losgekauft und zur Annahme an Sohnes Statt durch Jesus Christus berufen, dem sich offenbarenden Gott nicht anhangen könnte, wenn er nicht, indem der Vater ihn zieht, Gott einen vernunftgemäßen und freien Glaubensgehorsam leisten würde. Es entspricht also völlig der Wesensart des Glaubens, daß in religiösen Dingen jede Art von Zwang von seiten der Menschen ausgeschlossen ist.“ Vergleicht man c. 748 § 2 CIC/1983 mit DH 10, dann fällt zunächst auf, dass die Väter des II. Vatikanums in der Erklärung über die Religionsfreiheit in einigen Punkten ein umfangreicheres und weiteres Bild zeichnen als der Gesetzgeber des CIC/1983: In DH 10 wird die Freiheit des Gewissens nicht auf die Annahme des katholischen Glaubens beschränkt, sondern auf die naturgemäß notwendige Freiheit des Glaubensaktes236 an sich abgestellt, die sich in zweifacher Dimension auswirkt: als klassisches Grundrecht der Religionsfreiheit, formuliert gegenüber staatlichen und sonstigen weltlichen Gewalten237, dann aber auch als innerkirchliche Freiheit der Gläubigen. Insofern erwähnt Aymans mit Recht, dass „die kirchliche Wirkung der Religionsfrei235 Zur Entstehung des Dokuments vgl. Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit. Am Anfang der Vorbereitungsphase für das Dokument stand vor allem das Problem des Verhältnisses von Staat und Kirche. Das Phänomen der religiösen Freiheit gewann in den Verhandlungen schließlich zunehmend an Bedeutung und so behandelt das Dokument daher auch wesentlich die religiöse Freiheit zwischen den Menschen – vgl. ebd., 704–711; vgl. dazu auch Libero Gerosa: Religionsfreiheit und vergleichende Rechtswissenschaft, 77–82; Thomas A. Weitz: Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil; Roman Siebenrock: Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit Dignitatis Huma nae; Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler: Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit. Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche, 12–62, 82–112. 236 Vgl. Johannes Mühlsteiger: Glaubens- und Religionsfreiheit, 1025; Andreas Fleckl: Religionsfreiheit, 481. 237 Vgl. Gerhard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 966 f.; Ste fan Muckel: § 116 Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Staat, 1785; Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 184–208; Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler: Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit, 111 f.; Judith Hahn: Menschenrechte in der Kirche, 79: Ein „Blick in die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts“ offenbart, „dass es der Kirche bei ihrer Parteinahme für die Religionsfreiheit primär um die Gewährleistung von Religionsfreiheit durch den Staat ging – und nicht um eine vergleichbare Rechts garantie in der Kirche“.
142
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
heit“ in formaler Hinsicht nach einem äußeren und einem inneren Aspekt zu unterscheiden ist. Im Außenverhältnis „besagt sie, daß kein Mensch zum Glauben bzw. zum Eintritt in die Kirche gezwungen werden darf … Dies hat auch in der Gesetzgebung seinen Niederschlag gefunden (c. 748 § 2), allerdings unmittelbar nicht auf die Kirche, sondern auf den Glauben bezogen.“238 Beim inneren Aspekt dieser Freiheit geht es dabei „nicht nur darum, daß kein Mensch zum Eintritt in die Kirche gezwungen werden darf“, sondern darum, dass die „religiöse Freiheit“ selbst für diejenigen erhalten bleibt und zu garantieren ist, „die ihrer Pflicht, an der Wahrheit festzuhalten, nicht nachkommen“, wie DH 2,2 erklärt. Dieser Aspekt der Religionsfreiheit ist als „strikt innerkirchliche Aussage“ zu interpretieren; in diesem Sinn trägt die innere Dimension dieser Freiheit „den Charakter eines kirchlichen Basisrechtes. Es besagt, daß ein Gläubiger gegenüber der Kirche einen Anspruch darauf hat, selbst im Falle eines völligen Versagens frei zu bleiben von Zwangsmitteln, die dem Geist des Evangeliums widersprechen“. Doch der Gesetzgeber hat „es versäumt, dieses Basisrecht im CIC ausdrücklich normativ zu erfassen, obwohl sich in dem ‚Grundstatut der Gläubigen‘ (cc. 208–223) hierfür angemessener Platz angeboten hätte“239, wie Aymans hervorhebt. Mit dieser Kritik ist Aymans nicht allein. In einem Kommentar zum Entwurf der wieder fallengelassenen LEF bedauert auch Peter Krämer den Umstand, dass die religiöse Freiheit und der Ausschluss von Zwang zwar explizit beim Kircheneintritt festgehalten wurden, nicht jedoch darüber hinaus240. Wird daher der Kontext von DH 10 in die Auslegung von c. 748 CIC/1983 miteinbezogen, dann scheint es für eine Auslegung, die eine innerkirchliche Geltung der in § 2 enthaltenen Verbotsnorm vorsieht, wenig Spielraum zu 238 Aymans/Mörsdorf:
KanR I, 95, mit Verweis auf DH 10 und 11. KanR I, 95 f. Es ist zu betonen, dass Zwang gegen das Gewissen der Gläubigen zweifelsohne dem Geist des Evangeliums widerspricht. 240 Vgl. Peter Krämer: Kirche der freien Gefolgschaft, 10; Peter Krämer: Kirchenrecht I, 25, 37 ff.; vgl. dazu auch Franz Pototschnig: Kirchliche Rechtsentwicklung als Anpassungsprozeß, 37: Pototschnig sah in c. 5 eines Entwurfs zur LEF jedoch zumindest so etwas wie ein „Grundrecht“ auf „Gewissensfreiheit“ projektiert. C. 5 § 2 der LEF lautete folgendermaßen (zitiert aus ebd.): „Omnibus hominibus inte grum est ut libere ad Christi Ecclesiam accedant, cum ipsis sit ius, ipsa quidem dig nitate humana innixum, ut in re religiosa immunes sint a quacumque coercitatione ex parte tum singulorum tum coetuum socialium tum cuiusvis potestatis humanae, ita ut neque impellantur ad agendum contra suam conscientiam neque impediantur quomi nus secundum eam agant.“ Dennoch gesteht auch Pototschnig: „Außerdem scheint auch die Formulierung des Canon 5 der sog. Lex fundamentalis die Auslegung zu rechtfertigen, daß die freiwillige Annahme des katholischen Glaubens nach wie vor die Unwiderruflichkeit dieser Entscheidung impliziere und der Fortschritt nur darin bestehe, daß jetzt jeder Einsatz des gesellschaftlichen Zwanges zur Sicherung der Endgültigkeit dieser Entscheidung abgelehnt werde“ – ebd., 37 f. 239 Aymans/Mörsdorf:
C. Das Gewissen im CIC/1983143
geben, da sich der Gesetzgeber in Bezug auf diese Norm wohl bewusst für eine engere Formulierung entschieden zu haben scheint. Ein Blick in den später entstandenen Parallelcanon, c. 586 CCEO241, der unter dem Titel XIV über die „Evangelisierung der Völker“ zu finden ist, verstärkt diesen Eindruck. In der deutschen Übersetzung des c. 586 CCEO, die freilich schon eine „Interpretation“ des verbindlichen lateinischen Textes ist, wird diese Auffassung wiedergegeben, wenn dort davon die Rede ist, dass niemand „zum Eintritt in die Kirche gezwungen“242 werden darf. Auch wenn die Parallelnorm im CCEO kein eindeutiges und unzweifelhaftes Ergebnis für die Auslegung von c. 748 § 2 CIC/1983 hervorbringt, so wird dennoch der Eindruck verstärkt, dass in beiden Fällen ausschließlich die „äußere“ Religionsfreiheit angesprochen wird. 3. Die Reichweite von c. 748 § 2 CIC/1983 im geltenden Recht In der Kanonistik findet sich keine einheitliche Meinung darüber, wie weit c. 748 § 2 CIC/1983 tatsächlich zu interpretieren ist243. Reicht die Norm über die erste Annahme des katholischen Glaubens im Zuge der Taufe bzw. der Aufnahme in die Kirche hinaus, dann dürften sich – wie Mussinghoff meint – auch „nicht mehr ganz glaubende Katholiken“ gegenüber „dem katholischen Glauben“244 darauf berufen. Ist der Canon jedoch eng zu interpretieren, ist der Kreis derer, die sich darauf berufen können, auf Nichtkatholiken begrenzt. Der Gesetzgeber von 1983 äußert sich nicht eindeutig zu dieser Frage. Dieses Schweigen deutet Krämer als ein Zurückgehen hinter Äußerungen des II. Vatikanischen Konzils. Es stelle sich die Frage, ob im geltenden Recht „der im Glauben gelegenen freien Entscheidung hinreichend Rechnung“245 getragen werde. „Soll man daraus umgekehrt folgern“, so Krämer, „daß von religiöser Freiheit nach dem Eintritt in die Kirche nicht mehr gesprochen werden kann und Zwang in religiösen Dingen nach der innerkirchlichen 241 Vgl. dazu den Vergleich von c. 748 § 2 CIC/1983 und c. 586 CCEO bei Burk hard Josef Berkmann: Verkündigung des Evangeliums in pluralistischem Kontext, 208–210. 242 Vgl. Libero Gerosa/Peter Krämer (Hrsg.): Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium – Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen. Lateinisch-deutsche Ausgabe, 341. 243 Für eine innerkirchliche Geltung vgl. die Nachweise bei Gerhard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 966 Fn. 12; Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/2, Rdnr. 4 (Stand März 1987); vgl. dazu auch Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 133–138. 244 Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/2, Rdnr. 4 (Stand März 1987). 245 Peter Krämer: „Kirche der freien Gefolgschaft“, 9.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Rechtsordnung zulässig ist?“246 Hinter der Entscheidung des Gesetzgebers, im Katalog über die Pflichten und Rechte aller Gläubigen nichts über die „religiöse Freiheit“ zu sagen, vermutet Krämer die „Einsicht, daß Religionsfreiheit von der Kirche nicht in einer Art und Weise garantiert werden kann, wie dies dem Staat oder internationalen Organisationen aufgegeben ist“, welche sich weltanschaulich und religiös neutral verhalten müssen247. Dennoch ist das Recht auch im Fall einer Glaubensgemeinschaft, zu deren Sendungsauftrag es gerade gehört, nicht religiös neutral zu agieren, nur dann „legitim, sofern und soweit es das Recht auf religiöse Freiheit zur Geltung bringt, der Verwirklichung eines lebendigen Glaubensvollzuges dient und den Gehalt des Glaubens vor Fehlinterpretationen schützt, vor konservativer Erstarrung oder progressistischer Auflösung“248. Trotz des Schweigens über die innerkirchliche Verwirklichung der religiösen Freiheit meint Krämer, dass der Gesetzgeber bereits mit c. 748 § 2 CIC/1983 „Mißbräuchen, die einen äußeren Glaubenszwang ermöglichten oder zu rechtfertigen versuchten, ein für allemal eine Absage erteilt“249 habe. Er argumentiert, dass c. 748 § 2 CIC/1983 im Licht des vom II. Vatikanum vorgelegten Prinzips der Freiheit des Glaubensaktes interpretiert und daher das Prinzip der Religionsfreiheit auf den Glaubensakt selbst (vgl. DH 9 und 10) angewendet werden müsse. Es scheint jedoch fraglich, ob mit einer so weiten Interpretation des c. 748 § 2 CIC/1983 der Normgehalt nicht „überdehnt“ und etwas hineingelesen wird, was zwar theologisch zweifelsohne gefordert wäre, aber vom Gesetzgeber so nicht normiert wurde. Denn der Wortlaut von c. 748 § 2 CIC/1983 hält „nur fest“, wie Schockenhoff wohl zu Recht meint, „dass niemand zur Annahme des katholischen Glaubens gezwungen werden darf. Die innerkirchliche religiöse Freiheit bleibt daher rechtlich auf die ungezwungene Glaubensannahme beschränkt, während die Freiheit im Festhalten des Glaubens und der Wahl seiner Artikulationsformen nicht ausdrücklich verbürgt ist“. Damit reflektiere die geltende Fassung der Norm die Ansicht des hl. Augustinus, der „der unerlässlichen Freiheit der Glaubensannahme die Pflicht zur Seite stellt, an der einmal erkannten Glaubenswahrheit festzuhalten [vgl. c. 748 § 1 CIC/1983)]. Die Rolle der Freiheit für den Glauben erschöpft sich nach dieser Minimalbestimmung in der freien Initialzündung der Glaubenszustimmung, danach geht sie in das unerschütterliche Festhalten an der Glau-
10; vgl. auch Peter Krämer: Kirchenrecht I, 25, 37 ff. Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 171. 248 Peter Krämer: Zum Stand der Grundlagendiskussion in der katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 25. 249 Peter Krämer: Kirchenrecht I, 38. 246 Ebd.,
247 Peter
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benswahrheit und in den Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität über, die diese schützt und auslegt“250, so Schockenhoff. Über den Wortlaut hinaus legen aber auch Kontext und Systematik von c. 748 § 2 CIC/1983 nahe, dass es sich um eine Schutznorm für die äußere Religionsfreiheit handelt, die den rechtswidrigen Zwang bei der initialen Annahme des katholischen Glaubens verbietet251. Die offeneren Formulierungen des DH 10, welche generell auf die Freiheit des Glaubensaktes abstellen, wurden nämlich gerade nicht in den Wortlaut des c. 748 § 2 CIC/1983 aufgenommen, obwohl diese Textpassagen des II. Vatikanums ganz offensichtlich den Entstehungskontext dieser Norm bilden252. Die Gründe, die den Gesetzgeber zu dieser Entscheidung bewogen haben, können nicht mit Sicherheit geklärt werden; möglicherweise spielte aber auch die Unsicherheit darüber eine Rolle, wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit innerkirchlich verwirklicht werden kann. Hätte zudem der Gesetzgeber mit c. 748 § 2 CIC/1983 ein innerkirchlich zu beachtendes Grundprinzip des Glaubens intendiert, wäre weiters zu erwarten gewesen, dass er die sich daraus ergebenden innerkirchlichen Konsequenzen in anderen Bereichen des Rechts berücksichtigt253. Dies ist aber kaum oder wenigstens nur in einem äußerst unzureichenden Maß der Fall, was insbesondere im kirchlichen Sanktionsrecht offensichtlich wird254. Und schließlich legt aus systematischer Sicht die Aufschlüsselung in einen äußeren und inneren Aspekt der Religionsfreiheit nahe, dass c. 748 § 2 CIC/1983 nicht den innerkirchlichen Aspekt dieses Freiheitsrechts anspricht, da ein solcher seinen Platz im Grundrechtskatalog aller Christgläubigen hätte haben müssen, wie auch Mussinghoff in seiner Auslegung zu c. 748 CIC/1983 moniert255. Mussinghoff ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Problem mit 250 Eberhard
Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam, 7. Burkhard Josef Berkmann: Nichtchristen im Recht der katholischen Kirchen, 570: „Ob und inwiefern die Kirche den eigenen Angehörigen die Gewissensund Religionsfreiheit gewähren muss, ist eine heftig diskutierte Frage. Die kodikarischen Grundrechtskataloge enthalten keine entsprechende Verbürgung.“ 252 Vgl. Judith Hahn: Menschenrechte in der Kirche, 80: Zwar existiere die Religionsfreiheit auch innerhalb der Kirche, „doch gibt sie nur eine Seite religiöser Freiheit wieder. So ist Religionsfreiheit in der Kirche aktuell ausschließlich als positive Religionsfreiheit konzipiert: nämlich als Freiheit zu glauben, was Glaube der Kirche ist, und diesen Glauben praktisch zu verwirklichen. Eine negative Religionsfreiheit, die den einzelnen ermächtigte, das vormals als wahr Erkannte aufzugeben, besteht hingegen nicht.“ 253 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 114; vgl. dazu Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 112–118. 254 Vgl. Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 89–97. 255 Vgl. Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/1, Rdnr. 1 (Stand März 1987). 251 Vgl.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
einer einfachen Transferierung der bestehenden Norm in den Grundrechts katalog aller Christgläubigen nicht behoben wäre, da sowohl die Normierung des äußeren, „vorkirchlichen“ Aspektes der Religionsfreiheit gefordert ist, der auch den historischen Kontext von c. 748 § 2 CIC/1983 bildet256, als auch die innerkirchliche Entfaltung dieses Freiheitsrechts gefragt ist, die entsprechend dem Wesen der Kirche erfolgen muss. Letzteres lässt sich aber nicht aus dem Wortlaut, der Entstehung, dem Kontext und der Systematik von c. 748 § 2 CIC/1983 ableiten. 4. Ergebnis der Auslegung von c. 748 § 2 CIC/1983 Allgemeiner Konsens hinsichtlich der Auslegung von c. 748 § 2 CIC/1983 herrscht zumindest darüber, dass es sich um eine Verbotsnorm handelt, welche Zwangsmittel gegen das Gewissen seitens jeglicher menschlicher Gewalt bei der „Annahme des katholischen Glaubens“ verbietet257. Genau betrachtet sind die Grenzen dieser Norm damit sehr eng gesteckt: Verboten wird ausdrücklich nur der „Zwang“ auf das Gewissen bei der Annahme des katholischen Glaubens. Die Norm wendet sich mit dem Verbot der Zwangsausübung an jede physische und juristische Person (nemini). Positiv formuliert handelt es sich um ein Freiheitsrecht, das die freie Bildung eines Gewissensurteils hinsichtlich der Annahme des katholischen Glaubens und ein dementsprechendes Handeln garantiert. Die Ansichten, ob die Tragweite von c. 748 § 2 CIC/1983 über die initiale Annahme des katholischen Glaubens hinausreicht, divergieren. Als Argument gegen eine einschränkende Interpretation des c. 748 § 2 CIC/1983 kann vorgebracht werden, dass der Mensch zweifelsohne nicht in der Lage ist, im Zuge des initialen Aktes der Glaubensannahme die gesamte Tiefe des Glaubensschatzes so zu „erkennen“, dass er diesen nur mehr „bewahren“ („servare“) müsste258. Der Glaube kann nämlich aus seiner Natur heraus nicht als ein rein punktuelles und abgeschlossenes Ereignis betrachtet werden, sodass mit dem Eintritt in die christliche Existenz bzw. mit der Aufnahme in die Kirche bereits seine Vollform verwirklicht wäre259. Vielmehr ist 256 Vgl. Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 170 f.; Matthias Pulte: § 64 Missionarischer Auftrag, 942; Thomas A. Amann: § 65 Der ökumenische Auftrag, 957. 257 Vgl. Felix Bernhard: Entscheidungsfreiheit im neuen Kirchenrecht, 32; Felix Bernhard: § 15 Die Berufung zur Kirche, 264; Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/1, Rdnr. 2 (Stand März 1987). 258 Vgl. Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 64–68, 129–133. 259 Vgl. Otfried Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 251; vgl. dazu auch Eberhard Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam, 7: Schockenhoff, der oben damit zitiert wurde, dass in c. 748 § 2 CIC/1983 eine solche ausgedehnte Interpretation
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es jedem Christgläubigen aufgetragen, den Glauben stets zu aktualisieren, neu bzw. tiefer zu erforschen, aber auch läutern und erschüttern zu lassen. Eine solche Sichtweise entspricht zudem den Ausführungen des II. Vatikanischen Konzils zur dynamischen Kirchengliedschaft260. In theologischer Hinsicht ist klar, dass die Freiheit des Glaubens „nicht nur für den einmaligen Akt der Glaubenszustimmung am Anfang, sondern auch für den Weg des Glaubens selbst“ relevant und notwendig ist. Der Glaubensweg „muss in seinem gesamten Vollzug Ausdruck der freien Selbstübereignung des gläubigen Menschen an Gott sein, damit er der Würde seiner Berufung durch Gott entspricht“261. Das Problem in Bezug auf c. 748 § 2 CIC/1983 ist nun aber, dass Wortlaut, Systematik und historischer Kontext des Canons angesichts der berechtigten Unterscheidung in eine „äußere“ und „innere“ Religionsfreiheit nicht den geeigneten Rahmen bilden, um darin die innerkirchliche Dimension der Religionsfreiheit zu verankern. 5. Unterschiedliche Normen für unterschiedliche Aspekte der Freiheit Um nun kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die Ausdehnung und Gewährung des Schutzbereichs von c. 748 § 2 CIC/1983 auf Katholiken ist sachlich bzw. theologisch gesehen zweifelsohne zu unterstützen und wünschenswert: „Glaubens- und Gewissensfreiheit gilt absolut, d. h. auch gegenüber dem katholischen Glauben, d. h. auch gegenüber der absoluten Wahrheit“262. Krämer betont mit Verweis auf Heribert Schmitz zu Recht, dass „der Glaubensakt … die von der Gnade getragene, freie Antwort des Menschen auf Gottes Wort darstellt und in dieser Unverfügbarkeit der kirchlichen Rechtsordnung vorausliegt“ und einer solchen Wirklichkeit „auch nach der Annahme des Glaubens ‚innerkirchlich der notwendige Raum‘ “ gewährt werden müsse „ ‚für das freie Festhalten am Glauben und für die Gestaltung des Lebens aus dem Glauben in frei verantworteter Entscheidung‘ “263. nicht zu finden sei, ist klar, „dass die Freiheit des Glaubens nicht nur für den einmaligen Akt der Glaubenszustimmung am Anfang, sondern auch für den Weg des Glaubens selbst gilt. Dieser muss in seinem gesamten Vollzug Ausdruck der freien Selbstübereignung des gläubigen Menschen an Gott sein, damit er der Würde seiner Berufung durch Gott entspricht.“ 260 Vgl. dazu auch das Kapitel 3. C. II. 5. „Unterschiedliche Normen für unterschiedliche Aspekte der Freiheit“ in dieser Arbeit. 261 Eberhard Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam, 7; vgl. ebenso Judith Hahn: Menschenrechte in der Kirche, 82 f. 262 Heinrich Mussinghoff: MKCIC 748/2, Rdnr. 4 (Stand März 1987). 263 Peter Krämer: Kirchenrecht I, 38, mit Verweis auf Heribert Schmitz: Tendenzen nachkonziliarer Gesetzgebung, 416.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Anhand der Diskussion über die Reichweite von c. 748 § 2 CIC/1983 wird offensichtlich, dass eine innerkirchliche Anwendung des darin zum Ausdruck kommenden Grundprinzips theologisch gefordert ist. In der grundsätzlichen „Anerkennung des Menschenrechts der Religionsfreiheit berühren sich weltliche und kirchliche Rechtsordnung, denn auf beide wirkt sie sich aus“. Die Religionsfreiheit ist „einerseits eine Forderung der Kirche an die weltlichen Mächte …, schließt anderseits zugleich aber in Form einer Selbstverpflichtung eine Forderung an die Kirche mit ein“264. Der äußeren und inneren Wirkung der Religionsfreiheit liegt auch das gleiche Grundprinzip zugrunde, nämlich der seinem Wesen nach freie Glaubensakt des Menschen. Aber es stellt sich die Frage, ob entsprechend der Unterscheidung in eine äußere und innere Religionsfreiheit nicht auch eine differenzierte normative Behandlung der zugrundeliegenden Glaubensakte erfolgen muss. Zwar geht es in beiden Teilaspekten der religiösen Freiheit für die Kirche im Wesentlichen um eine „Beschränkung ihrer Mittel“, welche sich darin äußert, dass auf eine „Anwendung von dem Evangelium widersprechende Mittel“ verzichtet und eine „strikte Selbstbindung an die Mittel des geist lichen Rechts“ erfolgen muss265. Daher beinhaltet ebenso die nach innen wirkende Dimension dieses Freiheitsrechts das Verbot einer Zwangsausübung auf das Gewissen. Jedoch ist zu bedenken, dass sich eine innerkirchliche Verwirklichung der Religionsfreiheit bzw. der Glaubens- und Gewissensfreiheit von einer solchen, die dem Staat gegenüber formuliert ist, schon allein deshalb unterscheiden muss266, weil es – wie bereits erwähnt – zum ureigensten Sendungsauftrag einer Glaubensgemeinschaft gehört, sich „in die religiöse Sphäre des Menschen einzumischen“267. Eine solche Einmischung kann oder 264 Aymans/Mörsdorf:
KanR I, 92. 95. 266 Vgl. dazu Johannes Neumann: Menschenrechte auch in der Kirche, 42 f.: „Ohne Zweifel ist nämlich beispielsweise das Grundrecht auf Gewissensfreiheit nur sehr bedingt … im innerkirchlichen Rechtsbereich anwendbar. Dies nicht etwa deshalb, weil sich der Mensch durch die Aufnahme in die Kirche seiner freien Gewissensentscheidung begibt, sondern weil er in seinem Gewissen dadurch eine Grundentscheidung im Glauben getroffen hat oder wenigstens hätte treffen sollen. Es ist der Kirche … allerdings ihrem Wesen nach verwehrt, den ungläubig Gewordenen, den Abgefallenen, zur ‚Bekehrung‘ und damit zum Verbleiben in ihr zu zwingen. Eine solch geistliche Unmöglichkeit sollte freilich durch einen dementsprechend recht lichen Verzicht gesetzlich ausgeschlossen werden.“ 267 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 397; Aymans/ Mörsdorf: KanR I, 94; vgl. auch Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 171; Wilhelm Rees: Beitritt, Austritt, Wechsel der Religionsbekenntnisses und Wiedereintritt, 172–177. 265 Ebd.,
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muss im Fall eines Katholiken, der an das kirchliche Gesetz moralisch268 und rechtlich gebunden ist (vgl. c. 11 CIC/1983) und dessen kirchliche Individual schutz- und Freiheitsrechte im sendungsspezifischen Kontext der Glaubensgemeinschaft auszulegen sind269, gegebenenfalls auch mit Hilfe von Sanktionen geschehen. Zudem muss hervorgehoben werden, dass nach einmütiger Lehre der Kirche das Sakrament der Taufe ein unauslöschliches Prägemal einprägt, welches die unwiderrufliche Eingliederung des Christen in die eine Kirche Jesu Christi zur Folge hat. Schon allein diese Tatsache gebietet eine unterschiedliche normative Betrachtung und Behandlung desjenigen Glaubensaktes, der zu dieser Eingliederung führt und der weiteren Glaubensakte, die der Getaufte von nun an als Christ setzt. Jedoch ist in c. 748 § 2 CIC/1983 von der Annahme des katholischen Glaubens die Rede. Die Taufe in der katholischen Kirche bzw. die Aufnahme in diese bringt des Weiteren deshalb eine besondere Tragweite und Brisanz mit sich, weil sie nach herrschender kirchlicher Lehre gleichzeitig mit der unwiderruflichen Eingliederung in die katholische Kirche (semel catholicus semper catholicus)270 und somit zugleich mit einer dauerhaften Unterstellung unter die kirchliche Rechtsordnung (vgl. c. 11 CIC/1983 bzw. c.1490 CCEO) verbunden ist. Innerhalb der Dogmatik und Kanonistik gibt es jedoch Stimmen, welche die Durchgängigkeit dieses Prinzips oder seine grundsätzliche theologische Berechtigung anzweifeln, was natürlich große Auswirkungen auf das Verständnis der Glaubens- und Gewissensfreiheit bzw. ihre Verwirklichung in der Kirche mit sich bringen würde, wie im folgenden Abschnitt über das Problem der Kirchengliedschaft zu sehen sein wird. a) Das Problem der Kirchengliedschaft im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit Nicht nur die Annahme des katholischen Glaubens, sondern die gesamte christliche bzw. ekklesiale Existenz ist, wie schon weiter oben angedeutet wurde, als „prozesshaft sich vollziehende … Bindung des Getauften an die Kirche“ zu erfassen271. Hubert Socha wirft in diesem Zusammenhang die 268 Die moralische Gebundenheit besteht selbstverständlich nur dann, wenn es sich tatsächlich um keine moralisch indifferente Norm handelt. 269 Mehr dazu im Kapitel 3, D V. „Menschenrechte in der Kirche“. 270 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 168; Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 280; Hubert Socha: MKCIC 11/8, Rdnr. 14 (Stand Februar 2012); Nils Pet rat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 319 f. 271 Ilona Riedel-Spangenberger: Die Sakramente der Initiation in der kirchlichen Rechtsordnung, 58; vgl. dazu auch Bertram Zotz: Katholisch getauft – katholisch geworden, 34 f., 78–81; Unitatis redintegratio (UR) 22,2: „Die Taufe begründet also
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Frage auf, ob derjenige überhaupt noch „zu den Katholiken“ gerechnet werden könne, „dem es nach erlangter Selbstmächtigkeit nie möglich war, in die Vollgliedschaft der katholischen Kirche hineinzuwachsen und sich mit ihr zu identifizieren“. Nach Socha wäre es „konsequent gewesen, Getaufte, die niemals zur vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirchen kamen oder sich von ihr losgesagt und einer anderen christlichen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft angeschlossen haben, nicht als Katholiken zu betrachten und an die leges mere ecclesiasticae zu binden“272. Ähnlich fragt auch Heinrich J. F. Reinhardt, „ob es nicht konsequent wäre“, c. 11 CIC/1983 durch die Formulierung „ ‚nisi ab Ecclesia catholica defecerint‘ “273 zu ergänzen? Socha und Reinhardt greifen damit ein Thema auf, das bereits 1981 im Plenum der CIC-Reformkommission angeklungen war, als über § 3 des c. 11 des Schema Codicis Iuris Canonici/1980 (Schema CIC/1980) diskutiert wurde274. C. 11 § 3 Schema CIC/1980 enthielt die explizite Festlegung, dass rein kirchliche Normen auch für diejenigen gelten sollen, die von der katholischen Kirche abgefallen sind, es sei denn, das Recht würde ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Dies veranlasste Kardinal Suenens nachzufragen, ob eine solche Norm überhaupt legitim und mit dem Geist des Evangeliums konform sein könne oder ob sie nicht vielmehr wie ein „Zwangsmittel“ wirke, welches jedoch mit c. 707 § 2 Schema CIC/1980, dem heutigen c. 748 ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind. Dennoch ist die Taufe nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da sie ihrem ganzen Wesen nach hinzielt auf die Erlangung der Fülle des Lebens in Christus. Daher ist die Taufe hingeordnet auf das vollständige Bekenntnis des Glaubens, auf die völlige Eingliederung in die Heilsveranstaltung, wie Christus sie gewollt hat, schließlich auf die vollständige Einfügung in die eucharistische Gemeinschaft.“ 272 Hubert Socha: MKCIC 11/9, Rdnr. 16 (Stand Februar 2012); vgl. auch die ebd., angegebenen Literaturnachweise; Socha begründet seine Auffassung unter anderem mit einem Hinweis auf die Existenz der (mittlerweile wieder gestrichenen) Defektionsklauseln – vgl. Benedikt XVI.: Motu Proprio „Omnium in mentem“ vom 26. Oktober 2009, in: AAS 102 (2010), 8–10. Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 382: Im Fall eines „Kindes nichtkatholischer Eltern …, das katholisch getauft und nichtkatholisch erzogen wurde, … wird man umgekehrt zögern, diesen nunmehr erwachsenen Menschen als Katholiken zu bezeichnen. Er hat die Bänder, die die plena communio begründen, zu keiner Zeit für sich anerkannt, sich stets als Nichtkatholik begriffen“ – Lüdicke hält jedoch die ehemaligen Defek tionsklauseln mit dem „Denkansatz“ des c. 11 CIC/1983 für „unvereinbar“ – ebd., 386; Aymans hingegen äußerte sich bereits 1998 kritisch zur „Einengung des ‚catholicus‘-Begriffes“ – vgl. Winfried Aymans: Die Aufnahme der Defektionsklauseln in das kanonische Eherecht, hier 930. 273 Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 115; vgl. ebenso Heinrich J. F. Reinhardt: Ökumenische Perspektiven der katholischen Kirchenverfassung, 106–111; Johannes Neumann: Menschenrechte auch in der Kirche, 36 f. 274 Zur Textgeschichte des heutigen c. 11 CIC/1983 vgl. den Überblick bei Hubert Socha: MKCIC 11/1–3, Rdnr. 1 (Stand Februar 2012).
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§ 2 CIC/1983, unvereinbar sei und dem freien Zeugnis des Glaubens widerspreche. Suenens schlug stattdessen vor, § 3 des c. 11 Schema CIC/1980 zu streichen und § 1 des c. 11 Schema CIC/1980 um den Zusatz „nisi actu for mali (et publico) ab eadem defecerint“ zu ergänzen275. Für diesen Vorschlag zeigte das Sekretariat der Reformkommission allerdings wenig Verständnis und antwortete: „Die Bemerkung kann nicht angenommen werden. Sie beruht auf einem irrigen ekklesiologischen Konzept, demzufolge die Kirche sich als eine ‚Kirche der freien Gefolgschaft‘ (J. Klein) darstellt, aus der jeder nach Belieben austreten kann. Der Vorschlag würde zu absurden Folgerungen führen und dem kirchlichen Gesetz alle Kraft nehmen: Es würde ausreichen, daß jemand formal erklärte, er verlasse die Kirche, damit er nicht mehr vom Gesetz verpflichtet würde; die Verpflichtung der Gesetze hinge von der Privatperson selbst ab; Apostasie wäre nicht länger ein strafbares Delikt.“276 Obschon das Sekretariat der Reformkommission mit dieser Antwort keine positiven Anhaltspunkte dafür lieferte, wie die Unvereinbarkeit von Glaubensfreiheit und Zwang innerkirchlich gelöst werden kann, so schließt sie zumindest eine Lösung über das ekklesiologische Konzept der „Kirche der freien Gefolgschaft“ Klein’scher Prägung aus, in dem die Frage nach der Kirchengliedschaft in einer konstitutiven Weise an die Gewissensentscheidung des Christgläubigen geknüpft wird277. „An diesem Punkt nun stellen viele (deutsche) Kirchenrechtler einige Rückfragen an die geltende Regelung“, wie Nils Petrat in seiner Dissertation meint. Einen „Brennpunkt der Diskussion“ bilde dabei „die Frage, wie das Selbstverständnis der katholischen Kirche, die wahre Kirche Christi zu sein, in die der Mensch letztlich von Gott selbst durch die Taufe unwiderruflich aufgenommen wird, mit der Achtung der Gewissens- und Glaubensfreiheit des Getauften in Übereinstimmung gebracht werden kann“278. 275 Pontificia Commissio Codicis Iuris Canonici Recognoscendo: Relatio complectens synthesim, 23; vgl. auch Communicationes 14 (1982), 116–230; vgl. dazu Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 384. 276 Deutsche Übersetzung zitiert aus: Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 384; lateinischer Originaltext in: Pontificia Commissio Codi cis Iuris Canonici Recognoscendo: Relatio complectens synthesim, 23: „R. Animad versio admitti nequit. Nititur conceptu ecclesiologice erroneo, secundum quem Eccle sia configuratur ut ‚Kirche der Freiegefolgschaft‘ [sic] (J. Klein) e qua unusquisque ad libitum egredi potest. Propositio duceret ad absurdas conclusiones et omnem vim legi ecclesiasticae aufert: sufficeret ut quis declaret formaliter se relinquere Eccle siam, ut non obligaretur lege; obligatio legis penderet ab ipsa persona privata; apo stasia non amplius esset delictum punibile.“ 277 Vgl. das Kapitel 2. B. I. 2. „Die Begrenzung des Kirchenrechts durch die freie Gefolgschaft“ in dieser Arbeit. 278 Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 320; vgl. ebd., 378 f.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Klaus Lüdicke, der der Antwort des Sekretariats der Reformkommission wenig sachliche Überzeugungskraft zuspricht, weil danach weder „die plena communio, aber auch nicht die korporative Kirchengliedschaft … für die Geltung rein kirchlicher Gesetze ausschlaggebend“ sei, „sondern [allein] der Satz: ‚Semel catholicus semper catholicus‘ “279, hat daher folgende Anfragen „an die Dogmatik“ formuliert: „Kann eine Unterscheidung zwischen dem Stehen in der plena communio und der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche gemacht werden? Kann es ein Verlassen des sichtbaren Gefüges der katholischen Kirche mit oder ohne Eintritt in eine andere christliche Konfession oder nichtchristliche Glaubensgemeinschaft geben? … Ist die Bindung von Christen an das kirchliche Gesetz, die der katholischen Kirche nicht mehr angehören, eine dogmatisch begründbare Tatsache oder eine positive gesetzgeberische Anordnung?“280 Lüdicke vertritt nun die These281, dass die Taufe zunächst nur die „Eingliederung in Christus“ bewirke, welche „unabhängig … von der konkreten Eingliederung in eine konfessionelle Existenzgestalt des Gottesvolkes“ sei. Die „korporative Gliedschaft“ sei deshalb grundsätzlich „verlierbar“ und könne „durch eine solche Gliedschaft in nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ersetzt werden“282. Lüdickes Beschränkung auf Kirchen und kirchliche Gemeinschaften hat ihren Grund darin, dass er zwei Sachverhalte unterscheidet: Tritt ein Katholik zu einer anderen christlichen Glaubensgemeinschaft über, sei dieser nicht mehr an die Gesetze der katholischen Kirche gebunden. Kriterium für die Möglichkeit einer solchen Befreiung des Katholiken von der korporativen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche ist seiner Auffassung nach „die erklärte und vollzogene Zugehörigkeit 279 Vgl. Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 384; Lüdicke verweist darauf, dass sich das Problem der Kirchengliedschaft aufgrund „der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils … zunächst einfacher“ stellt, „in der Ausführung dann aber schwieriger“ sei – ebd., 378. 280 Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 387; vgl. dazu auch Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 321, wobei hierzu anzumerken ist, dass eine Divergenz zwischen dogmatischen und kirchenrechtlichen Lösungsansätzen (vgl. ebd., 377 ff.) weder wünschenswert noch zielführend sein kann. Zweifelsohne aber sind dort Korrekturen im Kirchenrecht geboten, wo sich – möglicherweise historisch bedingt – unsachgemäße „Theologisierungen“ eta bliert haben. 281 Es muss hier angemerkt werden, dass Klaus Lüdicke diese These in Auseinandersetzung mit den damals noch bestehenden Defektionsklauseln (vgl. cc. 1086, 1117, 1124 CIC/1983) formuliert hat; sein Ergebnis ist daher unter anderem (aber nicht nur!) als Versuch zu werten, diesen Klauseln eine theologische Einordnung zu geben: „Can. 1086/1117/1124 dagegen sind nicht nur mit dem Denkansatz des can. 11 unvereinbar, sondern auch aus fehlgehender guter Absicht geboren“ – Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 386. 282 Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 383.
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zu einer sichtbaren Teilgemeinschaft des Gottesvolkes, in der die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils kirchenbildende Elemente anerkennt“. Das Verlassen der katholischen Kirche, um einer nichtchristlichen Religion anzugehören, entlasse den Betreffenden hingegen „nicht aus der korporativen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche“, sondern bewirke „nur das Ruhen einer jederzeit wiederbelebbaren Potenz“283. Wie ist nun eine solche Auffassung284 insbesondere im Lichte einer innerkirchlich zu verwirklichenden Glaubens- und Gewissensfreiheit zu bewerten? Würde damit dem Konflikt zwischen Gewissensfreiheit und Zwang in der Kirche nicht der Boden entzogen werden, zumindest in all jenen Fällen, in denen der Apostat, Häretiker oder Schismatiker die Gemeinschaft der Kirche ohnehin von sich aus verlassen will285? Oder gibt es möglicherweise doch theologisch begründete Vorbehalte gegen eine Modifikation des Prinzips „semel catholicus semper catholicus“ und handelt es sich dabei tatsächlich nicht nur um eine rein gesetzgeberische Positivierung? Wenn nun folgend auf diese Fragen eingegangen wird, sei zunächst auf die Lizentiatsarbeit von Bertram Zotz286 verwiesen, dessen Ausführungen hier im Ergebnis wiedergegeben werden. Gemäß der „ekklesiologisch fundierten Gliedschaftsdoktrin der katholischen Kirche muss kraft göttlichen Rechts gelten, dass niemand der einen Kirche Jesu Christi angehören kann, der nicht getauft ist“287. Diese Gliedschaft in der einen Kirche Jesu Christi wird aufgrund des durch die Taufe vermittelten character indelebilis einhellig als unverlierbar charakterisiert. Nun kommt aber dieser „einen Kirche Jesu Christi … ihrer mystischen Natur entsprechend wesentlich auch eine sichtbar-irdische Dimension zu … Die eine Kirche Jesu Christi existiert in dieser Welt nur in der organisatorischen Gestalt einzelner christlicher Bekenntnis gemeinschaften“288. Mit der Formulierung in LG 8,2, dass die Kirche Jesu Christi in der catholica subsistiert (vgl. c. 204 § 2 CIC/1983 bzw. c. 7 § 2 CCEO) erfolgt nicht nur ein „Paradigmenwechsel“ bei der Beurteilung und Einordnung nichtkatholischer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, sondern zugleich die Feststellung, dass „die Institution ‚Katholische Kirche‘ “ eine „authentische Repräsentantin dessen“ ist, „was die Kirche Jesu Christi 283 Ebd.,
391 Fn. 52. dazu jüngst auch Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, der in seinen „Optionen“ (ebd., 369–380) ähnliche Denkanstöße formuliert. 285 Eine diesbezügliche Beschränkung nur auf jene, die sich einer anderen christ lichen Konfession zuwenden, wäre innerhalb einer solchen Systematik wohl schwer zu begründen. 286 Vgl. Bertram Zotz: Katholisch getauft – katholisch geworden. Kanonistische Kriterien für die Zugehörigkeit zur römischen Kirche. 287 Ebd., 135. 288 Ebd. 284 Vgl.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
sein soll“289. In Gegenüberstellung zu einem rein vergeistigten Kirchenbild ist des Weiteren hervorzuheben, dass sich die „Kirche Jesu Christi in der Welt nur in der organisatorischen Gestalt konkreter ‚Ecclesiae vel communitates ecclesiales‘ zeigt“ und daher eine Gliedschaft in der Kirche Jesu Christi ohne gleichzeitige Gliedschaft in einer solchen sichtbaren Größe („korporative Zugehörigkeit“) unmöglich ist290. Andernfalls hätte dies notwendigerweise eine Aufspaltung bzw. Trennung von Christus und Kirche zur Voraussetzung. Und schließlich ist von der Vermutung auszugehen, dass sich der einzelne Getaufte, „indem er einer konkreten christlichen Glaubensgemeinschaft eingegliedert ist, mit deren institutioneller Struktur wie Glaubensdoktrin in einem Lebensvollzug prinzipiell auch identifiziert“291. Zusammenfassend lassen sich beim Versuch einer logischen Erfassung der Kirchengliedschaft mit Bertram Zotz drei Ebenen erkennen, welche aber „faktisch … stets in einem untrennbaren Konnex miteinander stehen“: So ist 1) von einer „Gliedschaft in der einen Kirche Jesu Christi“ als einer indisponiblen, „ ‚konstitutionell-konsekratorischen‘292“ Ebene auszugehen, welche wiederum 2) von der Ebene der „tätigen Kirchengliedschaft“ zu unterscheiden ist, die auf ein „Mehr oder Weniger an Verwirklichung des Christseins“ verweist, was „in den Konzilsdokumenten mit dem Terminus ‚communio (non) plena‘ und in c. 96 CIC mit der Formel ‚quatenus in ecclesiastica sunt communione‘ “ zum Ausdruck gebracht wird. 3) Auf der dritten Ebene ergibt sich die Einordnung des Christen in eine konkrete rechtlich-organisatorische Größe der Kirche Jesu Christi, welche sich in der Welt in der katholischen Kirche bzw. in den nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften manifestiert293. „Aus der primatialen Stellung der katholischen Kirche ergibt sich, dass die ihr angehörenden Christen als korporativ in der ‚plena communio‘ mit der (katholischen) Kirche stehend angesehen werden müssen und – vorbehaltlich weiterer erforderlicher Bedingungen – nur ihnen im Prinzip die Ausübung 289 Ebd.
290 Ebd., 136; auffallend ist, dass Zotz richtigerweise von einer korporativen „Zugehörigkeit“ spricht und nicht von einer „Gliedschaft“, wohl um den Anschein zu vermeiden, dass hier gleichsam eine ontologische „Zwischenebene“ zwischen Christus und der Kirche eingezogen wird. 291 Bertram Zotz: Katholisch getauft, 40; vgl. auch ebd., 129 f. 292 Vgl. dazu Klaus Mörsdorf: Die Kirchengliedschaft nach dem Recht der katholischen Kirche, 151, hier insb. Fn. 8. 293 Bertram Zotz: Katholisch getauft – katholisch geworden, 45 f.
C. Das Gewissen im CIC/1983155
aller Christenrechte eröffnet sein kann.“294 Die Ausübung der Rechte und Pflichten innerhalb der catholica hängt zunächst von der Zugehörigkeit des Betreffenden zu ihr und dann von seinem Beziehungsverhältnis zur commu nio plena ab. Gemäß c. 11 CIC/1983 ist festzustellen, dass eine korporative „Zugehörigkeit zur katholischen Kirche auf zwei Weisen rechtswirksam begründet“ wird, nämlich einerseits durch die Taufe in der katholischen Kirche oder andererseits durch die Aufnahme eines bereits in einer anderen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft Getauften in diese295. Beide Akte müssen – wie oben dargestellt – gemäß c. 748 § 2 CIC/1983 unter Ausschluss von jeglichem Zwang erfolgen296. Die Konzilsväter haben nun in LG 14 die volle (plene297) Eingliederung in die Kirche jenen zugesprochen, welche, „im Besitze des Geistes Christi, ihre ganze Ordnung und alle in ihr eingerichteten Heilsmittel annehmen und in ihrem sichtbaren Verband mit Christus, der sie durch den Papst und die Bischöfe leitet, verbunden sind, und dies durch die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung und Gemeinschaft. Nicht gerettet wird aber, wer, obwohl der Kirche eingegliedert, in der Liebe nicht verharrt und im Schoße der Kirche zwar ‚dem Leibe‘, aber nicht ‚dem Herzen‘ nach verbleibt“. Während die drei im Wesentlichen schon von Robert Bellarmin vorgegebenen vincucla für eine Gliedschaft in der communio plena „weitgehend außer Streit“ stehen, kann dies vom Kriterium des „Geistbesitzes“ (Spiritum Christi habentes) in LG 14,2 keinesfalls behauptet werden; Zotz meint dazu: „Der Dogmatik des Konzils gelten … jene Christen als nicht voll in die Kirche eingegliedert, welche die genannten Erfordernisse ohne moralische Schuld … äußerlich nicht erfüllen, sowie jene, die diese Anforderungen schuldhaft überhaupt nicht oder nur äußerlich und damit nur zum Schein erfüllen … Dabei steht aber nicht in Frage, dass auch unter diesen Umständen die tätige Gliedschaft, wenn auch in geringerer Dichte, aufrecht ist.“298 Auf diese Wirklichkeit bezieht sich auch c. 96 CIC/1983 mit der Formulierung „quatenus in ecclesiastica sunt communione“, womit ebenso aus rechtlicher Perspektive ein grundsätzlich dynamisches Verhältnisgefüge innerhalb der kirchlichen Communio angenommen wird299. Die Frage aber nach der Ver294 Ebd.,
46. 137. 296 Vgl. dazu insb. ebd., 50–78, 91 f., 105. 297 Vgl. dazu ebd., 35. 298 Ebd., 37. 299 Ebd., mit entsprechenden Nachweisen. Um den Fehlschluss zu vermeiden, dass diese Formulierung Grundlage dafür sein könnte, einen völligen Verlust der Kirchen295 Ebd.,
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
hältnisbestimmung eines Katholiken zur communio plena wird in der Folge nicht nur in dem Fall relevant, dass er diese von sich aus verlassen möchte bzw. dass er in dieser nie in tätiger Weise Fuß gefasst hat, sondern auch in all jenen Fällen, in denen er prinzipiell in dieser Communio verbleiben will, diese jedoch durch sein Verhalten schwer stört oder schädigt300. Wie ist daher das Kriterium des Geistbesitzes, das übrigens nicht in die Gliedschaftsdefinition des c. 205 CIC/1983 aufgenommen wurde301, zu deuten? Welche Auswirkungen hat es auf die Verhältnisbestimmung zur com munio plena? Im Wesentlichen werden dazu zwei unterschiedliche Auffassungen vertreten: Die Mehrheit der Dogmatiker und ein Gutteil der Kanonisten gehen davon aus, dass dieses Kriterium von verfassungsrechtlicher Bedeutung ist, sodass nicht nur im Zuge der christlichen Initiation durch die Taufe, sondern im gesamten Leben des Christen von einer gestuften Kirchengliedschaft auszugehen ist, welche sich in rechtlicher Hinsicht in einer zu- bzw. abnehmenden Zugehörigkeit zur communio plena oder gar in einem Bruch mit ihr manifestierten kann302. Wird das Kriterium des Geistbesitzes hingegen ausschließlich im Sinne einer Heilsfrage gedeutet, wie es insbesondere Winfried Aymans, Georg Gänswein und Gerhard Ludwig Müller tun303, dann ist der Geistbesitz nicht im Sinne eines konstitutiven Elegliedschaft anzunehmen, schlägt Zotz vor, „quatenus“ mit „ je nachdem, wie weit“ bzw. „ je nachdem, in welchem Grad“ zu übersetzen – vgl. ebd., 38. 300 Vgl. dazu Heribert Schmitz: Taufe, Firmung Eucharistie, 399, der hier darauf hinweist, dass sich die „schwere Sünde“ auch immer „gegen die Kirche“ richtet. 301 Coccopalmerio macht jedoch darauf aufmerksam, dass das Element der Geistbesitzes in der ursprünglichen Fassung des c. 205 im Zuge der Codexreform sehr wohl vorhanden war – vgl. Francesco Coccopalmerio: Die kirchliche communio, 95. 302 Vgl. dazu die Übersicht und die Literaturnachweise bei Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 274–278; vgl. dazu ebenso Joseph Ratzinger: Theologische Aufgaben und Fragen bei der Begegnung lutherischer und katholischer Theologie nach dem Konzil, hier insb. 974–978; zur Position, dass die Formel „Spi ritum Christi habentes“ im verfassungsrechtlichen Sinn zu deuten ist, vgl. Alois Grill meier: Kommentar zum I. und II. Kapitel der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, 198 f.; Hubert Müller: Zugehörigkeit zur Kirche als Problem der Neukodifikation; Eugenio Corecco: Ekklesiologische Grundlagen des Codex Iuris Canonici, 170; Eugenio Corecco: Taufe, 33; Libero Gerosa: Exkommunikation als freier Glaubensgehorsam, 204–227: Die schwere Sünde trennt den Katholiken ebenso von der communio plena wie den Nicht-Katholiken, der den Glauben dazu vielleicht noch nie geteilt hat. Lediglich die formalen Konsequenzen zur Feststellung dieses Tatbestands und zur Wiedererlangung der communio sind verschieden; vgl. ebenso Libero Ge rosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 93–98; Helmuth Pree: MKCIC 96/10, Rdnr. 8 (Stand November 1995); Bertram Zotz: Katholisch getauft – katholisch geworden, 42, mit weiteren Nachweisen. 303 Georg Gänswein betont hingegen in Anschluss an Winfried Aymans, dass die „Zugehörigkeit in der ‚plena communio‘ “ zwar verschiedene Abstufungen für den katholischen Christen kennt, dennoch bleibe dieser immer Teil der communio plena.
C. Das Gewissen im CIC/1983157
mentes der Kirchengliedschaft zu begreifen, sondern im Sinne einer Wertung, inwieweit der Christgläubige in „ fruchtbarer Weise Glied der Kirche ist“304. In dieser Untersuchung wird im Ergebnis der „Mehrheit der Kanonisten“ und damit der Auffassung gefolgt, „dass eine Unterscheidung zwischen dem Stehen in der communio plena und der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche gemacht werden“ kann, ohne dass der „Verlust der vollen Gemeinschaft … das Katholik-Sein“ aufheben würde, „sodass ein Häretiker oder ein Schismatiker (auch gemäß c. 1364 CIC/1983) noch als ‚katholisch‘ zu bezeichnen“305 ist und der Grundsatz semel catholicus semper catholicus gewahrt bleibt. Begründet wird diese Entscheidung einerseits mit dem Hinweis, dass angesichts der komplexen Natur der Kirche die Frage nach dem Heil von jener nach der Kirchenzugehörigkeit nicht getrennt werden sollte306, worauf schon der begriffliche Zwiespalt aufmerksam macht, wenn nämlich von einer communio plena (non) plene die Rede ist307. Zudem stellt sich die Frage, warum die schwere Sünde eines Katholiken die communio plena nicht Bei den Worten „Spiritum Christi habentes“ handle es sich um eine Partizipialkonstruktion, die sich auf alle folgenden Elemente des Textes beziehe. Die Aussage werde daher den anderen nicht als weiteres Kriterium nebengeordnet, sondern zugrunde gelegt – vgl. Georg Gänswein: Kirchengliedschaft – Vom Zweiten Vatikanischen Konzil zum Codex iuris canonici, hier insb. 220 ff.; Georg Gänswein: Kirchengliedschaft gemäß dem Zweiten Vatikanischen Konzil; Winfried Aymans: Die kanonistische Lehre von der Kirchengliedschaft im Lichte des II. Vatikanischen Konzils; Ay mans/Mörsdorf: KanR I, 292–295; Aymans/Mörsdorf: KanR II, 52–59; die Auffassung von Aymans und Gänswein läuft darauf hinaus, dass die verfassungsrechtliche Frage nach der Kirchengliedschaft getrennt betrachtet werden muss von der der heilsgeschichtlichen Frage. Jeder Katholik steht demnach immer in der communio plena, jedoch gibt es innerhalb dieser verschiedene Stufungen (plene – non plene); gemäß dieser Auffassung tangieren auch Sanktionen die Zugehörigkeit zur communio plena grundsätzlich nicht; vgl. dazu auch Gerhard Ludwig Müller: Kirchenzugehörigkeit und Kirchenaustritt aus dogmatischer Perspektive, 85 ff., der diesem Ansatz folgend zwischen einer „communio plena plene“ und einer „communio plena non plene“ unterscheidet. 304 Vgl. Georg Gänswein: Kirchengliedschaft – Vom Zweiten Vatikanischen Konzil zum Codex iuris canonici, 27; vgl. dazu auch die Darstellung bei Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 276 f., hier insb. Fn. 744. 305 Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 333; vgl. ebd., Fn. 991–994 die entsprechenden Literaturnachweise. 306 Vgl. dazu Hubert Müller: Zugehörigkeit zur Kirche als Problem der Neukodifikation, 95. 307 Vgl. die Übersicht der kritischen Stimmen zu diesem Ansatz bei Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 326 Fn. 961. Petrat sieht in dieser Wortschöpfung einen Nachweis der „theologischen Ungeklärtheiten“ in dieser Frage, welche „in die Terminologie weiter hineingetragen“ werden und damit das Problem „verschärfen“ – ebd., 344.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
durchtrennen können soll308? Auf der anderen Seite kann auch der Aufgabe des Prinzips semel catholicus semper catholicus nicht zugestimmt werden, da in der katholischen Kirche die eine Kirche Jesu Christi subsistiert. Eine Aufweichung dieses Prinzips hätte – wie das Sekretariat der Reformkommission zu Recht hingewiesen hat309 – eine „Kirche der freien Gefolgschaft“ Klein’scher Prägung zur Folge, welche jedoch nur unter Einhaltung der Modifikationen, wie sie von Peter Krämer vorgelegt wurden310, verwirklicht werden kann. Dass die Aufgabe des Prinzips semel catholicus semper catho licus zu keinem sinnvollen Ergebnis führt, zeigen auch die Argumente311, dass einerseits durch die freie Annahme des katholischen Glaubens ja die sittliche Verpflichtung übernommen wurde, die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren312 und andererseits eine Rechtsgemeinschaft sich selbst aufgeben würde, wenn sie die Rechtsgeltung ihrer Normen unter einen generellen Vorbehalt des subjektiven Gewissens ihrer Rechtsadressaten stellt313. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine nicht nur begrifflich, sondern ontologisch vollzogene Differenzierung314 zwischen sakramentaler und korporativer Kirchengliedschaft notwendigerweise eine Aufspaltung zwischen Christus und der Kirche zur Voraussetzung hat. Demgegenüber betont Carl Gerold Fürst mit Recht, dass es „keine direkte Zugehörigkeit zu ‚der‘ Kir308 Vgl. dazu die Darstellung bei Bertram Zotz: Katholisch getauft – katholisch geworden, 42, mit den dort angegebenen Nachweisen; vgl. dazu ebenso Francesco Coccopalmerio: Die kirchliche communio, wenngleich ihm in seinem Schluss, dass der Apostat, Häretiker oder Schismatiker nicht mehr als katholisch bezeichnet werden könne (vgl. ebd., 116), hier nicht gefolgt wird; vgl. auch das Kapitel 4. C. I. „Libero Gerosas These von der deklarativen Funktion der Exkommunikation“ in dieser Arbeit. 309 Vgl. Communicationes 14 (1982), 133. 310 Vgl. Peter Krämer: Kirche der freien Gefolgschaft, 8; vgl. dazu hingegen die Auffassungen von Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio; Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, hier insb. 377–379. 311 Vgl. dazu den Überblick bei Hubert Socha: MKCIC 11/8 f., Rdnr. 16 (Stand Februar 2012). 312 Vgl. Communicationes 17 (1985), 32. 313 Vgl. Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 320, mit Verweis auf Communicationes 16 (1984), 146. 314 Für Nils Petrat liegt der Angelpunkt bei der Bewertung der korporativen Gliedschaftsebene in der Auslegung des subsistit in (LG 8) – damit „steht und fällt die Ebene der hier sogenannten korporativen Zugehörigkeit“. Denn nur wenn die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften als „legitime, organisatorisch eigenständige Institutionen anerkannt würden“, wäre es möglich, von einer korporativen Kirchengliedschaft zu sprechen, so die Auffassung Petrats. Die Alternative wäre seiner Ansicht nach nur, dass sonst jede Eingliederung in die Kirche Jesu Christi zugleich eine Eingliederung in die katholische Kirche bedeutet – Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, 345 f.
C. Das Gewissen im CIC/1983159
che“ gebe, „sondern nur eine indirekte Zugehörigkeit über die direkte Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche oder Kirchlichen Gemeinschaft. Mit anderen Worten: Kirchenrechtlich-organisatorisch genügt es nicht, ‚Glied der Kirche Christi durch Taufe‘ zu sein, sondern diese Kirche Christi ist kirchenrechtlich-organisatorisch eben nur durch die Konkretisierung in einer der katholischen Kirchen eigenen Rechts … bzw., nach katholischer Auffassung mehr oder weniger defektiv, in einer anderen Kirche oder Kirchlichen Gemeinschaft erfaßbar.“315 Christen werden sakramental durch das unauslöschliche Prägemal der Taufe irreversibel in die Kirche Jesu Christi eingegliedert; die Befugnis zur vollen Ausübung der Pflichten und Rechte in der Kirche setzt jedoch „(positiv) das Vorhandensein der kirchlichen Gemeinschaft voraus (quatenus in ecclesiastica communione) und kann (negativ) durch eine rechtmäßig verhängte oder eingetretene Sanktion (sanctio legitima lata) beschränkt sein (c. 96)“316. Dies ist Folge der dynamischen Dimension der Kirchengliedschaft, welche beschreibt, ob jemand „in der vollen Kirchengemeinschaft (plena communio) steht“317 oder nicht. Zumindest seit dem CIC/1983 sind Nichtkatholiken von der Verpflichtung durch rein kirchliche Gesetze ausgenommen (vgl. c. 11 CIC/1983318), während Katholiken grundsätzlich an diese gebunden bleiben, obwohl sie in der Ausübung ihrer Rechte und Pflichten behindert sein können. Sanktionen des kanonischen Rechts, „die sich als Entzug von Rechten oder als Beschränkung der Handlungsfähigkeit auswirken, können [demnach] nur Katholiken treffen“319.
315 Carl Gerold Fürst: Taufe, Kirchengliedschaft und „Status“ der Gläubigen in kanonistischer Sicht, 573; vgl. dazu auch Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 273, mit Verweis auf UR 3,1 und das DirOec/1993 Nr. 97. 316 Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 275. 317 Ebd., 272. 318 Vgl. dazu den Überblick zur Textgeschichte dieses Canons bei Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 383 ff. Nichtkatholiken sind aber nicht nur von der Verpflichtung durch rein kirchliche Gesetze ausgenommen, sondern auch in der Ausübung der Rechte in der katholischen Kirche eingeschränkt (vgl. cc. 96, 204, 205, 844 §§ 3 u. 4, 1117, 1124–1129, 1183 § 3 CIC/1983) – vgl. hingegen c. 87 CIC/1917, der nur die Rechte, nicht aber die Pflichten beschränkte. 319 Helmuth Pree: MKCIC 96/10, Rdnr. 8 (Stand November 1995). Eine Sanktion setzt nach herrschender Lehre die schuldhafte Zurechnung des Delikts voraus. Althaus macht aber darauf aufmerksam, dass sich ein Katholik von seiner Kirche bzw. von seinem Glauben lossagen könne, „ohne sich (ausnahmsweise) eine Kirchenstrafe zuzuziehen“; auch bei diesem resultiere aus dem Faktum der communio non plena eine „umfassende Rechtsminderung, der aber kein Strafcharakter zukommt, weil der Betreffende die fehlende Einheit nicht verschuldet“ – Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 276.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
b) Konsequenzen für die Verortung der innerkirchlichen Freiheit des Glaubens und des Gewissens Aus dem eben Dargestellten ergeben sich im Wesentlichen zwei wichtige Folgerungen für die Verortung einer innerkirchlichen Freiheit des Glaubens und des Gewissens: Einerseits wurde deutlich, dass „der in c. 11 CIC enthaltene grundsätzliche Anspruch nicht aufgegeben werden“ könne, „weil jemand Glied der Kirche nicht nur durch eine bloße Beitrittserklärung oder durch einen Aufnahmeakt wird, sondern durch das sakramentale Taufgeschehen“320. Im Hinblick auf c. 748 § 2 CIC/1983 bedeutet das, dass die einmal sakramental begründete Gliedschaft in der Kirche Jesu Christi (vgl. c. 96 CIC/1983321), die verwirklicht ist (subsistit in322 – vgl. LG 8 bzw. c. 204 § 2 CIC/1983) in der katholischen Kirche, nicht verlierbar, widerrufbar oder abstreifbar ist. Durch das II. Vatikanum werden die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften als „legitime, organisatorisch eigenständige Institutionen“ anerkannt, jedoch „bleibt die katholische Kirche weiter jene Institution, in der die Kirche Jesu Christi institutionell im Vollsinn verwirklicht ist“323. Daher hat auch der Grundsatz semel catholicus semper catholicus Geltung, wodurch der Entscheidung zur Annahme des katholischen Glaubens noch einmal besonderes Gewicht verliehen wird. Andererseits muss sich der Grundsatz der unwiderruflichen Kirchengliedschaft in weiterer Folge auf die innerkirchliche Verwirklichung der individuellen Freiheit des Glaubens und des Gewissens auswirken, da der Betroffene von nun an als Christ bzw. als Katholik handelt324. Einer „Kirche der freien Gefolgschaft“ Klein’scher Prägung muss hingegen nicht nur aus dem praktischen Grund, dass sich eine Rechtsordnung de facto selbst aufgeben würde, wenn sie unter dem generellen Vorbehalt des individuellen Gewissens ihrer Rechtsadressaten stünde, eine Absage erteilt werden, sondern vor allem aufgrund jener theologischen Gründe, die gegen 320 Peter
Krämer: Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen, 48 f. dazu Aymans/Mörsdorf: KanR II, 54–57: Sachgemäßer wäre nach Aymans eine Einordnung von c. 96 CIC/1983 am Beginn des kirchlichen Verfassungsrechts gewesen; vgl. auch die kritische Auseinandersetzung zu c. 96 CIC/1983 bei Ulrich Rhode: 100 Jahre persona in Ecclesia Christi. 322 Zur Subsistenz der Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche vgl. die Übersicht bei Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 271 ff., hier insb. Fn. 16. 323 Bertram Zotz: Katholisch getauft – katholisch geworden, 46. 324 Aymans macht auf diese Unterscheidung indirekt aufmerksam, wenn er feststellt, dass die „Pflicht des Gläubigen, auch durch sein Verhalten stets die ‚communio‘ zu wahren“ darauf hinweise, „daß die Religionsfreiheit (‚libertas in remanendo‘) im Sinne christlicher Existenz nicht ein oberstes Ziel darstellt“ – vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR II, 94. 321 Vgl.
C. Das Gewissen im CIC/1983161
ein solches Kirchenmodell sprechen – sie wurden bereits im Abschnitt über die Auseinandersetzung zwischen Klein und Barion genannt325. Dies hat zur Folge, dass der Katholik – und nur dieser – den kirchlichen Sanktionsnormen unterworfen ist; er kann sich dem „Katholisch-Sein“ und damit dem Geltungsanspruch kirchlicher Normen nicht mit der Berufung auf sein Gewissen entziehen. Die Kirchengliedschaft kann jedenfalls nicht allein an inneren Werten der Verbundenheit bzw. einer inneren Überzeugung festgemacht werden, sondern muss notwendigerweise äußerlich feststellbare und formale Kriterien enthalten326. Differenzierter ist hingegen der Umstand zu bewerten, dass die Kirche offenbar die Möglichkeit besitzt, den Geltungsbereich kirchlicher Normen für ihre Rechtsadressaten von sich aus zu beschränken, wie dies die inzwischen wieder gestrichenen Defektionsklauseln gezeigt haben. Das heißt im Kontext der hier zu untersuchenden Forschungsfrage, dass die Kirche wohl die prinzipielle Möglichkeit besäße, bspw. jene von der Sanktionsgewalt der Kirche auszunehmen, die ihr aufgrund ihres Gewissensurteils nicht mehr angehören wollen oder in ihr niemals Fuß fassen konnten327. Ob eine solche Beschränkung des Geltungsbereichs des rein kirchlichen Rechts theologisch sinnvoll und angemessen wäre, ist jedoch eine andere Frage. Das kirchliche Sanktionsrecht wäre dann, insbesondere im Bereich der Glaubensdelikte, kaum mehr von Bedeutung; die Kirche würde sich selbst in jenen Möglichkeiten beschränken, wie sie „verirrten Schafen“ (vgl. Lk 15,1–10) nachgehen kann, was jedoch Teil ihres Sendungsauftrages ist. Die unverbrüchliche Heilzusage Gottes wird vermittelt und verwirklicht durch die Kirche. Gottes Heilszusage behält auch dann ihre Gültigkeit, wenn der Adressat des Heils sich von ihr abwendet – Gott bleibt treu, selbst wenn wir untreu werden (vgl. 2 Tim 2,13). So kann auch die Kirche Jesu Christi, die in der katholischen Kirche subsistiert, nicht anders, als treu zu dieser Zusage zu stehen. Freilich muss dabei sichergestellt werden, dass das Angebot des Heils in Freiheit und nicht durch Zwang angenommen wird, womit die Frage nach der „Rechtsqualität der Exkommunikation bei Glaubensdelikten“ einhergeht328. 325 Vgl. das Kapitel 2. B. III. „Der Ertrag aus der Auseinandersetzung zwischen Joseph Klein und Hans Barion für eine Rechtsfigur des Gewissenstäters“ in dieser Arbeit. 326 Vgl. LG 8; Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici I, 14; Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 149. 327 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt: Ökumenische Perspektiven der katholischen Kirchenverfassung, 108: Reinhardt spricht von der „logischen Konsequenz“ einer „Entlassung des Betreffenden aus der Jurisdiktion der katholischen Kirche“. 328 Heinrich J. F. Reinhardt: Ökumenische Perspektiven der katholischen Kirchenverfassung, 107, mit Hinweis (ebd., 108) auf Libero Gerosa: Ist die Exkommunika-
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Die Situation derjenigen, die aufgrund verschiedener Umstände realistischerweise niemals die Möglichkeit hatten in die communio plena hineinzuwachsen, ist vor diesem Hintergrund sicherlich unbefriedigend. Die Möglichkeit eines Taufaufschubs mangels begründeter Hoffnung, „dass das Kind in der katholischen Religion erzogen wird“ (vgl. c. 868 § 1 °2 CIC/1983), könnte hier aber etwas abmildernd wirken, wenngleich der dazugehörige § 2, welcher die Taufe in Todesgefahr des Kindes auch gegen den Willen der Eltern erlaubt, in diesem Kontext (vgl. dazu auch LG 16) sicherlich zu überdenken wäre, um es vorsichtig zu formulieren. Im Ergebnis heißt das, dass es aus sachlichen und rechtssystematischen Gründen naheliegend ist, die äußeren und inneren Aspekte der religiösen Freiheit in unterschiedlichen Normen zu behandeln, da die initiale Annahme des katholischen Glaubens, welche zur unwiderruflichen Eingliederung in die Kirche und damit zur Aktivierung der inneren Dimension dieses Freiheitsrechts führt, von besonderer Tragweite ist. Der bestehende c. 748 § 2 CIC/1983 ist in diesem Sinne als Normierung der äußeren Religionsfreiheit anzusehen; eine explizite Regelung der innerkirchlichen Glaubens- und Gewissensfreiheit steht als Desiderat für die kirchliche Rechtsordnung nach wie vor aus. Wenn aber die Freiheit des Glaubens und des Gewissens als echtes Menschenrecht bzw. als ius divinum naturale der „Unverfügbarkeit der kirchlichen Rechtsordnung vorausliegt“329, dann gilt diese Freiheit dennoch unabhängig von jeder Positivierung durch eine kirchliche Norm unmittelbar und direkt. Bei der Verwirklichung der innerkirchlichen Gewissensfreiheit ist jedoch insbesondere die ekklesiale Prägung dieses Freiheitsrechts zu beachten.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit I. Die Wiederentdeckung der Gewissensfreiheit in der Kirche Tertullian stützte sich im 3. Jahrhundert nach Christus sicherlich noch nicht auf die moderne Idee der Menschenrechte, als er in der Bedrängnis durch die Christenverfolgung den Kerngehalt dessen ansprach, was wir heute tion eine Strafe; vgl. dazu das Kapitel 4. „Das kirchliche Sanktionsrecht im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ in dieser Arbeit. 329 Vgl. Peter Krämer: Kirchenrecht I, 38; vgl. Eugenio Corecco: Der Katalog der Pflichten und Rechte der Gläubigen im CIC, 204 f.; vgl. dazu die Ausführungen zum ius divinum „als vorgegebene Norm des Kirchenrechts“, das keiner Kanonisierung bedarf, um anwendbares Recht zu sein – Hans Heimerl: Grundordnung und Normengefüge im Katholischen Kirchenrecht, 197–210; Hans Heimerl: Menschenrechte, Christenrechte und ihr Schutz in der Kirche, 31; Joseph Leclerc: Die Religionsfreiheit im Lauf der Geschichte, 567.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit163
als kirchliches Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit fassen müssen. Er schrieb in einem Brief an den afrikanischen Prokonsul Scapula Folgendes: „Es ist ein Menschenrecht und ein Naturrecht (humani iuris et naturalis potestatis est), daß jeder anbeten kann, was er will. Die Religion des einen kann dem anderen weder nützen noch schaden. Es liegt nicht im Wesen der Religion, die Religion zu erzwingen; nicht durch Gewalt, sondern freiwillig muß sie angenommen werden … Wenn ihr uns also zum Opfer zwingt, gebt ihr euren Göttern wahrlich nichts; sie wollen keine widerwillig dargebrachten Opfer.“330 Von dieser Erkenntnis Tertullians über die notwendige „Überzeugungsstruktur des Glaubens“ blieb jedoch immer weniger übrig, je mehr das Christentum selbst zur „bestimmenden Religion geworden war und nun vor allem in seinem Binnenbereich mit Abweichungen und Gruppierungen konfrontiert wurde“331. So findet sich bspw. bei Thomas von Aquin, der die Bedeutung des Gewissens wie kaum ein anderer Theologe seiner Epoche hervorgehoben und ausgearbeitet hat, die Freiheit des Überzeugungsmomentes hinsichtlich des Glaubens nur mehr „punktualisiert auf den Vorgang des Gläubigwerdens“, nicht allerdings für die diejenigen, die diesen Glauben bereits angenommen haben332. Wenn schließlich im Dekret über die Religionsfreiheit (DH 8), das Papst Paul VI. „als eines der wichtigsten Dokumente des ganzen II. Vatikanischen Konzils“333 bezeichnete, zum Ausdruck gebracht wird, dass Christen „genui nae libertatis amatores“ – Liebhaber der wahren Freiheit – sein sollen334, dann liegt diesem Aufruf ein langer und leidvoller Weg der Selbsterkenntnis und eine Wiederentdeckung der eigenen Identität zugrunde335. 330 Tertullianus: Liber ad Scapulam II, 2 (CSEL 76); deutsche Übersetzung aus Hans R: Guggisberg: Religiöse Toleranz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung (Stuttgart u. a. 1984), 18; vgl. dazu auch Joseph Leclerc: Die Religionsfreiheit im Lauf der Geschichte, 568; Andreas Fleckl: Religionsfreiheit, 483. 331 Konrad Hilpert: Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität, 124; vgl. dazu auch Ewald Tekülve: Von der Religionsfreiheit zum Kirchenzwang. 332 Ebd., mit Verweis aus Thomas von Aquin: STh II-II q. 10 a. 8: „Accipere fidem voluntatis, sed tenere eam iam acceptam est necessitas“ – Den Glauben anzunehmen ist Sache der Freiheit, den bereits angenommenen Glauben festzuhalten, ist Notwendigkeit. 333 Paul VI.: Schlussansprache in der Audienz vom 7. Dezember 1965 an die von den verschiedenen Ländern und internationalen Organisationen entsandten außerordentlichen Delegationen, 71–75; vgl. die Literaturübersicht zu DH bei Peter Krämer: Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen, 35 Fn. 1; vgl. auch Jo hannes Paul II.: Den Frieden auf solide Grundlagen aufbauen Nr. 5, 10; Walter Kas per: Die theologische Begründung der Menschenrechte, 19. 334 Andreas Laun: Das Gewissen. Oberste Norm sittlichen Handelns, 8. 335 Vgl. Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 124–126.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Heute besteht wohl kaum mehr ein Zweifel darüber, dass die Freiheit des Glaubens und des Gewissens nicht nur als echtes Menschenrecht, sondern möglicherweise als das Menschenrecht schlechthin zu qualifizieren ist336. So gewiss also seine Existenz erscheint, so verschieden und ungewiss sind die Auffassungen darüber, welcher Stellenwert diesem innerhalb der verschiedenen Rechtssysteme einzuräumen ist – dies gilt insbesondere für die kirchliche Rechtsordnung337. Es könnte und müsste ja angenommen werden, dass gerade eine Rechtsordnung, welche existentiell auf die Freiheit des Glaubensvollzugs angewiesen ist, diesem Menschenrecht am ehesten zum Durchbruch verhelfen würde. Doch paradoxerweise hat „gerade dieses zentrale klassische Menschenrecht … am meisten Mühe, sich in der politischen Doktrin der katholischen Kirche durchzusetzen“338. Seit dem Aufkommen der allgemeinen Grundrechtsdoktrin hat das kirchliche Lehramt insbesondere die Gewissensfreiheit eher als „Störquelle“ eingestuft, denn als Fundament ihrer eigenen Existenz339. Die Gründe dafür sind sicherlich in der konkreten Entwicklung und im historischen Kontext dieses Grundrechts zu finden340, wohl aber 336 Vgl. Johannes Paul II.: Religionsfreiheit, Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben, 211; Johannes Paul II.: Wenn du den Frieden willst, 277 f., 283; Ger hard Luf: Der Begriff der Freiheit, 129: „Denn gerade die Anerkennung der Freiheit des Gewissens bildet … doch einen der Kernpunkte jeglichen Menschenrechtsdenkens“; vgl. auch Nikolai Horn: Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 73–92. 337 Vgl. dazu Josef Joblin: Die Kirche und die Menschenrechte, 38: „In den kommenden Jahrzehnten wird vermutlich das Verhältnis zwischen öffentlicher Gewalt und Gewissensfreiheit zu den delikatesten Bereichen der Förderung der Menschenrechte gehören.“ 338 Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 40 f. 339 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 57; Eberhard Schocken hoff: Art. „Gewissensfreiheit“, 628; vgl. dazu auch Jozef Punt: Die Idee der Menschenrechte, insb. 177; Josef Isensee: Die katholische Kritik an den Menschenrechten; in Bezug auf die Menschenrechte als solche – vgl. Päpstliche Kommission Iustitia et Pax: Die Kirche und die Menschenrechte. Ein Arbeitspapier 8 Nr. 17 f.: Es habe in der Geschichte Zeiten gegeben, „in denen die geschichtliche Entwicklung zur Anerkennung der Menschenrechte von bürgerlichen und kirchlichen Stellen durch Argumente und institutionelle Strukturen verdeckt wurde, die diesen Fortschritt hemmten“. 340 Vgl. Michael Kneib: Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 79 ff., 204 ff.; vgl. dazu ebenso Lorenz Jaeger: Rede am 16. September 1965 im Namen der Deutschen Bischofskonferenz in der 129. Generalkongregation, 295: „In der mittelalterlichen res publica christiana, die Kirche und Staat in einer einzigen Körperschaft umfaßte, konnte man sich die Religionsfreiheit im heutigen Sinn kaum vorstellen, weil diese Freiheit eine freie Gesellschaft voraussetzt, die von der mittelalter lichen Gesellschaftsstruktur verschieden ist. Darum konnte auch der Begriff Gewissensfreiheit, den die scholastischen Theologen richtig entwickelt hatten, nur schwer oder gar nicht die Anerkennung der Gesellschaft finden. Wenn die Kirche im vergangenen Jahrhundert die Religionsfreiheit nicht anerkannte, so verwarfen ihre lehramtlichen Erklärungen eine indifferentistische und extrem-individualistische Freiheit,
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit165
auch in der Unsicherheit darüber, wie das Verhältnis von Wahrheitsanspruch und Gewissensfreiheit in angemessener Weise bestimmt werden kann341.
II. Die Konfrontation der Kirche mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit Aufgrund der sehr detailreichen und komplexen Genese der Glaubens- und Gewissensfreiheit kann hier sicherlich kein umfassender Überblick darüber erwartet werden342. Die Darstellung beschränkt sich daher auf eine schlaglichtartige Schilderung der Herausbildung dieses Freiheitsrechts in der Neuzeit, welche veranschaulichen soll, warum sich die Kirche bis heute schwer tut, wenn sie mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit konfrontiert wird. Der Vergleich zwischen Kirche und Staat bringt hinsichtlich der Gewissensfreiheit eine „zeitliche Ungleichheit zwischen kirchlichem Lehramt und staatlicher Gesetzgebung“343 zum Vorschein. Im Kontext des weltlichen Rechts findet im Jahr 1648 im Zuge des Westfälischen Friedens das Wort „Gewissensfreiheit“ ein erstes Mal Erwähnung in einem deutschen Rechtstext. „Aber erst etwa 200 Jahre später, im Jahr 1832 – beschäftigt sich Gregor XVI. in seiner Enzyklika ‚Mirari vos‘ mit der Gewissensfreiheit“, dort aber nicht im Sinne eines innerkirchlichen Freiheitsrechts, sondern in Anspielung auf seine „bürgerliche“344 Verwirklichung. In dieser Enzyklika bezeichnet der Papst mit der Begründung, dass dem Irrtum kein Raum gegeben werden dürfe, die Forderung der Gewissensfreiheit als „Wahnsinn“: „Aus dieser modrigen Quelle der Gleichgültigkeit, die den Glauben betrifft, fließt jene törichte und falsche Ansicht, die man besser als Wahnsinn bezeichnet, für jeden die Gewissensfreiheit zu fordern und zu verteidigen. Der Wegbereiter für diesen überaus verderblichen Irrtum ist diese vollkommen übermäßige Meinungsfreiheit, die auf weiten Gebieten zum Verderben der Kirche und des Staates verbreitet ist. Einige behaupten hierbei mit großer Unverschämtheit, daß sich daraus Vorteile für die Religion ergeben. Der heilige Augustinus sagt dagegen, was ist tödlicher für die Seele, als die Freiheit des Irrtums! Wenn jeder Zaum entfernt wird, durch welchen die Menschen auf den Pfaden welche sowohl offenbarte Wahrheit wie auch alle objektiven Normen für die Gewissensbildung leugnete.“ 341 Vgl. Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 51 f., 56–60. 342 Vgl. dazu den Überblick bei Karl Weinzierl: Die individuelle Religionsfreiheit; zur Entstehung, Entwicklung und Herausbildung der Gewissensfreiheit im staatlichen Kontext; Reinhold Zippelius: Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext staatlicher Ordnung; Erhard Mock: Gewissen und Gewissensfreiheit. 343 Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 84. 344 Vgl. ebd; vgl. dazu auch Norbert Greinacher: Die Verantwortung der Kirche für die Verwirklichung der Menschenrechte, 16.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
der Wahrheit geführt werden, und dadurch ihre zum Bösen geneigte Natur in die Tiefe stürzt, sehen wir den geöffneten Abgrund der Hölle, aus dem der Apostel Johannes den Rauch aufsteigen sah, der die Sonne verdunkelte und aus dem Heuschrecken hervorgingen, die sich über die gesamte Erde ver breiteten, um sie zu verwüsten“345. Gregors Nachfolger auf dem Stuhl Petri, Pius IX., wird diese Grunddiktion im berühmten Syllabus aufgreifen und damit die kirchliche Lehrmeinung bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts prägen346. Für eine angemessene Einordnung der kirchlichen Position jener Zeit muss mitbedacht werden, dass damit „nicht jede Art von Gewissensund Religionsfreiheit“ verurteilt werden sollte, „sondern nur jene liberalistische Gewissensauffassung, die einem grundsätzlichen Indifferentismus gegenüber der Wahrheit entspringt“347 und welche kirchlicherseits als Bedrohung für die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des kirchlichen Lehramtes und der staatlichen Doktrin gesehen wurde348. Diese Distinktion, die sich insbesondere auch in der Gewissenslehre John Henry Kardinal Newmans widerspiegelt und bei ihm zu einer positiven Bewertung der Freiheit des Gewissens führt349, konnte sich innerkirchlich allerdings erst im Zuge des II. Vatikanischen Konzils mehrheitlich durchsetzen. Über lange Zeit wurden zudem die Religionsfreiheit und die Gewissensfreiheit nur als unterschiedliche Nuancen ein- und desselben Rechts interpretiert350. „Es konnte festgestellt werden, dass in der Zeit vom Augsburger 345 Vgl. Papst Gregor XVI.: Enzyklika „Mirari vos“, 341, deutsche Übersetzung zitiert nach: Arthur Fridolin Utz/Brigitta von Galen (Hrsg.): Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, 148. 346 Vgl. dazu Roger Aubert: Die Religionsfreiheit von „Mirari vos“ bis zum „Syllabus“, 588, der darlegt, dass der Syllabus im Vergleich zu „Quanta cura“ deshalb viel mehr Aufmerksamkeit bekam, weil dort dieselben Lehren in knapper und prägnanter Form zusammengefasst wurden – vgl. dazu auch Andreas Fleckl: Religionsfreiheit, 504 f. 347 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 58; vgl. auch Eberhard Schockenhoff: Art. „Gewissensfreiheit“, 628 f. 348 Aber nicht nur das kirchliche Lehramt ist von dieser Einschätzung betroffen: vgl. Dieter Witschen: Gewissensentscheidung, 91: „Es ist keineswegs nur für einige Päpste des 19. Jahrhunderts charakteristisch, innerhalb des staatlichen Bereichs die Gewissensfreiheit als ein anarchisches Element zu verstehen. Bis in die Gegenwart hinein wird bei einem Teil der Juristen dieses Recht in Verbindung gebracht mit der Gefahr der Anarchie. In deren Augen wird durch einen extensiven Gebrauch die Rechts- und Staatsordnung wenigstens bedroht.“ 349 Vgl. Hermann Geißler: Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman; Roman Siebenrock: Wahrheit, Gewissen und Geschichte; John Henry Newman: Kirche und Gewissen; Franz Wiedmann: Die Strategie des Gentleman. 350 Vgl. dazu hingegen die Position von Arthur Fridolin Utz, dargestellt in: Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler: Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit, 115–130.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit167
Religionsfrieden bis zur WRV [Weimarer Reichsverfassung] die Gewissensfreiheit ein terminus technicus für ein Teilrecht der Religionsfreiheit war. Dieser Befund lässt sich mit der Begriffsgeschichte des Wortes ‚Gewissen‘ nur schwer in Einklang bringen. Denn die Exklusivität auf den religiösen Bereich ist kein wesentlicher Bestandteil der theologischen und philosophischen Reflexion auf das Gewissen.“351 Solange aber diese unterschiedlichen Aspekte menschlicher Freiheit als Einheit betrachtet wurden, war es für die katholische Kirche aufgrund ihres ekklesiologischen Selbstverständnisses gleichsam unmöglich, ein Grundrecht auf Gewissensfreiheit anzuerkennen, da mit der Anerkennung der Religionsfreiheit gleichzeitig die Infragestellung des Wahrheitsanspruchs verknüpft wurde352. Mit der Enzyklika „Libertas praestantissimum“ von Leo XIII.353 vollzog das kirchliche Lehramt zumindest eine Weitung bei der Interpretation der Gewissensfreiheit im Hinblick auf den bürgerlichen Rechtsbereich; die Beschränkung auf den rein religiösen Bereich wurde aufgegeben und die Anwendung des Freiheitsrechts auf das sittliche Leben der Bürger eingefordert, jedoch unter der Bedingung einer stetigen Rückbindung des Gewissensbegriffs an das Lehramt der Kirche354. Die Öffnung der Gewissensfreiheit auf den allgemeinen sittlichen Bereich der Bürger leitete insofern einen Wendepunkt ein, als nun die Würde der Person als Anknüpfungspunkt und Fundament dieses Freiheitsrechts hervorgehoben und zugleich innerhalb der Theologie eine Differenzierung zwischen Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit ermöglicht wurde355. 351 Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 82; ebd., 83: Patenge stellt dar, dass vor allem durch Luther und die anschließende Reformation der Gewissensbegriff auf den religiösen Bereich verengt wurde. Seither tue sich vor allem die deutsche Grundrechtslehre schwer, diese Verbindung wieder zu lösen. 352 Dieses Missverständnis war selbst noch bei einigen Vätern des II. Vatikanischen Konzils zu finden: vgl. Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 170 f.; Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 708 Sp. 2; vgl. Peter Krämer: Kirche der freien Gefolgschaft, 7; Gerhard Luf: Neuzeitliche Freiheitsgeschichte und Kirchenrecht, 568; Ger hard Luf: Menschenrechte aus katholischer Sicht, 67; Josef Isensee: Gewissen im Recht, 43 f.; Josef Isensee: Keine Freiheit für den Irrtum, 296. 353 Vgl. Leo XIII.: Enzyklika „Libertas praestantissimum“ vom 20. Juni 1888, in: ASS 20 (1887), 593–613. 354 Papst Leo XIII. unterschied zwischen einem negativen Verständnis der Gewissensfreiheit, insofern sie losgelöst vom Wahrheitsbegriff verstanden wird, und einer grundsätzlich positiven Möglichkeit, stets aus dem Gewissen heraus Gottes Willen zu tun – vgl. dazu Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 28–35. 355 Vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 30 ff.; ebd., 35: „Die Freiheit des Gewissens, nach den Weisungen Gottes zu leben, ist ein absolutes Recht des Menschen. Die Gewissensfreiheit bleibt bei Leo XIII. allerdings in einer gewissen Spannung verhaftet: Gegründet auf die Menschenwürde, gilt sie universal für je-
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
In der deutschsprachigen rechtswissenschaftlichen und politischen Doktrin wurde die Gewissensfreiheit im Grunde bis zum Ende der NS-Zeit als eine Form der Religionsfreiheit gedeutet, wobei schon vorher Tendenzen einer Trennung ausgemacht werden können356. Die Wirren und die schrecklichen Gräuel der NS-Zeit rückten das Gewissen als selbständige moralische Instanz wieder in den Fokus der Rechtswissenschaft: „Den Wendepunkt der Gewissensfreiheit in Deutschland markiert schließlich das Grundgesetz von 1949. Das dort garantierte Recht auf Gewissensfreiheit wird von der Grundrechtsexegese als losgelöst von der Religionsfreiheit verstanden und schützt die sittliche Entscheidungshoheit des Bürgers durch sein Gewissen.“357 Bei der Aussöhnung der katholischen Kirche „mit der staatlichen, gesellschaftlichen und politischen Lehre von den Menschenrechten“358 in der Mitte der 1960er Jahre spielt nicht nur die Enzyklika „Pacem in terris“ (1963) von Papst Johannes XXIII. eine herausragende Rolle359, sondern insbesondere auch das II. Vatikanische Konzil, das in der Art und Weise, wie die katholische Kirche die Freiheit des Menschen und seine Würde betrachtet und in welcher Weise sie sich dazu äußert, sicherlich eine „Wendemarke“ darstellt. Denn mit dem II. Vatikanum wird der „Ansatz, in dem das Verhältnis von Kirche und Staat grundgelegt ist, … nicht von der institutionellen Zuordnung zweier souveräner Subjekte, sondern von den Menschenrechten her gewonnen“360. Diese Veränderung wird insbesondere in der Erklärung über die Religionsfreiheit den Menschen. In Anspruch darf sie aber nur genommen werden, wenn das Gewissen den Geboten Gottes – ausgelegt durch das Lehramt der Kirche – folgt“; vgl. auch Dieter Witschen: Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 479. 356 Vgl. Erhard Mock: Gewissen und Gewissensfreiheit, 127–149. 357 Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 84; einige Juristen sehen die Gewissensfreiheit seit ihrer Herauslösung aus der Glaubens- und Religionsfreiheit als eine „Rechtsnorm auf der Suche nach ihrem Tatbestand“ an – vgl. Gerd U. Freihal ter: Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, 35; Niklas Luhmann: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, 257; Ulrich K. Preuß: Kommentar zu Art. 4 Abs. 1, 2 GG, 372 Rdnr. 35; Stephan Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 242. 358 Bernard Quelquejeu: Aussöhnung mit den Menschenrechten, 78; vgl. zu diesem Thema die umfangreiche Literaturangabe bei Stephan Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 239 Fn. 12. 359 Vgl. Johannes XXIII.: Enzyklika „Pacem in terris“, in: AAS 55 (1963), 257– 304; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Multiplikation der Rechte und die Zerstörung des Rechtsbegriffs, 11 f.; Johannes Paul II.: Den Frieden auf solide Grundlagen aufbauen Nr. 6, 11; Josef Joblin: Die Kirche und die Menschenrechte, 36–38; Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 60 f. 360 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 92; vgl. dazu auch Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 41, der von einem „historischen Wendepunkt“ spricht; Stephan Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 240; Josef Joblin: Die Kirche und die Menschenrechte, 15.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit169
spürbar, die sich naturgemäß auf das kirchliche Verhältnis zur Freiheit des Glaubens bzw. des Gewissens auswirkt361. Dennoch tritt innerhalb der kirchlichen Grundrechtsdoktrin die Gewissensfreiheit nur sehr schleichend aus dem Schatten der allgemeinen Religionsfreiheit heraus362. In der Antrittsenzyklika „Redemptor hominis“ von Papst Johannes Paul II. wird die Gewissensfreiheit schließlich explizit erwähnt und zu den „objektiven und unverletzlichen Menschenrechten“363 gezählt; die damit eng verwandte Religionsfreiheit bezeichnete Papst Johannes Paul II. in einer Ansprache als „nicht bloß eines unter den anderen Menschenrechten“, sondern als „das grundlegendste“364. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus äußerten sich in jüngerer Vergangenheit ebenso immer wieder zum Menschenrecht auf Gewissensfreiheit365. Historisch betrachtet, kann es als „Tragik der katholischen Kirche und einer der wichtigsten Gründe für ihre gegenwärtige Glaubwürdigkeitskrise in der modernen Gesellschaft“ gewertet werden, „dass sie sich in der Wahrnehmung dieser Rolle [als Anwältin des Gewissens] lange Zeit selbst im Weg stand und ihrer langen theologischen Tradition über die Würde des Gewissens zum Trotz den Verdacht aufkommen ließ, sie stehe ihm mit großer Reserviertheit gegenüber“366. Bis heute kann in der Kirche „ein fundamentales 361 Vgl. dazu Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 74; Stephan Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 243 ff. 362 Vgl. Dieter Witschen: Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 477. 363 Johannes Paul II.: Enzyklika „Redemptor hominis“ Nr. 17, deutsche Übersetzung in: VApSt 6 (1979), 40 f.; vgl. auch Johannes Paul II.: Enzyklika „Veritatis splendor“ Nr. 31; vgl. dazu auch die Ausführungen von Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 68–72. 364 Johannes Paul II.: Wenn du den Frieden willst, 283, mit Verweis auf eine Ansprache an die Teilnehmer des 5. Internationalen Juridischen Kolloquiums der Päpstlichen Lateran-Universität, 10. März 1984 Nr. 5 (DAS 1984, 1057); vgl. auch Bene dikt XVI. (Joseph Ratzinger): Multiplikation der Rechte und die Zerstörung des Rechtsbegriffs, 14. 365 Vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Botschaft seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. zur Feier des Weltfriedenstages (1. Januar 2011), 46–58; Benedikt XVI. (Jo seph Ratzinger): Ansprache an die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Korps (10. Januar 2011), in: AAS 103 (2011), 100–107; Franziskus: Brief an einen Nichtglaubenden. Papst Franziskus antwortet dem Journalisten Eugenio Scalfari in der italienischen Tageszeitung »La Repubblica«, veröffentlicht in deutscher Sprache: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/letters/2013/documents/papa-fran cesco_20130911_eugenio-scalfari.html, abgerufen am 20. November 2018, 15.40 Uhr. 366 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 57; vgl. auch Gerhard Luf: Menschenrechte aus katholischer Sicht, 64, mit Verweis auf Walter Kasper, der es als „Tragik der neuzeitlichen Entwicklung“ bezeichnete, „dass wesentliche Impulse des Christentums gegen die etablierte Christenheit zur Geltung gebracht werden mussten“ – Walter Kasper: Autonomie und Theonomie, 24; Reinhold Sebott: Religionsfreiheit im Staat und Freiheit in der Kirche, 188: „Man kann kaum sagen, daß die Erklä-
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Missverständnis“ und eine tiefe Verunsicherung hinsichtlich der Freiheit des Gewissens festgestellt werden, da nicht selten befürchtet wird, „die Kirche müsste mit der Annahme der Dialogsituation, in der sie heute steht, zugleich auch das säkulare Verständnis von Freiheit und Gewissen übernehmen, auf dem der demokratische Rechtsstaat aufbaut“367. Dies ist aber keineswegs notwendig, wie Schockenhoff zu Recht feststellt – vielmehr müsste die Kirche im Grunde nur die eigenen Konzils- und Lehraussagen zum Gewissen ernst nehmen „und ihre eigene theologische Tradition in dieser Frage zu neuer Aktualität beleben“368.
III. Die Gewissensfreiheit im II. Vatikanischen Konzil 1. Wahrheitsanspruch der Kirche und subjektives Gewissensurteil Gegner der Religionsfreiheit und der Gewissensfreiheit argumentierten häufig damit, dass nur die „Wahrheit“, nicht jedoch der Irrtum, Rechte beanspruchen könne, weshalb es keine Wahlfreiheit gebe zwischen Wahrheit und Irrtum, ohne zugleich den Wahrheitsanspruch der einen Kirche Jesu Christi zu verleugnen. Einer solchen Argumentation liegt jedoch ein grundlegendes Missverständnis voraus: Die Freiheit in religiöser Hinsicht bezieht sich „nicht auf das Verhältnis der Person zur Wahrheit, sondern … auf die intersubjektiven Verhältnisse, sowohl physischer als auch moralischer Personen zueinander. Daher wird die traditionelle katholische Lehre über die Aufgaben der einzelnen Menschen und der Menschheit gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Jesu Christi aufrechterhalten“369, wie Pietro Pavan im Komrung des Konzils über die Religionsfreiheit ein moralischer, politischer oder intellektueller Meilenstein in der Geschichte der Menschheit ist. Das Prinzip der Religionsfreiheit ist ja schon längst in den Verfassungen der demokratischen Staaten verankert. In aller Ehrlichkeit muß gesagt werden, daß die katholische Kirche spät daran ist, wenn sie die Gültigkeit dieses Prinzips anerkennt.“ Nach Tine Stein befindet sich die Kirche „solange in einem performativen Selbstwiderspruch, wie sie nicht auch für die Organi sation ihrer eigenen irdisch-institutionellen Gestalt diesen Paradigmenwechsel vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person nachvollzieht“ – Tine Stein: Der universale Anspruch der Menschenrechte als Herausforderung an die Ekklesiologie, 159; ob sich daraus allerdings ableiten lässt, dass eine Beschränkung des Weiheamts auf Männer nicht gerechtfertigt werden kann, ist zweifelhaft – vgl. ebd., 160. 367 Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 61. 368 Ebd., 62; vgl. dazu Reinhold Sebott: Religionsfreiheit im Staat und Freiheit in der Kirche, 189 f., der vor einer vereinfachten Darstellung der „Vorher-Nachher“- Situation warnt. 369 Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 712 f.; vgl. auch ebd., 716, 741; Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 167–174.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit171
mentar zu DH hervorhebt. Diese Entwicklung vom „Recht der Wahrheit“ hin zu einem „Recht der Person“, welche sich auch in den Stellungnahmen des kirchlichen Lehramts widerspiegelt, kann sicherlich als Paradigmenwechsel bezeichnet werden370, der durch das II. Vatikanum bekräftigt wurde. Nach Goertz habe sich das II. Vatikanische Konzil „in der Frage der Religion entschieden, die Freiheitsrechte nicht mehr prinzipiell in einen abstrakten Wahrheitsbegriff einzupferchen, sondern sie auf der Basis der Würde der Person unbedingt anzuerkennen“371. Die Väter des Konzils haben „damit eine neue, an der Würde der Person orientierte Anthropologie entwickelt, die auch in den binnenkirchlichen Raum“372 hineinstrahlt. Der Mensch ist gehalten, „personal“, d. h. „von innen her bewegt und geführt, und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußeren Zwang“ zu handeln und vor allem zu glauben373 (vgl. GS 17). Wie daher der Glaubensakt ein Akt des Gewissens ist, so „ist der Glaubensakt seiner Natur nach ein freier Akt“374 (DH 10). Jedoch ändert eine innerkirchliche Beachtung dieser Freiheit „nichts an der sittlichen Verpflichtung des Menschen, die Wahrheit zu suchen und an der erkannten Wahrheit festzuhalten; doch ‚anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt‘ (DH 1,3). Und andererseits behält die Kirche durchaus das Recht, freilich auch die Pflicht, den Gehalt des Glaubens verbindlich und unverwechselbar auszusagen, also auch mögliche Abweichungen festzustellen und abzuwehren“375. Die Feststellung, dass der Kirche die Glaubens- und 370 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche Bd. I, 407 und Bd. II, 20; Ernst-Wolfgang Böckenförde: Einleitung zur Textausgabe der Erklärung über die Religionsfreiheit, 410; Josef Isensee: Keine Freiheit für den Irrtum, 336 – Isensee spricht gar von einer „Kopernikanischen Wende“; vgl. dazu auch Gerhard Luf: Menschenrechte aus katholischer Sicht, 67; Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 212; Adrian Loretan: „Menschenwürde“, 20; Reinhold Sebott: Religionsfreiheit im Staat und Freiheit in der Kirche, 188; Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 114. 371 Stephan Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 247 f.; vgl. auch Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 48–53. 372 Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 212. 373 Peter Krämer: Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen, 37; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 89: „Es gibt heute in der Dogmatik keinen Zweifel daran, daß ein Glaube, der nicht zugleich personaler, freier Akt und wachsende, konkrete Hineinführung in den Raum der Kirche ist, nicht christlich ist“; Marianne Heimbach-Steins/Konrad Hilpert: Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit, 175. 374 Eberhard Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam, 6 f.; Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 91: „Das Recht der Kirche steht im Dienst der commu nio, die eine Gemeinschaft von freien Individuen ist. Dies muss sich in der Rechtsordnung spiegeln.“ 375 Peter Krämer: Religionsfreiheit in der Kirche, 11.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Gewissensfreiheit zur Verwirklichung vorgegeben ist, kann daher nicht bedeuten, dass sie die kirchliche Lehre für ihre Mitglieder nicht verbindlich vorlegen dürfte. Andererseits ist aber auch jede Auffassung, „die die Hoheit des Gewissens abschwächen wollte, … unchristlich, ja würde die Kirche in Frage stellen. Keine geschöpfliche Autorität kann für sich den Anspruch erheben, über dem Gewissen zu stehen“. Und so weist Andreas Laun weiters darauf hin, dass die Autorität des kirchlichen Lehramtes ja gerade „auf der Autorität des Gewissens“ beruht. „Das Lehramt ordnet sich dem Gewissen unter“, was so zu verstehen ist, dass das Lehramt zuerst im Gewissen Anerkennung sucht und sich dann „mit dieser Legitimation an den einzelnen Menschen“ wendet – „nicht gegen sein Gewissen, sondern mit dessen Autorität ausgestattet“376. Mit Anton Ziegenaus kann daher festgestellt werden, dass „Gewissens freiheit und Wahrheitsanspruch der Kirche … zueinander in keinem Wider spruch“377 stehen, sicherlich aber in einem notwendigen und schon im Gewissensbegriff grundgelegten Spannungsverhältnis. 2. Ein innerkirchliches Grundrecht auf Gewissensfreiheit? Markus Patenge bezeichnet DH und GS als die beiden „entscheidenden Dokumente“, wenn es um das Thema Gewissensfreiheit in den Texten des II. Vatikanischen Konzils geht378. Nicht zu vergessen ist allerdings auch LG 16, wo eine theologische Rechtfertigung für die Freiheit des Gewissens vorgelegt wird379. Grundsätzlich muss damit gerechnet werden, dass die Konzilsväter mit den Dokumenten des II. Vatikanums möglicherweise auch dort materielle Rechtsquellen vorgelegt haben, wo keine Rechtssprache verwendet bzw. kein unmittelbarer Bezug zum Kirchenrecht geknüpft wurde. So 376 Andreas Laun: Das Gewissen, 111 f.; vgl. auch Marianne Heimbach-Steins/ Konrad Hilpert: Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit, 181: „Der Wahrheitsanspruch der Kirche ist nicht gegen die Freiheit der Person durchzusetzen, sondern bedarf ihrer freien Einsicht“; Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 82; Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 57–66; vgl. hingegen Bruno Schüller: Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, 18, der einen „vorbehaltslosen Gehorsam“ gegenüber unfehlbaren Lehrentscheidungen postuliert. In diesem Fall sei ein „Gewissenskonflikt … von vornherein ausgeschlossen. Denn der Gehorsam gegen sein Gewissen konkretisiert sich hier für ihn notwendig im Gehorsam gegen das unfehlbar urteilende Lehramt.“ 377 Anton Ziegenaus: Das Gewissen vor dem Anspruch des Lehramts, 184; vgl. auch Stephan Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 242, 249. 378 Vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 40; Peter Krämer: Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen, 36. 379 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen, 158.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit173
ist es nicht nur möglich, sondern naheliegend, dass GS und DH Passagen enthalten, welchen kirchenrechtliche Relevanz zuzumessen ist380. Ausgangspunkt für alle grundlegenden Freiheitsrechte in der Kirche sind Würde und Gottesebenbildlichkeit jeder Person381, welcher dadurch unverletzliche Rechte zustehen. Das „Recht auf Freiheit im religiösen Bereich als ein fundamentales Recht der Person oder, wie auch gesagt wird, als ein natürliches, das heißt im Wesen des Menschen selbst begründetes Recht“382 kommt jedem Menschen, egal in welcher Gesellschaft und welchem sozialen Gefüge er sich befindet, aufgrund seines Personseins zu, darüber kann „kei nerlei Zweifel herrschen“383, wie Pavan mit Recht feststellt. Das Konzil legt neben anthropologischen aber auch explizit theologische Begründungen für die Freiheit des Gewissens vor384. So wird in LG 16 davon gesprochen, dass derjenige, welcher „das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, das ewige Heil erlangen“ kann (LG 16)385. 380 Vgl. Konrad Breitsching: Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, 208, mit Verweis auf ein Dokument der Internationalen Theologischen Kommission: Über die Würde und die Rechte der menschlichen Person, in: IKZ Communio 15 (1986), 256–270, hier 257: „Die Internationale Theologische Kommission hat im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit von einem fundamentalen Recht gesprochen, das niemals abgeschafft werden kann. Es ist schwer vorstellbar, dass solche Auffassungen keine rechtsgestaltende Wirkung in der kirchlichen Rechtsordnung haben sollten.“ Zur juristischen Bedeutung von Äußerungen des kirchlichen Lehramts vgl. auch Libero Gerosa: Mitbürger der Heiligen, 57. 381 Vgl. Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Reli gionsfreiheit, 705 f., 712; Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 177; zur Gottesebenbildlichkeit vgl. Joseph Ratzinger: Kommentar zur „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“, 317 ff.; zum „Trans zendenzcharakter“ des Gewissens vgl. ebd., 329; Adrian Loretan: Die Menschenwürde, 106–108. 382 Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 715; ebd., 721: Der Grund für diese hohe Stellung der Gewissensfreiheit innerhalb der Kirche ist wesentlich darin zu sehen, dass der religiöse Akt, der immer auch ein Akt des Gewissens ist, „den Bereich der irdischen und zeitlichen Ziele“ übersteigt, „während die Kompetenz der öffentlichen Gewalt auf diesen Bereich beschränkt ist“. 383 Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 715; Libero Gerosa: Religionsfreiheit und vergleichende Rechtswissenschaft, 80 f. 384 Vgl. dazu auch Walter Kasper: Die theologische Begründung der Menschenrechte, insb. 47–56; zum Thema der theologischen Begründung der Menschenrechte im Allgemeinen vgl. ebenso Konrad Hilpert: Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität, 174–204, Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 54 ff. 385 Diese Lehre wird bezogen auf Katholiken durch LG 14 ergänzt, wo es heißt, dass „ jene Menschen nicht gerettet werden [können], die um die katholische Kirche
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Daher ist Zwang zum Heil aus theologischer Perspektive weder notwendig noch angemessen. Dies wird insbesondere auch am Handeln Jesu Christi offenbar: „Denn obgleich die Offenbarung das Recht auf Freiheit von äußerem Zwang in religiösen Dingen nicht ausdrücklich lehrt, läßt sie doch die Würde der menschlichen Person in ihrem ganzen Umfang ans Licht treten“ durch das Beispiel Jesu Christi, der die „Freiheit des Menschen in der Erfüllung der Pflicht … beachtet hat“ (DH 9,1)386. Obwohl die Freiheit des Gewissens der Kirche durch das Beispiel Jesu Christi von allem Anfang an vorgegeben war, kam es im Laufe ihrer Geschichte immer wieder zu Verdunkelungen und Missachtungen dieses Grundsatzes (vgl. DH 12)387. Dennoch ist es wichtig, festzuhalten, dass der Schutz der personalen Würde in diesem Zusammenhang nicht nur aus anthropologischen Gründen, sondern ebenso um des Evangeliums willen geboten ist, welches „sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung“ respektiert (GS 41)388. Rechte und Pflichten, die sich aus der Menschenwürde ergeben, sind innerhalb der Kirche insofern „unter dem Aspekt der Berufung aller Menschen zum Heil“389 zu applizieren. Im Umkehrschluss hat dies die Beschränkung der kirchlichen Vollmacht auf Mittel zur Folge, die dem Sendungsauftrag der Kirche entsprechen und die Würde des Menschen nicht verletzen. Die Väter des II. Vatikanums haben das spezifische Recht auf religiöse Freiheit zunächst „im Kernpunkt der Beziehungen zwischen Kirche und Staat“ angesiedelt390. Pavan weist jedoch darauf hin, dass ein solcher Befund
und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollen“. 386 Vgl. auch DH 11 f.; Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 733 ff. Die Konzilsväter haben ebenso darüber diskutiert, ob es richtig sei, in Zusammenhang mit der Religionsfreiheit auf Stellen in der Hl. Schrift zu verweisen. Manche hatten Bedenken, dass damit ein Schriftsinn hineingelegt werde, der so damals noch gar nicht bestanden hätte; doch die Befürworter setzten sich durch, da auch am Beispiel Jesu Christi sichtbar werde, dass dieser zwar durch seinen Ruf Menschen im Gewissen verpflichtet, aber nicht zwingt; vgl. dazu auch Marianne Heimbach-Steins/Konrad Hilpert: Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit, 185 f. 387 Vgl. Bernard Quelquejeu: Aussöhnung mit den Menschenrechten, 78; Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 717; Peter Krämer: Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen, 38 f. 388 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 94 f.; Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 394; Eberhard Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam; Pierre Benoit: Die Religionsfreiheit im Licht der Offenbarung; Walter Kasper: Wahrheit und Freiheit, 32: Kasper kritisiert allerdings, dass es im Rahmen von DH nicht zur einer umfassenden Darstellung und Fundierung des christlichen Freiheitsverständnisses gekommen ist. 389 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 395.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit175
nicht bedeute, „daß die Beziehungen zwischen den Gliedern der Kirche oder jeder anderen religiösen Gemeinschaft und den für sie zuständigen Autori täten nach Meinung der Konzilsväter durch Zwangsmittel geregelt werden könnten und nicht nach den Kriterien und der Methode der Freiheit. Eine solche Unterstellung geschähe ohne Grund“391. Wenn die rechtliche Ordnung der Kirche aufgrund ihres Wesens nach anderen Grundsätzen organisiert ist als staatliche Rechtsordnungen, heißt das nicht, dass der „Grundsatz und die Methode der Freiheit“ keine Geltung in ihr besäßen. Doch über die nähere Ausfaltung der Konsequenzen dieser Einsicht sage die Erklärung über die Religionsfreiheit nichts, so Pavan392. Stephan Goertz hinterfragt allerdings kritisch, ob sich die Gewissensfreiheit tatsächlich unmittelbar aus der Erklärung über die Religionsfreiheit ableiten lasse, da nicht sicher sei, welchen Gewissensbegriff die Väter hier wirklich vor Augen hatten. Diese „Uneindeutigkeit“ der Väter „im Begriff der Gewissensfreiheit“ wirke über das Konzil fort und lasse sich anhand von drei nachkonziliaren Dokumenten rekonstruieren, die in den 1990er Jahren veröffentlicht wurden: So weise der im Jahr 1993 erschienene Katechismus der Katholischen Kirche393 keinen eigenen Abschnitt zur Gewissensfreiheit auf, „was als das Nachwirken eines neuscholastischen Gewissensbegriffs gedeutet werden kann“, so die Analyse von Goertz. Die ebenso im Jahr 1993 veröffentlichte Enzyklika „Veritatis splendor“394 würdige zwar die Religionsund Gewissensfreiheit als fundamentales Menschenrecht (VS 31), rufe aber „zum anderen noch einmal in Erinnerung …, dass die Freiheit des Gewissens ‚niemals Freiheit ‚von‘ der Wahrheit, sondern immer und nur Freiheit ‚in‘ der Wahrheit ist‘ (VS 64)“. Hingegen widme der zweite Band des Erwachsenenkatechismus der Deutschen Bischofskonferenz395 aus dem Jahr 1995 den „Überlegungen zur Gewissensfreiheit … einen eigenen Abschnitt innerhalb
390 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 75; Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 171. 391 Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 171. 392 Ebd. 393 Vgl. Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution „Fidei Depositum“ zur Veröffentlichung des „Katechismus der Katholischen Kirche“, der im Anschluß an das Zweite Vatikanische Konzil verfaßt wurde, vom 11. Oktober 1992, in: AAS 86 (1994), 113–118; deutsche Übersetzung abgedruckt in: Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica latina (München – Vatikan 2003), 29–35; lateinische verbindliche „Urtext“: Catechismus Catholicae Ecclesiae (Vatikan 1997). 394 Vgl. Johannes Paul II.: Enzyklika „Veritatis Splendor“, in: AAS 85 (1993), 1133–1228. 395 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz: Katholischer Erwachsenen-Katechismus Bd. 2: Leben aus dem Glauben (Freiburg i. Br. 1995).
176
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
der Gewissensthematik“396. Nach Goertz könne aus dem Gewissensbegriff jedoch nur dann ein echtes Freiheitsrecht abgeleitet werden, wenn dieser als ein „Ort personaler Sittlichkeit“ und nicht bloß als Funktionsbegriff, der nur die Forderungen der objektiven sittlichen Ordnung vermittelt, interpretiert werde. Denn im letzteren Fall wäre eine Ableitung der Gewissensfreiheit wohl nur unter der Einschränkung möglich, dass eine solche Freiheit bloß als eine „Freiheit für das gesunde, d h. für das wahre Urteile sprechende Gewis sen“ verstanden wird397; nur ein unüberwindlich irrendes Gewissen dürfte sich unter diesen Umständen legitimer Weise auf die Freiheit des Gewissens berufen. Die lehramtlichen Texte der Kirche stellen beide Konzepte des Gewissensbegriffs teilweise unvermittelt gegenüber398. Dennoch kann kaum geleugnet werden, dass nach christlichem Verständnis das Gewissen als essentielle Quelle personaler Verantwortlichkeit399 anzusehen ist: Der Ausdruck „Gewissen“ deutet, so Pavan, auf die „sittliche Richtigkeit“ hin – insbesondere in religiösen Dingen ist so zu handeln, wie man sich zu handeln „verpflichtet glaubt“. Demgemäß dürfe niemand daran gehindert werden, entsprechend dieser Einsicht zu handeln400. Insofern muss auch nach Annahme des Glaubens „innerkirchlich der notwendige Raum bleiben für das freie Festhalten am Glauben und für die Gestaltung des Lebens aus dem Glauben in frei verantworteter Entscheidung“401, denn diesem sittlichen Auftrag kann der Mensch freilich nur dann entsprechen, wenn ihm die dazu notwendige Freiheit gewährt wird und er diese in verantwortungsvoller Weise wahrnimmt 402. Freilich wird in den lehramtlichen Texten auf einen Gewissensbegriff verwiesen, der jeden Anschein einer Gleichsetzung der Gewissensfreiheit mit der völligen Autonomie des Menschen verhindern möchte403 – so heißt es in 396 Stephan
Goertz: Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit, 247 f. 245 f.; vgl. dazu auch Konrad Hilpert: Schuld und Verantwortung in moraltheologischer Sicht. 398 Vgl. dazu das Kapitel 3. A. V. „Der Gewissensbegriff zur Zeit des Zweiten Vatikanums“ in dieser Arbeit. 399 Vgl. dazu auch Richard Heinzmann: Der Mensch als Person; Franz Wiedmann: Die Strategie des Gentleman, 76 ff. 400 Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit178 f. Über das irrende Gewissen äußerst sich DH allerdings nicht. 401 Heribert Schmitz: Tendenzen nachkonziliarer Gesetzgebung, 416; vgl. dazu auch Heribert Schmitz: Glaubens- und Bekenntnispflicht, 439. 402 Vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 43. 403 Vgl. dazu bspw. Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 153: „Es gibt keine individualistische Autonomie des Gewissens“; vgl. ebenso Jost Eckert: Art. „Gewissen“, 621: „die Rede von der Autonomie des Gewissens ist insbesonders im Kontext des biblischen Glaubens unangebracht“; vgl. dazu hingegen den Hinweis von Livio Melina: Gewissen, 397 Ebd.,
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit177
GS 41: „Kraft des ihr anvertrauten Evangeliums verkündet also die Kirche die Rechte des Menschen, und sie anerkennt und schätzt die Dynamik der Gegenwart, die diese Rechte überall fördert. Freilich muß diese Bewegung vom Geist des Evangeliums erfüllt und gegen jede Art falscher Autonomie geschützt werden. Wir sind nämlich der Versuchung ausgesetzt, unsere persönlichen Rechte nur dann für voll gewahrt zu halten, wenn wir jeder Norm des göttlichen Gesetzes ledig wären. Auf diesem Wege aber geht die Würde der menschlichen Person, statt gewahrt zu werden, eher verloren.“ Mit der Freiheit des Gewissens korrespondiert zugleich die Pflicht zur Wahrheitssuche (vgl. DH 1) und das Festhalten an ihr (vgl. DH 2,2), wenn sie als solche erkannt wurde (vgl. c. 748 § 1 CIC/1983). Die Pflicht zur Gewissensbildung ist daher eine logische Konsequenz dieser Suche404, bei der die „Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben“ müssen (DH 14,3; vgl. auch GS 16). Das Gewissen des Menschen hängt nach christlichem Verständnis in keinem „luftleeren“ bzw. vorpositiven Raum, sondern ist rückgebunden an die Wahrheit, in sittlicher Verantwortung vor Gott und seiner Kirche. Ausdrücklich hält das Konzil fest, dass jedoch die Verletzung dieser Pflichten nicht zum Verlust der Würde des Gewissens und damit seiner Rechte führt (vgl. DH 2,3). Die Freiheit des Gewissens kann „in gutem oder schlechten Glauben verwirklicht werden“, doch hebt ein „Mißbrauch eines Rechts … dieses selbst nicht auf“405, denn es handelt sich um ein unverlierbares und unverwirkbares Menschenrecht 406. Freiheit und Lehramt, 242 f. und Andreas Laun: Das Gewissen, 125 – die Rede von der „Autonomie des Gewissens“ sei nicht vollständig zu verwerfen, weil der Begriff der „Autonomie“ innerhalb bestimmter Grenzen in Bezug auf das Gewissen durchaus angemessen sei; vgl. auch Adrian Loretan: „Menschenwürde“, 28, der davon spricht, dass Theologie und Autonomie im Kontext von Gnade und Natur zu lesen seien; zum Autonomiebegriff vgl. auch Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 86–92. 404 Vgl. Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 78–83; Livio Melina: Gewissen, Freiheit und Lehramt, 252 f.; Alois Sustar: Gewissensfreiheit, 67–77; Bruno Schüller: Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, 15: „Gewissensfreiheit und Autorität werden heutzutage leicht als einander entgegenstehende Größen gewertet. Das hängt zum Teil mit der Wortprägung Gewissensfreiheit zusammen … sie läßt nicht auf den ersten Blick erkennen, daß die Freiheit des Gewissens nur die Kehrseite einer unbedingten Verpflichtung des Gewissens auf die Wahrheit ist, auf die Wahrheit, die als ganze kein Mensch je so sicher besitzt, daß er nicht noch tiefer in sie eindringen, daß er sich nicht noch von irrigen Auffassungen befreien müßte. Oder anders formuliert: seine Gewissensbildung kann nie jemand für abgeschlossen halten.“ 405 Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 716. 406 Vgl. Libero Gerosa: Religionsfreiheit und vergleichende Rechtswissenschaft, 80.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
„Hieraus kann abgeleitet werden, daß das Recht auf religiöse Freiheit einen legitimierenden Grund für kirchliche Rechtsbildung darstellt; es bezeichnet eine Rahmenbedingung für den Glaubensvollzug überhaupt … Insofern das Recht auf religiöse Freiheit in der Würde der menschlichen Person verankert ist und zugleich offenbarungsmäßig begründet werden kann, ist es auch für die innerkirchliche Rechtsordnung maßgeblich. Deshalb kann die Erklärung des Konzils wie folgt abgewandelt werden: das Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muß in der kirchlichen Rechtsordnung der Kirche so anerkannt werden, daß es zum kirchlichen Recht wird.“407 Es ist schließlich daran zu erinnern, dass aufgrund der Communio-Struktur der Kirche Standards menschlicher Gerechtigkeitsdimensionen nicht völlig unbeachtet bleiben und Individualgrundrechte nicht im Mysteriencharakter der Kirche aufgelöst werden dürfen408. 3. Verbot des Zwanges durch rein menschliche Gewalt Das II. Vatikanum spricht in DH 2,1 jeder menschlichen Person das Recht auf religiöse Freiheit zu: „Diese Freiheit besteht darin, daß alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird“409. Wenn in DH 3 davon die Rede ist, dass Gewissensakte „von einer rein menschlichen Gewalt weder befohlen noch verhindert werden“ dürfen, stellt sich die Frage, ob sich diese Aussage auch auf die kirchliche Gewalt anwenden lässt, denn es könnte der Einwand erhoben werden, dass die in der Kirche ausgeübte Gewalt keine „rein menschliche Gewalt“ ist. Bei der in der Kirche vorgefundenen sacra potestas handelt es sich um jene Vollmacht, „die vom Herrn selbst über die Apostel in die Kirche vermittelt worden ist“ (vgl. c. 129 CIC/1983). Das bedeutet zum einen, dass es nicht rein mensch407 Peter Krämer: Kirche der freien Gefolgschaft, 7; vgl. auch Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 110–124, insb. die Nachweise in Fn. 37. 408 Vgl. Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 147. 409 Vgl. dazu Pierre Benoit: Die Religionsfreiheit im Licht der Offenbarung, 230 f.: Pierre Benoit zeigt Schlaglichter einer biblischen Begründung dieser Aussagen auf.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit179
liche Entschlüsse sind, die das Wesen und damit auch die Grenzen des Katholischen festlegen. Andererseits wird daraus klar, warum die Pflicht eines Katholiken, sein Gewissen anhand der Lehre der Kirche zu prüfen, eine Verpflichtung göttlichen Rechts darstellt. Die Argumentation jedoch, dass es sich bei der kirchlichen Gewalt nicht um eine rein menschliche handle, kann aber insofern nicht gegen die Beachtung der religiösen Freiheit vorgebracht werden, als die Träger der sacra potestas ja Menschen sind und die Gewalt durch diese ausgeübt wird410. Zudem kann die sacra potestas selbst nicht gegen das göttliche Gesetz gerichtet sein. Die kirchliche Vollmacht ist an das Evangelium gebunden und insofern auf Mittel beschränkt, die diesem nicht widersprechen; in GS 41 formulieren die Väter des Konzils diese Tatsache folgendermaßen: „Der heutige Mensch ist unterwegs zur volleren Entwicklung seiner Persönlichkeit und zu einer immer tieferen Einsicht und Durchsetzung seiner Rechte. Da es aber der Kirche anvertraut ist, das Geheimnis Gottes, des letzten Zieles der Menschen, offenkundig zu machen, erschließt sie dem Menschen gleichzeitig das Verständnis seiner eigenen Existenz, das heißt die letzte Wahrheit über den Menschen … Wer Christus, dem vollkommenen Menschen, folgt, wird auch selbst mehr Mensch … Durch kein menschliches Gesetz können die personale Würde und die Freiheit des Menschen so wirksam geschützt werden wie durch das Evangelium Christi, das der Kirche anvertraut ist. Diese Frohbotschaft nämlich verkündet und proklamiert die Freiheit der Kinder Gottes; sie verwirft jede Art von Knechtschaft, die letztlich aus der Sünde stammt; sie respektiert sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung.“ So hat die Kirche die Freiheit des Gewissens nicht nur zu dulden, sondern zu schützen und sogar zu fördern. In jedem Fall ist ihr jede Ausübung von Zwang auf das Gewissen der Christgläubigen untersagt. Den Begriff „Zwang“ deuten die Väter des II. Vatikanums im Zusammenhang mit der religiösen Freiheit „sehr extensiv“. Nach Jan Vries umfasst er sämtliche „Mittel, die direkt Einfluß nehmen wollen auf die autonome Selbstbestimmung in den persönlichen religiösen Angelegenheiten“411. Zwang ist demnach kein evangeliumsgemäßes Mittel der Gewissensbildung oder der Glaubensbindung412. 410 Vgl. dazu Marcus Nelles: § 12 Die geistliche Vollmacht, 200 f. und die dort angeführten Nachweise. 411 Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 126; vgl. ebd., 125–130. 412 Diese Aussage ist historisch gesehen keinesfalls als selbstverständlich zu betrachten. Im Hintergrund dieses Problems steht die Frage, ob Zwang „zum Guten“ erlaubt ist. Teilweise wurde diese Möglichkeit bejaht, wobei oft differenziert wurde, ob der Zwang Ungläubige oder vom Glauben abgefallene Christen betreffen sollte. Thomas von Aquin (vgl. STh II-II q. 10 a. 11 und q. 11 a. 3) vertrat bspw. die Position, dass man Ungläubigen nicht mit Zwang begegnen dürfe, abgefallenen Christen hingegen schon. Relikte dieser Argumentationsstruktur sind bis heute im Kirchen-
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils zwar der Terminus „Gewissensfreiheit“ explizit nur an einer Stelle vorkommt und zwar ganz unscheinbar in „Gravissimum educationis“ Nr. 8413. Dort geht es um die Bedeutung der katholischen Schulen für den Dialog zwischen Gesellschaft und Kirche414. Sehr eingehend und umfangreich beschäftigen sich die Väter des II. Vatikanums mit der Freiheit des Gewissens hingegen im Kontext der religiösen Freiheit. Insbesondere in DH wird das Recht auf religiöse Freiheit „dermaßen kraftvoll“ hervorgehoben, wie Gerosa mit Recht feststellt, dass dieses „gegenüber jedem möglichen Zwang zu gewährleisten ist“ und für eine „rigorose Anwendung dieses Prinzips auch innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung Tür und Tor öffnet“415.
IV. Innere Religionsfreiheit oder Gewissensfreiheit? In der Enzyklika „Redemptor hominis“ von Papst Johannes Paul II. handelt das 17. Kapitel von den Menschenrechten. Bemerkenswert darin ist, dass nicht nur die Religions-, sondern auch die Gewissensfreiheit explizit als Menschenrecht erwähnt wird (mit Bezug auf DH). Markus Patenge meint, dass „vor allem die Erwähnung der Gewissensfreiheit“ in diesem Zusammenhang etwas überraschend wirke, „weil das Konzil in DH nicht expressis verbis von der Gewissensfreiheit gesprochen, sondern diese ohne Nennung des Begriffs inhaltlich akzeptiert und befürwortet hat“. Doch sei die Annahme, „dass Johannes Paul II. nach dem langen innerkirchlichen Differenzierungsprozess, in dem die Religionsfreiheit von der Gewissensfreiheit getrennt wurde, beide wieder aufeinander bezogen wissen will“, als „unwahrscheinlich“ einzustufen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich mit der Enzyklika „Redemptor hominis“ der Terminus „Gewissensfreiheit endgültig recht zu finden; so gestattet c. 868 § 2 CIC/1983 in Todesgefahr die Säuglingstaufe gegen den Willen der Eltern – vgl. dazu bspw. in kritischer Auseinandersetzung dazu Libero Gerosa: Das Recht der Kirche, 202; Peter Krämer: Das Recht auf religiöse Freiheit und seine Relevanz für die innerkirchliche Rechtsordnung, 144. 413 Vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 40 Fn. 81. 414 Das Lehramt betont das der Kirche zustehende Recht, katholische Schulen frei gründen zu können und „erinnert … daran, daß die Ausübung solchen Rechts auch der Gewissensfreiheit1, dem Schutz des elterlichen Rechts und dem kulturellen Fortschritt selbst höchst zuträglich ist“ (Gravissimum educationis Nr. 8); im lateinischen Originaltext lautet die Formulierung: „in memoriam revocans huiusmodi iuris exerci tium libertati quoque conscientiae“. 415 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 75, mit Verweis auf Paul VI.: Schlussansprache in der Audienz vom 7. Dezember 1965 an die von den verschiedenen Ländern und internationalen Organisationen entsandten außerordentlichen Delegationen, 71–75; vgl. auch Paul VI.: Rede vom 26. Mai 1968 an die Teilnehmer am Internationalen Kirchenrechtskongreß, 338.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit181
auch im kirchlichen Sprachraum etabliert hat“416, so die durchaus überzeugende Schlussfolgerung Patenges. Demnach wollten sich die Väter des Konzils hinsichtlich der Gewissensfreiheit offenbar nicht bloß mit einem Fingerzeig auf staatlich-säkulare Rechtsgebilde und damit auf die „äußere“ Reli gionsfreiheit begnügen417. Wenn nun bei Aymans/Mörsdorf von der „inneren Religionsfreiheit“ die Rede ist 418, dann kann damit nichts anderes gemeint sein als die Verwirk lichung der Glaubens- und Gewissensfreiheit innerhalb der Kirche. Obwohl die Glaubens- und Gewissensfreiheit insofern einen Teilaspekt der Religionsfreiheit abbildet 419, würde eine unmittelbare bzw. „geradlinige Übertragung … der Religionsfreiheit“ auf die innerkirchliche Rechtsordnung „eine kanonische Gesetzgebung ‚in re religiosa‘ unmöglich machen“420 und zu nicht annehmbaren Aporien führen. Ähnliches gilt natürlich auch, wenn das Grundrecht der Gewissensfreiheit staatlicher Ausprägung linear in das kanonische Recht übertragen wird, wie im nächsten Abschnitt noch genauer zu sehen sein wird. Dennoch scheint es sinnvoll zu sein, den Begriff „Religionsfreiheit“ im weiteren Verlauf der Untersuchung zu vermeiden, wenn es um die spezifische Verwirklichung der Glaubens- und Gewissensfreiheit innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung geht. Daher wird künftig nicht mehr von der „inneren“ Religionsfreiheit, sondern dezidiert von der Gewissensfreiheit die Rede sein, um Missverständnissen vorzubeugen und um auch begrifflich 416 Ebd.,
50 f. ebd; Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 231: Die konkrete und praktische Wirksamkeit eines Grundrechts der Gewissensfreiheit sieht Hafner nicht nur darin, wie bei der ersten Vermittlung und der Annahme des Glaubens vorgegangen wird, was ja eher die Religionsfreiheit anspricht, sondern vor allem darin, wie die Kirche mit der „Mitgliedschaftsfreiheit“ umgehe, d. h. wie sie bspw. mit Mitgliedern umgehe, die aus Gewissensgründen bestimmte Glaubensinhalte nicht voll mittragen können; vgl. dazu auch Adrian Loretan: Kirche und Staat in der Schweiz, 1902. 418 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 94 f.; Aymans/Mörsdorf: KanR II, 92 f. 419 Vgl. Dieter Witschen: Trias menschenrechtlicher Verpflichtungen, 241: Die Religionsfreiheit ist „die Gewissensfreiheit in rebus religionis“; ähnlich Papst Bene dikt XVI. (Joseph Ratzinger): Ansprache an die neuen Botschafter beim Heiligen Stuhl anlässlich der Überreichung der Beglaubigungsschreiben (18. Mai 2006), 11: Die Religionsfreiheit ist ein „grundlegender und vorrangiger Aspekt der Gewissensfreiheit der Person“; Marianne Heimbach-Steins/Konrad Hilpert: Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit, 175; Johannes Mühlsteiger: Glaubens- und Reli gionsfreiheit, 1025, der die Religionsfreiheit in der Kirche mit der Gewissens- und Glaubensfreiheit gleichsetzt. 420 Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 131. Vries unterscheidet daher zwischen einem extensiven und strikten Zwangsbegriff, wobei nur letzterer anzuwenden sei, wenn es um die innerkirchliche Umsetzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit geht – ebd., 131–140. 417 Vgl.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
klar zu kommunizieren, dass es eben um die innerkirchliche Freiheit des Gewissens geht. Mit der Annahme also, dass es sich bei der Gewissensfreiheit um ein Menschenrecht mit innerkirchlicher Relevanz handelt, ergibt sich in weiterer Folge die Frage, wie Menschenrechte im Allgemeinen und die Freiheit des Gewissens im Speziellen in der Kirche umgesetzt werden bzw. wirken können421.
V. Menschenrechte in der Kirche 1. Die Grund- und Menschenrechtsproblematik in der Kirche Menschenrechte stehen aufgrund ihrer Begründung in der Würde der Person422 prinzipiell jedem Menschen zu und sind unverlierbar. Davon abzuheben sind sogenannte Grundrechte, welche jene Normen bezeichnen, die von einer Rechtsgemeinschaft für ihren Bestand als grundlegend und nicht selten sogar als indispensabel angesehen werden, welche sich jedoch nicht zwingend aus der Personenwürde ableiten lassen müssen. Grundrechte werden nur für die jeweilige Rechtsgemeinschaft verbindlich festgelegt. Soweit es sich bei den Grundrechten nicht zugleich um „Menschenrechte“ handelt, können sich daher nur Mitglieder der jeweiligen Rechtsgemeinschaft darauf berufen. In ähnlicher Weise wird auch jeder Christgläubige mit der Taufe bzw. der Aufnahme in die Kirche Träger zahlreicher Rechte und Pflichten, die ihren Ursprung in der spezifischen Sendung der Kirche haben423. In der Literatur werden diese grundlegenden Rechte, die sich aus der christlichen Sendung ergeben, oft unter dem Terminus „Christenrechte“ zusammengefasst 424. Zweifelsohne ist von einer nicht unbeachtlichen gemeinsamen 421 Vgl. dazu das Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax: Die Kirche und die Menschenrechte Nr. 62, 28 f.: „Wenn ihre Arbeit im Geiste des Evangeliums wirksam sein soll, dann muß sich die Kirche vor allem und in erster Linie für die Anerkennung, die Achtung, den Schutz und die Förderung der Menschenrechte in der Welt einsetzen. Sie muß dabei mit einer Gewissenserforschung bei sich selbst beginnen. Die Kirche muß genau prüfen, wie und in welchem Maße die Grundrechte innerhalb ihrer eigenen Organisation geachtet und angewendet werden.“ 422 Vgl. dazu Richard Heinzmann: Der Mensch als Person, 51 f.; Robert Spae mann: Über den Begriff der Menschenwürde; Helmuth Pree: MKCIC Einführung vor 96/1, Rdnr. 1 (Stand November 1995); Communicationes II (1970), 91. 423 Zur Problematik des Personenbegriffs im CIC/1983 vgl. Ulrich Rhode: 100 Jahre persona in Ecclesia Christi; Adrian Loretan: „Menschenwürde“, 30; Burkhard Josef Berkmann: Die neue Haltung des II. Vatikanums zu den Nichtchristen, 36 ff.; Helmuth Pree: MKCIC Einführung vor 96/1, Rdnr. 1 (Stand November 1995). 424 Zur Unterscheidung von Menschenrechten und Christenrechten innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung vgl. Peter Krämer: Kirchenrecht II, 29–32; Norbert Grei
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit183
Schnittmenge zwischen Grund- bzw. Christenrechten und Menschenrechten auszugehen425. Die Beschäftigung mit den Menschenrechten wurde in der Kirche nicht ausschließlich von „außen“ – bspw. durch die Vorbilder staatlicher Verfassungen426 – angeregt, sondern in einem nicht unbedeutendem Maß auch durch die Reflexion auf das ekklesiologische Selbstverständnis im Zuge des II. Vatikanischen Konzils427. Nach LG 1 ist „die Kirche ja in Christus gleichnacher: Christenrechte in der Kirche, 193–196; Heribert Heinemann: Menschenrechte, 239; Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 644; Reinhild Ahlers: § 17 Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, 293: „Gegenüber staatlichen Grundrechten sind die Christenrechte solche Rechte, die im Getauftsein gründen und den Gläubigen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Kirche zukommen“; zur Diskussion um das Verhältnis zwischen kirchlichen Grundrechten und Menschenrechten vgl. die umfangreiche Literaturangabe bei Ahlers – ebd., 293 Fn. 22; Hans Heimerl: Grundordnung und Normengefüge im Katholischen Kirchenrecht, 212: „Die Grundrechte des Christen haben ihren Vorrang durch das göttliche Recht oder die Nähe zu ihm. Obwohl deutlich auch von der fortschreitenden Anerkennung der Menschenrechte im weltlichen Bereich angeregt, bahnt sich, anders als in der staatlichen Verfassungslehre, in der katholischen Kirche ein weitgehender Konsens über den Begriff der Grundrechte des Christen an. Sie werden im göttlichen Recht begründet gesehen: Als Rechte der menschlichen Person sind sie im Naturrecht verwurzelt, als spezifische Grundrechte der Gläubigen im positiven göttlichen Recht, wobei zwischen beiden Wurzeln eine Einheit in der Person des in die Heilsordnung erhobenen, Christus angegliederten Menschen besteht.“ Josef Blank hingegen meint, dass unter dem Terminus Christenrechte „Menschenrechte im binnenkirchlichen Bereich“ zu verstehen seien – vgl. Josef Blank: Zur theologischen Begründung von „Christenrechten“, 28 f. 425 Helmuth Pree unterscheidet daher: erstens Rechte, die als „spezifisch christliche (kirchliche) Rechte“ einzustufen sind, aber „keine Entsprechung in der natürlichen Rechtsfähigkeit und daher in weltlichen Grundrechten haben“, zweitens „Christenrechte, die eine Entsprechung in einem analogen Menschenrecht besitzen“ und drittens „Rechte, die keinen spezifisch christlichen Inhalt haben, jedoch als fundamentale Menschenrechte dem Christen auch von der kirchlichen Rechtsordnung … zugestanden werden müssen“ – Helmuth Pree: MKCIC 96/7, Rdnr. 5 (Stand November 1995). 426 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt: MKCIC Einführung vor 208/4, Rdnr. 4 (Stand Oktober 1987); Konrad Breitsching: Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, 192; vgl. auch Andreas Thier: Menschenrecht und Naturrechtstradition in der römisch-katholischen Amtskirche im Übergang vom späten 18. Jahrhundert zum frühen 20. Jahrhundert. 427 Vgl. Hans Heimerl: Menschenrechte, Christenrechte und ihr Schutz in der Kirche, 26: „Das Eintreten für die Menschenrechte und die Grundrechte des Christen stammt innerkirchlich hauptsächlich aus der ekklesiologischen Erneuerung, welche die Kirche vorzüglich als Gemeinschaft, als Volk Gottes sieht“; Richard Heinzmann: Der Mensch als Person, 52, der meint, dass „die Menschenrechte … nur unter der Voraussetzung eines solchen [genuin christlichen] Menschenbildes möglich, sinnvoll und realisierbar sind“; Michael Böhnke geht mit Hans Maier hingegen davon aus, „dass man von einem unmittelbaren christlichen Ursprung der Menschenrechte nicht
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
sam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“. Aufgrund dieser spezifischen Konstitution der kirchlichen Communio, welche eben auch eine Gemeinschaft von Menschen ist, wird einerseits die genuine Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Menschenrechtsthematik offenbar428 und andererseits manifestiert sich in der transzendenten bzw. vertikalen Komponente ihrer Gemeinschaft, der communio cum Deo429, ein elementarer Wesensunterschied zur Rechtsgemeinschaft eines Staates. Die Kirche ist kein „Staat“, sondern ihrem Wesen nach eine Glaubens- und Bekenntnisgemeinschaft. Als solche stellt aber sie keine rein spirituelle Größe dar, sondern eine realitas complexa, die aus menschlichen und göttlichen Elementen besteht. Die Ausblendung eines der beiden Elemente verunstaltet das Bild der Kirche als Communio. Obwohl die Kirche als „Mysterium rechtlich strukturiert“430 ist, kann sie sich von einer innerkirchlichen Verpflichtung durch die Menschenrechte nicht mit einem Verweis auf den Mysteriencharakter dispensieren431. Die Grund- und Menschenrechtsproblematik ist im Zuge der CIC-Reform intensiv diskutiert worden432. Die Voten der ersten Bischofssynode zur sprechen kann“ – Michael Böhnke: Der universale Anspruch der Menschenrechte als Herausforderung an die Ekklesiologie, 165, mit Verweis auf Hans Maier: Menschenrechte. Eine Einführung in ihr Verständnis (Mainz 2015), 70. 428 Vgl. Otfried Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 247; Adrian Loretan: Die Menschenwürde, 100, mit Verweisen auf Nostra aetate 5 und GS 29. 429 Vgl. dazu Winfried Aymans: Die Kirche im Codex, 55–64; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 198. 430 Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 147; vgl. auch Winfried Aymans: § 3 Die Kirche – Das Recht im Mysterium der Kirche. 431 Vgl. Walter Kasper: Der Geheimnischarakter hebt den Sozialcharakter nicht auf, 235. 432 Vgl. bspw. Hans Heimerl: Menschenrechte, Christenrechte und ihr Schutz in der Kirche; Johannes Neumann: Menschenrechte auch in der Kirche; Päpstliche Kommission Iustitia et Pax: Die Kirche und die Menschenrechte; Heribert Heine mann: Menschenrechte; Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche; Peter Krämer: Zur Problematik der Bestimmung von Grundrechten in der Kirche; Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte; Gerhard Luf: Überlegungen zur Begründung von Menschenrechten in der Kirche; vgl. insb. die umfangreiche Literaturangabe zu diesem Thema bei Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 198 Fn. 52. Peter Krämer: Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, 229–233. Folgend ebenso eine beispielhafte und keineswegs vollständige Auswahl von Literatur zum Thema Kirche und Menschenrechte nach der Promulgation des CIC/1983: Peter Krämer: Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, 229–233; Josef Joblin: Die Kirche und die Menschenrechte; Josef Isensee: Die katholische Kritik an den Menschenrechten; Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hrsg.): Menschenrechte und Menschenwürde; Leonard Swidler: Die Men-
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit185
odexrevision brachten klar zum Ausdruck, dass es bei der Neubearbeitung C des Codex um eine Stärkung der Grundrechte der Gläubigen gehen müsse433. Unter den Leitprinzipien der CIC-Reformkommission findet sich daher die Forderung des Schutzes der Personenrechte434: „Tatsächlich enthalten die Prinzipien für die Codexrevision Richtlinien, die eine umfassende Berücksichtigung der unverletzlichen Rechte des Menschen auch in der Kirche und ihrem Recht nahelegen“435, wie Paul Hinder feststellt. Und so fanden diese Vorgaben im Entwurf der LEF436 zwar durchaus genauere Beachtung437, schenrechte; Konrad Hilpert: Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität; Konrad Hilpert: Art. „Menschenrechte“; Hans Heimerl: Menschenrechte und Christenrechte; Richard Puza: Menschenrechte ad extra und ad intra; Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte; Felix Hafner/Adrian Loretan/ Christoph Spenlé: Naturrecht und Menschenrechte; Adrian Loretan: Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“; Adrian Loretan: Religionen im Kontext der Menschenrechte; Gerhard Luf: Art. „Menschenrechte“; Gerhard Luf: Menschenrechte aus katholischer Sicht; Norbert Brieskorn: Menschenrechte und Kirche; Konrad Breit sching: Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung; Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte; Peter Krämer: Menschenrechte in der Kirche; Pe ter Krämer: Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition; Libero Gerosa: Religionsfreiheit und vergleichende Rechtswissenschaft; Walter Kasper: Die theologische Begründung der Menschenrechte; Tamara Bloch: Die Stellungnahmen der römisch-katholischen Amtskirche zur Frage der Menschenrechte; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Die Freiheit befreien. Glaube und Politik im dritten Jahrtausend; Martin Baumeister/Michael Böhnke/Marianne Heimbach-Steins/ Saskia Wendel (Hrsg.): Menschenrechte in der katholischen Kirche; Peter G. Kirch schläger: Menschenrechte und Religionen. 433 Vgl. Jean Beyer: De statuto iuridico christifidelium iuxta vota synodi episcoporum in novo codice iuris condendo, 550. 434 Vgl. Communicationes 1 (1969), 77–85, insb. 82 f. 435 Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 104, mit Verweis auf die Communicationes 1 (1969), 89; vgl. dazu auch: Otfried Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 237, 249; Peter Krämer: Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, 238 f. 436 Vgl. dazu Winfried Aymans/Heribert Heinemann/Klaus Mörsdorf/Richard A. Strigl: Lex Ecclesiae Fundamentalis; Winfried Aymans: § 6 Das Projekt einer Lex Ecclesiae Fundamentalis; Heribert Heinemann: Lex Ecclesiae Fundamentalis; Ger hard Luf: Der Begriff der Freiheit, 135; eine umfangreiche Literaturangabe zur LEF findet sich bei Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 199 Fn. 56. 437 Vgl. dazu Heribert Heinemann: Menschenrechte, 239: „Das Schema der ‚Lex Ecclesiae Fundamentalis‘ enthielt mit Verweis auf die Erklärung ‚Dignitatis humanae‘ des II. Vatikanischen Konzils in Kanon 3 folgende Aussage: ‚Da die Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, anerkennt die Kirche in allem und in jedem einzelnen die der menschlichen Person eigenen Würde und tritt öffentlich für sie ein; ebenso anerkennt sie die Pflichten und Rechte, die sich daraus ergeben, und schützt sie auch, weil die Menschen zum Heil berufen sind‘ “; aus dieser Aussage ergebe sich klar „das Bekenntnis der Kirche zu den Grundrechten des Menschen, die sich aus
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
doch wurde dieses Projekt ja bekanntlich kurz vor der Promulgation des CIC/1983 wieder fallengelassen. Dass diese Entscheidung für die Förderung kirchlich relevanter Menschenrechte und für die sachliche und systematische Qualität kirchlicher Grundrechtskataloge wohl wenig hilfreich gewesen ist, muss wohl nicht lange erörtert werden. Wenn es um die Frage nach Grund- und Menschenrechten in der geltenden kirchlichen Rechtsordnung geht, ist zunächst an den Katalog über die Rechte und Pflichten aller Gläubigen im CIC/1983 (vgl. cc. 208–223 CIC/1983)438 zu denken. Diesem kommt innerhalb des kanonischen Rechts in formaler Hinsicht 439 jedoch kein höherer Rang im Sinne eines Verfassungsrechts oder eines Grundgesetzes zu. Der Hl. Stuhl hat als Völkerrechtssubjekt zudem weder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) noch andere internationale Grund- oder Menschenrechtskataloge unterzeichnet 440, wodurch er völkerrechtlich oder innerkirchlich formal zur deren Einhaltung und Umsetzung verpflichtet wäre441. Es ist daher zunächst einmal festzuhalten, seiner Menschenwürde ableiten lassen“. Vgl. dazu auch Burkhard Josef Berkmann: Nichtchristen im Recht der katholischen Kirchen, 562. 438 Vgl. Eugenio Corecco: Erwägungen zum Problem der Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft; Eugenio Corecco: Der Katalog der Pflichten und Recht der Gläubigen im CIC; Gerhard Luf: Grundrechte im CIC; Heinrich J. F. Rein hardt: MKCIC Einführung vor 208 (Stand Oktober 1987); Winfried Aymans: Gemeinrechte und Gemeinpflichten aller Gläubigen; Josef Kremsmair: Grundrechte im Codex Iuris Canonici 1983; Reinhild Ahlers: § 17 Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen. 439 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen einer formalrechtlichen und materiell-rechtlichen Vorrangstellung von Normen – vgl. bspw. Heinrich J. F. Reinhardt: MKCIC Einführung vor c. 208/3, Rdnr. 3 (Stand Oktober 1987). 440 Bzgl. der UN-Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 1989 vgl. Peter G. Kirch schläger: Menschenrechte und Religionen, 56. 441 Die Gründe für diese Zurückhaltung der Kirche sind vielfältiger Natur. Oft ist die Entwicklung dieser Grundrechtskataloge schwer vorauszusagen und andererseits gibt es durchaus auch „umstrittene“ und in ihrem Tatbestand ungeklärte Menschenrechte. Dann ist auch zu bedenken, dass sich viele dieser Rechte im Gegenüber von Staat und Bürger entwickelt und herausgebildet haben. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III), kurz AEMR – ist ein Bekenntnis der Vereinten Nationen zu den allgemeinen Prinzipien und Grundlinien der Menschenrechte. Dieses Dokument wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen. Der AEMR kommt jedoch völkerrechtlich jedoch insofern keine rechtliche Verbindlichkeit zu, als sie weder als völkerrechtlicher Vertrag konzipiert noch als solcher unterzeichnet wurde (vgl. Art. 38 Abs. 1 des IGH-Statuts). In der AEMR sind im Hinblick auf das Gewissen vor allem zwei Artikel von besonderer Bedeutung: Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Artikel 18: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit187
dass es im geltenden kanonischen Recht kein „Verfassungsrecht“ bzw. „Grundgesetz“ im formellen Sinn gibt. Dass aber dennoch einigen Normen des Kirchenrechts materiell-rechtlich ein höherer Rang zuzumessen ist, insofern sie ihre Begründung im ius divinum haben, ist in der herrschenden Kanonistik unbestritten442. Normen göttlichen Rechts sind nach Auffassung der Kirche von keiner menschlichen bzw. kirchlichen Autorität dispensier- oder aufhebbar, selbst wenn sie formal aus dem Gesetzbuch gestrichen oder gar nicht kodifiziert würden, und sie stellen in der Kirche unmittelbar verbind liches und anwendbares Recht dar443. Der Verbindlichkeitsanspruch echter Menschenrechte leitet sich ohnehin nicht aus formalrechtlichen Zugeständnissen ab, sondern aus der unantast baren und unverlierbaren Würde des Menschen: „Die Menschenrechte gründen in der Würde der menschlichen Person und sind insofern Bestandteil der Schöpfungsordnung. Sie sind daher nicht nur der staatlichen, sondern auch der kirchlichen Rechtsordnung vorgegeben und müssen auch im innerkirchlichen Bereich beachtet werden.“444 Bernard Quelquejeu weist zu Recht darauf dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen“; vgl. ebenso die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (nicht-amtlicher Kurztitel: Europäische Menschen rechtskonvention), EMRK (SEV-Nr. 003), ratifiziert am 4. November 1950 und seit 3. September 1953 in Kraft; EMRK Artikel 9: Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: „(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ 442 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 4; Eugenio Corecco: Der Katalog der Pflichten und Rechte der Gläubigen im CIC, 204 f.; Heinrich J. F. Reinhardt: MKCIC Einführung vor 208/4, Rdnr. 3 (Stand Oktober 1987). 443 Vgl. Wilhelm Rees: § 9 Die Rechtsnormen, 147; Aymans/Mörsdorf: KanR I, 168; zur Problematik des ius divinum vgl. Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 27 f.; Juan Ignacio Arrieta (Hrsg.): Ius divinum nella Vita della Chiesa; Hel muth Pree: Zur Wandelbarkeit und Unwandelbarkeit des Ius Divinum – ebd., 134: Pree fordert ein Überdenken der Indispensabilität des ius divinum. 444 Peter Krämer: Kirchenrecht II, 29; Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 170; Peter Krämer: Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, 236; Johannes Neumann: Menschenrechte auch in der Kirche, 27; Reinhild Ahlers: § 17 Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, 293; Konrad Hilpert: Art. „Menschenrechte“, 780; Konrad Breitsching: Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, 196; Paul Hinder: Grundrechte in der
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
hin, dass die „Botschaft Jesu und der Urkirche“ ein bedeutender Anstoß für die Menschen war, „sich der wahren Würde der Person bewußt zu werden“445. Aufgrund der Gottesebenbildlichkeit des Menschen bzw. der Inkarnation Gottes sind Würde der menschlichen Person und damit auch die „Menschenrechte“ theologisch verortet 446. Die Kirche hat sich insofern als „Anwältin“ des Menschen zu begreifen447, aber nicht nur indem sie sich gegenüber staatlichen und anderen weltlichen Gewalten für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt, sondern indem sie vor allem selbst für eine angemessene Garantie und Umsetzung dieser Rechte innerhalb ihrer eigenen Rechtsordnung sorgt 448. So verwies Papst Paul VI. Kirche, 34; Tamara Bloch: Die Stellungnahmen der römisch-katholischen Amtskirche zur Frage der Menschenrechte, 151 f. Zum Problem der Rechtsgeltung von Grundrechten in der Kirche vgl. Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 135–166; Wolfgang Waldstein: Ist die Verwirklichung der Menschenrechte an ein bestimmtes soziales oder politisches Entwicklungsstadium gebunden; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Multiplikation der Rechte und die Zerstörung des Rechtsbegriffs, 13. Dazu dass die „Geschöpflichkeit“ des Menschen heute nicht mehr unbedingt als Ausgangs- und Ankerpunkt der Menschenrechte anerkannt wird vgl. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Gibt es Gott, 201 ff. 445 Bernard Quelquejeu: Aussöhnung mit den Menschenrechten, 83. Quelquejeu meint jedoch, dass diese ursprüngliche Botschaft verschüttet wurde, sobald sich das Christentum selbst zu einer gesellschaftspolitischen Macht entwickelte – den Wendepunkt markiert er mit dem Jahr 313; vgl. dazu ebenso Josef Joblin: Die Kirche und die Menschenrechte, 20–38; Wilhelm Rees: Kanonistische und europäische Aspekte von Religionsfreiheit I und II; vgl. dazu auch insb. die umfangreiche Literaturangabe bei Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 639 Fn. 1. 446 Vgl. Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 170: „Jeder Mensch ist Ebenbild Gottes und zum Heil berufen – das ist die theologische Grundlage für die Anerkennung der Menschenrechte durch die Kirche.“ Gerhard Luf: Der Begriff der Freiheit, 131; zur Frage der theologischen Begründung von Menschenrechten vgl. Wolfgang Vögele: Menschenwürde zwischen Recht und Theologie; Otfried Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 243 f.; Hans Heimerl: Menschenrechte, Christenrechte und ihr Schutz in der Kirche, 29: „Menschenrechte und Grundrechte des Christen sind im kirchlichen Bereich nicht voneinander zu trennen. Der Mensch in der Kirche bleibt ja Mensch, seine Person wird von der Kirche anerkannt; aber sie wird neu begründet und in eine neue Sphäre erhoben“; Paul VI.: Brief an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, 674; Paul VI.: Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen Kurt Waldheim, in: AAS 64 (1972), 215: Da der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, fühle sich die Kirche selbst verletzt, wenn die Menschenrechte missachtet werden; Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 212 f. 447 Vgl. Hans F. Zacher: Grundrechte als Sache der Welt und als Sache der Kirche, 340. 448 Dieser Erkenntnis liegt durchaus ein steiniger und langer Weg des Verhältnisses von Kirche und Menschenrechten voraus – vgl. dazu die schematische Übersicht bei Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 640–642; Judith Hahn: Wie-
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit189
darauf, dass die Kirche aus „eigener Erfahrung“ wisse, „daß ihr Einsatz für die Förderung der Menschenrechte eine ständige Selbstprüfung und Reinigung ihres eigenen Lebens, ihrer Gesetze, Institutionen und Planungen“ verlange449. Daraus ergeben sich die Fragen, welche Rechte und Freiheiten damit im Konkreten angesprochen sein könnten450 und welche Möglichkeiten ihrer tatbestandlichen Verwirklichung es gegebenenfalls innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung gibt. 2. Die kontextuelle Prägung der Menschenrechte Zunächst sei nochmals hervorgehoben, dass weder Staat noch Kirche Schöpfer oder Vermittler der Menschenrechte sind451. Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage, „wer denn nun eigentlich dazu legitimiert ist, Rechtssätze, die sich auf vorstaatliche [– und man müsste in diesem Zusammenhang auch hinzufügen ‚vorkirchliche‘ –] Prinzipien stützen, inhaltlich festzulegen und verbindlich zu interpretieren“452. Fakt ist, dass sowohl Staat als auch Kirche verpflichtet sind, Menschenrechte anzuerkennen und zu schützen453. Die heute international anerkannten Kataloge von Menschenrechten sind in ihrer konkreten Ausgestaltung Ergebnis eines längeren und meist spezifisch-kontextuellen Kräfteringens454. In den allermeisten Fällen wurden sie aus dem Gegenüber von staatlicher Gewalt und Bürger etabliert. Es ist daher viel an Recht verträgt die Kirche, 89–96: Hahn verweist auf die „Proliberalität als theologische Kategorie“. 449 Paul VI.: Gemeinsame Botschaft des Papstes und der Synode über Menschenrechte und Versöhnung, 357; vgl. dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde: Zur Eröffnung, 11; Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 639–665, hier insb. die Literaturauflistung in Fn. 1; Otfried Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 246 f. 450 Vgl. Jean Beyer: De iuribus humanis fundamentalibus in statuto iuridico christifidelium assumendis, 29–58; Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 105 f. 451 Das gilt freilich nicht für die spezifischen Grundrechte bzw. Christenrechte – vgl. Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 401; für Daniela Müller bleibt zwischen den „beiden Größen Kirchenrecht und Menschenrecht“ hingegen eine Spannung bestehen, da es ihrer Auffassung nach „kaum möglich erscheint, Naturrecht im kirchlichen Raum als eigenständiges Recht und nicht als Teil des göttlichen Rechts zu begründen“ – Daniela Müller: Kirchenrecht und Menschenrechte, 75. 452 Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 53 f. 453 Vgl. Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 401. 454 Vgl. dazu Norbert Greinacher: Die Verantwortung der Kirche für die Verwirklichung der Menschenrechte, 17; Bronislaw Baczko: Das Erbe der Französischen Revolution; Gerhard Luf: Der Begriff der Freiheit, 123–128; Hans F. Zacher: Grundrechte als Sache der Welt und als Sache der Kirche, 328–330; Josef Isensee: Die katholische Kritik an den Menschenrechten; Aymans/Mörsdorf: KanR I, 82 ff.; Walter Kasper: Die theologische Begründung der Menschenrechte, 47–53.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
nicht weiter verwunderlich, wenn die Menschenrechte, „so wie die römische Kirche sie bejaht, sich keineswegs in allen Punkten mit den ‚Menschenrechten‘ der Tradition der Amerikanischen oder Französischen Revolution decken“455. Des Weiteren ist zu bedenken, dass Freiheitsrechte im staatlichen Kontext eine Art „vorpositiven“ Raum garantieren – sie sollen vor unangemessenem und überspanntem Eingreifen des Staates in die höchstpersönliche Sphäre des Menschen schützen. Das Christsein hingegen hat seine Wurzeln notwendigerweise in der kirchlichen Existenz456. Die Verwirklichung von Menschenrechten in der Kirche kann daher gerade nicht den Zweck haben, dem Christgläubigen eine Art „höchstpersönlichen“ bzw. „kirchenfreien“ Raum zu garantieren457. Durch die Taufe zieht der Täufling den „neuen Menschen“ an (vgl. Eph 4, 24), er wird Christ. Die christliche Berufung spart keinen Bereich des menschlichen Lebens aus. Würde nun in Bezug auf eine innerkirchliche Umsetzung der Menschenrechte die Garantie eines „kirchenfreien“ Raumes gefordert werden, dann läge einer solchen Forderung notwendigerweise die Aufspaltung bzw. Trennung von Christus und Kirche zugrunde: Christus und die Kirche müssten unter einer solchen Prärogative notwendigerweise als zwei separate Wirklichkeiten konstruiert werden, wobei die persönliche communio cum Deo als privater und vor Eingriffen durch die kirchliche Autorität schützenswürdiger Bereich betrachtet würde458. Dieser 455 Bernard Quelquejeu: Aussöhnung mit den Menschenrechten, 84; Bernard Quelquejeu meint diese Aussage aber in einem durchaus kritischen Sinn, insofern die römische Kirche bisher noch nicht in der Lage war, innerhalb ihrer eigenen Strukturen diesen Menschenrechten nur annähernd zu entsprechen. Weitaus kritischer und eine Übernahme der in der Französischen Revolution errungenen Grundrechte fordernd ist die Gründungserklärung des Komitees zur Verteidigung der Christenrechte in der Kirche vom 19. Dezember 1979, abgedruckt in: Norbert Greinacher/Inge Jens (Hrsg.): Freiheitsrechte für Christen, 39–43; vgl. dazu auch Martin Griechting: „Die Säkularisierung kommt der Kirche zu Hilfe“, 69: „Noch heute muss sich die katholische Kirche – leider zu Recht – vorhalten lassen, die Ideale der Aufklärung, mit denen sie sich erst durch das Zweite Vatikanische Konzil versöhnt hat, seien gegen sie durchgesetzt worden. Allzu vielen erscheint deshalb die katholische Kirche auch heute noch als Gegnerin der Menschenrechte.“ Gerhard Luf bezeichnet das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und der Entwicklung der neuzeitlichen Menschenrechte in Anlehnung an Karl Forster (Die Menschenrechte – aus katholischer Sicht, in: IKZ [1981], 517–525) und Hans Maier (Die Kirche und die Menschenrechte – eine Leidensgeschichte, in: IKZ [1981], 501–516) als „Leidensgeschichte“ – vgl. Gerhard Luf: Der Begriff der Freiheit, 119; Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler: Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit, 115–118. 456 Vgl. zur Kirchengliedschaft die Übersicht bei Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 83–96. 457 Vgl. Joseph Ratzinger: Theologische Prinzipienlehre, 15–27, 40–42. 458 Vgl. Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 63–67; Josef Blank: Zur theologischen Begründung von „Christenrechten“, 30 ff.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit191
Ansatz widerspricht jedoch diametral der katholischen Auffassung vom Leib Christi, der die Kirche ist (vgl. LG 8)459. In der Debatte über eine innerkirchliche Geltung von Grund- und Menschenrechten wird manchmal auf den Umstand verwiesen, dass der Christ im Gegensatz zum Staatsbürger aufgrund eines freiwilligen Entschlusses Glied der Kirche ist und diese gegebenenfalls jederzeit auch wieder verlassen könne460. Letzteres besitzt zwar in Anerkennung der äußeren Religionsfreiheit seine Richtigkeit, nicht jedoch in Bezug auf die innerkirchliche Rechtsordnung461. Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass eine direkte und lineare Übertragung der in staatlich-politischen Kontexten etablierten Menschenrechtskataloge in die kanonische Rechtsordnung nicht möglich ist, ohne das Wesen der Kirche zu verletzen. Das heißt nun nicht, dass derartige Kataloge nicht „beispielhaften Charakter“462 für einen angemessenen Umgang der Kirche mit den Menschenrechten haben können und sollen. Jedoch müssen Menschenrechte, die in die kirchliche Rechtsordnung zu integrieren sind, eine „ekklesiale“ Prägung aufweisen463. Damit beansprucht die Kirche für sich keine „Sonderbehandlung“ bzw. keinen „Sonderstatus“, sondern lediglich einen analogen Prozess, den diverse Menschenrechtskataloge in Bezug auf staatlich-politische Wirklichkeiten durchgemacht haben. Freilich muss ein solcher Prozess mit aller Redlichkeit und dem nötigen Nachdruck in Gang gesetzt werden. Die „Vorgegebenheit“ der Menschenrechte bedeutet aber sicherlich nicht, „daß ein kirchliches Gesetzbuch die Menschenrechtskataloge wiederholen muß, die bereits in staatlichen Verfassungen oder internationalen Abkommen formuliert sind … Für die (inner-)kirchliche Rechtsordnung kommt es entscheidend darauf an, daß die Menschenrechte im Hinblick auf den Heilsauftrag der Kirche bestimmt werden und einen kritischen Maßstab zur Beurteilung des kirchlichen Rechts darstellen“464, wie Peter Krämer zu Recht feststellt. 459 Vgl. Joseph Ratzinger: Weggemeinschaft des Glaubens; Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Augustins Auseinandersetzung mit der politischen Theologie Roms. 460 Vgl. Stefan Schmid: Diskussion zu den Beiträgen von G. Luf und J. Isensee, 179 f.: „Dem absoluten Anspruch der Kirche könne das Subjekt ausweichen, den staatlichen Ansprüchen dagegen nicht“. 461 Vgl. dazu die Kapitel 2. A. III. „Erkenntnisse aus der Betrachtung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im staatlichen Recht“ und 3. C. II. 5. „Unterschiedliche Normen für unterschiedliche Aspekte der Freiheit“ in dieser Arbeit. 462 Reinhild Ahlers: § 17 Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, 293; Marianne Heimbach-Steins spricht positiven Anschlussfähigkeit der Freiheitsansprüche der Moderne – Marianne Heimbach-Steins: Religionsfreiheit, 96. 463 Vgl. Reinhild Ahlers: § 17 Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, 293. 464 Peter Krämer: Kirchenrecht II, 29; Peter Krämer: Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, 235, 237; Felix Hafner/Lore-
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
3. Die Verwirklichung von Menschenrechten in der Kirche a) Defizitäre Ansätze der Verwirklichung von Menschenrechten in der Kirche Beim Versuch der Integration von Menschenrechten in die kirchliche Rechtsordnung gilt es insbesondere zwei Extreme zu vermeiden: Zum einen besteht die Gefahr einer Überbetonung des Mysteriencharakters der Kirche, welche dazu führen kann, dass der Individualschutz echter Freiheitsrechte in die communiale Kirchlichkeit der religiösen Existenz „einge schmolzen“465 wird. Zum anderen besteht – bedingt durch den Umstand, dass die kirchliche Beschäftigung mit den Menschenrechten zu einem nicht unwesentlichen Teil „von außen“ angestoßen wurde – die „Gefahr“, dass „eine verfälschte Fragestellung“ in die Rechtsordnung getragen werden könnte, „die der Kirche im Grunde völlig fremd“466 ist. Um der letztgenannten Gefahr entgegenzutreten, hat Paul Hinder eine bewusst theologische Fundierung kirchlicher Menschenrechte vorgelegt 467. Allerdings wird in seiner Konzeption der den Menschenrechten zukommende Individualschutzcharakter derart vom Bedürfnis ihrer communialen Einordnung und Prägung überformt, dass er gleichsam kollektivistisch „aufgelöst“ wird468. Es darf für die kirchliche Rechtsordnung nämlich nicht übersehen werden, dass es durchaus ein legitimes Spannungsverhältnis zwischen einzelnen Christgläubigen, aber auch zwischen Christgläubigen und der kirchlichen Autorität geben kann; gerade in solchen Spannungsverhältnissen erfüllen kirchliche Grund- und Menschenrechte eine überaus wichtige Ausgleichsfunktion. Eine Überformung des Individualschutzes durch kollektivistische tan/Spenlé heben hervor, dass Menschenrechte zwar universale Geltung beanspruchen, aber im Kontext des jeweiligen Rechtssystems ausgeformt werden müssen – vgl. Felix Hafner/Adrian Loretan/Christoph Spenlé: Naturrecht und Menschenrechte, 125; Bielefeldt weist darauf hin, dass „innerreligiöse Reformen in Richtung von mehr Liberalität“ primär von den Religionsgemeinschaften selbst abhängen – Heiner Biele feldt: Weder Kulturkampf noch Vereinnahmung, 31. 465 Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 198. 466 Ebd., 4. 467 Vgl. ebd., 217. 468 Vgl. Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 172; in diesem Zusammenhang ist natürlich der Vollzug des Glaubensaktes mitzudenken, zu dem Ratzinger sagt, dass der ursprünglichen Dialog des Glaubensbekenntnisses, das „Glaubst du – ich glaube“, zwar „seinerseits auf das ‚Wir glauben‘ “ verweise, darin aber „das Ich des ‚Ich glaube‘ nicht aufgesaugt ist“ – Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum, 82.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit193
Anliegen widerstreitet dem Grundkonzept echter kirchlicher Freiheitsrechte. Hafner weist insofern nicht ganz zu Unrecht darauf hin, dass die Berücksichtigung des Aspektes der Communio-Ekklesiologie in der Bewertung der Rechte und Pflichten der Christgläubigen zwar gut ihre kollektive Dimension zur Geltung bringe, dies aber oftmals zu Lasten einer angemessenen Berücksichtigung der „Stellung der einzelnen Gläubigen in ihrer religiösen Eigen ständigkeit“469. Vor einer Überbetonung im individualistischen Sinn hingegen schützt die Möglichkeit der kirchlichen Autorität, die „Ausübung der Grundrechte im Blick auf die kirchliche Communio näher zu bestimmen“470. Wird für die innerkirchliche Fundierung der Menschenrechte hingegen bewusst ein Ausgangspunkt außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft gewählt, dann besteht die Gefahr einer Herantragung kirchenfremder Elemente und Fragestellungen. Felix Hafner behauptet eine „Horizontal- bzw. Drittwirkung“ der im staatlichen Bereich allgemein anerkannten Grund- und Menschenrechte für die kirchliche Rechtsordnung. Anknüpfend an Gerhard Lufs These von einer „schöpferischen Transformation“471 ist sich Hafner zwar darüber im Klaren, dass staatlich etablierte Grundrechte nicht einfach „kritiklos“ bzw. „linear“ in die kirchliche Rechtsordnung übertragen werden können472, doch sei seiner Auffassung nach die rechtlich-institutionelle Verwirklichung der Communio dem Ansatz eines „dialogischen Rechts“473 verpflichtet. Der Kirche sei es daher „nicht möglich, sich im Rahmen der Horizontal-
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Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 217. Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 172; vgl. auch Alfred E. Hie rold: Inhaltliche Perspektiven des Verfassungsrechts des revidierten kirchlichen Gesetzbuches, 353. 471 Vgl. Gerhard Luf: Grundrechte im CIC, 107, 111, 115; ebd., 115 f.: „Dabei geht es in der Tat nicht darum, vorkirchliche Freiheitsrechte des Christen in einem bloß ausgrenzenden Sinn zu formulieren, sondern den auch für die kirchlichen Autoritätsverhältnisse notwendigerweise unverfügbaren Gehalt christlicher Freiheit in den institutionellen Bezügen des kirchlichen Rechts zur Geltung zu bringen. Den leitenden Bezugspunkt bildet dabei die Freiheit des Glaubens, der Annahme des Glaubens wie seiner Bewährung in der kirchlichen Gemeinschaft“; vgl. dazu auch Gerhard Luf: Autonomie des religiösen Subjekts, 323. 472 Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 223. 473 Gerhard Luf: § 4 Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, 47, 55 mit Verweis auf Dietmar Mieth: Die Spannung zwischen Recht und Moral in der katholischen Kirche, in: Concilium 32 (1996), 410–415, hier 414. Das Kirchenrecht dürfe nach Luf nicht bloß durch formale Autoritätsausübung geprägt werden, da in einem „deduktiven, durch den abstrakten naturrechtlichen Rahmen nur allgemein umschriebenen System den zur Rechtssetzung Berufenen bei der rechtlichen Konkretisierung ein großer, ihrer Dezision überlassener Entscheidungsspielraum zukommt, sodaß damit Tendenzen zu einem legalistischen Positivismus freigesetzt werden“ – ebd., 45 f. 470 Peter
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
bzw. Drittwirkung der Grundrechte einer minimalen Grundrechtsbindung zu entziehen“474. Hafner schlägt für eine „innerkirchliche Grundrechtsbegründung“ das auf dem Hegel’schen Dreischritt von These, Antithese und Synthese beruhende „Modell von Analogie und Differenz“ vor. Ein solches „dialektisches Vorgehen“ lege nahe, dass aufgrund des personal-anthropologischen Ansatzes eine Vorgegebenheit der im säkularen Rechtsbereich entwickelten Menschenrechte für die Kirche als realitas complexa anzunehmen ist 475. Der erste Schritt der Analogie sei – und darauf weist Hafner ausdrücklich hin – nicht nur als allgemeine Analogie im Rechtsbegriff selbst zu verstehen, sondern auch im Sinne einer materiellen und strukturellen zum säkularen Menschen- und Grundrechtsbegriff 476. „Vermag so der anthropologische Ansatz bezogen auf ein bestimmtes Grundrecht in erster Linie dessen Freiheitsgehalt aufzuzeigen, so gelingt es dank der ekklesiologischen Sicht vor allem, die spezifische Wahrnehmung desselben Grundrechts innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft deutlich zu machen.“477 Die Antithese formuliert Hafner dahingehend, dass den „innerkirchlichen Fundamentalrechten aufgrund der Einbindung der Gläubigen in die Communio ein spezifischer Stellenwert zugewiesen werden muss“478. Der dritte Schritt der Synthese führe schließlich dazu, dass Menschenrechte und spezifische Christenrechte zwar differenzierbar, aber letztlich nicht voneinander trennbar sind479. Felix Hafner verschweigt nun nicht das entscheidende Problem dieses Ansatzes: Die Forderung einer Einhaltung der im säkularen Bereich etablierten Grund- und Menschenrechtsstandards lässt nämlich danach fragen, worauf denn diese selbst wiederum gründen und wer darüber letztendlich Deutungshoheit hat. Das „Problem der Verknüpfung von ekklesiologischen und personalen Aspekten“ bleibt, wie Hafner selbst eingesteht, „weitgehend prekär“480. Dem Ansatz der schöpferischen Transformation liegt nämlich die 474 Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 219; vgl. dazu auch Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 99 ff. 475 Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 217 f. „Dies bedeutet zum einen, dass die Menschenrechte durch die Taufe nicht aufgegeben, sondern zugleich mit in die kirchliche Communio eingebracht werden“ – ebd., 219. 476 Vgl. ebd., 224, mit Verweis auf Gerhard Luf: Gewissen und Recht, 31. 477 Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 225; Thomas Hoeren spricht in Bezug auf das Verhältnis von anthropologischen und ekklesiologischen Begründungsmodellen von „dialektisch-interdependenten Momenten und Bezugsgrössen“ – Thomas Hoeren: Kirchen und Datenschutz, 140. 478 Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 217 f. 479 Vgl. ebd., 225. 480 Ebd., 217.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit195
zweifelhafte Vorentscheidung zugrunde, die in säkularen Kontexten etablierten Grund- und Menschenrechtsstandards als Ausgangsposition für eine kirchliche Implementierung zu wählen. Diese Vorentscheidung ist nicht nur aufgrund eines vielleicht zu optimistischen Bildes dieser neuzeitlichen Entwicklung zu hinterfragen, welche sich übrigens nicht selten gegen den „erklärten Willen“ der Kirche „vollzogen“481 hat, sondern auch aufgrund des dadurch unterstellten defizitären kirchlichen Rechtsbegriffs. Es wird der Eindruck vermittelt, dass das Kirchenrecht nur „uneigentliches“ bzw. nur „analoges“ Recht ist, solange es auf die Übernahme weltlicher Rechtsstandards verzichtet 482. Zweifelsohne ist den Ansätzen einer schöpferischen Transformation positiv anzurechnen, dass sie auf die Gefahr einer „Mystifizierung“ hinweisen, die beim Versuch einer explizit theologischen Grundlegung der Menschenrechte in der Kirche besteht. b) Die Notwendigkeit einer ekklesialen Prägung von Menschenrechten in der Kirche Auf die Frage, ob es möglich sei, „daß bestimmte Menschenrechte direkte Geltung in der Kirche beanspruchen“, antwortet Winfried Aymans, dass ihm dies „nur schwer möglich“ erscheine, „weil die Menschenrechte zwar vorkirchliches und vorstaatliches Recht darstellen, aber doch dem Staat gegenüber formuliert sind“483. Zweifelsohne hatte Aymans bei der Beantwortung dieser Frage die im säkularen Umfeld etablierten Menschenrechtskataloge vor Augen. Seine Antwort impliziert jedoch den wichtigen Schluss, dass offenbar der „Charakter von Freiheitsrechten stets bestimmt“ wird „von der Wesensart dessen, demgegenüber sie formuliert sind“484. Das „Verhältnis des Kirchengliedes zur öffentlichen Vollmacht in der Kirche, der ‚potestas sacra‘ “, ist, wie bereits angedeutet wurde, in seiner „Wurzel und deshalb auch strukturell verschieden von dem Verhältnis, das zwischen dem einzelnen Menschen und der Staatsmacht, der ‚potestas civilis‘, herrscht“485. Kirchliche Grund- und Menschenrechte sind nach Aymans im 481 Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 39; Otfried Höffe: Die Menschenrechte in der Kirche, 239 f. 482 Vgl. Ludger Müller: Kirchenrecht – analoges Recht; vgl. dazu auch in kritischer Auseinandersetzung Arturo Cattaneo: Die Erwägungen Ludger Müllers zur Analogie zwischen kanonischem und weltlichem Recht, wobei der Eindruck entsteht, dass Cattaneo und Müller im Grunde zu ähnlichen Ergebnissen kommen. 483 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 396; vgl. dazu Roman Siebenrock: Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit, 167. 484 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 403. 485 Ebd., 400.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Rahmen der „libertas sacra“, der „geistlichen Freiheit“, zu formulieren486. Der Begriff der geistlichen Freiheit intendiert einerseits eine bewusste begriffliche Abhebung von säkularen Freiheitsrechten und andererseits eine angemessene Beschreibung der kirchlichen Wirklichkeit 487. Wichtigster Inhalt der geistlichen Freiheit ist die kirchliche Sendung des Christgläubigen. So „erweist sich“ diese Freiheit „als das Gegenteil von dem, was man ‚Freiheit von der Kirche‘ nennen könnte; sie ist eine ‚Freiheit in der Kirche‘ “488, wie Aymans erklärend feststellt. Bei der Verwirklichung kirchlicher Grundund Menschenrechte kann es daher nicht um die Schaffung eines „kirchenfreien“ oder privaten Raumes gehen489. In diesem Sinne betont auch Peter Krämer, dass kirchliche „Grundrechte … nicht aus dem Beweggrund formuliert werden“ dürfen, „selbstherrlich Autonomiesphären in der Kirche abzustecken. Es geht nicht um eine übersteigerte Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Die Inanspruchnahme grundlegender Rechte muß vielmehr zur vertieften Anerkennung der brüderlichen Verbundenheit im Volk Gottes führen.“490 Die Kirche kann und muss aufgrund ihres Wesens daher eine weit engere, geistig-geistliche Bindung ihrer Normadressaten erwarten und verlangen dürfen, „zumal sie ihrem Wesen gemäss nicht – wie der freiheitlich-demokratische Staat – zu weltanschaulicher Neutralität und Nichtidentifikation verpflichtet ist“491. Daraus folgt nicht nur die Legitimität der kirchlichen Einmischung in innerste Angelegenheiten des Gläubigen, sondern sogar die Pflicht dazu, wie auch die Pflicht des Christgläubigen besteht, die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren (vgl. c. 209 CIC/1983). Die Notwendigkeit der ekklesialen Prägung von Grund- und Menschenrechten hat zudem Auswirkungen darauf, welche Freiheitsrechte überhaupt innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung verwirklicht werden können. Es bedarf „einer ekklesiologischen Schau“ bei der Übernahme und Verwirk 486 Die Kritik Hafners, dass es sich bei der Entscheidung von Aymans um einen „funktionalen Ansatz“ handle, der keinen Raum für Spannungen und Konflikte zulasse, ist fragwürdig – vgl. Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 204 f. 487 Vgl. Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 403 Fn. 36. 488 Ebd., 405. 489 Vgl. ebd., 401. 490 Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 170. 491 Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 213, mit Verweis auf Gerhard Luf: Grundrechte im CIC, 112; vgl. dazu Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 171: „In einem Staat müssen sich verschiedene und auch entgegengesetzte religiöse Überzeugungen und Weltanschauungen darstellen können. Als Glaubensgemeinschaft kann es hingegen der Kirche nicht gleichgültig sein, ob und was ihre Glieder glauben“; Gerhard Luf: Gewissen und Recht, 30; Ger hard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 966.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit197
lichung von Freiheiten und Rechtsgütern, denn es hat – auch mit Blick auf die Rechtssicherheit und die Förderung des Vertrauens in die Rechtsordnung – nur Sinn Menschenrechte in die kirchliche Rechtsordnung aufzunehmen, welche die Kirche tatsächlich zu schützen und zu garantieren imstande ist 492 und deren Schutzgüter in einem Zusammenhang mit dem Wesen der Kirche stehen. Die „natürlichen Rechte“ der Menschen sind innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung daher „unter der Bedingung“ zu integrieren, „dass sie sich nicht im Widerspruch zur eigenen Spezifität der Rechte des Christen entwickeln, und unter der Bedingung, dass sie positiv zur Verwirklichung der dem kanonischen Recht eigenen Ziele beitragen“493. c) Innerkirchliche Menschenrechte als echte Individualschutzrechte Grund- und Menschenrechte sind insbesondere als Freiheitsrechte naturgemäß weit zu interpretieren, wenngleich sie im Normalfall keine uneingeschränkte Geltung besitzen. In DH 7,2 werden – zwar mit primären Fokus auf allgemeine staatliche Rechts- und Gesellschaftsstrukturen – Grenzziehungen für die Ausübung von Rechten angeführt, die aber für die Verwirklichung innerkirchlicher Grund- und Menschenrechte durchaus beachtenswert sind: Demnach ergeben sich Einschränkungen in der Ausübung von Rechten durch das Sittengesetz, die Rechte Dritter, die Pflichten des Subjekts gegenüber sich selbst und gegenüber Dritten und schließlich durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl494. Wie c. 223 § 1 CIC/1983 zeigt, können diese Kriterien unter der Modifikation des letzten Aspektes auf die kirchliche Rechtsordnung übertragen werden. Gläubige müssen danach „bei der Ausübung ihrer Rechte sowohl als einzelne wie auch in Vereinigungen auf das Gemeinwohl der Kirche, die Rechte anderer und ihre eigenen Pflichten gegenüber anderen Rücksicht nehmen“ (c. 223 § 1 CIC/1983). Beim Kriterium der Beschränkung durch das Gemeinwohl gibt es im Hinblick auf die kirchliche Rechtsordnung eine wichtige Spezifizierung, denn das bonum commune Ecclesiae495 492 Vgl. Paul Hinder: Grundrechte in der Kirche, 227; Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 170; Johannes Neumann: Menschenrechte auch in der Kirche, 25; Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 82. 493 Eugenio Corecco: Erwägungen zum Problem der Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft, 185. 494 Vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 49. 495 Zum Begriff des bonum commune ecclesiae vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 148 ff.; ebd., 148 Fn. 20 wird zu Recht bemerkt, dass entgegen der Auslegung von Heimerl und Pree – vgl. Hans Heimerl/Helmuth Pree: Kirchenrecht, 32 – nicht einfach auf den Begriff in GS 74,1 abgestellt werden kann, da dieser nicht auf die Kirche bezogen sei und dort die Formulierung „bonum commune“ nur im übertragenen Sinn gebraucht werde; vgl. dazu auch Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 177– 183.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
kann nicht einfach mit dem staatlichen Gemeinwohlbegriff identifiziert werden. Gemäß c. 223 § 2 CIC/1983 steht es der „kirchlichen Autorität … zu, im Hinblick auf das Gemeinwohl der Kirche die Ausübung der Rechte, die den Gläubigen eigen sind, zu regeln“. Die Auslegung der Formulierung „bonum commune Ecclesiae“ ist in diesem Kontext etwas schwierig. In der Kirchenrechtsliteratur wird die Schrankenformulierung des c. 223 § 2 CIC/1983 nicht nur aufgrund ihrer Unschärfe und Unbestimmtheit kritisiert, sondern auch deshalb, weil sie dazu verleiten kann, die korporative Dimension des Communio-Gedankens496 stets dem Individuum vorzuordnen497. Dieser Eindruck wird wohl noch verstärkt, wenn das bonum commune Ecclesiae als bonum communionis498 gedeutet wird. Bei der Auslegung des Begriffs bonum commune Ecclesiae ist zu beachten, dass – im Gegensatz zur staatlichen Gemeinschaft der Bürger – die kirchliche „Communio nicht dem einzelnen Gläubigen gleichsam zusätzliche, nämlich die gemeinschaftliche Dimension seiner religiösen Anlage“ eröffnet, sondern die Teilhabe an ihr vielmehr condicio qua non der christlichen Existenz ist. „Erste Berufung und damit erstes Recht und erste Aufgabe des Gläubigen ist es, die Communio mitzukonstituieren“, welche die „gesamte religiöse Existenz“ des Christgläubigen umfasst 499. Libero Gerosa weist in Anschluss auf Correco darauf hin, dass mit dem Terminus bonum commune Ecclesiae als sozialphilosophischem Begriff die Unterscheidung zwischen bonum privatum und bonum publicum, „die jedem Rechtssystem römischrechtlichen Ursprungs zu eigen ist“, vom System des IPE einfach auf die kirchliche Rechtsordnung übertragen wurde, ohne die genaue Bedeutung zu beachten. Der Kirche sei aber diese Unterscheidung des „Öffentlichen“ vom „Privaten“ fremd, zumindest in der Weise, wie es in staatlichen Systemen der Fall ist – vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 59 f.; vgl. dazu Eugenio Corecco: Theologie des Kirchenrechts. Methodologische Ansätze, 87 f. 496 Zum Communio-Begriff vgl. Oskar Saier: „Communio“ in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils; Winfried Aymans: Art. „Communio“; Winfried Ay mans: „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ in der Communio-Struktur der Kirche; Lud ger Müller: Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre; Reinhild Ahlers: Communio Eucharistica – Communio Ecclesiastica. 497 Vgl. Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 250; Gerhard Luf spricht von „Blankoschecks für künftige Beschränkungen“ – vgl. Ger hard Luf: Die Autonomie des religiösen Subjekts, 343. 498 Vgl. Winfried Aymans: Lex Canonica, 352; ebd., 349: „Einzelwohl und Gemeinwohl können zwar unterschieden werden, laufen aber im Prinzip auf dasselbe hinaus: auf das Leben (in) der Communio“; vgl. dazu auch die Ausführungen im Kapitel 2. C. III. 1. b) „Die communiale Ausrichtung des kirchlichen Gesetzes“ in dieser Arbeit. 499 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 149. Die theologische Begründung dafür liegt im Verständnis der Communio als „Volk Gottes“ – vgl. LG 9,1; vgl. dazu auch die Ausführungen von Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 191–213.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit199
Doch kann das Einzelinteresse des Individuums durchaus legitim im Widerstreit mit gemeinschaftlichen Interessen der kirchlichen Communio stehen. Das „Einzelinteresse erscheint hier in Gestalt der Ausübungsweise der den einzelnen zustehenden Rechte, das Gesamtinteresse in Gestalt der Regelungsaufgabe der Autorität, die hierfür zwar nicht allein einzutreten hat, wohl aber kraft Amtes darauf verpflichtet ist und allein das notwendige verbindlich anordnen kann. Dies hat auf das möglichst wirkungsvolle Leben der Communio hin zu geschehen und dient so zugleich dem Einzelwohl.“500 Die Beschränkung eines Rechts zugunsten des bonum commune Ecclesiae kann daher nicht bedeuten, dass automatisch und notwendigerweise die individuellen Interessen zugunsten der korporativen zurückgestellt werden. Ziel des bonum commune Ecclesiae ist die möglichst wirksame Verwirklichung der kirchlichen Sendung. Der Maßstab, nach dem zu handeln ist, ist die „Gerechtigkeit Christi“501. Eine Einschränkung unter diesen Vorzeichen kann daher auch bedeuten, dass Individualinteressen gestärkt und durchgesetzt werden, wenn dies zur Förderung der kirchlichen Sendung dienlich ist502. Eine Einschränkung zugunsten des bonum commune Ecclesiae bedeutet demnach nicht zwangsläufig eine Beschränkung der individuellen Grundund Freiheitsrechte. Zudem ist die Rechtsgüterabwägung ein essentielles Instrument der Verhältnisbestimmung und des Ausgleichs im Bereich der Grund- und Menschenrechte. Im Zuge eines solchen Abwägungsprozesses spielt das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine wichtige Rolle. Dieses Prinzip besagt unter anderem, dass kein Grund- und Menschenrecht über die notwendige Gebühr eingeschränkt werden darf 503. Die Grenze der Einschränkung wird dort überschritten, wo der „Kerngehalt“ eines Rechts völlig negiert wird. Eine „zum nudum ius devastierende“ Beschneidung ist im Rahmen einer solchen Abwägung daher unzulässig, wie Helmut Schnizer hervorhebt504. Dieses Grundprinzip enthält einen materiellen und einen formalen Aspekt: In mate rieller Hinsicht kann eine Beschränkung im Zuge einer Rechtsgüterabwägung oder einer Einschränkung zugunsten des bonum commune Ecclesiae niemals so ausfallen, dass es zu einer ungerechtfertigten Unterordnung oder gar Auflösung der Individualrechtsgüter unter gemeinschaftliche Interessen kommt505. 500 Aymans/Mörsdorf:
KanR I, 150 f. 151. 502 Vgl. dazu die Ausführungen von Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz. 503 Vgl. Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 252. 504 Vgl. Helmut Schnizer: Individuelle und gemeinschaftliche Verwirklichung der Grundrechte, 432. 505 Vgl. Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 172. Krämer spricht von einer „kollektivistischen“ Auflösung im Gegensatz zur „individualistischen“. 501 Ebd.,
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Der „personale Charakter der Fundamentalrechte“ verbietet es nämlich, „dass die Interessen und Rechte der Individuen völlig den Ansprüchen der kirch lichen Gemeinschaft geopfert werden müssen“506, wie Krämer feststellt. In formaler Hinsicht enthält dieses Grundprinzip eine Selbstbeschränkung der kirchlichen Autorität auf jene Mittel, welche die personale Würde des Rechtssubjekts bzw. die Christenwürde respektieren und wahren507. Kirchliche Freiheitsrechte sind daher im Sinne echter Individualschutzrechte zu gestalten, die nicht in die gemeinschaftlichen Interessen der kirchlichen communio hinein aufgelöst werden dürfen508. Dem einzelnen Gläu bigen muss es anhand dieser Freiheitsrechte möglich sein, sich bspw. vor unrechtmäßigen Zwangsmitteln im innersten Bereich seiner christlichen Existenz – wie dem Gewissensbereich – rechtlich zu schützen509.
VI. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit als kirchliches Grundrecht Es wäre sicher vermessen zu sagen, das Gewissen spiele im geltenden Kirchenrecht jene Rolle, die seinem Stellenwert in der christlichen Tradition insgesamt entsprechen würde. Schon aufgrund der bereits schlaglichtartig dargestellten historischen Entwicklung der Gewissensfreiheit510 als Menschenrecht fällt es der Kirche bis heute schwer, diesem die gebührende und angemessene Geltung im innerkirchlichen Bereich zukommen zu lassen. Pree betont, dass der kirchliche Gesetzgeber dennoch aufgerufen ist, „seinen objektiven sittlichen Gestaltungsauftrag mit dem größtmöglichen Respekt 506 Thomas Hoeren: Kirchen und Datenschutz, 168; vgl. auch Felix Hafner: Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, 252; vgl. hingegen Sobański, der davon ausgeht, dass im Christentum „die Antinomie zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft schon im Begriff der Person in der Kirche überwunden“ werde – Remigiusz Sobański: Rechtstheologische Vorüberlegungen zum neuen kirchlichen Gesetzbuch, 187 f. 507 Vgl. Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 403: „Dabei stehen nicht jene Freiheiten zur Debatte, die von den Menschenrechten her zu fordern sind; in dieser Hinsicht sind die Gläubigen schon frei, solange die Kirche es tatsächlich unterläßt, ihren geistlichen Anspruch mit kirchenfremden Zwangsmitteln durchzusetzen.“ 508 Vgl. dazu Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 172. 509 Wie sehr Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit Grundbedingungen für weitere Grundfreiheiten sind – vgl. Josef Bordat: Das Gewissen, 194 und die dortigen Literaturangaben. 510 Vgl. dazu Josef Römelt: Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in seiner ethischen Bedeutung, 35–37, der die Entwicklung in der theologischen Perzeption der Gewissensfreiheit anhand der verschiedenen Auflagen des Lexikons für Theologie und Kirche (1932–1995) nachzeichnet.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit201
vor dem Gewissen des Einzelnen zu harmonisieren“, da Recht und Sittlichkeit ja keineswegs immer „deckungsgleich ineinander“511 fallen. Der Auftrag des kirchlichen Gesetzgebers muss es insofern sein, das Recht möglichst so zu gestalten, dass die beiden Bereiche „konvergieren“, worin Pree „eine bleibende Vorbildfunktion kirchlichen Rechts gegenüber staatlichem“512 sieht. Und dennoch kann es zu legitimen Momenten der „Divergenz“ kommen; vor allem in diesen Situationen ist der Schutz des persönlichen Gewissens besonders wichtig. Im folgenden Abschnitt wird dargelegt, welche Ausprägung das Menschenrecht auf die Gewissensfreiheit als kirchliches Grundrecht haben könnte. Dabei wird Krämers Gliederung nach dem „Ursprung, dem Träger und dem Gegenstand des Rechts“513 zugrunde gelegt. 1. Ursprung des Rechts „Zusammen mit der Religionsfreiheit, von der sie sich seit den Konfes sionskriegen des 16. Jahrhunderts und der neuzeitlichen Aufklärung schrittweise ablöst, bildet die Gewissensfreiheit das ethische Fundament des modernen demokratischen Rechtsstaates. Ihre moralische Ankerkennung und rechtlich-politische Absicherung stellen den Beginn der Freiheit des Individuums dar, der das Prinzip der staatlichen Nichteinmischung in die inneren Überzeugungen seiner Bürger korrespondiert.“514 In den Äußerungen des kirchlichen Lehramts wurde die Gewissensfreiheit im Sinne eines zu gewährleistenden Grund- und Menschenrechts bis ins 19. Jahrhundert explizit abgelehnt515. Nach einer äußerst „bedingten Zulassung der Gewissensfreiheit“ unter Leo XIII. (vgl. Libertas praestantissimum), die keinesfalls ihre grundsätzliche Anerkennung bedeutete516, rang sich das kirchliche Lehramt auf dem II. Vatikanischen Konzil zur einer grundsätzlichen Bestätigung der Freiheit des Gewissens als eines in der Würde des Menschen und im „vorbildlichen“ Handeln des Gottmenschen Jesus Christus begründeten Rechts durch517. Die positive 511 Vgl. dazu das Kapitel 3. B. II. „Das Verhältnis von Recht und Moral“ in dieser Arbeit. 512 Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 33 f.; Konrad Hilpert spricht von der „konsequenten Anerkennung der Überzeugungsstruktur des Glaubensaktes“ – vgl. Konrad Hilpert: Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität, 123. 513 Peter Krämer: Das Recht auf religiöse Freiheit und seine Relevanz für die innerkirchliche Rechtsordnung, 138. 514 Walter Kasper: Art. „Gewissensfreiheit“, 628. 515 Vgl. dazu das Kapitel 3. A. IV. „Die Krise des Gewissensbegriffs“ in dieser Arbeit. 516 Walter Kasper: Art. „Gewissensfreiheit“, 629. 517 Vgl. dazu die Kapitel 3. A. V. „Der Gewissensbegriff zur Zeit des Zweiten Vatikanums“ und 3. D. „Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit“ in dieser Arbeit.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Rezeption der Gewissensfreiheit wurde dabei wesentlich durch die Erneuerung des Kirchenbildes ermöglicht. Über die innerkirchliche Bedeutung dieses Freiheitsrechts herrscht allerdings nach wie vor Unklarheit. 2. Träger des Rechts Die Freiheit des Gewissens wird weder verliehen noch ist sie verlierbar. Träger des Menschenrechts auf Gewissensfreiheit ist jede menschliche Person518. Wenn in DH 4 davon ausgegangen wird, dass die Freiheit in religiösen Dingen auch in Gemeinschaft handelnden Menschen zu gewähren ist, dann gilt diese Aussage im Hinblick auf die Religionsfreiheit519, nicht jedoch für das spezifische Recht auf Gewissensfreiheit, denn ein Gewissensurteil ist naturgemäß ein höchstpersönlicher Akt – ein „kollektives“ Gewissen kann es per definitionem nicht geben520. 3. Sachlicher Schutzbereich Die Gewissensfreiheit ist in ihrem innersten Kern, wie in DH 2,1 klar zum Ausdruck kommt, zunächst ein Abwehrrecht zur Gewährleistung der „inneren Gewissensfreiheit“, d. h. der notwendigen Freiheit zur Bildung eines Gewissensurteils unter Ausschluss bzw. Abwesenheit von Zwang521. „DH macht so deutlich, dass die Gewissensfreiheit notwendige Voraussetzung für einen echten Glaubensvollzug ist.“522 „Zwang“ stellt in diesem Zusammenhang jede von außen kommende physische, psychische oder geistliche Zwangsgewalt dar523.
Pietro Pavan: Das Recht auf Religionsfreiheit, 586 f. DH 4: „Die Freiheit als Freisein vom Zwang in religiösen Dingen, die den Einzelnen zukommt, muß ihnen auch zuerkannt werden, wenn sie in Gemeinschaft handeln. Denn die Sozialnatur des Menschen wie auch der Religion selbst verlangt religiöse Gemeinschaften“; vgl. dazu Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 175–177; Stephan Haering: Kirche und Staat in der Sicht des Konzils und im CIC, 86–88, 92–94. 520 Vgl. Adam Weyer: Art. „Gewissen IV“, 225 ff.; Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 157; vgl. dazu auch BVerwGE 64, 199; Reinhold Zippelius: Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext staatlicher Ordnung, 65. 521 Vgl. die Ausführungen von Dieter Witschen: Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 482 f., wobei hier fälschlicherweise das forum internum mit dem Gewissensbereich identifiziert wird. 522 Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 47. 523 Vgl. Peter Krämer: Das Recht auf religiöse Freiheit und seine Relevanz für die innerkirchliche Rechtsordnung, 140 f.; Peter Krämer: Religionsfreiheit und Absolut518 Vgl. 519 Vgl.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit203
Über diese Abwehrfunktion hinaus garantiert dieses Grundrecht die Freiheit des Handelns bzw. Unterlassens gemäß dem individuellen Gewissensurteil. In GS 16 und 26 wird nicht nur das Recht, sondern sogar die moralische Pflicht des Menschen dargelegt, dem Gewissensurteil Folge zu leisten. Die Freiheit zum Handeln bzw. Unterlassen gemäß dem eigenen Gewissensurteil kann mit dem Terminus „äußere Gewissensfreiheit“ beschrieben werden. Der Schutzbereich der äußeren Gewissensfreiheit umfasst jedoch nicht nur die Gewährleistung zu gewissensbedingten Handlungen, sondern die grundsätzliche Freiheit, dem eigenen Gewissen zu folgen oder auch nicht (vgl. DH 3)524. Während die innere Gewissensfreiheit ohne jede Einschränkung zu garantieren und condicio sine qua non ihrer „äußeren“ Kehrseite ist, unterliegt die äußere Gewissensfreiheit Schranken. DH 2 erwähnt in diesem Zusammenhang das Handeln „innerhalb der gebührenden Grenzen“. In weiterer Folge wird nun der innere und äußere Schutzbereich der Gewissensfreiheit im innerkirchlichen Kontext näher untersucht: a) Der sachliche Schutzbereich der inneren Gewissensfreiheit In der Grund- und Menschenrechtsdoktrin wird die Möglichkeit, ein Gewissensurteil ohne äußeren Zwang bilden zu können, gemeinhin mit „innerer Gewissensfreiheit“ bezeichnet. Dieses Recht entfaltet seine Wirksamkeit im „inneren“ Bereich des Menschen. Damit wird dieses Freiheitsrecht zugleich „negativ“ bestimmt, d. h. als eine „Freiheit von“. Insofern wäre ebenso der Terminus „negative Gewissensfreiheit“ durchaus möglich. Die „Freiheit von“ betrifft im Fall der Gewissensfreiheit insbesondere alle Mittel des Zwangs und ist von jeder menschlichen Autorität einzuhalten525. heitsanspruch der Religionen, 36 f.; Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 119–123. In c. 748 § 2 CIC/1983 ist jedoch nicht von vis die Rede, sondern von coactio. Anzumerken ist hierzu, dass der Begriff coactio nicht auf eine bestimmte Art von Zwang (wie Rechtszwang, direkter oder indirekter Zwang, äußerer oder innerer Zwang) abstellt, sondern jede Form von Zwang erfasst. 524 Vgl. Pietro Pavan: Das Recht auf Religionsfreiheit, 586. 525 Vgl. Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Reli gionsfreiheit, 715; Die deutsche Übersetzung mit „zwanghaft“ ist zwar unglücklich, dennoch ist klar, was gemeint ist: Freisein von auferlegtem Zwang im religiösen Bereich; vgl. ebenso Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Reli gionsfreiheit, 171; Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/7, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992): „Die Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht durch das 2. Vatikanische Konzil hat der Kirche die Möglichkeit und die Verpflichtung genommen, einen Menschen mit geistlichen Mitteln zur Bewahrung des Glaubens oder Gemeinschaft mit der Kirche (communio fidei, communio fidelium) zu zwingen.“
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
Die innere Freiheit des Gewissens wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass kirchliche Rechtsnormen direkt das Gewissen der Rechtsadressaten ansprechen bzw. es moralisch verpflichten526. Wie schon mehrmals angeklungen ist, gehört es aufgrund ihres Sendungsauftrages „geradezu zum Wesen der Kirche, sich in die religiöse Sphäre des Menschen einzumischen“527. Insofern ist eine etwaige Forderung, dass das Recht sich nicht an das Gewissen zu wenden habe, unangemessen und sinnlos, „denn entweder steht dies nicht im Verfügen des Gesetzgebers oder das Gesetz bzw. die Gewohnheit ist gerecht und stellt somit zugleich eine sittliche Norm für das Gewissen dar“528. Die in c. 748 § 1 CIC/1983 genannte Pflicht aller Menschen, „in den Fragen, die Gott und seine Kirche betreffen, die Wahrheit zu suchen“ und „kraft göttlichen Gesetzes die Pflicht und das Recht, die erkannte Wahrheit anzunehmen und zu bewahren“, ist im Wesentlichen eine Konsequenz dieser Tatsache. Der gemeinsame Glaube ist Fundament und Basis der kirchlichen Communio. Der Glaube des einzelnen Christgläubigen ist nicht beliebig, denn dieser ist mit der Aufnahme in die Kirche „in seinem persönlichen Glaubensbekenntnis an die sogenannte ‚fides divina et catholica‘ gebunden“ und deshalb verpflichtet, „mit personaler Zustimmung“ daran festzuhalten529. Die innere Gewissensfreiheit ist unbeschränkt zu gewährleisten. Da aber c. 748 § 1 CIC/1983 alle Menschen zur Wahrheitssuche und zum Festhalten an der erkannten Wahrheit verpflichtet, stellt sich die Frage, ob die innere Gewissensfreiheit durch diesen Canon nicht doch in einem rechtlichen Sinn eingeschränkt wird. „Soll auf diese Art und Weise versucht werden, den Glaubensakt rechtlich verbindlich zu machen“, fragt Ludger Müller. „Kann es überhaupt rechtlich geboten werden, die Wahrheit über Gott und seine Kirche zu suchen, anzunehmen und zu bewahren? Oder handelt es sich hier um eine Überschreitung des Kompetenzbereichs der Rechtsordnung?“530 526 Vgl. Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 134–140; vgl. hierzu auch Ger hard Luf: Gewissen und Recht, 22: Das Gewissen steht zum Recht in zweifacher Hinsicht in einem dialektischen Verhältnis: Einerseits durch „die Nichteinholbarkeit des Gewissens, welches alle normativen Vorgaben, so auch des Rechts, notwendig transzendiert“ und andererseits „durch die gleichwohl bestehende Notwendigkeit, Gewissen im Recht geschichtlich-institutionell, wenngleich immer nur kontingent und nicht abschließend zu vermitteln“. Ausdrücklich weist auch Helmuth Pree darauf hin, dass keineswegs das „Gewissen schlechthin, insbesondere nicht das Gewissensurteil als solches dem Recht untergeordnet ist“ – Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 28. 527 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 397; vgl. dazu auch Helmuth Pree: § 13 Die Ausübung der Leitungsgewalt, 208. 528 Jan Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung, 167. 529 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 240, mit Verweis auf DH 3. 530 Ludger Müller: Zum Glauben verpflichtet, 389.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit205
Im Schrifttum werden dazu unterschiedliche – meist eher vage – Aussagen gemacht, wenngleich mehrheitlich die Vermutung geäußert wird, dass es sich nicht um eine rechtliche Pflicht im strengen Sinne, sondern um eine sittliche handelt531. Einige Autoren hingegen sprechen den Pflichten aus c. 748 § 1 CIC/1983 durchaus eine gewisse „rechtlich verbindliche Kraft“532 zu. Müller benennt zur Beurteilung dieses Problems vier Kriterien echter Rechtspflichten: die Interpersonalität, die äußere Feststellbarkeit, die volle Erfüllbarkeit und die Judiziabilität533. Anhand dieser vier Kriterien wird einsichtig, dass es sich im Fall von c. 748 § 1 CIC/1983 – trotz der Qualifizierung als göttliches Gebot534 – „nur“ um eine „metaphysische oder logische oder moralische“535 Verpflichtung handeln kann, nicht aber um eine rechtliche Beschränkung der inneren Gewissensfreiheit. Zwar zeigt DH 1,3, dass die Pflicht zur Suche, Annahme und Bewahrung des Glaubens das Gewissen „berühren und binden“ kann, dennoch ist es nicht möglich, „den Glaubensakt“ als Rechtspflicht zu statuieren536. Dasselbe, was für den Glaubensakt in c. 748 § 1 CIC/1983 gilt, muss naturgemäß ebenso für den Gewissensakt an sich gelten: Er kann nicht rechtlich vorgeschrieben werden – die Aufforderung, stets seinem Gewissen zu folgen, ist daher ein Anspruch des sittlichen Sollens, der im göttlichen Recht seinen Ursprung hat. Festzuhalten ist daher erstens, dass offenbar „nicht alle Pflichten, die göttlichen Rechts sind“, im strengen Sinne „Rechtspflichten darstellen“537. Zwei531 Eine ausführliche Darstellung der kirchenrechtlichen Positionen zu c. 748 § 1 CIC/1983 ist zu finden bei Ludger Müller: Zum Glauben verpflichtet, 390–392. 532 So sieht bspw. Reinhardt durch die Verwendung des Ausdrucks „vi legis divi nae“ in c. 748 § 1 CIC/1983 mehr als eine nur sittliche Verpflichtung festgehalten – vgl. Heinrich J. F. Reinhardt: Religionsfreiheit aus kanonistischer Sicht, 185; vgl. auch Libero Gerosa: Das Recht in der Kirche, 133; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 240 – vgl. hingegen Gerosas Anerkennung des Kriterienkatalogs von Ludger Müller für „ juristische Pflichten“ – Libero Gerosa: Mitbürger der Heiligen, 54. 533 Vgl. Ludger Müller: Zum Glauben verpflichtet, 397–402; vgl. auch Ludger Müller: Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht, 287–336; Ludger Müller: Streben nach Heiligkeit, 473–476; Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht, 15; Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz. 534 Das heißt, dass göttliches Recht nicht immer in menschliches Recht transformierbar ist – vgl. Ludger Müller: Zum Glauben verpflichtet, 403. 535 Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 716. Vgl. Peter Krämer: Kirchenrecht I, 39; Peter Krämer: Religionsfreiheit in der Kirche, 39 Fn. 124; Gerhard Luf: § 66 Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, 969. Gegenteiliger Ansicht ist bspw. Norbert Lüdecke: Die Grundnormen des katholischen Lehrrechts, 224. 536 Vgl. auch die Auslegung von c. 1322 § 2 CIC/1917 – siehe Ludger Müller: Zum Glauben verpflichtet, 396. 537 Ludger Müller: Zum Glauben verpflichtet, 403.
206
Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
tens wird ersichtlich, dass kirchliche Rechtsnormen das Gewissen zwar sittlich, aber nie im rechtlichen Sinn zu verpflichten vermögen, da die erkannte Wahrheit „mit personaler Zustimmung“ festgehalten werden muss (vgl. DH 3). Wenn es gerade im Interesse der kirchlichen Rechtsordnung sein muss, eine möglichst flächendeckende Annahme der durch ihre Normen geschützten Rechtsgüter und Werte im Gewissen der Rechtsadressaten zu erreichen, so darf sie dies rechtlich nicht „erzwingen“, sondern ist auf die freie Zustimmung und Annahme im Gewissen angewiesen. Zwang, der ausgeübt wird, damit Christgläubige ihren Glauben gegen ihr Gewissen bewahren oder öffentlich bekennen, ist unvereinbar mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit538. Die „Einmischung“ des kirchlichen Lehramts in das individuelle Gewissen der Gläubigen ist hingegen erlaubt und sogar notwendig539, nicht aber mit Mitteln des Zwangs (vgl. c. 748 § 2 CIC/1983). Für die Kirche bedeutet dies eine „Selbstbindung an die Mittel des geistlichen Rechtes“540. Zusammenfassend lässt sich für den Schutzbereich der „inneren“ bzw. „negativen“ Gewissensfreiheit feststellen: Jeder Mensch ist aufgerufen, sein Gewissen stets zu schärfen und zu bilden. Katholiken sind insbesondere durch göttliches Recht moralisch dazu verpflichtet, dies anhand der Lehre der katholischen Kirche zu tun. Die sittliche Verpflichtung des Gewissens durch das objektive Gesetz und die Einmischung und Prägung seitens des kirchlichen Lehramtes stellen keine Beeinträchtigung der inneren bzw. negativen Gewissensfreiheit dar, solange sie nicht durch Zwang bzw. – allgemeiner formuliert – Mittel durchgesetzt werden, die dem Wesen des geistlichen Rechts bzw. dem Evangelium widersprechen. Die innere Gewissensfreiheit ist unverlierbar und auch jenen Menschen zu gewährleisten, die der Pflicht zur Gewissensbildung oder „ihrer Pflicht, an der Wahrheit festzuhalten, nicht nachkommen“541.
538 Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 133; Heribert Schmitz: Glaubens- und Bekenntnispflicht, 439; Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 399; Peter Krämer: Religionsfreiheit in der Kirche, 28. 539 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Art. „Gewissensfreiheit“, 629. 540 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 397 f., mit Verweis auf DH 12,1. 541 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 399; vgl. dazu auch Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 171; Hubert Müller: Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung, 466.
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit207
b) Der sachliche Schutzbereich der äußeren Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit ist ebenso „positiv“ im Sinne einer „Freiheit zu“ zu definieren. Im kirchlichen Kontext geht es konkret um die „Freiheit zur Glaubensbetätigung in Treue zum eigenen Gewissen“542 sowie um die grundsätzliche Freiheit, dem subjektiven Gewissensurteil zu folgen oder auch nicht. In GS 26 (vgl. auch GS 16) wird im Zuge der unverletzlichen Rechte und Pflichten, die dem Menschen aufgrund seiner Würde zukommen, das Recht „ad agendum iuxta rectam suae conscientiae normam“ erwähnt, also das Recht zum Handeln nach der rechten Norm seines Gewissens. Pietro Pavan äußert im Kommentar zu DH jedoch die Ansicht, dass sich das Recht auf religiöse Freiheit nicht auf den „Inhalt der religiösen Glaubenswahrheit“ beziehen könne, da das „Objekt jedes beliebigen Rechtes nur etwas Gutes sein“ könne „oder mindestens etwas sittlich Gleichgültiges, das sich auf etwas Gutes hinlenken“543 lasse. Mit dieser Argumentation zieht er eine Verbindungslinie zur Aussage von Pius XII. (Ansprache vom 6. Dezember 1953544), dass einem der sittlichen Wahrheit widersprechender Irrtum kein Recht zugebilligt werden könne. Pavan gibt zwar weiters zu bedenken, dass Träger eines solchen Freiheitsrechts nur eine Person sein könne, nicht Größen wie die Wahrheit oder der Irrtum. Dennoch ist unverständlich, warum die Schutzwürdigkeit des Gewissens an der sittlichen Qualität jener Überzeugung gemessen werden soll, welche durch das Gewissensurteil zum Ausdruck gebracht wird. Denn das Schutzobjekt der Gewissensfreiheit ist die Würde des Gewissens an sich, welche unverlierbar ist, selbst wenn es in wesentlichen Fragen des Glaubens oder der Sitten irren sollte, wie GS 16 festhält. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Kirche mit der Anerkennung der Gewissensfreiheit den Irrtum und die Folgen eines solchen Irrtums dulden oder gar fördern müsste. In DH 3 (vgl. auch DH 2) wird auf das Verbot hingewiesen, einen Menschen dazu zu zwingen, „gegen sein Gewissen zu handeln“. Der Mensch darf weder gehindert noch darf er gezwungen werden, „gemäß seinem Gewissen zu handeln, besonders im Bereiche der Religion. Denn die Verwirklichung und Ausübung der Religion besteht ihrem Wesen nach vor allem in inneren, willentlichen und freien Akten, durch die sich der Mensch unmittelbar auf Gott hinordnet; Akte dieser Art können von einer rein menschlichen Gewalt 542 Eberhard
Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam, 7. Pietro Pavan: Das Recht auf Religionsfreiheit, 586; Pietro Pavan: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, 715 f. 544 Vgl. Pius XII.: Ansprache vom 6. Dezember 1953 an den katholischen Juristenverband Italiens, in: AAS 45 (1953), 794–802, hier insb. 799. 543 Vgl.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
weder befohlen noch verhindert werden. Die Sozialnatur des Menschen erfordert aber, dass der Mensch innere Akte der Religion nach außen zum Ausdruck bringt, mit anderen in religiösen Dingen in Gemeinschaft steht und seine Religion gemeinschaftlich bekennt“ (DH 3). Aufgrund dieser Sozial natur des Glaubens ist die äußere Gewissensfreiheit ein wesentlicher Bestandteil der innerkirchlichen Verwirklichung der Gewissensfreiheit545. Doch kann der äußere Aspekt dieser Freiheit naturgemäß nicht uneingeschränkt gewährt werden. c) Die Einschränkung der äußeren Gewissensfreiheit Es ist klar, dass keine Rechtsordnung, auch nicht die kirchliche, unter einem generellen Vorbehalt des individuellen Gewissensurteils stehen kann546, andernfalls würde sie sich „selbst aufgeben“547. Gemäß c. 223 CIC/1983 kann die Gewissensfreiheit prinzipiell durch die Rechte Dritter, durch die eigenen Pflichten gegenüber Dritten und durch das bonum commune Ecclesiae eingeschränkt sein. Anhand dieser Kriterien stehen der kirchlichen Rechtsordnung ihrem Wesen entsprechende Instrumente zur Verfügung, um im Konfliktfall eine Rechtsgüterabwägung ausführen zu können. Dass es prinzipiell zu „Spannungen“ und „Pflichtenkollisionen“548 zwischen dem Geltungsanspruch einer Rechtsnorm und der Gewissensfreiheit kommen kann, ist nicht zu verkennen. Dem Rechtsgehorsam ist in diesem Fall jedenfalls kein „automatischer“ Vorrang zuzuweisen549. 545 Vgl. Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 47 f.; Pietro Pavan: Die wesentlichen Elemente des Rechtes auf Religionsfreiheit, 172. 546 Vgl. dazu insb. Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts; ebd., 105: „Das subjektive Gewissensurteil des Einzelnen, das in einer bestimmten Frage von der rechtlichen Entscheidung durch die rechtlich zuständige Autorität abweicht, besitzt auf der rechtlichen Ebene (sowohl im forum externum als auch im forum internum) keine Wirksamkeit und vermag daher an der Rechtslage des eigenen Falles nichts zu ändern … Nur in wenigen Ausnahmefällen, z. B. in c. 1197 Var. 1 CIC, gewährt das recht dem Einzelnen die Möglichkeit, durch eigenen Willensakt auf Grund Gewissensurteils eine rechtlich relevante Änderung der Rechtslage herbeizuführen.“ 547 Vgl. Eduard Eichmann: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici II, 341. 548 Aymans spricht auch von einer „Pflichtenkollision“, wenn Rechtspflicht und sittliche Pflicht miteinander kollidieren – vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 9. 549 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 9: „Der Satz ‚Qui iure suo utitur, neminem laedit‘ gilt allein im Bereich des Rechtsverhaltens und gibt keinen Freibrief zu einer Rechtsausübung, die im Widerspruch zu sittlichen Pflichten steht.“ Vgl. dazu auch Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 232: Die „Überlegung, inwieweit der Glaubensgehorsam als Rechtsgehorsam auch von der kirchlichen Autorität erzwungen werden kann bzw. ob dessen Verweigerung Kirchen-
D. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit209
Eine Beschränkung der Gewissensfreiheit darf jedoch niemals derart geschehen, dass der wesentliche Kerngehalt dieses Freiheitsrechts, wozu sicher lich der innere bzw. negative Aspekt der Gewissensfreiheit zu zählen ist, zu einer leeren und gehaltlosen Hülse verkommt.
VII. Zusammenfassende Bemerkungen zum Grundrecht der Gewissensfreiheit in der Kirche Grund- und Menschenrechte sind „von der Wesensart dessen“ zu bestimmen, „demgegenüber sie formuliert sind“550. Innerkirchliche Freiheitsrechte müssen demnach im Hinblick auf die „geistliche Vollmacht“ in der Kirche ausgewählt und in diesem Kontext zur Entfaltung gebracht werden. Dies bedeutet für kirchliche Grund- und Menschenrechte insbesondere, dass sie nicht als Garant eines vorkirchlichen bzw. privaten Raumes interpretiert werden können. Die Gewissensfreiheit ist als echtes Menschenrecht der kirchlichen Rechtsordnung vorgegeben und zur Beobachtung aufgetragen. „Die Gewissensfreiheit ist vom Lehramt zu wiederholten Malen als das Grundrecht des Menschen erwähnt worden, in welchem sich alle anderen natürlichen und verfassungsmäßigen Rechte wiederfinden. In diesem Sinne stellt sie den Parameter für die Beziehung von Natur und Übernatur, von Vernunft und Glaube dar.“551 Christgläubige können sich unabhängig von einer Positivierung durch den Gesetzgeber auf die Gewissensfreiheit berufen552, da Normen göttlichen Rechts unmittelbare Geltung in der kirchlichen Rechtsordnung beanspruchen. Gerade weil das Gewissen, welches sich unter anderem im Glaubensakt manifestiert, eine so grundlegende Bedeutung innerhalb einer Glaubensgemeinschaft hat, führt für ihr Rechtssystem kein Weg an der angemessenen Beobachtung dieses Phänomens vorbei. Die Kirche ist daher aufgefordert, „Anwältin“ des Gewissens zu sein und sich auf Mittel bei der Anwendung und Durchsetzung ihres Rechts zu beschränken, die der Würde des Gewissens entsprechen.
strafen zur Folge hat, bestimmt – analog zum kanonischen Gehorsam – die ‚formale Struktur‘ des göttlichen Kirchenrechts überhaupt und führt gleichzeitig zur kritischen Anfrage, wie der geistliche Charakter des kanonischen Rechts gesichert werden kann.“ 550 Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 403. 551 Eugenio Corecco: Erwägungen zum Problem der Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft, 187. 552 Vgl. Winfried Aymans: Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, 398 f.
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Kap. 3: Die Gewissensfreiheit im kirchlichen Recht
In sachlicher Hinsicht kann bezüglich des Menschenrechts auf Gewissensfreiheit zwischen einem inneren und einem äußeren Aspekt differenziert werden: Die innere Gewissensfreiheit umfasst das Verbot einer äußeren Zwangseinwirkung bei der Bildung oder zur Änderung eines Gewissensurteils. Dieses Verbot umfasst jedoch nicht die Möglichkeit, ja sogar die Pflicht der Kirche, auf das Gewissen der Gläubigen erzieherisch mit angemessenen Mitteln einzuwirken. „Der Gläubige hat keinen Anspruch auf Gewissensfreiheit in dem Sinne, daß die kirchliche Gemeinschaft von ihm als Bedingung für seine Zugehörigkeit nicht ein verbindliches Verhalten im Hinblick auf das Bekenntnis verlangen könnte; aber der Christ besitzt das Recht, daß sich die Kirche in den diesbezüglichen Auseinandersetzungen jeder Form des Zwanges durch den Gebrauch von Mitteln, die ihrer Natur nach der eigenen Rechtsordnung fremd sind, enthält.“553 Die innere Gewissensfreiheit ist ohne jede Beschränkung zu gewährleisten. Der sachliche Schutzbereich der äußeren Gewissensfreiheit besteht darin, dass niemand zu gewissensbasierten Akten gezwungen oder von der Befolgung des eigenen Gewissensurteils abgehalten werden darf. Dieser äußere Aspekt der Gewissensfreiheit kann naturgemäß nicht schrankenlos garantiert werden. C. 748 § 2 CIC/1983 bildet einen Teilaspekt der äußeren Gewissensfreiheit in Form der Anerkennung der Religionsfreiheit positiv ab. Darüber hinaus ist aber ebenso von einer innerkirchlichen Wirkung der äußeren Gewissensfreiheit auszugehen. Die bedeutendsten Fragestellungen, die sich aus diesen Erkenntnissen für die Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht ableiten lassen, betreffen den Bereich des kirchlichen Sanktionsrechts. Denn die gegenwärtige Konzeption der Zensuren im CIC/1983 erweckt den Eindruck, dass eine „Besserung“ einer dahinterstehenden Überzeugung bzw. eines Glaubens durch Zwang erreicht werden soll. Wenn dies zutrifft, dann stehen sie insbesondere mit dem inneren Aspekt der Gewissensfreiheit, der ja schrankenlos zu gewährleisten ist, in Widerspruch. Die nun folgende Analyse des geltenden Sanktionsrechts nährt die Vermutung, dass der kirchliche Gesetzgeber das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit bei der Konzeption dieses kirch lichen Rechtsbereichs nicht im Blick hatte.
553 Eugenio Corecco: Erwägungen zum Problem der Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft, 187.
Kapitel 4
Das kirchliche Sanktionsrecht im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext der Rechtsfigur des Gewissenstäters I. Eröffnung der Problemstellung Schon von Anfang an stellt sich in der Kirche die Frage, ob und mit welchen Mitteln auf Fehlverhalten und Abweichungen innerhalb der kirchlichen Communio reagiert werden kann1. Sündhaftes Verhalten2 bzw. das Abweichen im Glauben beeinträchtigt nämlich nicht nur die Sphäre der individuellen Beziehung zu Gott, sondern die Gemeinschaft der Kirche selbst. Geleitet vom Bestreben, ihre Communio vor Verunreinigung des Glaubens und Verwirrung zu schützen, aber auch vom Bemühen, den „Abweichler“ durch geeignete Mittel zur Umkehr und Wiedereingliederung in die Communio zu bewegen, ringt schon die frühe Kirche um Verfahren und Maßnahmen, um angemessen auf schwerwiegendes Fehlverhalten ihrer Glieder antworten zu können. Zunächst geschieht dies in öffentlichen Bußverfahren, später aber – je mehr die Begriffe „Delikt“ und „Sünde“ voneinander abgehoben werden – in gesonderten Sanktionsverfahren. Parallel dazu entwickeln sich nach und nach explizite Besserungssanktionen bzw. Zensuren, wie es sie im Wesentlichen bis in die Gegenwart gibt. Sie sollen dem Täter vor Augen führen, dass er durch sein Verhalten die volle Gemeinschaft mit der Kirche verlassen hat und zur Umkehr aufgerufen ist. Doch stellt sich vor allem anhand der Lehräußerungen des II. Vatikanums in DH und GS die Frage, wie dieser Auftrag der Kirche, nämlich der Schutz ihres Glaubensgutes vor Verunreinigungen und die Aufforderung an den Delinquenten zur Umkehr, in Einklang zu bringen ist mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums. dazu Albin Eser: Strafrecht in Staat und Kirche, 494 f. Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 3: „Am Anfang allen kanonischen Strafrechts steht eine Grundtatsache, der Begriff der Sünde als des Gegenstandes aller Zurechnung vor Gott und der Kirche, als ein dem Recht religiös und theologisch vorgegebener Begriff“. 1 Vgl. 2 Vgl.
212
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Mit Blick auf das damals noch „neue“ Sanktionsrecht des CIC/1983 beschreibt Winfried Aymans im Jahr 1984 die Zensur nicht als einen Gewissenszwang, sondern als eine Notwendigkeit zur Wahrung der Identität der Kirche3. Franz Pototschnig hingegen kritisiert ein Jahr darauf die Konzeption der Exkommunikation gegen Apostaten, Häretiker und Schismatiker in c. 1364 CIC/1983, „weil sie das Prinzip der Gewissensfreiheit“4 verletze. Noch in seiner Habilitationsschrift widerspricht Wilhelm Rees dieser Auffassung Pototschnigs und meint: Die in c. 1364 § 1 CIC/1983 angedrohte Sanktion der Exkommunikation verletze „keineswegs“ das Prinzip Gewissensfreiheit, da die Konzilsaussage, welche die religiöse Freiheit zwar auch auf den innerkirchlichen Bereich beziehe, „nur die Forderung“ beinhalte, „daß Gläubige gegenüber der Kirche einen Rechtsanspruch haben, auch im Falle eines völligen Versagens frei zu bleiben von Zwangsmaßnahmen, die dem Geist des Evangeliums widersprechen“5. In späteren Veröffentlichungen nimmt Rees jedoch eine differenziertere Haltung zu diesem Problem ein6, bis er schließlich im Jahr 2017 in einem Beitrag zum Thema „Katholische Kirche und Menschenrechte“ die Kritik Pototschnigs zitiert, ohne ihr zu widersprechen7. 3 Vgl. Winfried Aymans: Ekklesiologische Leitlinien in den Entwürfen für die neue Gesetzgebung, 303. Ebenso keinen Konflikt mit der Gewissensfreiheit sieht bspw. Georg May: Die Kirche trete mit ihren Sanktionen der Gewissensfreiheit dem Einzelnen nicht zu nahe, denn die „Bewehrung kirchlicher Gesetze mit Sanktion ist keine Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit, sondern deren Steigerung, weil sie den Menschen zu vermehrter Sorgfalt bei der Gewinnung seines Gewissensurteils veranlaßt … Daß jemand, der unter einem unüberwindbar irrigen Gewissensspruch steht, Nachteile ertragen muss, ist kein Verstoß gegen die Gewissensfreiheit, sondern deren Konsequenz.“ Dies sei eine „Probe auf die Echtheit seiner Gewissensentscheidung“, denn die Gewissensentscheidung beinhalte, dass „ihr Träger bereit ist, nach ihr zu handeln, auch wenn dies Schaden oder Verluste für ihn mit sich bringt … Kirchliche Sanktionen bezwecken also nicht, ein Handeln gegen den (irrigen) Gewissensspruch zu erreichen, sondern sichern seine Lauterkeit.“ May erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Kirche im Gegensatz zum Staat kein Zwangsverband sei und daher dem Überzeugungstäter jederzeit das Ausscheiden bzw. das Abstandnehmen von dieser Gemeinschaft offenstehe – vgl. Georg May: Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung, 168 f. 4 Vgl. Franz Pototschnig: Zur Wandelbarkeit des unwandelbaren göttlichen Rechts, 387 Fn. 2; Franz Pototschnig: Kirchliche Rechtsentwicklung als Anpassungsprozeß, 35 ff.; Franz Pototschnig: „Persona in Ecclesia“, 290 f.; vgl. auch Heinrich J. F. Rein hardt: Ökumenische Perspektiven der katholischen Kirchenverfassung, 107 f. 5 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 428 f., mit entsprechenden Nachweisen – vgl. ebd., 429 Fn. 205; vgl. ebenso Wilhelm Rees: Strafrecht in der Kirche, 258. 6 Vgl. bspw. Wilhelm Rees: „Geh zu Jesus, er vergibt Dir“, 301; Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 56 f. 7 Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 651.
A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext des Gewissenstäters213
Die Einsicht, dass Zwang und Besserung der Überzeugung, Besserung in „Glaubensansichten“, nicht zusammenpassen, ist in der Kanonistik heute wohl unbestritten. Sehr unterschiedlich sind aber offenbar die Ansichten und Lösungsverschläge dazu, wie diese Erkenntnis mit der gegenwärtigen Ausgestaltung der Zensuren im CIC/1983 vereinbart werden kann. Traditionell wird eine Rechtsminderung, die durch eine kirchliche Sanktion herbeigeführt wird, als Zwangsmaßnahme angesehen. Auch wenn die Zwangsmittel der kirchlichen Autorität in aller Regel nicht physischer, sondern geistlicher Natur sind, können sie gegebenenfalls dennoch mit der Freiheit des Gewissens in Konflikt geraten, dies insbesondere dann, wenn sie dazu verhängt werden, um Abweichungen im Glauben zu korrigieren. Auf der anderen Seite ist die Pflicht, seinem Gewissen zu folgen, „so ernst“, wie Wilhelm Rees mit Recht hervorhebt, „daß der rechtswidrig Handelnde die Rechtsfolgen auf sich nehmen und im Extremfall sogar die Ausgliederung aus der aktiven Kirchengemeinschaft (excommunicatio) hinnehmen muß“8. Die kirchliche Autorität darf aber mit der Anwendung der Zensur „nicht die (Gewissens-)Entscheidung, die sie bei aller Sorge um das Heil des einzelnen Menschen respektieren muss“, verurteilen, „sondern die Auswirkung der seitens der einzelnen gläubigen Person getroffenen Entscheidung auf die kirchliche Gemeinschaft im Sinn der Communio“9. Die Kirche hat demnach das Recht, festzustellen (vgl. c. 1331 § 2 CIC/1983), „dass eine Person nach kirchlichem Selbstverständnis nicht mehr vollwertiges Glied dieser Gemeinschaft sein und alle Rechte, die mit der vollen Gliedschaft gegeben sind, ausüben kann. Die Kirche stellt den Straftäter also vor die Entscheidung, sein Verhalten zu ändern und damit wieder die volle Gemeinschaft zu erlangen oder gewisse Rechtsminderungen hinnehmen zu müssen. Sie kann und darf ihn dazu aber nicht zwingen.“10 Ein weiteres Problemfeld im Zusammenhang mit der Rechtsfigur des Gewissenstäters eröffnet sich bei der sanktionsrechtlichen Zurechnung eines kirchlichen Delikts, also allgemein gesprochen auf Ebene der Schuld: Voraussetzung für jede legitime Rechtsminderung, welche mit einer Sanktion verbunden ist, ist die rechtswidrige und schuldhafte Verletzung der Rechtsordnung11. Die traditionelle und herrschende Lehre innerhalb der Kanonistik geht davon aus, dass die Verwirklichung eines Delikts immer zugleich schwer sündhaft ist12. Die subjektive Sündhaftigkeit der Tat ist zwar nicht explizit 8 Wilhelm
Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 330 f. Rees: „Geh zu Jesus, er vergibt Dir“, 301. 10 Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 56 f. 11 Vgl. Alfred E. Hierold: Art. „Kirchenstrafen“, 451. 12 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 101. 9 Wilhelm
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
als Prüfungskriterium der Zurechnung normiert, dennoch wird sie offenbar implizit vorausgesetzt. Es stellt sich nun die Frage, ob der Gewissenstäter, der ja das tut, wozu die Kirche bzw. das Sittengesetz ihn mahnt, nämlich seinem subjektiven Gewissensurteil zu folgen, dennoch schwer sündhaft handelt. Gerade im Fall klassischer Glaubensdelikte wird es oft schwierig sein, die Schuld, die möglicherweise zu einem objektiven Irrtum im Gewissen geführt hat, subjektiv als schwer sündhaft und insofern delikts-begründend anzusehen. Schließlich sollen vorweg zwei Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden, die möglicherweise in Verbindung mit dem Gewissenstäter auftreten könnten: Das Menschenrecht der Gewissensfreiheit schützt nicht „den gewissensgeleiteten Irrtum“, sondern immer nur das (irrende) Gewissen selbst13. Das Gewissensurteil schützt daher nicht prinzipiell vor jeglicher Sanktion. „Der Delinquent hat es folglich nicht in der Hand, durch die bloße Berufung auf sein abweichendes Gewissen kirchliche Strafe unmöglich zu machen. Auch wenn ein Gewissensurteil Grundlage seiner Handlung war, hält dies allein die Kirche nicht davon ab, dagegen anzugehen“14. Die kirchliche Zwangsmaßnahme darf sich allerdings nicht unmittelbar auf die „Besserung“ des fehlgeleiteten Gewissensurteils richten15. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass ein entgegenstehendes subjektives Gewissensurteil den objektiven „Verbindlichkeitsanspruch“ einer Rechtsnorm nicht aufhebt16. Nach diesen Klarstellungen werden nun in den folgenden Abschnitten Annäherungen zu den eingangs genannten Problemfeldern versucht und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Dazu ist es notwendig, den Kontext des kirchlichen Sanktionsrechts in seinen Grundzügen darzustellen, um die Bedingungen deutlich zu machen, innerhalb derer sich mögliche Lösungsansätze bewegen können.
13 Ansgar 14 Ebd.
Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 4.
15 Vgl. ebd., 4, 31, 60 Fn. 236. Vgl. dazu hingegen Walter Kerber: Innerkirchliche Gewissensfreiheit, 1 f.: Kerber geht davon aus, dass die Gewissensfreiheit dann nicht beeinträchtigt werde, wenn die Sanktion aufgrund einer im Verfahren nachgewiesenen Unvereinbarkeit der Ansichten des Delinquenten mit dem „zentralen Bestand christlichen Lebens“ erfolgt. Dem ist zu entgegnen, dass es auf dieses Kriterium letztlich nicht ankommen kann, sondern darauf, ob sich eine Zwangsmaßnahme gegen das Gewissen des Betroffenen richtet oder nicht. 16 Markus Patenge: Grundrecht Gewissensfreiheit, 131.
A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext des Gewissenstäters215
II. Strafrecht oder Sanktionsrecht – eine Begriffsklärung Die erste Diskussion im Bereich des kirchlichen Sanktionsrechts setzt bereits bei der Bezeichnung dieses Rechtsbereiches ein17. So plädiert Ludger Müller in Anlehnung an Libero Gerosas Untersuchung zur Exkommunikation18 dafür, die Normen des Buches VI im CIC/1983 – abweichend von der bisherigen Tradition – nicht als „Strafrecht“, sondern mit dem Überbegriff „Sanktionsrecht“ zu bezeichnen19. Müllers Vorschlag, vom Sanktionsrecht anstatt vom Strafrecht zu sprechen, findet zunächst einen Anhaltspunkt im CIC/1983: Während das Buch V im CIC/1917 noch mit dem Titel „De delicitis et poenis“ überschrieben war, trägt das Buch VI des geltenden Codex nun den Titel „De sanctionibus in Ecclesia“20. Das Problem ist aber, dass der Begriffswechsel von „De delicitis 17 Ungeachtet dessen, dass die in c. 1311 CIC/1983 wiedergegebene Begründungsstruktur als „Relikt“ aus dem System des IPE betrachtet werden muss, ist sich die Kirchenrechtswissenschaft darüber einig, dass die Kirche über Sanktionsgewalt verfügt. Auch in den Diskussionen zur Revision des CIC wurde nie angezweifelt, dass der Kirche diese potestas fehlen könnte; der kirchliche Gesetzgeber beansprucht sie im Sinne eines ius nativum (vgl. c. 1311 CIC/1983). Wilhelm Rees hält „die programmatische Berufung auf einen originären Strafanspruch im ersten Kanon des kirchlichen Strafrechts für durchaus angebracht“ – vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 366 f.; doch fehlt es an einer theologischen Einordnung und Grundlegung der Sanktionsgewalt. Zu c. 1311 CIC/1983 vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 90 f., insb. die Literaturangaben in Fn. 21. 18 Vgl. insb. Libero Gerosa: La scomunica è una pena; Libero Gerosa zieht den Schluss, dass das kirchliche Strafrecht „ein System kanonischer Sanktionen“ sei, „das sich weder als ein eigentliches Strafrecht noch als eine ausschließliche Disziplinarrechtsordnung bezeichnen“ lasse. Sein Vorschlag ist daher, diesen Teil des Gesetzbuches mit „Sanktionsrecht“ zu überschreiben – vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und Glaubensgehorsam, 292; für Libero Gerosa ist die Exkommunikation nicht einmal eine „Strafe in einem analogen Sinn“, weil sie nicht den Zweck der Vergeltung hat – vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam: 284; vgl. dazu ebenso Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe; Libero Gerosa: Communio – Excommunicatio; Libero Gerosa: „Communio“ und „Excommunicatio“. Ludger Müller teilt diese Auffassung Gerosas zu Recht nur insoweit, als er Zensuren den Strafcharakter abspricht. Sühnestrafen qualifiziert Müller hingegen als „Strafen“ im eigentlichen Sinn – vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV insb. 78–93; Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 268. 19 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 78 f. 20 Vgl. dazu Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 334: Hierold bemerkt zu Recht, dass aufgrund dieses terminologischen Wechsels im CIC/1983 keinesfalls der Schluss gezogen werden kann, „daß die Kirche [zwar] eine innere Ordnung besitzen müsse, es aber nur schwer mit ihrer Eigenart vereinbaren ist zu strafen“, d. h. Zwang auszuüben. „Denn einerseits kommt er bereits im CIC/1917 in der Bedeutung von Strafe vor (z. B. c. 2280 § 2), andererseits ist er selbst im Strafrechtsschema von 1973 synonym mit ‚poena‘ benützt und im übrigen spricht der CIC/1983 außer an
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et poenis“ zu „De sanctionibus in Ecclesia“ im weiteren Verlauf des uches VI nicht durchgehalten wird21. Schon unmittelbar in der folgenden B Unterüberschrift zur Bezeichnung des ersten Teiles des Buches ist wieder die alte, traditionelle Bezeichnung „De delictis et poenis in genere“22 zu finden. Der Gesetzgeber lässt zwischen den beiden, scheinbar synonym verwendeten Begriffen „sanctio“ und „poena“ keine besondere Präferenz zugunsten des einen oder anderen Begriffs erkennen, geschweige denn eine inhaltliche Neuausrichtung des kirchlichen Sanktionsrechts. Die rechtssprachliche Analyse des Gesetzbuches allein legt demnach aufgrund dieses eher inhomogenen Befundes keinen zwingenden Grund für einen Begriffswechsel zur Überschreibung dieses Abschnitts nahe. Dennoch lassen sich Gründe gegen die Verwendung des Begriffs „Strafrecht“ anführen, die insbesondere im Wesen der kirchlichen Sanktionen selbst begründet sind. So weckt der Terminus Strafrecht „Assoziationen mit den Erfordernissen weltlicher Gerechtigkeit“, welche „wegen des übergeordneten Gedankens der sakramentalen Zeichenhaftigkeit der Communio“ wenig sinnvoll erscheinen23, wie auch der Begriff „Strafe“ dazu neigt, „das Typische des kirchlichen Sanktionsrechts zu verdecken“24. Wie Müller zu Recht hinweist, vermag der allgemeinere Begriff „Sanktionsrecht“ sachlich gesehen den genannten Stellen durchgehend von poena“; anderer Auffassung ist hingegen bspw. Knut Walf: Kirchliche Disziplin und heutiges kirchliches Leben, 466. Im CCEO/1990 wird der Abschnitt des kirchlichen Sanktionsrechts mit „De sanc tionibus poenalibus in Ecclesia“ überschrieben. Der Gesetzgeber des CCEO „unterstreicht damit offensichtlich seine Absicht, ein eigentliches Strafrecht vorzulegen“ – vgl. Stephan Haering: Strafe oder Sanktion, 516. 21 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 79; die Inkonsistenz bei der Begriffsverwendung kann aber als „positives“ Zeichen dahingehend aufgefasst werden, dass Begriffe wie „Strafrecht“, „Strafe“, „Straftäter“ im passenden Kontext durchaus ihre Berechtigung haben. 22 Im CIC/1917 stand der Begriff sanctio in erster Linie für die „Strafsatzung“ oder auch „Strafandrohung“ – vgl. Klaus Mörsdorf: Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici, 378; der CIC/1983 verwendet den Begriff sanctio insgesamt viermal, wobei nur zweimal ohne die Befügung „poenalis“ (cc. 1311, 1312 CIC/1983). In c. 96 CIC/1983 wird der Begriff mit „Sanktion“, in c. 1457 § 2 CIC/1983 mit „Strafandrohung“ und in den cc. 1311 f. CIC/1983 mit „Strafmittel“ wiedergegeben. 23 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 152 Fn. 34; zur Problematik der Übertragung weltlicher Strafrechtsbegrifflichkeiten in den kirchlichen Bereich vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 95; Sabine Demel: Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, 302 f., 309 f.; Ansgar Grochtmann: Justi tiabilität der Gewissensfreiheit, 37: „Festzuhalten ist damit, dass die gleiche Terminologie ‚Strafe‘ eine Wesensähnlichkeit kirchlicher und staatlicher Strafgewalt suggeriert, die insbesondere wegen der nur staatlicherseits gebrauchten physischen Gewalt so nicht zu halten ist“; zum Begriff „Strafe“ vgl. auch Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311, Rdnr. 11 (Stand Juli 1992). 24 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 78 f.
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besser die Gesamtrealität dieses Normengefüges abzubilden als der traditionelle Begriff „Strafrecht“, da bei Weitem nicht alle Maßnahmen im Buch VI des CIC/1983 als „Strafen“ im engeren Sinn zu qualifizieren sind25, während hingegen der Begriff „Sanktionsrecht“ nicht der Möglichkeit widerspricht, dass „auch im kirchlichen Sanktionsrecht“ Maßnahmen „zu entdecken“ sind, „die mit Fug und Recht als ‚Strafe‘ bezeichnet werden können“26. Stephan Haering attestiert zwar, dass dies „nachvollziehbare“ bzw. „gute Argumente“ seien, „die sich teils aus der vom Gesetzgeber selbst gewählten Terminologie, teils aus der Eigenart des kanonischen Strafrechts (Liber VI CIC/1983 ergeben“, jedoch hegt er Zweifel, ob sich der Begriffswechsel im deutschsprachigen Raum durchsetzen wird27. Haering meint zudem, dass durch den Begriffswechsel insofern nichts gewonnen werde, da keiner der beiden Termini – also weder „Strafrecht“ noch „Sanktionsrecht“ – „umfassend und exklusiv den Inhalt des gesamten sechsten Buches des CIC/1983“ zu beschreiben vermag. Und schließlich sieht er die Gefahr, dass der von Müller vorgeschlagene Begriffswechsel zu „einer gewissen Abwertung“ dieses Normenbereichs beitragen könnte28. Um für den weiteren Verlauf in dieser Arbeit Klarheit zu schaffen, sei Folgendes festgelegt: Wenngleich der Ausdruck „Sanktionsrecht“ zur Bezeichnung der Normen im Buch VI CIC/1983 innerhalb der deutschsprachigen Kanonistik noch kaum breitere Akzeptanz gefunden hat und es schwer erscheint, den historisch gewachsenen Begriff des „Strafrechts“ abzulösen, so wird hier dennoch der Ansicht Ludger Müllers gefolgt, dass der Begriff „Sanktionsrecht“ der sachlich angemessenere zur Bezeichnung dieses Normengefüges ist29. Dies zum einen deshalb, weil er materiell gesehen besser jene theologische Wirklichkeit abzubilden vermag, um die es tatsächlich geht, da sich der „Urtyp“ aller kirchlicher Sanktionen, die Exkommunikation, „nicht als eine Strafe bezeichnen“30 lässt. Zum anderen werden dadurch zu 25 Vgl. ebd., 177–182; Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht. Zumindest in Anerkennung, dass sanctio der weitere Begriff im Vergleich zum Begriff „Strafe“ ist, dann aber im Ergebnis dennoch ablehnend gegenüber der Auffassung Müllers – vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 193. 26 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 78. 27 Vgl. Stephan Haering: Strafe oder Sanktion, 516 f., 530 f. 28 Stephan Haering: Strafe oder Sanktion, 530 ff. Haering gibt zu bedenken, dass entgegen dem begrifflichen Eindruck heute meist nicht die Sühnestrafen die „faktisch am schwersten wiegenden Maßnahmen“ für den Betroffenen seien, sondern vielmehr die Zensuren. Historisch gesehen waren jedoch die Sühnestrafen die einschneidenderen Sanktionen, da sie meist mit zeitlichen Strafen kombiniert waren und insofern bei einer Absolution nicht mehr völlig rückgängig gemacht werden konnten – vgl. René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 150. 29 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 78. 30 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 284.
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starke Assoziationen zu weltlichen Strafrechtssystemen vermieden. Mit dieser Festlegung wird jedoch nicht behauptet, dass es in der Kirche keine „echten“ Strafen gäbe31. Dass es durch die Bezeichnung des Buches VI als „Sanktionsrecht“ zu einer unangemessenen „Abwertung“ oder Aufweichung dieses Rechtsgebietes kommen könnte, ist eher unwahrscheinlich, denn die kirchliche Rechtspraxis zeigt schon jetzt, dass das kirchliche Sanktionsrecht in vielfacher Weise auf anderen Ebenen und mit anderen Mitteln wirkt, als dies weltliche Strafrechtssysteme tun. Insofern wird anschließend nur noch vom kirchlichen „Sanktionsrecht“ bzw. von den „Sanktionen“ als Überbegriff von Zensuren und Sühnestrafen die Rede sein, unbeschadet der Zitate, in denen der traditionellen bzw. einer anderen Sprachregelung gefolgt wird.
III. Die Legitimität kirchlicher Sanktionsgewalt Wie zu Beginn dieses Kapitels schon erwähnt wurde, hat die Kirche von Anfang an „gegen schwerwiegendes Versagen, das ihre Ordnung störte oder die Gemeinde nach außen entehrte, mit Strafen reagiert“32. Doch differenzierte die frühe christliche Gemeinde „ursprünglich nicht zwischen der Auflehnung gegen Gott und der gegen die Gemeinde, sondern beantwortete grobes Fehlverhalten durch die Ausgrenzung des Täters“33. Als neutestamentliche Belegstellen dafür werden gemeinhin Mt 18,15–17; Tit 3,10 f.; 2 Thess 3,14 f. und 1 Kor 5,1–13 angeführt34. Aus ihnen lässt sich ableiten, dass es von Anfang an eine Art „Ausschlussverfahren“ gegen Mitglieder der Christengemeinde gab, das zugunsten des Seelenheils des Delinquenten und des Schutzes der Gemeinde vor Verwirrung und Verunreinigung durchgeführt wurde35. Nach Wilhelm Rees sind daher die „stiftungsmäßigen Grundlagen 31 Vgl.
dazu Seite 215 Fn. 18 in dieser Arbeit. Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 40; vgl. auch Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 34; Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 87 f.; eine ausführliche Darstellung über den kirchlichen Strafanspruch liefert Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 27–192. 33 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/2 (Stand Juli 1992). 34 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 40–43; Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1570 ff.; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 189 f.; Walter Doskocil: Der Bann in der Urkirche, 27, 30–38; Claus-Hunno Hunzinger: Art. „Bann“, 164–167. 35 Vgl. Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 190; Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 42 f.; vgl. hingegen Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/2, Rdnr. 1 (Stand Juli 1992): „Die Doktrin ist sich über den Sinn der neutestamentlichen Berichte über den Umgang mit Personen, die in untragbarer Weise gegen die Lebensordnung der Kirche verstießen, nicht einig. Bereits hier ist die bis 32 Wilhelm
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der Kirche, zu denen auch die Strafgewalt gehört, … unbestreitbar“36. Charles Munier meinte sogar in der „Verfahrensordnung der apostolischen Zeit“ einen „zutiefst juridischen Charakter“ ausmachen zu können, „der aber andererseits ganz im Dienst ausgesprochen seelsorglicher Ziele steht“37. Jedoch fehlt in diesem frühchristlichen Kontext noch jede kasuistische Fest legung von Verfahren, Fristen oder Sanktionsarten, wofür die Christengemeinde, die in der apokalyptischen Naherwartung der Wiederkunft Christi lebte, auch keine Veranlassung sah. In dem Maße aber, „in dem die Nah erwartung schwand und sich die Organisation der Kirche festigte“, richtete sich der Fokus auf „das Recht als Gemeinschaftsordnung“38 und so bildete sich nach und nach die Exkommunikation als Teil des öffentlichen Bußverfahrens vor der Gemeinde heraus. Als die Buße ca. ab dem 6. Jahrhundert schließlich mehrmals wiederholt werden konnte und zum Teil in den privaten Bereich verlegt wurde, entwickelte sich langsam eine erste „Unterscheidung von Sünde und Delikt und damit ein Nebeneinander von Beichtsakrament und öffentlichem Strafver fahren“39, womit eine Zweispurigkeit in der Reaktion der Kirche auf die Wirklichkeit der Sünde hergestellt wurde. „Während man die peccata manifesta mit den Sanktionen der öffentlichen Buße belegte, wurden die peccata occulta in den Formen der Privatbuße sanktioniert.“40 Die Herausschälung des Sanktionsverfahrens aus dem öffentlichen Bußverfahren einerseits und des Deliktsbegriffes aus dem Sündenbegriff andererseits wirft aber die Frage nach der Legitimität der kirchlichen Sanktionsgewalt auf 41. heute ungelöste Problematik des Zwecks kirchlicher Strafen grundgelegt“; vgl. auch Klaus Lüdicke: MKCIC 1331/1, Rdnr. 1 (Stand April 1993). 36 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 43; vgl. auch Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 195–199. 37 Charles Munier: Bußdisziplin und kirchliches Strafrecht, 453. 38 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 43. 39 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 88; vgl. auch Aymans/Mörsdorf: KanR III, 281–290; vgl. dazu auch René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 26: „Damit bestand für die Theologen der Frühscholastik und die Kanonisten der Reformperiode zwar eine verfahrensmäßige, aber noch nicht eine terminologische Trennung von privater und öffentlicher Sanktionierung. Die terminologische Abgrenzung wurde erst in der Hochscholastik geleistet.“ 40 René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 26. In der Folge entwickelten sich – auf einige Tatbestände beschränkt – sogenannte „General exkommunikationen“, die im Hohen Mittelalter öffentlich verkündet wurden und deren Lossprechung dem Papst vorbehalten war. Eine Sammlung dieser Tatbestände wurde jährlich am Gründonnerstag publiziert – vgl. dazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 89 f.; Peter Leisching: Art. „Abendmahlsbulle“; Georg May: Art. „Bann“. 41 Vgl. dazu Wilhelm Rees: Die Strafgewalt in der Kirche, 43–50; Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 273–333; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 111–121.
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Mit der „Verquickung“ staatlicher und kirchlicher Vollmacht seit Kaiser Konstantin und mit der mittelalterlichen Praxis, in der das Wirken der Kirche vom Eingreifen des weltlichen Armes nicht immer leicht unterschieden werden konnte, wurde die Frage nach der Legitimität kirchlicher Sanktionsgewalt immer drängender, wie man bspw. an den Ausführungen von Marsilius von Padua42 erkennen kann, der die Eigenständigkeit der Sanktionsgewalt der Kirche in Frage stellte. Seiner Auffassung nach habe die Kirche kein Recht, jemanden aus der Gebets- und Sakramentsgemeinschaft der Kirche auszuschließen, da für „die Verweigerung des Sakramente … nicht die Kirche, sondern allein Gott zuständig“ sei43. Marsilius verlegt damit „die Strafgewalt auf den Gewissensbereich“44, wodurch er sie „von Grund auf um ihre Natur“ bringt und „ihre Fundamente“ zerstört, wie Gerosa analysiert 45. Die Lehre von Marsilius von Padua wurde durch Papst Johannes XXII. mit der Konstitution „Licet iuxta doctrinam“46 verworfen. Ähnlich aber interpretierte später John Wyclif die kirchliche Sanktionsgewalt als Teil der weltlichen, herrschaftlichen Gewalt und wiederum in Abhängigkeit von Wyclif berief sich Jan Hus auf den Begriff der unsichtbaren Kirche und die Autorität des Gewissens. Hus „stellte sich dabei gegen die Autorität der sichtbar verfaßten Kirche, die keinen Gehorsam und keine Strafgewalt beanspruchen könne“47. Papst Martin V. verurteilte sowohl die Ansichten Wyclifs als auch die von Hus48. Das Konzil von Trient bekräftigte die Position Papst Martins V. und betonte die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der kirchlichen Sanktionsgewalt von jeder weltlichen Autorität 49. 42 Vgl. dazu Paul Mikat: Art. „Marsilius v. Padua“, 109; Jürgen Miethke: Art. „Marsilius v. Padua“, 1418; Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 332; eine ausführliche Darstellung findet sich auch bei Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 29–40; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 83 f.; Alexander Dordett: Der geistliche Charakter der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 73–113. 43 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 37, mit Verweis auf Defensor minor, C X, n. 2, 236–240. 44 Alexander Dordett: Der geistliche Charakter der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 109. 45 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 37 Fn. 33. 46 Vgl. Denzinger/Hünermann (402005), 941–946; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 40–47. 47 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 44. 48 Vgl. Konstitution „Inter cunctas“ vom 22.2.1418, abgedruckt in: Petrus Gas parri: CIC-Fontes I n. 43, 46–57; vgl. ebenso Denzinger/Hünermann (402005), 1247– 1279. 49 Vgl. Konzil von Trient, sess. XXV, cap. 3 und cap. 14 de ref.; sess. XXIV, cap. 8 de ref., in: Joseph Wohlmuth (Hrsg.): Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Bd. 3: Konzilien der Neuzeit (Paderborn/München/Wien/Zürich 2002), 785 f., 792 f., 758 f.
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Doch damit war der Zweifel an der Legitimität kirchlicher Sanktionsgewalt nicht völlig ausgeräumt. So vertrat die Diözesansynode von Pistoia im Jahr 1786 das Postulat, „die Päpste hätten von Gott nur eine geistliche Gewalt erhalten“50. Demnach sei ihre Macht auf die rein geistliche Sphäre beschränkt. Papst Pius VI. verurteilte jedoch jene Äußerung der Synode, welche behauptete, dass es ein Missbrauch der Kirche sei, wenn sie ihre Gewalt auf die „äußeren Dinge“ ausdehne und „gewaltsam“ das einfordere, „was von der Überzeugung und Gesinnung abhängt“51. Der Kirchenrechtler Johannes Nepomuk Nuytz aus Turin war wiederum der Auffassung, dass die zwangsmäßig auferlegte Bestrafung durch die Kirche als eine zeitliche bzw. weltliche Strafe zu qualifizieren sei und insofern nur mit Zustimmung der weltlichen Gewalt verhängt werden könne52. Papst Pius IX. verurteilte das Werk53, in dem Nuytz diese These vertrat. Im Syllabus errorum (1864) wurde unter den 80 aufgelisteten Irrtümern auch jener genannt, der die Gewalt der Kirche leugnete, zeitliche Zwangsmittel zu besitzen54. Bereits ein Jahr vor der Veröffentlichung des Syllabus stellte Pius IX. in der Enzyklika „Quanta cura“55 klar, dass die Kirche legitimiert sei, Strafen zu verhängen. Als von Christus gestiftetes, sichtbares Gefüge in dieser Welt sei ihr „volle Regierungsgewalt zur Gesetzgebung und Rechtsprechung übertragen“56. In dieser Begründungsstruktur von Pius IX. kommt auch das vorherrschende Kirchenmodell jener Zeit, das Ius Publicum Ecclesiasticum57 (IPE), zum Vorschein, in dem der Kirche als societas iuri dice perfecta die Möglichkeit zugesprochen wurde, unter Mithilfe des weltli50 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 45; vgl. Synode von Pistoia: Decreto della Fede e della Chiesa, in: Mansi 38, 1016. 51 Vgl. Pius VI.: Konstitution „Auctorem fidei“ vom 28. August 1794, Prop. IV und V, abgedruckt in: CIC-Fontes II, n. 475, 682–714, hier 687 f.; vgl. Denzinger/ Hünermann (402005), 2600–2700, hier 2604. 52 Vgl. Johannes Nepomuk Nuytz: Iuris Ecclesiastici Institutiones (Turin 1844), 577 f. 53 Vgl. Pius IX.: Apostolisches Schreiben „Ad Apostolicae Sedis“ vom 22. August 1851, in: CIC-Fontes II, n. 511, 857–860. 54 Vgl. Pius IX.: Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores, 171; vgl. ebenso CIC-Fontes II, n. 543, 1000–1009, hier 1003. 55 Vgl. Pius IX.: Enzyklika „Quanta cura“, 164 f. 56 Zitiert aus Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 46, mit Verweis auf Pius X.: Enzyklika „Vix dum a Nobis“ vom 7. März 1874, in: CIC-Fontes III, n. 567, 87–92, hier 88. 57 Vgl. dazu: Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 50 f.; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 47–61; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 184–187; Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 169.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
chen Armes (vgl. can. 2198 CIC/1917)58, ihre Normen unter Anwendung von Zwangsgewalt durchzusetzen59; damit verknüpft war die Legitimation zeit licher Strafen (vgl. can. 2214 § 1 CIC/1917). Nicht wenige sahen darin die tatsächliche Ausübung oder zumindest die Möglichkeit eines „äußeren Glaubenszwanges“ durch die katholische Kirche60. Der Anspruch auf Zuhilfenahme des weltlichen Arms zur Durchsetzung des kirchlichen Rechts (bra chium saeculare) wurde im Zuge der CIC-Reform nach dem II. Vatikanischen Konzil schon im Schema zur Reform des Sanktionsrechts im Jahre 1973 (Schema Poen) fallen gelassen und findet sich demgemäß im CIC/1983 nicht mehr.61 An der grundsätzlichen Legitimität eines kirchlichen Sanktionsrechts wurde allerdings innerhalb der CIC-Reformkommission nie gezweifelt62. Forderungen einer gänzlichen Abschaffung des kirchlichen Sanktionsrechts wurden von der Kommission mit einem Verweis auf die Zwangsgewalt als proprium jeder societas iuridice perfecta abgewiesen63. Ihr Rekurs auf das 58 Vgl. Wilhelm Rees: Art. „Brachium saeculare“; Paul Mikat: Das Verhältnis von Staat und Kirche nach der Lehre der katholischen Kirche, 168; Richard A. Strigl: Kirchlicher Anspruch auf das brachium saeculare heute; Dagmar Schaaf: Der kirch liche Strafanspruch, 112, insb. Fn. 91. 59 Vgl. dazu die Darstellung bei Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 184–187; Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 58 f. 60 Vgl. Peter Krämer: Religionsfreiheit in der Kirche, 16 f.; Hubert Müller: Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung, 464 ff.; für eine kurze Zusammenfassung der unheilvollen Geschichte der Verquickung von Kirche und weltlicher Zwangsgewalt – vgl. Johannes Neumann: Menschenrechte auch in der Kirche, 115–125. 61 Vgl. dazu Dagmar Schaaf: Der kirchliche Sanktionsanspruch, 187: „Die Frage, ob an dem Anspruch auf den weltlichen Arm, wie er in can. 2198 CIC/1917 normiert war, festgehalten werden sollte oder nicht, scheint in der Strafrechtsdiskussion gar keine Rolle mehr gespielt zu haben, da sie in den Communicationes überhaupt nicht auftaucht“; vgl. ebenso Wilhelm Rees: Art. „Brachium saeculare“, 300; Werner Bö ckenförde: Der neue Codex Iuris Canonici, 2537; Stephan Haering: Kirche und Staat in der Sicht des Konzils und im CIC, 90, 92. 62 In der Nr. 9 der „Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem diri gant“ spricht sich die Reformkommission explizit für die Beibehaltung der kirchlichen Zwangsgewalt aus – vgl. Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, in: Communicationes 1 (1969), 77–85, hier 84 f.: „In recognitione iuris po enalis Ecclesiae, principium reducendi poenas in Codice stabilitas, nemo est qui non acceptet. Verum suppressionem omnium poenarum ecclesiasticarum, cum ius coacti vum, cuiuslibet societatis perfectae proprium, ab Ecclesia abiudicari nequeat, nemo canonistarum admittere videtur“; vgl. dazu auch die Berichte in: Communicationes 7 (1975), 93–97; Communicationes 8 (1976), 166 f. 63 Vgl. Communicationes 1 (1969), 77–85, hier 84 f.; Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 332 f.; René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 62; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 172 f.: „Damit bleibt die Begründung des kirchlichen Strafanspruchs trotz der aufgekommenen Kritik an seiner mangelnden theologischen Durchdringung bzw. der Hinweise auf die
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IPE bei der Begründung des Sanktionsrechts fand aber keine einmütige Zustimmung64. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Kanonistik in der Zeit des II. Vatikanums und danach, in der es „mit Ausnahme weniger Autoren, die die Funktion des kirchlichen Rechts insgesamt anders bewerten als die Mehrheit“, kein Bestreben gab, das Sanktionsrecht als solches prinzipiell in Frage zu stellen65. Jedoch wird seither immer wieder auf die Notwendigkeit einer theologischen Begründung des kirchlichen Rechts und damit auch des kirchlichen Sanktionsrechts hingewiesen66. Während eine theologische Grundlegung in einigen Bereichen des CIC/1983 durchaus gelungen ist, kann dies für das kirchliche Sanktionsrecht keinesfalls bestätigt werden. Das wird schon im Eröffnungscanon, c. 1311 CIC/1983, ersichtlich, der nur eine gering modifizierte Fassung des can. 2214 CIC/1917 darstellt67 und in dem es heißt: „Es ist das angeborene und eigene Recht der Kirche, straffällig gewordene Gläubige durch Strafmittel zurechtzuweisen.“ Die Beibehaltung der Formulierung, die Sanktionsgewalt der Kirche sei ein ius nativum, ist ein deutlicher Hinweis auf eine Anknüpfung an die Lehre des IPE68. Peter Krämer bemerkt hierzu, dass aufgrund der ekklesiologische Weiterentwicklung im II. Vatikanum zu Beginn der Reformarbeiten unverändert, denn er basiert wie zuvor auf der Lehre des IPE“. 64 Vgl. dazu Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 333: „Die Möglichkeit und Existenz einer kirchlichen Strafgewalt ist … im gesamten Konsultations- und Beratungsprozeß nie umstritten gewesen, auch wenn der Rekurs auf den Begriff der societas perfecta zur Begründung einer kirchlichen Strafgewalt nicht allenthalben geteilt wird“; vgl. auch Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 198 ff. 65 Vgl. Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 169. 66 Vgl. dazu insb. Eduard Eichmann/Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici III, 298: „Die Strafgewalt der Kirche reicht damit in eine Tiefe, die weltlicher Strafgewalt nicht zugänglich ist“; vgl. dazu auch Ludger Müller: Die „Münchner Schule“; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 187–189, insb. die Literaturnachweise in Fn. 19. 67 Eine nähere Darstellung der Reformarbeiten findet sich bspw. bei Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 171–178; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 111, insb. Fn. 90. 68 Vgl. dazu Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 182–193, 203–211. Für Schaaf sind die Formulierungen in c. 1311 CIC/1983 jedoch zumindest soweit offen gehalten, dass sie einer theologischen Begründung des kirchlichen Sanktionsrechts prinzipiell nicht im Wege stehen – ebd., 210; zu einer kritischeren Beurteilung von c. 1311 CIC/1983 gelangen Eugenio Corecco: Aspekte der Rezeption des Vaticanum II im neuen Codex Iuris Canonici, 116 f.; Eugenio Corecco: Kritische Erwägungen zum Internationalen Kongress für kanonisches Recht, 111; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 180 f.; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 85 f.; Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 198 f.; Klaus Lüdicke: MKCIC 1311/3 f., Rdnr. 6–8 (Stand Juli 1992).
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engen Anlehnung an den Vorgängercanon „kaum Ansatzpunkte für eine Reform“69 festgestellt werden können. Ein genauerer Vergleich offenbart zwar kleinere Anpassungen, bspw. die Streichung des Zusatzes, „wonach der kirchliche Strafanspruch unabhängig von jeder menschlichen Autorität be steht“70 (independens a qualibet humana auctoritate) oder die Beschränkung der Reichweite des kirchlichen Sanktionsanspruches auf die kirchliche Gewalt und die katholischen Christen (christifideles71) und schließlich die Nichterwähnung der „zeitlichen Strafen“, indem die Formulierung „poenis tum spiritualibus tum etiam temporalibus“ durch „poenalibus sanctionibus“ ersetzt wurde. Doch eine theologische Grundlegung der kirchlichen Sank tionsgewalt bzw. des Sanktionsrechts sucht man im CIC/1983 vergebens72. Lediglich c. 1312 CIC/1983, der normiert, „dass Kirchenstrafen mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche vereinbar sein müssen“73, rückt etwas in die Nähe eines solchen Anspruchs. Zu einer positiveren Einschätzung von c. 1311 CIC/1983 kommen aber bspw. Dagmar Schaaf und Reinhard Knittel, die in der Formulierung des c. 1311 CIC/1983 durchaus Potential für eine theologische Begründung des
69 Peter Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe, 13; vgl. auch Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 180 f. 70 Peter Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe, 13; Knittel möchte in dieser Weglassung den Hinweis erkennen, dass nun „das Hauptaugenmerk der Begründung der Strafgewalt auf die Kirche selbst in ihrer göttlich/menschlichen Konstitution und in Hinblick auf ihre Heilssendung verweist“ – vgl. Reinhard Knittel: Besitzt die Kirche das Recht zu strafen, 635. 71 Zur Problematik des Begriffs „christifidelis“ – ob er ausschließlich den Katholiken oder den Christen an sich bezeichnet – vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR II, 50 f.; vgl. ebenso Nils Petrat: Wer gehört wirklich zur katholischen Kirche, hier insb. 296, 300–305, wobei fraglich ist, ob der Auffassung Petrats, der den Begriff zur Bezeichnung aller Getauften verwendet wissen will (vgl. ebd., 301), gefolgt werden kann. 72 Vgl. hingegen den Eröffnungscanon zum Sanktionsrecht im CCEO, c. 1401: „Da Gott jede Bemühung unternimmt, um ein irrendes Schaf zurückzuführen, müssen jene, die von ihm die Vollmacht zu lösen und zu binden erhalten haben, für die Krankheit derer, die straffällig geworden sind, die entsprechende Medizin bereiten, indem sie sie beschwören, zurechtweisen, tadeln in aller Geduld und Belehrung, ja sogar Strafen auferlegen, damit die von der Straftat zugefügten Wunden geheilt werden, so daß weder die Täter in die Abgründe der Verzweiflung stürzen, noch die Zügel gelockert werden zur Auflösung des Lebens und zur Verachtung des Gesetzes“ – zitiert nach Libero Gerosa/Peter Krämer (Hrsg.): Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium; vgl. dazu auch Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 213 ff.: „Mit diesem Canon wird eine dezidiert biblisch-theologische Grundlegung des kirchlichen Strafanspruchs gegeben“; ebenso Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 86 f.; zu Lk 15,4–7 vgl. auch Wilhelm Rees: Unterschiedliche Strafen in der einen katholischen Kirche, 944. 73 Peter Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe, 14.
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Sanktionsrechts sehen74. Nach Knittel dürfe nicht „übersehen“ werden, „dass die Reformgruppe offensichtlich doch der Ansicht war“, dass mit dieser Norm „die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils als Quelle und Grundlage repräsentiert werde und damit auch durchaus harmonisierbar sei, da immerhin als Quelle des c. 1311 CIC/1983 die Stellen von LG 8 und GS 76 angeführt werden“75. Klaus Lüdicke weist aber zu Recht darauf hin, dass sich der Verweis auf LG 8 dann angemessen auf c. 1311 auswirken würde, wenn auch die „ganze Aussage über die Natur der Kirche herangezogen wird“76. Trotz der Quellenverweise auf LG und GS wird nach einer Analyse des Sanktionsrechts im CIC/1983 klar, dass das geltende Sanktionsrecht tatsächlich über „keine konsequente Umsetzung einer konziliaren Ekklesiologie“77 verfügt. Lüdicke geht sogar soweit zu sagen, dass diesem „gar kein Konzept zugrunde“78 liegt – eine harsche Kritik, die jedoch nicht ganz unberechtigt ist, wie noch zu sehen sein wird. Seiner Ansicht nach fehlte der Reform des kirchlichen Sanktionsrechts eine „Leitidee“. Die gegenwärtige Fassung sei ein Ergebnis „pragmatischer Entscheidungen“, deren Motive aufgrund der eher spärlichen Dokumentation oft nur mehr schwer geklärt werden könnten. „Das an sich schon diskutierbare System des kanonischen Strafrechts im CIC/1917 ist durch die Revision noch fragwürdiger geworden“79, so sein Resümee. Die theologische Bedeutung des Sanktionsrechts in der Kirche lässt sich jedenfalls nur im Bewusstsein erkennen, „daß es direkte Funktion des Selbstverständnisses der Kirche ist“80. Die Umsetzung dieser Bedeutungsstruktur muss mit Blick auf das geltende Sanktionsrecht weiterhin als Desiderat ange74 Vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 210; Reinhard Knittel: Besitzt die Kirche das Recht zu strafen, 629 f., 634 ff. 75 Reinhard Knittel: Besitzt die Kirche das Recht zu strafen, 629, mit Verweis auf Domingo Andrés Gutiérrez (Hrsg.): Leges Ecclesiae post Codicem iuris canonici editae, Vol. VII (Rom 1994), 10309, Note, 359. 76 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/4, Rdnr. 7 (Stand Juli 1992). 77 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/3, Rdnr. 4 (Stand Juli 1992), mit Verweis auf Libero Gerosa: La scomunica è una pena, 387 und Hubert Müller: Utrum „Communio“ sit principium formale-canonicum novae codificationis Iuris canonici Ecclesiae Latinae, 99–108; vgl. ebenso Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 91; Euge nio Corecco: Aspekte der Rezeption des Vaticanum II im neuen Codex Iuris Canonici, 117; Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 58; Norbert Lüdecke: Der Codex Iuris Canonici von 1983; Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 86. 78 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/4, Rdnr. 4 (Stand Juli 1992). 79 Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/10, Rdnr. 18 (Stand November 1992). 80 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/11, Rdnr. 11 (Stand Juli 1992).
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sehen werden, wenngleich in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich einige bemerkenswerte Versuche und Vorschläge vorgelegt wurden81. Die Begründung des kirchlichen Sanktionsrechts kann nicht ohne Blick auf die jeweiligen Sanktionsmittel erfolgen. Sie sind es, die im Folgenden in den Fokus der Darstellung rücken, weil sie den entscheidenden Kontext der Beurteilung einer Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Sanktionsrecht bilden.
IV. Die historische Entwicklung der kirchlichen Sanktionstypen 1. Vom öffentlichen Bußsystem zur Ausprägung kirchlicher Sanktionen „Soweit die geschichtlichen Zeugnisse zurückreichen, besteht kein Zweifel, daß von allem Anfang an in der Kirche schwere Vergehen vorkamen, die mit dem Ausschluß aus dem kirchlichen Gemeinschaftsleben geahndet wurden.“82 Im Zuge dessen entwickelte sich in der frühen Kirche ein öffentliches Bußbzw. Sanktionsverfahren unter der Leitung des Bischofs83. Die Exkommunikation stellte darin „einen Teil des Bußverfahrens dar, das nur einmal im Leben eines Christen möglich war und in aller Öffentlichkeit vor der Gemeinde stattfand“84. Eine Unterscheidung zwischen „Gemeinschaftsvergehen und Sünde (Strafrecht – Bußrecht)“ war noch nicht festgelegt; „gleichwohl unterschied sich die mit der Einordnung in die Reihe der Büßer erfolgende BußExkommunikation der Sache nach von der bloßen Straf-Exkommunikation 81 Bei den folgenden Angaben zu diesem Themenbereich handelt es sich nur um eine exemplarische und keinesfalls umfassende Aufzählung: Klaus Mörsdorf: Kanonisches Recht als theologische Disziplin; Winfried Aymans/Klaus Mörsdorf: KanR I, insb. 65; Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, insb. 80; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam; Libero Gerosa: „Lex Canonica“ als „ordinatio fidei“; Ludger Müller: § 2 Recht und Kirchenrecht; Ludger Müller: Der Rechts charakter der kirchlichen Rechtsordnung; Ludger Müller: Kirchenrecht – analoges Recht; Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen; Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts; Peter Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe; Eugenio Corecco: Theologie des Kirchenrechts; Raimund Sagmeister: Das neue kirchliche Strafrecht und der Schutz des Lebens, 494–497; Arturo Cattaneo: Die Kanonistik im Spannungsfeld von Theologie und Rechtswissenschaft; Antonio María Rouco Varela: Allgemeine Rechtslehre oder Theologie des kanonischen Rechtes; Antonio María Rouco Varela: Die katholische Rechtstheologie heute, 3 f. 82 Winfried Aymans/Klaus Mörsdorf: KanR III, 284. 83 Vgl. dazu Lotte Kéry: Canonica severitas und amor correctionis; Aymans/Mörs dorf/Müller: KanR IV: 88–90; Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 34; Benno Löbmann: Die Reform der Struktur des kirchlichen Strafrechtes, 711. 84 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 88; vgl. dazu ebenso Winfried Aymans/ Klaus Mörsdorf: KanR III, 284 f.
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vor allem dadurch: Die Buß-Exkommunikation traf den bereits zur Umkehr entschlossenen … Sünder. Dagegen wurde die reine Straf-Exkommunikation über den zur Besserung noch nicht Bereiten verhängt, wenn er sich schwerwiegend gegen die kirchliche Gemeinschaft vergangen hatte“85. Doch auch die Straf-Exkommunikation war nicht als Vergeltungsmaßnahme für den Ausgleich begangenen Unrechts zu verstehen. Deutlich wird dies daran, dass die Exkommunikation nicht in einem „absoluten“ Sinne, d. h. für immer oder auch nur für eine bestimmte, vorher festgesetzte Frist, verhängt wurde86. Im Laufe des 6. Jahrhunderts entstand im angelsächsischen und iro-schottischen Raum eine neue Bußpraxis, nach der die Buße wiederholt werden konnte und gleichzeitig in den etwas privateren Bereich zwischen Pönitenten und Priester verschoben wurde87. Diese neue Form der Bußpraxis verbreitete sich ziemlich rasch durch die Mission auf dem europäischen Kontinent. Mit dieser Entwicklung wurde das Nachdenken über eine Differenzierung zwischen Sünde und Delikt bzw. zwischen „Beichtsakrament und öffentlichem Strafverfahren“88 angeregt. In der Praxis wurden die peccata manifesta mit den Sanktionen versehen, die für das öffentliche Bußverfahren89 vorgesehen waren, die peccata occulta hingegen mit Formen der Privatbuße verbunden. Daraus lässt sich erkennen, dass verfahrensmäßig eine Unterscheidung zwischen Sanktion und Buße eingeführt wurde, ohne sie begrifflich nachzuvollziehen. Letzteres geschah erst später in der Hochscholastik durch die Unterscheidung zwischen forum poenitentiale und forum iudiciale, welche die Herausbildung des Begriffspaares forum internum und forum externum wesentlich beeinflusste, wie schon weiter oben dargelegt wurde90. Damit einher ging die Herausschälung 85 Winfried
Aymans/Klaus Mörsdorf: KanR III, 284. ebd., Im Bereich der lateinischen Kirche entstanden jedoch parallel sogenannte „Bußinterdikte“, welche manchmal über die Rekonziliation hinaus, manchmal bis ans Lebensende, in Kraft waren – vgl. ebd., 285. 87 Vgl. ebd., 285 f. Damit wurde auch der Bischof als exklusiver Leiter des Bußverfahrens abgelöst. 88 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 88. 89 Kéry bezeichnet das öffentliche Verfahren als „Zwangsbuße“, welche als „öffentliche Buße den Charakter einer Strafe“ annahm, wenn das Vergehen auch eine gewisse Schwere aufwies – vgl. Lotte Kéry: Canonica severitas und amor correctionis, 27; vgl. Franz Kerff: Libri paenitentiales und kirchliche Strafgerichtsbarkeit bis zum Dekretum Gratiani, 33 f.: „Der Grundsatz, gemäß der Publizität der Tat entweder das eine oder das andere Verfahren zu beobachten, ist jedoch nicht so alt wie das Verfahren der poenitentia privata.“ 90 Vgl. das Kapitel 3. B. IV. „Die Einheit von forum internum und forum externum im kirchlichen Rechtsbereich“ in dieser Arbeit; vgl. auch Franz Kerff: Libri paenitentiales und kirchliche Strafgerichtsbarkeit, 39: „Bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts unterschied man noch nicht begrifflich genau zwischen innerem und äußerem Bereich 86 Vgl.
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des „crimen“-Begriffs aus dem des „peccatum“. Vermischungen der beiden Bereiche und Begriffe kamen allerdings weiterhin vor, vor allem in den sogenannten „Ketzerprozessen“91. „So ist es auch verständlich, daß die frühen Kanonisten bei der Suche nach dem Zweck der Strafe für das crimen durch die auf Korrektur des Individuums gerichtete Denkweise der Bußtheologie geleitet wurden.“92 Das Nachdenken über die Rolle und Ausprägung kirchlicher Sanktionen orientierte sich nicht nur an praktischen Erwägungen, sondern auch am biblischen Befund bzw. am Vorbild Jesu93. So wurde bspw. hervorgehoben, dass Judas von Jesus nicht von der Gemeinschaft völlig getrennt und ausgeschlossen wurde, was dahingehend ausgelegt wird, dass die kirchliche Gemeinschaft auch die „Bösen“ unter sich zu ertragen habe. Dieser Gedanke hat nicht nur mit einer gewissen Großzügigkeit und Toleranz zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass eine vollständige Trennung von Gut und Böse bzw. von Weizen und Unkraut (vgl. Mt 13,24–30) nicht möglich ist. Die Sorge, dass ein Sünder mit seinem Verhalten eine ganze Gemeinschaft korrumpieren könnte, wurde unter anderem mit dem Hinweis beantwortet, dass die Sünde zu hassen, der Sünder hingegen zu lieben sei94. Dieser Gedanke bedeutet freilich, dass ein Auftrag der christlichen Gemeinde darin besteht, dem Sünder zu helfen, wieder auf den rechten Weg zu finden. „In C. 23 q. 4 c. 5 zitiert Gratian wiederum Augustinus, der eine differenzierte Verhaltensanweisung gibt: zuerst soll der Fehlbare durch Argumentation zu einer Änderung seines Verhaltens bewegt werden. Läßt er sich nicht dazu bewegen, ist er von der kirchlichen Gemeinschaft auszuschließen. Ist auch das nicht möglich, hat man ihn gleichmütig zu ertragen“95 (vgl. Mt 18,15). Das Bemühen um die Besserung des Sünders sowie das Gebet für seine Bekehrung findet eine Parallele in den Grundsätzen darüber, wie Bischöfe ihre Herde weiden sollen: mit Geduld, argumentativer Kraft, Wohlwollen und Caritas und weniger mit Strenge und Repressalien96. (forum internum – forum externum), sondern machte lediglich die Publizität der Tat zum Kriterium für das zu beobachtende Strafverfahren.“ 91 Vgl. Winfried Trusen: Zur Bedeutung des geistlichen Forum internum und externum für die spätmittelalterliche Gesellschaft, 263. 92 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 124. 93 Vgl. dazu René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 27 f., mit entsprechenden Quellangaben und Nachweisen. 94 Vgl. René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 125, mit Verweis auf C. 23 q. 4 cc. 7–9. 95 René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 29 f., mit entsprechenden Quellangaben. 96 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 127, mit Verweis auf D. 45 c. 1; D. 45 cc. 4, 6, 16.
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Die individuelle Besserung des Delinquenten und der notwendige Schutz der kirchlichen Communio blieben nicht die einzigen Sanktionszwecke in den sich etablierenden Verfahren. Nach und nach entwickelte sich ein kirchliches Selbstverständnis als ordnende und sanktionierende Macht: „Wie Peter Landau betonte, wird gerade an der Entwicklung der sogenannten Zwangsbuße der tiefgreifende Einschnitt deutlich, den schon die frühmittelalterliche Epoche in der Geschichte der westlichen Kirchenverfassung darstellt. Die Erweiterung des kirchlichen Jurisdiktionsverständnisses erweise sich vor allem daran, daß die Kirche nicht nur dem Einzelnen Rechtsschutz gegenüber anderen Gewalten bieten konnte, sondern daß sie nun auch selbst als oberste Ordnungsmacht Sanktionen ausbildete, denen man sich nicht entziehen konnte“97. Bereits Gratian begriff die kirchliche Sanktion als eine „gesetzlich legitimierte“ Maßnahme, „die von einem Inhaber der potestas iudicandi und damit von einer öffentlichen Instanz verhängt wird, die sogar verpflichtet ist, mit den ihr zugestandenen Strafmitteln gegen Übeltäter vorzugehen“98. Die Anwendung physischer Gewalt zur Besserung des Sünders stellte „durch das Gebot der Feindesliebe in der Bergpredigt“99 innerhalb der christlichen Gemeinde zumindest der Theorie nach keine legitime Option dar. Später spielte auch bspw. Abaëlards Einwand eine Rolle, dass menschliche Gerichtsbarkeit nicht in der Lage sei, die wahre Schuld des Delinquenten zu erkennen, und es insofern nur Gott zukomme, den Sünder zu bestrafen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass „zeitliche Strafen“ in der kirchlichen Rechtspraxis tatsächlich schon relativ früh eine Rolle spielten. Ale xander Dordett verortet bereits im 4. Jahrhundert eine gewisse „Wende und damit auch den Verfall einer vergeistigten Auffassung von Kirche“100. Die Ausweitung zeitlicher Strafen in der kirchlichen Rechtspraxis korrespondierte mit der zunehmenden „Zusammenarbeit staatlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit“. Im Decretum Gratiani wird dieser Entwicklung insofern Rechnung getragen, als bspw. körperliche Züchtigungen, Geldbußen, Güterkonfiskationen, Inhaftierungen usw. explizit als „kirchliche Strafen“ begegnen101. Eine neue Nuance in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem kirchlichen Sanktionsrecht eröffnete sich daher mit der Frage, ob ein sühnender Charakter von Sanktionen überhaupt mit dem Wesen der Kirche zu vereinba97 Lotte Kéry: Canonica severitas und amor correctionis, 27, mit Verweis auf Peter Landau: Sakramentalität und Jurisdiktion, 82 f. 98 Lotte Kéry: Canonica severitas und amor correctionis, 36. 99 René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 31, mit entsprechenden Quellangaben. 100 Alexander Dordett: Der geistliche Charakter der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 196. 101 Ebd., 16 f. – vgl. insbesondere die entsprechenden Nachweise in Fn. 9.
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ren sei. Im Decretum Gratiani findet man speziell in den Quaestiones 4 und 5 der Causa 23 einen „breit angelegten dialektischen Traktat über die Strafe, und zwar konkret anhand der Frage, ob die Verhängung von Sühnestrafen, der sogenannten vindictae, überhaupt zulässig sei“102. Gratian rang sich aus einer anfangs ablehnenden Ausgangsposition zu einer Zustimmung durch, vor allem mit Berufung auf verschiedene Quellen bei den Kirchenvätern, insbesondere bei Augustinus103. Die Meinungen der Kanonisten über die Zulässigkeit vindikativer Sanktionen gingen durchaus auseinander. Abaëlard verneinte sie – wie bereits angeklungen ist – grundsätzlich, da kein menschliches Gericht imstande sei, die tatsächliche Schuld und die entsprechende Sühne zu bemessen104. Unter den Kanonisten fand aber letztlich nur Abaëlards Verwerfung des Vergeltungsgedankens wirklichen Anklang; dennoch war sein Ansatz insofern richtungsweisend, als er die Bahnen für eine Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Sanktionsbegründung vorzeichnete105. Aus der „Einsicht in die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens folgt die Ausrichtung der Strafe auf ihre Nützlichkeit in Hinblick auf das betroffene Individuum und die kirchliche Gemeinschaft“106. Was anhand Abaëlards Ablehnung des Sühne- bzw. Vergeltungszwecks kirchlicher Sanktionen noch ersichtlich wird, ist, dass ein nicht unerheblicher „Aufwand getrieben wurde, um die Sühnestrafe als alternatives Sanktionsmittel, das auch begrifflich klar von der Buße abgegrenzt wird, zu recht fertigen“107. Ein Hauptproblem bei der Begründung der Vindikativstrafe besteht insbesondere darin, das neutestamentliche Liebesgebot „mit dem Gedanken der Rache und der Vergeltung, wie er schon im Wort vindicta selbst anklingt“, irgendwie in Einklang zu bringen. Dass sich die Sühnestrafe dennoch durchsetzen konnte, hängt wesentlich mit der als Bedingung beigefügten Forderung zusammen, dass sie „nur aus Liebe zum Sünder und aus Eifer für die Gerechtigkeit, nicht jedoch aus Haß oder Rachsucht verhängt werden“108 dürfe. 102 Lotte
103 Ebd.,
Kéry: Canonica severitas und amor correctionis, 31. 31 f.; vgl. insb. die umfangreichen Belege und Quellennachweise in den
Fn. 26–30. 104 Vgl. Petrus Abaëlardus: Scito te ipsum, 203–213, insb. 207 ff.; René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 131; vgl. dazu auch Wil helm Rees: Strafe und Strafzwecke, 35 und die Literaturangaben ebd., Fn. 70. 105 Vgl. René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 132; vgl. dazu auch Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 28–33; für einen geschichtlichen Überblick über die absoluten und relativen Strafrechtstheorien im 19. Jahrhundert vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 141–155. 106 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 129. 107 Lotte Kéry: Canonica severitas und amor correctionis, 32.
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In der kirchlichen Praxis spielten diese Erwägungen im und nach dem 12. Jahrhundert allerdings kaum eine Rolle, sodass der generalpräventive Charakter der Vindikativstrafe mehr und mehr forciert wurde. „Die Straftheorie der Dekretisten wird nun von der kirchenpolitischen Realität beiseite geschoben … Die zunehmende Verhärtung der Mittel, mit denen die Ketzerbewegungen bekämpft wurden, ging mit einer Haltungsänderung der Kanonistik in eins. Beim Verhalten gegenüber Ketzern spielte die caritas keine Rolle, sodaß auch der amor correctionis entfiel“109. Die mittelalterlichen Prozesse und die drakonischen Strafen, mit denen Ketzerei und Blasphemie sanktioniert wurden, bringen auf grausame Art und Weise den Strafzweck der Abschreckung deutlich zum Ausdruck110. Das Sanktionsmotiv der „Wahrung der absoluten Gerechtigkeit“ spielte bei den Dekretisten nur eine untergeordnete Rolle und wurde der Verhinderung eines Ärgernisses oder Schismas bzw. der Wahrung des innerkirchlichen Friedens untergeordnet. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn von einer größeren Anzahl von Gläubigen Unrecht getan wurde oder die Tat eines Einzelnen so große Publizität „genoss“, dass „die Auferlegung von Strafen … mehr schaden als nützen“ würde. An Stelle einer unmittelbaren Sanktionierung sollte in einem solchen Fall „die oratorische Fürbitte treten“, verbunden mit dem „geduldigen Warten darauf, daß sich die Menge eines Besseren besinnt“111. Indirekt wurde damit dem Element der Öffentlichkeit eines Delikts besondere Beachtung geschenkt, denn Delikte, welche potentiell dazu neigen, in der Öffentlichkeit einen Skandal zu erregen, sollten härter bestraft werden. Andererseits konnte sich die größere Publizität unter Umständen auch Sanktions-hemmend auswirken, nämlich dann, wenn eine Sanktionierung weitere Unruhe befürchten ließ. Die kirchliche Sanktion wurde folgend stärker als bisher im Gemeinschaftsbezug gesehen. Dabei war die besondere Reaktion auf ein „ärgernis 108 Ebd.; vgl. auch Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 35 f. Hinsichtlich der Sanktionszwecke verweist Gratian unter anderem auf Lk 9,51–56, um zu charakterisieren, welchen Zweck die Strafe verfolgen soll: Sie soll nicht von Rache und Vergeltung, sondern zur Besserung und Korrektur des Fehlverhaltens des Delinquenten auferlegt werden – „non ut odium exerceatur, sed ut pravitas corrigatur“ (C. 23 q. 4 c. 54). Diese Interpretation berücksichtigt einerseits die jesuanische Absage der Gewaltanwendung und versuchte, im Sinne des Liebesgebotes einen für den Täter nützlichen und positiven Standpunkt einzunehmen. Ein Vergeltungsgedanke wurde von Gratian und den Dekretisten als in Widerspruch mit dem Liebesgebot Jesu abgelehnt. 109 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 141; vgl. dazu auch Alexander Dordett: Der geistliche Charakter der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 19. 110 Vgl. Wilhelm Rees: Häresie, Apostasie und innerchristliche Gewalt in kirchenrechtlicher Sicht. 111 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 134.
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erregendes peccatum manifestum“ mit einer auf „die Allgemeinheit ausgerichteten Sanktion“ nicht neu, wenn man sich das öffentliche Bußverfahren in Erinnerung ruft. So „lag es nahe, diese Konzeption zu wiederholen. Die Dekretisten verlangten bei ihrer Abgrenzung vom peccatum, daß das crimen unter anderem ein Ärgernis für die Kirche darstellt“112. Anzumerken ist aber, dass bei all dieser Entwicklung die Besserung des Delinquenten nie aus dem Blick verloren wurde. Anhand dieser theoretischen Überlegungen der Kanonisten ist klar, dass die Sanktion prinzipiell als eine Art ultima ratio angesehen wurde. „Die Dekretisten betrachten als den Zweck kirchlicher Strafen zunächst die Korrektur des individuellen Fehlverhaltens, dann aber auch die Zeichensetzung gegenüber der Allgemeinheit. Es geht im ersten Stadium um die Besserung des einzelnen fehlgegangenen Christen, im zweiten um den Schutz der kirch lichen Gemeinschaft durch Abschreckung und Absonderung.“113 Nach und nach wurde versucht, die Maßnahmen, die eine Besserung des Täters hervorrufen sollen, genauer zu beschreiben. Innozenz III. fasste sie unter dem Begriff „censura“ zusammen und nannte konkret die Exkommunikation, das Interdikt und die Suspension114. „Diese auf den ersten Blick unscheinbare Legaldefinition“ ist für die kirchliche Doktrin über das kirchliche Sanktionsrecht bis in die Gegenwart „von größter Bedeutung“. Es wird dadurch insbesondere „deutlich gemacht, daß die Zensuren, deren Hauptform die Exkommunikation ist, sich von den anderen Strafen unterscheiden“115. Während nun mit dieser Zuordnung Innozenz’ III. die Zensuren benannt waren, blieb weiterhin unklar, welche Sanktionen zu den Vindikativstrafen zu zählen sind. Auch die Dekretalisten schufen keine präzise inhaltliche Spezifizierung der beiden Sanktionsgruppen116, wenngleich sich durchaus Grundtendenzen ergaben: Danach werden Zensuren mehrheitlich als geistliche Sanktionen beschrieben, die zur Besserung der Sünder auferlegt werden und deren Legitimität entfällt, sobald diese eingetreten bzw. der Grund für die Sanktionsverhängung weggefallen ist. Bei den Zensuren steht insofern das Seelenheil des Täters im Vordergrund. Der Vergeltungsgedanke wurde im Zuge der hochscholastischen Naturrechtslehre erneut aufgegriffen und „anders als noch bei den Dekretisten als legitimer Strafzweck betrachtet … Entsprechend werden die poenae tempo rales nun als poenae vindicativae bezeichnet“117. 112 Ebd.,
141. 137. 114 Vgl. Decretalium D. Gregorii Papae IX Compilatio X 5.40.20; Georg May: Art. „Bann“, 176. 115 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 148. 116 Vgl. Willibald Plöchl: Die Geschichte des Kirchenrechts Bd. II, 387 f. 113 Ebd.,
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Hinsichtlich des Einsatzreihenfolge etablierte sich ein ordo correctionis, demgemäß poenae temporales erst ergriffen werden sollen, wenn die Zensur den Sünder nicht zu einer Änderung seines Verhaltens zu bewegen vermag. Die Begründung für diese Reihenfolge liegt darin, dass zeitliche Sanktionen nicht durch Absolution rückgängig zu machen sind, sodass sie für den Betroffenen unter Umständen „das größere Übel bedeuten“ können118. Andererseits können Sühnestrafen auch dann noch „als Vergeltung für begangenes Unrecht verhängt werden“, wenn der Täter sich bereits gebessert hat119. Die Zensuren wurden in diesem Sinne als die weniger schweren Sanktionen angesehen, die eingesetzt werden, wenn das pastorale Bemühen und die Ermahnung keine Wirkungen zeigen. Es muss als Ironie aufgefasst werden, dass das heutige Sanktionssystem ein genau umgekehrtes Ergebnis widerspiegelt120. Nach und nach wurde schließlich die Unterscheidung zwischen Zensur und Vindikativstrafe „institutionalisiert“121 und präziser herausgearbeitet. In der nachtridentinischen Kanonistik entstanden eigene Abhandlungen zu den jeweiligen Sanktionsarten. Diese Konzeption änderte sich im Wesentlichen nicht mehr bis zur ersten Kodifikation des kanonischen Rechts im Jahr 1917 und fand dort ihren Niederschlag in den cann. 2241 und 2286 CIC/1917122. 2. Zensur und Vindikativstrafe im CIC/1917 a) Die Zensur im CIC/1917 Die Zensur123, die traditionell primär die Besserung des Täters zum Ziel hat, wird in can. 2241 § 1 CIC/1917 definiert als „poena qua homo baptiza tus, delinquens et contumax, quibusdam bonis spiritualibus vel spiritualibus adnexis privatur, donec, a contumacia recedens, absolvatur“. Demnach darf 117 René
Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 153. 150, mit entsprechenden Nachweisen. 119 Ebd., 153. 120 Vgl. Stephan Haering: Strafe oder Sanktion, 530 ff.; vgl. dazu das Kapitel 4. C. III. 1. „Warum eine theologisch fundierte Unterscheidung der Sanktionen notwendig ist“ in dieser Arbeit. 121 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 151; vgl. auch Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 37 f. 122 Die weitere Darstellung beschränkt sich auf die Zensuren und Sühnestrafen, da sie im Fokus dieser Untersuchung liegen. Die Sanktionssicherungsmittel und Bußen spielen im hier vorliegenden Zusammenhang keine Rolle und bleiben daher unerwähnt. 123 Ein ausführlicher Überblick zur Zensur im CIC/1917 findet sich bei Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 198–218. 118 Ebd.,
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ein Getaufter124, der ein Delikt begeht und hartnäckig daran festhält und dem deshalb geistliche125 oder damit verbundene Güter entzogen werden, von der Zensur erst losgesprochen werden, wenn er die Widersetzlichkeit aufgegeben hat126. Voraussetzung für den Eintritt bzw. die Feststellung einer Zensur ist die „äußere und vollendete Straftat, die zugleich schwere Sünde war, sowie eine verstockte Willenshaltung“127 (vgl. can. 2242 § 1 CIC/1917). Wird die Zensur in Form einer Spruchsanktion (poena ferendae sententiae) verhängt, muss ihr eine Verwarnung mit der Aufforderung vorausgehen, das schädigende Verhalten aufzugeben. Erst wenn der Delinquent dieser Aufforderung nicht entspricht, kann vom Tatbestandsmerkmal der contumacia, der Widersetzlichkeit, ausgegangen werden128. Dem Eintritt einer Zensur mit Begehung der Tat, also latae sententiae, geht naturgemäß keine gesonderte Verwarnung voraus – hier genügt offenbar die Übertretung des mit der Tatsanktion bewehrten Gesetzes oder Verwaltungsbefehls, sofern die Tat subjektiv zugerechnet werden kann (vgl. can. 2242 § 2 CIC/1917). Der Zweck der Zensur gilt als erreicht, „sobald die Besserung eingetreten, Gehorsam geleistet und der Widerstand gebrochen ist“129. Von der Zensur muss demnach absolviert werden, „wenn der Delinquent von seiner Contumacia abgelassen hat“130. Nach herrschender Lehre wurde mit can. 2255 § 1 CIC/1917 eine „erschöpfende Aufzählung“ der Zensuren vorgelegt, indem Exkommunikation, Interdikt und Suspension genannt werden. Die Unterscheidung zwischen Zensur und Vindikativstrafe wurde im CIC/1917 jedoch weder materiell noch in ihrem tatsächlichen Einsatz „messerscharf“ vollzogen. Das wird unter anderem dadurch ersichtlich, dass das „Interdikt und die Suspension … sowohl Besserungs- als auch Sühnestrafe sein“131 konnten (vgl. cann. 2291 °1 u. 2; 2298 °2 CIC/1917).
124 Zur Reichweite des kirchlichen Sanktionsrechts im CIC/1917 vgl. Seite 58 Fn. 120 in dieser Arbeit. 125 Vgl. Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 408. 126 Vgl. Heribert Jone: Gesetzbuch des kanonischen Rechtes, 391. 127 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 198 f. 128 Rees verweist auf den interessanten Umstand, dass eine „Beugestrafe ohne vorgängige Mahnung“ als „sententia iniusta“ eingestuft wurde (vgl. can. 1905 § 2 °4 CIC/1917) – vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 199 Fn. 81. 129 Eduard Eichmann: Das Strafrecht des Codex Iuris Canonici, 109. 130 Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 408. 131 Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 37; vgl. auch Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 150–155; Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 408.
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b) Die Vindikativstrafe im CIC/1917 Die Vindikativstrafen132 werden in can. 2286 CIC/1917 beschrieben als jene Strafen, „quae directe ad delicti expiationem tendunt ita ut earum remis sio e cessatione contumaciae delinquentis non pendeat“, welche also direkt auf die Sühne bzw. Vergeltung des Delikts abzielen, so dass ihr Nachlass nicht von der Aufgabe der Widerspenstigkeit des Delinquenten abhängt. Sühnestrafen dienen demnach vorwiegend zur Sühne für das begangene Unrecht und können neben dem Entzug oder der Einschränkung geistlicher Güter auch „weltliche Güter“ betreffen133. Als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zur Zensur ist insbesondere die Unabhängigkeit der Sühnestrafe vom Bestehen einer contumacia des Delinquenten zu nennen134. Die Sühnestrafe wird auf bestimmte Zeit oder für immer verhängt und endet durch Verbüßung oder Begnadigung135 (vgl. cann. 2289, 2236 CIC/1917). Sie wird in aller Regel als Spruchstrafe angedroht, wobei sie prinzipiell auch in Form einer Tatstrafe vorgesehen werden könnte. 3. Sanktionszwecke im CIC/1917 Zensur und Sühnestrafe unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Sanktionszwecke136. Der Zensur kommt im CIC/1917 der Tradition entsprechend vorwiegend medizinale Funktion zu, sodass durch sie die Besserung bzw. Bekehrung des Delinquenten erreicht werden soll. Augenscheinlich wird dies sowohl bei ihrem Eintritt bzw. auch bei ihrem Erlass durch die Verknüpfung mit der contumacia des Täters137. Der Besserungszweck wird 132 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 218–225. 133 Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 408. 134 Vgl. Eduard Eichmann: Das Strafrecht des Codex Iuris Canonici, 109; Heri bert Jone: Gesetzbuch des kanonischen Rechtes, 460. 135 Vgl. Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 408. 136 Für einen Überblick über die weltliche und kirchliche Sanktionszwecklehre vgl. Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke; Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 83– 94; Arnold Pöschl: Kurzgefasstes Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts auf Grund des neuen kirchlichen Gesetzbuches, 349. 137 Letztlich kommt es schon im CIC/1917 nur auf die rein äußerliche Reaktion des Täters an; einen inneren Wandel oder eine aufrichtige Reue muss der Täter nicht nachweisen, wenngleich die ganzheitliche Umkehr sicherlich vom Sanktionszweck her intendiert ist. „Damit wäre zwar der Zweck der Strafe nicht im vollen Sinn erreicht, aber der gesetzlichen Forderung entsprochen“ – Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 335.
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im CIC/1917 nach Ansicht der meisten Kanonisten jedoch nicht exklusiv der Zensur zugeschrieben, denn es gibt begründete Anhaltspunkte, dass auch Sühnestrafen „entgegen der Legaldefinition in can. 2286 CIC/1917 das Ablassen von einem fortgesetzten Delikt bezwecken“138 wollen (vgl. cann. 1475 § 2, 2381 n. 1, 2394 n. 2, 2398, 2403 CIC/1917). Die „punitio delicti“ (can. 2215 CIC/1917) hingegen, die Bestrafung des Delikts, wird im CIC/1917 als Hauptstrafzweck der Vindikativstrafen beschrieben, wobei in ihrem Fall ebenso die „Wiederherstellung der verletzten Gerechtigkeit … und Wiedergutmachung des Ärgernisses“139 eine wichtige Rolle spielen. Aber auch diese Sanktionszwecke werden nach herrschender Lehre nicht exklusiv der Vindikativstrafe zugerechnet, da sie bei den übrigen Sanktionsmitteln als Teilfunktionen festzustellen sind. Innerhalb der Kanonistik finden sich zur Sanktionszwecklehre des CIC/1917 sehr unterschiedliche Einschätzungen, von denen nun einige kurz genannt werden sollen: Joseph Hollweck hatte als Konsultor und durch sein privates Kodifika tionsprojekt nicht unerheblichen Einfluss auf den CIC/1917140. Seiner Auffassung nach liegt der Zweck kirchlicher Sanktionen „vorwiegend“ in der Besserung des Delinquenten, aber auch in „der Abschreckung und der öffentlichen Sühne“141. Alfredo Ottaviani hob in seinen Ausführungen den Schutz der öffentlichen, gemeinschaftlichen Ordnung und die Wiederherstellung der verletzten Gemeinschaftsordnung hervor. Die Besserungsfunktion hingegen sei nur als sekundärer Sanktionszweck anzusehen142. Ähnlich gilt für Alexander Szentirmai nicht die Besserung des Delinquenten als „Hauptzweck (finis primarius)“ kirchlicher Sanktionen, sondern ihre Abschreckungsfunktion143.
138 Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 42; vgl. auch den Überblick von Dag mar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 121–169. 139 Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 335. 140 Vgl. Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 45 f.; vgl. dazu insb. auch Klaus Zeller: Der Eichstätter Kanonist Joseph Hollweck, 62–91, 248–258; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 124–130. 141 Vgl. Joseph Hollweck: Die Kirchlichen Strafgesetze, 84. 142 Vgl. dazu die Darstellung in Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 71, mit Verweis auf Alaphridus Ottaviani: Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici Bd. 1 Nr. 171–177, 277–288. 143 Vgl. Alexander Szentirmai: Erwägungen zur Straftheorie des geltenden Kirchenrechts, 274.
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Eduard Eichmann144 ging von einer Vereinigungstheorie aus. Sanktionen haben seiner Ansicht nach die Funktion der „Abschreckung, Besserung, Genugtuung“, doch sei dabei nicht ausgeschlossen, „dass bei gewissen Straf mitteln (Zensuren) der Besserungszweck, bei anderen (Vindikativstrafen) der Vergeltungszweck … überwiegt“145; „… ungeachtet ihres ausgesprochenen Besserungszweckes“ habe auch die Zensur „Strafcharakter“ und gelte als „Zwangsmittel“, um die contumacia des Delinquenten zu brechen146. Nach Hans Barion soll die Strafe „den verstockten (contumax) Delinquenten … zwingen, daß er sein Delikt bereut und entsprechende Genugtuung für Schaden und Ärgernis leistet (Zensur, Medizinalstrafe), oder … das Delikt zu sühnen (Vindikativstrafe)“. Der Besserungs- und Sühnecharakter der jeweiligen Sanktionen sei „zwar nicht ausschließlich, aber doch als jeweils primärer gemeint“147. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Klaus Mörsdorfs Unterscheidung zwischen einem „inneren“ und „äußeren Strafzweck“. Während sich innere Sanktionszwecke, nämlich die „Wiederherstellung der gestörten Gemeinschaftsordnung, … unmittelbar aus dem Wesen“ der Sanktion ergeben148, würden äußere dadurch definiert, dass sie zwar „regelmäßig mit der Strafe angestrebt werden, aber im Einzelfall fehlen können, ohne dass die Strafe ihren Sinn verliert“, und der „Verhütung von [weiteren] Verbrechen dienen“149, so Mörsdorf. Die Hervorhebung des „Besserungszwecks“ betrachtet er angesichts der obliegenden Sorge der Kirche um das Seelenheil der Menschen zwar als „verständlich“, doch könne die Besserung des Täters nur Teil des „äußeren Strafzweckes“ sein, „weil die Strafe ihrem Wesen nach als Vergeltung einer Übeltat und nicht als bloße Besserungsmaßname gerechtfertigt“ sei150. Diese Argumentation Mörsdorfs stößt insbesondere bei der Beschäftigung mit dem Problem der Rechtsfigur des Gewissenstäters auf Interesse, da sie in gewisser Weise suggeriert, dass der Besserungszweck im Fall der Zensur problemlos gestrichen werden könnte, ohne ihr Wesen zu verändern. Betrachtet man jedoch die Wurzeln und das Wesen der Zensur genauer, dann erscheint die Position Mörsdorfs doch eher zweifelhaft. Die 144 Zur Position Eduard Eichmanns vgl. den Überblick bei Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 149–151. 145 Eduard Eichmann: Das Strafrecht des Codex Iuris Canonici, 2 f. 146 Ebd., 75; vgl. ebd., 52: Der Strafcharakter von Zensuren sei dadurch gegeben, dass sie Rechtsgüter entziehen und auch sühnen bzw. vergelten wollen, wenngleich die Besserung des Delinquenten im Vordergrund stehe. 147 Hans Barion: Art. „Kirchliches Strafrecht“, 408. 148 Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici III, 295. 149 Ebd., 295 f. 150 Ebd., 331.
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Zensur zielt ja gerade auf die Beendigung eines widersetzlichen Verhaltens ab und ist nur so lange legitim, solange die Hartnäckigkeit besteht151 – dieser Befund galt im Grunde schon für den CIC/1917, obwohl durch die cann. 2291 °1 u. 2; 2298 °2 CIC/1917, wonach das Interdikt und die Suspension auch als Sühnestrafe eingesetzt werden konnten, das Bild etwas verschwommen war. Jedenfalls ist zweifelhaft, ob die Legitimität der Zensur mit der Vergeltung eines Übels begründet werden kann; vielmehr wäre umgekehrt die Frage zu stellen, ob denn die Zensur eigentlich eine „Strafe“ ist152. Das kirchliche Lehramt schließlich hielt in Bezug auf die Sanktionszwecklehre des CIC/1917 an der überlieferten Unterscheidung zwischen Besserungssanktionen und Sühnestrafen fest und hob vor allem die Dienstfunktion der kirchlichen Sanktionsgewalt für das Heil der Seelen hervor153. Zusammenfassend ist mit Alfred Hierold zu resümieren, dass der Gesetzgeber von 1917 hinsichtlich der Sanktionszwecke wohl insgesamt von einer „Vereinigungstheorie“ ausgeht, welche eine Kombination aus den gängigen Straftheorien darstellt154. Dennoch können der Zensur und der Sühnestrafe im CIC/1917 primäre Sanktionszwecke zugeordnet werden, die sich aus dem jeweiligen Wesen der Sanktion ergeben.
V. Zensur und Vindikativstrafe im CIC/1983 Im Zuge der CIC-Reform155 wurden im Bereich des Sanktionsrechts so viele Streichungen vorgenommen wie in keinem anderen Rechtsbereich des CIC. Das mag einerseits zu kritisieren sein, weil dieses Normengefüge nun teilweise einem Torso gleicht156, andererseits ermöglicht dieser Umstand der Kanonistik, großzügiger und freier über Verbesserungen innerhalb dieses Rechtsgebietes nachzudenken, als das sonst vielleicht möglich gewesen wäre. Als Dauerzustand ist die geltende Konzeption des Sanktionsrechts aufgrund der mangelhaften Systematik und der fehlenden theologischen Be151 Vgl.
ebd. Mörsdorfs Definition der Strafe vgl. Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici III, 330 f. 153 Vgl. dazu insb. Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 38–41. 154 Vgl. Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 335–337; vgl. dazu auch Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 83–86; Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 45–50. 155 Vgl. Communicationes 44 (2012), 184–264, 548–591; Communicationes 45 (2013), 165–238, 484–547; Communicationes 46 (2014), 105–155, 408–512; Communicationes 47 (2015), 118–158, 423–478; Communicationes 48 (2016), 139–215, 467–569 (= Schema Poen); Communicationes 49 (2017), 92–143, 331–385; Schema CIC/1980; Schema CIC/1982. 156 Vgl. Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1588. 152 Zu
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gründung aber sicherlich ungeeignet. So verwundert es nicht, dass schon während der CIC-Reformkommission der Vorschlag unterbreitet wurde, die Unterscheidung zwischen Zensuren und Sühnestrafen überhaupt „abzuschaffen, da sie [– zumindest in der vorgelegten Konzeption157 –] eines theologischen Fundaments entbehre“158. Doch anstatt sich darum zu bemühen, die Zweigliedrigkeit dieser Differenzierung zu begründen, begnügte man sich bei der Ablehnung dieses Vorschlags mit dem lapidaren Hinweis, dass sonst „das ganze System der Strafen umstürze, das auf der erprobten Tradition der Kirche beruhe“159. Diese Argumentation seitens der Konsultoren bezeichnet Lüdicke wohl nicht zu Unrecht „mehr formal als argumentativ“160. Im Ergebnis hebt sich der CIC/1983 hinsichtlich der Konzeption der Sanktionsmittel nur wenig von seinem Vorgänger von 1917 ab. Es wird an der traditionellen Unterscheidung zwischen „Beugestrafen“161 bzw. Zensuren (poenae medicinales seu censurae) und Sühnestrafen162 (poenae expiato riae) festgehalten (vgl. c. 1312 CIC/1983), ohne sie jedoch zu definieren163, da sich das Wesen der jeweiligen Sanktion nach Ansicht der Reformkommission aus den einschlägigen Canones selbst ergebe und die nähere Begriffsbestimmung Aufgabe der Doktrin sei164. Dennoch wirken die früheren Definitionen des CIC/1917 in vielfacher Hinsicht nach165. Durch den Verweis des Gesetzgebers auf die jeweiligen Sanktionsmaßnahmen selbst (vgl. c. 1312 § 1 CIC/1983) nimmt dieser bei der Unterscheidung zwischen Zensur und Sühnestrafe so zumindest eine gewisse Konkretisierung vor (vgl. cc. 1331–1333 CIC/1983 für die Zensuren und c. 1336 CIC/1983 157 Einfügung
durch den Autor dieser Arbeit. Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 368. 159 Ebd.; vgl. dazu Communicationes 8 (1976), 169. 160 Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/2, Rdnr. 2 (Stand Juli 1992). 161 „Beugestrafe“ ist der Terminus der deutschen Übersetzung im CIC/1983 – vgl. Codex des kanonischen Rechtes. Lateinisch-deutsche Ausgabe (8. aktualisierte und verbesserte Auflage, Kevelaer 2017). Aufgrund des Wesens dieser Sanktion ist jedoch der Begriff „Zensur“ vorzuziehen – vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 173: „Der Begriff der Zensur hingegen spricht überhaupt nicht von einer Strafe. Da so ein Mißverständnis der Zensuren im Sinne von Vergeltungsmaßnahmen vermieden werden kann, ist dieser Begriff zu bevorzugen.“ 162 Dem CCEO ist der Begriff „Sühnestrafe“ fremd. Fürst begründet dies damit, dass im ostkirchlichen Kontext „niemals Vergeltung … das letzte Mittel“ sei, sondern die medizinale Wirkung, die eindeutig im Vordergrund stehe, um „die durch das Delikt geschlagenen Wunden zu heilen“ – vgl. Carl Gerold Fürst: Katholisch ist nicht gleich lateinisch, 140; Wilhelm Rees: Unterschiedliche Strafen in der einen katholischen Kirche, 945; der Sache nach gibt es aber auch im CCEO „Strafen“. 163 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 370. 164 Vgl. Communicationes 9 (1977), 147. 165 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/3, Rdnr. 3 (Stand Juli 1992). 158 Wilhelm
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für die Sühnestrafen). Die Aufzählung der Zensuren ist wie schon im CIC/1917 vermutlich in einem abschließenden Sinne zu interpretieren, jedenfalls wird in ihrem Fall – im Gegensatz zu den Sühnestrafen (vgl. c. 1312 § 2 CIC/1983) – explizit von keinen weiteren Möglichkeiten gesprochen166. Dies erklärt zudem den Umstand, dass die Notwendigkeit einer Vereinbarkeit „mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche“ nur im Hinblick auf die Sühnestrafen ausdrücklich festgehalten wurde (c. 1312 § 2 CIC/1983), obwohl dieser Grundsatz zweifelsohne für alle kirchlichen Sanktionen gilt167. Die Klausel im CIC/1917 (vgl. can. 2255 § 2), wonach Interdikt und Suspension auch als poenae vindicativae eingesetzt werden konnten, wurde nicht mehr in den CIC/1983 aufgenommen, so dass mit Lüdicke „davon auszugehen ist, daß die Zensuren und die poenae expiatoriae einander begrifflich ausschließen“168. 1. Die Zensur im CIC/1983 Die Definition der Zensur im CIC/1917 (vgl. can. 2241 § 1) wurde – wie bereits erwähnt – nicht in den CIC/1983 übernommen169. Als einschlägige Canones hinsichtlich der Zensur sind die cc. 1312 § 1 °1, 1131–1335, 1347 und 1358 CIC/1983 anzusehen. C. 1312 § 1 °1 CIC/1983 beinhaltet neben einem Verweis auf die verschiedenen Arten der Zensur indirekt eine Aussage über ihr Wesen: Zensuren sind „poenae medicinales seu censurae“170, also Sanktionen mit medizinalen Charakter. Während in den cc. 1331–1335 CIC/1983 die konkreten Rechtsfolgen der Exkommunikation, des Interdikts und der Suspension beschrieben werden, beziehen sich die cc. 1347 und 1358 CIC/1983 auf ein weiteres Wesensmerkmal der Zensur, nämlich die contumacia – die Widersetzlichkeit. In der Kanonistik wird die Zensur daher als eine Maßnahme beschrieben, welche Rechte eines Gläubigen entzieht oder einschränkt, um eine „hart näckige Verstocktheit zu brechen“171 bzw. den Delinquenten von einer hartKlaus Lüdicke: MKCIC 1312/5, Rdnr. 9 (Stand Juli 1992). Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/9, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992); Audomar Scheuermann: Das Schema 1973 für das kommende kirchliche Strafrecht, 16. 168 Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/5, Rdnr. 9 (Stand Juli 1992). 169 Vgl. Communicationes 9 (1977), 148 – ein entsprechender Vorschlag einer Definition der Exkommunikation wurde abgelehnt. De Paolis verweist aber darauf, dass sich der Begriff gegenüber dem CIC/1917 nicht verändert habe – vgl. Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 244. 170 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 369. 171 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 139; vgl. insb. den Überblick ebd., 173– 182; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 194. 166 Vgl. 167 Vgl.
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näckigen Widersetzlichkeit abzubringen. „Zensuren … sollen den Täter zur Besinnung und so zur Änderung seines Verhaltens bringen und stellen ein Spezifikum kirchlichen Rechts dar.“172 Die Zensur betrifft überwiegend geistliche Güter, wenngleich im Fall der Suspension sicherlich auch mit dem Amt verbundene materielle Güter verknüpft sein können. Gemäß c. 1347 CIC/1983 hat der Verhängung einer Zensur eine Verwarnung vorauszugehen, welche die Aufforderung beinhalten muss, die Widersetzlichkeit aufzugeben. Dieses Anknüpfen an das Bestehen einer contumacia bildet ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur Sühnestrafe. Zudem wird dadurch klar, warum die Zensur „naturgemäß für unbestimmte Zeit“173 verhängt wird und nur solange aufrechtzuerhalten ist, wie die Verstocktheit bzw. Widersetzlichkeit tatsächlich besteht174. Ein Delinquent, der die contu macia aufgibt, hat – unabhängig von der Art des Wirksamwerdens der Zensur (Tatsanktion oder Spruchsanktion) – Anspruch auf ihren Nachlass (vgl. c. 1358 § 1 CIC/1983). „Der mit einer Sanktion Belegte kann insofern die Voraussetzungen für den Sanktionsnachlaß in einem gewissen Sinn selbst schaffen.“175 Im Unterschied zu den Sühnestrafen erfolgt die Beendigung der Zensur demnach nicht durch Begnadigung oder Zeitablauf, „sondern in Erfüllung eines (bedingten) Rechtsanspruchs“ (c. 1358 § 1 CIC/1983)176. Als Indizien dafür, dass die Widersetzlichkeit aufgegeben wurde, werden vom Gesetzgeber die Reue, eine angemessene Wiedergutmachung des Schadens bzw. die Behebung des entstandenen Ärgernisses genannt (vgl. c. 1347 CIC/1983). Da aber eine innere Einsicht bzw. Reue rechtlich nur schwer „bewiesen“ werden kann, reicht wohl in der Praxis die tatsächliche Aufgabe des widersetzlichen Verhaltens und eine ausreichende Wiedergutmachung des Schadens, wenngleich eine „umfassende“ Bekehrung zweifelsohne von der Zensur intendiert wird177. Die dadurch entstehende „Gefahr …, daß ein 172 Aymans/Mörsdorf/Müller:
KanR IV, 91. Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 233. 174 Vgl. Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 194. 175 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 156; Ludger Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 233. 176 Ludger Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 234; zur Möglichkeit des Nachlasses einer Zensur trotz weiter bestehender Widersetzlichkeit und der Befreiung durch den Ordinarius auf dem Gnadenweg vgl. die Ausführungen ebd., 234–237; ebd., 235: „Dennoch ist klar, dass das Rechtsinstitut der Begnadigung für Tatsanktionen nicht gedacht ist und dass sich die Wirkung des Sanktionsnachlasses in diesem Fall u. U. auf den äußeren Rechtsbereich beschränkt.“ 177 Hierold weist ausdrücklich darauf hin, dass der CIC/1983 nicht nur auf eine rein äußerliche Reue und Wiedergutmachung Wert legt, sondern dass es ihm auf eine tatsächliche und echte Umkehr des Täters ankommt. Dies werde mit den Formulie173 Ludger
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Straftäter zwar sein sichtbares Verhalten ändert, aber nicht seine Meinung“, oder „daß er, nur um einen Strafnachlaß zu bekommen, Reue zeigt, wo keine ist“, ist freilich nicht von der Hand zu weisen. „Hier besteht eine Grenze der Einwirkungsmöglichkeiten“178 durch die kirchliche Sanktionsgewalt. Unter den Zensuren ist die Exkommunikation sicher die „prominenteste“ und wichtigste; sie gilt gleichsam als „Prototyp“ aller Sanktionen der Kirche179. Die Exkommunikation und das Interdikt sind grundsätzlich gegen jeden Gläubigen denkbar, während hingegen die Suspension nach geltendem Recht nur Kleriker treffen kann180. In der Kanonistik gibt es Stimmen, welche aufgrund des Wesens und der Funktion der Zensur eine Identifikation mit den Strafen im engeren Sinn verneinen181. Mit Blick auf die Charakterisierung im geltenden Sanktionsrecht des CIC/1983 meint Lüdicke jedoch, „daß eine klare Entscheidung über den Charakter der Exkommunikation nicht gefallen ist“182. Erkennbar sei dies dadurch, dass es „Exkommunikationen“ gibt, „die eine auch innere Tatsache zum Ausdruck bringen (z. B. 1364), und solche, bei denen das nicht der Fall ist (z. B. 1378 § 1)“. Zudem werde die Exkommunikation sowohl als Tatsanktion und auch als Spruchsanktion angedroht, wobei sich die Androhung per Tatsanktion nicht auf Tatbestände beschränke, „die per se einen Selbstausschluß aus der communio bedeuten“. Und schließlich werde der Eindruck erweckt, „daß die Exkommunikation nicht ohne schwere Sünde möglich sei und der Weg zur Vergebung dieser Sünde notwendig die Lösung von der Kirchenstrafe voraussetze“, da die Exkommunikation immer „den Empfang sündenvergebender Sakramente (Buße und Krankensalbung)“183 verbiete. Die im geltenden Recht enthaltenen Deutungen und Ausformungen rungen „vere paenituerit“ (c. 1347 § 2 CIC/1983) und „reum emendari“ (c. 1341 CIC/1983) zum Ausdruck gebracht – vgl. Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 338; vgl. auch Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 139; Richard Potz: Die Abtreibung im kirchlichen Recht, 212 f.; Raimund Sagmeister: Das neue kirchliche Strafrecht und der Schutz des Lebens, 497: „Mag eine Kirchenstrafe immer auch nur Anwendung eines äußeren Zwangsmittels bleiben und daher als ungeeignet zum Erzielen einer inneren Änderung des Menschen erscheinen, so steht dennoch dahinter die Grundidee einer Appellation an die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen. Eine kirchliche Strafe, die nur ein äußeres Sich-Beugen zur Folge hat und nicht auch als innerer Gewissensanruf verstanden wird, verfehlt ihren Sinn.“ 178 René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 99. 179 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, insb. 192. 180 Vgl. dazu Wilhelm Rees: § 106 Straftat und Strafe, 1598–1600. 181 Vgl. insb. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 91, mit Verweis auf Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 285–293. 182 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1331/6, Rdnr. 7 (Stand April 1993). 183 Ebd.
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der Exkommunikation bzw. der Zensur im Allgemeinen lassen demnach keine konzeptionelle Einheitlichkeit erkennen, wie Lüdicke nicht zu Unrecht feststellt. 2. Die Sühnestrafe im CIC/1983 Auch im Fall der Sühnestrafe184 wurde die Definition des CIC/1917 (vgl. can. 2286) nicht in den CIC/1983 übernommen. Jedoch kann aus den cc. 1312 § 1 °2 und 1336 CIC/1983 für ihr Wesen Folgendes entnommen werden: Die früheren Vindikativstrafen (poenae vindicativae) werden nun im CIC/1983 poena expiatoria (vgl. c. 1312 § 1 °2 CIC/1983) genannt185. Damit wird begrifflich die Akzentuierung des Gesetzgebers sichtbar, den „zu harten Vergeltungsgedanken gegenüber der Sühneabsicht in den Hintergrund“ zu rücken186. Ob das allerdings „mehr als eine verbale Retusche ist, wurde bisher noch nicht geklärt“187, so Pahud de Mortanges. Diese begriffliche Veränderung ist wohl am ehesten vor dem Hintergrund der Erkenntnis zu deuten, dass „die Vergeltungsidee in der kirchlichen Disziplin eine von Grund auf andere Rolle spielt“ als in „modernen Strafsystemen“, da es im kirchlichen Sanktionsrecht eine sehr enge Verquickung von Delikt und Sünde gibt188. An einer systematisch nicht sehr glücklichen Stelle – weil die enthaltene Beschreibung eher beiläufig auf „aliae poenae expiatoriae“ abstellt189 – findet sich mit c. 1312 § 2 CIC/1983 ein weiterer Hinweis, worum es sich bei Sühnestrafen (poenae expiatoriae) handelt; c. 1312 § 2 lautet: „Lex alias poenas expiatorias constituere potest, quae christifidelem aliquo bono spirituali vel temporali privent et supernaturali Ecclesiae fini sint consentaneae.“
Demnach bewirken Sühnestrafen den Entzug eines geistlichen oder zeitlichen Gutes und müssen mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche vereinbar sein190. Diese Beschreibung gilt aber im Grunde ebenso für die Zensuren und 184 Zur Sühnestrafe im Allgemeinen vgl. den Überblick in Aymans/Mörsdorf/Mül ler: KanR IV, 183–191; Wilhelm Rees: § 106 Straftat und Strafe, 1601–1603; Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 391–397. 185 Vgl. George Nedungatt: Poena expiatoria in CIC. 186 Vgl. Audomar Scheuermann: Das Schema 1973 für das kommende kirchliche Strafrecht, 16; vgl. dazu auch Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 369 f.; Dag mar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 180, 217 f. 187 René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten, 154. 188 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 277 f.; vgl. dazu das Kapitel 4. IV. 1. „Sünde und Delikt“ in dieser Arbeit. 189 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/2, Rdnr. 2 (Stand Juli 1992). 190 Über die verschiedenen Deutungen, wie dieser Entzug von geistlichen und zeitlichen Gütern interpretiert werden kann vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/2, Rdnr. 2 (Stand 1992).
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
taugt insofern kaum als Differenzierungs- bzw. Herausstellungsmerkmal191. Ob daraus jedoch der Schluss zu ziehen ist, dass im CIC/1983 Sühnestrafe und Zensur trotz ihrer unterschiedlichen Funktionen eigentlich identisch sind, ist eher zweifelhaft. Die Sühnestrafe berührt in aller Regel „nicht das Recht auf den Empfang von Sakramenten und Sakramentalien“192, wohl aber unter Umständen ihre Spendung. Die Aufzählungen der Sühnestrafen durch den CIC/1983 sind allerdings nicht in einer abschließenden Weise zu verstehen (vgl. cc. 1312 § 2, 1336 § 1 CIC/1983), sodass ein sicheres Urteil über die betroffenen Rechtsgüter schwierig ist.° Hinsichtlich derer, die mit einer Sühnestrafe sanktioniert werden können, wird zunächst keine Unterscheidung hinsichtlich des Standes gemacht. Dennoch ist anzumerken, dass einzelne Sühnestrafen nur für Kleriker und Ordensleute vorgesehen sind und de facto auch die Mehrzahl der übrigen in Frage kommenden Sühnestrafen nur solche Christgläubige treffen kann, „die im weitesten Sinne ein Kirchenamt innehaben“193. Sühnestrafen werden im geltenden Recht für gewöhnlich in Form einer Spruchstrafe auf Dauer, auf bestimmte oder auf unbestimmte Zeit verhängt und „finden ihr Ende durch Verbüßung oder durch Begnadigung“194. Jedenfalls steht dem Täter trotz nachweisbarer Besserung kein Anspruch auf Nachlass der Strafe zu195. Dagmar Schaaf macht daher zu Recht darauf aufmerksam, dass die „Tatsache, dass es Sühnestrafen für immer gibt“, zeige, „dass der Strafzweck der Sühne unabhängig von dem der Besserung des Täters im kirchlichen Strafrecht existiert“196. 3. Exkurs: Die Disziplinarmaßnahme Von den klassischen Sanktionsarten der Zensur und Sühnestrafe wird in der herrschenden Kanonistik der Bereich des Disziplinarrechts abgehoben197. 191 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 178; vgl. auch Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/3, Rdnr. 3 (Stand Juli 1992); im Hinblick auf den CIC/1917 vgl. die Ausführungen von Eduard Eichmann: Das Strafrecht des Codex Iuris Canonici, 2 f. 192 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 183. 193 Ebd., 184. 194 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 369; vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 183; Ludger Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 233. 195 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 140. 196 Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 221. 197 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 92 f.; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 195.
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Als Exkurs wird dieser Abschnitt deshalb abgehandelt, weil die gesamtkirchliche Gesetzgebung bisher keinen solchen „eigenständigen“ Rechtsbereich kennt. Zwar finden sich im CIC/1983 durchaus einige Normen, die disziplinarrechtlichen Charakter tragen, dennoch fehlt eine einheitliche und nachvollziehbare Konzeption eines Disziplinarrechts198. Das Disziplinarrecht erwuchs im staatlichen Rechtsbereich in der Regel aus dem Beamtenrecht und wird dort als „die Gesamtheit der für die Ahndung dienstlicher Verfehlungen von Beamten geltenden Rechtsvorschriften“199 definiert. Freilich kann eine solche Definition „nicht unreflektiert“ auf den innerkirchlichen Rechtsbereich übertragen werden200. Mörsdorf beschreibt das kirchliche Disziplinarrecht als „die Gesamtheit der Rechtssätze, die sich auf die Ordnung des kirchlichen Gemeinschafts lebens beziehen, einerlei, ob sie auf göttlichem oder rein kirchlichem Recht beruhen“201. Nach der von Ludger Müller vertretenen Auffassung im IV. Band des Lehrbuches ist die Unterscheidung zwischen „Strafen“ und „Disziplinarmaßnahmen“ „nicht so sehr qualitativer Art“202. In welcher Art auf ein Fehlverhalten eines kirchlichen Bediensteten reagiert wird, hänge vielmehr vom verursachten öffentlichen Ärgernis ab und inwieweit general- oder spezialpräventive Aspekte der Sanktion im Vordergrund stünden203. Dagmar Schaaf unterscheidet zwischen Zensuren, Sühnestrafen und „den kirchlichen Dienst ordnende Verwaltungsmaßnahmen“, wobei sie die Zensur und die Sühnestrafe („als Strafen“) dem Sanktionsrecht zuordnet, „letztere hingegen (die den kirchlichen Dienst ordnende Verwaltungsmaßnahmen) der allgemeinen kirchlichen Disziplin“204, zur „Verwirklichung und Durchsetzung dieser Ordnung“205. Bei einigen Maßnahmen des Disziplinarrechts scheint ein wesentliches und von Sanktionsmaßnahmen unterscheidendes Element auch darin zu liegen, dass auf die Voraussetzung einer schuldhaften subjektiven Zurechnung verzichtet werden kann206. Als Beispiel dafür kann c. 1740 CIC/1983 genannt 198 Vgl. dazu Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 77–83; Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 112. 199 Carl Creifelds: Art. „Disziplinarrecht“, 325. 200 Vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 290. 201 Klaus Mörsdorf: Art. „Disziplin“, 426. 202 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 92. 203 Ebd., 93. 204 Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 292. 205 Ebd., 291. 206 Vgl. ebd.
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werden, der besagt, dass ein Pfarrer aus irgendeinem Grund, auch ohne schwere Schuld, des Amtes enthoben werden kann, wenn dies zum Nutzen der Kirche ist. Anhand dieser Norm wird erkennbar, dass im Disziplinarrecht unter Umständen andere Gründe für das Eingreifen durch die kirchliche Autorität ausschlaggebend sind207, wie bspw. das Schädlich- oder Unwirksamwerden des kirchlichen Dienstes oder die Amtsenthebung als eine notwendige Maßnahme zum Heil der Seelen einer Gemeinde oder zum Nutzen der Kirche (vgl. cc. 1740f CIC/1983). Daher haben einige Kanonisten schon „vor Jahren eine Trennung zwischen einem Straf- und einem Disziplinarrecht gefordert“208. Das heißt nun nicht, dass es nicht auch disziplinarrechtliche Normen geben könnte, die bewusst auf ein subjektives Verschulden des Betroffenen abstellen. Zudem wäre die Etablierung von Disziplinarmaßnahmen, die sich in ihren Wirkungen mit Sanktionsmaßnahmen überschneiden, nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr wünschenswert. Dies wird insbesondere in Anbetracht der Wirkungen der Suspension deutlich, „die als Dienststrafe mit dem Charakter einer Zensur zu bezeichnen ist“209. Gegenwärtig kann die Suspension nur Kleriker treffen; allerdings wäre es durchaus angemessen und notwendig, dass es ebenso eine „entsprechende Dienststrafe für Laiendienstnehmer“ gibt210 und einzelne Wirkungen der Suspension Eingang in ein selbständiges Disziplinarrecht finden211. Hans Paarhammer betrachtet es als ein „schweres Defizit“212, dass sich der kirchliche Gesetzgeber nicht dazu durchringen konnte, klar und deutlich zwiLibero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 290. Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 77, mit Verweise auf Richard A. Strigl: Das Funktionsverhältnis zwischen kirchlicher Strafgewalt und Öffentlichkeit, 208 ff.; Audomar Scheuermann: Das Schema 1973 für das kommende kirchliche Strafrecht, 61; Klaus Mörsdorf: Zur Neuordnung der Systematik des Codex Iuris Canonici, 844; Heribert Schmitz, Rechtsschutz und kanonisches Dienstrecht, 761. 209 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 93. 210 Ebd. 211 Vgl. dazu c. 1395 § 4 Schema 2015, abgedruckt in: Markus Graulich: Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus, 21; in diesem Entwurf wird die Suspension auch für in kirchlichem Dienst stehende Laien vorgesehen: „Alia quaelibet persona, dignitatem, officium vel munus habens in Ecclesia, quae aliqua delicta de quibus in §§ 2–3 patrat, puniri debet ad normam can. 1336.“ 212 Vgl. Hans Paarhammer: Das spezielle Strafrecht des CIC, 408; vgl. auch Klaus Mörsdorf: Zur Neuordnung der Systematik des Codex Iuris Canonici, 844; Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 337; Rees sieht die Situation durch partikularrechtliche Dienst- und Disziplinarordnungen zwar ein wenig „entschärft“ – vgl. Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1580; auch Dagmar Schaaf hält eine Ausarbeitung eines „eigenständigen Disziplinarrechts“ nicht für unbedingt notwendig, „da Maßnahmen mit disziplinarrechtlichem 207 Vgl.
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schen kanonischen Sanktionen, welche die rechtliche Stellung eines Kirchengliedes betreffen, und Disziplinarmaßnahmen, welche „nur die Dienststellung eines Klerikers oder eines im besonderen Dienst der Kirche stehenden Laien betreffen“213, zu unterscheiden. 4. Sanktionszwecke im CIC/1983 Der Wunsch einiger Mitglieder der CIC-Reformkommission, dem Abschnitt über das Sanktionsrecht „eine Aussage über das Ziel des kirchlichen Strafrechts und seine Stellung im Bereich der Ziele der Kirche“ voranzustellen, wurde mit dem Hinweis abgelehnt, „daß das alles eher zur allgemeinen Doktrin des kirchlichen Strafrechts gehöre“214. Aus dem gleichen Grund wurde aus c. 3 § 1 des Schema Poen (1973) die Formulierung „ad delinquen tis emandationem et punitionem“, also eine Angabe zum Strafzweck, ersatzlos gestrichen215. Und auch dem Wunsch, in den Normen zum Ausdruck zu bringen, dass kirchliche Sanktionen „von der Liebe geleitet“ und auf das „Heil ausgerichtet“ sind, wurde nicht entsprochen216. So sagt letztendlich der CIC/1983 mit c. 1312 CIC/1983 nichts Unmittelbares über die Sanktionszwecke, „wenn man davon absieht, dass in der Bezeichnung der Strafmittel schon die Strafzwecke anklingen“217. Lüdicke kritisiert diese Entscheidung scharf, da dabei „nicht bedacht“ wurde, „daß es zwischen Strafarten und Strafzweck einen unlösbaren Zusammenhang gibt, vor allem im kirchlichen Recht“218. 5. Stimmen aus der Kanonistik zur Sanktionszwecklehre Aufgrund des eben Dargestellten verwundert es nicht, dass innerhalb der Kanonistik zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze und Vorstellungen zur Sanktionszwecklehre zu finden sind. Wenn die Stimmen aus der Kanonistik zur Sanktionszwecklehre betrachtet werden, ist es wichtig dahingehend zu Charakter bereits in den übergeordneten, den kirchlichen Dienst ordnenden Verwaltungsmaßnahmen zum Schutz der communio enthalten sind“ – vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 293. 213 Vgl. Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1579 f., insb. die Literaturübersicht in Fn. 52 und 53. 214 Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 337; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 187–189, 215–221. 215 Vgl. dazu Communicationes 8 (1976), 167; Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 67. 216 Peter Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe, 39. 217 Ebd., 16. 218 Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/5, Rdnr. 10 (Stand Juli 1992).
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unterscheiden, ob die geltende Gesetzeslage des CIC/1983 interpretiert wird, oder ob darüber hinausgehend Verbesserungsvorschläge und Neuakzentuierungen diskutiert werden. Denn in Bezug auf den status quo des CIC/1983 kann innerhalb der Kanonistik durchaus eine herrschende Ansicht darüber festgestellt werden, dass Zensuren „primär auf die Besserung“ des Täters und Sühnestrafen vorwiegend „auf die Sühne einer Straftat“ abzielen219, „ohne jedoch den Besserungsgedanken völlig auszuschließen“220. Zensuren nehmen im CIC/1983 „mehr das Individuum“ und Sühnestrafen „mehr die Allgemeinheit“ in den Blick, wobei wiederum eine klare und saubere Grenzziehung weder hinsichtlich der Förderung der salus animarum oder des ordo publicus bzw. der Spezial- und Generalprävention221 noch hinsichtlich einer exklusiven Zuordnung eines Sanktionszwecks möglich ist. Der Sanktionszweck der Besserung bzw. der Sühne wird jeweils kombiniert mit weiteren Zwecken, wie der Wiederherstellung der Gerechtigkeit (vgl. cc. 1341, 1727 § 2 CIC/1983), der Wiedergutmachung der entstandenen Ärgernisse (vgl. cc. 1341, 1344 n. 3, 1361 § 3 CIC/1983) und anderen spezial- oder generalpräventiven Anliegen222. Daraus wird ersichtlich, dass der CIC/1983 in vielen Punkten auf die traditionelle Sanktionszwecklehre aufbaut und wie schon der CIC/1917 eine „Vereinigungstheorie“ hinsichtlich der verschiedenen Sanktionszwecke vertritt223. Diese herrschende Auffassung ist, wie bereits angemerkt, auf den bestehenden status quo des kirchlichen Sanktionsrechts im CIC/1983 zu beziehen und nicht repräsentativ dafür, wie die Sanktionszwecklehre nach Ansicht einiger Kanonisten idealerweise auszugestalten wäre. So kommt Libero Gerosa in seiner Untersuchung des „Prototyps“ aller kirchlichen Sanktionen, der Exkommunikation, bspw. zum Schluss, dass der Besserungszweck das „ganze Strafsystem der Kirche charakterisiert“224 und jenes vornehmlich „Bußcharakter“ habe225. Auch im Hinblick auf die Sühnestrafe könne es seiner Auffassung nach in der Kirche zu keiner „rigorosen 219 Wilhelm
Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 369. 391 221 Ebd., 68, 370; vgl. ebenso Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1577; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 179; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 215–221. 222 Vgl. Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 45–54; Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1577. 223 Vgl. Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 339; vgl. auch Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 370; Peter Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe, 22. 224 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 189 Fn. 44. 225 Ebd., 285; vgl. dazu auch die Ausführungen Dagmar Schaafs zu Alphonse Borras – Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 228–231; Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 50. 220 Ebd.,
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Anwendung des Vergeltungsprinzips“226 kommen. Vielmehr formuliert Gerosa die „Hypothese“, dass Sühnestrafen als „Disziplinarsanktionen ‚sui generis‘ “ zu charakterisieren und daher nicht als „Strafen ‚proprie dictae‘ “ anzusehen sind. Das Sanktionssystem der Kirche sei „gewiß kein Strafsystem“ und weise einige wenige „disziplinarische Aspekte“ auf 227, so die Einschätzung Libero Gerosas. Helmuth Pree sieht dagegen die primäre Aufgabe des Sanktionsrechts nicht in der Besserung des Delinquenten, da dieser Zweck der via paeniten tialis zukomme. Vielmehr sei die via poenalis „mit der via poenitentialis eine für das Leben der kirchlichen Gemeinschaft und für den Glaubensvollzug der einzelnen unersetzbare Korrekturfunktion gemeinsam, insofern beide viae die verletzte Ordnung wieder herstellen“ würden. Diese Korrekturfunktion übe die via poenalis „unter dem Aspekt der Abwehr von Gefahren, die Leben und Identität der Kirche gefährden könnten, mithin unter dem Gesichtspunkt der Gemeinwohl- und Gemeinschaftsschädlichkeit, der schweren Störung der öffentlichen Ordnung der Kirche“ aus, während die via poenitentialis diesen Aspekt im Hinblick auf das individuelle Heil beschreite228. Ganz ähnlich verankert Klaus Lüdicke das primäre Ziel kirchlicher Sanktionen nicht in der Besserung des Täters um seines Heiles willen, sondern in der Möglichkeit der Gemeinschaft, jemanden solange von ihr „auszugrenzen oder ihn wenigstens in seinen Rechten zu mindern, bis er sein gemeinschaftswidriges Verhalten“229 aufgegeben hat. Lüdicke ist natürlich bewusst, dass nach dem bestehenden Sanktionsrecht des CIC/1983 der Anspruch auf Besserung des Täters vor allem im Fall der Zensuren sehr deutlich zum Ausdruck kommt; für ihn ist es jedoch sehr zweifelhaft, ob ein solcher Anspruch angesichts der Gewissens- und Religionsfreiheit überhaupt rechtmäßig und theologisch begründbar ist230. Lüdicke stuft aber auch das Konzept der poenae expiatoriae als „fragwürdig“ ein, da der „Vergeltungsund Wiederherstellungsgedanke letztlich der Prävention, und zwar über die Abschreckung (Statuierung eines Exempels) der Generalprävention und über das Erleiden des Übels durch den Täter der Spezialprävention“ seiner Auffassung nach mit der „ratio essendi“ der Kirche, welche „der gemeinsame Glaube ist“, kaum zu vereinbaren sei. Wie schon für die Zensuren sei ebenso im Fall der Sühnestrafen „kein Platz mehr“ für ihre Anwendung, wenn der „Täter sein gemeinschaftsschädigendes Verhalten aufgegeben 226 Libero
Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 276. 291 f.; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 117–120. 228 Helmuth Pree: Imputabilitas, 226–243, hier insb. 241 f. 229 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/19, Rdnr. 23 (Stand Juli 1992). 230 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/5 f., Rdnr. 12 (Stand Juli 1992). 227 Ebd.,
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hat“231. Die theologische Zielsetzung und der „Existenzgrund des kirch lichen Strafrechtes“ ist nach Lüdicke nur „in der Wahrung der Heiligkeit der Kirche“ zu finden232, die sich seiner Ansicht nach vor allem von der Communio her bestimmt. Ludger Müller knüpft zwar bewusst an die überlieferte Lehre von den Sanktionszwecken an, kritisiert jedoch, dass die jeweiligen Eigenheiten und das Wesen der Sanktionen im CIC/1983 keine ausreichende Berücksichtigung finden233. Sühnestrafen haben nach der Auffassung Müllers vor allem den Zweck, den Täter von einer weiteren Verletzung der Rechtsordnung abzuhalten. Ihr Strafmaß darf dabei die Schuld nicht übersteigen. Disziplinarmaßnahmen würden sich im Vergleich dazu weniger im öffentlichen Bereich der Kirche bewegen und vorrangig ein spezialpräventives Interesse verfolgen. Zensuren hingegen stehen nach Müller im Interesse der „Glaubwürdigkeit der Kirche“ und sollen den Delinquenten zum Überdenken seiner Haltung bringen. Ein generalpräventiver Aspekt könne bei den Zensuren zwar festgestellt werden, trete aber „in den Hintergrund“234. Im Fall der Zensuren gehe es nämlich „nicht um die Androhung, Verhängung und Verbüßung von Strafen, sondern um die Reaktion der Communio auf ein Verhalten, an dem die Kirche nicht vorübergehen kann“235, so Müller. Zensuren markieren demnach Grenzen, die nicht überschritten werden können, „wenn das Band der Communio nicht Schaden nehmen soll“236. Die Voraussetzungen der Positionen von Libero Gerosa, Klaus Lüdicke und Ludger Müller und die Folgerungen daraus werden an späterer Stelle noch ausführlicher dargestellt und diskutiert237. Zuletzt soll noch der im Auftrag von Papst Benedikt XVI. angestoßene Reformprozess des kirchlichen Sanktionsrechts hinsichtlich der darin enthal231 Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/6, Rdnr. 13 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/7, Rdnr. 6 (Stand Juli 1992): Lüdicke merkt in seiner Auslegung zu c. 1341 an, dass seiner Ansicht nach die dort gemachte „Angabe von Strafzwecken … im Einzelfall sowohl mit den konkreten Strafarten als auch mit dem Bemühen um eine theologisch fundierte Begründung des Strafrechts überhaupt“ kollidiert. 232 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/12, Rdnr. 12 (Stand Juli 1992) mit Verweis auf Alphonse Borras: Les sanctions dans l’ Èglise. Commentaire des canons, 1311–1399 (Paris 1990), 217. 233 Vgl. insb. Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen; Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht. 234 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 93 f. 235 Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Strafen, 194. 236 Ebd., 197. 237 Vgl. dazu das Kapitel 4. D. „Einordnung der Rechtsfigur des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht“ in dieser Arbeit.
A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext des Gewissenstäters251
tenen Sanktionszwecklehre erwähnt werden. Der im Jahr 2011 vom Päpst lichen Rat für Gesetzestexte vorgelegte238 (und im Jahr 2015 nochmal überarbeitete239) Revisionsentwurf bringt keine wesentlichen neuen Vorschläge hinsichtlich der Sanktionszwecke240. Im Schema 2011 werden drei Sank tionszwecke genannt, die sich inhaltlich mit jenen in c. 1341 CIC/1983 decken. Lediglich in der Reihenfolge der Auflistung wird eine Umstellung vorgenommen, ohne hierfür einen ersichtlichen Grund zu nennen. Im Schema 2015 werden, wie Markus Graulich meint, „vorzugsweise die Behebung des Ärgernisses und die Wiedergutmachung entstandenen Schadens als Teil der Wiederherstellung der Gerechtigkeit“ in den Vordergrund gerückt241. Eine theologisch fundierte und systematisch durchgängige Reform hinsichtlich der Sanktionszwecklehre ist demnach in den bisherigen Reformentwürfen offenbar nicht angedacht. Anhand dieser ausgewählten Stimmen aus der Kirchenrechtswissenschaft wird deutlich, dass die herrschende Lehre in der Wissenschaft eine gemischte Sanktionszwecklehre im Sinne der Vereinigungstheorie im geltenden Recht verankert sieht242. Im Detail werden jedoch sehr unterschiedliche Akzentsetzungen vertreten. Am auffallendsten ist, dass jene Autoren, die entweder den Vergeltungs- bzw. Strafcharakter einzelner Sanktionen oder unter Umständen des gesamten Sanktionsrechts verneinen, oder die hinsichtlich der Sanktionszwecke dafür plädieren, den Besserungszweck kirchlicher Sanktionen fallen zu lassen bzw. zumindest nicht als Primärzweck anzustreben, diese Positionen aus gutem Grund vertreten: Sie erkennen die Schwierigkeiten, die aus der Kollision von Zwang und Besserungszweck hinsichtlich der Gewissensfreiheit entstehen. So äußert Wilhelm Rees mit Blick auf die geltende Rechtslage im CIC/1983 und den bisher vorgelegten Revisionsentwurf durch den päpstlichen Rat für die Gesetzestexte bezüglich der Konzeption der Zensuren „Bedenken, da sie … die Aufgabe der Widersetzlichkeit und damit ein 238 Vgl. PCLT: Schema recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici; vgl. auch Juan Ignacio Arrieta: Il progretto di Revisione del Libro VI del Codice di diritto Canonico; Juan Ignacio Arrieta: Kardinal Ratzinger und die Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung; Elmar Güthoff: Ein Überblick über die im ersten Teil des Strafrechts; Elmar Güthoff: Ein Überblick über die im zweiten Teil des Strafrechts; Wil helm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1569–1590; Matthias Pulte (Hrsg.): Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung. 239 Vgl. Markus Graulich: Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus. 240 Vgl. Elmar Güthoff: Ein Überblick über die im ersten Teil des Strafrechts, 78 Fn. 15. Die Behebung eines Ärgernisses wird im Schema an letzter Stelle genannt. 241 Markus Graulich: Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus, 19. 242 Vgl. Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 45–54; Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1577.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Einlenken und Wohlverhalten des Straftäters zum Ziel haben“. Eine Besserung des Täters „wird jedoch von ihm selbst abhängen“243. Daher können kirchliche Sanktionen heute „nicht mehr vorwiegend oder ausschließlich als Zwangsmaßnahmen in dem Sinn verstanden werden, dass sie Wohlverhalten und Einlenken erreichen wollen“, sondern als Ausdruck, „dass die betreffende Person durch ihr Verhalten die kirchliche Gemeinschaft verlassen hat und sich ‚außerhalb der communio plena befindet‘ “, wie Rees mit Hinweis auf die Ausführungen Libero Gerosas zur Exkommunikation und vor allem mit Blick auf eine innerkirchliche Beobachtung der Gewissensfreiheit hervorhebt244. Angesichts dessen drängen sich die Fragen auf, ob einerseits überhaupt noch am Besserungszweck kirchlicher Sanktionen festgehalten werden soll bzw. ob andererseits kirchliche Sanktionen tatsächlich Zwangsmaßnahmen sind? Die Beantwortung dieser Fragen wird zeigen, ob und inwieweit die Kirche durch ihre Sanktionen eventuell unrechtmäßigen Zwang auf das Gewissen der Rechtsadressaten ausübt oder nicht.
VI. Der Besserungszweck kirchlicher Sanktionen 1. Der Besserungszweck der Zensur Wilhelm Rees beschreibt den Einsatz kirchlicher Sanktionsgewalt in der frühen Christengemeinde folgendermaßen: „Es ging ihr dabei nicht um die Ausübung einer Disziplinargewalt zur Sicherung des Gemeinschaftslebens, sondern letztlich darum, der Heiligkeit und der Heilsfunktion der Kirche zu dienen. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft und von der Eucharistie sollte der Wiedergewinnung des Bruders bzw. der Schwester dienen. Dies war Ziel und Zweck der Maßnahme.“245 An dieser Grundausrichtung kirchlicher Sanktionsgewalt hat die Kirche im Grunde bis heute festgehalten. Ansgar Grochtmann resümiert daher, dass ganz „unabhängig von der Frage, inwieweit es zwingend einer expliziten Klärung und Festlegung bedurft hätte, zu welchen Zwecken gestraft wird, sich dem CIC/1983 gleichwohl deutlich ge243 Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 56, mit Verweis auf Richard A. Strigl: § 101 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 924: „Ob ein Ausgestoßener den helfenden Aspekt der ihm auferlegten Strafe erkennt und nutzt, hängt von ihm selber ab.“ 244 Vgl. Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 57, mit Verweis auf Libero Ge rosa: Communio – Excommunicatio, 115 und Libero Gerosa: „Communio“ und „Excommunicatio“, 105; vgl. ebenso Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 114. 245 Wilhelm Rees: Geh zu Jesus, er vergibt Dir, 300; vgl. auch Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 40–43; Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 35.
A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext des Gewissenstäters253
nug entnehmen“ lasse, „dass der Täter durch Strafe gebessert werden soll“246. Aus dem bisher Dargestellten wird ersichtlich, dass vor allem die Zensur in den Blick zu nehmen ist, wenn es um den Besserungszweck kirchlicher Sanktionen geht; dies wird schon aufgrund der Bezeichnung der Zensuren als „ponae medicinales“ (vgl. c. 1312 CIC/1983) offensichtlich247. Zum „Hauptzweck der Besserung“ treten, wie Rees hervorhebt, zwar „noch weitere sekundäre Strafzwecke“ hinzu, „nämlich die Reue über die Straftat, die Wiedergutmachung der schädlichen Folgen und die Beseitigung des entstandenen Ärgernisses“, doch dürfe die Besserung des Delinquenten im kirchlichen Sanktionsrecht „nie außer acht gelassen werden“, denn so werde „der Zusammenhang von kirchlicher Strafe und Heilsauftrag deutlich“248. Diese Ansicht wird durch c. 1347 CIC/1983 validiert, indem der Verhängung einer Zensur eine Verwarnung vorauszugehen hat, welche die Aufforderung zu enthalten hat, die Widersetzlichkeit aufzugeben. Zudem besteht bei Aufgabe der Widersetzlichkeit ein bedingter Anspruch auf Nachlass der Zensur – in einem solchem Fall „kann der Nachlaß nicht verweigert werden“, wie c. 1358 § 1 CIC/1983 es formuliert. Indem der Gesetzgeber – im Gegensatz zu den Sühnestrafen – das Kriterium der contumacia offensichtlich dazu verwendet, um die Legitimität der Zensuren zu begründen, muss letzteren aufgrund dieser wesentlichen Eigenschaft ein Besserungszweck zugemessen werden. Zensuren haben daher „den Sinn, die Hartnäckigkeit (‚contumacia‘) des Täters zu überwinden, sie sollen ‚den Täter zur Besinnung und so zur Änderung seines Verhaltens bringen‘ “ und zielen „klar auf den Täter“ ab, wie Ludger Müller zu Recht feststellt249. Klaus Lüdicke sieht im CIC/1983 die Besserung des Täters überhaupt im „Vordergrund der Androhung, Anwendung und Nachlassung kirchlicher 246 Ansgar
Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 6. bspw. Eduard Eichmann: Das Strafrecht des Codex Iuris Canonici, 54; Heribert Schauf: Einführung in das kirchliche Strafrecht, 1, 4 f., 8 f.; Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1577, 1583; Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 339; René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 95–100; Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/5, Rdnr. 12 (Stand Juli 1992): „Wie oben dargelegt, bringt das Konzept der poena medicinalis eine Zielrichtung zum Ausdruck, die die ‚Heilung‘ des Straftäters von seiner Verhärtung und seine Rückführung in die Gemeinschaft vor Augen hat. Das ist herrschende Meinung in der gegenwärtigen Kanonistik“; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 218 f.; Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 6. 248 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 68, wobei Rees den medizinalen Aspekt nicht ausschließlich auf die Zensuren beschränkt. 249 Vgl. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 269, mit Verweis auf Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 91. 247 Vgl.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Strafen“250. Doch trotz dieses Befundes ist er der Auffassung, dass die Betonung der Besserung „nicht gerechtfertigt“ sei, „weil die Strafe als Zwangsmittel im Konflikt steht mit der Glaubensfreiheit des Täters“251. Die Brisanz dieses Konfliktfalls tritt noch deutlicher zu Tage, wenn bedacht wird, dass ein Festhalten an der contumacia – insbesondere im Fall von Glaubensdelikten – sehr häufig ein starkes Indiz dafür sein wird, dass dem widersetzlichen Verhalten ein Gewissensurteil zugrunde liegt252. Aus diesem Grund plädiert Lüdicke entgegen der gegenwärtigen Konzeption des kirchlichen Sanktionsrechts dafür, vom Besserungszweck kirchlicher Sanktionen abzusehen253. Denn zweifelsohne verstoße die Besserung durch Zwang gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit, selbst dann, wenn eine Besserung vom objektiven „Irrtum“ zur Wahrheit hin erfolge. Der „primäre Grund der Existenz der Kirche“ ist für Lüdicke der Glaube der Communio, den es zu bewahren und vor Verunreinigung zu schützen gilt254, nicht jedoch die Besserung des Täters. „Zum Schutz dieser Aufgabe steht es der Kirche zu, jeden auszugrenzen, der die Einheit und Reinheit des Glaubens ernsthaft gefährdet.“255 Sicherlich muss die kirchliche Autorität ihre Communio schützen, damit sie nicht Gefahr läuft, sich selbst aufzugeben256. Verwirrung unter den Gläubigen zu vermeiden, die Integrität und die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren und die Grenzen des Katholischen festzulegen, sind legitime und notwendige Ziele des kirchlichen Sanktionsrechts: „Jene Normen, die nach katholischem Verständnis Ausdruck des Glaubens der Kirche selbst sind (‚ius divinum‘), können natürlich nicht zur Disposition gestellt werden. Wiewohl in diesem Bereich über verschiedene Möglichkeiten der Ausformulierung 250 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1341/4, Rdnr. 5 (Stand November 1993); Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/5, Rdnr. 12 (Stand Juli 1992). 251 Klaus Lüdicke: MKCIC 1341/4, Rdnr. 5 (Stand November 1993); vgl. auch; Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/6, Rdnr. 12 (Stand Juli 1992). 252 Vgl. Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 309: „Denn gerade dasjenige Merkmal, durch welches der Überzeugungstäter im forum externum erkennbar wäre, nämlich das durch keine Strafandrohung beirrbare Festhalten an seiner irrigen Überzeugung, gilt hier – wie bereits angeführt wurde – als contumacia, also als das strafrechtlich besonders charakteristische Zeichen der Schwere des Delikts … Mit der Einführung des Überzeugungstäters gewänne aber diese Hartnäckigkeit einen positiven Akzent. Die Festigkeit der Überzeugung, die sich auch von den angedrohten Strafen nicht beirren läßt, wäre an ihr abzulesen“. 253 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311, Rdnr. 11 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC 1312, Rdnr. 12, 15 f. (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321, Rdnr. 5 (Stand November 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Überblick vor 1341, Rdnr. 4 (Stand November 2001); Klaus Lüdicke: MKCIC 1364, Rdnr. 9 (Stand November 2001); Klaus Lüdicke: Art. „Strafe“, 621. 254 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1311/4, Rdnr. 8 (Stand Juli 1992). 255 Ebd. 256 Vgl. Libero Gerosa: Schisma und Häresie, 212.
A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext des Gewissenstäters255
und Ausgestaltung nachgedacht werden kann, erwächst der gesamtchristliche Anspruch solcher Normen nicht aus dem Willen der Kirche; er gehört vielmehr zu ihren Vorgegebenheiten, denen sich die Kirche unterworfen weiß.“257 Aber kann selbst vor diesem Hintergrund die Zensur exklusiv oder zumindest vorrangig „vom Interesse der Gemeinschaft her gesehen“ interpretiert werden258, ohne ihr Wesen zu verraten? Oder anders gefragt: Kann der Schutz der kirchlichen Communio dem individuellen Heil vorgeordnet werden?259 Ist der Besserungszweck möglicherweise tatsächlich nur „äußerer“ Sank tionszweck, wie Mörsdorf gemeint hat, sodass er „im Einzelfall fehlen“ kann, „ohne daß die Strafe ihren Sinn verliert“260? Beim Versuch der Beantwortung dieser Fragen ist zunächst auf den Umstand zu verweisen, dass die Kirche an sich nicht Selbstzweck, sondern Zeichen und Werkzeug ist (vgl. LG 1). Daher kann das individuelle Heil bzw. die Besserung des Delinquenten nicht grundsätzlich gegen den Schutz der Communio „ausgespielt“ werden. Zudem indiziert die Herausbildung der Exkommunikation als des „Prototyps“ der kirchlichen Sanktion aus dem Bußsakrament, dass die Dimension der Besserung zum Wesen der Zensur gehört. Libero Gerosa deutet – der herrschenden Meinung folgend261 – 1 Kor 5,1–13 und „alle Fälle, in denen im NT von Ausschluß aus der Gemeinde die Rede ist“ als eindeutige Maßnahmen zur Besserung des Täters; einzige Ausnahme bilde Apg 5,1–11, wobei sich das dort beschriebene Verhalten von Hananias und Saphira nach Ansicht Gerosas nicht als Delikt qualifizieren lasse262. Die „Trennung von der Gemeinde der Gläubigen“ bringe zwar „ein über den Schuldigen verhängtes ungewolltes Leiden mit sich“, wie Gerosa sagt, jedoch sei dieser Vorgang „ganz auf die Bekehrung ausgerichtet“263. Wilhelm Rees fasst den biblischen Befund zu dieser Frage 257 Aymans/Mörsdorf:
KanR I, 56. Lüdicke: MKCIC 1312/9, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992). 259 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 203: „Die immer größere Selbständigkeit, welche die ‚excommunicatio‘ dank der Praxis der ‚poenitentia publica‘ erreichte, spornt[e] jedoch die Reformer der Karolingerzeit an, sich nach der Bedeutung der Exkommunikation zu fragen: Handelt es sich dabei um eine Trennung von der Kirche oder von Gott? Und was bezweckt diese ‚separatio‘? Will man damit den Pönitenten zwingen, seine kirchenwidrige Haltung aufzugeben oder will man die Gemeinde der Gläubigen schützen.“ 260 Vgl. Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici III, 295. 261 Vgl. dazu hingegen Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/14, Rdnr. 14 (Stand Juli 1992): Lüdicke sieht in dieser Betonung des Besserungscharakters eine einseitige Schwerpunktsetzung. 262 Vgl. dazu Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 197 Fn. 9, insb. die dort angeführte Literatur. 263 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 198. 258 Klaus
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
folgendermaßen zusammen: „Auffallend ist die zweifache Aufgabe der Kirchenzucht, die Reinerhaltung der Gemeinde (1 Kor 5,6 f.) und die Wiedergewinnung des Bruders (Mt 18,5; 2 Thess 3,14 f.; 1 Kor 5,5).“264 Das Gleichnis vom verlorenen Schaf in Lk 15,1–10, das in c. 1401 CCEO aufgegriffen wird, um den darauf folgenden Normen des Sanktionsrechts eine theologische Fundierung voranzustellen, verweist zwar nicht unmittelbar auf den Kontext einer deliktischen Handlung, aber es veranschaulicht die Verhaltensmaxime im Fall der ultima ratio 265, d. h. für den Fall, dass sich ein Schaf „verirrt“ hat. Gemäß diesem Gleichnis steht nicht so sehr das allgemeine Heil der Herde im Vordergrund, sondern das individuelle Heil des verlorenen Schafes, dem der Hirte nachgeht; der Hirte wartet nicht passiv auf die Umkehr des herumirrenden Schafes, sondern er begibt sich auf die Suche nach ihm. Wodurch die Trennung von der Herde bzw. die Verirrung des Schafes verursacht wurde, wird im Gleichnis offengelassen. Nach Judith Hahn wird anhand von c. 1401 CCEO/1990 aber klar, dass „Strafe“ in der Kirche „keinen Selbstzweck, sondern immer einen Besserungszweck“ verfolge. Und ein solcher „heilsamer Zweck“ sei zweifelsohne auch in der Sanktionstheorie des Westens zu finden266. Könnte nun die Kirche dennoch auf den Sanktionszweck der Besserung verzichten, um so den Konflikt mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu vermeiden bzw. zu lösen? Dass dies zwar theoretisch möglich wäre, zeigen die Ausführungen Lüdickes, auf die an späterer Stelle noch näher eingegangen wird267. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob eine solcher Verzicht angesichts der biblischen Grundlagen, der kirchlichen Tradition268, dem Wesen der kirchlichen Sanktionen und der Communio theologisch vertretbar wäre. Vielleicht kann an dieser Stelle die von Mörsdorf vorgeschlagene Unterscheidung in äußere und innere Strafzwecke als Prüffrage weiterhelfen: Kann der Sanktionszweck der Besserung weggelassen werden, „ohne daß die Strafe ihren Sinn verliert“269?
264 Wilhelm
Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 43; vgl. den Überblick ebd., 40–43. dazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 82 f. 266 Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 86 f.; vgl. dazu auch Dag mar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 213 ff.; Wilhelm Rees: Unterschiedliche Strafen in der einen katholischen Kirche, 944. 267 Vgl. dazu insb. das Kapitel 4. C. II. „Die Neueinteilung der Sanktionsmittel nach Klaus Lüdicke“ in dieser Arbeit. 268 Vgl. Lotte Kéry: Canonica severitas und amor correctionis. 269 Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici III, 295. 265 Vgl.
A. Das Sanktionsrecht der Kirche als Kontext des Gewissenstäters257
Vor allem die innere Beschaffenheit der Zensur, welche durch das Vorliegen der contumacia270 ihre Legitimierung erfährt, legt es nahe, diese Frage mit einem klaren „Nein“ zu beantworten, denn es scheint nicht möglich, den Besserungszweck der Zensur auszublenden, ohne ihr Wesen so zu verändern, dass daraus eine völlig neue Sanktionsmaßnahme entstünde. Überdies scheint eine Sanktionszwecklehre, welche die Legitimation einer Sanktion vorrangig an gemeinschaftliche Schutzinteressen knüpft und die Dimension des individuellen Heils zurückdrängt oder gar außer Acht lässt, aufgrund theologischer Gründe und aufgrund menschlicher Gerechtigkeitsund Rechtsstandards äußerst fraglich. „Ein zutreffendes Bild kirchlichen Strafrechts setzt voraus, daß man erstens den Doppelaspekt jeder Strafe in Blick hat, nämlich den Gemeinschafts- und Personenbezug, und zweitens diesen Doppelaspekt auf die Eigenart der kirchlichen Gemeinschaft als einer Glaubens- und Rechtsgemeinschaft anwendet.“271 Insofern muss einer Beseitigung bzw. Ausblendung des Besserungszwecks im Fall der Zensur eine klare Absage erteilt werden. Die Zensur erfüllt eine zweifache Funktion, nämlich einerseits die kirchliche Communio zu schützen, andererseits den Einzelnen zur Umkehr zu bewegen bzw. eine dahinterstehende Überzeugung zu korrigieren. Beide Wirklichkeiten sind aufgrund des communialen Wesens der Kirche unabdingbar, wenn die Zensur in einer angemessenen theologischen Weise erfasst und der Rechtsschutz des Individuums nicht in korporative Interessen eingeschmolzen werden soll. 2. Der Besserungszweck der Sühnestrafe Die Frage nach dem Besserungszweck der Sühnestrafen kann recht kurz abgehandelt werden. Zwar werden ihnen innerhalb der Kanonistik zumindest beiläufig Besserungsabsichten zugeschrieben272, doch scheint es in ihrem Fall durchaus möglich zu sein, auf den Strafzweck der Besserung zu verzichten, ohne ihr Wesen zu entstellen. Bei den poenae expiatoriae geht es primär um die Sühne für ein begangenes Unrecht. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass weder ihre Verhängung noch ihr Nachlass vom Vorliegen einer Widersetzlichkeit auf Seiten des Delinquenten abhängig ist. Vielmehr kann eine Sühnestrafe unter Umständen selbst dann noch geboten und angemessen sein, wenn sich der Täter bereits „gebessert“ und für eine etwaige Wiedergut270 Vgl. Georg May: Art. „Bann“, 174: „Exkommuniziert werden durften also nur contumaces [Widersetzliche], und zwar sive pro crimine et contumacia sive pro sola contumacia [entweder wegen ihres Vergehens und ihrer Widersetzlichkeit oder allein wegen ihrer Widersetzlichkeit].“ 271 Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 99. 272 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 179.
258
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
machung des Schadens gesorgt hat. Zwar kann die intendierte Sühneleistung auch „bekehrende“ bzw. „bessernde“ Wirkung hervorbringen, jedoch hängt die poena expiatoria in ihrer Legitimität von dieser Zweckbestimmung nicht ab. Nach Auffassung Ludger Müllers könnte die Legitimität der Sühnestrafe, wie auch der Disziplinarmaßnahme, „sicher schon einfach aus dem Faktum“ abgeleitet werden, „daß die Kirche eine Rechtsgemeinschaft darstellt“, also im Wesentlichen mit Hilfe der Begründungsstruktur des IPE273. Hingegen kann auf dieser Grundlage nicht „die Legitimität jener Sanktionen deutlich gemacht werden, die für die kirchliche Rechtsordnung typisch sind: nämlich der Zensuren, also v. a. die Legitimität von Exkommunikation und Interdikt.“ Bemerkenswert ist, dass Müller hier ausdrücklich auf die Aufzählung der Suspension verzichtet, weil diese „Probleme eigener Art“ mit sich bringe274. Es ist schließlich noch darauf hinzuweisen, dass ebenso die Sühnestrafe nicht einseitig von gemeinschaftlichen Interessen der kirchlichen Communio her definiert und verhängt werden darf 275, wenn das Prinzip der Schuldhaftung nicht dekonstruiert werden soll. 3. Auswertung der Sanktionszwecklehre in Bezug auf die Rechtsfigur des Gewissenstäters Im CIC/1983 wird nach herrschender Ansicht eine gemischte Sanktionszwecklehre im Sinne der Vereinigungstheorie vertreten, wenngleich sowohl der Zensur als auch der Sühnestrafe primäre Sanktionszwecke zuzuweisen sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Sanktionszwecklehre in Bezug auf die Rechtsfigur des Gewissenstäters dort, wo mit Hilfe einer Sanktion eine dem Delikt zugrundeliegende Überzeugung korrigiert werden soll. Dies ist insbesondere bei den sogenannten Glaubensdelikten der Fall, welche durchwegs mit einer Zensur sanktionsbewehrt sind. Die Zensur ist aufgrund des ihr eigenen Wesens darauf ausgerichtet, nicht nur die Gemeinschaft der Kirche vor Verwirrungen und Verunreinigungen des Glaubens zu schützen, indem sie klar die Grenzen markiert, bei deren Überschreitung diese Gemeinschaft verlassen wird, sondern sie zielt ebenso auf das individuelle Heil des Delinquenten ab. Aufgrund ihrer Sendung kann der Kirche das „verlorene“ bzw. „verirrte“ Schaf nicht gleichgültig sein; vielmehr hat sie ihm nachzugehen und zu versuchen, es wiederzufinden. Die Kirche kann daher nicht umhin, sich in die innere Sphäre der Christgläubigen einzumischen, da 273 Ludger
Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 197. Fn. 43. 275 Vgl. hingegen Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3 ff. (Stand November 1992). 274 Ebd.,
B. Übt die Kirche mit ihren Sanktionen Zwangsgewalt aus? 259
sie dort auf den Kern bzw. das Fundament ihrer Communio trifft, nämlich den gemeinsamen Glauben. Die Kirche muss daher auf Abweichungen im Glauben angemessen reagieren können. Jedoch darf diese Reaktion nur aus Mitteln bestehen, die dem Geist und dem Auftrag des Evangeliums nicht widersprechen. Die Funktion, Abweichungen im Glauben nach außen hin festzustellen und den Betreffenden zur Umkehr aufzurufen, ist den Zensuren eigen. Da es sich gezeigt hat, dass es insbesondere aus theologischer Perspektive nicht angemessen erscheint, im Fall der Zensur den Besserungszweck fallen zu lassen, stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, ob die Kirche tatsächlich Zwang auf den Delinquenten ausübt, wenn sie eine Zensur verhängt. Denn dort, wo Besserungszweck und Zwang in der Kirche aufeinandertreffen, erhebt sich ein Konflikt mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die Frage nach der Ausübung des Zwangs kann jedoch nur beantwortet werden, wenn zuvor geklärt wird, wie Zwang im Recht einer Glaubensgemeinschaft zu definieren ist.
B. Übt die Kirche mit ihren Sanktionen Zwangsgewalt aus? Ansgar Grochtmann geht in seiner Untersuchung zur Justitiabilität der Gewissensfreiheit von folgender Grundthese aus276: Wenn – aber auch nur dann – kirchliche Sanktionen als Zwangsmaßnahmen im Sinne der Gewissensfreiheit zu qualifizieren sind, ist der Besserungsstrafzweck – weil gegen die Freiheit des Gewissens verstoßend – unerlaubt: „Denn eine Besserung aus Zwang – statt aufgrund freiheitlicher Änderung des Gewissensurteils – bedeutet nichts anderes, als den Betroffenen zu sündhaftem Verhalten bzw. zumindest zu schwerer Sünde zu bewegen: Der Sünde, gegen das eigene Gewissensurteil zu handeln.“277 Wenn jedoch „die Auffassung Recht hätte, kirchlichem Strafen komme nicht unbedingt eine Zwangseinwirkung zu, 276 Vgl. Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 31 ff. Grochtmann stellt zu Beginn seiner Abhandlung klar, dass es ihm nur darum gehe, zu untersuchen, ob im Falle von Gewissenstätern bei der „Spruchstrafe“ der Besserungszweck Anwendung finden darf oder nicht. Es werden weder die Voraussetzung einer etwaigen Rechtsfigur der Gewissenstäterschaft geprüft noch die kirchlichen Sanktionsmittel an sich einer genaueren Prüfung im Lichte der Gewissensfreiheit unterzogen und es wird auch nicht danach gefragt, „ob nicht Gründe dafür sprechen, das kirchliche Strafverständnis mit Blick auf die Gewissensfreiheit zu reformieren“. Grochtmann verzichtet zudem explizit auf die Behandlung der Tatsanktion und möchte mit seiner Abhandlung auch keinen Beitrag zur Vertiefung des Gewissensverständnisses im kirchlichen Bereich vorlegen – vgl. ebd., 2. 277 Ebd., 32.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
dann entfällt insoweit der Konflikt mit der Gewissensfreiheit und folgerichtig könnte der Besserungsstrafzweck in diesem Rahmen auch beibehalten wer den“278. Mit Grochtmann ist daher zu fragen: „Wenn die Kirche nun straft, übt sie damit Zwang aus?“279
I. Der Zwang im Recht der Kirche Jede ernstzunehmende Rechtsordnung muss über geeignete und angemessene Mittel zur Durchsetzung ihrer Normen verfügen, welche sie im Fall der ultima ratio auch gegen den ausdrücklichen Willen der Rechtsadressaten bzw. zumindest unabhängig davon anwenden kann280. Die „Notwendigkeit“ eines kirchlichen Sanktionsrechts steht daher, wie bereits schemenhaft dar gestellt wurde281, „für die Kirche als Gesellschaft bzw. Communio außer Frage, nicht zuletzt auch deshalb, um Gläubigen ihr Abweichen von der Lehre und Ordnung der Kirche und damit von dem von der Kirche vorgezeichneten Heilsweg deutlich zu machen“282. Alfred E. Hierold hebt aber hervor, dass es im CIC/1983 „keinen Hinweis mehr“ darüber gibt, dass die kirchliche Sanktion ihrem Wesen nach als das „Erleiden eines Übels“ qualifiziert werden muss283. Im geltenden Recht wird sie im Wesentlichen als Entzug von Rechten, Befähigungen und Ansprüchen vorgestellt, die dem Delinquenten „aufgrund seines Stehens in der vollen Kirchengemeinschaft, aufgrund seines Amtes oder Dienstes, seines Standes, der Würde zustehen“284. Die kirchliche Sanktion ist insofern ganz allgemein als ein Entzug von geistlichen bzw. zeitlichen Gütern zu beschreiben, „die die katholische Kirche jenen Gliedern auferlegt, die gegen die Ordnung der kirchlichen Gemeinschaft in wichtiger Sache und in schuldhafter und anrechenba278 Ebd.,
31. 4. 280 Vgl. Aymans/Mörsdorf: KanR I, 8; Papst Paul VI. betonte 1970 in einer Ansprache, dass „die Zwangsgewalt in der Erfahrung der Kirche verwurzelt ist“, welche „sowohl dem Recht der Person als auch der Ordnung der Gemeinschaft“ zu dienen habe – vgl. Paul VI.: Ansprache vom 29. Januar 1970 ad Praelatos Auditores et Officiales Tribunalis Sacrae Romanae Rotae, 117 – dt. Zitat aus Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 117. 281 Vgl. das Kapitel 4. A. III. „Die Legitimität kirchlicher Sanktionsgewalt“ in dieser Arbeit. 282 Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 58. 283 Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 338; Hierold betont ebd., dass die Beschreibung der „Strafe“ als Übel, welche häufig auf Hugo Grotius und Thomas von Aquin zurückgeführt wird, in der Doktrin dennoch weiterlebt – vgl. bspw. Albin Eser: Art. „Strafe“. 284 Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 338. 279 Ebd.,
B. Übt die Kirche mit ihren Sanktionen Zwangsgewalt aus? 261
rer Weise gefehlt haben“285. Zweifelsohne kann ein solcher Entzug von Rechten, Befähigungen und Ansprüchen potentiell als „Übel“ erfahren werden, doch trifft dies keinesfalls notwendigerweise und immer zu; vielmehr kann die Rechtsminderung geradezu freiwillig und intendiert sein. Ein Grund für das „Abgehen von der Theorie der Strafe als Übel“ besteht nach Hierold einerseits im Vorzug, erklären zu können, „daß die Strafe durchaus etwas Positives im Leben des Straftäters bewirken will“, und andererseits darin, „sich nicht immer gegen den Einwand rechtfertigen zu müssen, daß eine Strafe und ein Strafrecht sinnlos seien, wenn sich der Bestrafte gar nicht darum kümmere oder eine Strafe nicht zu vollziehen oder durchzusetzen sei, weil der Kirche die Machtmittel dazu fehlen“286. Denn wer sich innerlich ohnehin schon von der Heilsgemeinschaft der Kirche verabschiedet hat, der wird den Entzug bzw. die Einschränkung von Rechten in ihr kaum als Übel oder Verlust empfinden. Ob Sanktionen demnach als „Übel“ oder auch als Zwang empfunden werden oder ihren medizinalen Zweck entfalten können, hängt wesentlich vom tatsächlich gelebten Bezug des Betroffenen zur kirchlichen Gemeinschaft (com munio plena) ab. Aufgrund der Tatsache, dass das geistliche Verhältnis prägend dafür ist, wie ein Delinquent eine kirchliche Sanktion wahrnimmt, gibt es in der heutigen Kanonistik eine Tendenz, den Zwangscharakter kirchlicher Sanktionen nur in abgemilderter Form interpretieren zu wollen. Denn im direkten Vergleich mit den Strafen weltlicher Strafrechtssysteme werden erhebliche Unterschiede offensichtlich, die im Wesen des jeweiligen Rechtssystems begründet liegen287. Und dennoch sagt der vorwiegend „geistliche Charakter“ des Kirchenrechts zunächst nichts darüber aus, ob kirchliches Recht im Vergleich zum staatlichen objektiv „schwächeres“ oder unvollkommeneres Recht ist288. Freilich trägt in einem System, das vorwiegend mit „geistlichen Mitteln“ arbeitet, eine zunehmende Abstumpfung des kirchlich gebildeten Gewissens nicht dazu bei, dass kirchliche Sanktionen als effektiv und wirksam erfahren werden289. Und so kann der Eindruck entstehen, als ob das kirchliche 285 Alfred E. Hierold: Art. „Kirchenstrafen“, 451; im Lehrbuch von Aymans/ Mörsdorf/Müller: KanR IV, 81 wird Strafe „im juristischen Sinn“ als eine „subsidiär anzuwendende Zwangsmaßnahme“ definiert, „durch die als Reaktion auf eine Verletzung der Rechtsordnung der Gebrauch subjektiver Rechte des Täters beeinträchtigt oder diesem einzelne Rechte entzogen werden“. 286 Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 338 f. 287 Vgl. Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 36 f., insb. Lite raturangaben in Fn. 150. 288 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 56: „Die Kirche wird, wenn sie nicht über äußere Zwangsmittel verfügt, deswegen nicht unsichtbar oder rechtlich unvollkommen; die Möglichkeit, solche Mittel zu verwenden, fügt dem Rechtscharakter der kanonischen Ordnung nichts hinzu.“ 289 Vgl. Louis de Naurois/Audomar Scheuermann: Der Christ und die kirchliche Strafgewalt, 19: Durch den Verzicht der Kirche auf jeden äußeren Zwang könne sich
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Gesetz hinsichtlich seiner objektiven Gültigkeit unter dem Vorbehalt des individuellen Gewissens stünde – das tut es aber nicht; zwar ist es hinsichtlich seiner Wirksamkeit über weite Strecken auf die Rezeption im Gewissen der Rechtsadressaten angewiesen, nicht aber hinsichtlich seiner objektiven Gültigkeit. Die Kirche ist jedoch aufgrund ihres Wesens bei der Durchsetzung ihres Rechts „insbesondere auf das Mittel des Entzugs geistlicher Güter“290 verwiesen, die nicht mit den Ansprüchen des Evangeliums in Widerspruch stehen dürfen und „die auf andere Art und Weise wirken“ als weltliche Strafen. Auch wenn kirchliche Sanktionen also „nicht derart“ wirken, „daß sie einen säkularen Zwang ausüben würden“291, wäre es ein Fehlschluss daraus abzuleiten, dass kirchliche Sanktionen keine „echten Zwangsmittel“ sein können. Das kanonische Recht bediente sich – zumindest kraft nominell-rechtlichen Anspruchs – bis in die Neuzeit des weltlichen Armes, um eine Durchsetzbarkeit seiner Normen kraft physischer Zwangsgewalt zu statuieren. Die Aufgabe dieses Anspruchs liegt gegenwärtig nicht einmal 100 Jahre zurück: „Noch im kirchlichen Gesetzbuch von 1917, dem Codex Iuris Canonici, finden sich Spuren für die Ausübung eines äußeren Glaubenszwanges, der als Faktum des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein unbestreitbar ist“292 (vgl. cann. 2214 § 1; 2198 CIC/1917). Die Lehre des IPE konstruierte die Theorie, dass schon die Statuierung des Anspruchs auf Hilfe durch den weltlichen Arm genüge, um societas iuridice perfecta analog zum staatlichen Gebilde und damit Recht im „eigentlichen“ Sinne zu sein. Solange also dieser Anspruch auf äußere, physische Zwangsgewalt – wenn auch nur in einem formalen Sinne – bestand, zweifelte kaum jemand am Zwangscharakter kirchlicher Sanktionen293. Seit dem II. Vatikanum gab es aufgrund des gewandelten Selbstverständnisses der Kirche, ihrer veränderten Stellung innerhalb von Staat und Gesellschaft und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass kirchliche Sanktionen jeder „der Kirchenzucht leicht entschlagen …, wer sich ihr nicht beugen will“; vgl. auch Klaus Mörsdorf: Grundfragen einer Reform des kanonischen Rechtes, 15. 290 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 82; vgl. auch Hubert Socha: Die Geltung kirchlicher Gesetze, 38; Peter Krämer: Kirchenrecht II, 59. 291 Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 139. 292 Peter Krämer: Kirche der freien Gefolgschaft, 9; Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 77. 293 Das heißt nun aber nicht, dass dem kirchlichen Sanktionsrecht des CIC/1917 deshalb in seiner Wirkung mehr Erfolg beschieden gewesen wäre, als dem des CIC/1983. Das kirchliche Sanktionsrecht „ist schon lange vor dem II. Vatikanischen Konzil … zum großen Teil toter Buchstabe geworden“, wie Libero Gerosa mit Blick auf Peter Huizings Kritik am „kanonischen Strafrecht“ formuliert – Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 78.
B. Übt die Kirche mit ihren Sanktionen Zwangsgewalt aus? 263
nicht mit Hilfe physischer Zwangsgewalt durchgesetzt werden können, immer wieder „vereinzelt Stimmen, die zwar nicht explizit die Existenz der kirch lichen Strafgewalt ablehnten, aber für die Abschaffung des kirchlichen Strafrechts insgesamt oder wenigstens seine Transformation in eine disziplinäre Kirchenordnung plädierten“294. Für Letzteres trat bspw. Peter Huizing mit der Auffassung ein, dass es in „einer Kirche als sakramentaler Glaubensgemeinschaft … keine echten, durch Gewalt erzwingbare Strafen geben“ könne295. Huizing statuiert dabei zwei Prämissen, die zu hinterfragen sind: Zum einen setzt er einen Rechtsbegriff voraus, der davon ausgeht, dass Recht nur dann Recht im eigentlichen Sinne ist, wenn es äußerlich erzwingbar bzw. durchsetzbar ist296. Historisch gesehen hatte schon Marsilius von Padua eine sehr ähnliche Ansicht soweit ins Extrem getrieben, dass er die kirchliche Sanktionsgewalt – weil Teil einer geistlichen Wirklichkeit – gänzlich in das Gewissen des Einzelnen verlagert hatte297. Wahre und echte Zwangsgewalt kommt nach dieser Extremansicht nur demjenigen zu, der über die physischen Mittel verfügt, das gesatzte Recht auch durchzusetzen. Huizings zweite Prämisse betrifft die Qualifikation der zur Strafgewalt alternativ postulierten Disziplinargewalt, welcher er eine von der Strafgewalt unterschiedliche Rechtsnatur zuspricht. Gerosa bemerkt jedoch zu Recht, dass es wohl nur schwer möglich sein würde, nachzuweisen, dass nicht auch Disziplinarmaßnahmen Strafcharakter zukommen könne. Letztendlich werde bei Huizing mit dem Terminus „Disziplinargewalt“ begrifflich etwas kaschiert, was in der Realität – wenn vielleicht in abgeschwächter Form298 – weiterhin vorhanden ist, nämlich die Wirkung von Zwang. Peter Huizings Versuch, die kirchliche 294 Alfred
E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 333. Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 48, mit Verweis auf Peter Huizing: Die Kirchenordnung, 178; vgl. weiters Peter Huizing: Um eine neue Kirchenordnung, 80 ff.; Peter Huizing: Reform des kirchlichen Rechts, 676 f.; Peter Huizing: Wege und Grenzen der Kodifizierung der Kirchenordnung; Peter Huizing: Bemerkungen zur Revision des kirchlichen Gesetzbuches, 204 f.; Peter Huizing: Delikte und Strafen, 658; vgl. auch den Überblick bei Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 43–50; Wilhelm Rees: Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1573 f. Jüngst griff auch Judith Hahn Huizings Auffassung wieder auf – vgl. Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 91 f.: „Als Ordnung, die auf das freie Ja der bzw. des Einzelnen setzt, muss das Recht der Kirche mit dem Zwang, der dem Begriff des Rechts einwohnt, naturgemäß fremdeln. Das Junktim zwischen Recht und Zwang verliert in der Kirche angesichts der Zentralität des freien Bekenntnisses seine Überzeugungskraft, wie Peter Huizing betont“; vgl. hingegen insb. die zu Recht kritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz Huizings bei Jan Vries: Kirchenrecht oder Kirchenordnung. 296 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 83. 297 Vgl. dazu insb. Alexander Dordett: Der geistliche Charakter der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 73–113. 298 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 83. 295 Wilhelm
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Strafordnung durch eine Disziplinarordnung zu ersetzen, um damit „ein für allemal“ das zu überwinden, „was schon seit den Angriffen des Marsilius von Padua für Theologen und Kanonisten das Haupt-‚Scholion‘ war, um die Existenz einer kanonischen Strafe zu rechtfertigen: die tiefe Unvereinbarkeit der Freiheit des Glaubensbekenntnisses mit der Ausübung irgendeines Zwangs zu diesem persönlichen Akt“299, führt daher nicht zum Ziel. Der Gesetzgeber des CIC/1983 scheint jedenfalls an der prinzipiellen Möglichkeit festgehalten zu haben, kirchliche Sanktionen mit Zwangscharakter auszustatten. Insbesondere auf Grundlage des c. 1311 CIC/1983, des Anspruchs der Kirche auf Ausübung der Sanktionsgewalt, kann ein „Verständnis“ abgeleitet werden, „wonach Strafen in erster Linie als Zwangsmaßnahmen zu verstehen sind (coercere)“300. Ob jedoch ein solches Verständnis, das kirchliche Sanktionen „in erster Linie“ als Zwangsmaßnahmen interpretiert, angesichts von „Sinn und Funktion eines kirchlichen Sank tionsrechts“ insgesamt „theologisch tragfähig“ ist, kann mit Ludger Müller zu Recht hinterfragt werden301. Jedenfalls ist festzuhalten, dass der Kirche im Gegensatz zum Staat zumeist keine physischen Zwangsmittel, sondern oft nur geistliche Mittel zur Durchsetzung ihrer Rechtsnormen zur Verfügung stehen302. 1. Äußere Zwangsgewalt – ein Teil des kirchlichen Rechtsbegriffs? Nach herrschender Ansicht gehört die Durchsetzbarkeit mittels äußerer Zwangsgewalt nicht notwendigerweise zum Rechtsbegriff 303. Wie Georg 299 Ebd., 80. Das Scholion der Vereinbarkeit der coercitio mit der Gewissensfreiheit könne durch eine Disziplinarordnung vielleicht etwas abgemildert, sicherlich aber nicht völlig gelöst werden, so die Analyse Libero Gerosas – vgl. ebd. 300 Vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 211 f., hier 211: „Aufgrund der Formulierung poenalibus sanctionibus coercere in can. 1311 CIC/1983, in der deutschen Codexübersetzung damit wiedergegeben, dass die Kirche straffällig gewordene Gläubige mit Strafmaßnahmen zurechtweise, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei der kirchlichen Strafgewalt um eine wirkliche Strafgewalt mit Zwangscharakter handelt.“ 301 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 91; Müller verweist jedoch auf einen gewissen Wandel, der mit Blick auf c. 1311 CIC/1983 im Vergleich zum Vorgängercanon sichtbar werde. Die vorgenommenen Änderungen würden deutlich machen, dass der in c. 1311 CIC/1983 erhobene Sanktionsanspruch „nicht mehr so sehr in erster Linie der staatlichen Strafgewalt nachgebildet und dem Staat gegenüber formuliert“ ist – vgl. ebd., 90; vgl. hingegen auch die kritischere Würdigung von Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 199: „Die päpstliche Kommission traf eine grundsätzlich verkehrte Entscheidung, als sie sich jene philosophische Rechtfertigung [gemeint ist diejenige des IPE] eines Strafrechts zu eigen machte.“ 302 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 82.
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May zu Recht hervorhebt, gehört „nach kirchlicher Auffassung zum Wesen des Gesetzes nicht die Möglichkeit, ihm zwangsweise Geltung zu verschaffen … Dennoch steht der kirchlichen Autorität Zwangs- und Strafgewalt zu“304. Zwang kommt „im Recht nur die Rolle einer Ersatzfunktion“ zu und „greift nur da Platz, wo die von dem Wesen des Rechts geforderte innere Einsicht und freiheitliche Entscheidung versagt“, so Aymans. „Der mögliche Zwang ist daher nicht ein Wesensmerkmal des Rechts; er gibt jedoch dem Recht die um seiner sozialen Funktion willen unerläßliche Vervollkomm nung.“305 Es ist klar, dass sich eine Rechtsgemeinschaft über kurz oder lang selbst aufgeben würde, „wenn sie offene Verletzungen ihrer Ordnung ruhig und untätig hinnähme“306. Doch damit ist nicht gesagt, dass es sich notwendigerweise um äußeren Zwang handeln muss, um diese Vervollkommnung zu erreichen. Denn Zwang umfasst selbstverständlich „mehr … als etwa die Androhung und Ausführung roher Gewalt“. Vor allem im Fall des kirchlichen Rechtsordnung muss ernsthaft geprüft werden, ob nicht auch geistliche Mittel, wie etwa „der Ausschluss von Heilsmitteln, noch dazu eingedenk kirchlicher Binde- und Lösegewalt, sehr wohl als eine Form von Zwang zu qualifizieren ist“307. Schon der „Ernst“ kirchlicher Sanktionsmaßnahmen legt eine solche Annahme zunächst nahe308. 303 Am Beispiel des Völkerrechts, das kaum Zwangsmittel zu seiner Durchsetzbarkeit besitzt, wird für den weltlichen Rechtsbereich deutlich, dass die zwangsmäßige Durchsetzbarkeit nicht unbedingt Wesensmerkmal des Begriffs „Recht“ ist. Für den kirchlichen Rechtsbereich vgl. dazu Aymans/Mörsdorf: KanR I, 8: „Zwang ist daher nicht ein Wesensmerkmal des Rechts“; Ludger Müller: Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht, 315–322; Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 198, wo Gerosa auf die christlich geprägte Rechtsphilosophie hinweist, welche immer wieder darauf hingewiesen habe, dass Zwang „nicht notwendigerweise zu dem formalen Begriff des Rechts gehöre“, mit Verweis auf Thomas v. Aquin: De veritate q. 23 a. 1 ad 1; vgl. hingegen Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 91 f.: „Als Ordnung, die auf das freie Ja der bzw. des Einzelnen setzt, muss das Recht der Kirche mit dem Zwang, der dem Begriff des Rechts einwohnt, naturgemäß fremdeln“ [Kursivsetzung durch den Autor dieser Arbeit]. Hahn schließt daraus, dass in der Kirche das „Junktim zwischen Recht und Zwang … angesichts der Zentralität des freien Bekenntnisses seine Überzeugungskraft“ verliere und verweist auf Peter Huizing: Die Kirchenordnung, 170. 304 Georg May: Der Begriff der kanonischen Auctoritas im Hinblick auf Gesetz, Gewohnheit und Sitte, 131. 305 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 8; Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 198 Fn. 1. 306 Eduard Eichmann: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici II, 341. 307 Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 31 Fn. 126; vgl. dazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 82. 308 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/8, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992); vgl. auch Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 43 f.
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II. Konzeptionelle Widersprüche bei der Verhältnisbestimmung von Besserung und Zwang In der kirchenrechtlichen Literatur kann hinsichtlich des Problems, inwieweit kirchlichen Sanktionen Zwangscharakter zuzumessen ist, ein „konzep tioneller Widerspruch zwischen [der] Annahme eines Appellcharakters mit Blick auf die Gewissensfreiheit und [der] Bejahung der Zwangsgewalt“309 festgestellt werden. Beispielhaft soll dafür die im Jahr 2007 erschienene Darstellung Dagmar Schaafs angeführt werden310: Schaaf weist in ihrer Unter 309 Ansgar
Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 44. aber auch bei Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 233–236 – vgl. dazu die kritische Übersicht bei Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/8, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992). Nicht nur trennt Velasio De Paolis in seiner Darstellung Glaubensakt und Glaubensinhalt voneinander, um zu erklären, dass der Zwang einer Sanktion nur den Glaubensinhalt, nicht aber den Glaubensakt betreffen könne (vgl. Velasio De Paolis: Il libro VI del Codice di Diritto Canonico, 105), sondern er behauptet, dass Glaubensfreiheit nicht heißen könne, das zu glauben, was man glauben „wolle“ – vgl. Velasio De Paolis/Davide Cito: Le Sanzioni nella Chiesa, 79. Fraglich ist, was nach der Ansicht von De Paolis dann die Glaubensfreiheit konkret bedeuten sollte, wenn sie nicht zu einem nudum ius devastiert werden soll; die durchaus positive Würdigung des Ansatzes von De Paolis durch Schaaf (vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 240–253) erscheint insofern fragwürdig, wenn sie ebd., 253 dessen Position folgendermaßen zusammenfasst: „Insofern kirchliche Strafen unter den rechtlich festgelegten Bedingungen für bestimmte als Delikte qualifizierte Sünden entsprechende Gliedschaftsrechte, Dienste, Ämter der andere Güter, über die die Kirche verfügt, entziehen, stellen sie nach De Paolis echte Strafen dar. Sie stehen seiner Auffassung nach aber keineswegs in Widerspruch zur Freiheit des Glaubensaktes, da sie niemals mit irgendeiner Gewalt zum Glauben oder zur Rückkehr zum Glauben zwingen, sondern mit den Mitteln des Rechts nur eine dringliche Aufforderung und Mahnung an den Delinquenten darstellen, sein verkehrtes Verhalten zu überdenken und den Weg des Heils neu zu beschreiten.“ Widersprüchliche Aussagen zum Zwangscharakter kirchlicher Sanktionen finden sich aber auch bei anderen Autoren: vgl. bspw. Michael Schulz: Strafe Gottes – Strafe der Kirche, 59: „Kirchenstrafen tragen freilich auch das Merkmal des äußeren Zwanges (c. 1311: christifideles delinquentes poenalibus sanctionibus coercere). Dies widerspricht jedoch nicht der Freiheit der Glaubenszustimmung und Freiwilligkeit zur Umkehr … Denn das Äußere des Zwangs macht nur auf eine Defizienz im Inneren des Glaubenden aufmerksam, die im Widerspruch steht zur getroffenen Entscheidung für den Gehorsam gegenüber dem Glauben in der Kirche“. Und vgl. ebenso bereits die Ausführungen von Johann Friedrich von Schulte, der zu einem der Gründer der institutionalisierten altkatholischen kirchlichen Gemeinschaft wurde – Johann Fried rich von Schulte: Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 366: Aus der Existenz der Zwangsgewalt in der Kirche sei die Befugnis und die Verpflichtung abzuleiten, rechtliche Gebote mit äußerem Zwang durchzusetzen, wenn deren Nichtbefolgung die äußere Ordnung schwer stören würde. Als Ziel der Anwendung von Zwangsgewalt führt Schulte allerdings zuerst die Besserung des Delinquenten, daneben aber auch die Sühne an, welche für eine Wiederherstellung der verletzten Ordnung sorgen soll. Interessant dabei ist, dass Schulte die Möglichkeit zur Besserung zwar als Produkt 310 Ähnlich
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suchung zum „kirchlichen Strafanspruch“ darauf hin, dass die Kirche „auch gegen den Willen des Betroffenen“ in der Anwendung ihrer Strafgewalt „wirklichen Zwang“ ausübt. Doch stehe die „in diesem Sinn ausgeübte Zwangsgewalt … nicht im Gegensatz zu der vom II. Vatikanum postulierten Glaubensfreiheit“311. So sei auch die Zensur als „echte Strafe“ zu qualifizieren und es wäre ihrer Ansicht nach unangemessen, diese hinsichtlich ihres poenalen Wesens von der Sühnestrafe zu unterscheiden312. Doch dann schreibt Schaaf der Exkommunikation wiederum nur Appellcharakter an das Gewissen des Delinquenten zu, welcher nicht zu Umkehr zwinge313. Ähnlich verwirrend ist auch die Aussage im Lehrbuch von Aymans/Mörsdorf zum zwingenden Charakter der Zensur, wonach der „geistliche Charakter kirch licher Rechtspflege … ferner darin zum Ausdruck“ komme, „daß die Kirche die freie Anerkennung ihrer Erkenntnisse sucht; diese Eigenart“ zeige „selbst das wichtigste Zwangsmittel, die sog. Besserungs- oder Beugestrafe, die eine Verstocktheit nicht durch physischen Zwang, sondern allein durch Gewinnen einer besseren Einsicht zu brechen sucht.“314 Die Zensur wird hier unter die „Zwangsmittel“ eingereiht, das ohne physischen Zwang auskommt. Doch worin der Zwang der Zensur dann eigentlich besteht und wie angesichts dessen dennoch eine „freie Anerkennung“ der kirchlichen Wahrheiten sichergestellt wird, bleibt auch hier unbeantwortet. Dann gibt es Positionen in der Kanonistik, die von vornherein den Zwangscharakter kirchlicher Sanktionen abmildern oder überhaupt nicht anerkennen wollen. Hinter jenen Positionen vermutet Grochtmann wiederum einen systematischen Zirkelschluss: „… weil kein Zwang erlaubt ist, haben wir es also mit einem bloßen Appell zu tun“315. Beispielsweise spricht Peter Krämer bezugnehmend auf die Exkommunikation von einer „Strafe nur als Appell an das Gewissen“316. Diese Reaktion der Kirche dürfe „nicht als Nötigung oder Zwang verstanden werden, die sich gegen die Freiheit des Glaubensaktes“ richtet, sondern sei „eine eindringlich Einladung zur Umkehr, mit der freilich einer unaufhebbaren menschlichen Willensfreiheit darstellt und daher plädiert, kirchliche Strafe möge mehr durch Entzug von Rechten die Besserung des Delinquenten bewirken, anstatt durch direkte äußere Nötigung, jedoch lässt er den Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Zwangsgewalt unversöhnt nebeneinander stehen. 311 Dagmar Schaaf: Der Kirchliche Strafanspruch, 284. 312 Vgl. dazu auch ebd., 238, wo Schaaf den Ansatz Ludger Müllers, der die Zensur nicht als Strafe qualifiziert, kritisiert. 313 Ebd., 284; unverständlich bleibt dennoch, wie eine solche Argumentation aufrechterhalten werden kann, zumal Dagmar Schaaf am Zwangscharakter der Zensuren festhält – ebd., 274. 314 Aymans/Mörsdorf: KanR I, 38. 315 Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 44. 316 Peter Krämer: Menschenrechte – Christenrechte, 172; Peter Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe, 18.
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auch konkrete Rechtsfolgen verbunden sind“317. Nach Krämer bedarf es einer „großen Sensibilität … kirchliche Sanktionen oder Strafen von Zwangsmitteln zu unterscheiden, die in Widerspruch stehen zur Natur des Glaubens aktes“318. Aber eine Erklärung Krämers, „worin er selbst die ‚Sensibilität‘ erblickt, mittels deren kirchliche Strafe von Zwang zu unterscheiden sei“ und ein „substantielles Argument, weshalb denn nun konkret Strafe kein Zwang sei“, sucht man „vergebens“, wie Grochtmann bemerkt319. Das Gedankenexperiment, dass sich die Gewissensfreiheit nur auf die con scientia im engeren Sinn, also das konkrete Gewissensurteil, beziehe und eine Strafe allein auf die Anamnese wirke, wonach wiederum eine Zwangseinwirkung als unproblematisch eingestuft werden könnte, bezeichnet Grochtmann zu Recht als „grotesk“, denn es sei schlechthin unmöglich, zu beurteilen, auf welcher Ebene des Gewissens eine Zwangsmaßnahme wir ke320. Sowohl denjenigen, die eine Kollision zwischen Besserungszweck und Gewissensfreiheit behaupten, als auch jenen, die vom Gegenteil ausgehen, attestiert Grochtmann ein Defizit dahingehend, „das jeweils behauptete Ergebnis faktisch und normativ ausreichend zu belegen“. Dies sei „nicht zuletzt Konsequenz dessen, dass von keiner Seite aus versucht“ werde, „konkret zu benennen, was definitorisch Zwang“ ausmacht und wo die „maßgebliche Grenzlinie zu ziehen“ ist321. Dies ist auch der Grund, warum eine einfache Identifikation der Begriffe „Strafe“ und „Zwang“ eine Art Zirkelschluss darstellt322, zumindest solange, bis beide Begriffe nicht definitorisch hinterlegt sind.
III. Ansgar Grochtmanns Definition des Zwangs Auf der Suche danach, wie „Zwang“ im kirchlichen Sanktionsrecht definiert werden könnte, kommt Grochtmann zu folgendem Lösungsvorschlag: Es sei zwar evident, dass der Entzug geistlicher Güter323 zur Besserung des 317 Peter
Krämer: Strafen in einer Kirche der Liebe, 18. 16. 319 Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 43. 320 Vgl. ebd., 39: Würde man hingegen diesem Gedankenexperiment folgen, dann wäre eine Zwangseinwirkung nur dann unzulässig, „wenn die Kirche den Täter zu einer Handlung zwänge, ohne dass dieser zuvor auch sein Gewissensurteil geändert hätte“. 321 Ebd., 44. 322 Vgl. ebd., 35. 323 Zum Problem, dass unter Umständen auch der Verlust des Arbeitsplatzes eine indirekte Folge einer kirchlichen Sanktion sein kann, vgl. Ansgar Grochtmann: Justi318 Ebd.,
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Täters prinzipiell als „Druckmittel“ dienen könne. Doch die für Grochtmann entscheidende Frage ist, ob der dadurch erzeugte Druck so groß ist, „dass von einer frei verantworteten Entscheidung nicht mehr gesprochen werden kann“324. Zwang im Kontext der Gewissensfreiheit definiert Grochtmann daher folgendermaßen: „Zwang liegt vor, wenn die erneute Bildung eines Gewissensurteils ausfällt oder durch subjektiv überzeugende Gründe ernsthaft gefährdet ist, weil die angedrohten Folgen der kirchlichen Maßnahme für sich genommen schon ein solches Gewicht besitzen, dass allein die denkbare Verwirklichung dieser Folgen grundsätzlich schon hinreichende Bedingung ist, nunmehr so zu handeln, wie dies von der kirchlichen Maßnahme her intendiert ist. Kurz gesagt: Zwang liegt vor, wenn die angedrohten Folgen so schwer wiegen, dass es aus subjektiver Sicht des Betroffenen heraus gut begründbar ist, ohne über die Sache nachzudenken, das Handeln dem kirchlichen Willen zu unterwerfen.“325 Grochtmann sieht damit zwar richtig, dass auf die Frage nach der Wirkung einer Sanktion nur eine „relative“ Antwort möglich ist, indem der Zwangscharakter relational zur konkreten Erfahrung kirchlicher Sanktionen bestimmt wird. Die „Wirkung der Strafe“ hängt somit „entscheidend von der jeweiligen inneren Verfassung“ des Delinquenten ab326. Gemäß einer solchen Auffassung kann es dann aber auch keine „kategorische“ Festlegung darüber geben, ob eine kirchliche Sanktion mit Besserungszweck als Zwang aufzufassen ist oder nicht. Und auch die Gewissensfreiheit ist danach keine kategorische, sondern nur eine subjektive Grenze für Zwangsmaßnahmen mit Besserungszweck327: „Wenn sich im Einzelfall zeigt“, so Grochtmann, „dass eine kirchliche Strafverhängung als Zwang wirkt und keine anderen Strafzwecke die Verhängung rechtfertigen, so muss auf Strafe verzichtet werden: um des Gewissens willen, wie es die Kirche zu schützen berufen ist“328. Damit enthält Grochtmanns Definition des Zwangs bewusst „eine derart subjektive Komponente“, dass eine allgemeine Festlegung und Qualifikation der Sanktion nicht mehr möglich ist329. Seiner Aussage nach dürfe ein solches Ergebnis im Hinblick auf die Rolle des Gewissens in der Kirche jedoch nicht überraschen, deren Aufgabe es ja schließlich sei, „sich mit größtmöglicher Entschiedenheit für die salus animarum eines jeden Einzelnen einzusetzen“330. tiabilität der Gewissensfreiheit, 36 f. Die Kirche als „Tendenzbetrieb“ unterliegt nicht dem Neutralitätsgebot. 324 Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 36. 325 Ebd., 63. 326 Ebd., 62; vgl. auch ebd., 42. 327 Vgl. ebd., 61. 328 Ebd., 206. 329 Vgl. ebd., 66. 330 Ebd., 61.
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Angesichts dieser Ausführungen erhebt sich Zweifel, ob Grochtmann die Frage nach der Definition des Zwangs im Kontext kirchlicher Sanktionen richtig gestellt hat. Grochtmann versucht nämlich bei der Frage nach der Definition des „Zwangs“ eine materielle Festlegung zu finden und argumentiert stets mit der „Wirkung der Strafe“. So muss er sich die Rückfrage gefallen lassen, ob hier nicht die Frage nach der Wirkung mit derjenigen nach dem Wesen vertauscht und ob nicht versucht wird, etwas materiell festzulegen, was in Wirklichkeit formalen Charakter hat. Kirchliche Sanktionen verfehlen in der Praxis sehr oft ihre Wirkung, weil sie vorwiegend geistlicher Natur sind. Viele Gläubige sind dafür nicht mehr „empfänglich“, es mangelt diesbezüglich nicht selten an einem gebildeten und geschärften Gewissen. So ist mit Grochtmann wohl zu Recht anzunehmen, dass eine Vielzahl kirchlicher Sanktionen subjektiv gesehen nicht mehr als Zwangsmaßnahmen „wirken“. Doch daraus kann kein angemessener Rückschluss auf das objektive Wesen kirchlicher Sanktionen gezogen werden – denn es bleibt ja bspw. auch die Sünde wirklich und objektiv Sünde, selbst wenn der Sünder sie nicht als solche empfindet oder erkennt. Interessanterweise zitiert Grochtmann selbst Richard Strigls Argument, dass die Qualifikation einer Sanktion nicht von der „schwankenden Reaktion des Bestraften abhängig gemacht werden“331 könne, da sie nach ihrem Wesen und nicht nach ihrer Wirkung zu erfassen sei. Doch eine Antwort auf diesen Einwand bleibt Grochtmann in seiner Abhandlung schuldig. Zusammenfassend ist zu sagen, dass Grochtmanns Lösungsansatz auf eine Einzelfallbetrachtung des Problems abstellt, die nicht nur unbefriedigend, sondern auch unjustitiabel ist. Sachlich spricht gegen die vorgestellte Lösung, dass die Wesensqualität einer Sanktion hinsichtlich ihres Zwangscharakters nicht von ihrer relationalen Wirkung her bestimmt werden kann. Ansgar Grochtmann ist aber zugute zu halten, dass er auf die Wichtigkeit der definitorischen Festlegung des Zwangs in der Frage des Gewissenstäters im kirchlichen Recht hingewiesen hat. 1. Worin liegt definitorisch das Wesen von Zwang? Wie anhand der Ausführungen zu Grochtmanns Bestimmung des Zwanges bereits angedeutet wurde, lässt sich kirchlicher Rechtszwang in einem definitorischen Sinne wohl nur schwer materiell festlegen. Ebenso führt eine Bestimmung des Zwangs von seiner Wirkung her zu keinem brauchbaren und überzeugenden Ergebnis. 331 Ebd., 50, mit Verweis auf Richard A. Strigl: § 101 Grundfragen des k irchlichen Strafrechts, 924.
B. Übt die Kirche mit ihren Sanktionen Zwangsgewalt aus? 271
Der entscheidende Punkt, ob Sanktionen Zwangsgewalt innewohnt oder nicht, kann offenbar nicht darin gefunden werden, ob sie als schmerzhaft oder als Übel empfunden werden und auch nicht darin, ob sie tatsächlich ihr Ziel erreichen. Hingegen scheint das entscheidende Kriterium rechtlicher Zwangsgewalt daran festgemacht werden zu können, dass ein Entzug bzw. eine Einschränkung von Rechtsgütern gegen den Willen bzw. unabhängig vom Willen des Betroffenen eintritt bzw. durchgesetzt wird332. Eine geeignete Definition des Zwangs muss sich daher mit einer rein formalen Bestimmung begnügen: Sanktionen haben demnach Zwangscharakter, wenn sie von einer Autorität, die über Zwangsgewalt verfügt, verhängt werden und unabhängig vom Willen des Betroffenen einen objektiven Entzug oder eine Verminderung von Rechten bewirken333. Ob es sich bei diesen Rechtsgütern um zeitliche oder geistliche Güter handelt, spielt keine Rolle. Ebenso ändert es nichts am Wesen der Sanktion als Zwangsmaßnahme, ob die Rechtsminderung oder der Entzug von Rechten als „Übel“ oder gar als etwas „Erwünschtes“ betrachtet wird334 und ob der mit der Maßnahme angestrebte Sanktionszweck tatsächlich erreicht wird oder nicht335.
IV. Die Zensur als eine Maßnahme mit Besserungszweck und Zwangscharakter im CIC/1983 Wird nun die eben vorgelegte Definition des Zwangs auf die Zensur und die Sühnestrafe, wie sie im CIC/1983 vorgestellt werden, angewandt, dann zeigt sich, dass vom Gesetzgeber wohl beide Sanktionsarten als Maßnahmen mit Zwangscharakter intendiert sind336. Für die Zensur wird diese Auffassung insbesondere durch die cc. 1318, 1349 oder 1378 § 3 CIC/1983 bestätigt, welche die Zensur als Strafe bzw. sogar als besonders schwere Strafe vorstellen. 332 Vgl. Ludger Müller: Religiöse Vielfalt – Herausforderungen aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts, 31; vgl. auch das Streitgespräch zwischen Libero Gerosa: „Communio“ und „Excommunicatio“ und Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio. 333 Vgl. Hubert Socha: Die Geltung kirchlicher Gesetze, 51. 334 So bleibt ein Freiheitsentzug auch dann eine Zwangsmaßnahme, wenn sie von einem Obdachlosen intendiert wurde, um den Winter innerhalb geheizter vier Wände verbringen zu können, denn die Strafe wird unabhängig und gegebenenfalls gegen seinen Willen durchgesetzt als Reaktion auf ein strafbares Verhalten. 335 Vgl. Georg May/Anna Egler: Einführung in die kirchenrechtliche Methode, 162: Die Tatsache, „daß der Zwang, den die Kirche ausübt, unwirksam bleiben kann“, ändert nichts daran, dass die Kirche grundsätzlich Zwangsgewalt innehat und ausüben kann. 336 Vgl. Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 51.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Wenn nun für die Zensur zudem berücksichtigt wird, dass es ihrer Natur entspricht, den Täter zur Aufgabe eines widersetzlichen Verhaltens, d. h. insbesondere im Fall der Glaubensdelikte zur Aufgabe einer dahinterstehenden Überzeugung, zu bewegen, dann wird ersichtlich, dass es in der vorliegenden Sanktionsrechtskonzeption des CIC/1983 zu einem Konflikt zwischen der Freiheit des Gewissens und des Glaubens und der Zensur als „Besserungsstrafe“ kommt. Rees betont daher zu Recht, dass der Charakter kirchlicher Sanktionen „nicht mehr vorwiegend oder ausschließlich als Zwangsmaßnahmen in Richtung Wohlverhalten oder Rückkehr zur römisch-katholischen Kirche gesehen“ interpretiert werden kann337. Daher sollen im nun folgenden Kapitel Reformvorschläge für das kirch liche Sanktionsrecht vorgestellt werden, die unter dem speziellen Blickwinkel der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht von heraus ragender Bedeutung sind und Lösungsvarianten für den Konflikt mit dem innerkirchlich zu berücksichtigenden Menschenrecht auf Gewissensfreiheit bieten, denn es ist Aufgabe der Kanonistik, „Fehlentwicklungen“ aufzudecken und „Anregungen zu Neugestaltungen“ zu geben338.
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts im Lichte der Gewissensfreiheit Im Folgenden werden drei Entwürfe zum kirchlichen Sanktionsrecht vorgestellt, welche für eine theologische Einordnung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Sanktionsrecht von besonderer Relevanz erscheinen. Bemerkenswert dabei ist, dass sowohl der Entwurf Ludger Müllers als auch derjenige Klaus Lüdickes die These Libero Gerosas vom deklarativen Charakter der Exkommunikation aufgreifen. Die Konsequenzen und Schlüsse, welche aus dieser Gemeinsamkeit gezogen werden, weichen im Ergebnis jedoch deutlich voneinander ab.
ebd., 58; Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 651 f. Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici I, 37; vgl. dazu auch Ludger Müller: Der Diakonat – eine oftmals übersehene Weihestufe im CIC/1983. Zugleich ein Beitrag zum ius canonicum semper reformandum, 165. 337 Vgl.
338 Klaus
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts273
I. Libero Gerosas These von der deklarativen Funktion der Exkommunikation 1. Gerosas Ausgangsfrage bei der Untersuchung der Exkommunikation Libero Gerosa geht in seiner Untersuchung des Wesens der Exkommunikation339 von folgender „Hypothese“ aus: „Nur dann, wenn es sich ergäbe …, daß die ‚excommunicatio‘ wenigstens in analogem Sinn die Wesensmerkmale einer Strafe aufweist, wäre es legitim, vom Bestehen eines Strafrechts in der Kirche zu sprechen, und hätte das Problem der Vereinbarkeit von ‚libera fides‘ und ‚coactio‘ ein erstes Element zugunsten einer positiven Antwort gefunden. Andernfalls, d. h. wenn die Exkommunikation sich nicht als theologisch begründet erwiese oder, obwohl von der ‚communio‘ tatsächlich gefordert, sich nach der allgemeinen Rechtstheorie nicht als Strafe ansehen ließe, wäre die Terminologie des Codex Iuris Canonici von 1983, der noch von Strafen spricht, nicht mehr zutreffend und wäre es sehr schwierig, für die ‚coactio‘ in der Kirche noch einen legitimen, theologisch gerechtfertigten Platz zu finden.“340 Anhand einer Analyse „typisch kirchenwidriger Delikte“341 zeigt Gerosa, dass die Exkommunikation „als eine typische Sanktion der kirchlichen Rechtsordnung … sehr stark … vom Verständnis der Strafe im Kodex, wie dies besonders in Kanon 1341 zum Ausdruck kommt“, abweicht342. Er zieht daraus den Schluss, dass „die vom Kirchenrecht vorgesehenen Sanktionen keine ‚Strafen‘ im eigentlichen Sinn des Wortes sind“343. 2. Die Begründung der These vom deklarativen Charakter der Exkommunikation Die Rechtsstellung des Gläubigen kann nicht nur durch hoheitliches Eingreifen bspw. mittels einer Sanktion eingeschränkt werden, sondern der Gläubige selbst kann durch sein eigenes Verhalten die Nähe oder Distanz zur kirchlichen Communio bestimmen. Die darin zum Ausdruck kommende dy339 Vgl. insb. Libero Gerosa: La scomunica è una pena; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam; Libero Gerosa: Communio – Excommunicatio; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe; Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit; Libero Gerosa: Schisma und Häresie, 209 f. 340 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 26. 341 Ebd., 186; vgl. dazu ebd., 186–190, 233–243. 342 Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 83; vgl. auch Klaus Lü dicke: MKCIC 1312/8, Rdnr. 16 (Stand 1992). 343 Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 201.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
namische Kirchengliedschaft344 ist als ein Ergebnis der erneuerten Ekklesiologie des II. Vatikanums anzusehen345. Danach kann ein kirchliches Delikt nur mehr von einem Glied der katholischen Kirche begangen werden bzw. die Sanktionsmaßnahme nur ein solches treffen (vgl. c. 11 CIC/1983346). Neben einer objektiven und nach außen getretenen Verletzung eines Rechtsgutes und dem subjektiven Element des Vorsatzes braucht es demnach noch als drittes Element die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche347. Theologisch hat dies seinen Grund darin, dass „das persönliche Glaubensbekenntnis des einzelnen Getauften nicht unter einem bloß individuellen Aspekt …, sondern in den jeweiligen ekklesiologischen Kontext“ eingeordnet und betrachtet werden muss, welcher „formal durch die ‚credenda‘ begrenzt wird, die von der Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft, der der Gläubige angehört, verkündet werden“348. Die äußere Bekundung des Glaubens bleibt daher nie nur privat-individuelles Geschehen, sondern ist eingebettet in den Kontext der kirchlichen Gemeinschaft und ihres Glaubensgutes. Ein Nichtkatholik hingegen, dessen Credo ein bestimmtes Glaubensgut nicht beinhaltet oder einem solchen widerspricht, begeht mit seiner Leugnung oder Nichtanerkennung keine Häresie, sondern hat „lediglich“ ein defizitäres Glaubensbekenntnis. Von einem „Delikt“ kann in einem solchen Fall nicht gesprochen werden349. Zweifelsohne kann es aber auch bei einem Katholiken zu „legitimen“ Differenzen zwischen dem eigenen Glaubensbewusstsein und dem Glauben der Kirche kommen; diesen trifft jedoch zunächst die Pflicht des Festhaltens der erkannten Wahrheit und der Ordnung des Lebens entsprechend den Forderungen dieser Wahrheit (vgl. DH 2,2; cc. 748–754 CIC/1983); sein Gewissen ist moralisch verpflichtet, die Normen der Kirche als verbindlichen Maßstab anzunehmen. Diese Verpflichtung hat nach Auffassung Gerosas „normative Bedeutung und Rechtsnatur“350; zumindest aber wird diese Verpflichtung 344 Vgl. dazu auch Stephan Kotzula: Zur Exkommunikation im CIC, 454 f.; vgl. ebenso das Kapitel 3. C. II. 5. a) „Das Problem der Kirchengliedschaft im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ in dieser Arbeit. 345 Vgl. Libero Gerosa: Schisma und Häresie, 204. 346 Vgl. dazu Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 367. 347 Vgl. dazu Heribert Schmitz: Glaubens- und Bekenntnispflicht, 438–440; Li bero Gerosa: Schisma und Häresie, 204 f. 348 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 239. 349 Vgl. ebd., insb. Fn. 148. Das Zweite Vatikanum hat die Reichweite des Häresiebegriffs derart festgelegt, dass man im Falle eines Nichtkatholiken nicht mehr von einem Häretiker sprechen kann; zum Begriff des „materiellen Häretikers“ – vgl. Wil helm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 89; Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 287–294. 350 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 240; vgl. dazu auch Peter Krämer: Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts, 119–134. Hinsichtlich der Frage, ob die Verpflichtung zum Glauben rechtliche Natur
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts275
dann rechtlich relevant, wenn auf hartnäckige Weise wesentliche Inhalte des Glaubens nach außen hin feststellbar geleugnet werden. Die Existenz der Kirche als einer Glaubensgemeinschaft beruht darauf, dass ein bestimmter und gemeinsamer Glaube geteilt und gelebt wird (vgl. c. 209 § 1 CIC/1983). Insofern ist die kirchliche Communio nicht nur „Lebensraum“ für die Gläubigen, sondern ihr existentieller „Lebensgrund“351. Es ist daher kein Zufall, dass die klassischen Delikte gegen den Glauben – Apostasie, Häresie und Schisma – die erstgenannten des kirchlichen Sanktionsrechts sind und als Tatsanktionen konzipiert wurden (vgl. c. 1364 CIC/1983). Libero Gerosa knüpft nun in seiner zentralen These an diese Beobachtungen an und zieht folgenden Schluss daraus: Die Kirche stellt mit der Sanktion der Exkommunikation nur fest, was bereits geschehen ist – ein Bruch mit der kirchlichen Communio352. An dieser Stelle erfolgt gleichsam ein Déjà-vu mit der frühsten Entwicklungsgeschichte des kirchlichen Sanktionsrechts, indem die Frage auftaucht, was die Sünde des Glaubensabfalls oder der Häresie dann eigentlich zum Delikt macht. Gibt es aus theologischer Perspektive überhaupt einen „wesentlichen Unterschied zwischen schwerer Sünde und Delikt“353 und wie kann unter diesen Umständen eine Grenzziehung vollzogen werden? Die Frage, ob es einen substantiellen theologischen Unterschied zwischen Sünde und Delikt gibt, verneint Libero Gerosa nüchtern und klar: „Da die Sanktion der Exkommunikation erst dann eintritt und rechtlich verpflichtet, im strengen Sinne haben kann, vgl. das Kapitel 3. D. VI. 3. a) „Der sachliche Schutzbereich der inneren Gewissensfreiheit“ dieser Arbeit. 351 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 426. 352 Libero Gerosa stützt sich hierbei insbesondere auf einen Gedanken Papst Johannes Pauls II., der in einer Ansprache am 17. Februar 1979 an den Dekan und die Mitglieder der Römischen Rota zur Eröffnung des Gerichtsjahres zu bedenken gab, dass die „von der kirchlichen Autorität angedrohte Strafe – die aber in Wirklichkeit eine Anerkennung der Situation ist, in die der Betroffene sich selbst hineingebracht hat –, … als ein Instrument der Erhaltung der Gemeinschaft betrachtet werden“ soll – Johannes Paul II: Ad Decanum Sacrae Romanae Rotae ad eiusdemque Tribunalis Praelatos Auditores, ineunte anno iudiciali (17. Februar 1979), in: AAS 71 (1979), 422–427, hier 425, deutsche Übersetzung zitiert aus: Libero Gerosa: Strafrecht und Kirchliche Wirklichkeit, 200; vgl. ebenso Libero Gerosa: La scomunica e la protezione dei diritti fondamentali del christiano, 1104 f.; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 105. Wie weiter oben bereits dargestellt wurde (vgl. das Kapitel 2. B. „Von der Tragweite des kanonischen Rechts“ in dieser Arbeit), findet sich dieser Gedanke bereits ansatzweise, freilich aber unter ganz anderen Voraussetzungen und Vorbedingungen, auch bei Joseph Klein: Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, 111; vgl. dazu auch Hans Barion: Die Begrenzung des Kirchenrechts, 275, 280, wo Barion diesen Gedanken Kleins kritisch aufgreift und behandelt. 353 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 227.
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wenn die entschiedene Leugnung einer Glaubenswahrheit von einem katholischen Gläubigen auch äußerlich bekundet wird, hängt sie nicht von einem postulierbaren substantiellen Unterschied zwischen ‚grave peccatum‘ und ‚delictum‘ ab“354. Zutreffend verweist Gerosa auf die Auswirkungen der schweren Sünde in der kirchlichen Communio und die Wiederentdeckung des Rechtscharakters des forum internum355. Werde Karl Rahner in der Auffassung gefolgt, dass „die Harmatiologie nicht mehr ausschließlich als Gegenstand der Moraltheologie, sondern auch als ein Thema der Dogmatik zu betrachten“ sei, dann lasse „sich unschwer die ekklesiologische und rechtliche Relevanz des ‚peccatum‘ erfassen und einsehen, welche entscheidende Rolle die Sünde bei der Bildung einiger typisch kanonischer Institute“ spiele, so Gerosa356. Ebenso lasse sich damit nachvollziehen, „daß die kirchliche Autorität sie unter bestimmten Bedingungen als ‚delictum‘ bezeichnen kann“357. Wenn es nun keinen substantiellen theologischen Unterschied zwischen Sünde und Delikt gibt, dann bleiben nur mehr formale, auf positiv-rechtlichen Elementen beruhende Unterschiede, welche jedoch äußerst notwendig sind, um auf der jeweiligen Ebene richtig vorgehen zu können. Gerosa nennt zwei formale Elemente der Unterscheidung: Geschieht die Leugnung einer von der Kirche definierten und verkündeten Glaubenswahrheit nur in einem „inneren Akt“, dann erlangt der Betroffene die Aussöhnung mit der Kirche durch das Sakrament der Buße. Erfolgt eine solche Leugnung zwar in einem äußerlichen Akt, der aber mehr oder weniger „geheim“ bleibt, „kann die Versöhnung – unter einer je verschiedenen Gewährleistung der Geheimhaltung – im sakramentalen oder außersakramentalen ‚forum internum‘ geschehen“; wenn Glaubenswahrheiten jedoch „äußerlich und ‚pertinaciter‘ (d. h. also öffentlich)“ geleugnet werden, „hat die Versöhnung in voller Öffentlichkeit ‚in foro externo‘ zu geschehen“358. „Natur, Zweck und Wirkungen“ der Exkommunikation sind insofern nur im Lichte einer dynamischen Grundstruktur der Kirchengliedschaft erklärbar. Die contumacia ist dabei das „auslösende Moment“359, wie Gerosa sagt; denn nur wer im äußeren Bereich „pertinaciter“360 an seiner kirchenwidrigen 354 Ebd.,
241. ebd., mit Verweis auf Klaus Mörsdorf: Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni. 356 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 241, mit Verweis auf Karl Rahner: Art. „Sünde“, 1179. 357 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 241; vgl. dazu auch Reinhold Sebott: Das kirchliche Strafrecht, 159 f. 358 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 242. 359 Ebd., 232. 360 Der CIC/1917 spricht in can. 1325 § 2 von der pertinacia, der CIC/1983 verwendet das passende Synonym contumacia (vgl. c. 751 CIC/1983). 355 Vgl.
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts277
Haltung festhält, ist als sanktionswürdig zu betrachten. Die öffentliche Hartnäckigkeit bzw. Widersetzlichkeit ist für die Zensur somit ein entscheidendes Element bei der Differenzierung zwischen Sünde und Delikt. Auch wenn die Widersetzlichkeit nicht die theologische Natur der Sünde ändere, die mit der Tat verwirklicht wird, ist sie dennoch ein vorauszusetzendes Element für das Delikt der Zensur361. Gerosa deutet demnach die contumacia nicht als eine „besondere theologische Eigenart“ der schweren Sünde, welche diese dann zum Delikt werden lässt, sondern als eine „condicio specifica“ für die Möglichkeit, ein kirchenwidriges Verhalten mit einer Sanktion bzw. konkret mit einer Zensur belegen zu können362. Daher ist die kanonische Ermahnung, das kirchenwidrige Verhalten aufzugeben, nötig, bevor die Zensur gültig verhängt werden kann (vgl. c. 1347 § 1 CIC/1983). Dieser Zusammenhang trete bei der Verhängung „ ferendae sententiae“ offensichtlicher zu Tage, bei den Tatsanktionen sei er hingegen versteckter, da in diesem Fall einfach vom Grundsatz ausgegangen werde: „ ‚sufficit contemptus monitionis a iure‘, d. h. es genügt das Wissen darum, daß die vorsätzlich verletzte Norm mit einer kanonischen Sanktion versehen ist“363. Als zweites Element einer formalen Differenzierung zwischen Sünde und Delikt nennt Gerosa das Eingreifen der kirchlichen Autorität durch die Positivierung einer Vorschrift. Durch die Hinzufügung einer Sanktionsdrohung zu einer Norm werde festlegt, wann eine schwere Sünde zum Delikt wird364. Damit bestimmt eben doch auch das positiv-rechtliche Verhalten der kirch lichen Autorität, ob bspw. Apostasie, Häresie, Schisma etc. Delikte im kirchenrechtlichen Sinne sind und als solche pro foro externo sanktioniert werden können. Die Auffassung, „daß der kirchenwidrige Charakter dieser Verhaltensweisen wegen des tiefgreifenden Verstoßes gegen das ‚ius divinum‘ ohne weiteres als etwas ‚Strafbares‘ bezeichnet“365 und insofern als Delikt behandelt werden müsse, wofür sich bspw. Francesco Coccopalmerio ausspricht366, möchte Libero Gerosa zwar nicht von vornherein ausschließen, doch genüge die bloße Behauptung eines solchen Phänomens „vor allem 361 Die Anknüpfung an das Merkmal einer violatio externa stellt einen sehr ähnlichen Umstand dar. Der Bruch mit der kirchlichen Communio wird ja zumindest gnadenhaft auch dann vollzogen, wenn das kirchenwidrige Verhalten mere internum verbleibt. An der Wirklichkeit der Sünde ändert es nichts, ob sie öffentlich ist oder nicht, jedoch ist dieses Merkmal konstitutiv für eine Subsumtion als Delikt; vgl. dazu auch Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 236 f. 362 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 237. 363 Ebd., 238. 364 Ebd., 232. 365 Ebd., 233. 366 Vgl. Francesco Coccopalmerio: Per una critica riscoperta del diritto penale della Chiesa, 128.
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dann“ nicht, „wenn man mit ihr sagen will, daß die Beschaffenheit dieses Phänomens unabhängig von jedem positiv-rechtlichen Eingriff zustande kommt“367. Wäre es hingegen nachweisbar, dass Apostasie, Häresie und Schisma „wegen des tiefgreifenden Verstoßes gegen das ‚ius divinum‘ ohne weiteres“, also kraft göttlichen Rechts, als Delikte zu qualifizieren sind, wären die genannten Tatbestände „in der dogmatischen Struktur der Kirche als ihr ‚pathologisches Moment‘ unmittelbar verwurzelt“368. In einem solchen Fall müsste im Kontext des Gewissenstäters im kanonischen Recht dann aber die Frage aufgeworfen werden, ob es überhaupt noch eine „menschliche Gewalt“ ist, die sanktioniert, oder nicht doch schon die göttliche. Etwaige positiv-rechtliche Aspekte des Delikts hingegen erfüllen im Hinblick auf die klassischen Glaubensdelikte einen spezifisch soteriologischen Sinn, wie Gerosa hervorhebt: Sie stellen nämlich sicher, dass die Form des christlichen Glaubens kirchlich ist369. Durch das positiv-rechtliche Eingreifen seitens des kirchlichen Lehramts wird sachlich „nichts Neues hinzugefügt“, sondern bloß „schon Geglaubtes verkündet oder definiert“ und ihm „moralisch und rechtlich verbindlich formaler Charakter“ verliehen. Mit dem Eingreifen der Kirche durch eine Sanktion ändert sie insofern nichts „an der Substanz der kirchenwidrigen Haltung“, wie Gerosa betont. Vielmehr mache die Kirche damit den „strukturellen Widerspruch zur Gemeinschaftsnatur der kirchlichen Lebens ansichtig, indem … die Grenzen bestimmt“ werden, „innerhalb derer sie zu kanonischen Delikten werden“370. Das Delikt ist aber im Rahmen eines solchen Verständnisses dann auch nicht einfach eine automatisch eintretende Kehrseite der kirchlichen Communio371, sondern eben mitgeprägt durch das bewusste, positive Eingreifen der kirchlichen Autorität372. Aufgrund dessen weist Gerosa den Terminus der „Selbst-Exkommunikation“ 367 Libero 368 Ebd. 369 Vgl.
Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 233.
ebd., 243. 244. 371 Ebd.: „Obwohl die kirchliche Gemeinschaft über die Möglichkeit der Exkommunikation verfügen können muß, ist das wechselseitige Verhältnis zwischen ‚communio‘ und ‚excommunicatio‘ nicht mechanisch, sondern stets durch ein Urteil der Kirche bestimmt, worin die verpflichtende Kraft der Gemeinschaft zum Ausdruck kommt“; vgl. auch Stephan Kotzula: Zur Exkommunikation im CIC, 454 f. 372 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 243 f.; diesen Aspekt der Untersuchung Gerosas übersehen bspw. Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 250 f.; Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/15 f., Rdnr. 17 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/8, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1331/6, Rdnr. 7 (Stand April 1993); Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 259–268; Helmuth Pree: Imputabilitas, 235 Fn. 25: Reinhold Sebott: Das kirchliche Strafrecht, 158 f. Fn. 10. 370 Ebd.,
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im Zusammenhang mit der Auffassung der Exkommunikation als einer Maßnahme mit deklarativem Charakter ausdrücklich zurück373. Die Befugnis, objektive Grenzen des Glaubens festzulegen, widerspricht nicht der theologischen Natur der Kirche. Wenn die Kirche Glaubensdelikte definiert und sanktioniert, macht sie damit also nichts anderes, als den Widerspruch zur kirchlichen Communio gegebenenfalls sichtbar zu machen. Ob diese Sichtbarmachung bzw. die Feststellung darüber latae sententiae oder ferendae sententiae ergeht, spielt nach Ansicht Gerosas letztlich keine Rolle, denn indem „die kanonische Sanktion die strukturelle Kirchenwidrigkeit der betreffenden Haltung enthüllt, führt sie das Exkommuniziertsein nicht herbei, sondern konstatiert es einfach und zeigt es an“374. Die Exkommunikation kann dann aber nicht mehr als Zwangsmaßnahme angesehen werden, die den Häretiker oder Schismatiker zwingen soll, seine Überzeugung bzw. seinen Glauben aufzugeben, sondern sie muss als eine Maßnahme interpretiert werden, welche verhindert, dass sich ein Delinquent weiterhin so verhält, „als ob er nicht ein Häretiker oder Schismatiker wäre und damit die anderen irreführt und der Gesellschaft Schaden zufügt“375. Und daher ist das Rechtsinstitut der Exkommunikation ihrem „Wesen nach nicht ein durch den Willen der öffentlichen Autorität zugefügtes Übel, sondern die Feststellung eines Sachverhalts: eines strukturell kirchenwidrigen Verhaltens“376. Das Urteil der Kirche hat im Falle der Exkommunikation insofern keine konstitutive, sondern nur deklarative Funktion: „Es erklärt, daß der Bruch mit der kirchlichen Gemeinschaft eingetreten ist“377. Unbeschadet daher der Tatsache, dass der kirchliche Gesetzgeber die Grenzen des „Katholischen“ festlegt und bestimmte Normen mit einer Sanktionsdrohung versieht, geschieht im Fall der Exkommunikation der Entzug geistlicher Rechtsgüter nicht durch die Zwangsgewalt der Kirche, sondern durch das Verhalten des Delinquenten selbst. „Durch das erklärende Urteil der kirchlichen Autorität soll der Delinquent, statt gezwungen zu werden, sein Verhalten zu ändern, sich bewußt werden, daß sich die von ihm eingenommene Haltung oder die von ihm willentlich verübte Tat gegen die ‚communio‘ richtet und ihn aus dieser hinausversetzt. Folglich hängt die Wiederherstellung der Gemeinschaft in erster Linie vom freien Willen des Exkom373 Vgl.
336 f.
Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 319,
374 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 244; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 98–105. 375 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 274, mit Verweis auf Pio Ciprotti: Il diritto penale della Chiesa dopo il Concilio, in: EIC 26 (1979), 91–106, hier 102. 376 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 274. 377 Ebd.; vgl. auch ebd., 188, 244 f., 274 f.
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munizierten ab“378, wie dies auch im bedingten Anspruch auf Erlass der Zensur bei Aufgabe der contumacia und dem Willen zur Wiedergutmachung zum Ausdruck kommt. 3. Kritische Würdigung der These vom deklarativen Charakter der Exkommunikation Zweifellos hat Libero Gerosa mit seiner Untersuchung der Exkommunikation einen bemerkenswerten und wichtigen Schritt für eine theologisch angemessene Einordnung der Exkommunikation vorgelegt. Im Kontext der Fragen, inwieweit Zensuren als „Besserungsstrafen“ mit „Zwangscharakter“ zu bewerten sind und wie eine Rechtsfigur des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht eingeordnet werden kann, liefert er mit der These vom de klarativen Charakter der Zensur einen theologisch schlüssigen Lösungsbaustein379. Dennoch muss im Rahmen der Würdigung seiner These auf einige Kritikpunkte und Anfragen aufmerksam gemacht werden, die damit im Zusammenhang stehen. Zunächst ist Gerosas Gesamteinordnung des kirchlichen Sanktionsrechts als „ein System kanonischer Sanktionen und Bußen von pastoral-disziplinarischem Charakter“380 und im Konkreten die Qualifikation der Sühnestrafe als „Disziplinarmaßnahme sui generis“381 zu kritisieren. Im Bemühen um eine spezifisch theologische Begründung hebt er das kirchliche Sanktionsrecht offenbar so sehr vom staatlichen ab382, dass er über das Ziel hinausschießt. Dieses überschießende Bestreben Gerosas hängt möglicherweise mit dem Umstand zusammen, dass er bewusst „nicht bei einer theologischen Begründung des Strafrechts als Ganzem“ ansetzt, sondern bei der Exkommunikation, als dem Prototyp aller kirchlichen Sanktionen383. Ob ihm diese induktive Vorgehensweise angesichts der Entwicklung des kirchlichen Sank tionsrechts wirklich zum Vorwurf gemacht werden kann384, ist jedoch frag378 Ebd.,
275. Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 115; Wilhelm Rees: Beitritt, Austritt, Wechsel des Religionsbekenntnisses und Wiedereintritt, 176. 380 Ebd., 292; vgl. auch Libero Gerosa: Das Recht der Kirche, 235; Libero Ge rosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 83, 120. 381 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 287–293. 382 Vgl. ebd., 251–262. 383 Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 259. So meint bspw. auch Klaus Lüdicke: MKCIC 1314/8, Rdnr. 16: „Es ist nicht richtig, aus der Struktur der Exkommunikation bei den Delikten des 1364 und der Tatsache, daß der CIC die Exkommunikation meistens als Tatstrafe androht, zu folgern, dieser Sonderfall sei das Paradigma des kirchlichen Strafrechtes schlechthin.“ 384 Vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 259. 379 Vgl.
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts281
lich. Hinsichtlich der poenae expiatoriae ist Gerosa aber entgegenzuhalten, dass sie trotz der Ähnlichkeiten mit der Strafe in weltlichen Strafrechtssystemen385 und trotz des vindikativen Charakters durchaus legitimerweise in die kirchliche Rechtsordnung integriert werden können, solange sich die Sank tionsgewalt der Kirche auf Mittel beschränkt, die „mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche“ vereinbar sind (vgl. c. 1312 § 2 CIC/1983). Dann ist zu erwähnen, dass die These vom deklarativen Charakter der Zensur nicht den Befund der Konzeption der Zensur im CIC/1983 widerspiegelt. Daher meint Dagmar Schaaf: „Da Gerosas Theorie sich insgesamt nicht aus dem geltenden Recht ableiten lässt und vor allem in den zentralen strafrechtlichen Begriffen der Exkommunikation, des Delikts und der Strafe Fragen aufwirft, bleibt für ihn letztlich auch das Problem der Unvereinbarkeit von Zwang und Glaubensfreiheit im Strafrecht des CIC/1983 ungelöst bestehen.“386 Zu diesem Einwand, dass sich Gerosas These nicht mit der geltenden Sanktionsrechtskonzeption in allen Punkten vereinbaren lässt, ist Folgendes zu sagen: Die Kritik hat insofern ihre Berechtigung, als tatsächlich „keineswegs alle Fälle, in denen das kirchliche Gesetzbuch die Exkommunikation vorsieht, als Selbstausschluß aus der communio verstanden werden können, noch nicht einmal alle Fälle, in denen die Exkommunikation als Tatstrafe angedroht wird“387, wie Lüdicke anmerkt. Aber abgesehen davon, dass richtigerweise nicht vom „Selbstausschluß“ die Rede sein sollte, sondern von der Exkommunikation im Sinne einer Maßnahme mit deklarativen Charakter, richtet sich der Kernpunkt der Untersuchung Gerosas ja nicht auf die spezifische Konzeption der Exkommunikation durch den Gesetzgeber von 1983, sondern auf ihr theologisch angemessenes Wesen im Kontext der gesamtkirchlichen Lehre und Tradition. Gerosa behauptet ja nicht, dass sich das Ergebnis seiner Forschungsarbeit vollends im CIC/1983 widerspiegelt388. Hier scheint ein grundsätzliches Missverständnis in so mancher Beurteilung 385 Vgl. ebd., 290; Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 117–120; kritisch zu dieser Einschätzung Gerosas vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 140; Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 268 Fn. 8. 386 Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 267. 387 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1331/2, Rdnr. 2 (Stand April 1993). Eine ähnliche Position vertritt Lüdicke auch gegenüber De Paolis, wenn er dessen Einschätzung kritisiert, die kirchliche Sanktion nur als „dringende Einladung“ und „letzten Anruf, mit dem die Kirche ihren eigenen Schmerz und ihre pastorale Angst dem Täter sagt, damit er sich der Gefahr bewußt wird, in der er schwebt“ zu deuten, weil eine solche Sichtweise das kirchliche Sanktionsrecht „idealisiere“ und den „Ernst als Selbstschutzmaßnahme der Gemeinschaft“ verkenne – vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/8, Rdnr. 16 (Stand 1992), mit Hinweis auf Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 234 f.; vgl. dazu auch Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 115. 388 Vgl. Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 201 f.
282
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
seiner Arbeit zu liegen389, denn seinem Anliegen entsprechend scheint es angemessener zu sein, danach zu fragen, welche Konzeption der kirchlichen Sanktionsmaßnahmen einer besseren theologischen und auch systematischen Begründung zugänglich ist. Lüdickes berechtigte Kritik, dass sich Gerosas These im geltenden Recht nur für einen Bruchteil der Tatbestände, in denen der Gesetzgeber die Exkommunikation als Sanktion vorsieht, verwirklichen lässt390, führt zur Frage, ob die Zensur überhaupt durchgängig als Maßnahme mit deklarativem Charakter in das kirchliche Sanktionsrechtssystem integriert werden kann. Lüdicke hält die Auffassung Gerosas von der deklarativen Bedeutung der Sanktion zwar im spezifischen Fall der klassischen Glaubensdelikte des c. 1364 für „wohlbegründet“391, da durch die Anerkennung der „Religionsfreiheit“ der Kirche die Möglichkeit genommen sei, „einen Menschen mit geistlichen Mitteln zur Bewahrung des Glaubens oder der Gemeinschaft mit der Kirche … zu zwingen“392. Doch könne die Zensur nicht in jedem Fall als Maßnahme mit deklarativem Charakter interpretiert werden393, denn nach Lüdickes Auffassung sei das kirchliche Sanktionsrechtssystem auf „Ausschlussstrafen“ – freilich ohne Besserungszweck – angewiesen394. Die Rückfrage an Lüdicke wäre jedoch, ob im Fall von solchen Ausschlussstrafen ohne Besserungscharakter überhaupt noch an das Wesen der Zensur angeknüpft werden kann bzw. ob damit nicht ein völlig neuer Sanktionstypus vorgelegt wird. Zum Problem einer durchgängigen Verwirklichung der Zensur als Maßnahme deklarativen Charakters im geltenden Sanktionsrecht soll aber an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass die Ausführungen Ludger Müllers zum Wesen der Zensur und Sühnestrafe, die an späterer Stelle ausführlich vorgestellt werden395, hierzu wichtige Erkenntnisse liefern. Als weiteren Kritikpunkt bezüglich Gerosas These nennt Lüdicke das Fehlen eines notwendigen Zusammenhangs zwischen schwerer Sünde und plena communio im Fall der Exkommunikation: „Gerosa kann nicht gefolgt werbspw. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 259–269. kritisiert auch Ansgar Grochtmann, dass Gerosas These dort sicherlich keine Gültigkeit habe, wo der Delinquent die Sanktion als Zwang erfahre – vgl. Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 62. 391 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1331/2, Rdnr. 2 (Stand April 1993); vgl. dazu auch Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts 1576, mit Verweis auf Libero Gerosa: Communio – Excommunicatio, 115. 392 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1312/7, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992). 393 Vgl. die Kritik von Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/6, Rdnr. 12 (Stand Juli 1992). 394 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992). 395 Vgl. dazu das Kapitel 4. C. III. „Ludger Müllers Unterscheidung nach Wesen und Funktion der Sanktionen“ in dieser Arbeit. 389 Vgl.
390 Ähnlich
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts283
den, wenn er jede schwere Sünde als Zerreißen der plena communio versteht und daraus prinzipiell die Möglichkeit einer Exkommunikation ableitet. Der Besitz oder das Fehlen der heiligmachenden Gnade (Spiritum Christi habentes, LG Art. 14 Abs. 2) gehört nicht zum forum externum, auf das das kirchliche Strafrecht beschränkt ist, selbst wenn es in seiner Anwendung auch das forum internum berücksichtigen sollte (Schuldstrafrecht)“396. Ähnlich kritisiert auch Dagmar Schaaf, dass Gerosa „willkürlich“ die Begriffe „Freiheit des Glaubensaktes“ und „Zwang“ gegen die Begriffe commu nio und excommunicatio austausche und letzteres Begriffspaar „kontradiktorisch“ gegenüberstelle397. Auf diese Einwände ist zunächst zu antworten, dass innerhalb der Kanonistik tatsächlich umstritten ist, welche Bedeutung dem Kriterium des Geistbesitzes oder – um es negativ zu formulieren– welche rechtliche Bedeutung der schweren Sünde zuzumessen ist, worauf bereits im Abschnitt über das Problem der Kirchengliedschaft in dieser Arbeit hingewiesen wurde398. Letztlich wird es schwer sein, zu argumentieren, dass das Kriterium des Geistbesitzes in der kirchlichen Rechtsordnung nur als rein innerliches Phänomen des subjektiven Heils zu begreifen ist. Gerosa betont zudem, dass trotz der von ihm aufgezeigten Interdependenz zwischen schwerer Sünde und communio plena keine Form eines Automatismus zwischen diesen Wirklichkeiten besteht, sodass die Exkommunikation als automatische und unwillkürliche Kehrseite der communio plena zu begreifen wäre399. Die Exkommunikation ist nach Gerosa – wie oben dargestellt – durch formale Kriterien vom Begriff der Sünde unterschieden und dadurch auch vom positiv-rechtlichen Eingreifen der kirchlichen Autorität geprägt 400. Möglicherweise geht dieser 396 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992); Lüdicke verweist in diesem Zusammenhang auf Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 250, der eine Exkommunikation trotz Aufrechterhaltung der plena communio (mit Verweis auf c. 1398 CIC/1983) für möglich hält, und auch auf Helmuth Pree: Imputabilitas, 234 Fn. 25. 397 Vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 260, vgl. zum Verhältnis von communio und excommunicatio auch Stephan Kotzula: Zur Exkommunikation im CIC. 398 Vgl. Kapitel 3. C. II. 5. a) „Das Problem der Kirchengliedschaft im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ in dieser Arbeit. 399 Gegen diese Ansicht verwehrt sich Gerosa ausdrücklich – vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 244, 319 f., 335 f.; Libero Ge rosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 102. Vgl. hingegen die Kritik von Dag mar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 264, mit Verweis auf Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 247; ebenso Helmuth Pree: Imputabilitas, 234 Fn. 25; Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992). 400 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 243–249.
284
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Aspekt aber bei seiner Bewertung des kirchlichen Sanktionsrechts insgesamt etwas unter401. Eine Isolation bzw. Loslösung des Sündenbegriffs vom Deliktsbegriff ist jedoch angesichts des Wesens des kirchlichen Sanktionsrechts wohl kaum möglich. Eine weitere Anfrage, die an Gerosas These zu richten ist, reicht in den Bereich der Zurechnung eines widersetzlichen Verhaltens hinein. Konkret geht es um das Problem, ob die subjektive Sündhaftigkeit der Tat notwendige Voraussetzung für die Beeinträchtigung der communio plena und damit für die Sanktion der Exkommunikation ist 402. Auf diese Fragestellung wird am Ende der Arbeit näher eingegangen werden403. Abschließend sei die Würdigung Kurt Kochs wiedergegeben, der das Bemühen Gerosas um eine theologische Auffassung des Kirchenrechts treffend mit folgenden Worten zusammenfasst: „Das Recht der Kirche findet seine Legitimität in drei Prinzipien, genauerhin darin, dass es sich erstens auf eine kirchliche Gemeinschaft bezieht und jene grundlegenden Elemente ansichtig macht, die sie als von Jesus Christus begründete Heilsgemeinschaft konsti tuieren, dass es zweitens das Recht auf Religionsfreiheit verwirklicht, und dass es drittens sowohl einer integralen Vermittlung der Glaubenswahrheiten verpflichtet ist als auch einer lebendigen und freien Zustimmung zu ihnen dient. Wenn man mit Libero Gerosa in diesen drei Kriterien die entscheidenden ‚Legitimationsprinzipien eines kirchlichen Rechts‘ wahrnimmt, erweist es sich als evident, dass der freie Gehorsam des Glaubens Grundvoraussetzung für Legitimität und Wirksamkeit des Rechtes in der Kirche ist.“404
II. Die Neueinteilung der Sanktionsmittel nach Klaus Lüdicke Klaus Lüdicke legt im Münsterischen Kommentar zum CIC/1983 eine Neueinteilung der kirchlichen Sanktionen vor, welche zumindest teilweise an die These Gerosas vom deklarativen Charakter der Exkommunikation anknüpft und den bemerkenswerten Versuch darstellt, ein Sanktionsrecht zu entwerfen, das unter anderem die innerkirchliche Verwirklichung der Glaubens- und Gewissensfreiheit berücksichtigt 405. Lüdicke erkennt dabei durch401 Vgl.
ebd., 285 ff.
402 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992),
der dies klar verneint. 403 Vgl. Kapitel 4. D. IV: „Die Rechtsfigur des Gewissenstäters auf Ebene der Schuld“ in dieser Arbeit. 404 Kurt Koch: Gehorsam als gereinigte Freiheit, 19, mit Verweis auf Libero Ge rosa: Das Recht der Kirche, 45–50. 405 Vgl. dazu insb. die Übersicht von Klaus Lüdicke: MKCIC 1311/4 f., Rdnr. 5 (Stand Juli 1992).
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts285
aus die Notwendigkeit einer theologischen Einordnung des kirchlichen Sanktionsrechts, sieht jedoch aufgrund der „derzeitig herrschenden Offenheit und Unklarheit“ der geltenden Sanktionsrechtskonzeption im CIC/1983 kaum eine Möglichkeit einer schlüssigen Begründung im Rahmen derselben406. 1. Die Verwerfung des Sanktionszwecks der Besserung Klaus Lüdicke vermerkt, dass das gegenwärtige Konzept der Zensur im CIC/1983 zwar eindeutig den medizinalen Effekt der Besserung, „die ‚Heilung‘ des Straftäters von seiner Verhärtung und seine Rückführung in die Gemeinschaft“, verfolge, jedoch scheitere seiner Auffassung nach eine solche „Konzeption eines täterbezogenen Strafrechts … an der von der Kirche anerkannten Gewissens- und Religionsfreiheit“. Die kirchliche Sanktionsgewalt stehe „der Kirche nur noch zur Verfügung, um die communio fidei und die communio fidelium … gegen Verunklärungen ihres Selbstverständnisses zu schützen. Eine Einwirkung auf die Gewissensentscheidung des Täters mit den Mitteln des Strafrechtes ist ihr nicht mehr erlaubt“407. Deshalb muss nach Ansicht Lüdickes im kirchlichen Sanktionsrecht auf den Besserungszweck verzichtet werden. Ihm ist natürlich bewusst, dass er mit diesem Vorstoß das Wesen der Zensur radikal umdeutet. Letztlich bewegen ihn nicht nur die Einsicht in die Unvereinbarkeit von Besserungszweck und Zwang zu diesem radikalen Schritt, sondern auch Zweifel, ob die im CIC vorhandene Unterscheidung zwischen Zensur und Sühnestrafe theologisch überhaupt angemessen ist 408. 2. Lüdickes Reformvorschläge zum kirchlichen Sanktionsrecht Lüdicke plädiert dafür, die historische Zweigleisigkeit von Zensuren und Sühnestrafen zugunsten einer Unterscheidung zwischen Disziplinarstrafen409 Klaus Lüdicke: Einleitung vor 1311/6, Rdnr. 5 (Stand Juli 1992). Lüdicke: MKCIC 1312/5 f., Rdnr. 12 (Stand: Juli 1992); vgl. auch Klaus Lüdicke: Art. „Kirchenstrafen“, 68; Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 42; vgl. ebenso Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 115. 408 Lüdicke meint, dass der in c. 1311 CIC/1983 mit den Worten „delinquentes coercere“ formulierte Sanktionsanspruch der Kirche, theologisch nicht begründbar sei, sondern allenfalls ins Schema der societas-perfecta-Lehre passe – vgl. Klaus Lü dicke: MKCIC 1311/4, Rdnr. 5 (Stand Juli 1992). Grochtmann vermutet allerdings, dass Lüdicke mit seiner Einschätzung bzgl. c. 1311 CIC/1983 nicht auf eine „prinzipielle Verwerfung kirchlicher Strafe“ abziele, sondern die gegenwärtige Zweiteilung kirchlicher Sanktionen und die Zuteilung der verschiedenen Sanktionszwecke in Frage stellt – vgl. Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 11. 409 Vgl. dazu die Ausführungen in Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1311/18, Rdnr. 21 (Stand Juli 1992). 406 Vgl.
407 Klaus
286
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
und Ausschlussstrafen410 zu ersetzen, wobei letztere sowohl aufgrund eines „deklaratorischen“ als auch aufgrund eines „konstitutiven Ausschlußurteils“ eintreten könnten411: „Über die deklarative Funktion der Exkommunikation“, welche insbesondere im Fall der klassischen Glaubensdelikte des c. 1364 CIC/1983 anzunehmen sein wird, „steht der Kirche das Recht zu, zumindest den reversiblen Ausschluß aus der communio über den zu verhängen, dessen trotz seiner Verhaltensweisen vollberechtigte Mitgliedschaft die Einheit und Reinheit des Glaubens in Zweifel geraten ließe“412, so Lüdicke. Hinsichtlich der klassischen Glaubensdelikte413 übernimmt er damit Gerosas These vom deklarativen Charakter der Zensur. Darüber hinaus wäre seiner Auffassung nach auch eine „Feststellung des Gesetzgebers, daß andere Verhaltensweisen einem solchen Selbstausschluß gleichkommen oder den Ausschluß erforderlich machen, … grundsätzlich möglich“, doch bedürfe ein solcher Schritt „sorgfältiger Prüfung und theologisch tragfähiger Begründung“. Zudem müsse bedacht werden, dass die Konstruktion einer solchen Ausschlussstrafe nur bei jenen Delikten möglich ist, denen die contumacia als Tatbestandsvoraussetzung innewohnt 414. Neben der Exkommunikation mit deklarativem Charakter sieht Lüdicke, wie oben erwähnt, eine Ausschlussstrafe mit konstitutivem Charakter vor, die als Zwangsmaßnahme wirkt. Diese Entscheidung begründet er damit, dass Gerosas Modell der Exkommunikation voraussetze, „daß der Täter selbst die communio verläßt. Demzufolge könnte die Kirche diese communio nicht aufkündigen, etwa weil ein Gläubiger sich falsch verhält und Gesetze bricht, die der Kirche wichtig sind“. Lüdicke meint daher: „Ich halte dagegen eine solche Exkommunikation für möglich … allerdings unter anderen Gesichtspunkten, als sie in Gerosas Theorie genannt sind. Zu unterscheiden ist dabei zwischen einer Tat, die in einem einmaligen Handeln besteht … und einer Tat, die Ausdruck einer fortdauernden Ablehnung kirchlich zu verteidigender Werte ist. Kriterium für die Möglichkeit einer Exkommunikation ist der Ausgrenzungsbedarf der Glaubensgemeinschaft“415. Dieser Entscheidung Lüdi410 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321, insb. Rdnr. 4–8 (Stand November 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/18, Rdnr. 21 (Stand Juli 1992). 411 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992). 412 Klaus Lüdicke: MKCIC 1311/4, Rdnr. 8 (Stand Juli 1992). 413 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/15, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/7, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992). 414 Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/8, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992); vgl. auch Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/17, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992). 415 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16 f., Rdnr. 19 (Stand Juli 1992).
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts287
ckes liegt die Annahme zugrunde, dass es eine „Exkommunikation trotz plena communio“ geben könne416. Lüdicke differenziert weiters zwischen Glaubensdelikten, „die ipso facto die communio zerstören … und solchen, die als ebenso schwerwiegend erachtet werden“417, aber in denen „die objektive Tat als solche die communio plena noch nicht zerstört hat“, jedoch die „Einbeziehung der subjektiven Komponente ein Zerschneiden der communio“ nahelege. Zur Veranschau lichung dieses Gedankens verweist Lüdicke auf eine Analogie zur Sünde: Es gebe Handlungen, „die per definitionem“ schwer sündhaft sind, dann aber auch welche, die erst durch das „Zusammentreffen von Willensfreiheit, Erkenntnis und gravierender Materie“ zu einer solchen werden. Ähnliches müsse nach Ansicht Lüdickes für die Exkommunikation angenommen werden, doch sei im zweiten Fall das Problem, dass die Tat dann nicht als „excommunicatio latae sententiae erfaßt werden“ könne, „weil der in foro externo feststellbare Tatbestand nicht ausreicht, um das Zerschneiden der communio zu verifizieren“418. Als Entscheidungskriterium, ob ein Ausgrenzungsbedarf vorliegt, nennt Lüdicke unter anderem die Unterscheidung zwischen einer „einmaligen Tat“, bei der in der Regel kein Ausgrenzungsbedarf vorliege und einer „Dauertat“, bei der es auf „die Unvereinbarkeit eines Verhaltens mit dem Leben in der kirchlichen communio“ durch eine Sanktion aufmerksam zu machen gelte, welche dann wieder nachzulassen sei, sobald der Täter das kirchenwidrige Verhalten aufgibt 419. Beispielgebend verweist Lüdicke auf den Tatbestand der Abtreibung (c. 1398 CIC/1983): Im Fall einer werdenden Mutter, die eine Abtreibung vornehmen lasse, bestehe in der Regel kein Ausgrenzungsbedarf, während hingegen das Betreiben einer Abtreibungsklinik eine dauerhafte kirchenwidrige Haltung zum Ausdruck bringe420. Eine Ausschlussstrafe mit konstitutiver Wirkung stellt vor dem Hintergrund der Gewissens- und Religionsfreiheit nach der Konzeption Lüdickes deshalb kein Problem dar, weil sie nicht zur Besserung des Delinquenten, sondern zum Schutz der kirchlichen Communio verhängt wird421. Denn auch hier sei das entscheidende Kriterium für die Feststellung einer Ausschluss416 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992), mit Verweis auf Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 250 und Helmuth Pree: Imputabilitas, 234 Fn. 25. 417 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992). 418 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 18 (Stand Juli 1992). 419 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/17, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992). 420 Ebd. 421 Vgl. ebd; Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992).
288
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
strafe im „Ausgrenzungsbedarf der Glaubensgemeinschaft“422 zu finden, unabhängig von der subjektiven Sündhaftigkeit des Täters bzw. einer „Zurechenbarkeit im Sinne des 1321“423. „Die Notwendigkeit eines Ausschlusses“ bemesse „sich nicht an der Schuld der Person, sondern am Bedürfnis der Gemeinschaft nach KlarsteIlung“424. Und obschon einer Ausschlussstrafe die Aufforderung „zur Änderung seiner Haltung“ (vgl. c. 1347 § 1 CIC/1983) vorauszugehen habe, spiele der Umstand, „ob ihm sein fortdauerndes Fehlverhalten vorgeworfen werden kann oder ob es, weil auf seiner Überzeugung beruhend, respektiert werden muß, keine Rolle“, wie Lüdicke betont. Die Besserung bzw. Bekehrung des Täters erachtet Lüdicke in Anschluss an Helmuth Pree als ein ausschließliches Ziel des Bußsakraments425: „Die Frage seiner persönlichen Schuld und Sündhaftigkeit gehört in den Beichtstuhl. Selbst wenn der Beichtvater den verurteilten Täter aufgrund mangelnder böser Gesinnung nicht für einen Sünder hält, kann er ihm den Kommunionempfang nicht gestatten, solange das inkriminierte Verhalten anhält“426. Des Weiteren hat nach der Auffassung Lüdickes auch das Modell der „Sühnestrafe“ angesichts ihrer eigentlichen „ratio essendi“ in der kirchlichen Communio keinen theologisch angemessenen Platz mehr im Sanktionsrechtssystem der Kirche427. Kirchliche Sanktionsgewalt sei nämlich zuallererst und vornehmlich durch die Aufgabe der Wahrung der „Heiligkeit der Kirche“ legitimiert 428. Daher setzt Lüdicke neben das Modell der Ausschlussstrafen dasjenige der „Disziplinarstrafen“, welche „Inhaber irgendwelcher Dienste in der Kirche treffen können und entweder auf die durch die Straftat manifestierte mangelnde Eignung des Täters abstellen, den Dienst zu leisten, oder auf die ordnungsgemäße Ausübung des Dienstes hindrängen“429. Diese Konzeption unterscheidet sich von derjenigen der poenae expiatoriae insofern, als sie nicht auf die Vergeltung ausgerichtet, sondern „funktional begründet“ ist. So 422 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/17, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992), mit Verweis auf Hans Heimerl: Menschenrechte, Christenrechte und ihr Schutz in der Kirche, 29, der in diesem Zusammenhang von einer „Einschränkung der Glaubensfreiheit wegen der Identität der Kirche“ spricht. 423 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/17, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1311/19, Rdnr. 24 (Stand 1992). 424 Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992). 425 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/19, Rdnr. 23 (Stand Juli 1992), mit Verweis auf Helmuth Pree: Imputabilitas, 240. 426 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/17, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992). 427 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/6, Rdnr. 13 (Stand Juli 1992). 428 Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/12, Rdnr. 12 (Stand Juli 1992). 429 Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/9, Rdnr. 18 (Stand Juli 1992).
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts289
versteht Lüdicke auch die Disziplinarstrafen nicht täterbezogen, sondern auf die „Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des kirchlichen Dienstes“ ausgerichtet 430. Aus der Zusammenschau mit der These Gerosas vom deklarativen Charakter der Exkommunikation und auf Basis der Überzeugung, dass sich die gegenwärtige Konzeption der kirchlichen Sanktionsmittel theologisch nicht angemessen verorten lasse, formuliert Lüdicke eine Auflistung an Konsequenzen für das geltende Sanktionsrecht, aus der die wichtigsten Punkte nun herausgegriffen werden431: 1. Die überlieferte und im CIC/1983 aufgegriffene Zweigliedrigkeit von Medizinalstrafen und Sühnestrafen (vgl. c. 1312 CIC/1983) müsse zugunsten einer Unterscheidung in „Ausgrenzung“ und „Disziplinarmaßnahme“ weichen. 2. Dem Punkt 1 entsprechend müsse auch die Einteilung und Anwendung von Tat- und Spruchsanktionen vorgenommen werden (vgl. c. 1314 CIC/ 1983). 3. C. 1317 CIC/1983 bezieht sich gegenwärtig nach seinem Wortlaut auf die Sicherstellung der kirchlichen Disziplin. Auch wenn hier Generalprävention und Besserung nicht ausdrücklich als Sanktionsziele genannt werden, müssen sie angesichts der gegenwärtigen Systematik des Gesetzbuches mitbedacht werden. Nach der neuen vorgelegten Differenzierung in „Ausgrenzung“ und „Disziplinarmaßnahme“ wäre das jedoch nicht mehr notwendig. 4. In c. 1318 CIC/1983 werden vom Gesetzgeber Tatsanktionen unter anderem als verschärfte Sanktionen für arglistig begangene Delikte vorgestellt, die ein schwereres Ärgernis hervorrufen können. Dieser Zusammenhang zwischen Tatsanktionen und schweren Sanktionen würde jedoch nach der Systematik in Punkt 1 und 2 entfallen. 5. Hinsichtlich c. 1321 § 3 CIC/1983 plädiert Lüdicke für eine Unschuldsvermutung anstatt der bestehenden Präsumption der Zurechnung. Auf das Kriterium des Verschuldens würde es gemäß der neuen vorgeschlagenen Systematik ohnehin nur bei einem Teil der Disziplinarmaßnahmen ankommen. Und auch auf die in den cc. 1322–1326 CIC/1983 genannten Tatbestände fände die „kommunial bedingte Exkommunikation“432 danach keine Anwendung. 6. Exkommunikation und Interdikt (vgl. cc. 1331, 1332 CIC/1983) seien infolge der Gewissens- und Religionsfreiheit nicht mehr als Besserungs- oder 430 Ebd. 431 Vgl.
Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/4 f., Rdnr. 5 (Stand Juli 1992). Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/5, Rdnr. 5 (Stand Juli 1992).
432 Klaus
290
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Beugesanktionen zu verstehen, „weil Besserung des Täters zwar Folge, nicht aber Ziel der Strafe sein kann“433. 7. Die Suspension deutet Lüdicke als Disziplinarsanktion, die nicht nur Kleriker (vgl. c. 1333 CIC/1983), sondern auch Laien treffen kann. 8. Für die Sühnestrafe im herkömmlichen Sinn (vgl. cc. 1336–1338 CIC/1983) findet sich in dieser Sanktionsrechtskonzeption kein Platz mehr, weil sie nach der Auffassung Lüdickes der ratio essendi der Kirche widerspricht. Strafsicherungsmittel (vgl. c. 1339 CIC/1983) rechnet er zum Bereich des Disziplinarrechts, die Bußen (vgl. c. 1340 CIC/1983) zum Bereich des Bußsakraments. 9. Die Sanktionszwecke sowie die Voraussetzungen des Sanktionsnachlasses sind anhand des Wesens der jeweiligen Sanktion zu definieren und festzulegen. Die Sanktionszwecke müssen theologisch eingeordnet und entsprechend umformuliert werden (vgl. cc. 1341, 1354–1361 CIC/1983). 10. Und schließlich komme gemäß dieser vorgeschlagenen Systematik und der Natur der Sanktionen eine Verjährung der Ausschlussstrafen nicht mehr in Frage (vgl. cc. 1362–1363 CIC/1983). Soweit eine Übersicht der Konsequenzen, die Lüdicke aus der Zusammenschau mit der These Gerosas vom deklarativen Charakter der Exkommunikation und der eigenen vorgeschlagenen Sanktionsrechtskonzeption zieht. 3. Würdigung der Vorschläge Klaus Lüdickes Lüdickes Anliegen einer Umgestaltung und Neuordnung des kirchlichen Sanktionsrechts ist klar von der Ansicht geprägt, dass sich Besserungszweck und Zwangsmaßnahme im Licht der Glaubens- und Religionsfreiheit der Kirche nicht vertragen. Aus dieser Notwendigkeit heraus schlägt er eine Neueinteilung kirchlicher Sanktionen in Ausschlussstrafen und Disziplinarstrafen vor434, wobei erstere seiner Auffassung nach nicht ausschließlich als Maßnahmen deklarativen Charakters interpretiert werden können, sondern teilweise auch konstitutiven Charakter besitzen müssen435, um der Kirche auch angemessene Mittel gegen dauerhaft kirchenschädigendes Verhalten, das objektiv das Band der communio plena nicht zerschneidet, in die Hand zu geben. Durch die Streichung des Besserungszweckes besteht nach der Systematik Lüdickes auch im Fall der konstitutiven Ausschlussstrafen jedoch 433 Ebd.
dazu Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 271 Fn. 223. Lüdicke die Möglichkeit konstitutiver Ausschlussstrafen vorsieht, scheint auch der Grund dafür zu sein, dass er in ihrem Fall weiterhin von „Strafen“ spricht. 434 Vgl.
435 Dass
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts291
kein Konflikt mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit 436. Legitim und insofern ausschlaggebend ist in Lüdickes Entwurf nur mehr der Sanktionszweck des Schutzes der communio fidelium und der communio fidei 437, wodurch eine Sanktionierung unabhängig von der „subjektiven Sündhaftigkeit“ bzw. von einer „Zurechenbarkeit im Sinne des 1321“438 zu erfolgen hat. Folgende Punkte sind hinsichtlich dieses Reformentwurfs kritisch anzumerken: Lüdickes Konzeption der Ausschlussstrafen würde sich nicht nur auf den Besserungszweck an sich auswirken, sondern ebenso auf das Kriterium der contumacia. Denn es wäre durchaus vorstellbar, dass auch nach Aufgabe einer andauernden Widersetzlichkeit Umstände vorliegen, die unter der Per spektive des Schutzes der kirchlichen Communio und des ihr anvertrauten Glaubensgutes für eine Aufrechterhaltung des Ausschlusses sprechen. Die Widersetzlichkeit wäre danach nur mehr für den Eintritt, nicht mehr aber für den Nachlass der Sanktion ausschlaggebend. Zumindest als fragwürdig muss auch die Konzeption von Sanktionsmaßnahmen eingestuft werden, welche ihre Legitimation primär von den gemeinschaftlichen Interessen der kirchlichen Communio (communio fidelium/com munio fidei) erhalten, ohne das individuelle Heil in den Blick zu nehmen. So meint Dagmar Schaaf zu Recht: „Lüdickes Sichtweise, den Strafzweck der Besserung völlig abzulehnen und als mit der Lehre des II. Vatikanums zur Religionsfreiheit unvereinbar zu halten, vermag jedoch nicht zu überzeugen. Die Ablehnung des dem kirchlichen Strafrecht originären medizinalen Charakters reduziert dieses auf eine reine Verteidigungsfunktion und ist nicht nur der kanonistischen Rechtstradition fremd, sondern auch fragwürdig im Hinblick auf die Sendung der Kirche in ihrem Auftrag als Mittlerin des Heils.“439 Der Verbannung des Besserungszwecks in den Bußbereich scheint zwar auf den ersten Blick eine verlockende Lösung für den Konfliktfall des Aufeinandertreffens von Besserung und Zwang zu sein, doch aus theologischer und auch systematischer Sicht ist eine solche Trennung des bußtheologischen vom sanktionsrechtlichen Bereich nicht vertretbar, wie im Abschnitt über den Forum-Begriff bereits dargelegt wurde440.
436 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/19, Rdnr. 23 (Stand Juli 1992).
dazu auch Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 270 ff. Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/17, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1311/19, Rdnr. 24 (Stand 1992). 439 Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 273 f.; vgl. auch Judith Hahn: Wieviel an Recht verträgt die Kirche, 82–84. 440 Vgl. dazu das Kapitel 3. B. IV. „Die Einheit von forum internum und forum externum im kirchlichen Rechtsbereich“ in dieser Arbeit. 437 Vgl.
438 Klaus
292
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Zu hinterfragen ist zudem Lüdickes Konzeption der konstitutiven Ausschlussstrafen, die im Wesentlichen auf zwei Annahmen basieren: Zum einen könne ein Ausschluss dort notwendig sein, wo das Handeln des Täters zwar aus objektiver Perspektive die communio plena nicht durchtrennt, d. h. äußerlich gesehen nicht den Tatbestand einer schweren Sünde verwirklicht, aber die subjektive Komponente, d. h. die besonders schwerwiegende, die Communio beeinträchtigende Einstellung bzw. Motivation des Täters, eine „Ausgrenzung“ rechtfertigt bzw. nahelegt 441. Zum anderen nimmt Lüdicke an, dass eine Exkommunikation trotz bestehender communio plena möglich ist. Klar ist zunächst, dass eine besondere subjektive Konstellation einen nach außen hin neutralen oder eher unbedenklichen Sachverhalt zur schweren Sünde und damit auch zum Delikt machen kann: So begeht der Spender der Kommunion, der die Hostie aus Ungeschicklichkeit fallen lässt und aus Unachtsamkeit draufsteigt, kein Sakrileg, wohl aber derjenige, der genau diese Handlung in sakrilegischer Absicht verwirklicht (vgl. c. 1367 CIC/1367)442. Dabei handelt es sich um eine qualitative Differenzierung äußerlich sehr ähnlicher Sachverhalte, welche durch den Gesetzgeber aufgrund einer besonderen subjektiven Komponente auf Seiten des Täters vorgenommen wurde. Es ist daher ein formaler Akt der kirchlichen Autorität 443, welche maßgeblich das Delikt von der allgemeine Kategorie der schweren Sünde444 bzw. davor schon ein eher unbedenkliches Verhalten von einem schwer sündhaften (und daher unter Umständen deliktischen) abgrenzt, indem sie letzteres mit einer Sanktion bewehrt. Ob mit Lüdicke in jenen Fällen, wo der „in foro externo feststellbare Tatbestand nicht ausreicht, um das Zerschneiden der communio zu verifizieren“, eine Verhängung der Sanktion latae sententiae abzulehnen ist, weil die „Verschuldensvermutung … keine Tatbestandsmerkmale präsumieren“ könne445, ist aus diesem Grund fragwürdig, da es ja prinzipiell für die Verwirklichung eines jeden Delikts objektive und subjektive Tatbestandsmerkmale braucht, es sei denn, man würde die Voraussetzung einer subjektiven Zurechnung des Delikts überhaupt aufgeben. 441 Vgl. dazu Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 17–19 (Stand Juli 1992). 442 Eben dieses Bsp. nennt auch Lüdicke – vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 18 (Stand Juli 1992). 443 Dies gilt selbst für den Fall des c. 1399 CIC/1983, wenngleich hier der Grundsatz nulla poena sine lege poenali praevia durchbrochen wird. 444 Lüdicke verkennt Gerosas These vom deklarativen Charakter der Exkommunikation insofern, als dieser sie nicht als „Selbstexkommunikation“ und das Delikt nicht als die automatische Kehrseite der Störung oder des Zerreißens der plena com munio beschreibt – vgl. dazu das Kapitel 4. C. I. „Libero Gerosas These von der deklarativen Funktion der Exkommunikation“ in dieser Arbeit. 445 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 18 (Stand Juli 1992).
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts293
Der Annahme, dass es eine Exkommunikation trotz bestehender communio plena geben könne, geht die bereits erwähnte Ansicht Lüdickes voraus, dass der Buß- und damit der Gnadenbereich („Spiritum Christi habentes“) vom Bereich des kirchlichen Sanktionsrecht so getrennt werden könnte446, dass das Kriterium der Sünde bzw. schweren Sünde kein bestimmendes Element mehr für letzteres ist 447. Dieser Ansicht ist wiederum nicht nur aufgrund der Einheit der beiden fora zu widersprechen, sondern auch deshalb, weil der Sündenbegriff in gewisser Weise Legitimationsgrund für die Sanktionsgewalt der Kirche, damit aber zugleich Begrenzung ihrer Tragweite ist. Angesichts dessen scheint es eher zweifelhaft zu sein, dass die kirchliche Autorität legitimerweise eine Exkommunikation verhängen bzw. feststellen kann, obwohl kein Bruch mit der plena communio vorliegt. Schließlich überzeugt auch Lüdickes Hinweis nicht, dass die Hauptzwecke der poenae expiatoriae angesichts der „ratio essendi“ der kirchlichen Rechtsgemeinschaft „keinen Platz“ mehr hätten448. Denn ein grundsätzliches Bedürfnis nach (menschlicher) Gerechtigkeit, die durch Sühne und Wiedergutmachung begangenen Unrechts zum Ausdruck kommen kann, spielt in jeder Rechtsordnung durchaus eine sehr vitale Rolle; dies ist grundsätzlich auch dann der Fall, wenn das eigentliche Ziel der kirchlichen Rechtsordnung nicht das irdische Gemeinwohl bzw. eine irdische Gerechtigkeitsbilanz, sondern das ewige Heil ist. In einigen Aspekten erinnert Lüdickes Reformentwurf des kirchlichen Sanktionsrechts, wie Schaaf richtig feststellt 449, an die von Peter Huizing in der Reformdiskussion vertretenen Positionen. Den Ausführungen Lüdickes ist jedoch zugute zu halten, dass er angesichts der Notwendigkeit einer innerkirchlichen Umsetzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit zielorientiert versucht, Neuansätze und Lösungen für eine Einordnung und Grundlegung des kirchlichen Sanktionsrechts anzuregen.
446 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992).
447 Letztendlich würde die Annahme Lüdickes wohl auch voraussetzen, dass es moralisch indifferente Sanktionsnormen geben kann. 448 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/6, Rdnr. 13 (Stand Juli 1992). 449 Vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 274 Fn. 235: „Die von Lüdicke vertretene Auffassung, die die Strafgewalt im Konflikt mit der Religionsfreiheit sieht, hat Anklänge an nach dem Konzil in der Reformdiskussion vertretene Positionen wie beispielsweise die von Huizing, bei dem inhaltlich ähnliche, später von Lüdicke vertretene Argumente zu finden sind“; vgl. dazu Seite 263 Fn. 295 in dieser Arbeit.
294
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
III. Ludger Müllers Unterscheidung nach Wesen und Funktion der Sanktionen Ludger Müllers Bestreben einer theologischen Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts kann mit dem Stichwort „Profilbildung“ zusammengefasst werden. Dabei ist es ihm wichtig, das je eigene Wesen und die spezifischen Funktionen der Sanktionen theologisch angemessen zu erfassen und bei der Sanktionsbewehrung zu berücksichtigen. 1. Warum eine theologisch fundierte Unterscheidung der Sanktionen notwendig ist Das Problem hinsichtlich kirchlicher Sanktionsmaßnahmen besteht nach Auffassung Ludger Müllers vor allem darin, dass „die unterschiedliche Funktion von Zensuren und Sühnestrafen … nicht immer mit der nötigen Konsequenz“450 beachtet wird: „Geht es bei der Zensur um die Beendigung eines sanktionswürdigen Verhaltens, so verfolgen Strafen allgemein- wie spezialpräventive Ziele ebenso wie den Zweck der Vergeltung für die begangene Tat. Eine Regelung wie jene des can. 2255 CIC/1917, daß Interdikt und Suspension Zensur oder Sühnestrafe sein können, wobei die Rechtsvermutung dafür spricht, daß sie als Zensuren wirken, widerspräche daher dem Sanktionsmittelsystem des CIC/1983451. Die Verhängung der Suspension oder des Interdikts als (Sühne-)Strafe ist nicht mehr möglich, auch nicht unter der Berufung auf die ‚traditio canonica‘ (vgl. c. 6 § 2 CIC/1983), die etwa in can. 2255 CIC/1917 erkannt werden könnte“452, wie Müller bemerkt. Wenn die Zensur die Funktion hat, die contumacia des Delinquenten zu brechen bzw. zu beenden453, kommt sie naturgemäß nur im Fall von Delikten in Frage, in denen „sich eine dauerhafte communio-widrige Einstellung des Täters zeigt“454. Die Sanktionierung eines solchen Verhaltens liege aber „in diesen Fällen nur an den zugrundeliegenden objektiven Fakten und am Vor450 Ludger
Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 232. vermutet Müller, dass die „mangelnde Beobachtung des Unterschieds zwischen Zensuren und anderen Sanktionen … vielleicht auch wegen der in can. 2255 CIC/1917 vorgesehenen und den an der CIC-Reform beteiligten Kanonisten geläufigen Möglichkeit, das Interdikt und die Suspension auch als Strafe einzusetzen“ verursacht wurde – vgl. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 283. 452 Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 270 f.; vgl. ebenso Ludger Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 230. 453 Vgl. die angeführten Bsp. bei Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 277–279. 454 Ebd., 277. 451 Jedoch
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts295
liegen von Vorsatz auf Seiten des Täters, nicht aber am Willen irgendeines kirchlichen Amtsträgers“455, so Müller in Anschluss an Libero Gerosas These vom deklarativen Charakter der Zensur. „Zensuren sind keine Strafen“, so der logische Schluss aus dieser Erkenntnis. Es sei daher irreführend, in ihrem Fall von „Beugestrafen“ zu sprechen456. Müller teilt hingegen nicht Gerosas Einstufung der Sühnestrafen als „Disziplinarmaßnahmen ‚sui generis‘ “457; vielmehr betrachtet er die Begriffe „Strafe“ und „Sühnestrafe“ als „iden tisch“458, wodurch aber der zentralen „These von Gerosa … in ihrer Substanz nichts genommen“459 werde. Als Konsequenz dieser Einsichten folgt, dass Zensur und Sühnestrafe deutlich voneinander abzuheben sind, da die Zensur nicht als Strafe fungieren kann, wie auch umgekehrt die Sühnestrafe nicht als Zensur460. Es sei „nicht zu vereinbaren, wenn der CIC die Zensuren lediglich als schwerere Strafen behandelt“, wie die Canones 1318 und 1349 des CIC/1983 es gegenwärtig vorsehen: So heißt es in c. 1318 CIC/1983, dass Zensuren „nur mit allergrößter Zurückhaltung und für schwerere Delikte“ verhängt werden dürfen. Auch in c. 1349 CIC/1983 werden die Zensuren als „schwerere Strafen“ gehandelt. „In diesen beiden Canones wird nicht auf die spezielle Wirkweise von Zensuren abgestellt, sondern nur auf die Entsprechung zwischen Schwere des Delikts und Schwere der Sanktion“, wie Müller zu Recht feststellt 461. Dieses Phänomen wiederholt sich im Grunde in c. 1378 § 3 CIC/1983, demgemäß je nach der Schwere des Delikts neben dem Interdikt auch andere Strafen hinzugefügt werden können, „die Exkommunikation nicht ausgeschlossen“. Auch hier entsteht der Eindruck, als sei die Exkommunikation eine besonders schwere Strafe; Interdikt und Exkommunikation werden offenbar völlig austauschbar mit Sühnestrafen gehandhabt. Hinsichtlich ihrer „Schwere“ wird im gegenwärtigen Sanktionsrecht die Zensur nur noch von den „Strafen für immer“ übertroffen462. Damit wird deutlich, dass der kirchliche Gesetzgeber von 1983 die Zensur oftmals „einfach nur als 455 Ludger Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 231; vgl. dazu Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam; Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 114 f. 456 Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 268 Fn. 8; vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 91. 457 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 291. 458 Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 268 Fn. 8; Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 140. 459 Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 268 Fn. 7. 460 Vgl. ebd., 270; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 194. 461 Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 271. 462 Vgl. ebd., 271 f.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
besonders schwere (Sühne-)Strafen verstanden hat“463, was dem Wesen und der Funktion der Zensur eindeutig widerspricht. 2. Zensuren sind keine Strafen Erstellt man ein „Ranking“ hinsichtlich der Schwere der verschiedenen Sanktionen, die im CIC/1983 vorgesehen sind, ergibt sich folgendes Bild: Wird bei den schwersten Sanktionen begonnen, dann stehen an der Spitze die sogenannten „Strafen für immer“ (hier insbesondere die Entlassung aus dem Klerikerstand), gefolgt von den Zensuren, Sühnestrafen und den vorgesehenen Sanktionssicherungsmitteln (letztere nicht als Sanktionen im engeren Sinn, aber doch als eine Möglichkeit der Kirche, auf das Fehlverhalten eines Gläubigen zu reagieren). „In dieser Abfolge erscheinen die Zensuren schlicht eingereiht zwischen verschiedenen Strafen. Der qualitative Unterschied zwischen Zensuren und anderen Maßregelungen wird auf diese Weise nicht deutlich“464, wie Müller kritisiert. Unterschiedliches Wesen, unterschiedliche Intention und Wirkweise von Zensuren und Sühnestrafen werden vom Gesetzgeber des CIC/1983 insbesondere an jenen Stellen nicht angemessen berücksichtigt, wo jener „wahlweise eine Zensur oder eine andere Sanktion, also eine Strafe“ androht; Müller nennt beispielgebend dafür die cc. 1366; 1373; 1385; 1387; 1388 § 2; 1390 § 2 CIC/1983. „Bei diesen Delikten wäre die Verhängung einer Zensur, ggf. neben einer Strafe, nur bei einem andauernden Delikt sinnvoll. Der Text der Canones ermöglicht jedoch eine Wahl und unterscheidet nicht zwischen abgeschlossenem und fortdauerndem Delikt, wie es jedoch notwendig wäre.“465 Der Gesetzgeber berücksichtigt demnach bei der Sanktionsandrohung nicht ausreichend, ob es sich um ein Delikt handelt, das auf einer dauerhaften kirchenwidrigen Haltung des Täters beruht, die durch die Zensur „gebrochen“ werden soll, oder nicht. Bspw. droht c. 1394 § 2 CIC/1983 im Fall einer auch nur versuchten Eheschließung eines laikalen Ordensangehörigen mit ewigen Gelübden neben dem ipso facto eintretenden Ausschluss aus dem Orden auch die Zensur des Interdikts als Tatstrafe an. Doch die Zensur kann in diesem Kontext nicht als Beugesanktion verstanden werden, weil ja aufgrund des ipso facto eingetretenen Ausschlusses aus dem Orden keine „Besserung“ des Täters mehr angestrebt werden kann. Vielmehr dürfte der Gesetzgeber bei der Sanktionsdrohung des Interdikts an eine Verschärfung der Strafe gedacht haben, nicht aber an die Besserung des Täters466. 463 Ebd.,
271. 272. 465 Ebd., 282. 466 Vgl. ebd., 279. 464 Ebd.,
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts297
Wird die Zensur als „Strafe“ eingesetzt, stellt sich zudem die Frage, wie und wodurch sie angemessenerweise wieder beendet werden soll. Aus der unterschiedlichen Zielsetzung von Zensur und Sühnestrafe ergeben sich nämlich Konsequenzen hinsichtlich ihrer Dauerhaftigkeit und ihres Nachlasses: Eine Zensur wird naturgemäß auf unbestimmte Dauer „verhängt“, da ihr Nachlass von der Aufgabe der Widersetzlichkeit des Delinquenten abhängt. So kann eine Zensur nicht mehr als legitim betrachtet werden, sobald der Delinquent die Widersetzlichkeit aufgegeben hat (vgl. c. 1358 § 1 CIC/1983), die Tat bereut, allfälligen Schaden wiedergutgemacht und die Behebung des Ärgernisses zumindest ernsthaft versprochen hat (vgl. c. 1347 § 2 CIC/1983). Daraus ergibt sich ein bedingter „Anspruch auf Nachlaß der Zensur bei Beendigung jener Handlungsweise, die zur Sanktionierung geführt hatte“467. Strafen hingegen sind auf bestimmte Zeit oder für immer zu verhängen und unter Umständen selbst dann noch legitim, wenn eine „Besserung“ oder „Reue“ des Täters bereits eingetreten ist. Wird eine Strafe jedoch auf unbestimmte Zeit verhängt, stellt sich die Frage, welches Kriterium für die Beendigung herangezogen werden soll. Zuletzt werden von Ludger Müller noch zwei weitere Beispiele dafür angeführt, dass die Gewichtung und Systematisierung der Sanktionen im CIC/1983 nicht immer als gelungen betrachtet werden kann: Der Nachlass der Exkommunikation wird im CIC/1983 sehr oft mit einem Vorbehalt des Apostolischen Stuhls verknüpft. „Die Reservation bewirkt eine Erschwernis für den Exkommunizierten, den Sanktionsnachlaß zu erlangen. Sie stellt so eine Sühnemaßnahme dar, wie sie auch sonst durch den Ordi narius mit dem Nachlaß verbunden werden kann (vgl. c. 1358 i. V. m. c. 1348).“468 Nun liegt die Vermutung nahe, dass der Gesetzgeber dem Apostolischen Stuhl jene Delikte zum Nachlass reservieren will, welche die kirchliche Communio auf besonders schwere Art und Weise zu stören bzw. zu beeinträchtigen vermögen469. Eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass – neben dem Delikt der Abtreibung – ausgerechnet „die Glaubensdelikte nicht dem Apostolischen Stuhl zur Behandlung reserviert sind, also gerade jene Delikte, die für die kirchliche communio die schwersten Beeinträchtigungen mit sich bringen“470. Müller plädiert aufgrund dieser Schieflage dafür, auf das Modell der Reservation überhaupt zu verzichten471. 467 Ebd.,
270. 274. 469 Vgl. dazu auch Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 281. 470 Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 274. 471 Vgl. ebd.; Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 165; vgl. ebenso Libero Ge rosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 281. 468 Ebd.,
298
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Die mangelnde inhaltliche Stringenz in der Systematik der Sanktionsdrohungen wird schließlich noch an einer weiteren Stelle offenbar: C. 1372 CIC/1983 bedroht denjenigen mit einer Zensur, der gegen eine Maßnahme des Papstes an ein Ökumenisches Konzil oder an das Bischofskollegium appelliert. In diesem Fall könnte also sowohl eine Exkommunikation als auch ein Interdikt und im Fall eines Klerikers auch eine Suspension verhängt werden. Letzteres wäre aber eine nicht unerhebliche Besserbehandlung eines Klerikers im Vergleich zu einem Laien, der eben „nur“ mit dem Interdikt oder der Exkommunikation sanktioniert werden könnte. Eine ähnliche Situation ergibt sich in c. 1380 CIC/1983. Laien und Kleriker werden so ungerechtfertigterweise potentiell ungleich behandelt 472. Als Ergebnis dieser Analyse von Zensur und Sühnestrafe formuliert Ludger Müller einen Vier-Punkte-Katalog von „Konsequenzen für die Neufassung eines den eigenen theologischen Grundlagen entsprechenden kirchlichen Sanktionsrechts“473: 1. Die Unterscheidung zwischen Zensuren und Sühnestrafen muss ihrem Wesen und ihrer Funktion entsprechend konsequent eingehalten werden. Eine wahlweise Sanktionsandrohung von Zensur oder Sühnestrafe ist aus diesem Grund nicht möglich und daher abzulehnen. 2. Zensuren sind nur dann einzusetzen, wenn es darum geht, eine contu macia, d. h. ein dauerhaftes kirchenwidriges Verhalten474, zu brechen. Zur Sühnung einer bereits gänzlich abgeschlossenen Tat eigenen sich Zensuren hingegen nicht. 3. Es steht nichts entgegen, gewisse Rechtsfolgen der Zensuren als dezidierte Sühnestrafen zu konzipieren. In solchen Fällen müssten aber die Rechtsfolgen dieser Strafen im Vorhinein festgelegt und bestimmt werden. Bspw. sei dann nicht die „Suspension“ im klassischen Sinn zu verhängen, sondern gegebenenfalls ein Zelebrationsverbot für einen bestimmten Zeitraum475. 4. Es ist zuletzt grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, dass Strafen oder Bußen zur Verschärfung oder „Unterstützung“ einer Zensur beigefügt werden, um den Druck auf den Delinquenten zu erhöhen und so der Zensur einen höheren Wirkungsgrad zu verleihen. Doch Zensur und Strafe können nicht wahlweise bzw. austauschbar angedroht werden476. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 276 f. ebd., 283 f. 474 Vgl. dazu insbesondere die detaillierte Darstellung von Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 277–281. 475 Vgl. dazu ebd., 276. 476 Vgl. dazu insbesondere die detaillierte Darstellung von Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 281–183. 472 Vgl. 473 Vgl.
C. Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts299
3. Würdigung der Einschätzung Müllers über die Zensur und Sühnestrafe Ohne auf die Frage des Gewissenstäters im kirchlichen Sanktionsrecht explizit einzugehen, zeigt Ludger Müller mit diesem Vier-Punkte-Katalog Möglichkeiten einer angemessenen Integration der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Sanktionsrecht auf. Das Besondere hierbei ist, dass nicht nur nicht auf die Zweigleisigkeit der geltenden Sanktionsrechtssystematik und den Besserungszweck der Zensur verzichtet werden muss, um dies zu erreichen, sondern im Gegenteil das Wesen und die Funktionen der jeweiligen Sanktionsarten im Mittelpunkt des Lösungsansatzes stehen. Den entscheidenden Eckpunkt bildet die Erkenntnis Gerosas vom deklarativen Charakter der Zensur mit der daraus folgende Einsicht, dass Zensuren keine Strafen sind und insofern nicht als solche eingesetzt werden können. Man könnte die Position Ludger Müllers mit dem Hinweis zusammenfassen, dass nicht die Nivellierung der Sanktionen der Schlüssel zu ihrem richtigen Verständnis und ihrer theologischen Einordnung in das kirchliche Sanktionsrechtssystem ist, sondern im Gegenteil die Herausarbeitung und Beachtung ihres spezifischen (theologischen) Profils. Den Ausführungen Müllers entgegnet aber bspw. Wilhelm Rees, dass Zensuren in der geltenden Systematik als Strafen zu verstehen seien, da sie einen „zwangsweisen Entzug von Rechten durch die kirchliche Obrigkeit“ bewirken, was im CIC/1983 „traditionell“ ein Charakteristikum von Strafmaßnahmen sei477. Der Vollständigkeit halber muss aber gesagt werden, dass Rees hinsichtlich des Revisionsentwurfs für das kirchliche Sanktionsrecht das Festhalten an der zwangsweisen Besserung kritisiert hat 478. Aber auch Dagmar Schaaf verweist darauf, dass der Gesetzgeber von 1983 schon begrifflich klar mache, dass er Zensuren als „Beugestrafen“ (vgl. c. 1312 § 1 °1 CIC/ 1983), also als „Strafen“ im eigentlichen Sinn, verstanden wissen möchte479. Die Differenzierung Müllers zwischen der Zensur als einer Maßnahme mit deklarativem Charakter und der Sühnestrafe als einer Strafe im eigentlichen Sinn kritisiert Schaaf als ein „bedenkliches Auseinanderreißen der kirch lichen Strafgewalt“, wobei – im Fall der Zensur – ein Teil der Sanktionsmaßnahmen theologisch begründet werde, der andere Teil aber als „etwas Aufgesetzes oder Angehängtes“ erscheine480. Für sie deckt sich daher die „Müllersche These, dass es bei den Zensuren nicht um das Androhen, Verhängen und Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 51. ebd., 58; vgl. dazu auch Wilhelm Rees: Geh zu Jesus, er vergibt Dir, 301; Wilhelm Rees: Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1574. 479 Vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 236 f. 480 Ebd., 238. 477 Vgl. 478 Vgl.
300
Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Verbüßen einer Strafe gehe, sondern nur um das Deutlichmachen, dass sich der Täter mit einer hartnäckigen Handlungsweise aus der vollen Gemeinschaft der Kirche hinausbegeben habe, … nicht mit der aus der kanonistischen Tradition erwachsenen geltenden Rechtslage, der gemäß es keinen Grund gibt, den Zensuren den Strafcharakter bzw. die Übereinstimmung mit dem kanonistischen Strafbegriff abzusprechen“481. Zweifelsohne haben Rees und Schaaf mit ihrer Analyse recht, wenn die Konzeption des CIC/1983 als Ausgangs- und Vergleichspunkt zugrunde gelegt wird. Hinsichtlich dieser Kritiken ist jedoch auf das zu verweisen, was schon in der Würdigung der These Libero Gerosas gesagt wurde: Auch Ludger Müller gibt nicht vor, dass sich seine Ausführungen zur Gänze in der geltenden Konzeption des kirchlichen Sanktionsrechts widerspiegeln – im Gegenteil: Vielmehr sind sie als Kritik an der geltenden Sanktionsrechtskonzeption und als Hinweis für die Reformbedürftigkeit desselben zu verstehen, indem auf die Notwendigkeit einer theologisch und systematisch angemesseneren Grundlegung und Einordnung der Sanktionen verwiesen wird482. Die Kritik Schaafs hinsichtlich des Auseinanderreißens der kirchlichen „Strafgewalt“ ist angesichts der historischen Entwicklung des Sanktionsrechts, die weiter oben schematisch dargestellt wurde, nicht nachvollziehbar483. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Müller ja genau aufgrund der Einsicht, dass nicht alle Sanktionen der Kirche „Strafen“ sind, dafür plädiert, nicht vom „Strafrecht“ zu sprechen, sondern den übergeordneten Begriff „Sanktionsrecht“ zu verwenden. Übrigens meint Dagmar Schaaf ja selbst, dass der „Begriff sanctio … sowohl die Strafen im eigentlichen Sinn (poe nae), wie auch die Gesamtheit aller strafbewehrten Gesetze und Gebote und andere im Strafrecht vorgesehene Maßnahmen, wie die Strafsicherungsmittel und Bußen“484 einschließt und dennoch teilt sie im Ergebnis die Auffassung Müllers nicht. Zusammenfassend ist die von Müller vorgeschlagene Unterscheidung nach Wesen und Funktion der kirchlichen Sanktionen als wichtige Weiterführung der These Gerosas vom deklarativen Charakter der Zensur und als elementa481 Ebd.,
237. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 283 f.; vgl. dazu auch Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 80–94; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 195–249; so meint bspw. auch Klaus Lüdicke, dass die Zensuren des CIC/1983, „vor allem was ihre Anwendung über Delikte des c. 1364 hinaus angeht, vom Gedankengut des societas perfecta geprägt“ sind – Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/6, Rdnr. 12 (Stand Juli 1992). 483 Vgl. das Kapitel 4. A. IV. „Die historische Entwicklung der kirchlichen Sanktionstypen“ in dieser Arbeit. 484 Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 193. 482 Vgl.
D. Einordnung des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht301
rer Baustein für eine angemessene Einordnung und Lösung des Problems des Gewissenstäters im kirchlichen Sanktionsrecht zu würdigen.
D. Einordnung der Rechtsfigur des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht Die im vorausgegangenen Kapitel vorgestellten Entwürfe zum kirchlichen Sanktionsrecht sind nicht nur Vorschläge einer Neuordnung bzw. theologischen Erfassung dieser Materie, sondern sie zeigen vor allem auch Aspekte und Möglichkeiten einer Verwirklichung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht auf. Wird nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Ansätze gesucht, treten drei beachtenswerte Gemeinsamkeiten zum Vorschein: Zunächst sind sich Gerosa, Lüdicke und Müller einig, dass Zensuren zumindest im Fall klassischer Glaubensdelikte485 nicht als „Strafen“486 im strengen Sinn des Wortes, sondern als Maßnahmen deklarativen Charakters zu begreifen sind. Sodann spielt das Merkmal der contumacia in allen drei Entwürfen eine entscheidende Rolle bei der Charakterisierung der Sanktionsmittel und drittens besteht ein Konsens darüber, dass die jeweiligen Sanktionen entsprechend ihrem Wesen und ihren Funktionen einzusetzen sind. Wie jedoch das Wesen der jeweiligen Sanktionen theologisch zu deuten ist, welche Sanktionszwecke angemessen sind und welche Systematik insgesamt dem kirchlichen Sanktionsrecht am ehesten entspricht, darüber gibt es zum Teil sehr unterschiedliche Auffassungen. Im Folgenden soll aber keine weitere detaillierte Kritik der verschiedenen Ansätze erfolgen, sondern der Versuch einer konstruktiven Rezeption dieser Vorarbeiten unternommen werden, um einen schemenhaften Entwurf für die Integration der Rechtsfigur des Gewissenstäters in das Sanktionsrecht der Kirche vorzulegen.
485 Vgl. Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 227– 249; Libero Gerosa: Schisma und Häresie; Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 277; Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/7, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992); vgl. aber auch bspw. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 428 f.; Wilhelm Rees: Geh zu Jesus, er vergibt Dir, 301; Peter Krämer: Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religionen, 48. 486 Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Klaus Lüdicke sehr wohl von Ausschlussstrafen spricht, weil er diese nicht ausschließlich als Maßnahmen deklarativen Charakters verstanden wissen will – vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/16, Rdnr. 19 (Stand Juli 1992).
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
I. Gerosas These als Ausgangspunkt Ausgangspunkt einer Übernahme der Rechtsfigur des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht ist die Erkenntnis Libero Gerosas, dass es im Fall typisch kirchenwidriger Delikte der Delinquent selbst ist, der die Bande der kirchlichen Communio verlässt und insofern die Konsequenzen dieses Verhaltens, welche durch die kirchliche Autorität mit deklarativer Wirkung festgestellt werden, tragen muss. Ob eine solche Feststellung latae sententiae oder ferendae sententiae geschieht 487, ändert letztlich die Qualität dieses Geschehens nicht 488. Mit der deklarativen Feststellung der Zensur durch die kirchliche Autorität schützt sie ihre Communio vor Verunreinigungen und Verwirrungen hinsichtlich des Glaubens und hält dem Betroffenen den Bruch der communio plena und den damit verbundenen Verlust von Heilsmitteln vor Augen, ohne ihn jedoch zur Umkehr zu zwingen. Ob der Betroffene diesen Aufruf zur Besserung annimmt oder nicht, wird „von ihm selbst abhängen“489. Eintritt, Dauer und Nachlass dieser Sanktion hängen demgemäß vom Bestehen einer andauernden kirchenwidrigen Widersetzlichkeit (contumacia) ab. Die Bezeichnung dieses Geschehens als „Selbstausschluß“ oder „Selbstexkommunikation“490 ist jedoch zu vermeiden, da hinter jedem Delikt eine positive Entscheidung bzw. eine Grenzziehung durch die kirchliche Autorität steht, indem sie objektiv schwer sündhafte Tatbestände als Delikte definiert und mit einer Sank tionsbewehrung versieht. Maßnahmen mit deklarativem Charakter sind insofern nicht als eine automatisierte Kehrseite der kirchlichen Communio zu interpretieren. Des Weiteren ist mit Libero Gerosa und Ludger Müller festzu487 Freilich besteht ein Unterschied darin, ob der Eintritt einer Zensur förmlich von der kirchlichen Autorität mit Wirkung für den äußeren Bereich festgestellt wird oder nicht. 488 Vgl. Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 102 f.: Gerosa sagt hier zu Recht, dass der „Bruch der kirchlichen ‚communio‘ … normalerweise durch eine Sanktion ‚latae sententiae‘ bekundet werden“ sollte, da diese Feststellungsweise „von der Ekklesiologie her eher der realen Situation“ entspreche. Dennoch ändere sich nichts Wesentliches, wenn die Kirche die Exkommunikation im Ausnahmefall „ferendae sententiae“ feststelle, denn „auch dann ist der Bruch mit der kirchlichen Gemeinschaft bereits eine Tatsache, und dieses Vorgehen der kirchlichen Autorität ist eine Feststellung, die alle rechtlichen Folgen im äußeren Bereich klarmacht“. 489 Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 56, mit Verweis auf Richard A. Strigl: § 101 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 924. 490 Vgl. bspw. Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/15, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992), Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/8, Rdnr. 16 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdi cke: MKCIC Einleitung vor 1331/6, Rdnr. 7 (Stand April 1993); Heinrich J. F. Rein hardt: Communio und Excommunicatio, 115.
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stellen, dass die Zensur nicht mehr als Strafe bezeichnet und demnach auch nicht als solche eingesetzt werden kann491. Wird die Zensur in diesem Sinne gedeutet, dann bleibt sie als Besserungssanktion bestehen, ohne dass ihr aber Zwangscharakter zugemessen werden müsste. Damit wird der Konflikt mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit entschärft, weil bei der Aufforderung zur Besserung bzw. zur Umkehr auf Mittel des Zwangs verzichtet wird. Die Streichung bzw. Ausblendung des medizinalen Charakters kann aus Gründen des theologischen Charakters der kirchlichen Communio, der daraus resultierenden Aufgabe zur Beachtung grundlegender Gerechtigkeitsstandards und des Heilsauftrags der Kirche keine Option sein. Natürlich setzt diese Konzeption der Zensur als Maßnahme deklarativen Charakters voraus, dass sie im Zuge der Sanktionsbewehrung nur mehr für solche Tatbestände als Sanktionsdrohung in Betracht kommt, in denen es um die Beendigung eines durch das Verhalten des Delinquenten selbst herbeigeführten Bruches der communio plena geht.
II. Die Beachtung von Wesen und Funktion der Zensur Wenn Klaus Lüdicke von einer „Wohlbegründetheit“ der These Gerosas spricht, bezieht er sich in seinem Kommentar auf die in c. 1364 CIC/1983 genannten Delikte der Apostasie, Häresie und des Schismas492. Es stellt sich nun die Frage, ob das Verständnis der Exkommunikation als deklarative Maßnahme auf alle Zensuren, d. h. auch auf das Interdikt und die Suspension, und auch auf andere Delikte jenseits der klassischen Glaubensdelikte in c. 1364 CIC/1983 übertragen werden kann. 1. Exkommunikation, Interdikt und Suspension als Maßnahmen deklarativen Charakters? Kann die Charakterisierung der Zensur als Maßnahme deklarativen Charakters auf alle drei Arten der Zensur – also auf Exkommunikation, Interdikt und Suspension – angewandt werden? Abgesehen von der Tatsache, dass der Gesetzgeber die Zensur entgegen ihrem Wesen und ihrer Funktion gelegentlich wie eine (besonders) schwere Strafe einsetzt, spricht aus theologischer 491 Vgl.
dazu die Ausführungen im Kapitel 4. C. I. und III. in dieser Arbeit. Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/15, Rdnr. 17 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC 1314/7, Rdnr. 15 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC 1331/2, Rdnr. 2; vgl. auch Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 115. 492 Klaus
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
bzw. rechtlicher Perspektive nichts dagegen, die Exkommunikation und das Interdikt als Maßnahmen deklarativen Charakters zu interpretieren. Das Interdikt ist im CIC/1983 als „abgeschwächte Form der Exkommunikation“ konzipiert 493 und unterscheidet sich insofern kaum in Wesen und Funktion von der Exkommunikation. Daher kann das Verständnis der Zensur als Maßnahme deklarativen Charakters ohne weiteres auch auf das Interdikt übertragen werden. Prinzipiell gilt dieser Schluss auch für die Suspension. Dennoch scheint ihr Wesen und ihre Funktion insbesondere auf das Amt bzw. das Funktionieren des Dienstes in der Kirche ausgerichtet zu sein; in der Literatur wird die Suspension deshalb auch als „vorübergehende Dienstenthebung“494 beschrieben. Ihre konkrete Ausgestaltung wird in der Regel auf die Notwendigkeiten des Einzelfalls abgestimmt und daher können die konkreten Rechtswirkungen der Suspension durchaus von Fall zu Fall variieren. Im Hinblick auf die Rechtspraxis ergibt sich die Frage, ob es nicht angemessen und richtig wäre, einige Wirkungen der Suspension vom Vorhandensein oder zumindest vom Fortdauern einer hartnäckigen Widersetzlichkeit abzukoppeln und in die Form selbständiger Sühnestrafen oder Disziplinarstrafen zu gießen. So kann beispielsweise ein Verbot der öffentlichen Ausübung der hl. Weihe auch dann noch sinnvoll bzw. erforderlich sein, wenn der Delinquent die Widersetzlichkeit bereits aufgegeben, die Tat bereut und Wiedergutmachung geleistet hat. Die Entscheidungsfrage für die Einordnung der Suspension als Zensur, Sühnestrafe oder Disziplinarstrafe wird wohl sein, ob sie primär ein widersetzliches, andauerndes Verhalten brechen, begangenes Unrecht sühnen oder doch eher das Funktionieren eines kirchlichen Dienstes sicherstellen will. Für die Rechtspraxis wäre es jedenfalls wünschenswert, wenn Sanktionswirkungen, die gegenwärtig mit der Suspension verknüpft sind, explizit als selbständige Disziplinarmaßnahmen, gegebenenfalls sogar unabhängig von einer subjektiv zurechenbaren Schuld495, oder als Sühnestrafen zur Verfügung stünden. Die These Lüdickes von der Notwendigkeit einer konstitutiven Ausschlussstrafe ist aus den weiter oben ausgeführten Gründen allerdings nicht weiter zu verfolgen496.
Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 180 f. 181. 495 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1312/9, Rdnr. 20 (Stand Juli 1992). 496 Vgl. das Kapitel 4. C. II. 3 „Würdigung der Vorschläge Klaus Lüdickes“ in dieser Arbeit. 493 Vgl.
494 Ebd.,
D. Einordnung des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht305
2. Kriterien eines mit der Zensur sanktionsbewehrten Tatbestandes Kann die Zensur als Maßnahme deklarativen Charakters auch jenseits der klassischen Glaubensdelikte, die in c. 1364 § 1 CIC/1983 genannt sind, angewandt werden? Um diese Frage beantworten zu können, ist es zuerst notwendig, jene Tatbestandsmerkmale zu beschreiben, die vorliegen müssen, damit eine Zensur, verstanden als Maßnahme deklarativen Charakters, legitimerweise angedroht werden kann. Aus dem bisher Dargestellten lassen sich insbesondere zwei Tatbestandsvoraussetzungen herausdestillieren: Ziel der Zensur ist die Beendigung einer andauernden kirchenwidrigen Haltung, die einen Bruch der communio plena verursacht. Damit ist nicht der einmalige Verstoß gegen ein kirchliches oder göttliches Gebot gemeint, sondern die Aufrechterhaltung einer Haltung, die Ausdruck einer widersetzlichen Gesinnung bzw. Überzeugung ist und dazu führt, dass der Betreffende die volle Gemeinschaft mit der Kirche verlässt. Deliktsinhalt ist die andauernde widersetzliche Haltung, nicht jedoch notwendigerweise die Dauerhaftigkeit jenes Aktes, in dem sich diese Widersetzlichkeit nach außen hin manifestiert. Solange die contumacia fortbesteht, dauert das Delikt an. Zur Sühnung bzw. „Bestrafung“ eines bereits gänzlich abgeschlossenen Geschehens eignet sich die Zensur demnach nicht. Das widersetzliche Verhalten muss zweitens eine solche Qualität aufweisen, dass der Delinquent damit die Grenzen der communio plena verlässt. Diese Grenzen werden im Rahmen des Auftrags der Kirche zur Auslegung und Bewahrung des depositum fidei durch positive Rechtssetzung von der kirchlichen Autorität festgelegt, indem bestimmte Tatbestände mit einer Sanktion bewehrt werden. Dies gilt grundsätzlich auch für c. 1399 CIC/1983, obwohl hier die Sanktionsbewehrung erst im Nachhinein festgelegt wird. Durch den Bruch der communio plena verletzt der Delinquent wesentliche Rechte und Pflichten seiner Kirchengliedschaft. Indem die kirchliche Autorität den durch das Verhalten des Delinquenten bereits eingetretenen Bruch der communio plena entweder latae sententiae oder ferendae sententiae für den äußeren Bereich feststellt, wird die Ausübung der tätigen Kirchengliedschaft eingeschränkt, nicht jedoch die „konstitutionelle“ bzw. „konsekratorische“ Kirchengliedschaft beendet 497. Zensuren kommen daher „nur in den Fällen eines Dauerdeliktes bzw. eines solchen Delikts in Betracht, in dem sich eine dauerhafte communio-widrige Einstellung des Täters zeigt“498. Tatbestände, die diese beiden Hauptmerk497 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 178; vgl. dazu Klaus Mörsdorf: Die Kirchengliedschaft nach dem Recht der katholischen Kirche, 151. 498 Vgl. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 277.
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male aufweisen, können legitimerweise mit einer Zensur sanktionsbewehrt werden. Über c. 1364 CIC/1983 hinaus trifft dies insbesondere für all jene Delikte zu, in denen es primär darum geht, eine dahinterstehende Überzeugung bzw. eine dahinterstehende Glaubenshaltung zu sanktionieren. Eine detaillierte und kritische Analyse aller Tatbestände, die mit einer Zensur bedroht sind, findet sich in Ludger Müllers Untersuchung über die „Zensuren und Strafen im kanonischen Recht“499. Die Durchsicht des besonderen Teils des kirch lichen Sanktionsrechts im CIC/1983 zeigt, dass in folgenden Tatbeständen eine dauerhafte Widersetzlichkeit, die einen Bruch der plena communio mit sich bringt, beendet bzw. gebrochen werden soll und daher zu Recht mit einer Zensur sanktionsbewehrt sind: C. 1364 CIC/1983, der die Apostasie, die Häresie und das Schisma sanktioniert, wurde schon mehrmals erwähnt; weiters sind zu nennen c. 1367 CIC/1983, der das Sakrileg behandelt, c. 1372 CIC/1983, der das Angehen eines Ökumenischen Konzils oder des Bischofskollegiums gegen eine Maßnahme des Papstes sanktioniert, c. 1382 CIC/1983, der die Bischofsweihe bzw. deren Empfang ohne päpstlichen Auftrag zum Inhalt hat, c. 1394 § 1 CIC/1983, in dem es um den Eheschließungsversuch eines Klerikers, geht und schließlich c. 1395 § 1 CIC/1983, der verschiedene Verstöße gegen das sechste Gebot sanktioniert. Im Fall des c. 1374 CIC/1983, der die Förderung oder Leitung einer kirchenfeindlichen Vereinigung mit einer Zensur bedroht, wäre es wohl angemessen gewesen, auch den Tatbestand der bloßen Mitgliedschaft mit einer Zensur zu sanktionieren. Über den CIC hinaus ist zudem der Tatbestand des Versuchs einer Weihespendung an eine Frau bzw. des Empfangs einer Weihe durch eine Frau (vgl. Art. 5 Normen SC DocFid 2010500) zu erwähnen, der die genannten Deliktsmerkmale aufweist. Schließlich ist noch c. 1365 CIC/1983 zu nennen, der die verbotene Gottesdienstgemeinschaft zum Inhalt hat und gegenwärtig mit einer „gerechten Strafe“ bedroht wird – dieser Tatbestand zielt im Grunde auf die Beendigung einer widersetzlichen kirchenwidrigen Haltung ab und müsste demzufolge mit einer Zensur sanktioniert werden. Fraglich ist hingegen eine Anwendung der Zensur gemäß der oben beschriebenen Kriterien in den folgenden Fällen: Hinsichtlich der Delikte, welche die physische Gewalt gegen kirchliche Amtsträger (vgl. c. 1370 CIC/1983) sanktionieren, stellt sich die Frage, ob es primär um eine „Strafe“ geht, welche kirchliche Amtsträger vor tätlichen Angriffen schützen soll, oder ob es bei der Sanktionierung dieser Tatbestände um die Beendigung einer dahinterstehenden schismatischen Haltung des Angreifers geht501. Ähn499 Vgl.
ebd., 273–283. AAS 102 (2010), 419–430, hier 423 f. 501 Vgl. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 280. 500 Vgl.
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lich sind wohl die Tatbestände der Simonie (c. 1380 CIC/1983) und der Abtreibung502 (c. 1398 CIC/1983) zu beurteilen, denn auch in ihrem Fall ist unklar, ob Sühne bezweckt oder eine verkehrte, kirchenwidrige Überzeugung gebessert werden soll. Dann gibt es Delikte, in denen der Gesetzgeber gegenwärtig eine Zensur im Sinne einer besonders harten Strafe androht. Dies scheint in den Fällen der Sakramentensimulation bei der Eucharistie und der Buße (vgl. c. 1378 § 2 °1 und °2 CIC/1983) so zu sein, in denen das Interdikt und die Suspension offenbar als schwerere Strafen vorgesehen sind, die sich bis zur Exkommunikation steigern können, während hingegen alle anderen Simulationsfälle einer Sakramentenspendung „nur“ mit einer gerechten Strafe bedroht sind (c. 1379 CIC/1983). In den Fällen einer absolutio complicis (c. 1378 CIC/1983), des unmittelbaren Bruches des Beichtgeheimnisses (c. 1388 § 1 CIC/1983) und des Geheimnisverrates (c. 1388 § 2 CIC/1983) wird die Zensur wohl entgegen ihrem Wesen als (Sühne-)Strafe eingesetzt503. Zweifel sind hinsichtlich der Angemessenheit einer Zensur auch beim Tatbestand des c. 1394 § 2 CIC/1983 angebracht, da es hier nicht um die Beendigung „der gelübdewidrigen ungültigen Ehe“504 gehen kann. Wie schon weiter oben zu Ludger Müllers theologischer Einordnung der kirchlichen Sanktionen erwähnt wurde505, ist die Zensur insbesondere im Fall jener Delikte fraglich, in denen wahlweise eine Zensur oder eine Sühnestrafe angedroht wird; dies betrifft die cc. 1366, 1373, 1385, 1387, 1388 § 2 und 1390 §§ 1 und 2 CIC/1983. Hierzu vermerkt Müller zu Recht, dass bei der Sanktionsbewehrung berücksichtigt werden müsste, ob ein andauernder Deliktsverstoß und damit eine dahinterstehende Überzeugung sanktioniert werden soll oder eine einmalige, abgeschlossene Handlung506. Hingegen ist es völlig legitim, eine Strafe zur Verschärfung einer Zensur einzusetzen, um den Druck auf den Delinquenten zu erhöhen (vgl. c. 1395 § 1 CIC/1983).
502 Vgl. hingegen ebd., 281: Müller ordnet den Tatbestand der Abtreibung unter jene Delikte ein, in denen die Zensur als „besonders harte Sanktion“ eingesetzt werde. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber primär die Sühne für die Tötung ungeborenen Lebens auferlegen will oder ob es ihm um die Beendigung der Haltung geht, dass ein Mensch sich anmaßt, über das Lebensrecht eines anderen zu entscheiden. 503 Vgl. ebd., 281. 504 Vgl. ebd., 279. 505 Vgl. das Kapitel 4. C. III. „Ludger Müllers Unterscheidung nach Wesen und Funktion der Sanktionen“ in dieser Arbeit. 506 Vgl. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 282.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Diese grobe und knappe Analyse zeigt sehr deutlich, dass nicht alle De liktstatbestände, welche gegenwärtig im CIC/1983 mit einer Zensur sank tionsbewehrt sind, auf die Aufgabe einer dauerhaften Communio-widrigen Einstellung des Täters abzielen. Damit wird indirekt auch offenbar, dass es im CIC/1983 an einer theologisch geschlossenen und systematisch einheitlichen Konzeption der verschiedenen kirchlichen Sanktionen mangelt. Obwohl die Zensur vom Gesetzgeber als Besserungssanktion vorgestellt wird, welche ihre Legitimation aufgrund einer vorliegenden kirchenwidrigen Widersetzlichkeit erhält, wird sie an verschiedenen Stellen als besonders schwere Strafe eingesetzt (vgl. cc. 1318 1349 oder 1378 § 3 CIC/1983). Wie eben veranschaulicht, ist oft nicht klar, ob der Gesetzgeber eine Sanktion zur Sühne oder zur Beugung des Delinquenten androht; eine Beachtung dieses Umstands wäre aber nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Funktionen der Sanktionsmittel geboten, sondern auch aufgrund des Konfliktes mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Solange daher Zensuren als Strafen eingesetzt oder Delikte mit unbestimmten Sanktionsdrohungen im Sinne einer Austauschbarkeit zwischen Zensur und Strafe versehen werden507, werden in der kirchlichen Rechtsordnung durch das Aufeinandertreffen von Besserungszweck und Zwang insbesondere dort Konflikte mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit provoziert, wo es tatsächlich um die Besserung einer dahinterstehenden Glaubenshaltung oder Überzeugung geht. Eine Verwirklichung der These Gerosas vom deklarativen Charakter der Zensur würde für die Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht bedeuten, dass insbesondere für jene Delikte, die primär auf die Sanktionierung einer dahinterstehenden Überzeugung oder eines abweichenden Glaubens ausgerichtet sind, eine Lösung gefunden ist: Sanktionen, die auf die Änderung bzw. die Besserung einer dauerhaften, kirchenwidrigen Haltung abzielen, sind danach nicht mehr als Zwangsmaßnahmen aufzufassen. Dies jedoch unter der Bedingung, dass Zensuren tatsächlich nur mehr dort angewendet werden, wo es tatsächlich um die Beendigung bzw. die Besserung einer fortdauernden Widersetzlichkeit geht.
III. Die Zensur als Tatsanktion Auffallend ist, dass die Zensur im geltenden Recht entsprechend ihrer „inneren Eigenstruktur“508 in aller Regel als Tatsanktion angedroht wird509. 507 Vgl.
insb. Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 277–
508 Vgl.
Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 274.
283.
D. Einordnung des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht309
Diese „Tendenz“510 ist mit Gerosa keinesfalls als „zufällig“ anzusehen511. Daraus lässt sich sicherlich kein „Beweis“ – vielleicht aber ein starkes Indiz – für die Angemessenheit und Richtigkeit der These vom feststellenden Charakter der Zensur ableiten. Gegen das Konstrukt der Tatsanktion gibt es in der Kanonistik jedoch einige Bedenken. Das kirchliche Sanktionsrecht hängt durch die Verwendung der Tatsanktion wie kein anderes Sanktionssytem512 von einem funktionierenden Gewissen seiner Normadressaten ab, denn Tatsanktionen treten mit der Verwirklichung der sanktionsbewehrten Tat bei Vorliegen der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale von selbst ein, ohne dass vorher ein richterliches Urteil ergangen wäre, und binden „den Täter in dem Augenblick, in dem er sich seiner Straftat bewußt geworden ist“513. Ab diesem Zeitpunkt ist der Delinquent „im Gewissen verpflichtet“, die Sanktion an sich selbst zu vollziehen und sich unter Umständen dementsprechend inner509 Vgl. dazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 152–167; Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 273–275; Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 102–106; Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe; biblische Grundlagen für die Konstruktion der Tatsanktion können gefunden werden in Joh 3,18, wo es heißt „Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat“, oder auch in Tit 3,10–11, wo es heißt „Wenn du einen Sektierer einmal und ein zweites Mal ermahnt hast, so meide ihn. Du weißt, ein solcher Mensch ist auf dem verkehrten Weg; er sündigt und spricht sich selbst das Urteil“ – vgl. Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 101 Fn. 18. Diese Bibelstellen legen eine Verknüpfung der Tatsanktion mit den Glaubensdelikten nahe, wenngleich sie im Corpus Iuris Canonici zunächst für Delikte gegen die kirchliche Autorität und Souveränität vorgesehen war und erst später für schwerwiegende Glaubensdelikte. Den Grund dafür, dass Tatsanktionen im Laufe der Zeit ziemlich „populär“ wurden, sieht Georg May darin, „daß die geistliche Gewalt sich mit der Abschwächung der mittelalterlichen Theokratie, der Verselbständigung des Staates und der Beschränkung der kirchlichen Zuständigkeit in verstärktem Maße auf das Gewissen der Gläubigen stützen mußte“ – Georg May: Art. „Bann“, 179. 510 Nach geltendem Recht ist der Eintritt latae sententiae theoretisch auch für Sühnestrafen möglich (vgl. c. 1336 § 2 CIC/1983). Zudem werden ja auch nicht alle Zensuren als Tatsanktionen angedroht – vgl. cc. 1374, 1378 § 3, 1388 § 2, 1395 § 1 CIC/1983. 511 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 182 f. 512 Das Rechtsinstitut der Tatsanktion kennt im weltlichen Rechtssystem keine Parallele und ist dort auch aus rechtssystematischen Gründen nicht vorstellbar; S abine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 104 f.: „Die Einrichtung der von selbst eintretenden Tatstrafe ist für ein weltliches Strafrecht undenkbar, für ein kirchliches Strafrecht dagegen typisch, wenn auch nicht unabdingbar“; Pulte verweist diesbezüglich auf das Desiderat einer rechtsvergleichenden Untersuchung – Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 170. 513 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 152–154; Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 102; Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 101.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
halb der kirchlichen Communio zu verhalten514. Diese Wirklichkeit bringt auch die Bezeichnung der Tatsanktion als „poena latae sententiae“ zum Ausdruck, also einer Sanktion, die deshalb eintritt, weil der Täter sich bereits durch die Tat selbst das Urteil gesprochen hat515. Die Tatsanktion erfüllt damit im kirchlichen Sanktionsrecht die Aufgabe, den einzelnen Gläubigen den Weg zum übernatürlichen Heil zu weisen und zugleich die Ordnung der kirchlichen communio aufrechtzuerhalten und zu schützen. Über die Existenzberechtigung der Tatsanktion wurde im Zuge der CICReform intensiv diskutiert516, sie wurde aber aufgrund theologischer Bedenken dennoch beibehalten. Als Kritik gegen die Tatsanktion wurde geäußert, dass in ihrem Fall die „Grade der Verantwortlichkeit“ (nämlich Vorsatz und Fahrlässigkeit) nur mangelhafte Berücksichtigung fänden, der Eintritt der Sanktion „oft unsicher“ für den Betroffenen und den Beichtvater sei und den Einzelnen „überfordere“, da er zugleich „Kläger, Richter und Vollzieher der Strafe sein müsse“517. Besondere Aufmerksamkeit erlangte der Einwand, dass die Tatsanktion „geheime Straftaten ebenso geheim ahnde und damit mehr eine Gewissenssache des einzelnen als eine gemeinschaftsbezogene Angelegenheit sei“518. Aufgrund der dadurch potentiell möglichen „Spannung zwischen dem inneren und dem äußeren Rechtsbereich“519 (vgl. can. 2254 CIC/1917; c. 1357 CIC/1983), die dem Anliegen nach mehr Transparenz und Öffentlichkeit innerhalb des kirchlichen Sanktionssystems widerstreitet520, stellt sich die Frage, wie und ob überhaupt eine solche Maßnahme 514 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 102; vgl. ebd., 103: Falls die Tatstrafe geheim ist und nur im inneren Bereich wirkt, kann der Delinquent von der Beobachtung der Strafwirkungen im äußeren Bereich entschuldigt sein, wenn damit sein Ruf gefährdet wäre; vgl. dazu auch Georg May: Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts, 25. 515 Vgl. Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 101 Fn. 18. 516 Vgl. ebd., 105–107; Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 181. 517 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 103. 518 Ebd., 104. 519 Ludger Müller: Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg, 232; ausführlich zum Sanktionserlass vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 407–413. 520 Der Gesetzgeber von 1983 wollte die Öffentlichkeit des kirchlichen Sank tionssystems soweit wie möglich wiederherstellen – vgl. dazu die cc. 48 §§ 1 und 2 im Schema Poen von 1973, welche im Falle von Häresie und Schisma keine Tatsanktion mehr vorsahen, sondern nur mehr die Möglichkeit der Feststellung durch Spruchsanktion, der eine Verwarnung vorauszugehen hatte. Dieser Vorschlag stieß jedoch auf theologische Bedenken und wurde dann wieder fallen gelassen – vgl. dazu Wil helm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 345, mit Verweis auf Peter Krämer: Was bringt die Reform des Kirchenrechts, 655 f. Eine Maßnahme zur Verstärkung des Öffentlichkeitsprinzips des Sanktionsrechts bestand jedoch darin, die Anzahl der Tatbestände, die mit einer Tatsanktion bedroht werden von 61 auf zwölf zu reduzieren –
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in ein Rechtssystem integriert werden kann. Pulte äußert die Ansicht, dass die Konstruktion der Tatstrafe auf der „Seite der kirchlichen Gemeinschaft“ voraussetze, „dass die Gemeinschaft auf den Täter Druck ausübt, sich der Sanktion gemäß zu verhalten.“ Davon kann jedoch „in einer postchristlichen Gesellschaft“ nicht mehr ausgegangen werden521. Sicherlich sind die Zweifel, ob das Konstrukt der Tatsanktion heute noch ein tragfähiges Modell zur Rechtsdurchsetzung und zum Schutz wichtiger Rechtsgüter sein kann, nicht unbegründet, da es, wie Alfred Hierold formuliert, „ein entsprechend hohes Maß an Gemeinschafts- und Rechts- bzw. Unrechtsbewußstein voraus[setzt], das nicht überall vorhanden ist, um es gelinde auszudrücken“522. Diesen Bedenken stimmt auch Sabine Demel zwar grundsätzlich zu, doch seien sie „letztlich … kein Argument, es sei denn, mangelnde Glaubens- und Gewissensbildung in einer Gemeinschaft“ würden „als Legitimationsgrundlage“ dafür herangezogen werden, „überhaupt nicht mehr die Funktion des Gewissens ernstzunehmen … Das aber käme einer Bankrotterklärung an den Menschen als vernunftbegabtem Freiheitswesen gleich … In einer Gemeinschaft, in der jede Rechtsnorm in die Tiefe des Gewissens vordringen soll“, sei eine Sanktion, „die an das Gewissen appelliert und die Eigenverantwortlichkeit betont, … keineswegs fehl am Platz“, vielmehr entspreche sie „in besonderem Maße dem Wesen der kirchlichen Rechtsordnung“523, so Demel. Insgesamt bleibt das Rechtsinstitut der Tatsanktion zwar insofern problematisch, als mit ihm stets ein Moment an „Rechtsunsicherheit“ einhergeht, zumindest solange, bis der Eintritt der Sanktion pro foro externo festgestellt wird. In der Tatsanktion offenbaren sich nach Rees aber „besonders deutlich das Wesen der Kirche als einer geistlichen Gemeinschaft und der geistliche Grundzug des kanonischen Rechts. Bei aller Problematik ist die Tatstrafe ein notwendiger und deshalb unveräußerlicher Bestandteil kirchlicher Strafweise. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie eine besonders gerechte, nützliche, ja notwendige Strafweise ist“524. Würde nun die Tatsanktion ausschließlich bei Maßnahmen rein deklarativen Charakters zur Anwendung kommen, wäre die Situation insofern „entschärft“, als der Delinquent nicht mehr über sich selbst vgl. die Übersicht bei Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 494; vgl. auch Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 108. 521 Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 182; vgl. dazu auch Alexander Dordett: Erwägungen zur Reform des Kanonischen Strafrechts, 312: Der „Appell an das Gewissen [ist] dort fragwürdig, wo das Gewissen schweigt“; ähnlich auch Klaus Lüdicke: MKCIC 1314/5, Rdnr. 10 (Stand Juli 1992). 522 Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 339. 523 Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 107. 524 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 106; vgl. dazu auch René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 114 ff.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
ein „Strafurteil“ fällen und vollziehen müsste. Aus soteriologischer Sicht kann schließlich sicherlich nicht von einer „Bevorteilung“ desjenigen gesprochen werden, der über ein abgestumpftes Gewissen bzw. mangelndes Unrechtsbewusstsein verfügt und daher weniger „gefährdet“ ist, eine Tatsanktion zu begehen, denn die Sanktionsmittel der Kirche dienen ja nicht zum Schaden, sondern zum Heil des Delinquenten.
IV. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters auf Ebene der Schuld Klaus Lüdickes bereits weiter oben beschriebener Vorschlag525, den Ausgrenzungsbedarf der Glaubensgemeinschaft als bestimmenden Sanktionszweck heranzuziehen, würde sich auf Ebene der Schuld radikal auswirken: Sanktionen, die ohnehin nicht auf die Besserung des Täters abzielen, sondern ihre Legitimation einzig und allein aus dem Schutzbedürfnis der kirchlichen Communio ableiten526, können auf eine subjektive Zurechnung des Delikts verzichten, so Lüdicke: „Wenn es nicht darum geht, eine Rechtsverletzung als solche zu sühnen oder dem Täter eine Buße für seine (moralische) Schuld aufzuerlegen, sondern allein darum, durch funktional ausgerichtete Maßnahmen ein gemeinschaftskonformes Verhalten zu erreichen, dann ist die Vorwerfbarkeit ebenso wenig ein leitendes Kriterium wie bei den Ausschlußstrafen, zu denen bei Versagen der Repressivmaßnahmen als letztem Mittel gegriffen werden müßte“527. Die Vorwerfbarkeit eines Deliktes sei danach nicht mehr „nach der Beziehung zwischen Täter und Tat“ zu bemessen, „also auf der individuellen Ebene … sondern nach ihrem Einfluß auf die Gemeinschaft … Statt der als Vorwerfbarkeit beschriebenen Schuld, die ohne moralische Komponente nicht existieren kann, selbst wenn man mit einigen Autoren eine moralische und eine rechtliche Schuld unterscheiden will, wäre“ nach der Auffassung Lüdickes „die Verantwortlichkeit des Täters dahinge525 Vgl. dazu das Kapitel 4. C. II. „Die Neueinteilung der Sanktionsmittel nach Klaus Lüdicke“ in dieser Arbeit. 526 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992); ebd., 1321/2 f. Rdnr. 4: „Mit einem Neubedenken der Strafzwecke, das auf dem Selbstverständnis der Kirche nach Maßgabe des 2. Vatikanischen Konzils und der anerkannten Religionsfreiheit beruht … bedarf auch das Schuldprinzip einer anderen, differenzierenden Bewertung.“ Ähnlich resümiert auch Grochtmann in Anschluss an Lüdicke: „Zeigt nicht die von Lüdicke aufgezeigte Notwendigkeit, dass sich die Kirche zuweilen von einem Straftäter allein um des Schutzes des depositum fidei willen muss trennen können, dass es folglich auf eine schwere Sündhaftigkeit nicht ankommen sollte?“ – Ansgar Grochtmann: Die Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 54. 527 Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/4, Rdnr. 6 (Stand November 1992).
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hend zu prüfen, ob ihr Fehlen oder ihre Minderung die Notwendigkeit eines Ausschlusses aufheben oder relativieren“528. Die Rechtsfigur des Gewissenstäters hätte nach einer solchen Konzeption keine Relevanz mehr für das kirchliche Sanktionsrecht: Zwar müsste der Delinquent, „bevor ein deklaratorisches oder konstitutives Ausschlußurteil über ihn ergeht, zur Änderung seiner Haltung aufgefordert werden (1347 § 1)“, dennoch spielte „die Frage, ob ihm sein fortdauerndes Fehlverhalten vorgeworfen werden kann oder ob es, weil auf seiner Überzeugung beruhend, respektiert werden muß, keine Rolle“529, wie Lüdicke betont. Dieser Ansatz Lüdickes erstaunt nicht nur aufgrund der Radikalität, mit der Sanktionszwecke und die Zurechnung kirchlicher Delikte umgedeutet werden, sondern insbesondere auch aufgrund der Anklänge an ein bereits überwunden geglaubtes Modell der Erfolgshaftung, das sich darin erkennen lässt530. Anhand dieser Ausführungen wird aber auch deutlich, wie sehr im Sanktionsrecht die verschiedenen Ebenen ineinander greifen und wie schnell es zu einer Schieflage kommt, wenn das Wesen oder die Funktion einer Sanktion einseitig bestimmt wird. 1. Sünde und Delikt Wenn man nach einer Begründung dafür sucht, „warum jemand für Fehlverhalten haften“ und sanktioniert werden soll, ergeben sich rechtstheoretisch zwei Grundmodelle531, nämlich die „Erfolgshaftung“, bei der, wie der Name schon sagt, für den verursachten „Erfolg“ eingestanden werden muss, und zum anderen die „Schuldhaftung“532. Es war nicht zuletzt die katholische 528 Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992). 529 Ebd. 530 Die Verschuldenshaftung habe nach Ansicht Lüdickes jedoch im Bereich des „Disziplinarstrafrechtes“ weiterhin eine bedeutende Rolle, insofern es um die „Beurteilung der Eignung einer Person für ihren Dienst geht“ – Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/4, Rdnr. 7 (Stand November 1992). 531 Vgl. René Pahud de Mortanges: Das Schuldprinzip im CIC, 77. 532 Hinsichtlich der Darstellung der Entwicklung der kirchlichen Schuldlehre ist immer noch das Werk von Stephan Kuttner (Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX [Vatikan 1935]) maßgebend; vgl. zur „Schuldhaftung“ auch Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 264: „In der allgemeinen Theorie der Straftat bezeichnet der Begriff ‚Schuld‘ eine unerläßliche spezifische Voraussetzung zur Verhängung der Strafe und genauer genommen, den Charakter des Verstoßes, in dem sich der Ungehorsam gegenüber der Strafrechtsordnung äußert. Der Sinn des Begriffs ‚Schuld‘ ist in seiner geschichtlichen Entwicklung alles andere als eindeutig, auch wenn diese beständig zeigt, daß die Schuld, bevor sie eine rechtstechnische Kategorie ist, ein Prinzip der Zivilisation
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Kirche, die entscheidende Impulse zur Überwindung des Erfolgsprinzips zugunsten einer Verschuldenshaftung geliefert und somit eine subjektive Komponente in die Zurechnungslehre aufgenommen hat. Ein wichtiger Grund dafür war die in der Kirche geübte Buß- und Beichtpraxis, in der Gesinnung und Motivation einer Handlung wesentliche Kriterien bei der Sanktionszumessung waren. a) Auf dem Weg zu einer Zurechnungslehre im kirchlichen Sanktionsrecht „Am Anfang allen kanonischen Strafrechts steht eine Grundtatsache, der Begriff der Sünde als des Gegenstandes aller Zurechnung vor Gott und der Kirche, als ein dem Recht religiös und theologisch vorgegebener Begriff.“533 Der Kirchenvater Augustinus formulierte daher: „Crimen autem est peccatum grave, accusatione et damnatione dignissimum“534. Jedoch ist die Sünde bekanntlich nicht an eine bestimmte Erscheinungsform oder an rechtliche Kriterien gebunden. Es bedurfte demnach eines „praktikablen Rechtsbegriffs, der das rechtlich relevante und fassbare Verbrechen vom grenzenlosen Reich der Sünde“535 schied – ein Problem das ein „Gemeingut der Kanonistik seit den Dekretalisten“ darstellt536. Von Seiten der damaligen Theologen537 war es nur Abaëlard gewesen, der sich mit diesem Problem befasste. Ausgehend darstellt: ‚Sine culpa, nisi subsit causa, non est aliquis puniendus‘. Seitdem Bonifaz VIII. in seinen Dekretalen diese ‚regula iuris‘ festgesetzt hat, suchen sich alle Rechtsordnungen nach ihr zu richten und wird das Problem der Schuld zu einem Zentralproblem des Strafrechts, genauer genommen zu der Frage, in der der Zusammenhang zwischen Recht und Moral am deutlichsten zutage tritt“. 533 Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 3. 534 Augustinus: In Iohannis evangelium tractatus 41, 9, in: Radbodus Willems (Hrsg.): Corpus Christianorum. Series Latina (CCSL), 36, (Turnhoult 1956), 362, rezipiert in das Decretum Gratiani (D. 81 c. 1) – vgl. dazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 101; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 198 f. 535 Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 4. 536 Helmuth Pree: Imputabilitas, 228. 537 Die Aussagen des Pseudo-Hugo (Summa Sententiarum) und diesem folgend auch Petrus Lombardus über eine Differenzierung von delictum und peccatum stellen nur eine terminologische Unterscheidung innerhalb des Sündenbegriffs dar und sind keine Gegenüberstellung des juristischen und des theologischen Begriffs. Beide Autoren meinen selbst, dass ihre Differenzierung wenig Bedeutung habe, weil man diese Begriffe innerhalb der Theologie oft nicht unterscheide und daher indifferent gebrauche; die Unterscheidung verhält sich nach Pseudo-Hugo folgendermaßen: Delictum bezeichne die Sünde gegen Gott, während peccatum die Sünde gegen den Nächsten oder sich selbst beschreibe bzw. delictum als die Unterlassung des Gebotenen und peccatum als das Tun des Verbotenen. Lombardus beschreibt das delictum von „de relictum“ herkommend als Abweichung vom Guten, das peccatum ist demgegenüber der Vollzug des Bösen oder das delictum als unwissentliche und peccatum als bewusste Verfehlung – vgl. dazu Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 5.
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von Augustins Beschreibung des crimen bestimmte er „drei formale Erfordernisse“, um das rechtliche Delikt von der Sünde zu scheiden, indem er mit „effectus operis“, „scandalum Ecclesiae“ und „infamia“538 weitere Tatbestandsmerkmale des Delikts benannte, welche es von der Sünde abheben sollten. Damit wurde innerhalb des Sündenbegriffs ein „rechtlicher Sonderbezirk“, nämlich das „peccatum criminale“ entwickelt, das einen Ansatzpunkt für „eine Emanzipation strafrechtlicher Begriffsbildung von der Sünden lehre“539 bot. Abaëlard selbst wie auch andere Lehrer des Mittelalters vollzogen diesen Schritt der Emanzipation jedoch nicht: „Die Möglichkeit, aus dem ‚peccatum criminale‘ unter Abzug des Sündenmerkmale einen ‚theo logiefreien‘ Crimenbegriff zu entwickeln“, wurde nicht weiterverfolgt, denn man war sich darüber einig, dass „der Begriff der Schuld so gut der Theologie wie dem Strafrecht angehört“540. So sind ab dem 12. Jahrhundert die Begriffe Sünde und Verbrechen nicht mehr deckungsgleich, wenngleich der Deliktsbegriff stets an den Sünden begriff anknüpft: „Wenn also zur Zurechenbarkeit der Sünde und des kirch lichen Delikts grundsätzlich das innere Faktum der Schuld gehörte, von den Ausnahmefällen objektiver Imputation [Zurechnung] abgesehen, so war die Frage ‚Was ist Schuld?‘ auch eine gemeinsame, war der Wertgehalt der Verbrechensschuld von der Erforschung der Sündenschuld bedingt.“541 Diese Tatsache wird in den sanktionsrechtlichen Grundfragen der Schuldlehre evident. Daher verwundert es nicht, dass es dann eine der grundlegenden Bemühungen des weltlichen Strafrechts der Neuzeit war, den Verbrechensbegriff von außerstrafrechtlichen, moralisch bzw. theologisch verwerflichen Verhaltensweisen abzugrenzen. Es herrschte das Bestreben, den Verbrechensbegriff nicht mit religiöser und moralischer Wertung zu hinterlegen, sondern recht liche Begriffe als Grundlage des Strafrechts zu etablieren. Als Verbrechen sollte „nur das verbotene Verhalten, als Schuld nur ein bestimmter, vom Recht als zur Zurechnung ausreichend angesehener Tatbestand gelten“542. Innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung wird jedoch weiterhin an der Verknüpfung von Sünde und Delikt festgehalten. Im CIC/1917 wird diesem Umstand unter anderem insofern Rechnung getragen, als dieser explizit eine moralische Zurechnung der Tat zum Täter fordert: Can. 2195 § 1 CIC/1917 erwähnt bei der Definition des Delikts, dass die Verletzung des Gesetzes „moraliter imputabilis“ – also moralisch zure538 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 203, mit Verweis auf Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 3–22. 539 Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 5. 540 Vgl. ebd. 541 Ebd., 22. 542 Ebd., 2.
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chenbar – sein müsse, um die Tatbestandsmerkmale eines Deliktes zu erfüllen. Darin spiegelt sich die „einmütig vertretene Lehre“543 wider, welche die schwere Sündhaftigkeit einer Handlung als innere Notwendigkeit des Delikts auffasst. b) Die Zurechnungslehre des CIC/1983 Die Leitsätze, die am 4. Oktober 1967 zur Reform des Codex gebilligt wurden, enthalten Hinweise, dass auch dem CIC/1983 ein Deliktsbegriff zugrunde gelegt wurde, der eine innerliche Verknüpfung von „Rechts- und Gewissensbereich“544 anstrebt und damit die Sünde als Voraussetzung des Delikts proklamiert545. Im Wesentlichen wurden die Deliktsmerkmale des CIC/1917 in den CIC/1983 übertragen. C. 1321 § 1 CIC/1983 nennt drei Grundmerkmale des Delikts: Es handelt sich erstens um ein äußerlich wahrnehmbares Verhalten (externa commissa), zweitens um eine Verletzung eines Gesetzes oder Verwaltungsbefehls (violatio legis vel praecepti) und drittens um ein schwerwiegend zurechenbares (graviter imputabilis) Verhalten. Wenn es nun auf Ebene der Schuld um die Zurechnung eines rechtswidrigen Verhaltens geht546, ist der Fokus auf das dritte Element des Deliktsbegriffes zu legen. Was bedeutet es, dass ein Delikt „graviter imputabilis“ – also schwerwiegend zurechenbar – sein muss? Bei der subjektiven Zurechnung eines rechtswidrigen Verhaltens geht es um den Nachweis einer (rechtlichen) Vorwerfbarkeit, die sich nicht nur aus dem Aufweis eines äußerlichen Kausalzusammenhangs ergibt, sondern wesentlich auch Elemente der sittlichen Vernunft enthält547. Obwohl im CIC/1983 nicht mehr von einer „imputabilitas moralis“ die Rede ist, wie noch in can. 2195 CIC/1917, sondern von einer „imputabilitas gravis“ (vgl. c. 1321 § 1 CIC/1983), betrachtet die herrschende Lehre die „imputabilitas 543 Helmuth Pree: Imputabilitas, 229, insb. auch die Auswahl an Nachweise in Fn. 8; Peter Krämer: Religionsfreiheit in der Kirche, 29; Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici III, 300 f., 304. 544 Reinhold Sebott: Das Kirchliche Strafrecht, 16; Sebott betont jedoch, dass mit De Paolis trotzdem zu unterscheiden ist „zwischen einem Bußrecht der Kirche und einem Strafrecht im eigentlichen Sinn“, eine Unterscheidung, welche vor dem päpstlichen Dekretalenrecht, d. h. vor dem 12. Jahrhundert, noch nicht getroffen wurde – vgl. Reinhold Sebott: Das Kirchliche Strafrecht, 21, mit Verweis auf Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 224. 545 Vgl. Klaus Lüdicke: MKCIC 1321/5, Rdnr. 4 (Stand November 1992), mit Verweis auf Velasio De Paolis: Coordinatio inter forum internum et externum in novo iure poenali canonico, 412. 546 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 112. 547 Ebd.
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poenalis“ weiterhin als eine Unterart der „imputabilitas moralis“548. Ein Responsum der CIC-Reformkommission bringt diese Auffassung auch unmissverständlich zum Ausdruck: „Relator respondet gravem imputabilitatem iam vigenti iure postulari (cf c 2218 § 2); moralem autem imputabilitatem certe supponi si exigitur ut vel dolus vel culpa (iuridica sane, sed qualis habetur in doctrina canonica) in violatione adsit“549 – der Relator antwortete demnach, dass die schwerwiegende Zurechnung schon bisher erforderlich war und die moralische Zurechnung bei einer dolosen oder fahrlässigen Rechtsverletzung sicherlich vorausgesetzt werde. Warum dann im CIC/1983 aber überhaupt eine Änderung des Zurechnungsbegriffs vorgenommen wurde, wird nicht ersichtlich – sie trägt unter diesen Umständen „in der Tat nicht zur Klarheit der Tatbestandserfassung“550 bei, wie Helmuth Pree zu Recht kritisiert. Der Gesetzgeber des CIC/1983 hat den Begriff „imputabilitas“ (Zurechenbarkeit551) weder definiert noch dargelegt, wie er im Detail auszulegen oder von rein moralischen bzw. theologischen Schuldbegriffen abgegrenzt werden soll. Insgesamt ist er im CIC/1983 siebenmal zu finden (cc. 695 § 2; 696 § 1; 729; 1321 §§ 1 und 3; 1324 § 1 °10; 1717 § 1), wobei er immer im Kontext
548 Vgl. Velasio De Paolis: De sanctionibus in Ecclesia, 56; vgl. dazu auch Vela sio De Paolis: Coordinatio inter forum internum et externum in novo iure poenali canonico, 412, deutsche Übersetzung zitiert aus Klaus Lüdicke: MKCIC 1321/5, Rdnr. 4 (Stand November 1992): „Die strafrechtliche Vorwerfbarkeit setzt immer die moralische Vorwerfbarkeit voraus, so daß, wo diese fehlt, von einer strafrechtlichen Vorwerfbarkeit nicht die Rede sein kann“. Albin Eser meint hingegen, dass dadurch, dass nicht mehr ausdrücklich von der „moralischen“ Zurechnung die Rede ist, der kirchliche Schuldbegriff hinter den staatlichen zurückgefallen sei. Während im profanen Bereich längst wieder mehr um eine ethische Fundierung des Schuldbegriffs gerungen werde, habe mit der Streichung der Beifügung „moraliter“ bei der Zurechnung im kanonischen Bereich zumindest nach außen eine Psychologisierung des Schuldbegriffs stattgefunden, die seiner Ansicht nach nicht sehr konstruktiv zu sein scheint – vgl. Albin Eser: Strafrecht in Staat und Kirche, 503 f. 549 Communicationes 8 (1976), 175. 550 Helmuth Pree: Imputabilitas, 236. 551 Zunächst begegnet die Frage, wie der Begriff imputabilitas am angemessensten ins Deutsche übersetzt werden kann. Die deutsche Übersetzung des CIC/1983 verwendet durchgängig den Begriff „Zurechenbarkeit“. Da im CIC/1983 allerdings der Zusatz moraliter weggefallen ist, präferiert Lüdicke im Deutschen den Begriff „Vorwerfbarkeit“, um die moralische Dimension, die nach herrschender Lehre weiterhin mit dem Begriff imputabilitas verknüpft wird, zum Ausdruck zu bringen – vgl. dazu auch Klaus Lüdicke: MKCIC Terminologische Einführung vor 1311/3 (Stand November 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC 1321/5 f., Rdnr. 4 (Stand November 1992). In dieser Arbeit wird aber an der Übersetzung „Zurechenbarkeit“ festgehalten, gerade weil es fraglich ist, ob immer eine moralische Zurechnung des Delikts gemeint sein kann.
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der „Zurechenbarkeit“ deliktischen Handelns verwendet wird. Der Gesetzgeber des CCEO hat hingegen gänzlich auf diesen Begriff verzichtet. Die herrschende Lehre der Kanonistik geht, wie bereits erwähnt, davon aus, dass an eine deliktische Zurechnung „sine responsabilitate morali, sine peccato“552 nicht gedacht werden kann, wie dies bspw. Velasio De Paolis formuliert. Die moralische Vorwerfbarkeit des rechtswidrigen Handelns ist danach „elementum essentiale constitutivum delicti“553, sodass von einer rechtlichen Zurechnung eines Delikts nur dann gesprochen werden kann, wenn das Handeln des Täters zugleich subjektiv schwer sündhaft ist554. Wenn jedoch die subjektive Sündhaftigkeit der Tat Teil der sanktionsrechtlichen Zurechnung ist, müsste sie wohl im Zweifelsfall in einem etwaigen Sanktionsverfahren vom kirchlichen Richter auch nachgewiesen werden555. Schon Audomar Scheuermann argumentierte daher (zwar mit Bezug auf can. 2195 CIC/1917), dass zwar die „strafrechtliche Schuld … sittliche oder theologische Schuld, d. h. Sünde“ voraussetze, „ jedoch von dieser zu unterscheiden“ sei, „weil und insofern sie nicht Schuld vor Gott und dem Gewissen, sondern Schuld vor der Gesellschaft und ihrer Rechtsordnung ist“. Es entspreche zwar „dem geistlichen Charakter des Kirchenrechts, daß vor der Kirche nicht als schuldig gilt, wer sich nicht gleichzeitig vor Gott schuldig gemacht“ habe. Schuld im sanktionsrechtlichen Sinne beinhalte aber nur jene „Verantwortung, die ein Straftäter für sein Handeln vor der Rechtsordnung“ trage, so Scheuermann556. Doch wie ist eine solche Aussage zu deuten, wenn an der „Schuld vor Gott“ Zweifel bestehen? Denn selbst wenn mit c. 1321 § 3 CIC/1983 „implizit“557 eine moralische Zurechnung mitvermutet wird, wäre ein Nachweis ab dem Zeitpunkt erforderlich, ab dem etwas anderes wahrscheinlich erscheint. 552 Velasio De Paolis: Totum ius poenale ad externum tantum forum limitatum est, 310; Velasio De Paolis: Coordinatio inter forum internum et externum in novo iure poenali canonico, 412; Wilhelm Rees: Rezension zu „Andrea d’Auria: L’Imputabilità nel diritto Penal Canonico“, mit dem Hinweis, dass d’Auria die „im deutschsprachigen Raum zur Frage der Zurechenbarkeit geführte Diskussion“ nicht miteinbezog; vgl. zu dieser Thematik auch Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 101, 112; Klaus Lüdicke: MKCIC 1321/5, Rdnr. 4 (November 1992): „Die herrschende Meinung entnimmt – trotz des Wegfalles des Wortes ‚moraliter‘ – aus dem Begriff der imputabilitas, der in Übereinstimmung mit der ganzen kanonistischen Tradition zu interpretieren sei (so De Paolis, Coordinatio 412), daß von einer Straftat nur gesprochen werden könne, wenn das Handeln des Täters Sünde sei.“ 553 Velasio De Paolis: Coordinatio inter forum internum et externum in novo iure poenali canonico, 412. 554 Helmuth Pree: Imputabilitas, 236. 555 Vgl. René Pahud de Mortanges: Das Schuldprinzip im CIC, 79. 556 Audomar Scheuermann: Art. „Schuld“, 501. 557 Helmuth Pree: Imputabilitas, 239.
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c) Die Vermutung der Zurechnung Wie die Präsumption der Zurechnung in c. 1321 § 3 CIC/1983 zu interpretieren ist, darüber herrscht innerhalb der Kanonistik Unklarheit558: „Posita externa violatione, imputabilitas praesumitur, nisi aliud appareat“ – die Zurechenbarkeit der Tat wird bei äußerer Verletzung des Gesetzes oder des Verwaltungsbefehls präsumiert, es sei denn, anderes wäre offenkundig. Die Bestimmung des c. 1321 § 3 CIC/1983 stellt im Vergleich zum Vorgängercanon, can. 2200 § 2 CIC/1917, in dem noch der dolus selbst präsumiert wurde559, eine gewisse Abmilderung dar560, da jetzt „nur“ mehr die „Zurechnung“ (imputabilitas) präsumiert wird. Es wird weder von der Vermutung einer moralischen noch einer schwerwiegenden Zurechnung gesprochen. Abgemildert wurde c. 1321 § 3 CIC/1983 im Vergleich zur Parallelnorm des CIC/1917 zudem darin, dass es nun keines Gegenbeweises mehr bedarf, um die Präsumption zu zerstören – es reicht bereits das Vorliegen von Umständen aus, welche die imputabilitas ernsthaft in Frage stellen. Die Entkräftung der Präsumption der Zurechenbarkeit erfolgt demnach „sooft etwas anderes wahrscheinlich erscheint“561. Im Vergleich zum international anerkannten 558 Nicht ganz klar ist innerhalb der Kanonistik, was mit der Vermutung der Zurechenbarkeit in c. 1321 § 3 CIC/1983 mit Blick auf die Schuldformen genau gemeint ist. Der Erklärungsversuch, dass die Präsumption des § 3 so zu verstehen sei, dass nur die Vorwerfbarkeit der Tat an sich vermutet, aber das Vorliegen des Vorsatzes eines Beweises bedarf, würde darauf hinauslaufen, dass rechtstechnisch gesehen nur die Fahrlässigkeit (culpa) vermutet wird. Ein solche Interpretation wäre allerdings nur möglich, wenn die culpa als eine mildere und dem dolus untergeordnete Schuldform verstanden wird. Lüdicke weist darauf hin, dass zwar tatsächlich ein Stufenverhältnis zwischen diesen beiden Schuldformen festgestellt werden könne, rein rechtlich gesehen aber die culpa „keine Minderform des Vorsatzes“ sei, „sondern ein ganz anders begründeter Vorwurf an den Täter“ – Klaus Lüdicke: MKCIC 1321/13, Rdnr. 18 (Stand November 1992). Zudem würde sich c. 1321 § 3 mit einer solchen Interpretation praktisch ad absurdum führen, da ja mit Ausnahme eines Canons (vgl. c. 1389 § 2 CIC/1983) für alle sanktionsbewehrten Gesetze des CIC/1983 Vorsatz für die Tatbestandsverwirklichung gefordert wird. Wilhelm Rees geht offenbar davon aus, dass die Präsumption durch den Beweis des Fehlens „von Vorsatz und Fahrlässigkeit“ widerlegt werden könne. Demnach beinhaltet die Präsumption die widerlegbare Vermutung des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit – vgl. Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 654, mit Verweis auf Werner Böckenförde: Der neue Codex Iuris Canonici, 2537. 559 Der CCEO hält hingegen weiterhin an der Präsumption des Vorsatzes fest – vgl. c. 1414 § 2 CCEO. 560 Vgl. Helmuth Pree: Imputabilitas, 238. 561 Communicationes 2 (1970), 103, deutsche Übersetzung zitiert aus: Klaus Lüdi cke: MKCIC 1321/2, Rdnr. 1 (Stand November 1992). Insofern handelt es sich bei c. 1321 § 3 CIC/1983, wie Pree sagt, nicht um eine „praesumptio iuris im technischen Sinn“ – vgl. Helmuth Pree: Imputabilitas, 238.
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Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung (vgl. bspw. Art. 6 Abs. 2 EMRK) kann jedoch die grundsätzliche Normierung einer Präsumption der Zurechnung wohl dennoch als ein Zurückbleiben hinter etablierten Rechtsstandards interpretiert werden562. 2. Das Problem des Nachweises einer subjektiven moralischen Schuld Die Voraussetzung einer subjektiven moralischen Vorwerfbarkeit bei der Zurechnung eines kirchlichen Deliktes führt zum Problem ihres Nachweises in einem rechtlichen Verfahren, der spätestens dann erbracht werden müsste, sobald es Zweifel an der moralischen Verantwortlichkeit des Täters gibt563. Nun gibt es aufgrund des Grundsatzes „de internis non iudicat praetor“564 keine Möglichkeit eines direkten und sicheren Nachweises der Existenz und des Ausmaßes der subjektiven Sündhaftigkeit einer Tat durch ein menschliches Gericht. Die Kirche vermag durch ihre Richter von allen Schuldgründen nur jene zu erkennen, die in die Außenwelt treten, nicht aber den „eigent lichen Kern der Schuld, der in einem inneren Akte besteht“565. So suchten Kanonisten schon relativ früh nach einer Möglichkeit, „die Idee einer Schuldstrafe mit der Erkenntnis von der Unerkennbarkeit des wahren Schuldgehaltes zu vereinigen“. Dazu blickte man auf die „circumstantiae“, also auf die äußeren Umstände und Indizien der Tat, die als „Schuld- und Strafbemessungsgründe“ dienen sollten. Diese selbst beruhen „nicht auf praktischen Erwägungen des Gesellschaftsschutzes, haben keinerlei selbständigen Wert, sondern dienen nur dem einen Zweck: vermag die Kirche auch nicht, aus der Seele des Täters die wirkliche Schwere des im Verbrechen enthaltenen sündigen Aktes zu ermessen, so besitzt sie doch in den circumstantiae äussere Indizien für die Erkenntnis des unsichtbaren Kerns der Schuld“566. Circum stantiae sind demnach nach außen getretene Indizien für die Schwere der Schuld – sie enthalten diese aber nicht selbst und „nur wenige sehen in ihnen reale Zeichen der Schuldschwere selbst“567, wie Kuttner bemerkt. Bei den 562 Vgl. René Pahud de Mortanges: Das Schuldprinzip im CIC, 83; Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 653 f.; vgl. hingegen die positivere Sichtweise der Präsumption bei Winfried Aymans: Erwägungen über die inneren Wesensmerkmale eines kanonischen Gesetzesbegriffes, 203 Fn. 27; Winfried Aymans: Lex Canonica, 351 Fn. 43. 563 Vgl. dazu die Ausführungen von Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, insb. 389 Fn. 26. 564 Vgl. D. 32 c. 11; C. 2 q. 5 c. 20; vgl. dazu Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 100. 565 Vgl. Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 24. 566 Ebd., 25 f. 567 Ebd., 27.
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Kanonisten setzte sich daher die Auffassung durch, dass solche Indizien zwar für sich allein noch nicht die „Wahrheit des inneren, verborgenen Schuldtatbestands decken“568, doch Grundlage für eine Rechtsvermutung (praesump tio) bezüglich des Schuldgehalts der Tat bilden können, wenngleich nur Gott allein die Schuld in ihrem Umfang und Ausmaß unmittelbar erkennt. Die Kirche aber könne den Schuldgehalt aus den circumstantiae vermutend ableiten. Zwar ist jede Sanktionsgerichtsbarkeit bei der Beurteilung und Einschätzung innerer, subjektiver Elemente – selbst wenn sich die Prüfung auf ein rein rechtstechnisches Verständnis der Schuld beschränkt – auf äußere Indizien angewiesen. Dennoch ist fraglich, ob sich der Gedanke des vermuteten Schuldgehalts insbesondere im Kontext des Gewissenstäters auf das Problem der subjektiven Zurechnung einer Sündenschuld übertragen lässt569. 3. Das Problem der moralischen Zurechnung im Fall des Gewissenstäters Selbst wenn angenommen wird, dass sich die moralische Verantwortlichkeit aus den äußerlichen Umständen vermutend ableiten lässt oder mit der Erfüllung des objektiven Tatbestands als gegeben vermutet wird, ergibt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Rechtsfigur des Gewissenstäters die Schwierigkeit, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Konvergenz570 zwischen moralischer und rechtlicher Schuld besteht571. Reinhold Sebott be568 Ebd. 569 Vgl.
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Konrad Hilpert: Schuld und Verantwortung in moraltheologischer Sicht,
570 Vor allem anhand der Dekrete des II. Vatikanischen Konzils wurde klar, dass es Aufgabe und Pflicht des kirchlichen Rechts sein muss, das Einzelgewissen zu schützen „und als Höchstwert anzuerkennen: vgl. c. 748 CIC. Man könnte sagen: Das Kirchenrecht versucht, seinen objektiven sittlichen Gestaltungsauftrag mit dem größtmöglichen Respekt vor dem Gewissen des Einzelnen zu harmonisieren“. Die Dimensionen Recht und Sittlichkeit sollen daher „so in Beziehung gesetzt“ werden, „dass sie konvergieren“ – vgl. Helmuth Pree: Forum externum und forum internum, 33 f. 571 Vgl. Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 299 Fn, 142, mit Verweis auf Joseph Klein: Kanonistische und moraltheologische Normierung in der katholischen Theologie, 91 f.; Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio, 380; vgl. dazu auch Franziskus: Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Amoris laetitia“ Nr. 301: „Ein Mensch kann, obwohl er die Norm genau kennt, große Schwierigkeiten haben ‚im Verstehen der Werte, um die es in der sittlichen Norm geht‘, oder er kann sich in einer konkreten Lage befinden, die ihm nicht erlaubt, anders zu handeln und andere Entscheidungen zu treffen, ohne eine neue Schuld auf sich zu laden“ – in: AAS (2016), 311–446, deutsche Übersetzung in: VApSt 204 (2016), 215.
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schreibt das Problem folgendermaßen: „Dadurch, daß nur dann ein Delikt zustandekommt, wenn der Täter eine schwere Sünde begeht, gerät das Strafrecht in eine schwierige Situation, wenn es bestimmen soll, ob das Delikt überhaupt vorliegt. Die schwere Sünde darf ja nicht vorausgesetzt, sondern sie muß nachgewiesen werden. Dies dürfte aber in manchen Fällen schwierig sein. Wie will man z. B. beim Überzeugungstäter die schwere Sünde nachweisen? Und doch muß die kirchliche Gemeinde sich auch gegen Überzeugungstäter schützen können. Das hier aufgeworfene Problem ist noch längst nicht in allen seinen Folgerungen bedacht“572, so Sebott. Im Fall eines Gewissenstäters dürfte es daher nicht nur kaum möglich sein, die Präsumption einer Gewissensschuld aufrechtzuerhalten, sondern überhaupt schwierig sein, in einem rechtlichen Prozess jene subjektive moralische Schuld nachzuweisen573, welche als deliktsbegründend angesehen werden kann, wie im folgenden Exkurs näher veranschaulicht wird. a) Exkurs: Kann eine culpa praecedens eine sanktionsrechtliche Zurechnung begründen? Zunächst könnte der Einwand erhoben werden, dass wahrscheinlich jedem objektiv irrenden Gewissensurteil eine gewisse Schuld vorausliegt (culpa praecedens), die zu dieser „verkehrten“ Überzeugung und damit zum Delikt geführt hat und dass insofern auch der Gewissenstäter subjektive Schuld auf sich geladen habe. Joseph Ratzinger hat – freilich nicht im spezifischen Kontext der vorliegenden Fragestellung – sehr anschaulich auf die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer dem Delikt vorausgehenden Schuld von „Überzeugungstätern“ hingewiesen. Vielfach führe die „Reduktion des Gewissens auf sub jektive Gewißheit“ zu einem „Entzug der Wahrheit“. Zweifelsohne sei „gewiss“, dass auch dem irrenden Gewissen Folge zu leisten ist, so Ratzinger. „Aber der Entzug der Wahrheit, der vorausgegangen ist und der sich nun 572 Reinhold Sebott: Das Kirchliche Strafrecht, 45; vgl. dazu Helmuth Pree: Imputabilitas, 236. 573 Vgl. Karl Rahner: Schuld – Verantwortung – Strafe, 255: „… grundsätzlich kann eine Tat objektiv schlecht sein und dennoch keine Realisation der Schuld im theologischen Sinne sein“. KKK Nr. 1704: Der Mensch kann sich in seinem Gewissensurteil auch irren, woran er „oft selbst schuld“ ist – hingegen KKK Nr. 1793: „Wenn hingegen die Unkenntnis unüberwindlich oder der Betreffende für das Fehl urteil nicht verantwortlich ist, kann ihm seine böse Tat nicht zur Last gelegt werden“; vgl. dazu ebenso Eberhard Schockenhoff: Gewissen und Gehorsam, 6; vgl. ebenso Marietherese Kleinwächter: Das System des göttlichen Kirchenrechts, 310 f.; Rüdiger Althaus: § 16 Zugehörigkeit zur Kirche, 276, hier insb. Fn. 35; Gerald Gruber: Actu formali ab Ecclesia Catholica deficere, 71 f.
D. Einordnung des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht323
rächt“, sei „die eigentliche Schuld, die den Menschen in falscher Sicherheit wiegt und ihn am Schluß in der weglosen Wüste allein lässt“574. Die moralische Schuld liegt daher nie darin, dem eigenen Gewissen zu folgen, aber sie ist möglicherweise woanders zu finden: „… nicht in dem jetzigen Gewissens urteil, sondern in der Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch in meinem Inneren“, so Ratzinger, und deshalb seien zweifelsohne auch „Überzeugungstäter wie Hitler und Stalin schuldig“575. Das Problem ist jedoch, dass sich ein solcher Einwand in einem rechtlichen Verfahren, das eine subjektive moralische Zurechnung des Deliktes verlangt, kaum verwenden lässt. Gerade Beispiele von solch entsetzlicher Tragweite zeigen die Brisanz, die dadurch erwächst, wenn im rechtlichen Kontext die Gewissensschuld bzw. die subjektive moralische Verantwortlichkeit zur Voraussetzung einer sanktionsrechtlichen Zurechnung gemacht wird. Zweifelsohne können Hitler und Stalin die Verbrechen an der Menschheit im Sinne von Vorsatz und Fahrlässigkeit zugerechnet werden. Zweifelsohne lässt sich auch eine moralische Schuld dieser Tyrannen festmachen. Doch ein menschliches Gericht würde sich selbst in diesen Fällen vielleicht schwer tun, die subjektive Sündhaftigkeit dieser Gräueltaten rechtlich-kausal nachzuweisen, wenn angenommen werden müsste, dass sie aufgrund eines Gewissensurteils verübt wurden. Noch weit schwieriger dürfte sich ein solches Unterfangen insbesondere im Fall kirchlicher Glaubensdelikte gestalten. Mit der Frage, ob eine dem Delikt vorausliegende Schuld des Täters (culpa praecedens) für die subjektive Zurechnung herangezogen werden kann, haben sich übrigens schon die Kanonisten des 12. Jahrhunderts beschäftigt576. Dabei setzte sich Huguccio mit der Ansicht durch, dass es rechtlich gesehen nicht auf eine culpa praecedens ankommen könne, weil es umgekehrt auch keine Möglichkeit gebe, Verdienste im Vorfeld zu erwerben, die gegen eine Schuld aufgerechnet werden könnten577. Insofern kann eine culpa praecedens nicht als Grundlage für eine rechtlich-kausale Zurechnung in einem sanktionsrechtlichen Verfahren herangezogen werden. Auch Joseph Klein machte auf diesen Umstand aufmerksam, wenn er meinte, dass zwar die „Sünde vor der Tat vollendet sein“ könne, 574 Benedikt XVI.
(Joseph Ratzinger): Wahrheit, Werte, Macht, 93 f. 105 f. Helmut Weber erinnert daran, dass früher das Gewissen vor allem als jene Instanz wahrgenommen wurde, durch die das menschliche Versagen offenbar wurde, während es heute „primär“ dazu diene, „sich freizusprechen von Schuld“ – Helmut Weber: Konkurrenten oder Weggenossen, 90. 576 Vgl. Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre, 105–110. 577 Vgl. ebd., 107 f. 575 Ebd.,
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doch ein solcher Sachverhalt „für das Strafrecht belanglos“ sei. Hingegen könne „die Tat … auch vollendet sein, ohne daß eine Sünde begangen wird“. In einem solchen Fall berufe „der Delinquent sich auf das subjektive und ethische Moment seines Tuns“578. Objektiv gesehen liegt mit der vorsätzlichen Verwirklichung eines kirch lichen Deliktes in aller Regel ein schwer sündhaftes Verhalten vor; folgt der Delinquent dabei jedoch dem Urteil seines Gewissens, wird eine subjektive moralische Zurechnung trotz möglicher vorausgehender Schuld, die zu diesem Gewissensurteil geführt hat, in einem Sanktionsverfahren kaum möglich sein. 4. Eine Entflechtung des sanktionsrechtlichen Schuldbegriffs C. 1321 § 1 CIC/1983 gibt nach herrschender Ansicht zwei Ebenen der Zurechenbarkeit vor: Die schwerwiegende Zurechenbarkeit (gravis imputabi litas) bezieht sich „auf die schwere moralische Zurechenbarkeit im Gewissen (also die schwere Sünde), von der gesagt wird, daß sie aus dolus oder culpa – als technische Begriffe des Strafrechts verwendet! – erfließen kann“579. Es stellt sich nun im Kontext der Rechtsfigur des Gewissenstäters die Frage, ob die Verschmelzung der beiden Schuldbegriffe, des moralisch-theologischen und des juristisch-rechtstechnischen, mit besonderem Fokus auf die Zensur sachlich geboten bzw. theologisch angemessen ist oder ob insbesondere bei der Zurechnung eines kirchlichen Delikts auf die subjektive moralische Vorwerfbarkeit verzichtet werden könnte oder sogar müsste. Im Hinblick auf die kirchliche Tradition gibt Pree zunächst zu bedenken, dass der Begriff imputabilitas schon im Decretum Gratiani zu finden ist, „also noch in der Periode der kirchlichen Entwicklung, in welcher Kanonistik und Moraltheologie noch keine hinreichend unterschiedenen Diszipli nen“580 waren. Dieses Verständnis der Schuld habe sich von der Zeit der beginnenden Kanonistik bis in die Gegenwart einfach fortgesetzt. Dass aber die Begriffe dolus und culpa im kirchenrechtlichen Kontext durchaus als rein juristische Fachtermini interpretiert werden können, zeige sich unter anderem darin, dass sie außerhalb des Sanktionsrechts tatsächlich auch in diesem Sinne verwendet werden581, ohne dass sie dort mit einer „spezifischen 578 Joseph Klein: Kanonistische und moraltheologische Normierung in der katholischen Theologie, 91. 579 Helmuth Pree: Imputabilitas, 236; vgl. dazu auch Klaus Lüdicke: MKCIC 1321/5 f. (Stand November 1992). 580 Helmuth Pree: Imputabilitas, 237 Fn. 32. 581 Im CIC/1983 sind verschiedene schuldhafte Arten der Zurechnung zu finden. Zu prüfen wäre, ob die Erscheinungsformen der culpa im CIC/1983 mit der Differen-
D. Einordnung des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht325
Bosheit (d. h. Böswilligkeit im sittlichen Sinn)“ des Täters verknüpft werden582. Ein grober Überblick über die verschiedenen Schuldbegriffe im CIC/1983 lässt drei Ebenen erkennen, die sich freilich überschneiden können: Auf Ebene der via paenitentialis kommt es primär auf das peccatum an und die moralische Schuld steht im Fokus. Sollte hingegen auf der zweiten Ebene der via disciplinaris ein Nachweis der Schuld erforderlich sein, so ist von einem juristischen Schuldbegriff auszugehen. Es scheint nun, als ob die „imputabilitas in der via poenalis“, also der dritten Ebene, „in einer Verschmelzung der beiden Schuldbegriffe“, des moralischen und des juristischen, besteht583. Wenn dem so ist, dann ist für die sanktionsrechtliche Zurechnungslehre des CIC/1983 zu folgern: „Jedes Delikt ist auch eine (schwere) Sünde; aber längst nicht jede (schwere) Sünde ist auch ein Delikt im Sinne des kirchlichen Strafrechts.“584 Als Begründung für diesen Zusammenhang ist im Wesentlichen die Tatsache anzusehen, dass die kirchliche Rechtsordnung „Teil des ordo moralis“ und „deshalb ebenso wie dieser im Gewissen unmittelbar verbindlich“ ist585. Helmuth Pree plädiert nun dafür, „beide fontes imputabilitatis“, nämlich Vorsatz und Fahrlässigkeit im Sinne des c. 1321 §§ 1 und 2 CIC/1983, als „klar abgehoben“ zu betrachten „von der Schuld im sittlichen Sinn (Sünde)“. Ihm ist klar, dass dies im Widerspruch zum traditionellen „Konzept der imputabilitas moralis“ steht586. Jedoch indiziere die Tatsache, dass es offensichtlich „Akte geben kann, die den rechtlichen Schuldbegriff (dolus und culpa) erfüllen, ohne daß sie für den Handelnden in seinem Gewissen als schwer sündhaft anzusehen sind“587, nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit über eine Entflechtung der Schuldbegriffe nachzudenken. Die historische Entwicklung des kirchlichen Sanktionsrechts und vor allem sein theologisches Wesen legen zunächst nahe, dass die Anknüpfung an den Sündenbegriff grundsätzlich geboten und notwendig ist. Die Wirklichkeit der Sünde bildet aus theologischer Sicht gleichsam die Rechtfertigung bzw. zierung der „drei Reaktionsweisen der kirchlichen Rechtsordnung auf Verletzungen kirchlicher Lebensordnungen“ korrespondieren: Unterschieden werden nach Pree die via disciplinaris, die via poenalis und die via paenitentialis – vgl. dazu Vgl. Helmuth Pree: Imputabilitas, 226 f., mit Verweis auf Velasio De Paolis: Aspectus theologici et iuridici in systemate poenali canonico, 226–231. 582 Helmuth Pree: Imputabilitas, 230. 583 Ebd., 227. 584 Reinhold Sebott: Das Kirchliche Strafrecht, 44 Fn. 6. 585 Helmuth Pree: Imputabilitas, 227. 586 Ebd., 237 f. 587 Ebd., 231.
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
Legitimation eines kirchlichen Sanktionsrechts und markiert vor allem auch dessen Tragweite. Die entscheidende Frage ist allerdings, auf welchen Ebenen eine Anknüpfung an die Wirklichkeit der Sünde erfolgen muss, um eine angemessene theologische Grundlegung des Sanktionsrechts zu gewährleisten. Reicht die Verknüpfung auf objektiver Ebene (d. h. im Grunde auf tatbestandlicher Ebene und auf Ebene der Rechtswidrigkeit) aus, insofern nur Tatbestände, die objektiv gesehen ein schwer sündhaftes Verhalten beschreiben (vgl. dazu c. 1401 °2 CIC/1983)588, als kirchliche Delikte qualifiziert werden können, oder muss darüber hinaus eine Verknüpfung auf subjektiver Ebene stattfinden, sodass der sanktionsrechtliche Schuldbegriff (imputabilitas) notwendigerweise eine subjektive moralische Zurechnung enthält? Die kirchliche Tradition und die herrschende Lehre gehen bisher von Letzterem aus. Pree sieht darin jedoch eine „Grenzüberschreitung“ des kirch lichen Rechts589, die sich zudem ungünstig auf die Rechtssicherheit auswirke590. Noch in seiner Untersuchung zum Begriff „imputabilitas“ zog er daraus den Schluss, dass der traditionelle Schuldbegriff eine „Vermengung zweier nicht kumulierbarer, weil auf verschiedener Ebene liegender Schuldbegriffe“591 sei. Wenn Pree in jüngeren Veröffentlichungen zumindest die letztgenannte Auffassung wohl zu Recht wieder etwas relativiert hat592, so bleibt sein Anliegen einer Beschränkung des kirchlichen Zurechnungs 588 Vgl. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 256–258; vgl. dazu Arthur Kauf mann: Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, 22, zum Problem der „Rechtsschuld“: „… und immer wieder hat man den Versuch gemacht, die strafrechtliche Schuld als eine reine ‚Rechtsschuld‘ von der sittlichen Schuld abzukoppeln. Neuerdings plädieren manche für eine Funktionalisierung des Schuldbegriffs, was in der Konsequenz eine nahezu beliebige Ausdehnbarkeit des Strafrechts mit sich bringt. Ehrlich sind diese Versuche im Grunde genommen nur, wenn sie die Schuld ganz aus dem Strafrecht verbannen; ob das rechtsstaatlich vertretbar ist, ist freilich eine andere Frage“. 589 Helmuth Pree: Imputabilitas, 241. 590 Vgl. Helmuth Pree: Imputabilitas, 228 f. Fn. 6; bereits Innozenz III. (1198– 1216) habe „auf diese Diskrepanz hingewiesen und betont, daß die Kirche im forum externum nicht immer sicher sein könne, ob eine schwere Sünde vorliege oder nicht; das Urteil darüber müsse dem ‚iudicium Dei‘ überlassen werden. Das iudicium ecclesiae sei demgegenüber auf die Vermutung der schweren Sünde angewiesen: X 5, 39, 28.“ Pree fügt aber an: „Derselbe Papst erstreckt die Anwendbarkeit der kirchlichen Strafrechtspflege so gut wie auf die gesamte christliche Sittenordnung: ‚Ad officium nostrum spectat de quocumque mortali peccato corripere quamlibet christianum (X 2, 1, 13)‘ “ – vgl. ebd. 591 Helmuth Pree: Imputabilitas, 238; vgl. dazu in kritischer Auseinandersetzung Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 199 f. Fn. 51. 592 Vgl. Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts, 100 f.
D. Einordnung des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht327
begriffs insbesondere vor dem Hintergrund einer Rechtsfigur des Gewissens täters weiterhin aktuell. 5. Der Verzicht auf eine subjektive moralische Zurechnung Wenn man nach dem bisher Ausgeführten nicht davon ausgehen will, dass jene Delinquenten sanktionsfrei bleiben müssen, denen in einem rechtlichen Verfahren keine schwere subjektive Sündhaftigkeit nachgewiesen werden kann, dann ist die imputabilitas auf die objektive Dimension der Sünde zu begrenzen. In Anschluss an Scheuermann593 erklärt Wilhelm Rees in Bezug auf das Zurechnungsmodell des CIC/1983, dass im Fall eines Deliktes die „Tat … nicht als Sünde“ sanktioniert werde, da dies Sache des göttlichen Strafgerichts sei; die Schuld, um die es bei der Zurechnung im sanktionsrechtlichen Verfahren daher gehen könne, sei „primär Rechtsschuld, nicht sittliche Schuld“594. Und Ludger Müller hebt mit Blick auf das kirchliche Sanktionsverfahren hervor, dass der „Inhaber kirchlicher Sanktionsgewalt … nicht gezwungen“ sei, „die Grenze zwischen Recht und Moral zu überschreiten und zu untersuchen, ob wirklich eine schwere Sünde vorgelegen hat“, sondern dieser habe sich auf die Prüfung des Vorliegens der objektiven Tatbestandsmerkmale und die „rechtliche Verantwortlichkeit“ zu beschränken595. Auf den juristischen Nachweis der sittlichen Vorwerfbarkeit könne demnach verzichtet werden. Will man nun in keinen konzeptionellen Widerspruch geraten, dann sind solche Argumentationen letztlich nur unter der Annahme von zwei Konstellationen möglich: Entweder knüpft eine Zurechnung deliktischen Handelns tatsächlich nur an die objektive Dimension des Sündenbegriffs an, sodass auf den Nachweis einer subjektiven moralischen Zurechnung verzichtet werden kann, oder es wird überhaupt, d. h. gänzlich, von einer Anknüpfung an den Sündenbegriff abgesehen. Letzteres ist aber, wie bereits erwähnt, aufgrund der theologischen Legitimation und Tradition des kirchlichen Sank tionsrechts äußert zweifelhaft und aus diesem Grund wohl nicht zielführend596. Hingegen kann es aus theologischen und sachlichen Gründen sehr 593 Audomar
Scheuermann: Art. „Schuld“, 501. Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 69, mit Verweis auf Audomar Scheuermann: „Schuld“, 501. 595 Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 112 f. 596 Vgl. dazu Aymans/Mörsdorf: KanR I, 165: Dass es innerhalb der Kanonistik äußerst umstritten ist, ob es sogenannte „reine Strafgesetze (leges mere poenales)“ geben kann, d. h. sanktionsbewehrte Gesetze, die „keine unmittelbare Gewissenspflicht mit sich bringen, das Gebot oder Verbot zu befolgen“, wurde schon erwähnt. 594 Wilhelm
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Kap. 4: Das Sanktionsrecht im Lichte der Gewissensfreiheit
wohl angemessen sein, wenn der sanktionsrechtliche Zurechnungsbegriff insofern beschränkt wird, dass auf eine subjektive moralische Zurechnung der schweren Sünde verzichtet und „nur“ das Vorliegen des juristischen Schuldbegriffs (Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit) geprüft wird, während bei der Festlegung des deliktischen Tatbestands an die objektive Dimension der Sünde angeknüpft wird. Dieser Schluss drängt sich insbesondere im Fall der Zensur auf, wenn nicht davon ausgegangen werden soll, dass Delinquenten aufgrund subjektiv unzurechenbarer Gewissensschuld sanktionsfrei bleiben müssen. 6. Eine Differenzierung hinsichtlich der Sanktionsmaßnahmen Obwohl die Zensur eine Besserungssanktion ist, steht nicht die subjektive Sünde des Delinquenten im Fokus der Zensur, sondern zum einen das „Bedürfnis der Gemeinschaft nach Klarstellung“597 und zum anderen der Aufruf an den Delinquenten, das kirchenwidrige Verhalten, das zum Bruch der com munio plena geführt hat, zu beenden. Der Umkehrschluss dieses Gedankens veranschaulicht deutlich, worum es hier geht: „Jemand, der durch eine bestimmte Verhaltensweise beispielsweise zugleich eine Sünde als auch eine zum Ausschluß führende Tat begangen hat, nun aber einzig aus Opportunitätsgründen davon ablässt, der mag weiterhin Sünder sein – was die Beichte klären könnte: Strafwürdig ist sein Verhalten nach Maßgabe der hier referierten Auffassung nun jedenfalls nicht mehr“598, wie Grochtmann richtig feststellt. Daher scheint es im Fall der Zensur – verstanden als Maßnahme mit deklarativem Charakter – tatsächlich angemessen, von einer subjektiven moralischen Zurechnung der Tat abzusehen und sich auf einen juristischen Schuldbegriff – im Sinne einer Prüfung des Vorsatzes – zu beschränken. Ob Ähnliches für die Sühnestrafen anzunehmen ist, muss wohl separat diskutiert werden. Da ihr Wesen primär auf die Sühnung begangenen Unrechts abzielt, scheint im kirchlichen Bereich eine Verknüpfung mit einer subjektiven moralischen Vorwerfbarkeit nicht von vornherein ausgeschlossen zu sein. Zudem werden in ihrem Fall moralische und rechtliche Schuld meist konvergieren. Im Zweifelsfall müsste aber auch hier die subjektive moralische Schuld im Verfahren tatsächlich nachgewiesen werden oder der Delinquent mangels Zurechnung des Delikts straffrei bleiben. Hinsichtlich der Zurechnung von etwaigen Disziplinarmaßnahmen wäre sicherlich differenziert vorzugehen. Geht es um die „Bestrafung“ eines diszi597 Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321/3, Rdnr. 5 (Stand November 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1311/15 f., Rdnr. 17 (Stand Juli 1992). 598 Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 14.
D. Einordnung des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht329
plinarrechtlichen Vergehens, so ist eine juristische Zurechnung der Tat im Sinne der Prüfung des Vorliegens von Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorauszusetzen. Geht es allerdings bei der disziplinarrechtlichen Maßnahme nicht um eine Reaktion auf ein sanktionswürdiges Verhalten, sondern allein um eine funktionale Sicherstellung des kirchlichen Dienstes, dann kann überhaupt auf die Zurechnung eines Tatbestandes verzichtet werden, wie das Beispiel der Versetzung eines Pfarrers zeigt, dessen Dienst in der Pfarre nicht mehr fruchtbar ist (vgl. c. 1748 CIC/1983).
Kapitel 5
Ergebnisse und Konsequenzen A. Zusammenfassung der Ergebnisse Der Gewissenstäter, definiert als Katholik, der ein objektiv und subjektiv verpflichtendes, sanktionsbewehrtes „Gesetz“ übertritt, weil ihm sein Gewissen eine der Norm entgegengesetzte Verhaltensanweisung gibt, ist als normative Rechtsfigur im kirchlichen Recht zu finden. Ihre Begründung erfährt diese Rechtsfigur durch die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Ohne dieses Menschenrecht in diesen Dokumenten explizit zu nennen, haben sich die Väter des II. Vatikanischen Konzils insbesondere in der Erklärung über die Religionsfreiheit (DH) und in der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (GS) dem Phänomen „Gewissen“ gewidmet. Die Ausführungen der Konzilsväter zur Würde und Freiheit des Gewissens sind derart fundamental und weitreichend1, dass sie nicht nur im Kontext der Religionsfreiheit, sondern auch im innerkirchlichen Bereich Beachtung finden müssen2. Eine Analyse des CIC/1983, dessen Hauptanliegen es war, die Konzilstheologie des II. Vatikanums in rechtliche Formen zu gießen, zeigt, dass sich insbesondere mit c. 748 § 2 CIC/1983 zwar nach außen gerichtete Elemente der Gewissensfreiheit in der kirchlichen Rechtsordnung finden, welche die Religionsfreiheit abdecken, dass aber eine Verwirklichung der Gewissensfreiheit im innerkirchlichen Bereich nach wie vor als ein Desiderat anzusehen ist. Insbesondere fehlt ihre ausdrückliche Normierung im Kirchenrecht. Trotz dieses Schweigens ist die innerkirchliche Beachtung und Verwirklichung der Gewissensfreiheit dennoch geboten, nicht nur weil sie als göttliches Recht unmittelbar anwendbares und verpflichtendes Recht darstellt, sondern schon allein deshalb, weil das Gewissen als fundamentale Grundlage eines verantworteten Glaubens und als Ort der innersten Begegnung mit Gott condicio 1 Ob das Konzil hinsichtlich der Gewissenslehre etwas substantiell Neues lehrt oder diese in Kontinuität mit der Tradition vor dem Hintergrund neuzeitlicher Freiheitsrechte und religionsrechtlicher Entwicklungen nur aktualisiert und kontextualisiert hat, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden – vgl. dazu aber bspw. Bruno Schüller: Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, 11–14; Anthony R. Kosnik: Die Freiheitsrechte, 54. 2 Vgl. Jan Vries: Gottesbeziehung und Gesetz, 111 Fn. 37.
A. Zusammenfassung der Ergebnisse331
sine qua non für die Existenz einer Glaubensgemeinschaft und damit für ihre Rechtsordnung ist. Im Zuge des hier vorgelegten theoretischen Versuchs einer innerkirch lichen Einpflanzung des Menschenrechts auf Gewissensfreiheit in die kirchliche Rechtsordnung wurde deutlich, dass dieses nicht bloß „negativ“, im Sinne einer „Freiheit von“, sondern ebenso positiv im Sinne einer „Freiheit zu“ zu interpretieren ist, jedoch in diesem zweiten Sinn nicht schrankenlos gelten kann. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen wird die Rechtsfigur des Gewissens täters vor allem dann zu einem drängenden Problem in der Kanonistik, wenn im Zuge einer kirchlichen Sanktion Zwangscharakter und Besserungszweck aufeinandertreffen3. „Dass [man] dem aus Gewissensgründen abweichend Denkenden keine Strafe für eben diese Abweichung erteilen kann, ergibt sich aus dem Wesen des Glaubensaktes. Dieser ist eine wesensnotwendig freie Entscheidung des Menschen. Eine durch Strafe4 erreichte Gesinnungsänderung erscheint so nicht als Glaubenszugewinn, sondern nur als nicht zu rechtfertigender Verstoß gegen die Gewissensfreiheit“5, wie Grochtmann zu Recht feststellt. In der geltenden Sanktionsrechtskonzeption des CIC/1983 sind aufgrund ihres Wesens und ihrer Funktion insbesondere die Zensuren von dieser Problematik betroffen6. Wird nun die Zensur als „Zwangsmittel zur Bekehrung der Sünder“ verstanden, verstößt sie eindeutig gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit7. Mit Zensuren sind im geltenden Sanktions recht vorwiegend – aber nicht nur – Delikte sanktionsbewehrt, in denen es typischerweise um die Beendigung eines widersetzlichen Verhaltens geht, das durch eine abweichende Glaubensüberzeugung motiviert ist. In diesen Fällen wird es sich in aller Regel um einen „Gewissenstäter“ handeln, der sich öffentlich zu einem von der kirchlichen Lehre abweichenden Gewissens urteil bzw. Glauben bekennt. Im Rahmen der bisherigen Tradition und der geltenden Sanktionsrechtssystematik sind theoretisch vier Lösungsmöglichkeiten für das Problem der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kirchlichen Sanktionsrecht vorstellbar: 1. Die Kirche verzichtet immer dann auf eine Sanktionierung des Gewissenstäters, wenn es zum Konflikt mit der Gewissensfreiheit kommt8. Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 181. Grochtmann versteht hier unter „Strafe“ eine Maßnahme mit Zwangscharakter. 5 Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 21. 6 Vgl. Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 651 f. 7 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 78. 8 Vgl. Pontificia Commissio Codicis Iuris Canonici Recognoscendo: Relatio complectens synthesim, 23; Hubert Socha: MKCIC 11/9, Rdnr. 16 (Stand Februar 2012); 3 Vgl.
4 Anmerkung:
332
Kap. 5: Ergebnisse und Konsequenzen
2. Die Kirche verzichtet, wie bspw. Klaus Lüdicke vorschlägt9, auf den Sanktionszweck der Besserung des Täters. Ob es sich bei der Sanktion in weiterer Folge um eine Zwangsmaßnahme handelt oder nicht, wäre dann insofern nicht mehr von Bedeutung, als sich ein eventuell ausgeübter Zwang wohl nicht mehr direkt gegen das Gewissen des Delinquenten richten würde. 3. Eine dritte Lösungsmöglichkeit für die Rechtsfigur des Gewissenstäters besteht im Verzicht der Ausübung von Zwang, insbesondere bei jenen Sanktionen, die zur Umkehr und Besserung des Delinquenten ausgesprochen werden. Wo es keinen Zwang zur Besserung gibt, gibt es auch keinen Konflikt mit der Gewissensfreiheit. 4. Schließlich besteht noch die Möglichkeit einer Kombination aus den eben genannten Lösungsansätzen. Alle Lösungsvarianten haben – wenn sie in einer absoluten Weise verwirklicht werden – enorme Auswirkungen für das Selbstverständnis des kirch lichen Sanktionsrechts und führen im Grunde zur seiner Entstellung. So hätte ein gänzlicher Verzicht auf die Sanktionierung von Gewissens tätern die Aushöhlung des kirchlichen Glaubens und die Gefährdung der Einheit der kirchlichen Communio zur Folge. Die Kirche muss aber die Möglichkeit haben, ihre Gemeinschaft und ihr Glaubensgut vor Verunreinigungen und Verwirrungen zu schützen. Ebenso aber ist es Teil ihres Sendungsauftrags, den „verirrten Schafen“ (vgl. Lk 15,1–10) nachzugehen. Eine gänzliche Streichung des Besserungszwecks aus dem kirchlichen Sanktionsrecht wiederum würde nicht nur das Wesen der Zensur entstellen, sondern in einem erheblichen Maße die Möglichkeiten der Kirche beschränken, mit den Mitteln des kirchlichen Sanktionsrechts auf das individuelle Heil des Einzelnen einzuwirken. Eine Ausgestaltung der kirchlichen Sanktionszwecke, welche sich ausschließlich an den korporativen Interessen der kirchlichen Communio orientiert, wird zudem dem theologischen Wesen des kirchlichen Sanktionsrechts nicht gerecht. Die Streichung jeglichen Zwangs aus dem Sanktionsrecht der Kirche hätte schließlich zur Folge, dass auf rechtstheoretischer Ebene nicht nur die grundsätzliche Möglichkeit der Kirche zu strafen in Frage gestellt würde, sondern dass de facto eine Aushöhlung der Rechtsordnung stattfinden würde, da diese nicht mehr in der Lage wäre, im Fall der ultima ratio ihre Normen auch gegen den Willen der Rechtsadressaten durchzusetzen. Heinrich J. F. Reinhardt: Communio und Excommunicatio, 115; Klaus Lüdicke: Die Kirchengliedschaft und die plena communio; vgl. dazu das Kapitel 3. C. II. 5. „Unterschiedliche Normen für unterschiedliche Aspekte der Freiheit“ in dieser Arbeit. 9 Vgl. das Kapitel 4. C. II. 1. „Die Verwerfung des Sanktionszwecks der Besserung“ in dieser Arbeit.
A. Zusammenfassung der Ergebnisse333
Die Notwendigkeit einer angemessenen theologischen Begründung des kirchlichen Sanktionsrechts verlangt nun nach jenen Lösungsmöglichkeiten, die sich solcherart in die komplexe Wirklichkeit (vgl. LG 8) der Kirche einfügen lassen, dass kein Teil ihres Wesens ausgeblendet oder vernachlässigt werden muss. Hinsichtlich der kirchlichen Sanktionsmaßnahmen gelingt dies am besten mit Hilfe eines „Mittelweges“, indem zunächst die bestehenden Haupttypen der kirchlichen Sanktionsmaßnahmen, Zensur und Sühnestrafe, aufgegriffen werden. Jedoch müssen das jeweilige Profil und die jeweiligen Funktionen dieser Sanktionen gemäß ihrer theologischen Eigenart geschärft und anschließend bei der Sanktionsbewehrung durchgängig beachtet werden10. Den „Grundbaustein“ für eine Einpflanzung der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht bildet demnach Libero Gerosas These vom deklarativen Charakter der Exkommunikation11. Daraus ergibt sich als Konsequenz für das kirchliche Sanktionsrecht, dass die Zensur keine Strafe ist und nicht als solche eingesetzt werden kann12. Aufgrund des spezifischen Profils der Zensur als Besserungssanktion mit deklarativen Charakter kommt sie nur für solche Delikte in Frage, in denen es darum geht, einen durch den Delinquenten bereits herbeigeführten Bruch der communio plena festzustellen und seine „dauerhafte communio-widrige Einstellung“13 zu beenden. Anhand des Rechtsinstituts der Tatsanktion wird ganz besonders das vornehmlich „geistliche Wesen“ des Kirchenrechts offenbar14. Als solches appelliert es mehr als weltliche Rechtssysteme an das Gewissen seiner Adressaten und ist zu seiner Wirksamkeit auf eine hohe moralische Akzeptanz angewiesen15. Der Eintritt der Zensur latae sententiae gilt schon im CIC/ 1983 als der „Regelfall“, was angesichts ihres Wesens nicht überraschen dürfte16. Angesichts des bisher Ausgeführten scheint es überlegenswert, die 10 Vgl. dazu insbesondere das Kapitel 4. D. „Einordnung der Rechtsfigur des Gewissenstäters in das kirchliche Sanktionsrecht“ in dieser Arbeit. 11 Vgl. das Kapitel 4. C. I. „Libero Gerosas These von der deklarativen Funktion der Exkommunikation“ in dieser Arbeit. 12 Vgl. dazu das Kapitel 4. C. III. 2. „Zensuren sind keine Strafen“ in dieser Arbeit. 13 Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 277. 14 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 106. 15 Vgl. Sabine Demel: Tatstrafe contra Spruchstrafe, 104 Fn. 18; Klaus Lüdicke: MKCIC 1314/3, Rdnr. 4 (Stand Juli 1992). 16 Vgl. dazu Libero Gerosa: Ist die Exkommunikation eine Strafe, 102–105; vgl. insbesondere auch die Übersicht bei Ludger Müller: Zensuren und Strafen im kanonischen Recht, 273–277. Als Spruchsanktion wird die Exkommunikation nur bei unbestimmten Sanktionsdrohungen in Betracht gezogen (vgl. cc. 1388 § 2 CIC/1983)
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Kap. 5: Ergebnisse und Konsequenzen
Möglichkeit des Eintrittes einer Sanktion latae sententiae auf die Zensur, verstanden als Maßnahme mit deklarativem Charakter, zu beschränken. Auf Ebene der Schuld indiziert die Rechtsfigur des Gewissenstäters – wiederum insbesondere für die Zensuren – eine Beschränkung des sanktionsrechtlichen Zurechnungsbegriffs (imputabilitas – vgl. insb. c. 1321 CIC/1983). Wird mit der herrschenden Lehre eine subjektive moralische Zurechnung des Delikts, d. h. eine Gewissensschuld des Delinquenten, vorausgesetzt, müsste im Fall des Gewissenstäters – mangels Gewissensschuld – wohl in aller Regel von einer Sanktionierung abgesehen werden. Wird hingegen die moralische Komponente des Deliktsbegriffs auf eine Anknüpfung an die objektive Dimension der Sünde begrenzt und die subjektive Vorwerfbarkeit des Delikts auf die Prüfung des Vorsatzes (im Sinne eines rein juristischen Schuldbegriffs) beschränkt, kann das Delikt auch im Fall eines Gewissenstäters zugerechnet werden. Insgesamt wird damit evident, dass ein essentieller Beitrag zur Lösung des Problems der Rechtsfigur des Gewissenstäters im kanonischen Recht darin liegt, das jeweilige Wesen und die Funktionen der unterschiedlichen Sank tionen zunächst wahr- und dann auch ernstzunehmen. Analysen des geltenden kirchlichen Sanktionsrechts, wie sie bspw. von Libero Gerosa, Ludger Müller oder auch Klaus Lüdicke vorgelegt wurden17, zeigen freilich sehr deutlich, dass diesen Grundsätzen im geltenden Sanktionsrecht des CIC/1983 bei Weitem nicht entsprochen wird und weder eine theologisch begründete noch eine systematisch geschlossene Sanktionsrechtskonzeption vorliegt. Daher ist in weiterer Folge eine Evaluation der kirchlichen Sanktionsbewehrung geboten, die insbesondere unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen theologischen Eigenart der Sanktionen und einer entsprechenden Anpassung des Sanktionsmittels an den Sanktionszweck durchzuführen ist. Auffassungen hingegen, die etwa eine gänzliche Neueinteilung der kirch lichen Sanktionen unter Ausblendung des medizinalen Zwecks oder eine Verortung des gesamtes Sanktionsrechts im kirchlichen Bußwesen befürworoder als Maßnahme zur Verschärfung einer Sanktion (vgl. c. 1378 § 3 CIC/1983). Ausnahme ist hier die Androhung des Interdikts im Fall der Förderung oder Leitung einer Vereinigung, die gegen die Kirche handelt (vgl. c. 1374 CIC/1983) – Grund dafür könnte nach Müller sein, dass der Richter erst feststellen müsse, ob es sich „nur“ um eine bloße Mitgliedschaft in einem solchen Verein handle oder tatsächlich um eine Förderung bzw. Leitung eines solchen – vgl. ebd., 275. Ausnahmen im Bereich der Suspension sind die Verstöße gegen den Zölibat und das Keuschheitsgelübde – in beiden Fällen ist eine Spruchsanktion vorgesehen (vgl. cc. 1394 § 1; 1395 § 1 CIC1983). Vgl. ebenso die Ausführungen zur speziellen Verwendung des Begriffs „Suspension“ im c. 1383 CIC/1983 – ebd., 276. 17 Vgl. dazu das Kapitel 4. C. „Theologische Erfassung des kirchlichen Sank tionsrechts im Lichte der Gewissensfreiheit“ in dieser Arbeit.
B. Ergänzungs- und Änderungsvorschläge für das Sanktionsrecht335
ten, sind nicht nur deshalb kritisch bzw. ablehnend zu beurteilen, weil sie in gewissen Aspekten einen Bruch mit der kirchlichen Tradition darstellen, sondern weil sie unter dem Gesichtspunkt der komplexen Wirklichkeit der kirchlichen Communio keine theologisch angemessenen Perspektiven der betreffenden Rechtsinstitute bieten. Um die Funktionalität und die Ordnung des kirchlichen Dienstes innerhalb der gesamten Kirche sicherzustellen und um in der täglichen Rechtspraxis angemessen und effizient auf Missstände, Fehlverhalten oder auch Anforderungen der Pastoral reagieren zu können, wäre zudem die Etablierung eines gesonderten Disziplinarrechts sowohl mit verschuldensabhängigen als auch verschuldensunabhängigen Maßnahmen durchaus sinnvoll und wünschenswert18. Obschon die Rechtsfigur des Gewissenstäters primär dort von Relevanz ist, wo es um die Beendigung einer Communio-widrigen contumacia geht und daher insbesondere die Zensur betrifft, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass es auch außerhalb der eben genannten Kriterien zu Konflikten mit der Gewissens- und Glaubensfreiheit kommen kann. Im Fall eines deliktischen Vergehens heißt dies nun nicht, dass der Gewissenstäter auf jeden Fall sanktionsfrei bleiben müsste. Jedoch darf die Sanktion, sofern ihr Zwangscharakter innewohnt, nicht unmittelbar und direkt auf die Änderung bzw. Besserung des Gewissensurteils ausgerichtet sein19. Die zuständige Autorität kann demnach die Folgen der Tat, nicht jedoch das Gewissensurteil selbst sanktionieren.
B. Ergänzungs- und Änderungsvorschläge für das kirchliche Sanktionsrecht Aus der Untersuchung des kirchlichen Sanktionsrechts im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit ergeben sich folgende Ergänzungs- und Änderungsvorschläge für das geltende Recht: – Da c. 748 § 2 CIC/1983 nur insofern die Gewissensfreiheit berührt, als darin die Religionsfreiheit geregelt wird, ist eine explizite Normierung des innerkirchlichen Grundrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit gebo18 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 81–83; Hans Paarhammer: Das spezielle Strafrecht des CIC, 408; René Pahud de Mortanges: Zwischen Vergebung und Vergeltung, 77 f.; René Pahud de Mortanges: Das Schuldprinzip im CIC, 77, 86. 19 Vgl. Wilhelm Rees: Katholische Kirche und Menschenrechte, 652, mit Verweis auf Ansgar Grochtmann: Justitiabilität der Gewissensfreiheit, 206.
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Kap. 5: Ergebnisse und Konsequenzen
ten. Systematisch ist eine solche Norm im allgemeinen Grundrechtskatalog für alle Gläubigen einzuordnen. Zudem könnte in einem weiteren Paragraphen die Pflicht aller Gläubigen, welche freilich keine Rechtspflicht im strengen Sinn sein könnte, festgehalten werden, das Gewissen anhand der Lehre der Kirche zu bilden und zu prüfen. – Zensuren sind als Maßnahmen deklarativen Charakters keine Strafen und können daher auch nicht als solche eingesetzt werden. Sie kommen nur für die Sanktionierung von Tatbeständen in Betracht, in denen es um die Beendigung einer Widersetzlichkeit geht, die zum Bruch der communio plena geführt hat. Unbestimmte Sanktionsdrohungen, die wahlweise eine Anwendung der Zensur oder der Sühnestrafe vorsehen, kann es demgemäß nicht mehr geben. Hingegen können Sühnestrafen parallel zu oder zur Verschärfung von Zensuren angedroht werden, um bspw. den Druck auf den Delinquenten zu erhöhen oder neben der Besserung auch die Sühne zu bezwecken. – Der kirchliche Gesetzgeber muss das Wesen und die Funktion der verschiedenen Sanktionen bei der Sanktionsbewehrung durchgängig beachten. Eine dementsprechende Evaluation der kirchlichen Sanktionstatbestände ist geboten. – Es wäre weiters zu überlegen, ob der Eintritt latae sententiae auf die Zensuren, verstanden als Maßnahmen deklarativen Charakters, zu beschränken ist. – Da in c. 1321 § 1 CIC/1983 nicht mehr von einer imputabilitas moralis die Rede ist, bedarf es diesbezüglich zwar keiner Änderung des Wortlautes des Gesetzes, dennoch aber einer Änderung seiner gängigen Interpretation. Die Imputation von Zensuren hat sich auf moralischer Ebene mit der Anknüpfung an die objektive Dimension der Sünde zu begnügen, da eine subjektive moralische Zurechnung insbesondere im Fall des Gewissenstäters regelmäßig nicht möglich ist. Damit bleibt die theologisch gebotene Verknüpfung von Deliktsbegriff und Sündenbegriff (zumindest auf der Tatbestands- und Rechtswidrigkeitsebene) weiterhin bestehen20, während die subjektive schuldhafte Zurechnung des Delikts auf die Prüfung des Vorliegens von Vorsatz (bzw. Fahrlässigkeit) beschränkt wird.
20 Ergänzend sei vermerkt, dass damit nicht ausgesagt wird, dass jede schwere Sünde ein Delikt darstellt; jedoch ist jedes Delikt eine schwere Sünde. Damit legitimiert und begrenzt die Wirklichkeit der schweren Sünde die Reichweite des kirchlichen Sanktionsrechts.
C. Die Notwendigkeit einer Reform des kirchlichen Sanktionsrechts337
Grundsätzlich könnte auch darüber nachgedacht werden, ob eine derartige Beschränkung des sanktionsrechtlichen Schuldbegriffs für sämtliche kirch lichen Sanktionen sinnvoll wäre. – Zur Gewährleistung der Funktionalität und der Ordnung des kirchlichen Dienstes sowie für eine angemessene systematische Einordnung kirchlicher Sanktionsmaßnahmen wäre die Etablierung eines eigenständigen Disziplinarrechts geboten. Dieses könnte sowohl verschuldensabhängige (im Sinne von Vorsatz und Fahrlässigkeit) als auch verschuldensunabhängige Disziplinarmaßnahmen enthalten.
C. Die Notwendigkeit einer Reform des kirchlichen Sanktionsrechts Innerhalb der Kanonistik gibt es viele Stimmen, die eine tiefgreifende und umfassende Reform des kirchlichen Sanktionsrechts fordern oder zumindest dessen „Konzeptionslosigkeit“ bemängeln21. Bereits im Zuge der ersten Bischofssynode zur CIC-Reform äußerten „zahlreiche Bischöfe … den Wunsch nach einer radikalen globalen Revision des kanonischen Strafrechts …, damit die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums in die Tat umgesetzt werden könne“22. Der Versuch, durch die Neukodifikation im Jahr 1983 eine geschlossene und bessere Systematisierung und vor allem eine theologische Grundlegung des kirchlichen Sanktionsrechts zu erreichen, muss jedoch bisher als gescheitert angesehen werden. Fakt ist, dass schon zur Zeit des CIC/1917 das kirchliche Sanktionsrecht in der Praxis ziemlich zahnlos war und kaum zur Anwendung gebracht 21 Vgl. dazu insb. das Kapitel 4. C. „Theologische Erfassung des kirchlichen Sanktionsrechts im Lichte der Gewissensfreiheit“ in dieser Arbeit; Georg May beschreibt das Strafrecht nach der Reform als „Schatten seiner selbst“ – Georg May: Kritische Bemerkungen zu dem neuen Codex Iuris Canonici Sp. 5241; vgl. auch Hans Paarhammer: Das spezielle Strafrecht des CIC, 403 f.; Hubert Müller: Communio als kirchenrechtliches Prinzip im Codex Iuris Canonici, 489; Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/4, Rdnr. 4 (Stand Juli 1992); Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/11 f., Rdnr. 11; Klaus Lüdicke: MKCIC Einführung vor 1321, Rdnr. 3 f. (Stand November 1992); Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 491; Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1588–1590. 22 Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 171. Darüber jedoch, wie diese Revision auszusehen habe, gab es sehr unterschiedliche Vorstellungen; vgl. auch Matthias Pulte: Vatikanum II und Strafrechtsreform, 167: „Massive Kritik an der Strafrechtsreform zeichnete sich bereits relativ früh, rund neun Jahre vor der Promulgation des CIC ab“; Klaus Mörsdorf: Zum Problem der Exkommunikation; Audomar Scheuermann: Das Schema 1973 für das kommende kirchliche Strafrecht.
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Kap. 5: Ergebnisse und Konsequenzen
wurde23. Dieser Zustand hat sich mit dem CIC/1983 nicht gebessert24, sodass Aymans schon unmittelbar nach dessen Promulgation Zweifel darüber äußerte, ob dem Sanktionsrecht in seiner jetzigen Form eine „praktikable Zukunft“ beschieden ist25. Vor diesem Hintergrund ist die vom Päpstlichen Rat für Gesetzestexte auf den Weg gebrachte und von Papst Benedikt XVI.26 unterstützte Initiative zur Reform des geltenden kirchlichen Sanktionsrechts „nicht nur zu begrüßen, sondern zum Wohl der Kirche und des einzelnen Christgläubigen auch geboten“27. Die Frage ist allerdings, in welche Richtung die Überarbeitung und Reform letztendlich gehen wird28. In den bisher vorgelegten Reformvorschlägen ist keine grundsätzliche Reform in Systematik und theologischer Konzeption des Sanktionsrechts zu erkennen; eher scheinen die Reformvorschläge eine Art Flickwerk zu sein, welche die praktische Anwendbarkeit
23 Vgl. bspw. die Kritik von Richard A. Strigl: Kirchlicher Anspruch auf das brachium saeculare heute, 827–829; Libero Gerosa: Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit, 198; Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 171. 24 Vgl. Audomar Scheuermann: Erwägungen zur kirchlichen Strafrechtsreform; Peter Krämer: Was brachte die Reform des Kirchenrechts, 320; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 94 f. 25 Vgl. Winfried Aymans: Einführung in das neue Gesetzbuch der lateinischen Kirche, 27; vgl. auch Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 492 f. – hier schätzt Rees die Reform des kirchlichen Sanktionsrechts noch eher positiv ein – in jüngeren Veröffentlichungen relativiert er diese positive Darstellung etwas – vgl. Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1588. 26 Papst Benedikt XVI. äußerte sich zur mangelhaften Anwendung des kirchlichen Sanktionsrechts in einem Interview mit Peter Seewald: „Doch seit der Mitte der 60er Jahre wurde es [das kirchliche Sanktionsrecht] einfach nicht mehr angewandt. Es herrschte das Bewusstsein, die Kirche dürfe nicht Rechtskirche, sondern müsse Liebeskirche sein; sie dürfe nicht strafen. So war das Bewusstsein dafür, dass Strafe ein Akt der Liebe sein kann, erloschen“ – Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger): Licht der Welt, 43; vgl. dazu auch Aymans/Mörsdorf: KanR I, 9–38; Müller/Hierold/Demel/ Gerosa/Krämer (Hrsg.): „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 23. 27 Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 54; vgl. auch Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1588–1590; Markus Graulich: Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus. 28 Ein erster Ausblick dazu: Juan Ignacio Arrieta: Die geplante Revision des Liber VI CIC (Übersetzung des Vortrags beim Internationalen Studientag „Neuerungen und aktuelle Tendenzen im Kanonischen Recht“ am Klaus Mörsdorf-Studium für Kanonistik der LMU München am 24./25. Mai 2012) Manuskript, 1–21; Juan Igna cio Arrieta: Il progretto di Revisione del Libro VI del Codice di diritto Canonico; vgl. PCLT: Schema Recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici; Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, insb. 1588–1590; Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 54–60; Markus Graulich: Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus.
C. Die Notwendigkeit einer Reform des kirchlichen Sanktionsrechts339
dieses Rechtsgebiets hier und da verbessern und zum Teil verschärfen sollen29. Darüber, wie eine grundlegende Reform dieses Rechtsgebietes aussehen könnte, gibt es in der Literatur unterschiedliche Positionen30: Für die einen ist die vollständige und ausnahmslose Verwirklichung des Prinzips der Communio Ausgangs- und Zielpunkt einer solchen Reform31. Andere hingegen verweisen auf eine Synthese des Communio-Gedankens und der societasperfecta-Lehre, welche ihrer Ansicht nach in der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils zum Ausdruck komme32; so weist Wilhelm Rees bspw. darauf hin, dass der CIC, „auch ohne den formellen Begriff der societas iuridice perfecta in Anwendung auf die Kirche ausdrücklich zu verwenden, alle Elemente der societas-perfecta-Lehre“33 enthalte. Beiden Positionen ist aber gemein, dass „das Desiderat der noch ausstehenden theologisch-ekklesiologischen Begründung der kirchlichen Strafgewalt im CIC“ weiterhin von Relevanz und Dringlichkeit ist34, da sich das kirchliche Sanktionsrecht „in der Tat nicht einfach nur aus der gesellschaft lichen Struktur der Kirche nach allgemeinen, soziologischen und rechtsphilo-
29 Vgl. dazu die Ausführungen von Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 55 ff. So geht es im Revisionsentwurf vor allem darum, ein praktisch oft nicht mehr angewandtes Sanktionsrecht wieder leichter anwendbar zu machen und andererseits angemessen auf die Missbrauchsfälle der Gegenwart zu reagieren – vgl. dazu Wilhelm Rees: § 105 Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, 1584–1590. Rees kritisiert zudem, dass das Schema, wie schon der CIC/1983, es verabsäume, eine Unterscheidung in „Straf- und Disziplinarrecht“ vorzunehmen – Wilhelm Rees: Strafe und Strafzwecke, 56; Klaus Lüdicke: MKCIC Einleitung vor 1311/8, Rdnr. 8 (Stand Juli 1992). 30 Schaaf spricht von „drei Grundrichtungen“, indem sie noch eigens Autoren nennt, die bei der Begründungsstruktur des IPE verbleiben und sich damit begnügen – vgl. Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 224 f. 31 Vgl. Hubert Müller: Communio als kirchenrechtliches Prinzip im Codex Iuris Canonici, 497 ff.; Klaus Kienzler: Kirche als „Communio“; für weitere Literaturangaben vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt der Kirche, 56 Fn. 70. 32 Vgl. Wilhelm Rees: Die Strafgewalt in der Kirche, 51 f.; Josef Listl: Aufgabe und Bedeutung der kanonistischen Teildisziplin des Ius Publicum Ecclesiasticum; Andreas Kowatsch: Freiheit in Gemeinschaft. 33 Wilhelm Rees: Die Strafgewalt in der Kirche, 57 Fn. 71. 34 Vgl. insb. Aymans/Mörsdorf/Müller: KanR IV, 91; Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 187–189; Libero Gerosa: Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, 74; Libero Gerosa: La scomunica è una pena; Eugenio Corecco: Aspekte der Rezeption des Vaticanum II im neuen Codex Iuris Canonici, 117; Alfred E. Hierold: Vom Sinn und Zweck kirchlicher Strafe, 337; vgl. aber auch Klaus Lüdi cke: MKCIC Einleitung vor 1311/4, Rdnr. 4 (Stand Juli 1992); Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 223–298.
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Kap. 5: Ergebnisse und Konsequenzen
sophischen Prinzipien ableiten“ lässt35. In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche ernstzunehmende Bemühungen und Vorschläge vorgelegt36, um dieses Desiderat zu füllen. Es wäre wünschenswert, wenn der Gesetzgeber das Anliegen einer theologischen Grundlegung des kirchlichen Sanktionsrechts aufgreifen und im Lichte der innerkirchlich umzusetzenden Glaubensund Gewissensfreiheit in einer umfassenden Reform des geltenden Sank tionsrechts zur Geltung bringen würde. Dass die Beachtung der Würde und der Freiheit des Gewissens keine Bedrohung für die kirchliche Rechtsordnung (insbesondere auch nicht für das kirchliche Sanktionsrecht) darstellt, sondern in Wirklichkeit ihr unerschütterliches und unaufgebbares Fundament, konnte diese Arbeit hoffentlich zeigen.
35 Michael Schulz: Strafe Gottes – Strafe der Kirche, 56 f.; vgl. auch Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 189. 36 Vgl. dazu die Übersicht bei Ludger Müller: Warum und wozu kirchliche Sanktionen, 183 Fn. 3; vgl. ebenso Dagmar Schaaf: Der kirchliche Strafanspruch, 228–298.
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Stichwortverzeichnis Abaëlard, Petrus 98–101, 229 f., 314 f. absolutio complicis 307 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 186 Analogie 194 Anamnesis 101 Apostasie 151, 277 f., 303, 306 archanum propitiationis 125, 127 Augustinus, Aurelius 228, 230, 314 Ausschlussurteil 286, 313 äußere Religionsfreiheit 28, 32, 46, 140–143, 145–148 äußere Zwangsgewalt 264 f. Autonomie 29, 176 f., 196 Aymans, Winfried 90, 121, 141 f., 156, 181, 195 f., 212, 265, 267, 338 Barion, Hans 31, 47–50, 53, 59–81, 83, 117, 161, 237 Begnadigung 241, 244 Bellarmin, Robert 155 Benedikt XVI./Ratzinger, Joseph 20, 23, 25, 34, 102 f., 108, 110–112, 169, 322 f., 338 Besserungsabsicht 257 Besserungszweck 83, 235, 237, 248, 251 f., 252–258, 290 f., 299, 308, 331 f. Blühdorn, Jürgen-Gerhard 96 Böckenförde, Werner 63 bona fide errans 67, 69, 77 bonum commune Ecclesiae 197–199, 208 bonum communionis 198 bonum privatum 92 Bopp, Ulrich 82, 84, 86, 122 Bordat, Josef 18, 44, 114
brachium saeculare 71 Buß-Exkommunikation 227 Buße 126, 130, 227, 230, 242, 276, 280, 290, 298, 300, 307, 312 Character indelebilis 153 Christenrechte 155, 182 f., 194 Coccopalmerio, Francesco 277 communio cum Deo 91, 184, 190 communio fidei 285, 291 communio fidelium 285, 291 communio plena 28, 155–157, 162, 252, 283 f., 290, 292, 302 f., 305, 333, 336 conscientia 95, 98–102, 129, 135 contumacia 233–235, 237, 240 f., 253 f., 257, 276 f., 280, 286, 291, 294, 301 f., 305, 335 crimen 126, 228, 232, 314 f. culpa 70, 317, 324 f. culpa iuridica 56 culpa praecedens 322–324 culpa theologica 56 De Paolis, Velasio 318 Decretum Gratiani 230, 324 Defektionsklausel 161 Dekonstruktion des Gewissens 104 Deliktsfähigkeit 84 Demel, Sabine 311 depositum fidei 73, 305 Dezisionismus 25, 61 Dignitatis humanae 33, 46, 81, 106, 108, 138, 141 f., 144 f., 163, 171–174, 177 f., 180, 197, 202 f., 205–208, 211, 274, 330 Disziplinarmaßnahme 244–247, 258, 289, 304, 328, 337
380 Stichwortverzeichnis Disziplinarmaßnahme sui generis 280, 295 Divergenz 53, 201 donum revelatum 62 Dordett, Alexander 229 Drittwirkung 33, 194 Eichmann, Eduard 237 Epikie 85 Eucharistie 130 f., 252, 307 Exkommunikation 126, 131, 161, 212, 217, 219, 227, 232, 234, 240, 242 f., 248, 252, 255, 258, 267, 272 f., 275 f., 279 f., 281–284, 286 f., 289, 292 f., 295, 298, 303 f. Fahrlässigkeit 310, 323, 325, 328 f., 336 f. Forum 32, 124 f. forum conscientiae 124, 127 f. forum externum/forum internum 129–135 forum iudiciale 126–128, 227 forum poenitentiale 126–129 Fries, Bruno 126, 129, 132 Fundamentalrecht 194, 200 funktionaler Positivismus 57 Gänswein, Georg 156 Gaudium et spes 33, 106 f., 108, 138, 171–174, 177, 179, 203, 207, 210, 225, 330 Geistbesitz 155 f., 283 Geistkirche 61 Generalprävention 248 f. Gerosa, Libero 34 f., 118, 134, 180, 215, 220, 248, 252, 255, 263, 272–284, 286, 295, 299, 301 f., 308, 333 f. Gewissen 17–19, 94–135, 262 f., 267, 309, 311 f., 322 f., 325, 332 f. Gewissensfreiheit 19, 22, 29–31, 33–35, 41, 44, 46, 78, 81, 94, 118, 121, 145, 147–149, 153, 162–210
Gewissenstäter 23, 27, 30 f., 34–36, 38, 47 f., 70, 77, 81–88, 118, 121, 210, 214 f., 237, 258, 270, 272, 278, 280, 301 f., 312 f., 321 f., 324, 330 f., 334 Gewissensurteil 137, 146, 161, 170, 202 f., 207 f., 210, 214, 254, 259, 269, 322 f., 335 Gewissenszwang 72 Glaubensakt 18, 22, 51–53, 57, 60, 64, 75, 78 f., 122, 136, 139–141, 144 f., 147–149, 171, 204 f., 209, 267, 283, 331 Glaubensannahme 136, 138, 140, 144, 146 Glaubensdelikt 35, 37, 67, 69, 71, 73, 83, 161, 214, 258, 272, 278 f., 282, 286 f., 297, 301, 303, 305, 323 Glaubensfreiheit 78, 137, 151, 254, 267, 281, 335 Glaubensgehalt 22, 51, 78 Glaubenswahrheit 45, 139, 144, 209, 276, 284 Glaubensweisung 89 f. Glaubenszwang 57, 66 f., 70 f., 74–76, 144, 262 Gödan, Jürgen 41 Göring, Hermann 18 Goertz, Stephan 171, 175 f. Gratian 228–230 Graulich, Markus 251 Gravissimum educationis 180 Gregor XVI. 104 Grochtmann, Ansgar 35 f., 252, 259 f., 267–270, 328, 331 Grundgesetz 42 f., 168, 186 f. Grundrecht 28, 41 f., 44, 121 f., 141, 163 f., 167, 172, 181 f., 185, 193 f., 196, 200 f., 203, 209, 335 Grundrechtskatalog 28, 145 f., 186, 336 Haering, Stephan 217 Hafner, Felix 193 f. Hahn, Josef 132 Hahn, Judith 256
Stichwortverzeichnis381 Häresie 274 f., 278, 303, 306 Hegel’scher Dreischritt 194 Hennig, Boris 99, 101 Heteronomie 109 Hierold, Alfred E. 238, 260 f., 311 Hinder, Paul 185, 192 Hitler, Adolf 17–19, 323 Höffe, Otfried 137 Hollweck, Joseph 236 Horizontalwirkung 193 Höver, Gerhard 82 Huguccio 323 Huizing, Peter 263, 293 Hus, Jan 103, 220 Ideologieverdacht 112 ignorantia invincibilis 77 imputabilitas 36, 317, 319, 324, 326 f., 334 imputabilitas gravis 316 imputabilitas moralis 316 f., 336 imputabilitas poenalis 316 f. Individualethik 40, 116, 118 Individualschutz 93, 192, 197, 200 innere Religionsfreiheit 148, 180 Innerlichkeit des Gewissens 122 Innozenz III. 232 Interdikt 232, 234, 238, 240, 242, 258, 289, 294–296, 298, 303 f. Interpersonalität 205 irrendes Gewissen 68, 87, 102 f., 176, 214 Irrtum 68, 71, 87, 99, 107, 111 f., 117, 165, 207, 221, 254 Isensee, Josef 46 iurisdictio 125 ius divinum 61, 77, 118, 162, 187, 277 f. Ius Publicum Ecclesiasticum 221, 223, 258, 262 Johannes Paul II. 110, 169, 180 Johannes XXIII. 168
Juridismus 80 Justitiabilität 35, 259 Kirche der freien Gefolgschaft 50 f., 53 f., 58, 72 f., 75, 78, 122, 151, 158, 160 Kirchengliedschaft 33, 57, 75, 106, 147, 149, 151 f., 154, 156–158, 160, 274, 276, 283, 305 Klauck, Hans-Josef 95 Klein, Joseph 31, 47–58, 60–67, 71 f., 75–81, 83, 122, 151, 158, 160 f., 323 Kleinwächter, Marietherese 57, 77 f. Knittel, Reinhard 224 f. Koch, Kurt 24, 284 Kölner Erklärung 26 Konfessionalisierung 104 Konvergenz 59–61, 321 Krämer, Peter 34, 53 f., 57, 60, 78–80, 142–144, 147, 158, 191, 196, 200 f., 223, 267 f. Kuttner, Stephan 320 Laun, Andreas 172 Lehramt 19, 26, 47, 49 f., 63, 71, 114 f., 118, 164–167, 171 f., 201, 205, 209, 238, 278 Leo XIII. 105, 167, 201 lex canonica 88 Lex Ecclesiae Fundamentalis 27, 142, 185 libertas sacra 196 Lombardus, Petrus 101 Lüdicke, Klaus 35, 152, 225, 240, 242 f., 247, 249 f., 253 f., 256, 272, 281 f., 284–293, 301, 303 f., 312 f. Luf, Gerhard 47, 137, 193 Lumen gentium 33, 46, 106, 131, 153, 155, 160, 162, 172 f., 183, 191, 225, 255, 283, 333 Luther, Martin 61, 103 Marschler, Thomas 61 Marsilius von Padua 220, 263 f.
382 Stichwortverzeichnis Martin V. 220 May, Georg 42, 85 f., 112, 116–118, 265 Medizinalsanktion 72, 235, 237, 239 f., 253, 289, 291, 303, 334 Menschenrecht 21, 27 f., 33 f., 81, 83, 138, 148, 162–164, 168 f., 175, 177, 180, 182–184, 186–197, 199–203, 209 f., 212, 214, 272, 330 f. Menschenwürde 174 Mörsdorf, Klaus 124 f., 133, 181, 237, 245, 255 f., 267 Müller, Gerhard Ludwig 156 Müller, Ludger 35, 204 f., 215–217, 245, 250, 253, 258, 264, 272, 282, 294–302, 306 f., 327, 334 Munier, Charles 219 Mussinghoff, Heinrich 33, 137, 143, 145 Mysteriencharakter 178, 184, 192
peccatum occultum 219, 227 Personalismus 20 Petrat, Nils 151 Pflichtenkollision 85, 208 Philo von Alexandrien 96 physische Zwangsgewalt 262 Pius IX. 105, 166, 221 Pius VI. 104, 221 Pius XII. 207 plena communio 152, 154, 159, 283, 287, 293, 306 Pneuma 61, 64, 98 poena expiatoria 243, 258 poena medicinalis 72, 235, 237, 239 f., 253, 289, 291, 303, 334 potestas 54, 75 potestas iudicandi 229 Präsumption 69, 289, 319 f., 322 Pree, Helmuth 36, 124, 130, 200 f., 249, 288, 317, 324–326
Newman, John Henry 19 f., 29 f., 105, 166 normativer Positivismus 63 Normativismus 55 Nuytz, Johannes Nepomuk 221
Quelquejeu, Bernard 187
Objektivation des Glaubens 50, 55, 57, 76 Objektivismus 57 ordinatio rationis 89 ordo correctionis 233 ordo fidei 90 Ottaviani, Alfredo 236 Paarhammer, Hans 246 papa haereticus 55 Patenge, Markus 34, 172, 180 f. Paul VI. 163, 188 Paulus 97, 99 Pavan, Pietro 34, 170, 173–176, 207 peccatum criminale 315 peccatum grave 276 peccatum manifestum 232
Radbruch, Gustav 31, 38–41, 44 Rahner, Karl 26, 276 Rauschning, Hermann 17–19 realitas complexa 184, 194 Rechtsfigur 27, 30–32, 37–39, 41, 44 f., 47, 65, 68 f., 70, 75, 77, 81, 83–88, 118, 210 f., 213, 226, 237, 258, 272, 280, 299, 301 f., 308, 312 f., 321, 324, 327, 330–334 Rechtsgüterabwägung 199, 208 Rechtskirche 55, 61, 64, 72, 75 f. Redemptor hominis 169, 180 Rees, Wilhelm 131, 133, 135, 212 f., 218, 253, 255, 272, 299 f., 311, 327, 339 Reinhardt, Heinrich J. F. 150 Reinheitsvorschriften 99 Relativismus 26, 40, 45 Religionsfreiheit 20, 28, 32–34, 46, 80, 104, 106, 108, 141 f., 144–148, 162 f., 166–170, 175, 180 f., 191, 201 f., 249, 284 f., 287, 290 f., 330, 335
Stichwortverzeichnis383 Repressivmaßnahme 312 Römerbrief 18, 97–99 Ryffel, Hans 121 Sacra potestas 178 f., 195 sacrificium conscientiae 55, 76 Sakramentensimulation 307 Sanktionsbewehrung 294, 303, 305, 307, 333, 363 Sanktionsdrohung 277, 296, 303, 308, 336 Sanktionsgewalt 56, 75, 161, 215, 218–220, 223, 238, 242, 252, 263 f., 285, 288, 293, 327 Sanktionsnachlass 241, 290, 297 Sanktionsrecht 28–30, 35 f., 215–218, 245, 247–249, 254, 260, 268, 272, 280–282, 284 f., 293 f., 299–302, 325 f., 331–340 Sanktionssicherungsmittel 296 Sanktionsverfahren 211, 219, 226, 318, 324 Sanktionszweck 235–238, 247–251, 256–258, 271, 285, 290 f., 301, 313, 332, 334 Schaaf, Dagmar 224, 244 f., 266 f., 281, 283, 291, 293, 299, 300 Schema CIC/1980 88, 150 Schema CIC/1982 88 Schema Poenalis 1973 222 Schema recognitionis Libri VI 2011 251 Scheuermann, Audomar 87, 318, 327 Schisma 153, 231, 275, 277–279, 303, 306 Schlier, Heinrich 96 f. Schmitz, Heribert 140, 147 Schnizer, Helmut 199 Schockenhoff, Eberhard 33 f., 106, 108–110, 144 f. schöpferische Transformation 193–195 Schuld 213 f., 229 f., 245 f., 288, 312–329, 334 f., 337 Schuldhaftung 313
Sebott, Reinhold 87 f., 321 f. Selbst-Exkommunikation 278 Selbstausschluss 75, 242, 281, 286, 302 semel catholicus semper catholicus 149, 152 f., 157 f., 160 Sendungsauftrag 91, 135, 161, 174, 204 sensus fidei 115 Skandalon 50, 55, 71 Socha, Hubert 149 f. societas iuridice perfecta 222, 262 Sohm, Rudolph 48 f., 51 f., 54, 56, 59–61, 63–65, 76 Sozialethik 40, 116, 118 Spätindividualismus 26 Spezialprävention 249 Spiritum Christi habentes 293 Spruchsanktion 234, 241 f., 289 Stalin, Josef 323 Straf-Exkommunikation 227 Strafe 70, 72 f., 75, 126, 130–132, 214, 217, 221, 228, 230, 237; 243–246, 249 f., 253–259, 261, 264, 267–273, 280–282, 294–301, 303, 306–308, 331 Strafrecht 39, 41, 215–218, 247, 250, 261, 273, 280 f., 285, 300, 314 f., 324 f., 337 Strigl, Richard 270 Suárez, Francisco 89 Subjektivismus 24 f., 53, 108, 118 subsistit in 160 Suenens, Léon-Joseph 150 f. Sühnestrafe 35, 218, 230, 233–241, 243–245, 248–250, 253, 257 f., 267, 271, 285, 288–290, 294–299, 304, 328, 333, 336 Suspension 49, 232, 234, 238, 240–242, 246, 258, 290, 294, 298, 303 f. Syllabus 105, 166, 221 Synderesis 101, 112 Szentirmai, Alexander 236
384 Stichwortverzeichnis Tatsanktion 78, 133, 135, 234, 241 f., 275, 289, 308–312, 333 Taufe 46, 66, 83, 143, 149, 151–153, 155 f., 159, 162, 182, 190 Tertullian 162 f. Thomas von Aquin 89, 101–103, 163 Totalitarismus 25, 55 Transformation 44, 64, 79, 193 f. Überzeugungstäter 38–41, 44, 65, 68 f., 71 f., 76 f., 82, 323 Überzeugungsverbrecher 38 f. ultima ratio 232, 256, 260, 332 Unfehlbarkeit 111 Verbotsnorm 138, 140, 142, 146 Verfassungsrecht 156, 186 f. Veritatis splendor 110, 113, 175 Verrechtlichung 54, 57, 79 vinculum 155 Vindikativstrafe 230–238, 243 Vorsatz 274, 295, 310, 323, 325, 328 f., 334, 336 f. Vries, Jan 93, 179
Wahrheitsanspruch 45, 79, 165, 167, 170, 172 Wertrelativismus 41 Wicliff, John 103 Widersetzlichkeit 233–235, 237, 240 f., 251, 253 f., 257, 277, 291, 294, 297, 301 f., 304–306, 308, 335 f. Wiedergutmachung 236, 241, 248, 251, 280 Witschen, Dieter 121 f. Zensur 35, 135, 210, 212 f., 232–246, 248–250, 253, 255, 257–259, 267, 271 f., 277, 280–282, 285 f., 294–309, 328, 331–336 Ziegenaus, Anton 172 Zotz, Betram 153–155 Zurechnung 36, 56 f., 68, 83, 88, 213 f., 245, 284, 289, 292, 312–329, 334, 336 Zwangsgewalt 56, 202, 222, 259, 262–267, 271, 279 Zwangskatholisierung 66 Zwangsmittel 31, 57, 74, 146, 150, 175, 200, 213, 237, 262, 267, 331